Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe: Zum Diskurs einer Herrschaft über die Natur bei Bacon, Herder und in der Kritischen Theorie 9783495823941, 9783495489703


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German Pages [366] Year 2021

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Inhalt
Siglenverzeichnis
Vorwort
Einleitung
I. Kapitel: Explikation zentraler Begriffe und Thesenexposition
1. Das Programm einer kausal erklärenden Einheitswissenschaft und die Kritische Theorie
2. Kritische Theorie vom frühen Max Horkheimer bis zu Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns
a.) Vom frühen Max Horkheimer zur ›Kritik der instrumentellen Vernunft‹ bei Horkheimer und Adorno
b.) Von den Aporien einer ›Kritik der instrumentellen Vernunft‹ zu Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns
3. Die Selbstverständigungsfunktion einer Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive über Metaphorik: Hans Blumenbergs ›Metaphorologie‹
4. Thesen und Aufbau der Untersuchung
II. Kapitel: Francis Bacons Große Erneuerung als eine theoretische Wissenschaftsbegründung in gesellschaftspraktischer Absicht
1. Skizze einer Interpretationsthese zu Bacons Instauratio Magna
a.) Problemaufriss
b.) Interpretationsthese
2. Die Neubegründung wissenschaftlicher Erkenntnis im Novum Organon als Einheit von Theorie und Praxis
a.) Zum Problem der politisch erfolgversprechenden Darstellung einer hypothesenbasierten Wissenschaft
b.) Die ›Idolenlehre‹ als ideologiekritische Selbstverständigung über die angemessene Methode und ihre Darstellung
c.) Der Methodenbegriff einer ›Interpretation der Natur‹ und die Bestimmung des Verhältnisses zwischen ›Wissen‹ und ›Handeln‹
3. Religiöse Legitimation und methodisch kontrollierte Begründung der Wissenschaften? Die Metapher einer doppelten Lesbarkeit der Welt (Blumenberg) und die Argumentationsstruktur der Instauratio Magna
a.) Bacons Metapher von den ›zwei Büchern‹ als ein Lektüreschlüssel der Instauratio Magna
b.) Die legitimatorische Funktion der Religion für Bacons wissenschaftliches Programm
c.) Das Verhältnis von Finalität und Naturkausalität im Novum Organon
4. Die Textstruktur einer gedoppelten Wirkungsdimension von Bacons Novum Organon und sein gesellschaftspolitisches Programm der Etablierung eines technokratischen Paternalismus
III. Kapitel: Die geschichtsphilosophisch fundierte Technisierungskritik Johann Gottfried Herders in Auch eine Philosophie der Geschichte
1. Die Theoriestruktur von Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit
2. Die Rolle von Sprache und Metaphorik in Herders Geschichtsphilosophie
a.) Die heuristische Funktion der Analogie
b.) Das Verhältnis von Beobachter- und Teilnehmerperspektive in der Lektüre des ›Buchs der Geschichte‹
α.) Die Anfänge der Menschheit als ›Kindheit‹, ›Baum-‹ und ›Patriarchenalter‹: Zur metaphorischen Mehrdeutigkeit von Herders Leitanalogien
β.) Ägypten und Phönizien: ›Entwicklungslogik‹ und ›Entwicklungsdynamik‹ in Herders Geschichtsdeutung
γ.) Griechen und Römer als ›Jünglings-‹ und ›Mannesalter‹
δ.) Völkerwanderung, (Ur-)Christentum und der weltgeschichtliche Epochenbruch
ε.) Die Gegenwart als Schauplatz einer Krise und Herders Handlungsappell
c.) ›Muttersprache‹ und ›Übersetzung‹: Die Experte-Laie-Unterscheidung
α.) Rousseaus Erste Abhandlung und sein Briefwechsel mit Voltaire
β.) Herders Metadiskurs über Geschichte
3. Herders Bacon-Kritik und die Ansätze zu einer ›Dialektik der Aufklärung‹
a.) Zur Revision von Bacons Technikbewertung
b.) Zur Kritik an aufgeklärter Bildung und den Ambivalenzen der Technisierung
4. Der Begriff der ›Kraft‹ und die ›objektiven Möglichkeiten‹ der geschichtlichen Situation
IV. Kapitel: Zwischen Expertenkultur und Öffentlichkeit: Texte der Kritischen Theorie auf der Folie von Bacons Instauratio Magna und Herders Auch eine Philosophie der Geschichte
1. Die Fortschrittskritik Horkheimers und Adornos in den 40er-Jahren als eine ›Flaschenpost‹
a.) Der späte Mythos vom homerischen Epos
b.) Bacon in der Dialektik der Aufklärung: Eine Metakritik
2. Jürgen Habermas’ Neubestimmung der Kritischen Theorie von den 60er- und 70er-Jahren bis hin zur Theorie des kommunikativen Handelns
a.) ›Kritik‹ und ›Krise‹ in der Doppelperspektive von Beobachter und Teilnehmer
α.) Zur Semantik des sozialwissenschaftlichen Krisenbegriffs in den Legitimationsproblemen
β.) Objektive Möglichkeiten Kritischer Theorie in den 70er- und 80er-Jahren im Rückblick von Faktizität und Geltung
b.) Die These einer ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ in der Theorie des kommunikativen Handelns auf der Folie von Bacon und Herder
α.) ›System‹, ›Lebenswelt‹ und der rationalisierungsgeschichtliche Prozess ihrer ›Entkopplung‹
β.) Die doppelte Pathologiediagnose einer ›Fragmentierung des Alltagsbewusstseins‹ und ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹
γ.) Der metaphorische Gehalt der Kolonialisierungsthese an der Schnittstelle zwischen Expertenkultur und Öffentlichkeit
c.) Die Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie und die Frage nach der gesellschaftlichen ›Avantgarde‹
Literaturverzeichnis
Personenregister
Schlagwortregister
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Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe: Zum Diskurs einer Herrschaft über die Natur bei Bacon, Herder und in der Kritischen Theorie
 9783495823941, 9783495489703

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Nikolai Plößer

Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe Zum Diskurs einer Herrschaft über die Natur bei Bacon, Herder und in der Kritischen Theorie

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ALBER THESEN

https://doi.org/10.5771/9783495823941

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Nikolai Plößer Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

ALBER THESEN

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https://doi.org/10.5771/9783495823941 .

https://doi.org/10.5771/9783495823941 .

Nikolai Plößer

Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe Zum Diskurs einer Herrschaft über die Natur bei Bacon, Herder und in der Kritischen Theorie

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495823941 .

Nikolai Plößer Between Progress and Technological Catastrophe On Domination over Nature in Bacon, Herder and Critical Theory Fraught with tendencies to a global technological crisis, the 21st century falls short of alleviations up to now. Drawing from Habermas, this book assumes that approaches to successful crisis management must be sought in the public arena of a discursive intermediation between scientific expert cultures and everyday practice. Plößer argues that the envisaged discourse relies on the use of translating metaphors to allow for greatest possible information-symmetry and to provide action-guiding solutions, which on behalf of science requires theoretical reflection to keep the use of metaphors methodologically controllable. His contribution consists in the innovative implementation of Blumenberg’s metaphorology into the socio-critical discourse of self-clarification from Bacon through Herder to the Frankfurt School.

The Author: Nikolai Plößer, born 1979 in Berlin-Kreuzberg, received a Magister Artium in philosophy, German studies and classical philology from the University of Cologne in 2008 and a PhD in philosophy from the University of Wuppertal in 2017. He is currently research assistant at the Chair of Practical Philosophy and Philosophy of the Modern Era at the Bergische Universität Wuppertal.

https://doi.org/10.5771/9783495823941 .

Nikolai Plößer Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe Zum Diskurs einer Herrschaft über die Natur bei Bacon, Herder und in der Kritischen Theorie Reich an Krisen der technisierten Zivilisation, bleibt das 21. Jh. bislang arm an Lösungen. Mit Habermas geht dieses Buch davon aus, dass Ansätze zur Krisenbewältigung in einer diskursiven Vermittlung zwischen Expertenkulturen und Alltagspraxis zu suchen sind. Plößer vertritt die These, dass ein Gelingen demokratisch handlungsleitender Kommunikation einer theoriestrukturellen Reflexion auf unseren wissenschafts- und alltagssprachlichen Metapherngebrauch bedarf. Eingelöst wird sie durch eine innovative Einbindung von Metaphernanalysen Blumenbergs in die Untersuchung des gesellschaftskritischen Selbstverständigungsdiskurses von Bacon über Herder bis hin zur Frankfurter Schule.

Der Autor: Nikolai Plößer, geb. 1979 in Berlin-Kreuzberg, Studium der Philosophie, Germanistik und Klassischen Literaturwissenschaften an der Universität zu Köln. 2017 Promotion in Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Dort Wiss. Mitarbeiter am Lehrstuhl für Praktische Philosophie und Philosophie der Neuzeit.

https://doi.org/10.5771/9783495823941 .

Alber-Reihe Thesen Band 71

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2020 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48970-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82394-1

https://doi.org/10.5771/9783495823941 .

Heidrun Plößer und Bernhard Rappert gewidmet, meinen Eltern.

https://doi.org/10.5771/9783495823941 .

https://doi.org/10.5771/9783495823941 .

Inhalt

Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

I. 1. 2.

3.

4.

Kapitel: Explikation zentraler Begriffe und Thesenexposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Programm einer kausal erklärenden Einheitswissenschaft und die Kritische Theorie . . . . . . . . . . Kritische Theorie vom frühen Max Horkheimer bis zu Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns a.) Vom frühen Max Horkheimer zur ›Kritik der instrumentellen Vernunft‹ bei Horkheimer und Adorno . b.) Von den Aporien einer ›Kritik der instrumentellen Vernunft‹ zu Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns . . . . . . . . . . . . . Die Selbstverständigungsfunktion einer Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive über Metaphorik: Hans Blumenbergs ›Metaphorologie‹ . . . . . . . Thesen und Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . .

19 19 40 40

54

66 81

II.

Kapitel: Francis Bacons Große Erneuerung als eine theoretische Wissenschaftsbegründung in gesellschaftspraktischer Absicht . . . . . . . . . . . . . . . .

87

1.

Skizze einer Interpretationsthese zu Bacons Instauratio Magna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a.) Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b.) Interpretationsthese . . . . . . . . . . . . . . . . .

89 91 97

Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Inhalt

2.

3.

4.

Die Neubegründung wissenschaftlicher Erkenntnis im Novum Organon als Einheit von Theorie und Praxis . . . a.) Zum Problem der politisch erfolgversprechenden Darstellung einer hypothesenbasierten Wissenschaft b.) Die ›Idolenlehre‹ als ideologiekritische Selbstverständigung über die angemessene Methode und ihre Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c.) Der Methodenbegriff einer ›Interpretation der Natur‹ und die Bestimmung des Verhältnisses zwischen ›Wissen‹ und ›Handeln‹ . . . . . . . . . . . . . . . Religiöse Legitimation und methodisch kontrollierte Begründung der Wissenschaften? Die Metapher einer doppelten Lesbarkeit der Welt (Blumenberg) und die Argumentationsstruktur der Instauratio Magna . . . . . a.) Bacons Metapher von den ›zwei Büchern‹ als ein Lektüreschlüssel der Instauratio Magna . . . . . . . b.) Die legitimatorische Funktion der Religion für Bacons wissenschaftliches Programm . . . . . . . . c.) Das Verhältnis von Finalität und Naturkausalität im Novum Organon . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Textstruktur einer gedoppelten Wirkungsdimension von Bacons Novum Organon und sein gesellschaftspolitisches Programm der Etablierung eines technokratischen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

104 110

113

125

135 138 150 155

160

III. Kapitel: Die geschichtsphilosophisch fundierte Technisierungskritik Johann Gottfried Herders in Auch eine Philosophie der Geschichte . . . . . . . . . . . 170 1. 2.

10

Die Theoriestruktur von Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit . . . . . . . . . Die Rolle von Sprache und Metaphorik in Herders Geschichtsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . a.) Die heuristische Funktion der Analogie . . . . . . . b.) Das Verhältnis von Beobachter- und Teilnehmerperspektive in der Lektüre des ›Buchs der Geschichte‹ α.) Die Anfänge der Menschheit als ›Kindheit‹, ›Baum-‹ und ›Patriarchenalter‹ : Zur metaphorischen Mehrdeutigkeit von Herders Leitanalogien

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176 179 182 190

197

Nikolai Plößer https://doi.org/10.5771/9783495823941 .

Inhalt

3.

4.

β.) Ägypten und Phönizien: ›Entwicklungslogik‹ und ›Entwicklungsdynamik‹ in Herders Geschichtsdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . γ.) Griechen und Römer als ›Jünglings-‹ und ›Mannesalter‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . δ.) Völkerwanderung, (Ur-)Christentum und der weltgeschichtliche Epochenbruch . . . . . . . . ε.) Die Gegenwart als Schauplatz einer Krise und Herders Handlungsappell . . . . . . . . . . . . c.) ›Muttersprache‹ und ›Übersetzung‹ : Die Experte-Laie-Unterscheidung . . . . . . . . . . α.) Rousseaus Erste Abhandlung und sein Briefwechsel mit Voltaire . . . . . . . . . . . . β.) Herders Metadiskurs über Geschichte . . . . . . Herders Bacon-Kritik und die Ansätze zu einer ›Dialektik der Aufklärung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a.) Zur Revision von Bacons Technikbewertung . . . . b.) Zur Kritik an aufgeklärter Bildung und den Ambivalenzen der Technisierung . . . . . . . . . . Der Begriff der ›Kraft‹ und die ›objektiven Möglichkeiten‹ der geschichtlichen Situation . . . . . . . . . . . . . . .

204 215 219 225 232 232 237 245 245 249 256

IV. Kapitel: Zwischen Expertenkultur und Öffentlichkeit: Texte der Kritischen Theorie auf der Folie von Bacons Instauratio Magna und Herders Auch eine Philosophie der Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 1.

2.

Die Fortschrittskritik Horkheimers und Adornos in den 40er-Jahren als eine ›Flaschenpost‹ . . . . . . . . . . . . a.) Der späte Mythos vom homerischen Epos . . . . . . b.) Bacon in der Dialektik der Aufklärung: Eine Metakritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Habermas’ Neubestimmung der Kritischen Theorie von den 60er- und 70er-Jahren bis hin zur Theorie des kommunikativen Handelns . . . . . . . . . . . . . . a.) ›Kritik‹ und ›Krise‹ in der Doppelperspektive von Beobachter und Teilnehmer . . . . . . . . . . . . . α.) Zur Semantik des sozialwissenschaftlichen Krisenbegriffs in den Legitimationsproblemen .

Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

263 268 275

285 290 290

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Inhalt

β.) Objektive Möglichkeiten Kritischer Theorie in den 70er- und 80er-Jahren im Rückblick von Faktizität und Geltung . . . . . . . . . . . . . b.) Die These einer ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ in der Theorie des kommunikativen Handelns auf der Folie von Bacon und Herder . . . . . . . . . . . . . α.) ›System‹, ›Lebenswelt‹ und der rationalisierungsgeschichtliche Prozess ihrer ›Entkopplung‹ . . . β.) Die doppelte Pathologiediagnose einer ›Fragmentierung des Alltagsbewusstseins‹ und ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ . . . . . . . . γ.) Der metaphorische Gehalt der Kolonialisierungsthese an der Schnittstelle zwischen Expertenkultur und Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . c.) Die Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie und die Frage nach der gesellschaftlichen ›Avantgarde‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

298

310 312

321

329

339

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357 Schlagwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

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Nikolai Plößer https://doi.org/10.5771/9783495823941 .

Siglenverzeichnis

Bacon, Francis NA Neu-Atlantis. Übersetzt von Günther Bugge. Durchgesehen und neu herausgegeben von Jürgen Klein. Stuttgart 2003 NO Neues Organon (lateinisch-deutsch). Herausgegeben und mit einer Einleitung von Wolfgang Krohn. 2 Bde., Hamburg 21999 VT Valerius Terminus. Von der Interpretation der Natur mit den Anmerkungen von Hermes Stella (englisch-deutsch, in Übersetzung hrsg. von Franz Träger). Würzburg 1984 Works The Works of Francis Bacon. Baron of Verulam, Viscount St. Albans, and Lord High Chancellor of England. Edited by James Spedding, Robert Leslie Ellis and Douglas Denon Heath. 15 Bde., Boston ab 1861 Blumenberg, Hans LdN Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe. Frankfurt a. M. 1996 LdW Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1981 PM Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a. M. 1998 SZ Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher. Frankfurt a. M. 1997 Habermas, Jürgen DM Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. 1985 FG Faktizität und Geltung. Frankfurt a. M. 1998 LS Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1973 MkH Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M. 1985 SÖ Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 1990 TWI Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. Frankfurt a. M. 1969 TkH Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M. 41987 TP Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien. Frankfurt a. M. 1978 RHM Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus. Frankfurt a. M. 1976

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Siglenverzeichnis Herder, Johann Gottfried AP Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts. Stuttgart 2012 JR Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Katharina Mommsen. Stuttgart 2002 SW Sämtliche Werke. Herausgegeben von Bernhard Suphan. 33 Bde., Berlin 1877 ff. Horkheimer, Max (ggf. mit Theodor W. Adorno) AM »Der neueste Angriff auf die Metaphysik (1937)«. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 4: Schriften 1936–1941. Frankfurt a. M. 1988, S. 108–161 DA mit Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Amsterdam 1947 KiV »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1967)«. (Deutsche Übers. von Ders.: Eclipse of Reason. New York 1947). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 6: ›Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‹ und ›Notizen 1949–1969‹. Frankfurt a. M. 22008, S. 19–186 TKT »Traditionelle und Kritische Theorie (1937)«. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 4: Schriften 1936–1941. Frankfurt a. M. 1988, S. 162–216 Weitere Autoren Hua IV Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (= Husserliana, Bd. IV). Den Haag 1952 Krisis Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Hamburg 2007 KW Rousseau, Jean-Jacques: »Über Kunst und Wissenschaft«. In: Ders.: Schriften zur Kulturkritik. Die zwei Diskurse von 1750 und 1755 (übers. u. hrsg. von Kurt Weigand). Hamburg 41983, S. 1–59 MD Kohlberg, Lawrence: Essays on Moral Development (Vol. 1): The Philosophy of Moral Development: Moral Stages and the Idea of Justice. San Francisco 1981 MEW Marx, Karl/Friedrich Engels: Marx-Engels-Werke. 42 Bde., Berlin 1956 ff.

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Vorwort

Dieses Buch enthält den teilweise überarbeiteten und gekürzten Text meiner Dissertation. Sie wurde im Februar 2017 von der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität Wuppertal angenommen. Die Referenten waren die Professoren Smail Rapic und Gregor Schiemann, Tag der Disputation war der 24. Mai 2017. Mein Dank gebührt zuvörderst meinem Doktorvater Professor Smail Rapic, ohne dessen vielfältige Anregungen, rückhaltlose Kritik und aufmunternde Worte diese Untersuchung kaum jemals zu solcher Reife gediehen wäre. Professor Klaus E. Kaehler verdanke ich nicht weniger als meine philosophische Sozialisation an der Universität zu Köln. Dacian Bugnar bin ich für wertvolle Literaturhinweise und den jahrelangen philosophischen Dialog in Freundschaft zutiefst verbunden. Ihm sowie meinen Kollegen Andreas Thomas, Klaus Sellge und Dennis Klusendick danke ich außerdem für ihre Bereitschaft zur Redaktion meines Textes. Als Sohn kann ich im Einzelnen kaum ermessen, wieviel an gesellschaftskritischer Prägung durch Eltern mit einer studentenbewegten Vergangenheit in Frankfurt am Main und Berlin wohl in dieser Arbeit zur Kritischen Theorie sedimentiert sein mag. Heidrun Plößer und Bernhard Rappert ist dieses Buch daher gewidmet. Danken möchte ich darüber hinaus Eigentümern und Personal des Café Elefant in der Weißenburgstraße in Köln für die willkommene Abwechslung vom Schreiben bei kurzweiligen Gesprächen in den gemeinsamen Arbeitspausen. Nicht zuletzt danke ich Jessika Meyers für ihre schiere Geduld, mich über unsere gemeinsamen Jahre hinweg selbst im Urlaub noch mit meinem Manuskript geteilt und auch in schwierigen Zeiten liebevoll ertragen zu haben. Nikolai Plößer im März 2019 Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Einleitung

Die vorliegende Untersuchung behandelt Theoriekonzeptionen einer Einheit von Theorie und Praxis von Francis Bacon bis zur Kritischen Theorie unter Fokussierung auf objektive Möglichkeiten der technologischen Menschheitsentwicklung. Das Ziel dieser Abhandlung ist die Beantwortung der systematischen Leitfrage, wie im Rahmen einer solchen Theoriekonzeption methodisch kontrolliert über Gestaltungsspielräume gesprochen werden kann, die sich aus alternativen Verlaufsmöglichkeiten gesellschaftlicher Technisierung ergeben. Während Bacon zu Beginn der Neuzeit im Rahmen seines einheitswissenschaftlichen Theorieentwurfs einen paternalistisch geführten Expertendiskurs über Möglichkeiten des technischen Fortschritts projektiert hat, klagen Johann Gottfried Herder im 18. Jh. und Vertreter der Kritischen Theorie bis hin zu Jürgen Habermas im 20. Jh. die demokratische Diskursbeteiligung wissenschaftlicher Laien ein, die von einem technokratischen Handeln nach baconischem Muster bereits betroffen sind, ohne sich selbst indes willentlich dazu bestimmt zu haben. In dieser demokratietheoretischen Perspektive nimmt die Klärung des Metapherngebrauchs an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit eine zentrale Rolle ein, da in zunehmend ausdifferenzierten Gesellschaften Übersetzungsleistungen erforderlich sind, die eine Überbrückung des sprachlichen Gefälles zwischen Experten- und Laiendiskursen ermöglichen. Die von mir systematisch anvisierte Selbstverständigung über objektive Möglichkeiten birgt, über ihre philosophische Dimension hinaus, konkrete Anwendungsbezüge in der öffentlichen Sphäre: Im Hinblick auf kontrovers diskutierte Krisenphänomene einer ›Herrschaft über die Natur‹ entfaltet meine Fragestellung eine gesellschaftliche Relevanz für Debatten um Atomausstieg, Klimawandel und Nachhaltige Entwicklung. Die im Folgenden verhandelten Thesen können – wie ich hoffe – zur Klärung der theoriestrukturellen Bedingungen einer sprachlich Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Einleitung

vermittelten Einheit von Theorie und Praxis beitragen. Darüber hinaus hängt die faktische Entscheidung der Krisen unserer Gegenwart von einem zivilgesellschaftlichen Handeln ab, über dessen Möglichkeiten eine kritische Theorie uns nur aufklären und zu dem sie uns auffordern kann. Eine solche Praxis in geschichtlichen Kämpfen tatsächlich zu leisten, bleibt unser aller gemeinschaftliche Aufgabe.

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ALBER THESEN

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I. Kapitel: Explikation zentraler Begriffe und Thesenexposition

1.

Das Programm einer kausal erklärenden Einheitswissenschaft und die Kritische Theorie

Francis Bacon hat – neben René Descartes – dem Konzept einer Einheitswissenschaft unter dem Titel der »una scientia universalis« zu Beginn der Neuzeit zum ersten Mal konkrete Gestalt verliehen (Works II, 253; VIII, 471). 1 Die erklärte Zielperspektive Bacons ist es, die biblisch verheißene »Macht und Herrschaft des Menschengeschlechtes selbst über die Gesamtheit der Natur zu erneuern«, deren Wiedererlangung »allein auf Künsten und Wissenschaften«, also auf wissenschaftlichem Fortschritt und seiner technischen Anwendung beruhe (NO I, 129). 2 Ausgehend von einem sprachkritisch angelegten Angriff auf die zu seiner Zeit wissenschaftlich vorherrschende Scholastik, die ihre Theorien auf unzureichend gesicherte Begriffe stütze und sich in bloßen »Meinungen um sich selbst« drehe, fordert Bacon, den in Bezug auf technische Anwendung »nutzlose[n] Disputationen« zu entsagen, um sich stattdessen der »Frucht und Werke« bringenden Erklärung von Naturverhältnissen zu widmen (vgl. NO I, S. 43; 82; S. 15; S. 49). Er formuliert damit das Programm einer Abkehr von Formen der diskursiven Begründung unserer Erkenntnisansprüche und fordert die Hinwendung zur naturwissenschaftlich-induktiven Methodik einer »Interpretation der Natur« Francis Bacon: The Works of Francis Bacon. Baron of Verulam, Viscount St. Albans, and Lord High Chancellor of England. Edited by James Spedding, Robert Leslie Ellis and Douglas Denon Heath (hier und im Folgenden unter Angabe von Band und Seitenzahl zitiert als: Works). 15 Bde., Boston ab 1861. (https://onlinebooks.library. upenn.edu/webbin/metabook?id=worksfbacon; zuletzt abgerufen am 4. März 2019). 2 Francis Bacon: Neues Organon (lateinisch-deutsch). Herausgegeben und mit einer Einleitung von Wolfgang Krohn (hier und im Folgenden unter Angabe von Band und – sofern nicht ausdrücklich auf eine Seite verwiesen wird – Aphorismus zitiert als: NO). 2 Bde., Hamburg 21999. 1

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Explikation zentraler Begriffe und Thesenexposition

(NO I, S. 77). Eine Methode, nach der nicht nur – in einer Vorreiterrolle – die »Naturphilosophie« (d. h. die Naturwissenschaft), sondern in letzter Konsequenz »auch die übrigen Wissenschaften, die Logik, Ethik, Politik […] vollendet werden sollen« (NO I, 127). Da sich »menschliches Wissen und menschliches Können« insofern »ergänzen«, als nur eine Kenntnis von natürlichen Ursache-WirkungBeziehungen es dem Menschen ermöglicht, durch den erfolgreichen Einsatz innovativer Technologie seine eigene Wohlfahrt unter Naturverhältnissen stetig zu befördern, kann Bacon mit seinem einheitswissenschaftlichen Forschungsprogramm das Versprechen eines nicht nur wissenschaftlichen, sondern auch sozialen Fortschritts der Menschheit durch eine technisch allumfassend gewährleistete Bedürfnisbefriedigung verbinden (NO I, 3). 3 Dass Bacon dabei auch »Ethik und Politik« dem Zuständigkeitsbereich einer Expertenkultur von Wissenschaftlern zurechnet, macht den technokratisch-paternalistischen Zug dieses Programms aus. Das zu Beginn der Neuzeit paradigmatisch formulierte Konzept einer Einheitswissenschaft wurde vom Wiener Kreis im 20. Jh. aufgegriffen und neu formuliert. Das im Namen des Vereins Ernst Mach von Otto Neurath, Rudolf Carnap und Hans Hahn unterzeichnete sog. ›Manifest‹ des Wiener Kreises, das – unter dem erklärten Zweck, »mit Gleichgerichteten Fühlung aufzunehmen und Einwirkung auf Fernerstehende auszuüben« – als die wissenschaftspolitische Programmschrift dieser Forschergruppe begriffen werden muss, erklärt »die Einheitswissenschaft« zum ausdrücklichen Ziel der angestrebten Verbreitung der wissenschaftlichen Weltauffassung. 4 Neben der Betonung arbeitsteiliger Forschung (»Kollektivarbeit«) und der Forderung nach intersubjektiver Ausweisbarkeit von Forschungsergebnissen durch die Angabe von eindeutigen Verifikationsregeln steht für Vgl. in diesem Zusammenhang die Ausgestaltung der Gesellschaftsutopie in Francis Bacon: Neu-Atlantis. Übersetzt von Günther Bugge. Durchgesehen und neu herausgegeben von Jürgen Klein. Stuttgart 2003. 4 Carnap/Hahn/Neurath: »Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis (1929).« In: Stölzner / Uebel (Hrsg.): Wiener Kreis. Texte zur wissenschaftlichen Weltauffassung von Rudolf Carnap, Otto Neurath, Moritz Schlick, Philipp Frank, Hans Hahn, Karl Menger, Edgar Zilsel und Gustav Bergmann. Hamburg 2006, S. 3–29. Hier: S. 1; S. 11. Auf Differenzen zwischen Einzelpositionen von Vertretern des Wiener Kreises und theoretische Fortentwicklungen des Programms kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Wenn hier und im Folgenden daher vom ›Wiener Kreis‹ die Rede ist, beziehe ich mich lediglich auf dieses sog. ›Manifest‹ und seine Unterzeichner zu Zeiten seiner Abfassung. 3

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den Wiener Kreis insbesondere »das Suchen nach einem neutralen Formelsystem, einer von den Schlacken der historischen Sprachen befreiten Symbolik« im Zentrum seiner Forschungsbemühungen. 5 Sprechen bedeute »einfangen in Begriffe, zurückführen auf wissenschaftlich eingliederbare Tatbestände«. 6 Aus dieser Prämisse resultiert die Forderung nach einer starken Selbstbeschränkung hinsichtlich der Zulassung getroffener Aussagen: »Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt nur Erfahrungssätze über Gegenstände aller Art und die analytischen Sätze der Logik und Mathematik.« 7 Das kontinuierende Element zu Bacon ergibt sich daraus, dass auch der Wiener Kreis die sprachkritische Forderung aufstellt, metaphysischen Fragen nach der Berechtigung unserer Geltungsansprüche zu entsagen und traditionelle philosophische Probleme »teils als Scheinprobleme« zu entlarven, »teils in empirische Probleme« umzuwandeln, um sie »damit dem Urteil der Erfahrungswissenschaft« zu unterstellen. 8 Von einer empirisch-induktiv fundierten und »metaphysikfreien« bzw. »antimetaphysischen« Einheitswissenschaft erwartet sich der Wiener Kreis – wie schon Bacon – auch einen sozialen Fortschritt, da eine solche wissenschaftliche Weltauffassung »dem Leben« diene. 9 Als Vorbild für die an allen übrigen Wissenschaften zu vollziehende logische »Reinigung« fungiert dabei die Physik, die »in Bezug auf Schärfe und Feinheit der Begriffsbildung den anderen Wissenschaften weit voraus ist«. 10 Hinsichtlich der anvisierten Einheitswissenschaft kommt also auch hier einer Naturwissenschaft die Vorreiterrolle zu. Bereits der Umstand, dass der Wiener Kreis bei seiner Forderung nach einer neuen Sprachpraxis für die Philosophie auf eine metallurgische Metapher – die Befreiung von den »Schlacken der historischen Sprache« – zurückgreift, um die methodische Technizität des Vorgangs einer ihrerseits bereits kaum anders als metaphorisch verständlichen ›Sprachreinigung‹ zu unterstreichen, mag das performativ widersprüchliche Verhältnis anzeigen, das sich hier zwischen den strengen Anforderungen an eine nüchterne Theoriesprache und den unabweisbar wertenden Formulierungen des Wiener Kreises, mit Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. 7 Ebd., S. 14. 8 Ebd., S. 12. 9 Ebd., S. 10; 5; 27. 10 Ebd., S. 24; 20. 5 6

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denen zur Einführung einer solchen Sprache in die Forschungspraxis aufgerufen werden soll, entspinnen kann: Schon im engeren Umfeld einer Scientific Community scheint auch der Wiener Kreis ein neutrales Formelsystem nicht für das erste Mittel der Wahl zu halten, um das geforderte Wissenschaftsprogramm tatsächlich praktisch zu initiieren. Er bedient sich stattdessen einer ganzen Reihe polarisierender, mit positivem oder negativem »Gefühlsgehalt« geladener Ausdrücke (»befreit«, »entlarvt«, »Schutt der Jahrtausende«, »dient dem Leben« etc.), die gemäß der wissenschaftlichen Weltauffassung eigentlich einzig in der »Kunst, zum Beispiel der Lyrik«, legitimiert sein sollen. 11 Der Eindruck eines Problems, die vom Wiener Kreis geforderten theoretischen Standards auch in der gesellschaftlichen Sprachpraxis performativ stringent durchzuhalten, verschärft sich weiter, wenn man den von Jürgen Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) in der Theoriediskussion etablierten Öffentlichkeitsbegriff mit in Rechnung stellt. 12 Habermas zeichnet in diesem Werk – über die Vorstufe einer »repräsentativen Öffentlichkeit« von »Herrschaftsstände[n], Adelige[n], kirchliche[n] Würdenträger[n], Könige[n] etc.«, wie sie für das Mittelalter, aber auch noch für die Zeit Francis Bacons anzusetzen ist und die »den geschichtlichen Hintergrund für die modernen Formen der öffentlichen Kommunikation bildet«, hinaus – Aufstieg und Zerfall des Typus bürgerlicher Öffentlichkeit vom 18. Jahrhundert bis zu den massenmedial gesteuerten Öffentlichkeiten unserer Zeit nach (SÖ 17). Habermas hat im Vorwort zur Neuauflage von Strukturwandel der Öffentlichkeit 1990 selbst darauf hingewiesen, dass sein Werk insbesondere als ein Beitrag zur Demokratietheorie rezipiert worden ist und gerade auf diesem Hintergrund heute noch Aktualität besitzt (vgl. SÖ 12). 13 Folgt man den Einsichten Ebd., S. 12 f. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990 (hier und im Folgenden zitiert als: SÖ). Frankfurt a. M. 1990. 13 Zur Rezeptionsgeschichte von SÖ vgl. Nancy Fraser: »Theorie der Öffentlichkeit. Strukturwandel der Öffentlichkeit (1961)«. In: Brunkhorst/Kreide/Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. Stuttgart 2009, S. 148–155. Und Dies.: »Neue Überlegungen zur Öffentlichkeit. Ein Beitrag zur Kritik der real existierenden Demokratie«. In: Dies.: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaats. (Deutsche Übers. von: Justice Interruptus. Critical Reflections on the ›Postsocialist‹ Condition, 1997). Frankfurt a. M. 2001, S. 107–150. Speziell für die englischsprachige Diskussion, an der sich Habermas im nachgenannten Band auch selbst 11 12

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dieser Forschungslinie, müssen selbst die technisch nutzbringenden Einzelwissenschaften spätestens seit der Etablierung einer bürgerlichen Zivilgesellschaft davon ausgehen, dass ihre Programme – zumindest im Prinzip – gegenüber einer breiteren Öffentlichkeit in irgendeiner Weise müssen gerechtfertigt werden können. In Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ (1968) knüpft Habermas an diese demokratietheoretische Linie von Strukturwandel der Öffentlichkeit an. 14 Er betont, das Verhältnis zwischen Wissenschaft und praktischem Bewusstsein sei heute »keine Angelegenheit der privaten Bildung« mehr (TWI 113), sondern vielmehr eine öffentliche 15: Unser Problem läßt sich dann als Frage nach dem Verhältnis von Technik und Demokratie stellen: wie kann die Gewalt technischer Verfügung in den Konsensus handelnder und verhandelnder Bürger zurückgeholt werden? (TWI 114)

Nun bekundet der Wiener Kreis selbst die auf breitere Öffentlichkeit gerichtete Absicht, »Einwirkung auf Fernerstehende auszuüben« und »Denkwerkzeuge für den Alltag zu formen«: »Die wissenschaftliche Weltauffassung dient dem Leben und das Leben nimmt sie auf.« 16 Dies erklärt er allerdings gegenüber einer Öffentlichkeit, die sich zur Bekundung von Bedürfnissen nach wissenschaftlich-technischen Lösungen in aller Regel just jener »historischen Sprachen« bedient, von denen gemäß der geforderten Weltauffassung gerade die »Schlacken« ausgeschieden und von einer wissenschaftlichen Weiterverarbeitung ausgeschlossen werden sollen. In entgegengesetzter Richtung werden am Übergang von Wissenschaft zu Öffentlichkeit seitens der Adressaten einer wissenschaftlichen Aufklärung Antworten erwartet, die beteiligt hat, sind als einschlägig zu betrachten die Beiträge des Sammelbandes von Craig Calhoun (Hrsg.): Habermas and the Public Sphere. Cambridge/London 1992. 14 Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ (im Folgenden zitiert als: TWI). Frankfurt a. M. 1969. 15 Ein Problembewusstsein in dieser Frage wird dem Wissenschaftler gemäß Habermas’ Ausführungen nicht zuletzt angesichts einer wachsendenden Einsicht in die Antiquiertheit des Humboldt’schen Bildungsideals abverlangt. Diesem Ideal zufolge sollten die Wissenschaften immer auch über den Kanal »individueller Bildungsvorgänge des wissenschaftlichen Studiums« in die Lebenspraxis eindringen (vgl. TWI 108–113). Eine Forderung, die mit der Ausdifferenzierung und Spezialisierung von berufspraktisch orientierten Curricula geschichtlich in zunehmendem Maße utopisch erscheint: »Das Verfügenkönnen, das die empirischen Wissenschaften ermöglichen, ist mit der Potenz aufgeklärten Handelns nicht zu verwechseln« (TWI 112). 16 Carnap/Hahn/Neurath: »Wissenschaftliche Weltauffassung«. S. 1; 10 f.; S. 27. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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in einer zumindest annäherungsweise alltagstauglichen und allgemeinverständlichen Sprache gehalten sind. Die Apostrophierung von Sätzen der Art »es gibt einen Gott« oder »der Urgrund der Welt ist das Unbewußte« als nicht »falsch«, sondern als »völlig bedeutungsleer« durch den Wiener Kreis erscheint unter Voraussetzungen der Alltagssprache allerdings in so erheblichem Maße kontraintuitiv, dass sich durchaus bezweifeln lässt, ob die wissenschaftliche Ausschließung solcher Sätze ohne Weiteres in der vom Wiener Kreis bereits als faktisch behaupteten Aufnahme der wissenschaftlichen Weltauffassung durch »das Leben« gipfeln oder ob nicht im Gegenteil mit einem Selbstausschluss solcher Wissenschaftlichkeit vom Selbstverständigungsparkett jedweder Öffentlichkeit gerechnet werden muss. 17 Spätestens an den Schnittstellen einer Kommunikation zwischen wissenschaftlichen Expertenkulturen und öffentlicher Meinung also stößt die vom Wiener Kreis geforderte »Schärfe und Feinheit der Begriffsbildung«, sofern sie sich überhaupt durchhalten lässt, wohl unweigerlich an Vermittlungsgrenzen – und zwar hinsichtlich der Verständlichkeit ihrer Aussagen ebenso wie hinsichtlich der Legitimierbarkeit ihrer Ausschlusskriterien. 18 Ein Vermittlungsproblem stellt sich hier nicht zuletzt bereits der vom Wiener Kreis als vorbildlich angepriesenen Physik, die als ein Universum ganz eigener Art schon in der Nussschale für einen fachfremden Leser kaum zu knacken ist, um hier den Titel eines zum populärwissenschaftlichen Klassiker gewordenen Werkes von Stephen Hawking zur Illustration zu bemühen. 19 Ein Umstand, der freilich nicht auf etwaige Mängel in der Empirie oder Logik physikalischer Aussagen zurückzuführen ist, sondern vielmehr aus der hochgradigen Inkommensurabilität von der modernen Physik behandelter Sachverhalte mit unserem natürlichen Anschauungsapparat resultiert. Die wissenschaftsstandardisierende Verabschiedung einer Aussage als »sinnlos«, wenn sie »nicht verifizierbar, nicht sachhaltig« ist, würde also in die Paradoxie einer zutiefst irrationalen Ausweitung des Begriffs wissenschaftlicher Rationalität führen, wenn sie denn durchgehalten und auf eine Lebensumwelt appliziert würde, in der wir uns zur Artikulation von »Lebensfragen« einer historisch gewachsenen Sprache bedienen, die dieser Umwelt unter Voraus17 18 19

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Ebd., S. 12. Ebd., S. 20. Stephen Hawking: Das Universum in der Nussschale. München 2001.

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setzung eines natürlichen Wahrnehmungsapparats evolutionär angepasst ist. 20 Die Schwierigkeit einer Vermittlung zwischen diesen beiden auch sprachlich divergierenden Rationalitätssphären bringt Jürgen Habermas in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ auf den Begriff eines Übersetzungsproblems: Es zeigt sich […], daß mit dem problematischen Verhältnis von Literatur und Wissenschaft nur der Ausschnitt eines viel umfassenderen Problems erfaßt wird: des Problems nämlich, wie eine Übersetzung des technisch verwertbaren Wissens in das praktische Bewußtsein einer sozialen Lebenswelt möglich ist. Diese Frage stellt offensichtlich nicht nur, ja, nicht einmal in erster Linie die Literatur vor eine neue Aufgabe. Jenes Mißverhältnis der beiden Kulturen ist nur deshalb so beunruhigend, weil sich in dem scheinbaren Streit zweier konkurrierender Geistestraditionen in Wahrheit ein Lebensproblem der verwissenschaftlichten Zivilisation abzeichnet: wie nämlich die heute noch naturwüchsige Beziehung zwischen technischem Fortschritt und sozialer Lebenswelt reflektiert und unter die Kontrolle einer rationalen Auseinandersetzung gebracht werden kann. (TWI 107)

Vor diesem konzeptionellen Hintergrund einer demokratisch geleiteten Selbstverständigung über die technischen Möglichkeitshorizonte der verwissenschaftlichen Zivilisation wird an der missglückten Abschiebung mit »Gefühlsgehalt« geladener Ausdrucksweisen in die Kunst durch den Wiener Kreis aber nicht nur ein Reflexionsdefizit in Bezug auf die eigene Verfahrensweise, sondern auch ein erhebliches Maß an Naivität gegenüber einem gesellschaftlichen Leben sichtbar, dem sich die wissenschaftliche Weltauffassung doch als Diener anzuempfehlen gedenkt. 21 Eine Naivität, die man allerdings dem politisch gewieften und im Kontext der repräsentativen Öffentlichkeit seiner Zeit rhetorisch hochgradig reflektierten Lordkanzler Francis Bacon in derselben Weise noch nicht unterstellen kann. Wie sich an seinen Schriften ausweisen lässt, hatte Bacon ein feines Gespür für die wissenschafts- wie gesellschaftspolitischen Implikationen der von ihm geforderten Instauratio Magna (s. u. Kap. II). Der Wiener Kreis fällt hierin auch hinter seinen Vorfahren im Geiste noch zurück. Auf die potentiell verhängnisvollen Konsequenzen einer positivistischen Verengung von Rationalität auf ›Wissenschaftsförmigkeit‹ hat auch Hans Blumenberg in seinem Aufsatz »Anthropologische 20 21

Carnap/Hahn/Neurath: »Wissenschaftliche Weltauffassung«. S. 15; 10. Ebd., S. 13.

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Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik« (1971) hingewiesen, indem er die kategoriale Differenz zwischen lebenspraktischen und wissenschaftlichen Begründungsnormen herausgestellt hat: »Mit dem Vorwurf der Irrationalität muß man dort zurückhaltend sein, wo unendliche, unbestimmbar umfangreiche Verfahren ausgeschlossen werden müssen; im Begründungsbereich der Lebenspraxis kann das Unzureichende rationaler sein als das Insistieren auf einer ›wissenschaftsförmigen‹ Prozedur«. 22 Die Blumenberg’sche Perspektive auf Lebenspraxis verdankt sich dabei, ebenso wie die Habermas’sche, einer Auseinandersetzung mit Edmund Husserls Krisis-Schrift. 23 Die spezifische Rationalität eines Verzichts auf theoretisch-wissenschaftsförmige Normierungen in diesem Bereich ergibt sich – so lässt sich Blumenberg erläutern – einerseits aus der Unmöglichkeit, die Beschränkung auf empirisch überprüfbare Beobachtungssätze auch in den beiden praktischen Dimensionen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Handelns stringent durchzuhalten (1), andererseits aus praktischen Konsequenzen, die sich aus der arbeitsteiligen Struktur moderner, hochdifferenzierter Gesellschaften ergeben (2): 1) Zunächst einmal sieht sich jeder handelnde Mensch dazu genötigt, bestimmte Voraussetzungen als gegeben anzunehmen, ohne sie endgültig verifizieren zu können. Blumenberg illustriert diesen Umstand anhand des »Kausalitätsprinzips«: »Kein theoretischer Zweifel an der Geltung des Kausalitätsprinzips oder seiner evidenten Begründbarkeit kann irgendetwas daran ändern, daß wir auf dessen uneingeschränkte Geltung in unserem Verhalten setzen.« 24 Um unser alltägliches Leben bestreiten zu können, müssen wir in unserem Handeln davon ausgehen, dass die uns anschaulich gegebene Umwelt kausal geregelt ist. Mag es sich hierbei aus erkenntnistheoretischer Hans Blumenberg: »Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik (1971)«. In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981, S. 104–136. Hier: S. 125. 23 Vgl. Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (im Folgenden zitiert als: Krisis). Hamburg 2007; außerdem TWI 147–155; Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M. 41987 (im Folgenden zitiert als: TkH). Bd. 2, S. 182–228 und Hans Blumenberg: »Lebenswelt und Technisierung unter Aspekten der Phänomenologie«. In: Ders.: Wirklichkeiten in denen wir leben. Stuttgart 1981, S. 7–54. Bereits Blumenbergs Habilitation bei Ludwig Landgrebe stand unter dem Titel: Die ontologische Distanz. Eine Untersuchung über die Krisis der Phänomenologie Husserls (unveröffentlichte Habilitationsschrift, Kiel 1950). 24 Blumenberg: »Anthropologische Annäherungen«. S. 127. 22

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Sicht auch um eine ›naive‹ Prämisse handeln, so lässt sich diese Voraussetzung dennoch nicht als ›irrational‹ bezeichnen, da der Mensch in Ermangelung hinreichender Instinktdetermination schon seit Urzeiten darauf angewiesen ist, seiner Umwelt eine Regelhaftigkeit zu unterstellen, die es ihm ermöglicht, sein Handeln bewusst an überlebenswidrige Verhältnisse anzupassen. Unangesehen dessen, ob die Voraussetzung in ihrem präzisen Sinn zutrifft oder nicht (wie wir heute wissen, laufen physikalisch-mikrokosmische Vorgänge unserer natürlichen Anschauung zuwider), hat sie sich evolutionär zumindest insofern als hinreichend genau erwiesen, der Menschheit ein Überleben zu ermöglichen. Um allerdings theoretisch zu beweisen, dass wir die durchgängige kausale Regelung der uns anschaulich gegebenen Umwelt zu Recht unterstellen, wäre es notwendig, die lückenlose Gültigkeit eines zugrundeliegenden Kausalprinzips zu erweisen, was unmöglich ist, da wir hierfür eine unendliche Zahl von Beobachtungssätzen auf eine Bewährung des unterstellten Prinzips hin prüfen müssten. Obwohl theoretisch nicht verifiziert werden kann, dass der Kosmos in seiner Gesamtheit kausal geregelt ist, musste die universelle Gültigkeit eines Kausalprinzips zu Beginn der Neuzeit zunächst praktisch vorausgesetzt werden, wenn die empirischen Wissenschaften überhaupt jemals Fortschritte zeitigen sollten. Diesen Schritt hat Francis Bacon vollzogen, indem er die Quid-juris?-Frage nach der letzten Berechtigung unserer Erkenntnisansprüche wissenschaftlich verabschiedet hat (s. u. Kap. I.3; Kap. II.). Indem die Prämisse einer durchgängigen kausalen Regelung der anschaulichen Natur als bloße Hypothese behandelt wird, die sich an weiteren Beobachtungen ggf. als unbegründet erweisen könnte, lässt sich ihre Inanspruchnahme wissenschaftlich rechtfertigen. Nun verhält sich allerdings auch der experimentierende Wissenschaftler, der weiß, dass die durchgängige Gültigkeit eines Kausalprinzips eine bloße Hypothese ist, als ein natürlicher Mensch so, dass er dieses Prinzip bei der Ausübung seiner wissenschaftlichen Tätigkeit über weite Strecken als eine völlige Selbstverständlichkeit voraussetzt. Das Verhalten eines modernen Humangenetikers, der in seinem Labor eine DNA-Sequenzierung durchführt oder eines Physikers, der am CERN Computerdaten des Teilchenbeschleunigers auswertet, unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht grundsätzlich von demjenigen eines Urzeitmenschen, der sich beim Jagen und Sammeln in seiner Umwelt orientieren musste. Der Vorschlag des Wiener Kreises, solche Aussagen auszurotten, die keine Anweisung zu ihrer Verifikation enthalten, so Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Blumenberg, schließe dagegen von vornherein »die Stillegung von Praxis ein, die auf solchen Prämissen beruht, und [werde] dadurch illusionär«. 25 Wollte ein Wissenschaftler den Hypothesencharakter eines Kausalprinzips – entgegen der ihm angeborenen anthropologischen Neigung – ständig mit in Rechnung ziehen, stünden ihm geistige Ressourcen nicht mehr zur Verfügung, die er für die Auswertung seiner eigentlichen Forschungen dringend benötigt. Der in weiten Teilen auf der Etablierung und dem ungestörten Ablauf von automatisierten Handlungsroutinen basierende Wissenschaftsbetrieb, wie wir ihn kennen, würde also unmöglich. 2) Über diese praktische »Nötigung zur Axiomatisierung« theoretisch ›bloßer‹ Voraussetzungen hinaus ist aber jeder moderne Forscher gezwungen, auf Ergebnisse von Kollegen und Vorgängern aufzubauen und sich »Quasiresultate« aus angrenzenden Disziplinen zuliefern zu lassen, die er, aufgrund des dafür ansonsten real erforderlichen Zeitaufwandes oder mangels fachwissenschaftlicher Qualifikation, nicht eigenhändig selbst noch einmal überprüfen und ausweisen kann. 26 Er muss, aller theoretisch späterhin möglichen Falsifikation der in Anschlag gebrachten Prämissen zum Trotz, praktisch so handeln, als ob sie wahr wären, um auf dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaften weiter forschen zu können. Ohne einen solchen Vertrauensvorschuss gegenüber der verantwortlichen Arbeit von Kollegen wäre ein weiterer wissenschaftlicher Fortschritt schon deshalb unmöglich, weil Umfang und Vernetzung des gesamtgesellschaftlich verfügbaren Wissens die Anforderungen an ›Universalgelehrsamkeit‹ spätestens seit dem 19. Jh. übersteigen. Dieser Vorgang einer Behandlung von Zwischenergebnissen als endgültig ist für die wissenschaftliche Weltauffassung insofern unproblematisch, als die vom Wiener Kreis geforderte Norm einer klaren Ausweisung von Verifikationsregeln durch die Kollektivarbeit insgesamt gewahrt bleiben kann. Der einzelne Forscher kann seine Begründungslasten teilweise an Kollegen delegieren, indem er auf deren Arbeiten verweist. Wenn man zusätzlich der Vorgehensweise Bacons folgt, die durchgängige Gültigkeit eines Kausalprinzips hypothetisch vorauszusetzen, obwohl keine Beobachtungsregel angegeben werden kann, nach der es endgültig bestätigt werden könnte, ist die gängige Wissenschaftspraxis noch ohne Schwierigkeiten mit den theoretisch-wissenschaftlichen 25 26

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Normen ›Ausweisung von Verifikationsregeln‹ und ›Falsifikationsvorbehalt‹ vereinbar. Es deutet sich zwar hier bereits an, dass schon innerhalb einer Scientific Community an den Fächergrenzen Übersetzungsleistungen (im Habermas’schen Sinne) in Gestalt von sprachlichen Vereinfachungen und Verallgemeinerungen erforderlich sind, die es gestatten, hochkomplexe Sachverhalte angrenzender Disziplinen zugunsten der eigenen auf abstrakte Resultate dadurch zu reduzieren, dass Nachweispflichten dem Verantwortungsbereich anderer Forscher zugewiesen werden. Zu einem ernstzunehmenden Konflikt zwischen Theorie und Rechtfertigungspraxis führt diese gesellschaftlich arbeitsteilige Verfahrensweise jedoch erst, wenn Forschungsergebnisse auch zur Befriedigung eines öffentlichen Bedürfnisses nach technischen Lösungen in Anschlag gebracht werden. Während sich der einzelne Wissenschaftler im Rahmen einer Scientific Community auch dann noch mit gutem Recht darauf berufen kann, er habe gemäß wissenschaftlichen Standards verantwortungsvoll gehandelt, wenn er nach bestem Wissen und Gewissen auf Voraussetzungen aufgebaut hat, die sich erst nach der Veröffentlichung seiner Forschungen als unzureichend erwiesen haben, kann just derselbe wissenschaftliche Irrtum im Zuge einer gesellschaftlich-realen Applikation wissenschaftlicher Erkenntnisse bereits verheerende Auswirkungen gezeitigt haben. Unter Bedingungen einer Beratung öffentlichen Handelns allerdings muss dem als ›Experten‹ angesprochenen Wissenschaftler sehr wohl eine Verantwortung für die praktischen Konsequenzen der auf seinen Ratschlägen beruhenden Entscheidungen zugemutet werden können. Eine Zumutung, die hier nicht mehr an der Grenze der vom Wissenschaftler persönlich erarbeiteten Ergebnisse Halt machen kann, da dieser sich ansonsten jederzeit durch den Hinweis aus der Affäre ziehen könnte, er habe die Voraussetzungen, auf denen er aufbaute, nicht persönlich zu verantworten: Wissenschaftliche Aussagen seien eben prinzipiell als bloß vorläufige zu nehmen. Durch eine solche Haltung würde öffentlichverantwortliches Handeln, das aufgrund seiner gesellschaftlich-realen Dimension nicht mit wissenschaftlich-verantwortlichem Handeln verwechselt werden darf, schlechthin unmöglich: Wo kein wissenschaftliches Forschungsergebnis mehr öffentlich als ›wirklich‹ vertreten, sondern bloß noch als ›problematisch‹ in den Raum gestellt würde, fände sich jedes öffentliche Handeln, das handlungsleitend auf die subjektiv-verbindlichen Stellungnahmen beteiligter Bürger angewiesen ist, in der Phase der Entscheidungsfindung paralysiert. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Während die theoretischen Begründungsnormen also noch ohne Weiteres mit der Praxis des Wissenschaftsbetriebs vereinbar sind, stehen sie in eklatantem Widerspruch zur Rechtfertigungspraxis öffentlich-verantwortlichen Handelns. Vor diesem Hintergrund kann Blumenberg deshalb feststellen, dass »eine auf Handlungszwänge [z. B. auf die technische Bewältigung von akuten Krisenphänomenen] bezogene Theorie lahmgelegt und zur Sterilität verurteilt wäre«, wenn die wissenschaftsförmigen Forderungen ›Ausweisung von Verifikationsregeln‹ und ›Falsifikationsvorbehalt‹ praktisch stringent durchgehalten würden. 27 Eine solche Erweiterung des Geltungsbereichs theoretisch-wissenschaftlicher Standards wäre in einer öffentlichen Rechtfertigungspraxis schon aufgrund des für die Offenlegung sämtlicher Implikationen einer Theorie real benötigten Erklärungs- und Zeitaufwandes ausgesprochen unpraktisch. Ein die Öffentlichkeit informierender und beratender Wissenschaftler muss in seiner Doppelfunktion als Experte und Bürger einer Gesellschaft deshalb aus gutem Grund damit rechnen, repräsentativ die Konventionen seiner wissenschaftlichen Zunft und stellvertretend auch den Stand der für einen gegebenen Zusammenhang insgesamt relevanten Forschungen verantworten zu sollen. Aufgrund dieser gegenüber den Wissenschaften in ihrer Eigensinnigkeit zu betonenden und vor allem keineswegs metaphysischwillkürlichen, sondern schlicht pragmatisch wohlbegründeten Rationalität öffentlich-konsensuellen Handelns hebt Blumenberg hervor, dass Wissenschaftler in ihrer auf Öffentlichkeit gerichteten Funktion unweigerlich »rhetorisch« handeln müssen, »nämlich auf einen faktischen consensus zielend, der nicht der consensus ihrer theoretischen Normen sein« könne. 28 Bei der informativen Darlegung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse spielt dabei die Allgemeinverständlichkeit und Ad-Hoc-Plausibilität von Aussagen offensichtlich eine wesentlich größere Rolle als der Aspekt einer wirklich lückenlosen Überprüfbarkeit durch den Adressaten, da letztere schon aufgrund des faktischen Informationsgefälles zwischen Bürgern einer hochdifferenzierten Gesellschaft ohnehin in höchstem Maße virtuell ist. Das von Habermas formulierte Übersetzungsproblem – wie nämlich »die Gewalt technischer Verfügung in den Konsensus handelnder und verhandelnder Bürger zurückgeholt« werden kann (TWI 114) – 27 28

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wird bei Blumenberg damit als eine Problematisierung gängiger Sprechweisen an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit thematisch, an die ich in dieser Arbeit die Frage anschließen möchte, wie angesichts gesamtgesellschaftlich dimensionierter Problemlagen allgemeinverständlich über technische Möglichkeitshorizonte gesprochen werden kann. Blumenberg selbst stand dem Projekt einer Kritischen Theorie stets ablehnend gegenüber, weshalb der Versuch einer Einbindung seiner Arbeiten in den vorliegenden Zusammenhang auf den ersten Blick befremdlich erscheinen mag: »Theoretische Neugierde hielt er für philosophischer als Interesse an der Verbesserung der Welt.« 29 Mein Interesse an seinen Schriften gilt hier jedoch lediglich der Frage, ob die von ihm konkret ausgearbeiteten metaphorologischen Analysen zur Aufklärung von sprachlichen Strukturen beitragen können, wie sie in Texten vom Theorietypus einer Einheit von Theorie und Praxis auftreten, wofür sein eigenes philosophisches Selbstverständnis eine nachgeordnete Rolle spielt. 30 Auf die Möglichkeit einer Anbindung von Blumenbergs Arbeiten an das Habermas’sche Übersetzungsproblem, die einen wesentlichen Aspekt der vorliegenden Untersuchung ausmacht und die an dieser Stelle nur vorläufig angesprochen werden konnte, werde ich später noch im Detail eingehen (s. u. Kap. I.3). Dass metaphorische Sprechweisen, die auf einen kulturell tradierten Fundus an Ausdrucksmitteln zurückgreifen, bereits gemäß Blumenberg eine besondere Eignung zur Verständigung zwischen Experten und Laien aufweisen, wird an seiner Formulierung deutlich,

Ferdinand Fellmann: »Blumenberg, Hans«. In: Information Philosophie: Porträts. (https://www.information-philosophie.de/?a=1&t=857&n=2&y=1&c=63#; zuletzt abgerufen am 4. März 2019). 30 Diese Weise des Umgangs mit Blumenbergs Schriften bewegt sich zumindest insofern im Einklang mit seiner eigenen philosophisch-wissenschaftlichen Methodik, als Blumenberg – wie Barbara Merker feststellt – zeitlebens »ein Praktiker der Metaphernforschung, kein Theoretiker der Metaphorologie« gewesen ist (Barbara Merker: »Phänomenologische Reflexion und pragmatistische Expression. Zwei Metaphern und Methoden der Philosophie.«. In: Haverkamp/Mende (Hrsg.): Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie. Frankfurt a. M. 2009. S. 153–180. Hier: S. 153). Den Erweis der Leistungsfähigkeit seiner ›Metaphorologie‹ hat Blumenberg also selber in erster Linie durch die forschungspraktische Erprobung seiner Methode an Texten, nicht auf dem Wege einer systematisch durchgeführten Methodenreflexion zu erbringen versucht. 29

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Wissenschaftler müssten zur Erzielung eines öffentlichen Konsenses »rhetorisch« handeln (s. o.). Ein methodisch kontrollierter Einsatz von Metaphorik steht dabei allerdings vor besonderen Herausforderungen, die reflektiert und sprachlich bewältigt werden müssen: Die Metaphernverwendung hat erstens die Integrität seriöser Wissenschaftlichkeit zu wahren; d. h. die wissenschaftlichen Konventionen müssen als solche unangetastet bleiben, um die eigensinnige Rationalität der Wissenschaftspraxis nicht zu gefährden. Zweitens müssen Metaphern aber so gewählt sein, dass sie das öffentliche Bedürfnis nach zugleich theoretisch informativen wie in ihrer persönlich-aufrichtigen Verbindlichkeit praktisch handlungsleitenden Stellungnahmen befriedigen; d. h. auch der Eigensinn öffentlicher Rechtfertigungspraxis muss gewahrt bleiben. Aus den beiden vorgenannten Prämissen folgt dann drittens, dass Metaphorik nicht dazu missbraucht werden darf, technische Lösungen – gewissermaßen über die Köpfe eines Laienpublikums hinweg – paternalistisch als das ›Nonplusultra‹ oder gar als ›alternativlos‹ anzupreisen, die innerhalb der Scientific Community als problematisch und ausgesprochen risikoreich gelten bzw. nur eine von vielen möglichen Alternativen darstellen, die offengelegt und in einem deliberativen Prozess gegeneinander abgewogen werden könnten. Nun muss man natürlich nicht erst auf Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit zurückgreifen, um aus der Tradition Kritischer Theorie Argumente zu mobilisieren, die geeignet sind, positivistischen Positionen ein Reflexionsdefizit zu attestieren. Bereits dem frühen Max Horkheimer gilt das Programm des Wiener Kreises als nur Der neueste Angriff auf die Metaphysik (1937) von Seiten positivistisch orientierter Bestrebungen zu einer »Einheitswissenschaft«, die er zusammen mit Adorno in der Dialektik der Aufklärung (1944) später auch in ihren neuzeitlichen Anfängen radikal kritisieren wird (s. u. Kap. I.2.a; IV.1). 31 Die »Naivität der Lösungen« (AM 111) in der Max Horkheimer: »Der neueste Angriff auf die Metaphysik (1937)«. (Hier und im Folgenden zitiert als: AM) In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 4: Schriften 1936– 1941. Frankfurt a. M. 1988, S. 108–161. Hier: S. 122. Mit dem Hinweis, dass die Menschen auch bei fortgeschrittener Erkenntnis über die Natur fortfahren, »sich der alten Denkformen weiter zu bedienen, die in der Theorie erledigt sind«, stellt Horkheimer heraus, dass das »öffentliche Bewußtsein des Bürgertums und seine Wissenschaft noch nie recht zueinander gepaßt« haben (AM 109 f.). Damit antizipiert er bereits das Habermas’sche Übersetzungsproblem zwischen Gesellschaftssphären, die sich nicht restlos aufeinander reduzieren lassen. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno:

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Reduktion gesellschaftlicher Problemkomplexe auf einfache empirische Tatsachen wird von Horkheimer als sowohl in (1) performativer wie (2) theoretischer Hinsicht selbstwidersprüchlich und als in ihrer gesellschaftstheoretischen Anwendung auch (3) praktisch verhängnisvoll kritisiert: 1) Horkheimer stellt fest, dass der Wiener Kreis sein Verständnis »der Logik als eines Systems von Sprachformen, das inhaltsleer sei«, im »Kampf mit der Metaphysik« rasch preisgibt, womit er auf den performativen Selbstwiderspruch hinweist, in den sich der Wiener Kreis schon durch die Wahl einer eindeutig von subjektiven Wertungen durchzogen Sprache verstrickt, wenn er die wissenschaftspolitische Durchsetzung seiner Weltauffassung gegen die Metaphysik durchzusetzen strebt: »Die Trennung von Form und Inhalt ist entweder undurchführbar oder unzutreffend. Es ist ein Schein, dass sie ohne sachliche Stellungnahme möglich sei.« (AM 144) Ein solches Argument wäre, wenn es nur auf Fragen der konkret gegenwärtigen Wissenschaftspraxis zielte, für sich genommen jedoch noch nicht hinreichend, um auch die theoretische Validität der kritisierten Position zu bestreiten. Der Wiener Kreis könnte sich auf den Standpunkt zurückziehen, der Zeitgeist nötige vorläufig noch zu Konzessionen an etablierte Sprechweisen, um die Durchsetzung der wissenschaftlichen Weltauffassung zu erreichen – die geforderte Sprachreinigung stehe eben noch aus. 2) Mit einem Argument, das bei Horkheimer nicht leicht zu durchschauen, von Bertrand Russell jedoch später – wohl ohne Kenntnis von Horkheimers Text – in ähnlicher Weise vorgebracht und präziser gefasst worden ist, lässt sich allerdings auch die theoretische Position des Wiener Kreises als selbstwidersprüchlich kritisieren: Horkheimer weist darauf hin, dass die Auffassung des Wiener Kreises, nur Sätze über empirisch feststellbare Tatsachen seien sinnvoll, »als eine dem Empirismus widerstreitende, subjektive Stellungnahme« gewertet werden muss: »Erklärt eine logische Doktrin sich selbst […] als die Logik schlechthin, so ist sie damit aus dem Formalismus herausgetreten, und ihre Aussagen haben inhaltliche Bedeutung und weitgehende philosophische Konsequenzen.« (AM 147 f.) Dieses Argument lässt sich mit Russell so verstehen, dass der Wiener Kreis seine eigene These, nur Aussagen über empirische Sachverhalte Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (im Folgenden zitiert als: DA). Amsterdam 1947. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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und analytischen Sätzen der Logik und Mathematik sei Wahrheit zuzuerkennen, selbst nicht wieder empirisch ausweisen kann. 32 In diesem Sinne stellt sie eine »dem Empirismus widerstreitende, subjektive Stellungnahme« mit »inhaltliche[r] Bedeutung und weitgehende[n] philosophische[n] Konsequenzen dar«, wobei die weitreichenden Folgen in theoretischer Hinsicht darin bestehen, dass auf diesem Wege auch Aussagen, »die in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte ihre Rolle gespielt haben und spielen«, wissenschaftlich disqualifiziert würden, ohne indes durch den Nachweis einer exklusiven Gültigkeit der vom Wiener Kreis in Anschlag gebrachten Verifikationsbedingungen bereits zwingend widerlegt worden zu sein (AM 147). 33 Die performative Selbstwidersprüchlichkeit positivistischer Praxis steht für Horkheimer damit letztlich in einem Entsprechungsverhältnis zur Inkonsistenz der theoretischen Grundthese des Logischen Empirismus. Diese ist selbst weder empirisch noch eine bloß »tautologische Umformung«, sondern muss als eine auch inhaltlich bestimmte Stellungnahme gelten. 34 3) Die Forderung des Wiener Kreises, nur empirisch-synthetische und logisch-analytische Sätze gelten zu lassen, hat nun aber auch praktisch fatale Auswirkungen, wenn ein solcher Begriff von Wissenschaftlichkeit gemäß dem Paradigma der angestrebten Einheitswissenschaft auf die »Grundlagen der Sozialwissenschaften« appliziert wird. 35 Horkheimer weist in Traditionelle und Kritische Theorie (1937) auf den entscheidenden Unterschied hin, den es hier zwischen einer naturwissenschaftlichen Beschreibung, etwa der Physik, und einer gesellschaftswissenschaftlichen Erklärung zu beachten gilt: Während die »Sache, mit der es der Fachwissenschaftler zu tun Vgl. Bertrand Russell: An Inquiry into Meaning and Truth. London 51956, S. 165: »I will observe, however, that empiricism, as a theory of knowledge, is self-refuting. For, however it may be formulated, it must involve some general proposition about the dependence of knowledge upon experience; and any such proposition, if true, must have a consequence that itself cannot be known. While, therefore, empiricism may be true, it cannot, if true, be known to be so. This, however, is a large problem.« Und – unter Berufung auf Russell – Ernst Tugendhat: »Tarskis semantische Definition der Wahrheit und ihre Stellung innerhalb der Geschichte des Wahrheitsproblems im logischen Positivismus (1960)«. In: Gunnar Skirbekk (Hrsg.): Wahrheitstheorien. Frankfurt a. M. 1977, S. 189–223. Hier bes.: S. 202 f.; 211. 33 Vgl. hierzu auch Smail Rapic: Erkenntnis und Sprachgebrauch. Lichtenberg und der Englische Empirismus (Lichtenberg-Studien Band VIII). Göttingen 1999, S. 22 f. 34 Carnap/Hahn/Neurath: »Wissenschaftliche Weltauffassung«. S. 14. 35 Ebd., S. 24. 32

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hat, […] von seiner eigenen Theorie überhaupt nicht berührt« wird, muss der Gesellschaftstheoretiker damit rechnen, dass seine Veröffentlichungen im Zuge ihrer gesellschaftlichen Rezeption Auswirkungen auf das Selbstverständnis von Personen und sozialen Gruppen haben, die eben nicht nur den Gegenstand seiner theoretischen Beschreibungen, sondern zugleich deren Publikum bilden. 36 Gesellschaftstheorien können so die soziale Praxis nachhaltig beeinflussen. Diese Struktur ist es, die vom Wiener Kreis nicht reflektiert wird. Unter Voraussetzung einer nur Tatsachen konstatierenden »Einheitssprache« wäre der Theoretiker in seiner Arbeit darauf festgelegt, geschichtliche Entwicklungen einzig unter dem Gesichtspunkt von Ursache-Wirkung-Beziehungen zu thematisieren, also etwa die gegenwärtige Gesellschaftsformation als quasi-natürliche Folge von determinierenden Ereignissen wie Kriegen, der Eroberung ganzer Kontinente und der Unterwerfung indigener Volksgruppen zu erklären, wodurch einer Interpretation Vorschub geleistet würde, der Geschichtslauf hätte notwendig in der kausal rekonstruierten Weise seinen Gang nehmen müssen (TKT 204). Eine Beeinflussung des Untersuchungsobjektes wäre auf diese Weise allerdings keineswegs verhindert, sondern – nicht anders als bei jeder direkten persönlichen Stellungnahme – impliziert, insofern eine solche rein objektivierende Beschreibung den Schluss nahelegte, dass man sich mit dem periodischen Ausbruch von Kriegen in derselben Weise zu arrangieren habe wie etwa mit dem naturphänomenal unausweichlichen Auftreten von Sonneneruptionen. Ein Verzicht auf explizite Stellungnahme und die Beschränkung auf Beobachtungssätze läuft in der Gesellschaftswissenschaft in diesem Sinne auf ein ›Qui tacet, consentire videtur‹ hinaus. Horkheimer stellt deshalb für die Gesellschaftstheorie fest, den »Gegenstand der Theorie von ihr getrennt zu halten verfälscht das Bild und führt zum Quietismus oder Konformismus.« (TKT 203) »In ihrer Reflexion sehen sich die Menschen als bloße Zuschauer, passive Teilnehmer eines gewaltigen Geschehens, das man vielleicht vorhersehen, jedenfalls aber nicht beherrschen kann.« (TKT 206) Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die einheitswissenschaftliche Grundthese des Wiener Kreises auch in diesem Sinne unweigerMax Horkheimer: »Traditionelle und Kritische Theorie (1937)«. (Hier und im Folgenden zitiert als: TKT). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 4: Schriften 1936– 1941. Frankfurt a. M. 1988, S. 162–216. Hier: S. 203.

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lich als eine »subjektive Stellungnahme« mit weitreichenden Konsequenzen gewertet werden muss, kann Horkheimer den Verfechtern einer positivistisch orientierten Gesellschaftstheorie vorhalten, sie schnitten sich durch ihre sprachhygienische Selbstbeschränkung von jeder Möglichkeit zur gesellschaftskritischen Stellungnahme ab und immunisierten sich durch den Hinweis auf die ›Objektivität‹ ihrer Feststellungen zugleich gegen jede ggf. an sie herangetragene Kritik, ohne indes die sozialpsychologische Wirkungsdimension ihrer eigenen Publikationstätigkeit real neutralisieren zu können: »Die Auffassung, daß die Wissenschaft sich darin erschöpfe, gegebene Tatsachen zu konstatieren und zu ordnen, um künftige vorauszusagen, isoliert die Erkenntnis, ohne die Isolierung wieder aufzuheben.« (AM 130) »Das Subjekt zieht sich aus der Affäre, es hat kein Interesse als – die Wissenschaft.« (TKT 206) Den skizzierten Reflexionsdefiziten des Theorietypus einer kausal erklärenden Einheitswissenschaft stellt Horkheimer in Traditionelle und Kritische Theorie (1937) deshalb sein eigenes Programm einer am Historischen Materialismus von Karl Marx und Friedrich Engels geschulten kritischen Theorie der Gesellschaft entgegen. 37 Dem praktischen Ertrag der experimentell verfahrenden, kausal-erklärenden Wissenschaften in Bezug auf eine Gestaltung der gesellschaftlichen Zukunft trägt Horkheimer dabei insofern Rechnung, als er konstatiert, »die unmittelbare Selbsterhaltung, und den Sinn für sie zu entwickeln, haben die Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft Gelegenheit gehabt«, und dann anfügt, die »Erkenntnis in diesem traditionellen Sinn einschließlich jeder Art von Erfahrung ist in der kritischen Theorie und Praxis enthalten« (TKT 194; vgl. 216). In der kritischen Theorie »enthalten« ist die traditionelle dabei in zweifacher Hinsicht: Zum einen soll auch die Kritische Theorie sich der Methodik des »organisierte[n] Experiment[s]« (TKT 194) bedienen. Durch die Aufweisung »objektiver Möglichkeiten« der Gegenwart, die auf empirisch-wissenschaftlicher Theoriebasis zu der Prognose Anlass geben, ihre praktische Realisierung werde künftig zu einer Beseitigung ge-

Vgl. paradigmatisch die Formulierung zur »Wissenschaft der Geschichte« als »einzige[r] Wissenschaft« in »Die Deutsche Ideologie«. Die Werke von Marx und Engels zitiere ich in der vorliegenden Abhandlung durchgängig nach: Karl Marx/Friedrich Engels: Marx-Engels-Werke (im Folgenden unter Angabe von Band und Seitenzahl zitiert als: MEW). 42 Bde., Berlin 1956 ff. Hier: MEW 3, 18.

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sellschaftlicher Pathologien führen, soll eine Veränderung sozialer Verhältnisse zum Besseren in die Wege geleitet werden (vgl. TKT 167 f.). Der Terminus ›objektive Möglichkeit‹ umschreibt dabei geschichtliche Kontingenzspielräume, die – sofern es sich nicht um vertane Chancen der Vergangenheit, sondern um »reale Möglichkeit[en] beim heutigen Stand der menschlichen Produktivkräfte« handelt – durch entschlossenes Handeln zur Entscheidung gebracht werden können (TKT 193). Horkheimer stellt fest: Die Erfüllung der Möglichkeiten hängt von geschichtlichen Kämpfen ab. Die Wahrheit über die Zukunft ist nicht eine Feststellung über Gegebenes, die bloß einen besonderen Index hätte. Der eigene Wille […] darf sich nicht beruhigen lassen, wenn die Prognose wahr sein soll. 38

Über die »Wahrheit« der Kritischen Theorie kann also nur »handelnd«, in »konkreter geschichtlicher Aktivität«, d. h. experimentell entschieden werden (TKT 196). Zum anderen ist die traditionelle Theorie in der kritischen auch insofern »enthalten«, als Horkheimer den Nutzen der empirischen Einzelwissenschaften nicht nur nicht anzweifelt, sondern ihnen sogar eine unverzichtbare Funktion bei der Beherrschung von Naturverhältnissen zubilligt (vgl. TKT 190 f.). Sein Theorieentwurf behält dergestalt noch ein ›baconisches‹ Element: Die Kritische Theorie des frühen Horkheimer teilt mit den von ihm als ›traditionell‹ bezeichneten Theorien die Hoffnung auf eine materiale Befriedung des Kampfes ums Dasein durch die technologische Ausschaltung von Quellen möglicher Verteilungskonflikte, die sich angesichts begrenzter natürlicher Ressourcen ansonsten zwangsläufig ergeben müssen. 39 Die fortschrittsoptimistische Position des Wiener Kreises wird vom frühen Horkheimer also zwar einerseits als einseitig kritisiert, da sie der faktischen Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse aufgrund eines Reflexionsdefizits methodisch nicht gerecht zu werden Max Horkheimer: »Nachtrag (1937)«. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Band 4: Schriften 1936–1941. Frankfurt a. M. 1988, S. 217–225. Hier: S. 224 f. 39 Vgl. hierzu auch die 2. Feuerbach-These, mit der schon Marx deutlich auf Francis Bacon Rekurs nimmt: »Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme – ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage.« (MEW 3, 5). Diesen baconistischen Rest wird Horkheimer allerdings später aufgeben (s. u. Kap. I.2.a). 38

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vermag, zugleich jedoch in seinen eigenen Theorieentwurf integriert. Ein argumentativer Vorgang, der sich für die kritische Theorietradition insofern als richtungsweisend herausstellen wird, als auch Jürgen Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns (1981) das Wahrheitsmoment einer kausal erklärenden Einheitswissenschaft – nämlich der Systemtheorie – in den Rahmen seiner eigenen Gesellschaftstheorie einholen wird. 40 Gewissermaßen aus den beiden Außenspiegeln der Habermas’schen Doppelperspektive von ›System‹ und ›Lebenswelt‹ gesprochen lässt sich dann bereits Max Horkheimers Kritische Theorie beschreiben als das Konzept einer Gesellschaftstheorie, welche »die soziale Realität zwar einerseits als gesetzlich gelenkten Strukturzusammenhang, andererseits aber als Handlungszusammenhang verantwortlicher Personen thematisiert.« 41 Da der frühe Horkheimer nun allerdings nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich Anleihen bei den kausal erklärenden Wissenschaften nimmt, können sich Zweifel regen, ob die Integration solcher inhaltlich gehaltvollen Prämissen nicht zu Inkonsistenzen führt, die sein Programm einer Kritischen Theorie der Gesellschaft in dieser Phase im Ganzen gefährden. Gernot Böhme hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass »Horkheimer […] die positivistische Zugangsweise zur Natur, wie sie von der Naturwissenschaft praktiziert wird, schlicht akzeptierte«; d. h. seine Positivismuskritik einzig auf die Gesellschaftstheorie bezog, die gängige naturwissenschaftliche Praxis dabei aber weitgehend unangetastet ließ. 42 Dieses »Zutrauen in die Wohlbegründetheit von Naturwissenschaft hat seine Parallele […] bezüglich der Technik und ihrer Entwicklung.« 43 Der Nutzen und der Erfolg des baconischen Programms einer fruchtbringenden Herrschaft über die äußere Natur bleiben beim frühen Horkheimer also unbestritten. Angesichts eines solchen Befundes stellt sich die Frage, ob mit der Übernahme einer auf Technologie gestützten Fortschrittshoffnung nicht ungewollt Reflexionsdefizite kausal erklärender Theorien in den Entwurf Kritischer Theorie importiert werden, Vgl. Smail Rapic: Subjektive Freiheit und Soziales System. Positionen der kritischen Gesellschaftstheorie von Rousseau bis zur Habermas/Luhmann-Kontroverse. Freiburg/München 2008, S. 11. (Zu Habermas’ TkH: s. u. Kap. I.2.b). 41 Rapic: Subjektive Freiheit. S. 9. 42 Gernot Böhme: »… vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrscht …«. In: Ders./Manzei (Hrsg.): Kritische Theorie der Technik und der Natur. München 2003, S. 13–23. Hier: S. 15. 43 Ebd. 40

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die mit der kritischen Absicht derselben im Grunde unverträglich sind. In den folgenden Abschnitten werde ich den methodischen Bezugsrahmen der vorliegenden Untersuchung erörtern, wobei ich zugleich die zentralen Begriffe und Kategorien einführe, auf die ich in den weiteren Kapiteln zurückgreife. Gliederung und Argumentationsgang bis hin zur Thesenexposition seien daher kurz umrissen: Zunächst werde ich das systematische Problem, das sich durch die unkritische Aufnahme einer baconischen Fortschrittshoffnung beim frühen Horkheimer ergibt, im Einzelnen näher erläutern. Von hier aus kann dann der Überschritt gemacht werden zu Horkheimers und Adornos Schriften in den 1940er Jahren, in denen sich eine grundsätzliche Revision von Horkheimers früher Haltung zur Technik abzeichnet (Kap. I.2.a). Habermas hat das Projekt einer ›Kritik der instrumentellen Vernunft‹, wie Horkheimer und Adorno es in den 40er-Jahren vertreten, als aporetisch kritisiert, wobei er insbesondere auf den unklaren Theoriestatus und die ungeklärten normativen Grundlagen ihrer Entwürfe verwiesen hat. Da Habermas gleichwohl am Programm einer kritischen Gesellschaftstheorie in praktischer Absicht festhalten will, erneuert er den Bezugsrahmen der frühen Kritischen Theorie der 30er-Jahre ab Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ (1968) so, dass die beiden genannten Defizite auch angesichts einer veränderten zeitgeschichtlichen Ausgangslage vermieden werden können und ein Ausweg aus der aporetischen Situation erkennbar wird. In entfalteter Form hat Habermas seine eigene Konzeption schließlich in der Theorie des kommunikativen Handelns (erstmals 1981) vorgelegt (Kap. I.2.b). In diesem Werk kritisiert Habermas auch den Metapherngebrauch von Horkheimer und Adorno, was es mir ermöglicht, Hans Blumenbergs metaphernanalytisches Unternehmen einer ›Metaphorologie‹ zunächst lose an Habermas anzubinden. Um Blumenberg – der dem auf Öffentlichkeit orientierten Unternehmen einer Kritischen Theorie selbst ablehnend gegenüber stand und dessen Verhältnis zu Habermas Ferdinand Fellmann als eines der »[s]tille[n] Rivalität« bezeichnet – in systematisch weiterführender Weise für diese Theorietradition fruchtbar machen zu können, sind allerdings einige theoriegeschichtliche Zwischenschritte nötig, weshalb ich an dieser Stelle neu ansetze. 44 Im Rückgang auf Edmund Husserls Ausführungen zur Krisis der europäischen Wissenschaften, auf die sich 44

Fellmann: »Blumenberg, Hans«.

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sowohl Habermas als auch Blumenberg berufen, wird es möglich, die ›Metaphorologie‹ an den Habermas’schen Bezugsrahmen anzubinden und sie für Fragen eines kontrollierten metaphorischen Sprechens über Möglichkeiten der Technikentwicklung im Rahmen einer Kritischen Theorie fruchtbar zu machen (Kap. I.3). Im Anschluss daran werde ich meine zentralen Thesen exponieren und den Aufbau des folgenden Hauptteils umreißen (Kap. I.4).

2.

Kritische Theorie vom frühen Max Horkheimer bis zu Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns

a.) Vom frühen Max Horkheimer zur ›Kritik der instrumentellen Vernunft‹ bei Horkheimer und Adorno Max Horkheimer erörtert es in Traditionelle und Kritische Theorie (1937) als das Spezifikum der »kritische[n] Theorie« gegenüber »den fortgeschrittensten traditionellen Theorien«, ein »mit ihr selbst verknüpfte[s] Interesse an der Aufhebung gesellschaftlichen Unrechts« aufzuweisen (TKT 216). Dieses Interesse sei geleitet von der »Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist« (TKT 191). Der durch die naturwissenschaftliche Forschung und ihre Anwendung bisher erreichte und aufrechterhaltene Stand der fortgeschrittenen Industriegesellschaft wird von ihm damit explizit den ermöglichenden Rahmenbedingungen eines künftigen sozialen Fortschritts zugerechnet, den die Kritische Theorie in ihrem Selbstverständnis, »Moment einer auf neue gesellschaftliche Formen abzielenden Praxis« zu sein, zu beschleunigen strebt (TKT 190). In ganz ähnlicher Weise hatten bereits Marx und Engels in der Deutschen Ideologie eine gelingende Aufhebung der ›Arbeit‹ durch die kommunistische Revolution an die Bedingung des erreichten Standes technologischen Fortschritts geknüpft. Die »Entwicklung der Produktivkräfte« bildet für sie die »absolut notwendige praktische Voraussetzung« der Aufhebung von »Mangel« und »Notdurft« in künftigen Gesellschaften, da ohne die Errungenschaften der Technik »der Streit um das Notwendige« auch nach einer Revolution wieder von neuem beginnen müsse (MEW 3, 34 f.). Ohne die technischen Mittel der bürgerlichen Gesellschaft wäre also auch jenes postkapitalistische Alternativszenario zum Kommunismus, der Rückfall in die Anarchie 40

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durch den, wie es im Kommunistischen Manifest (1848) heißt, »gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen«, unausweichlich (MEW 4, 462). Nur auf dem Wege des menschheitsgeschichtlichen Projektes einer sukzessiven Befreiung von Naturzwängen, dessen allgemeine Tendenz in die Richtung weist, dass die zum materiellen Fortbestand der Gesellschaft notwendige schwere körperliche Arbeit sämtlich von Maschinen erledigt wird, rückt auch die Idee einer Gemeinschaft freier Menschen in greifbare Nähe. Die materialistische Kapitalismuskritik steht dergestalt von Haus aus in einem engeren Zusammenhang mit Fragen der Technikentwicklung. 45 Die zentrale Bedeutung, die der frühe Horkheimer dem erreichten Stand des technologischen Fortschritts bei der Realisation sozialen Fortschritts beimisst, steht allerdings in keinem adäquaten Verhältnis zum von ihm tatsächlich betriebenen Aufwand in der theoretischen Reflexion von geschichtlichen Voraussetzungen und gesellschaftlich realen Möglichkeitshorizonten moderner Technologie. Er betont zwar die Rechtmäßigkeit und sogar die Notwendigkeit technisch nutzbringender Forschung, indem er darauf hinweist, die »intellektuelle Technik« der traditionellen Theorie – d. h. jener vom Typus der kausal erklärenden Wissenschaft – werde auch in Zukunft »nicht irrelevant werden, sondern im Gegenteil so weit wie möglich zu entwickeln sein«, da »die Gesellschaft sich auch in künftigen Epochen mit der Natur auseinanderzusetzen« haben werde (TKT 190). Die »technischen Fortschritte der bürgerlichen Gesellschaft«, die auch für künftige Gesellschaften die Orientierungslinie abgeben sollen, seien »von dieser Funktion des Wissenschaftsbetriebs nicht abzulösen« (TKT 168). Ob umgekehrt allerdings die Funktion des Wissenschaftsbetriebs und das durch sie bedingte Niveau der technischen Leistungsentfaltung unter gesellschaftlichen Verhältnissen aufrechterhalten und sogar ausgebaut werden können, die nicht mehr diejenigen der bürgerlichen Gesellschaft sind, ist eine durchaus offene und keineswegs triviale Frage, die von Horkheimer so nicht mehr gestellt wird. Wie schon Marx und Engels, denen in der Deutschen Ideologie mit der Ausweitung des Handels zum »Weltverkehr« und mit der Entwicklung der Großindustrie »die Dauer der gewonnen ProduktivHans Jonas bezeichnet den Marxismus daher als »dem Ursprung nach Erbe der Baconischen Revolution und der Selbstauffassung nach ihr berufener Vollstrecker«, vgl. Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt a. M. 2003, S. 258 f.

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kräfte«, d. h. die Technik und das Knowhow ihrer Kontrolle, bereits als gesichert gilt, vermag Horkheimer am naturwissenschaftlichtechnischen Betrieb selbst offenbar nichts zu entdecken, das dessen Leistungsfähigkeit in Verdacht geraten ließe, sie könnte vielleicht in ähnlicher Weise untrennbar mit den zu Recht kritisierten Produktions- und Überbauverhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft amalgamiert sein, wie jene in ihren Fortschritten von diesem abhängig ist (MEW 3, 54). Das philosophiegeschichtliche Vorbild für die Marx/ Engels’sche These von der Dauer der gewonnenen ›Produktivkräfte‹ bildet dabei Francis Bacons Novum Organon: Denn die Wohltaten der Erfinder können dem ganzen menschlichen Geschlecht zugute kommen, die politischen hingegen nur den Menschen bestimmter Orte, auch dauern diese nur befristet, nur über wenige Menschenalter, jene hingegen für alle Zeiten. Auch vollzieht sich eine Verbesserung des politischen Zustandes meistens nicht ohne Gewalt und Unordnung, aber die Erfindungen beglücken und tun wohl, ohne jemandem ein Unrecht oder ein Leid zu bereiten. (NO I, 129).

Jürgen Habermas hat diese »orthodoxe Auffassung« im Rahmen einer Auseinandersetzung mit Herbert Marcuse als die These von der »Unschuld der Produktivkräfte« bezeichnet (TWI 59; 53; 58). »Unschuld« besagt hier, dass die Gesamtheit der Produktivkräfte, d. h. der wissenschaftlich-technische Betrieb mit seinen geistigen und materiellen Ressourcen mitsamt den von ihm hervorgebrachten Produkten, ethisch und politisch in dem Sinne ›neutral‹ ist, dass Technologie beliebig zu geeigneten Zwecken eingesetzt werden kann, ohne ›als solche‹ eine prinzipielle Disposition zum Nutzen oder Schaden einer Gesellschaft aufzuweisen. Materialkundliche und metallurgische Kenntnisse etwa können eingesetzt werden, um Schwerter oder Pflugscharen zu konstruieren. Selbst dem Schwert jedoch ist es als solchem gewissermaßen ›gleichgültig‹, ob es zur Verteidigung oder zum Angriff genutzt wird – ja vielleicht sogar ungenutzt dahinrostet. Insofern menschliche Zwecksetzungen den technischen Mitteln dergestalt äußerlich sind, ist Technik zudem wertneutral, also für sich genommen weder ›gerecht‹ noch ›ungerecht‹, weder ›gut‹ noch ›böse‹. Fortgeschrittene Techniken des Ackerbaus bieten die alternativen Möglichkeiten, sich entweder gegenüber Konkurrenten einen Vorteil zu verschaffen oder aber die erwirtschafteten Überschüsse mit seinen Nachbarn zu teilen. Ob Technik zur Freiheit oder Unfreiheit einer Gesellschaft ausschlägt, ist dann lediglich eine Frage ihrer Anwen42

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dung und damit abhängig von den Produktions- und Eigentumsverhältnissen, unter denen sie steht, also der Art und Weise, wie Arbeit geteilt und erwirtschaftete Güter distribuiert werden. Die Technik als ein Instrumentarium von Herrschaft über die Natur kann in dieser Sichtweise in dem Sinne als ein ›Segen‹ der Menschheit apostrophiert werden, dass sie sich nur unter solchen Bedingungen zum Schaden einer Gesellschaft auswirkt, die ihrerseits bereits ungerecht sind, die Technik also nachträglich ihrer ›Unschuld‹ berauben. Nicht die Technik ›als solche‹ ist – dieser Deutung zufolge – wertbehaftet, wohl aber können es die gesellschaftlichen Zustände sein, unter denen sie verwendet wird. Dies ist die Position von Marx und Engels in der Deutschen Ideologie sowie des frühen Horkheimer. Da die Unschuldsthese einzig die selbst nicht mehr technische Frage offenlässt, ob Technologie als Mittel einer Befreiung von Naturzwängen genutzt oder zur Herrschaft über Menschen instrumentalisiert wird, verweist Horkheimer in Traditionelle und Kritische Theorie (1937) konkrete Probleme der technologischen Entwicklung als solcher in den Zuständigkeitsbereich der Einzelwissenschaften. Angesichts der Erfahrungen des 20. Jh. ist die von Horkheimer in den 30er-Jahren noch vorausgesetzte Neutralität von Technik allerdings zunehmend problematisch geworden. Historische Großereignisse wie die beiden Weltkriege mit dem Abwurf der ersten Atombombe auf Hiroshima, Unglücke wie die Chemiekatastrophe von Seveso 1976 und der sog. ›Super-GAU‹ von Tschernobyl 1986 sowie Studien und Gutachten wie der Bericht des Club of Rome von 1972 und der Brundtland-Bericht von 1987 können dabei als Kristallisationspunkte eines öffentlichen und wissenschaftlichen Austauschs betrachtet werden, der insgesamt eine Tendenz hin zur Verabschiedung der These erkennen lässt, die technischen Mittel seien ›als solche‹ gesellschaftlich neutral. 46 Bis auf den heutigen Tag hat sich in zuneh46 Vgl. D. Meadows/H. Meadows/u. a.: Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit (engl. Orig.: Limits to Growth). Stuttgart 1972. Der unter dem Vorsitz der ehemaligen Umweltministerin und damaligen Ministerpräsidentin von Norwegen, Gro Harlem Brundtland, von der UN in Auftrag gegebene und 1987 veröffentlichte Bericht Our Common Future ist insbesondere für seine Definition des Begriffs der ›Nachhaltigkeit‹ bekannt geworden: »Sustainable development seeks to meet the needs and aspirations of the present without compromising the ability to meet those of the future.« (https://www.un-documents.net/ourcommon-future.pdf, S. 39, Teil I, I.1.II, Abs. 49; zuletzt abgerufen am 4. März 2019; vgl. Volker Hauff (Hrsg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven 21999, S. 46). Vgl. außerdem

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mendem Maße die Erkenntnis durchgesetzt, dass technische Artefakte offenbar selbst bei gezielt friedlicher Nutzung mitunter Effekte zeitigen können, die paradoxerweise eher als eine mutwillige Selbstgefährdung denn als eine Leistung im Dienste menschlicher Selbsterhaltung und Wohlfahrtssteigerung zu werten sind. 47 In einem Beitrag von erstaunlicher Weitsicht hat der Technikphilosoph Julius Goldstein bereits 1912 auf die ambivalenten Folgen des technologischen Fortschritts hingewiesen, dass proportional zum Maß technischer Möglichkeiten auch die Anforderungen an eine Beherrschung von Technikfolgen ansteigen, da gilt: »Neue Erfindungen erzeugen selbst immer neue Probleme.« 48 Ein befriedigtes Bedürfnis der technischen Naturbeherrschung wäre dergestalt immer schon die Geburtsstunde neuer Bedürfnisse zur Beherrschung von Gefahren der aus der Befriedigung des ersten Bedürfnisses entstandenen Zweitnatur. Technische Kontrolle von Naturverhältnissen bedeutete dann nicht zwangsläufig schon eine gelungene Emanzipation von Fremdbestimmtheit. Die Logik der menschlichen Naturbeherrschung liefe vielmehr auf eine Umgestaltung hinaus, die zwar – hierin analog zur von Marx und Engels analysierten Entwicklungslogik einer ideologischen Pazifizierung von Klassenkonflikten, die zugleich eine Verschärfung derselben auf einer höheren gesellschaftlichen Stufe zur Folge hat – zunächst einen Zuwachs an humaner Kontrolle über gegenwärtig gegebene Umweltverhältnisse bedeutet, von Fall zu Fall jedoch auch den Effekt haben könnte, das konfliktvolle Mensch-Umwelt-Verhältnis auf technisch gehobenem Niveau zu reproduzieren und zugleich zu verschärfen. Hierbei geht es nicht mehr nur um Fragen der dehumanisierenden Folgen eines in seiner sozialwissenschaftlichen Anwendung instrumentalistisch verkürzten Vernunftbegriffs, so sehr dieser hinsichtlich der Ermöglichungsbedingungen von und beim gesellschaftlichen Umgang mit Krisen der technologiden Eintrag in: Industrie- und Handelskammer Nürnberg für Mittelfranken: Lexikon der Nachhaltigkeit (https://www.nachhaltigkeit.info/artikel/brundtland_report_ 1987_728.htm; zuletzt abgerufen am 4. März 2019). 47 Zur Geschichte der Ökologie vgl. Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München 2011. 48 Julius Goldstein: Die Technik (40. Band der Sammlung sozialpsychologischer Monographien hrsg. von Martin Buber). Frankfurt a. M. 1912. Hier: S. 12. Von bemerkenswerter philosophischer Weitsicht ist Goldsteins Werk auch deshalb, weil er schon zu Beginn des 20. Jh. die Nutzung der Atomenergie prognostiziert hat: »Mit der Möglichkeit, den Atomzerfall der Radioelemente eines Tages als Energiequelle zu benutzen, rechnen ernsthafte Forscher.« (Ebd., S. 61).

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schen Entwicklung eine maßgebliche Rolle spielen mag. Es geht auch um konkrete globalökologische Risiken einer technischen Vernichtung von materiellen Existenzgrundlagen – wenn nicht um direkte Bedrohungen für menschliches Leben selbst. Die Zweifel am von Horkheimer in Traditionelle und Kritische Theorie noch in Anspruch genommenen Konzept einer ›Unschuld‹ der technischen Mittel können aber als ein mögliches Reflexionsdefizit auch auf seine Gesellschaftstheorie in dieser Phase durchschlagen, wenn er sich von einer technischen Umgestaltung der Natur eine grundsätzlich freiheitsermöglichende Funktion erhofft. Die dem Historischen Materialismus entlehnte »Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist«, erregt dann nämlich den Verdacht, sie könnte noch unreflektiert von utopisch-technikoptimistischen Gehalten der Neuzeit inspiriert sein, die ihrerseits vor dem Hintergrund der Gegenwart kritikwürdig sind (TKT 191). Das utopische Moment bestünde dann darin, dass der Gegenwartsanalyse ein idealisierender Begriff von ›Technik‹ als eines bloß dispositiven und in diesem Sinne ›neutralen‹ Könnens zugrunde gelegt wird, anstatt von der faktisch und material tatsächlich vorhandenen ›Technologie‹ auszugehen, wie sie gesellschaftlich real bereits in technischen Artefakten umweltlich manifestiert ist. Besondere Brisanz birgt dieser mögliche Einwand gegen Horkheimer deshalb, weil er gerade den Eindruck einer Gesellschaftsutopie als eines gezielt unrealistischen Zukunftsentwurfs um jeden Preis vermeiden will. 49 Nun hat Horkheimer selbst die von ihm zuvor noch optimistisch vertretene These von der ›Unschuld der Produktivkräfte‹ in der Dialektik der Aufklärung – von 1939–1944 mit Theodor W. Adorno im amerikanischen Exil verfasst – bereits verabschiedet. 50 An die Stelle Vgl. TKT 193; 201, Anm. 19 und Horkheimer: »Nachtrag«: »Mit der Aufhebung dieses Zustands ist ein höheres wirtschaftliches Organisationsprinzip gemeint und keineswegs eine philosophische Utopie. Das alte Prinzip treibt die Menschheit in Katastrophen hinein.« (S. 222 f.) 50 Axel Honneth konstatiert einen Bruch im Denken Horkheimers, der sich auf den Beginn der 40er-Jahre datieren lässt und der im vorliegenden Zusammenhang insofern entscheidend ist, als er »auch die Stellung der Einzelwissenschaften« innerhalb der Kritischen Theorie in Mitleidenschaft zieht. Vgl. Axel Honneth: »Kritische Theorie. Vom Zentrum zur Peripherie einer Denktradition«. In: Ders.: Die zerrissene Welt des Sozialen. Sozialphilosophische Aufsätze. Erweiterte Neuauflage. Frankfurt a. M. 42013, S. 25–72. Hier: S. 39 ff. Vgl. außerdem bereits Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne (im Folgenden zitiert als: DM). Frankfurt a. M. 1985, 49

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des in Traditionelle und Kritische Theorie formulierten Programms tritt ab den 40er-Jahren dasjenige einer Kritik der instrumentellen Vernunft (engl. Orig: Eclipse of Reason 1947/dt. 1967). 51 Die fortgeschrittene Technologie erscheint ihm ab dieser Zeit nur mehr als ein der Willkür einer privilegierten Klasse anheimgestelltes, kriegsdienliches Instrumentarium von Herrschaft, das jede Hoffnung auf eine Vergesellschaftung der Menschen in Freiheit zunichtemacht. Die von Bacon noch hochgelobten Erfindungen wie die Druckerpresse, das Schießpulver und der Kompass haben mit ihrer technischen Verbesserung in den Augen Horkheimers und Adornos nur die Unfreiheit des Menschen gesteigert: »das Radio als sublimierte Druckerpresse, das Sturzkampfflugzeug als wirksamere Artillerie, die Fernsteuerung als der verläßlichere Kompaß. Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt.« (DA 14) Der Optimismus im Hinblick auf die technikgestützte Realisierung einer objektiv möglichen Befreiung ist hier einer neuzeitkritischen und zutiefst technikpessimistischen Haltung gewichen; die baconische Hoffnung von Horkheimers Vorkriegsarbeiten ins krasse Gegenteil eines von Hoffnungslosigkeit getragenen Ressentiments gegen einen sich in Ost und West ausbreitenden Szientismus umgeschlagen: »Heute, da Bacons Utopie, daß wir ›der Natur in der Praxis gebieten‹ in tellurischem Maßstab sich erfüllt hat, wird das Wesen des Zwanges offenbar, den er der unbeherrschten zuschrieb.« (DA 57) Der Grund für diese radikale Umbewertung des technischen Fortschritts durch Horkheimer und Adorno ist in ihrer Diagnose einer »Logik der schrittweisen Verdinglichung« zu suchen, die sie im Anschluss an Georg Lukács entwickeln. 52 Lukács hatte ›Verdinglichung‹ in den 20er-Jahren – noch ganz in der Tradition von Marx S. 156. Habermas spricht auch von einer »Wendung zur Kritik der instrumentellen Vernunft« (TkH I, 500). 51 Max Horkheimer: »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1967)«. (Deutsche Übers. von Ders.: Eclipse of Reason. New York 1947. Im Folgenden zitiert als: KiV). In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 6: ›Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‹ und ›Notizen 1949–1969‹. Frankfurt a. M. 22008, S. 19–186. 52 Honneth: »Kritische Theorie«. S. 42. Vgl. Georg Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik (1923). Neuwied 1968. Auf Lukács’ Verdinglichungsbegriff kann in dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden (vgl. stattdessen TkH I, 455–488). Er wird im Folgenden nur soweit thematisiert, wie er zum Verständnis des gegenüber der Tradition im Gefolge von Marx/Engels veränderten Bezugsrahmens von Horkheimer und Adorno relevant ist.

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stehend – aus einer Kritik der Politischen Ökonomie heraus begründen wollen: ›Verdinglichung‹ bedeutet bei Lukács eine sozialpathologische Tendenz zur Verobjektivierung von Personen, die sich daraus ergibt, dass der warenproduzierende Mensch in seiner Funktion als lohnabhängige Arbeitskraft selber eine marktgerechte ›Warenform‹ erhält. Indem Arbeitskraft als eine käufliche ›Ware‹ verstanden wird, die wie jede andere ihren ›Preis‹ hat, kann sich unter kapitalistischen Produktionsbedingungen der entmenschlichende Eindruck verfestigen, der arbeitende Mensch wäre insgesamt auf seine geldwerte Funktion für die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Produktivität einer Gesellschaft reduzierbar. Da allerdings der Lukács’sche Verdinglichungsbegriff – so Habermas – »durch das Fehlschlagen der Revolution und die nicht vorausgesehenen Integrationsleistungen der fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften dementiert« wurde, »radikalisieren« und »generalisieren« Horkheimer und Adorno ihn so, dass er nun auch noch eine Erklärung für die ausgebliebene Bestätigung von Lukács’ Vorhersagen leisten soll (TkH I, 489; 505–508). ›Verdinglichung‹ meint bei den beiden Frankfurtern nicht mehr eine Besonderheit des kapitalistischen Wirtschaftssystems, zu deren Mechanismen eine menschenwürdigere Alternative denkbar wäre. Sie soll stattdessen vielmehr einen Prozess darstellen, der in nuce bereits im menschlichen Streben nach subjektiver »Selbsterhaltung« gegen eine feindliche Umwelt, d. h. in der instrumentellen Vernünftigkeit einer Beherrschung von Naturverhältnissen angelegt ist (KiV 27; 108). Diese Generalisierung von Verdinglichungstendenzen ist so zu verstehen, dass beispielsweise die Neolithische Revolution dem jagenden und sammelnden Individuum ein Sesshaftwerden abverlangte, das seinen Bewegungsspielraum einschränkte und in dieser Hinsicht eine Abnahme an Möglichkeiten zur freien Selbstentfaltung implizierte. Um kultivierte Pflanzen vor wilden Tieren zu schützen und später die Früchte der Feldarbeit einholen zu können, musste man sich in der Nähe halten. Von sozialpathologischen Folgen dieses Bedingungsverhältnisses zwischen gesellschaftlichem Fortschritt und individueller Freiheitseinbuße kann zwar erst dann die Rede sein, wenn sich im Zuge der weiteren Arbeitsteilung eine größere Kluft zwischen Individuum und Gesellschaft ergeben hat, wodurch der Freiheitsverzicht des Individuums nicht mehr zwangsläufig auch mit einem persönlichen Nutzen einhergeht. Gleichwohl ist bereits auf dieser frühen Stufe mit dem Zuwachs an subjektiver ›Herrschaft‹ über die Natur zugleich eine Rückwirkung in Gestalt eines objektiven Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Sachzwangs mitgesetzt, der dem Subjekt ›Unterwerfung‹ abverlangt. »Die Natur nämlich lässt sich nur durch Gehorsam bändigen«, wie bereits Francis Bacon festgestellt hat, um aus dieser Einsicht heraus sein wissenschaftliches Programm zu formulieren (NO I, 3; vgl. DA 57). Während Lukács die Verdinglichung noch aus der Intersubjektivität von Tauschverhältnissen ableitete, ist für Horkheimer und Adorno die subjektive Denkform selbst (sc. qua instrumentelle Vernünftigkeit der Naturbeherrschung) das systematisch wie historisch eigentlich grundlegende: »schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.« (DA 10) »Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität.« (DA 19) ›Verdinglichung‹ meint hier im weitesten Sinne dann bereits jede Form eines identifizierend-berechnenden Denkens, das auf die subjektive Beherrschung von Objektivitäten gerichtet ist. Aufgrund dieser ›Tieferlegung‹ des Lukács’schen Begriffs können Horkheimer und Adorno ›Verdinglichung‹ in einer Weise begreifen, dass »der gesamte Zivilisationsprozeß des Menschen« bereits von ihr geprägt sein soll. 53 Die Etablierung kapitalistischer Tauschverhältnisse stellt für sie dann nur noch den epochal-konsequenten Durchbruch zum universalen Siegeszug instrumenteller Vernunft dar: »Die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität, die einerseits die Bedingungen für eine gerechtere Welt herstellt, verleiht andererseits dem technischen Apparat und den sozialen Gruppen, die über ihn verfügen, eine unmäßige Überlegenheit über den Rest der Bevölkerung.« (DA 9) Horkheimer und Adorno halten vor diesem Hintergrund zwar an der Position fest, der technische Fortschritt stelle durch die Kontrolle von Umweltverhältnissen die Bedingungen für eine Befriedung des menschlichen Kampfes um Selbsterhaltung innerhalb der Natur bereit. 54 Indem der Zuwachs an instrumenteller Verfügungsgewalt Honneth: »Kritische Theorie«. S. 42; vgl. TkH I, 506. Dass insbesondere Horkheimer an der Auffassung einer Neutralität der technischen Mittel ›als solcher‹ auch später festhält, wird deutlich in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft: »Fraglos könnte von der Wissenschaft ein besserer Gebrauch gemacht werden. Es ist jedoch keineswegs ausgemacht, daß der Weg, die guten Möglichkeiten zu verwirklichen, überhaupt auf ihrer gegenwärtigen Bahn liegt. Die Positivisten scheinen zu vergessen, daß die Naturwissenschaft, wie sie von ihnen verstanden wird, vor allem ein zusätzliches Produktionsmittel ist, ein Element unter vielen im sozialen Prozess. Es ist demzufolge unmöglich, a priori zu bestimmen, welche

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über die äußere Natur jedoch untrennbar mit der Optimierung der menschlichen Natur verzahnt ist, geht der Prozess einer Technisierung des menschlichen Umweltverhältnisses mit der instrumentellen Rationalisierung sozialer Verhältnisse Hand in Hand. Wie ist diese Reformulierung des Lukács’schen Verdinglichungstheorems nun im Hinblick auf moderne Gesellschaften konkreter zu verstehen? Um die Produktivität einer industrialisierten Gesellschaft immer weiter steigern zu können, ist immer fortschrittlichere Technologie erforderlich, die ihrerseits immer spezialisierteres und immer effizienter ›funktionierendes‹ Bedienpersonal erfordert. Die »Fließbandproduktion«, die dem Arbeiter den ermüdenden Takt monoton spezialisierter Handgriffe vorgibt, bildet für Horkheimer hier den paradigmatischen Modellfall für die Automation von Arbeitsprozessen überhaupt (KiV 110). Die Errungenschaften der fortgeschrittenen Industriegesellschaft sind davon abhängig, dass der Arbeiter die Spielräume seiner persönlichen Lebensgestaltung immer weiter zugunsten der Leistungserfordernisse eines noch ›reibungsloseren‹ Betriebs des Produktionsapparates einschränkt. Axel Honneth paraphrasiert diese Deutung folgendermaßen: Die »urgeschichtlichen Anstrengungen des instrumentalen Denkens, mit denen der Mensch sich gegenüber der Natur zu behaupten lernt, pflanzen sich schrittweise in der Disziplinierung seines Trieblebens, in der Verarmung seiner sinnlichen Fähigkeiten und in der Ausbildung sozialer Herrschaftsverhältnisse fort.« 55 Der damit einhergehende Freiheitsverlust der Individuen führt nun gemäß der diagnostizierten Dialektik der Aufklärung allerdings nicht – wie Marx, Engels und auch Lukács noch prognostiziert und gehofft hatten – zu einem Anwachsen revolutionärer Potentiale im Spätkapitalismus, durch die es geschichtlich möglich würde, die Produktionsverhältnisse der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu sprengen. Dies aus zwei Gründen: Zum einen werden gesellschaftliche Konflikte durch die Bedürfnisse zugleich steigernde und befriedigende Wirkung einer kontinuRolle die Wissenschaft beim tatsächlichen Fortschritt oder Rückschritt der Gesellschaft spielt. Ihre Wirkung ist dabei so positiv oder negativ wie die Funktion, die sie in der allgemeinen Tendenz des ökonomischen Prozesses annimmt.« (KiV 75 f.) Ferner: »Bis vor kurzem fehlte es der Gesellschaft in der abendländischen Geschichte an hinreichenden kulturellen und technischen Ressourcen, zu einer Verständigung zwischen Individuen, Gruppen und Völkern zu gelangen. Jetzt sind die materiellen Bedingungen vorhanden.« (KiV 165). 55 Honneth: »Kritische Theorie«. S. 42. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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ierlichen Erweiterung der Konsummöglichkeiten stetig pazifiziert. Die ökonomischen Produktivitätssteigerungen wirken also in der Weise ins »soziale Leben« 56 hinein, dass dem Individuum in der Privatsphäre einer Befriedigung seiner persönlichen Bedürfnisse quantitativ immer mehr Optionen zur Verfügung gestellt werden, zwischen denen es als Konsument wählen und die es durch Leistungsbereitschaft befriedigen kann: »Quantitativ gesprochen hat ein moderner Arbeiter eine viel reichhaltigere Auswahl von Konsumgütern als ein Adeliger im Ancien Régime.« (KiV 110) Dieses quantitative Anwachsen der Wahlmöglichkeiten verschleiert das Schrumpfen der qualitativen Möglichkeiten einer authentischen Selbstverwirklichung, indem es das – hier entsprechend als ›wirklich‹ vorausgesetzte – Bedürfnis nach freier Persönlichkeitsentfaltung substitutiv ruhigstellt. Die Marx/Engels’sche Vorhersage des Fortbestehens einer besitzlosen Schicht von Proletariern hat sich also nicht bewahrheitet. Zum anderen entfaltet die instrumentelle Vernunft aber auch eine Wirkung im »psychischen […] Leben« 57 der Individuen: Indem der Einzelne sich in seinem Arbeitsleben unausgesetzt den Forderungen nach leistungssteigernder Adaption an einen technischen Apparat gegenüber sieht, kann sich psychologisch auch in anderen Lebensbereichen einer Gesellschaft, bis in die familiäre »Privatsphäre« und ins Selbstverständnis der Individuen hinein (KiV 108), eine auf effiziente Zeitverwertung sowie auf die mechanische Beherrschung von Objektivitäten gerichtete Denkweise etablieren, die Horkheimer und Adorno in einem geschichtlich engeren Sinne als »Verdinglichung« auf den Begriff bringen: »Denken verdinglicht sich zu einem selbsttätig ablaufenden, automatischen Prozeß, der Maschine nacheifernd, die er selber hervorbringt, damit sie ihn schließlich ersetzen kann.« (DA 38) Indem die Bedürfnissteigerung über Massenmedien und Werbung zudem gezielt stimuliert und manipuliert wird, verfestigt sich in den Individuen eine Sichtweise, die in den Versprechungen des Güterkonsums die Erfüllung ureigenster Wünsche zu erkennen meint. Diese »Negation der Verdinglichung« soll letztlich auch dafür sorgen, dass die bloß quantitative Steigerung von Möglichkeiten des Konsums überhaupt als Substitut für eine freie Persönlichkeitsentfaltung akzeptiert bzw. mit diesem qualitativen Lebenswert sogar fälsch-

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licherweise identifiziert werden kann (DA 9). Geschichtlich macht Horkheimer seine Diagnose zur Verführbarkeit der Massen auch an den »Elementen manipulativer Massenerziehung« fest, die im Nationalsozialismus dazu geführt haben, dass weite Teile der deutschen Bevölkerung nicht erst durch staatliche Gewalt gleichgeschaltet werden mussten, sondern sich – unter dem propagandistischen Deckmantel einer Anknüpfung an germanische Volkssagen – sogar begeistert auf Linie bringen ließen (KiV 81). Die Diktatur des NS-Regimes konnte als vielversprechende Lösung zur Bewältigung von Folgeproblemen der Weltwirtschaftskrise von 1929 wahrgenommen werden. Auch die Marx/Engels’sche Prognose bzgl. der Möglichkeit eines revolutionären Bewusstseins war inzwischen also durch die historische Erfahrung einer manipulativen Instrumentalisierbarkeit der Massen unterminiert worden. Aufgrund dieser doppelt auf den Menschen zurückschlagenden Wirkung einer Rationalität der Naturbeherrschung kommt Horkheimer zu der Einsicht: »Der Mensch teilt im Prozeß seiner Emanzipation das Schicksal seiner übrigen Welt. Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung ein. Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unterjochung der äußeren Natur, der menschlichen und nichtmenschlichen, teilzunehmen, sondern muß, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen.« (KiV 106) »Während der Einzelne vor dem Apparat verschwindet, den er bedient, wird er von diesem besser als je versorgt. Im ungerechten Zustand steigt die Ohnmacht und Lenkbarkeit der Masse mit der ihr zugeteilten Gütermasse.« (DA 9) Die Beherrschung der Natur geht also mit der Beherrschung des Menschen insofern einher, als die wachsende Kontrolle von Umweltverhältnissen in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft die konsumideologisch und massenmanipulativ bestimmte Pazifizierung von Klassenkonflikten zur Folge hat. Indem die Beherrschung der Natur den Freiheitsverlust einer Unterwerfung unter den technischen Apparat erträglich macht, kann die Masse der Individuen die im Grunde ungerechten Verhältnisse insgesamt als ›erfolgslegitimiert‹ und ›fortschrittlich‹ im Sinne eines Gemeinschaftsnutzens betrachten oder diese zumindest soweit gutheißen, dass sie nicht gegen sie aufbegehren. Schon Max Weber hatte vor dem Hintergrund solcher Ambivalenzen des Fortschritts auf die möglichen Konsequenzen des Rationalisierungsprozesses hingewiesen, es »könnte für die ›letzten Menschen‹ dieser Kulturentwicklung das Wort zur Wahrheit werden: ›Fachmenschen ohne Geist, Genußmenschen ohne Herz: dies Nichts Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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bildet sich ein, eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums erstiegen zu haben.‹«. 58 Auf Basis ihrer Diagnose zur Struktur der gesellschaftlichen Technisierung erklären Horkheimer und Adorno in den 40er-Jahren jede gegenwärtige oder vergangene Hoffnung auf einen sozialen Fortschritt insgesamt zur abstrakten Utopie: Indem die materiellen Bedingungen bereitgestellt werden, die eine Verwirklichung der bürgerlichen Vernunftideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit theoretisch ermöglichten, machen die sozialpsychologischen Wirkungen des dafür notwendigen technischen Fortschritts eine Verwirklichung dieser Ideen zugleich objektiv unmöglich. Und zwar in West und Ost, da sich auch in der Sowjetunion die Verdinglichungslogik des technischen Fortschritts ungebrochen fortsetzt, wie sich schon an Lenins 1920 programmatisch formuliertem Plan zur Technisierung ablesen lässt, »Kommunismus«, das sei »Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.« 59 Die Kritische Theorie, die keine objektiven Möglichkeiten einer Verbesserung der Lage mehr zu identifizieren vermag, zu denen man sich praktisch verhalten könnte, ist damit aber in eine Aporie geraten: Gemäß Horkheimer und Adorno lässt sich auch mit einer konsequent vorgetragenen Ideologiekritik nicht mehr die Hoffnung verbinden, die diagnostizierten Pathologien der Moderne könnten noch irgend durchbrochen werden. Eine wirkliche, nüchtern-kritische Würdigung realtechnischer Möglichkeitshorizonte liegt indes auch beim späteren Horkheimer nicht vor. Die Kritik der instrumentellen Vernunft bildet den eindeutigen Schwerpunkt der Analysen, während die konkrete Auseinandersetzung mit den manifesten Produkten dieser Rationalität – wie schon in den früheren Arbeiten – weitestgehend ausgespart bleibt. 60 Im Zentrum der Analyse steht die ›verdinglichende‹ Wirkung techMax Weber: »Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen 1988, S. 17–206. Hier: S. 204. Schon für Lukács bildet Weber – neben Marx/Engels – den Anknüpfungspunkt für seine Verdinglichungsanalyse (vgl. TkH I, 461–488). 59 Wladimir Iljitsch Lenin: »Unsere außen- und innenpolitische Lage und die Aufgaben der Partei. (Rede auf der Moskauer Gouvernementskonferenz der KPR(B), 21. November 1920).« In: Ders.: Werke. Bd. 31. Berlin 1966, S. 402–422. Hier: S. 414. 60 Vgl. hierzu Gunzelin Schmid Noerr: »Technik und Technikkritik im Denken Max Horkheimers«. In: Böhme/Manzei (Hrsg.): Kritische Theorie der Technik und der Natur. München 2003, S. 55–67. Hier bes.: S. 61: »Horkheimers und Adornos Kritik bezieht sich nicht auf konkretes technisches Handeln, sondern auf das Konstrukt ›technische Rationalität‹.« 58

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nisierter Produktionsverhältnisse, der sich die politisch instrumentalisierten und konsumideologisch auf Linie gebrachten Produktivkräfte von Arbeitern, wissenschaftlicher und technischer Intelligenz vermeintlich nicht mehr entziehen können. Die an Horkheimers spärlichen Hinweisen ablesbare Umwertung der »Realtechnik« 61 fällt dabei so radikal aus, dass die im Rahmen gesellschaftlicher Zwecksetzungen früher als ›unschuldig‹ aufgefasste Technologie nun nur noch mit der kulturpessimistischen Diagnose eines spätestens mit dem Entwurf neuzeitlicher Wissenschaft eingetretenen »Sündenfalls« (vgl. Habermas, TWI 59) angemessen erfasst zu sein scheint: »Ohne Rücksicht auf die Unterschiede wird die Welt dem Menschen untertan.« (DA 19) »Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression.« (DA 50) Die ›Neutralität‹ der Technologie als eines bloßen ›Werkzeugs‹ bleibt davon zwar unberührt, da die bloße Existenz eines Artefakts für Horkheimer noch keine gesellschaftlichen Auswirkungen hat. In ihrer unvermeidlichen Verwendung jedoch schlagen die technischen Instrumente unmittelbar um in einen Machtapparat der geschichtlich jeweils herrschenden Klasse aus Adel, Bourgeoisie oder Parteikadern. Positive Effekte des technischen Fortschritts jüngerer Zeit, wie etwa der epochale medizinische Erfolg der Entdeckung des Penicillins durch Alexander Flemming 1928 oder die ungeheure Verbesserung der Lebensmittelversorgung durch die Verbreitung der Kühltechnik (der Kühlschrank zählte in den 1930erJahren bereits zur Standardausstattung US-amerikanischer Haushalte), werden nur noch unter dem Aspekt ihrer Dienlichkeit zur Verschleierung von Klassenkonflikten betrachtet. Der wiederholte Rückgriff auf einen christlich tradierten Fundus an wertender Metaphorik (»Fluch«, »die Welt dem Menschen untertan« etc.) ist dabei typisch für den abendländischen Technikdiskurs überhaupt. Metaphorische Einschläge dieser Art finden sich bei beinahe sämtlichen Autoren, Den in der Technikphilosophie prominent gewordenen Begriff »Realtechnik« hat Friedrich von Gottl-Ottlilienfeld 1914 in seinem Grundriss der Sozialökonomik geprägt. Dort werden vier Arten von Technik unterschieden: Individualtechnik, Sozialtechnik, Intellektualtechnik und Realtechnik. Von Letzterer ist zu sprechen, »sobald das bevormundete Handeln ein Eingriff ist in die sinnfällige Außenwelt, ob nun organischer oder anorganischer Natur. Die Realtechnik, die mit der Intellektualtechnik die Wendung auf das Unpersönliche gemein hat, ist demnach die Technik des naturbeherrschenden, an den Naturgesetzen orientierten Handelns.« Friedrich von GottlOttlilienfeld: Grundriss der Sozialökonomik. II. Abteilung: Die natürlichen und technischen Beziehungen der Wirtschaft. II. Teil: Wirtschaft und Technik. Tübingen 2 1923, S. 9. 61

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die zur Technik öffentlich Stellung beziehen. 62 Sie bilden gewissermaßen die rhetorische Gegenbewegung zum Einsickern technischer Metaphern in die alltags- wie wissenschaftssprachliche Artikulation personaler oder sozialer Verhältnisse im Zuge einer fortschreitenden Technisierung unserer Umwelt. 63

b.) Von den Aporien einer ›Kritik der instrumentellen Vernunft‹ zu Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns Jürgen Habermas, der am Programm der Kritischen Theorie festhalten will, kritisiert Horkheimer und Adorno unter zwei Gesichtspunkten, die ihm Gründe liefern, den Theorieentwurf einer Einheit von Theorie und Praxis in einem neuen Bezugssystem zu reformulieren. Für Habermas’ kritische Anknüpfung spielt dabei auch die Klärung des Metapherngebrauchs von Horkheimer und Adorno (›Versöhnung‹, ›Revolte der Natur‹ etc.) eine Rolle, die auf dem Hintergrund von Habermas’ eigenem Bezugsrahmen möglich wird: »Horkheimer und Adorno verstehen ›Beherrschung‹ der Natur nicht als Metapher« (TkH I, 507). Die Habermas’sche Klärung der Frage, was mit den Alternativen von ›Naturbeherrschung‹ oder ›Versöhnung der Natur‹ gemeint sein kann, auf die ich am Ende dieses Abschnitts näher eingehen werde, lässt sich – so meine These – auch auf Technologiediskurse von Francis Bacon bis in die heutige Zeit hinein übertragen, die von Habermas nicht in den Blick genommen werden. 64 Sie bildet zugleich Günther Anders spricht etwa von einer »Apokalypse-Blindheit«; Herbert Marcuse von der Möglichkeit, die »Welt zur Hölle« zu machen; Alexander Kluge von Tschernobyl als einer »Schrift an der Wand«; Hans Jonas von einem Umschlag der naturherrschaftlichen »Heilsperspektive in Apokalyptik« und Karl Jaspers vom apokalyptischen »Weltenende«, dessen Nahen der »sittlich-religiös wirksame Irrtum Johannes’ des Täufers, Jesus’ und der ersten Christen gewesen« sei, sich mit der Atombombe jedoch zur »realen Möglichkeit« der »Tötung allen Lebens auf der gesamten Erdoberfläche« erwiesen habe. Die Quellen in der Reihenfolge ihrer Zitation: Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1, München 1956, S. 233. Herbert Marcuse: Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967. Frankfurt a. M. 1980, S. 9. Alexander Kluge: Die Wächter des Sarkophags. 10 Jahre Tschernobyl. Hamburg 1996, S. 9. Jonas: Prinzip Verantwortung, S. 253. Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit. München 1958, S. 21 f. 63 Zur Übertragung technischer Termini auf soziale Verhältnisse vgl. Friedrich Rapp: Analytische Technikphilosophie. Freiburg/München 1978, S. 20. 64 Bacon beruft sich mit seiner Großen Erneuerung der Herrschaft des Menschen 62

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den Ausgangspunkt für den Anschluss von Hans Blumenbergs ›Metaphorologie‹ an Habermas Theorie des kommunikativen Handelns im Rückgang auf Edmund Husserl (s. u. Kap. I.3). Zum einen (1) wirft Habermas Horkheimer und Adorno vor, keine Rechenschaft über ihre normativen Grundlagen abgelegt zu haben. Dieser Vorwurf trifft nicht erst die Arbeiten nach dem Bruch der 40er-Jahre, sondern stellt eine Schwierigkeit dar, an der »die Kritische Theorie von Anbeginn an laboriert« hat (TkH I, 500). Schon in Traditionelle und Kritische Theorie hatte Horkheimer das Problem beschäftigt, dass eine auf gezielte Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse gerichtete Theorie Gefahr läuft, »parteiisch« zu wirken, indem Fakten subjektiv interpretiert werden (TKT 192). 65 Der Standpunkt, von dem aus kritisiert wird, muss also stets auf seine Wissenschaftlichkeit hin kritisch mit reflektiert werden. Erst in der Wendung zur Kritik der instrumentellen Vernunft allerdings macht sich diese theoretisch zu bewältigende Schwierigkeit »drastisch bemerkbar« (TkH I, 500). Adorno und Horkheimer kritisieren die pathologischen Tendenzen des Zivilisationsprozesses nun nämlich nicht mehr unter Berufung auf den inzwischen für desavouiert erklärten Wahrheitsgehalt bürgerlicher Ideale. Sie bringen stattdessen Ideen einer »Versöhnung« mit der Natur durch »negativ[e] Dialektik« (Adorno 66) bzw. einer »Revolte der Natur« im Subjekt (Horkheimer, KiV 105 ff.; vgl. TkH I 493) ins Spiel, die dem auf »Naturbeherrschung« und »Unterjochung der Natur« gerichteten Denken instrumenteller Vernunft entgegengesetzt sein sollen (KiV 106). Der Standpunkt, von dem aus solche Vorstellungen von ›Versöhnung‹ einer äußeren Natur und ›Revolte‹ einer unterdrückten Triebnatur angemahnt werden, wird jedoch nicht mehr klar ausgewiesen. Während der frühe Horkheimer sich noch auf die epochalen Errungenschaften der Aufklärung über die Natur (Instauratio Magna) auf das biblische Motiv eines Dominium terrae (vgl. NO I, 1; vgl. Genesis 1,28). 65 Vgl. Rapic: Subjektive Freiheit. S. 10–13. 66 Theodor W. Adorno: »Negative Dialektik«. In: Ders.: Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit (Gesammelte Schriften Bd. 6). Frankfurt a. M. 2003. S. 7–412. Hier S. 18: »Eine veränderte Version von Dialektik begnügte sich mit deren unkräftiger Renaissance: ihrer geistesgeschichtlichen Ableitung aus den Aporien Kants und dem in den Systemen seiner Nachfolger Programmierten, aber nicht Geleisteten. Zu leisten ist es nur negativ. Dialektik entfaltet die vom Allgemeinen diktierte Differenz des Besonderen vom Allgemeinen. […] Versöhnung wäre das Eingedenken des nicht länger feindseligen Vielen, wie es subjektiver Vernunft anathema ist. Der Versöhnung dient Dialektik.« Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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berufen konnte, verliert die Inanspruchnahme moralischer Maßstäbe jede Grundlage, wenn die Verdinglichung soweit vorverlegt wird, dass sie bereits im Leben der menschlichen Gattung selbst, d. h. im Bewusstsein der einzelnen Subjekte ihren Ursprung haben soll (vgl. TkH I, 514). Unklar bleibt dann nämlich, worauf sich eine alternative Haltung zur äußeren und inneren Natur noch stützen kann, wenn bereits zu Beginn des Zivilisationsprozesses ausschließlich eine auf subjektive Selbsterhaltung gerichtete Vernunft am Werk gewesen sein soll, die keinen anderen Maßstab kennt als die instrumentelle Verfügung über gegenständlich Gegebenes. Nicht erst die »Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier Menschen«, sondern schon der normative Gehalt der Kritik selber wird illusorisch, wenn sich kein historischer oder systematischer Ort mehr angeben lässt, aus dem heraus er sich rechtfertigen ließe (TKT 191). In der kulturpessimistischen Forderung, »hinter den Bruch der Kultur mit Natur zurückzugehen«, drohen »die Konturen des Vernunftbegriffs zu verschwimmen« (TkH I, 513; 489). Zum anderen (2) kritisiert Habermas den unklaren Theoriestatus speziell der aporetischen Entwürfe der 40er-Jahre (TkH I, 513). Wenn jeder Ausweg aus der ›Verdinglichung‹ bereits ab ovo verbaut sein soll – wie es die Dialektik der Aufklärung behauptet –, lässt sich die Frage aufwerfen, welchen Sinn Horkheimer und Adorno dann noch mit ihrer schriftstellerischen Tätigkeit verbinden. Sie nehmen hier einen performativen Widerspruch in Kauf, ohne noch den Anspruch erheben zu können, ihn irgendwann theoretisch aufzulösen. Indem sie die bewusste Entscheidung für eine widersprüchliche Theoriekonzeption der »sich selbst überbietenden [sc. ohne Aussicht auf Erfolg geübten] Ideologiekritik« treffen, verharren sie, »an einem Ort, den die Philosophie einst mit ihren Letztbegründungen besetzt hielt, in einer Paradoxie« (DM 154 f.). 67 Durch dieses Verharren in der Paradoxie nehmen Horkheimer und Adorno jedoch – und hier kommt Habermas’ eigene Revision des frühen Programms Kritischer Theorie zum Tragen – »nicht nur eine unbequeme Stellung ein«, sie können »die Stellung nur halten, wenn mindestens plausibel zu machen ist, daß es keinen Ausweg gibt. Die beiden von Habermas vorgebrachten Kritikpunkte hat Birgit Sandkaulen jüngst noch einmal erneuert, vgl. Birgit Sandkaulen: »1 Begriff der Aufklärung«. In: Gunnar Hindrichs (Hrsg.): Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (Klassiker Auslegen Bd. 63). Berlin/Boston 2017, S. 5–21.

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Auch der Rückzug aus einer aporetischen Situation muß verlegt sein, sonst gibt es einen Weg, eben den zurück.« (Ebd.) Dieser von Habermas aufgewiesene und beschrittene »Weg zurück« besteht darin, »die normativen Grundlagen der kritischen Gesellschaftstheorie« (s. o. 1) prinzipientheoretisch so tief anzusetzen, dass der normative Gehalt der Vernunft einerseits und die instrumentelle Rationalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse andererseits nicht mehr bereits im ersten Schritt des Zivilisationsprozesses zusammenfallen. Habermas nimmt der Sache nach dabei Horkheimers in den 30er-Jahren entwickeltes Konzept einer Kritischen Theorie wieder auf, welche »die soziale Realität zwar einerseits als gesetzlich gelenkten Strukturzusammenhang, andererseits aber als Handlungszusammenhang verantwortlicher Personen thematisiert.« 68 Indem die eigenlogisch qua instrumentelle Vernunft voranschreitende Technisierung von Gesellschaften so zusätzlich unter dem moralisch gelagerten Blickwinkel ihrer Auswirkungen auf das menschliche Zusammenleben betrachtet werden kann, wird eine Theoriekonzeption möglich, die einen Ausweg bietet aus den »quietistischen Konsequenzen« der aporetischen Entwürfe der 40er-Jahre (TkH I, 514, Fn 117). Eine solche Theorie verfügt dann nämlich auch wieder über einen klaren Theoriestatus (s. o. 2): eben denjenigen einer auf die Beseitigung von gesellschaftspathologischen Folgen der Rationalisierung gerichteten Kritischen Theorie. Wie wird diese untergründig bereits beim frühen Horkheimer wirksame Perspektivendoppelung nun von Habermas wieder eingeführt? Dem zu einer Kritik der instrumentellen Vernunft generalisierten Verdinglichungstheorem – eine Deutung des Zivilisationsprozesses, der auch Herbert Marcuse sich angeschlossen hat 69 – stellt Habermas bereits in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ 1968 die Skizze eines Bezugsrahmens entgegen, der aus der Paradoxie, in die die Kritische Theorie sich verstrickt hat, herausführen soll. Diesen Bezugsrahmen hat Habermas in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus 1973 zur »Argumentationsskizze« einer projektierten »Theorie der gegenwärtigen Gesellschaftsformation« weiterentwickelt (LS 7). 70 Die ausgearbeitete Fassung dieser GesellschaftstheoRapic: Subjektive Freiheit. S. 9. Herbert Marcuse hat allerdings – anders als Horkheimer und Adorno – den Versuch unternommen, sich »den quietistischen Konsequenzen der von ihm geteilten Kritik der instrumentellen Vernunft […] zu entwinden« (TkH I, 514, Fn 117). 70 Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (hier und im Folgenden zitiert als: LS). Frankfurt a. M. 1973. Zur Theorieentwicklung in Habermas’ 68 69

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rie hat er schließlich, unter Modifikationen und weiteren Ergänzungen, in der Theorie des kommunikativen Handelns 1981 vorgelegt. Auf Basis der fundamentalen Kategorien von »Arbeit und Interaktion« differenziert Habermas in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ zwischen den »Handlungstypen« von »zweckrationalem« und »kommunikativen Handeln« sowie auf institutioneller Ebene zwischen »soziokultureller Lebenswelt« und »Sub-Systemen zweckrationalen Handelns« (TWI 62; 65). 71 Unter ›Arbeit‹ ist dabei das zu verstehen, was Horkheimer und Adorno der instrumentellen Vernunft subjektiver Selbsterhaltung zurechnen. Die Kategorie der ›Arbeit‹ fundiert also den Bereich eines auf die Kontrolle von Objektivitäten gerichteten Handelns: Unter ›Arbeit‹ oder zweckrationalem Handeln verstehe ich entweder instrumentales Handeln oder rationale Wahl oder eine Kombination von beiden. Instrumentales Handeln richtet sich nach technischen Regeln, die auf empirischem Wissen beruhen. Sie implizieren in jedem Fall bedingte Prognosen über beobachtbare Ereignisse, physische oder soziale; diese können sich als richtig oder falsch erweisen. Das Verhalten rationaler Wahl richtet sich nach Strategien, die auf analytischem Wissen beruhen. Sie implizieren Ableitungen von Präferenzregeln (Wertesystemen) und allgemeinen Maximen; diese Sätze sind entweder korrekt oder falsch abgeleitet. (TWI 62)

In einem physisch engeren und gewissermaßen paradigmatischen Sinne fällt die auf Naturwissenschaft gestützte Umgestaltung der äußeren Natur unter ›Arbeit‹ bzw. instrumentales Handeln. Der Mensch verfügt, vermittels empirisch gewonnener Einsichten und des »richtigen« Einsatzes von Werkzeugen, realtechnisch »über Prozesse der Natur« (TWI 27). Die von Horkheimer und Adorno kritisierte »Verdinglichung« des Menschen bildet zu einem solchen Verfügen einen notwendigen Zwischenschritt, da der Handelnde sich selbst zunächst als ein ›Naturding‹ verstanden haben muss, welches in einem Ursache-Wirkung-Zusammenhang mit der es umgebenden Umwelt steht, um ein Verständnis von sich als causa efficiens einer objektiv möglichen, subjektiv planvollen Veränderung der äußeren Natur zu entwickeln (vgl. TWI 26 f.). Werk vgl. außerdem Frank Nullmeier: »Spätkapitalismus und Legitimation. Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus (1973)«. In: Brunkhorst/Kreide/Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. Stuttgart 2009, S. 188–199. Hier: S. 188 f.; 197 f. 71 Die Begriffe ›Arbeit‹ und ›Interaktion‹ gewinnt er dabei aus einer Auseinandersetzung mit dem Jenenser Hegel (vgl. TWI 9–47).

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Normativität allerdings kommt erst dann in den Blick, wenn die Ebene einer – im Prinzip auch monologisch möglichen – Betrachtung der Bearbeitung von Natur verlassen und interpersonale Verhältnisse in den Blick genommen werden. Hier nämlich, im Bereich der ›Interaktion‹, verortet Habermas die normativen Grundlagen, die von Horkheimer und Adorno zwar stillschweigend in Anspruch genommen, aber nicht mehr klar ausgewiesen werden: Unter kommunikativem Handeln verstehe ich […] eine symbolisch vermittelte Interaktion. Sie richtet sich nach obligatorisch geltenden Normen, die reziproke Verhaltenserwartungen definieren und von mindestens zwei handelnden Subjekten verstanden und anerkannt werden müssen. Gesellschaftliche Normen sind durch Sanktionen bekräftigt. Ihr Sinn objektiviert sich in umgangssprachlicher Kommunikation. (TWI 62)

Mit dem Begriff der ›Interaktion‹ führt Habermas die »Dimension zwischenmenschlicher Beziehungen« wieder ein, von der Horkheimer und Adorno die Kritische Theorie durch ihre Revision von Lukács’ Verdinglichungstheorem abgelöst hatten (TkH I, 508). Durch die Blickwendung auf die Wechselseitigkeit von intersubjektiven Verhaltenserwartungen wird es sozialwissenschaftlich möglich, die bei Horkheimer und Adorno utopisch gewordenen bürgerlichen Ideale im Miteinander vergesellschafteter Subjekte neu zu lokalisieren. Habermas’ frühe Unterscheidung der »Handlungstypen« ›Arbeit‹ und ›Interaktion‹ in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ ist allerdings insofern noch mit Unklarheiten behaftet, als auch in Arbeitsprozessen eine »symbolisch vermittelte Interaktion« stattfinden kann. 72 Wenn etwa der Vorarbeiter einer Baustelle seinem Untergebenen die Anweisung gibt, Maurerarbeiten durchzuführen, beachtet er einerseits die »technischen Regeln«, wie Maurerarbeiten auszuführen sind, weshalb er »strategisch« hierfür einen Arbeiter auswählen wird, der für die Erledigung der Aufgabe – gewissermaßen als ein ›Werkzeug‹ – technisch geeignet, d. h. ausgebildet ist. Andererseits erwartet er, dass die Anweisung verstanden und entsprechend »geltenden Normen« der Befehlskette befolgt wird. Der Aspekt der ›Instrumentalisierung‹ eines Arbeiters verleiht der Anweisung zweckrationalen Charakter, die mit ihr verbundene Erwartung einer Befolgung gemäß geltenden Normen macht den kommunikativen Charakter derselben aus. Anstelle von ›Handlungstypen‹ ist an dieser 72

Vgl. Rapic: Subjektive Freiheit. S. 336.

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Stelle daher sinnvoller zwischen instrumentellen und kommunikativen Hinsichten zu unterscheiden, deren Berücksichtigung durch den Akteur in eine Handlung einfließt und die im konkreten Falle miteinander verschränkt werden können. In Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus und der Theorie des kommunikativen Handelns hat Habermas die terminologische Entgegensetzung von (a1) ›Arbeit‹ und (b1) ›Interaktion‹, die er dem Jenenser Hegel entlehnt hatte, daher aufgegeben und sie in systematischer Hinsicht durch die Einführung der Perspektivendoppelung von (a2) »Beobachter-« und (b2) »Teilnehmerperspektive« ersetzt, die sich bei Edmund Husserl in der Unterscheidung von »naturalistischer« und »personalistischer« Einstellung vorformuliert findet (TkH II, 179 f.). 73 Die Perspektivenunterscheidung kann an die frühe Entgegensetzung von ›Arbeit‹ und ›Interaktion‹ angeschlossen werden. Die Beobachterperspektive (a2) löst dabei die Kategorie der instrumentellen ›Arbeit‹ (a1), die Teilnehmerperspektive (b2) diejenige der kommunikativen ›Interaktion‹ (b1) ab: Der Beobachterperspektive (a2) entspricht ein Blick, der auf die sachanalytische Erklärung von objektiven Verhältnissen (physischen im engeren Sinne, aber auch soziophysischen) gerichtet ist. Aus dieser Perspektive werden Hypothesen über Dingzusammenhänge aufgestellt, die auf experimentellem Wege daraufhin überprüft werden können, ob sie faktisch zutreffen. Die Beschränkung auf beobachterperspektivische Erklärungen ist das, was vom Wiener Kreis – später auch von Vertretern einer Systemtheorie – als das Programm einer Einheitswissenschaft gefordert wird. Die Beobachterperspektive kann Eine genauere Untersuchung und Nachzeichnung der Textgeschichte von Habermas’ Gesellschaftstheorie, die nötig wäre, um die mannigfachen Verschiebungen innerhalb seines Programms in den 14 Jahren zwischen Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ und der Erstauflage der Theorie des kommunikativen Handelns zu rekonstruieren, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Zur Doppelung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, die sich programmatisch bereits in Habermas’ Beitrag zur Adorno-Festschrift findet und an Edmund Husserl anschließt, vgl. Smail Rapic: »Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus – Zur Aktualität eines Habermas’schen Textes aus dem Jahre 1973.« In: Ders. (Hrsg.): Habermas und der Historische Materialismus. München 2014, S. 154–199. Hier bes.: S. 155 f.; dazu die »Entgegnung auf Smail Rapic« (ebd., S. 199–202). Vgl. außerdem Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (= Husserliana, Bd. IV; hier und im Folgenden zitiert als: Hua). Den Haag 1952, S. 173 ff., 180, 281.

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insofern als »systemisch« charakterisiert werden, als sie darauf abzielt – ohne Beimischung von allem ›bloß Subjektiven‹ – Verhältnisse nur im objektiv-kausalen Zusammenhang ihrer naturgesetzmäßigen Gegebenheit zu beschreiben, nach deren Maßgabe sie zugleich verändert werden können. 74 Die Teilnehmerperspektive (b2) thematisiert dagegen soziale Verhältnisse (in einem weiteren Sinne auch physische, insofern sie Produkt sozialer Interaktion sind) aus der Innenperspektive handelnder Subjekte, die sich – aufgrund von Bildungsprozessen der Vergesellschaftung und Individuierung – als Teil dieser sozialen Realität verstehen und die auf gesellschaftliche Normen reflektieren können. Die Teilnehmerperspektive kann in diesem Sinne auch als »kritischappellativ« bezeichnet werden, da aus ihr heraus subjektiv-wertende Stellungnahmen zu erhobenen Geltungsansprüchen und bestehenden Normen möglich sind bzw. eigene Geltungsansprüche erhoben werden können. 75 In Teilnehmerperspektive begegnen Individuen einem Gegenüber interaktiv als einem anderen verantwortlichen Subjekt, das in der Lage ist, zu Geltungsfragen Stellung zu nehmen. Die Subjekte bringen einander dabei zunächst wechselseitig (»reziprok«) Erwartungen eines normkonformen Verhaltens entgegen bzw. verlangen, dass der Andere sich, im Falle einer Enttäuschung der an ihn gestellten Verhaltenserwartungen, rechtfertigt. Das Begriffspaar von Beobachter- und Teilnehmerperspektive kann zudem vermittels der von Immanuel Kant eingeführten Unterscheidung zwischen Quaestiones facti (a3) und Quaestiones juris (b3) näher erläutert werden: Kant differenziert in der Kritik der reinen Vernunft zwischen der empirisch beantwortbaren Frage, wie unsere Erkenntnis faktisch verfasst ist (»quid facti«), und der Frage nach der angemessenen Berechtigung unserer Erkenntnisansprüche (»quid juris«). 76 Während Quaestiones facti (a3) Antworten provozieren, wie sie etwa von den beobachterperspektivisch (a2) verfahrenden Naturwissenschaften gegeben werden, verlangen Quaestiones juris (b3) Rapic: Subjektive Freiheit. S. 13. Schon Ludwig von Bertalanffys Vorschlag einer »Allgemeinen Systemtheorie« ist an den naturwissenschaftlichen Organismusmodellen der Biologie orientiert, vgl. Ludwig von Bertalanffy: General System Theory. Foundations, Development, Applications (Revised Edition). New York 11969. Hier bes.: S. 10–17. 75 Rapic: Subjektive Freiheit. S. 13. 76 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1998, S. 164 f. (A 84; B 116). Vgl. auch Rapic: Erkenntnis und Sprachgebrauch. S. 158. 74

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teilnehmerperspektivische (b2) Antworten auf Geltungsfragen, die nur auf dem Wege einer intersubjektiven Verständigung erbracht werden können. Aufgrund ihres selbstreflexiven Status, demgemäß sich die Teilnehmer an einer Verständigung zunächst selbst Rechenschaft über ihre Stellung zu einer Quid-juris?-Frage geben müssen, bevor sie intersubjektiv stellungnehmen können, macht die wissenschaftliche Einnahme einer solchen Teilnehmerperspektive eine Besonderheit kritizistischer Theorien im Gefolge Kants (und damit auch der Kritischen Theorie) aus. Innerhalb des skizzierten Bezugsrahmens können wir nun die eingangs dieses Abschnitts aufgeworfene Frage wieder in den Blick nehmen, was Jürgen Habermas Horkheimer und Adorno genau vorwirft, wenn er feststellt, sie verstünden »›Beherrschung‹ der Natur nicht als Metapher« (TkH I, 507): Der auf eine biblische Verheißung der Genesis zurückgehende Topos der ›Herrschaft über die Natur‹ (Dominium terrae), der bereits von Francis Bacon zur Rechtfertigung seines einheitswissenschaftlichen Programms instrumentalisiert wird (s. u. Kap. I.3), kann unter säkularen Bedingungen nur so verstanden werden, dass er eine metaphorische Umschreibung für die ›Kontrolle von Umweltverhältnissen‹ (a2;3) in Begriffen sozialer Verhältnisse (b2;3) darstellt. Horkheimer und Adorno verstehen diese Metapher jedoch wörtlich, wodurch der Unterschied zwischen ›Kontrolle von Umweltverhältnissen‹ und ›Herrschaft über Menschen‹ schon im Ansatz zusammenfällt: »Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung ein. Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unterjochung der äußeren Natur, der menschlichen und nichtmenschlichen, teilzunehmen, sondern muß, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen.« (KiV 106) Aufgrund dieser Vermengung drohen ihnen aber »die Konturen des Vernunftbegriffs zu verschwimmen« (TkH I, 489). Habermas’ Feststellung zielt dabei zugleich auf den paradoxen Theoriestatus einer Kritik der instrumentellen Vernunft wie auf die ungeklärte Herkunft ihrer normativen Gehalte: Wenn man davon ausgeht, dass instrumentelle Vernunft nur Antworten auf Quid-facti?-Fragen (a3) zu liefern vermag, die kategorial an die Beobachterperspektive (a2) gebunden sind, müssen Horkheimer und Adorno einen Standpunkt außerhalb dieses systemischen Zusammenhangs beziehen, wenn sie die instrumentelle Vernünftigkeit gesellschaftlicher Rationalisierungsprozesse appellativ kritisieren wollen. Da allerdings die ›Verdinglichung‹ bereits im 62

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Leben der menschlichen Gattung angelegt sein soll, kann sie – aufgrund der Alternativlosigkeit einer Selbsterhaltung durch instrumentelle Vernunft – selbst unter Voraussetzung einer externen Perspektive gar nicht als ›ideologisch‹ im Sinne eines ›falschen Bewusstseins‹ kritisiert werden. Die Ideologiekritik wird paradox, weil – mit der Terminologie von Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ gesprochen – zur ›Naturherrschaft‹ durch ›Arbeit‹ gar keine Alternative besteht, solange »die Organisation der menschlichen Natur sich nicht ändert, solange wir mithin unser Leben durch gesellschaftliche Arbeit […] erhalten müssen« (TWI 56 f.). Die kritisch-appellativ gleichwohl in Anspruch genommenen normativen Gehalte müssen, als Antworten auf Quid-juris?-Fragen (b3), der Teilnehmerperspektive (b2) zugerechnet werden. Dieser Umstand wird von Horkheimer und Adorno jedoch nicht mehr theoretisch eingeholt und ausgewiesen, wodurch die Herkunft der normativen Gehalte (sc. aus kommunikativer Vernunft) ungeklärt bleibt. Wenn aber der theoretische Standpunkt der Kritik dergestalt nicht geklärt ist, bleiben auch die Begriffe von ›Herrschaft‹ und ›Versöhnung‹, die er mobilisiert, so dunkel, dass sich nicht mehr angeben lässt, worauf eine solche Theorie ihrem Status nach noch abzielen könnte. Wird der Begriff von ›Herrschaft‹ in einem wörtlichen Sinne auf die Natur übertragen, dann handelt es sich dabei um einen Kategorienfehler, da dieser Begriff Verhältnisse zwischen Subjekten beschreibt (b2;3), von Horkheimer und Adorno jedoch auf den Bereich der Natur bezogen wird (a2;3). Reflektiert man in einem zweiten Schritt auf die Formulierungen von »Versöhnung mit dem NichtIdentischen« oder »Revolte der Natur«, so wird klar, dass auch sie insofern unbefriedigend sind, als sie in methodisch ebenso unreflektierter Weise Begriffe, die der kommunikativen Sphäre entstammen, auf ein System zweckrationalen Handelns applizieren, innerhalb dessen jedoch technische Regeln der Erfolgskontrolle das Handeln leiten, die wiederum der Natur als einem objektiv geregelten Strukturzusammenhang abgelesen sind. Da jeder Eingriff in Umweltverhältnisse sich, um erfolgreich zu sein, gemäß Ursache-Wirkung-Verhältnissen zu vollziehen hat, die als solche nicht nur ›blind‹ gesetzmäßig wirken, sondern die eben auch ›taub‹ sind für eine symbolisch vermittelte Interaktion, gibt es zur instrumentellen Vernunft als solcher »kein Substitut, das ›humaner‹ wäre« (TWI 58). Die Vorstellung eines reziproken Verhältnisses zur Natur als eines zwischen SubjekZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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ten trägt also nicht. Das »Eingedenken der Natur im Subjekt« stellt, in seiner diffusen Vermengung kategorialer Bestimmungen, eine auf theoretisch-argumentativem Wege nicht mehr einlösbare Position dar (DA 55). 77 Habermas selbst spricht in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ zwar noch mit einiger Vorsicht davon, die Idee, »daß eine noch gefesselte Subjektivität der Natur entbunden werden könnte«, habe »eine eigentümliche Anziehungskraft behalten«, womit er die metaphorischen Redeweisen von ›Naturherrschaft‹ und ›Versöhnung mit der Natur‹ nicht generell unter Verdikt stellt (TWI 57). In einem nur noch übertragenen Sinne versteht er ›Versöhnung‹ jedoch so, dass sie sich eben gerade nicht auf einen alternativen »Handlungstypus« im Umgang mit der Natur und damit auf eine Alternative zu ihrer technischen Kontrolle durch ›Arbeit‹ beziehen kann. Indem ›Versöhnung‹ auf eine »alternative Handlungsstruktur« bezogen ist – nämlich auf »symbolisch vermittelte Interaktion im Unterschied zum zweckrationalen Handeln« – verweist sie vielmehr auf den Bereich zwischenmenschlicher ›Interaktion‹ zurück (TWI 57). Innerhalb dieser begrifflichen Sphäre können dann Herrschaftsverhältnisse zwischen Personen, die sich indirekt aus der instrumentellen Vernünftigkeit einer Kontrolle von Naturverhältnissen ergeben, nach Maßgabe der intersubjektiven Geltung kommunikativ etablierter Normen kritisiert werden. Nicht die ›Natur‹ bildet dann den »Gegenspieler einer möglichen Interaktion«, sondern andere Personen, mit denen eine »symbolisch vermittelte Interaktion« über die ›Natur‹ und über einen menschenwürdigen Umgang mit ihr gesucht wird, der sich gemäß solidarisch geltender Normen zu vollziehen hat (ebd.). Indem Habermas darauf insistiert, ›Arbeit‹ und ›Interaktion‹ »strenger auseinanderzuhalten«, wird es möglich, den wissenschaftlich-technischen Fortschritt unter dem Gesichtspunkt seiner ›verdinglichenden‹ Auswirkungen auf das zwischenmenschliche Zusammenleben zu kritisieren: Kritisierbar wird dann die eindimensionale Ausweitung der instrumentellen Rationalität von Systemen, in denen »hauptsächlich zweckrationale Sätze von Handlungen institutionalisiert sind« (d. h. in denen beobachterperspektivische Erwägungen überwiegen), auf Gesellschaftsbereiche, die »hauptsächlich auf moralischen Regeln Konsequenterweise hat Adorno in der Negativen Dialektik den »theoretischen Anspruch« daher, um den hohen Preis einer Aufgabe der »Intentionen«, »denen die Kritische Theorie anfänglich gefolgt ist«, überhaupt eingezogen (TkH I, 514; 516).

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der Interaktion beruhen« (TWI 46; 63 f.). Es sind dann sowohl die Herkunft normativer Gehalte (s. o. 1) wie auch der Theoriestatus geklärt (s. o. 2): Kritische Theorie ist aus ›Teilnehmerperspektive‹ (b2) geübte Kritik, welche die ›beobachterperspektivisch‹ (a2) rekonstruierten ›Auswirkungen‹ (Quid facti?; a3) instrumentellen Handelns an Mensch und Natur auf soziale Verhältnisse unter Inanspruchnahme von ›Normen‹ (Quid juris?; b3) thematisiert, die sich aus kommunikativem Handeln ergeben. Unter diesem Gesichtspunkt führt Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns die These einer ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ ein (vgl. TkH II, 452), die den vormaligen Platz des ›Verdinglichungstheorems‹ einnehmen und sozialpathologische Prozesse der gesellschaftlichen »Monetarisierung durch die Ökonomie und Bürokratisierung durch den Staat« 78 zugleich theoretisch erklären und praktisch kritisierbar machen soll (s. u. Kap. IV.2). Die Klärung des Metapherngebrauchs von Horkheimer und Adorno ist für die vorliegende Arbeit nun insofern interessant, als sie die Frage aufwirft, welche Rolle die Verwendung von Metaphern an der Schnittstelle von Teilnehmer- und Beobachterperspektive in Theorieentwürfen einer Einheit von Theorie und Praxis historisch eingenommen hat. Angesichts der kaum zu überschätzenden Wirkung der Schriften Bacons und der Kritischen Theorie und in Anbetracht der Tatsache, dass bis in die heutige Zeit hinein in Expertenund Laiendiskursen über Technik und Ökologie Metaphern verwendet werden, die die Kontrolle von Umweltverhältnissen in terms sozialer Verhältnisse thematisieren (z. B. ›Naturschutz‹, ›Natur-‹ bzw. ›Technikkatastrophe‹, ›technisches Versagen‹, ›Mutter Natur rächt sich‹ etc.), verspricht die aufgeworfene Frage einen Aufschluss über die speziellen Bedingungen einer demokratisch orientierten Verständigung zwischen Wissenschaften und breiterer Öffentlichkeit. Zu ihrer Klärung ist der Anschluss an Hans Blumenbergs ›Metaphorologie‹ deshalb hilfreich, weil Habermas der Funktion metaphorischer Sprechweisen bei der Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive selbst nicht weiter nachgegangen ist. Die von Habermas an Horkheimers und Adornos Metapherngebrauch geübte Kritik lässt sich allerdings – wie ich zeigen möchte – mit Blumenbergs ›Metaphorologie‹ reformulieren. Diese Reformulierung bildet im FolgenMattias Iser: »Kolonialisierung«. In: Brunkhorst/Kreide/Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. Stuttgart 2009, S. 328–331. Hier: S. 329.

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den dann den Übergang zum Anschluss Blumenbergs an den bisher entwickelten Zusammenhang.

3.

Die Selbstverständigungsfunktion einer Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive über Metaphorik: Hans Blumenbergs ›Metaphorologie‹

Hans Blumenberg wirft in den Paradigmen zu einer Metaphorologie die Frage auf, »unter welchen Voraussetzungen Metaphern in der philosophischen Sprache Legitimität haben können« (PM 10). 79 Er unterscheidet dabei Metaphern als »Restbestände« bzw. »Rudimente auf dem Wege vom Mythos zum Logos« von solchen, die »Grundbestände der philosophischen Sprache« darstellen bzw. die als »›absolute Metaphern‹« bezeichnet werden können (ebd.). Die von Habermas an Horkheimer und Adorno kritisierte Metapher einer ›Naturbeherrschung‹ gehört zu den ›Restbeständen‹ im Blumenberg’schen Sinne, da sie – in ihrer Anknüpfung an das Dominium terrae – nicht nur dem Motivfundus biblischer Überlieferung zuzurechnen ist, sondern zudem mit Gewinn in eine klarere Begriffssprache überführt werden kann, indem nüchtern gesagt wird, metaphorisch gemeint sei eben die ›technische Kontrolle von Umweltverhältnissen‹. Metaphorologie hat angesichts solcher Restbestände die Aufgabe, durch eine »kritische Reflexion, die das Uneigentliche der übertragenen Aussage aufzudecken und zum Anstoß zu machen hat«, eine Klärung herbeizuführen (ebd.). Als ›Grundbestände‹ der philosophischen Sprache sind dagegen solche Metaphern zu werten, die im Zuge einer geschichtlichen Verbegrifflichung bereits ihren metaphorischen Status abgelegt haben und in diesem Sinne »absolut« geworden sind. Beispiele für absolute Metaphern sind Termini wie ›Wahrscheinlichkeit‹, das lichtmetaphorische ›Erhellen‹ von Zusammenhängen oder die handwerksmetaphorische ›Anknüpfung‹ an Theorien; Metaphern also, denen durch Reflexion auf ihre historisch-semantischen Gehalte keine größere Deutlichkeit abzugewinnen ist, als sie in der begriffssprachlichen Kommunikation bereits intendiert und der Fall ist. Im Zweifel kann eine Reflexion solcher 79 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie (hier und im Folgenden zitiert als: PM). Frankfurt a. M. 1998 (erstmals publiziert in: Archiv für Begriffsgeschichte, 6 (1960), S. 7–142).

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Formulierungen sogar eher auf Abwege führen, da ihr wissenschaftlicher Sinn sich bereits in erheblichem Maße von seiner semantischen Herkunft emanzipiert und durch die begriffliche Fixierung eine eigenständige Bedeutung gewonnen hat. Die Kritik an Horkheimer und Adorno, sie verstünden »›Beherrschung‹ der Natur nicht als Metapher«, lässt sich dann mit Blumenberg so reformulieren, dass Habermas ihnen vorwirft, einen metaphorischen ›Restbestand‹ zum begrifflichen ›Grundbestand‹ der Philosophie (zur ›absoluten Metapher‹) zu erklären, ohne dieser Verbegrifflichung einen eigenständigen und argumentativ ausweisbaren Sinngehalt beilegen zu können. Der Vorwurf lautet also, dass dem ›Restbestand‹ einer ›Naturbeherrschung‹ ein begrifflich-absoluter Status zugemutet wird, den er als bloße Metapher in Wahrheit gar nicht besitzt. Durch eine kritische Reflexion, die »das Uneigentliche der übertragenen Aussage« aufdeckt und »zum Anstoß« einer Neufassung des Bezugsrahmens Kritischer Theorie macht, leistet Habermas an Horkheimer und Adorno also gewissermaßen bereits selber ein Stück ›Metaphorologie‹ (PM 10). Um Blumenberg in theoriegeschichtlich noch weitreichenderer Weise an die Kritische Theorie anschließen zu können, ist es allerdings nötig, an dieser Stelle neu anzusetzen. Blumenberg bestimmt es in einer Selbstinterpretation 1979 rückblickend als die Aufgabe einer ›Metaphorologie‹ – wie er sie in ihren Anfängen 1960 entworfen hat –, eine »subsidiäre Methodik […] für die Begriffsgeschichte« zu liefern (SZ 87). 80 Im Fragen nach sprachlichen Prozessen im »Vorfeld der Begriffsbildung«, in denen Metaphern »als Behelf in der noch nicht konsolidierten Situation von Fachsprachen« fungieren, ist Metaphorologie »auf die Konstitution von Begrifflichkeit« bezogen (ebd.). Dieses Programm wird von Blumenberg in seinem »Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit« in Schiffbruch mit Zuschauer bereits ausgedehnt (SZ 86–106). Während sich an der »Funktion der Metaphorologie nichts« geändert habe, habe sich ihre »Referenz« erweitert: Als eine »Theorie der Unbegrifflichkeit« soll die Metaphernanalyse nun auch »die rückwärtigen Verbindungen zur Lebenswelt als dem ständigen […] Motivierungsrückhalt aller Theorie« erhellen (SZ 86 f.). 81 Es sollen also auch Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher (hier und im Folgenden zitiert als: SZ). Frankfurt a. M. 1997, S. 87. 81 Vgl. außerdem Blumenbergs Nachlassschrift: Theorie der Unbegrifflichkeit (aus dem Nachlass herausgegeben von Anselm Haverkamp). Frankfurt a. M. 2007. Auf80

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wissenschaftssprachliche ›Grundbestände‹, in denen die metaphorische Bedeutung eines Ausdrucks historisch bereits sedimentiert und unter einen eigenständigen Begriffsgehalt subsumiert worden ist, in ihrer Herkunft aus der Thematisierung einer anschaulich-gegebenen Umwelt hinterfragt werden (vgl. PM 10; SZ 93). So weist etwa die begriffssprachlich auf ›Wahrheit‹ bezogene Verwendung von Lichtmetaphorik (sehen lassen, beleuchten, Licht der Vernunft etc.) auf den Kontext alltagssprachlich kommunizierender Individuen zurück, die sich wechselseitig der Gemeinsamkeit ihrer optischen Wahrnehmungen (i. d. S. der Berechtigung des Geltungsanspruchs ›Wahrheit‹) versichern. Metaphorologie lässt sich dann – über Blumenbergs philosophisches Selbstverständnis hinaus, jedoch nicht im Widerspruch zum metaphorologischen Programm – als eine kritische Reflexion der Wissenschaften auf ihre Metaphernverwendung begreifen, die sich vor dem Hintergrund einer historisch gewachsenen Alltagssprache als eine Selbstverständigung über die Einbettung von Wissenschaft in soziale Verhältnisse menschlicher Interaktion vollzieht. Eine solche Interpretation der Funktion von Metaphorologie als einer kritischen ermöglicht es, sie an Habermas’ Entwurf einer Kritischen Theorie systematisch anzubinden. Hierzu sind jedoch rekonstruktiv einige theoriegeschichtliche Zwischenschritte nötig, die von der Intention Kritischer Theorie in den 30er-Jahren ihren Ausgang nehmen (i). Anschließend werde ich Edmund Husserls zur selben Zeit entstandenes Spätwerk über die Krisis der europäischen Wissenschaften (1936) thematisieren, das sich mit dieser Intention vermitteln lässt (ii). Dadurch kann schließlich auch Hans Blumenbergs ›Metaphorogrund ihres stark fragmentarischen bis unfertigen Charakters werde ich auf diese Schrift im Folgenden keinen Bezug nehmen. Blumenberg hat sie 1975 entworfen und über der Arbeit an anderen, veröffentlichten Manuskripten bis zu seinem Tod 1996 nie vollendet. Ihre Veröffentlichung hat in der jüngeren Zeit insbesondere dekonstruktivistischen Lesarten Blumenbergs weiteren Vorschub geleistet, denen ich mich – mit Gottfried Gabriel – hier nicht anschließen möchte: »Blumenberg hält […] an der Differenz zwischen Begriffen und Metaphern fest und steht damit in Distanz zur Dekonstruktion, die ihn […] zu vereinnahmen sucht.« Vgl: Gottfried Gabriel: »Kategoriale Unterscheidungen und ›absolute Metaphern‹. Zur systematischen Bedeutung von Begriffsgeschichte und Metaphorologie«. In: Haverkamp/Mende (Hrsg.): Metaphorologie. Zur Praxis von Theorie. Frankfurt a. M. 2009. S. 65–84. Hier: S. 69. Zu Blumenbergs Bestimmung des Verhältnisses zwischen Begriffen und Metaphern vgl. im selben Band: Merker: »Phänomenologische Reflexion«. Hier bes.: S. 153–164.

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logie‹, die, wie auch die Kritische Theorie Marcuses und Habermas’, auf Husserl rekurriert, an die skizzierten Traditionslinien angebunden werden (iii): i) Das Konzept einer Kritischen Theorie, das Horkheimer in Traditionelle und Kritische Theorie entwickelt hat, kann als eine Explikation der Theoriestruktur des Historischen Materialismus von Karl Marx und Friedrich Engels in seiner ursprünglichen Gestalt erläutert werden: Marx hat in einem Brief an Ruge vom September 1843 das Ziel der in gemeinsamer Herausgeberschaft geplanten Deutsch-Französischen Jahrbücher als dasjenige einer »Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche« bestimmt (MEW 1, 346). Die angestrebte »kritische Philosophie« soll zunächst die »wirklichen Bedürfnisse« der Individuen, wie sie in den »wirkliche[n] Kämpfe[n]« einer Gesellschaft zum Ausdruck kommen, aufnehmen (MEW 1, 343; 345). Da die Selbstinterpretationen der kämpfenden Individuen als politisch und religiös ›verschleiert‹ zu werten sind, macht die »Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewußtseins, trete es nun religiös oder politisch auf«, ein wesentliches Aufklärungsmoment der Selbstverständigung aus (MEW 1, 346). Im Zuge einer empirischen Analyse von sozialen Konfliktstrukturen der Gegenwart soll die Verflechtung von bewusstseinsmäßigen Selbstinterpretationen mit gesellschaftlichen Verhältnissen theoretisch aufgedeckt und die soziale Realität zugleich auf Gestaltungsspielräume hin geprüft werden, wie die nun ideologiekritisch aufgeklärten »Wünsche« durch bewussten Eingriff in gesellschaftlichobjektive Strukturzusammenhänge praktisch realisiert werden können. Marx hebt in seinem Brief sowohl den ergebnisoffen wie auch demokratisch orientierten Charakter der projektierten Selbstverständigung hervor. Dieser besteht darin, dass einerseits »die Kritik sich nicht vor ihren Resultaten fürchtet«, d. h. Ergebnisse der objektiven Sachanalyse auch dann akzeptiert werden, wenn sie den subjektiven »Wünschen« zuwiderlaufen, und dass andererseits der Selbstverständigungsprozess weite Teile der Individuen einer Gesellschaft mit einschließt (MEW 1, 344). Selbstverständigung ist – in einer Vorreiterrolle – nicht nur Marx, Ruge und den übrigen »Reformern« abgefordert, von denen »jeder sich selbst gestehen« müsse, »daß er keine exakte Anschauung von dem hat, was werden soll«, sondern bezieht außerdem die als »Dogmatiker« bezeichneten Vertreter konkurrierender linkshegelianischer Ansätze (i. d. S. die ›Scientific Community‹) und die »Zeitgenossen« (d. h. die bürgerliche Öffentlichkeit) Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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mit ein (MEW 1, 344). Sie sei »eine Arbeit für die Welt und für uns« und könne folglich nur »das Werk vereinter Kräfte« sein (MEW 1, 346). 82 Max Horkheimer expliziert die Theoriestruktur der von Marx in seinem Brief an Ruge projektierten Selbstverständigung als ein selbstreflexives Verhalten zu »objektiven Möglichkeiten« der gesellschaftlichen Realität (TKT 167). Horkheimers frühe Kritische Theorie stellt dann insofern eine Einlösung der von Marx programmatisch geforderten »kritische[n] Philosophie« dar, dass sie, »im Interesse einer vernünftig orientierten zukünftigen Gesellschaft[,] die gegenwärtige kritisch durchleuchtet«, wobei die ideologiekritische Wendung gegen die quasi-religiöse und »positivistische Tendenz« des »Szientivismus« nun an die Stelle der inzwischen unzeitgemäß gewordenen Kritik mythisch-religiöser Vorstellungen rückt (TKT 207; 114 f.). Aufgrund des Festhaltens an der von Marx und Engels vertretenen »orthodoxen Auffassung« einer »Unschuld der Produktivkräfte« weist die Position des frühen Horkheimer allerdings ein Reflexionsdefizit im Hinblick auf Problemlagen der technologischen Entwicklung auf (TWI 59; 53). Zudem ist der normative Gehalt Kritischer Theorie dort in der Rückbindung an die Ideale der Aufklärung zwar historisch ausgewiesen, jedoch systematisch noch nicht in dem Sinne eingeholt, dass die implizit bereits in Anspruch genommene Verknüpfung einer kritisch-appellativen Teilnehmer- mit einer systemischen Beobachterperspektive kategorial klar erfasst wäre. Dies führt in der Folge zu einem Paradoxwerden der Kritischen Theorie in den 40er-Jahren, in der sich ihr ungeklärter normativer Status »drastisch bemerkbar« macht (TkH I, 500). ii) Eine historisch-kritische Selbstverständigung über die Krise technologischer Leistungsentfaltung in unserem Zeitalter, die an dieser Stelle eingeschaltet werden kann, bietet allerdings Edmund Husserl in seinen Betrachtungen zur Krisis der europäischen WissenOb auch die Proletarier in diese Selbstverständigung demokratisch mit einbezogen werden können, ist eine Frage, die ich an dieser Stelle ausklammern möchte. Die Indizien sprechen eher dafür, dass Marx und Engels eine solche Einbeziehung – aufgrund fehlender Bildungsvoraussetzungen der Massen – zu ihrer Gegenwart weder für möglich noch für notwendig hielten (vgl. MEW 3, 40: »Für die Masse der Menschen, d. h. das Proletariat, existieren diese theoretischen Vorstellungen nicht, brauchen also für sie auch nicht aufgelöst zu werden, und wenn die Masse je einige theoretische Vorstellungen, z. B. Religion hatte, so sind diese längst durch die Umstände aufgelöst.«).

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schaften. Eine differenziertere Auseinandersetzung mit Technologie, als sie vom frühen Horkheimer geleistet wird, konnte theoriegeschichtlich über die Husserl-Rezeption Herbert Marcuses in die Kritische Theorie einwandern. Von dieser Rezeption zehrt auch Habermas, wenn er in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ den Bezugsrahmen von ›Arbeit‹ und ›Interaktion‹ über den Umweg einer Auseinandersetzung mit Marcuses Kritik der fortgeschrittenen Industriegesellschaft in die Gesellschaftstheorie einführt. Aber nicht nur die Technikthematik lässt sich über Husserls Krisis einer eingehenderen Analyse zuführen: Husserl greift in dieser Schrift zudem seine Unterscheidung einer »naturalistischen« und »personalistischen Einstellung« aus den Ideen II wieder auf, in der sich die Habermas’sche Perspektivendoppelung von Teilnehmer (b2) und Beobachter (a2) kategorial vorformuliert findet. 83 Dies sei an dieser Stelle etwas näher erläutert: Husserl benennt die Erlangung von »Selbstverständnis« im kritischen »Willen zur Befreiung von Vorurteilen« und im Dienste der praktischen »Entscheidung« für das, »worauf man eigentlich hinaus will«, ausdrücklich als Ziel seiner historischen Rückbesinnung auf die Anfänge des Unternehmens wissenschaftlicher ›Naturbeherrschung‹ in der Neuzeit (Krisis § 5, S. 14; § 15, S. 79). Diese aufklärerische Intention gestattet es, die Theoriestruktur der Krisis an den Begriff einer »Selbstverständigung«, wie er in der Kritischen Theorie als eine Explikation des Historischen Materialismus formuliert ist, systematisch anzuschließen. ›Selbstverständigung‹ meint bei Husserl einen Reflexionsprozess auf Bedingungen der Möglichkeit moderner Wissenschaftlichkeit, der die objektiv institutionalisierten Strukturen des Wissenschaftsbetriebs einer methodisch-rationalen Kontrolle unterwerfen soll. Wie Horkheimer wendet sich Husserl gegen Vereinseitigungen einer kausal erklärenden Einheitswissenschaft, die er als die Ursache einer Krisis der europäischen Wissenschaften in der Moderne identifiziert. In seiner Krisendiagnose kann Husserl an seine – bereits in den Ideen II entwickelte – erkenntnistheoretische Unterscheidung zwischen einer »naturalistischen« und einer »personalistischen Der Titel »Ideen II« bezieht sich auf: Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution (Hua IV). Auch die System-Lebenswelt-Unterscheidung gewinnt Habermas aus einer Auseinandersetzung mit Husserl (vgl. TkH II, 180 ff.). Zu Bedeutung und Zusammenhang der hier und im Folgenden weiterverwendeten Nummerierungen a1–3 und b1–3: s. o. S. 60–62.

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Einstellung« als zwei kategorial verschiedenen Weisen einer bewussten Thematisierung von ›Welt‹ anknüpfen (Hua IV, § 48 ff.). Während in der naturalistischen Einstellung die ›Welt‹ in ihrer objektiven Eigengesetzlichkeit als ›Natur‹ thematisch ist (a4), werden in personalistischer Einstellung Fragen der Vereinbarkeit subjektiver Stellungnahmen zu einer gemeinsamen ›Umwelt von Personen‹ thematisiert (b4): a4) Die naturalistische Einstellung gestattet es – einmal eingenommen – die Welt als das ›An-Sich‹ eines objektiven Strukturzusammenhangs zu beschreiben. Innerhalb dieses Bezugsrahmens können, auf Basis des zugrunde gelegten Wahrheitskriteriums einer empirischen Überprüfbarkeit von Aussagen, Feststellungen darüber getroffen werden, was objektiv gesehen ›der Fall‹ oder ›nicht der Fall‹ ist. Diese wertfreie Weise »auf ›objektive‹ Wirklichkeit gerichteter« Beschreibung gibt das Richtmaß ab für eine naturwissenschaftlichsystematisierende Weltbetrachtung und findet auch in der empirischen Sozialwissenschaft, der Anthropologie und der Psychologie Anwendung, in der das »Ichsubjekt als Natur« thematisch ist; der Mensch also als ein natürlicher Organismus begriffen wird, dessen Verhalten sich naturkausal erklären lässt (Hua IV, 183; 175). In naturalistischer Einstellung, die sich der Habermas’schen Beobachterperspektive (a2) zuordnen lässt, stellt sich entsprechend nicht nur die Natur, sondern auch die soziale Realität als ein naturgesetzlich gelenkter Strukturzusammenhang dar. b4) Die personalistische Einstellung ist dagegen durch das Selbstverständnis einer Person von sich als »Mitglied der sozialen Welt« gekennzeichnet, zu der sie sich als zu ihrer »kommunikativen Umwelt« verhält, d. h. sich in »spezifisch sozialen, kommunikativen Akte[n]« an andere Personen wendet und sich dabei zugleich auf eine in dieser Kommunikation immer schon thematisch vorausgesetzte »gemeinsame Umwelt« mit der Absicht bezieht, intersubjektive »Beziehungen des Einverständnisses« herzustellen (Hua IV, 175; 191– 194). Die vorausgesetzte gemeinsame Umwelt kann dabei »nicht bloß eine physische und animalische (bzw. personale), sondern auch eine ideale Umwelt sein, z. B. die mathematische ›Welt‹« (Hua IV, 193). Im Aspekt einer angestrebten Erzielung von ›Einverständnis mit Anderen‹ liegt, dass die sich an ein Gegenüber wendende Person dem Anderen die Freiheit einräumt, auf erhobene Geltungsansprüche mit »Zustimmung (das Einverstanden) oder Ablehnung (das Nicht-einverstanden), ev. ein[em] Gegenvorschlag« zu reagieren (ebd.). In per72

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sonalistischer Einstellung wird die Berechtigung von Geltungsansprüchen folglich nicht mit dem – prinzipiell auch monologisch möglichen – Hinweis auf eine empirische Überprüfbarkeit von Aussagen schlicht vorausgesetzt, sondern dem dialogischen Prozess einer subjektiv-stellungnehmenden Prüfung und argumentativen Rechtfertigung unterzogen. In personalistischer Einstellung werden dergestalt subjektive Stellungnahmen auf kommunikativem Wege zueinander in Beziehung gesetzt und wechselseitig begründend gegeneinander abgewogen, wodurch die in der Kommunikation bereits vorausgesetzte »gemeinsame Umwelt […] Gemeinsamkeiten neuen und höherstufigen Sinnes […] durch Akte der personalen Wechselbestimmung« erhält, also einerseits in ihrer Gemeinsamkeit pragmatisch bestätigt und andererseits zugleich um weitere interpersonale Einverständnisbeziehungen ergänzt werden kann (Hua IV, 191). Husserls »personalistische Einstellung« lässt sich mit der »Teilnehmerperspektive handelnder Subjekte« (b2) identifizieren, wie Habermas sie im Rahmen der Theorie des kommunikativen Handelns einführt (TkH II, 179). 84 Die von Husserl diagnostizierte Krise der Wissenschaften stellt sich dann dar als eine einseitige Orientierung an der kausalen Erklärung von Naturverhältnissen aus »naturalistischer« Einstellung (a4), die der Beobachterperspektive (a2) verhaftet bleibt. Der Sinn solcher Wissenschaftlichkeit, der nur aus »personalistischer« Einstellung (b4) heraus thematisch werden kann, bleibt dabei insofern unreflektiert, als ein teilnehmerperspektivisches Verhalten (b2) zur sozialen Realität bewusstseinsmäßig ausgeklammert bleibt. Wie das von ihm gewählte Beispiel der »mathematische[n] ›Welt‹« zeigt, ist für Husserl der Weltbegriff einer »personalistischen Einstellung« nicht nur für einen geisteswissenschaftlichen Forschungs- und Rechtfertigungskontext grundlegend. Auch der an einem naturwissenschaftlichen Weltbegriff orientierte Forscher muss sich in seiner gesellschaftlichrealen Berufspraxis als Person begreifen können: »Als Forscher sieht er nur ›Natur‹. Aber als Person lebt er wie jeder andere und ›weiß‹ sich beständig als Subjekt seiner Umwelt« (Hua IV, 183). Diese Fest-

Um Habermas’ Rezeption der Phänomenologie Husserls – nicht zuletzt seine Aufnahme des Lebensweltbegriffs (vgl. TkH II, 182–228) – vor dem Hintergrund der Husserl-Forschung im Einzelnen nachzuvollziehen, wäre allerdings ein erheblich größerer Aufwand nötig, als er im Rahmen der vorliegenden Arbeit erbracht werden kann.

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stellung lässt sich so für eine Kritik szientistischer Positionen fruchtbar machen, dass der Naturwissenschaftler, da er für die von ihm erarbeiteten Forschungsergebnisse den Anspruch erhebt, sie seien nach dem wissenschaftlichen Kriterium einer empirischen Überprüfbarkeit von Aussagen gewonnen, nicht empirisch überprüfbare Aussagen anderer Forscher aber als ›unwissenschaftlich‹ kritisiert, in Ausübung seiner wissenschaftlich-arbeitsteiligen Tätigkeit implizit voraussetzen muss, dass die Normen naturwissenschaftlicher Forschung im sozialen Kontext einer Scientific Community gerechtfertigt sind und nach Anerkennung verlangen. Nur auf Basis dieser Voraussetzung ist es ihm überhaupt möglich, anderen Forschern eine Verletzung dieser Normen als ein wissenschaftliches Fehlverhalten vorzuwerfen. Aufgrund dieses wissenschaftspolitischen Rechtfertigungskontextes »findet sich auch der Naturforscher, selbst wo er Natur erforscht, beständig als Person lebend in der personalen Welt« (Hua IV, 288 Anm.). Eine Tendenz zum Ausbleiben einer teilnehmerperspektivischpersonalistischen (b2;4) Reflexion auf die wissenschaftliche Tätigkeit als eine unausgesetzt soziale kann sich aber laut Husserl im Berufsleben eines Wissenschaftlers ganz unwillkürlich und psychologisch erklärbar durch einen wiederholten und zur »feste[n] Gewohnheit« gewordenen Übergang zu einer rein beobachterperspektivisch-naturalistischen (a2;4) Einstellung abzeichnen (Hua IV 183). Der Forscher, der den Einstellungswechsel derart internalisiert hat, dass er ihn wie selbstverständlich vollzieht, hat »habituelle Scheuklappen« (Hua IV, 183). Die intellektuelle Technik einer perspektivischen Beschränkung auf die Rolle des naturwissenschaftlichen Beobachters ist ihm zur zweiten Natur geworden. Die Zielperspektive des Einstellungswechsels und der nur aus einem weiteren sozialen Kontext zu bestimmende Zweck seiner in naturalistischer Einstellung betriebenen Forschungen werden von ihm zwar auch in diesem Zustand der faktischen ›Betriebsblindheit‹ stillschweigend vorausgesetzt, aber nicht mehr eigens vergegenwärtigt oder gar einer neuerlich-reflektierenden Überprüfung unterzogen. 85 Bereits in den Ideen II sieht Husserl dergestalt in der naturwissenschaftlichen Behandlung von Sachfragen die Tendenz zu einer Verschleierung methodischer ZwischenVgl. Hua IV, S. 191: »Wer überall nur Natur sieht, Natur im Sinne und gleichsam mit den Augen der Naturwissenschaft, ist eben blind für die Geistessphäre, die eigentümliche Domäne der Geisteswissenschaften.«.

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schritte angelegt. Die Eigenheit der naturwissenschaftlichen Abstraktionsleistung selbst bringt es mit sich, dass der Naturwissenschaftler, »durch eine Selbstvergessenheit des personalen Ich«, der naturalistischen Einstellung »eine gewisse Selbständigkeit« verleiht, tendenziell »dadurch zugleich ihre Welt, die Natur, unrechtmäßig verabsolutierend« (Hua IV, 184). Der methodische Sinn eines Einstellungswechsels – als derjenige einer vereinseitigenden Abstraktion aus einem weiteren Horizont anschaulich-gegebener Umwelt – bleibt damit unhinterfragt. Da die gesellschaftlich-arbeitsteilige Tätigkeit des Naturforschers nichtsdestotrotz weiterhin im Rahmen der kommunikativen Umwelt von Personen, innerhalb derer sie sich vollzieht, Auswirkungen hat und daher rechtfertigungsbedürftig ist, kann Husserl das berufliche Selbstverständnis von Wissenschaftlern, die diesen Umstand aufgrund von »habituellen Scheuklappen« nicht mehr eigens zu reflektieren vermögen und die stattdessen den Weltbegriff der Naturwissenschaften verabsolutieren, kritisieren: Nicht nur der Gegenstand ihrer Forschungen, auch ihre wissenschaftlichen Kriterien selbst erscheinen ihnen als ›naturgegeben‹, obwohl diese in Wahrheit Produkt einer zumindest impliziten Vorverständigung über den sozialen Sinn naturwissenschaftlicher Forschungen sind, insofern also eine Selbstbeschränkung im Akt der Anmessung an einen als autonom gedachten Gegenstandsbereich darstellen (Hua IV, 183). Der Tendenz zu einer Verselbständigung der naturwissenschaftlichen Beobachterperspektive geht Husserl in Die Krisis der europäischen Wissenschaften in einer historischen Dimension weiter nach. Der geschichtlich entscheidende Zeitraum, in dem programmatisch die Weichen zur kausal-erklärenden Einheitswissenschaft gestellt wurden, ist der Beginn der Neuzeit. Eine »historische Rückbesinnung« als »eine tiefste Selbstbesinnung auf ein Selbstverständnis dessen hin, worauf man eigentlich hinaus will«, muss für Husserl entsprechend bei einer historischen Selbstverständigung über explizite und implizite Voraussetzungen der neuzeitlichen Wissenschaftsidee ansetzen (Krisis § 15, S. 79). Wegbereitend für das Konzept einer kausal-erklärenden Einheitswissenschaft analysiert Husserl deshalb Galileis »völlig neue Idee der mathematischen Naturwissenschaft«, »daß die unendliche Allheit des überhaupt Seienden in sich eine rationale Alleinheit sei, die korrelativ durch eine universale Wissenschaft, und zwar restlos, zu beherrschen sei« (Krisis § 8, S. 21 f.). Aufbauend auf der zu seiner Zeit bereits jahrhundertealten Tradition der Geometrie habe Galilei einer »Mathematisierung der Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Natur« zum Durchbruch verholfen, die zwar »etwas durchaus Rechtmäßiges ja Notwendiges« darstelle, in sich jedoch die Gefahr von »gefährliche[n] Sinnverschiebungen« berge, sofern nicht »die ursprüngliche Sinngebung der Methode, aus welcher sie den Sinn einer Leistung für die Welterkenntnis hat, immerfort aktuell verfügbar bleibt« (Krisis § 9, S. 50). Indem Husserl – wie der frühe Horkheimer – einerseits die Rechtmäßigkeit und sogar die Notwendigkeit einer naturwissenschaftlichen Methodik betont, andererseits jedoch hervorhebt, der Sinn derselben als einer idealisierenden Abstraktion werde nur auf dem Hintergrund eines Weltbegriffs ersichtlich, der nicht derjenige der Naturwissenschaften selbst ist, greift er seine Unterscheidung von naturalistischer und personalistischer Einstellung aus den Ideen II auf und formuliert zugleich eine Kritik am Konzept einer kausal-erklärenden Einheitswissenschaft. Eine historische Dimension gewinnt diese Kritik dabei dadurch, dass Husserl es bereits Galilei als ein »verhängnisvolles Versäumnis« zuschreibt, seine Idee einer universalen Wissenschaft auf einer aus Tradition überlieferten Geometrie aufgebaut zu haben, ohne wiederum auf deren »ursprünglich sinngebende Leistung« eines »ausmessenden und überhaupt messenden Bestimmens« für die ursprünglich »sehr beschränkte Aufgabenstellung der technischen Praxis« zurückzufragen: »Gleich mit Galilei beginnt also die Unterschiebung der idealisierten Natur für die vorwissenschaftlich anschauliche Natur« (Krisis, § 9, S. 26; 28; 53). Dieses Versäumnis habe dazu geführt, dass der »Zweck, dem die neue Naturwissenschaft mit der von ihr unabtrennbaren Geometrie, aus dem vorwissenschaftlichen Leben und seiner Umwelt hervorwachsend, von Anfang an dienen sollte, einem Zwecke, der doch in diesem Leben selbst« liege, »für Galilei und die Folgezeit verdeckt« geblieben sei (Krisis, § 9, S. 53 f.). Die methodische Selbstbeschränkung der Naturwissenschaften ist für Husserl, wie schon in den Ideen II, hinsichtlich ihrer Legitimation als einer intellektuellen Technik und Methodik aus der sinnsetzenden Beantwortung einer Frage der personalistisch verstandenen Umwelt heraus motiviert – der gewünschten Befreiung von äußerem Naturzwang. Dies ist die »verborgene Sinnesvoraussetzung« jener naturalistischen Mathematisierung der Natur, die nicht mehr reflektiert zu haben Husserl als das »verhängnisvolle Versäumnis« Galileis bezeichnet (Krisis § 9, S. 23; 53). iii) Hans Blumenberg nimmt das Thema der Technikreflexion aus der Krisis auf und führt es – unter dem speziellen Gesichtspunkt einer Analyse des philosophischen Metapherngebrauchs – als das 76

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Projekt einer ›Metaphorologie‹ über Husserl hinaus weiter. Blumenbergs Anschluss an die Unterscheidung von naturalistischer (a4) und personalistischer Einstellung (b4) lässt sich paradigmatisch anhand seiner Interpretation von Francis Bacons Trennung zwischen dem »Buch der Werke Gottes« (Buch der Natur) und dem »Buch der Worte Gottes« (Buch der Offenbarung) verdeutlichen. 86 Die Erörterung der Funktion der doppelten Buchmetapher wird zudem einen zentralen Aspekt meiner Bacon-Interpretation ausmachen (s. u. Kap. II.3). Der von Blumenberg identifizierte Interpretationsschlüssel zum Verständnis von Bacons Instauratio Magna findet sich erstmals in Valerius Terminus und wird in Advancement of Learning dann weiter entfaltet: […] denn, so sagt unser Heiland: Du gehst dann in die Irre, wenn du weder die Heilige Schrift noch die Macht Gottes kennst; damit legt er uns zwei Bücher vor, die es zu studieren gilt, wenn wir vor dem Irrtum sicher sein wollen; erstens die Heilige Schrift, die den Willen Gottes offenbart, und zweitens die Geschöpfe, die seine Macht zum Ausdruck bringen. Und das zweite Buch wird uns bezeugen, daß nichts, was das erste Buch lehrt, für unmöglich genommen werden darf. (VT 41; vgl. Works VI, 33) 87 To conclude therefore, let no man […] think or maintain that a man can search too far or be too well studied in the book of God’s word or in the book of God’s works; […] but rather let men endeavour an endless progress or proficience in both […]. (Advancement of Learning, Works VI, 97) Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt (im Folgenden zitiert als: LdW). Frankfurt a. M. 1981, S. 89. Zur legitimatorischen Funktion des metaphorischen Anschlusses an die biblische Schöpfungsgeschichte für Bacons Instauratio Magna vgl. auch: Ders.: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe (im Folgenden zitiert als: LdN). Frankfurt a. M. 1996, S. 447–456. An anderer Stelle wird schon anhand der Titel deutlich, dass metaphorische Fassungen dieser Doppelung für Blumenberg, auch wenn es um das menschliche Verhältnis zur Technik geht, von besonderem Interesse sind. Vgl. Blumenberg: »Lebenswelt und Technisierung«, S. 7–54; Ders.: Lebenszeit und Weltzeit. Frankfurt a. M. 1986; und: Ders.: Geistesgeschichte der Technik (Mit einem Radiovortrag auf CD herausgegeben von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler). Frankfurt a. M. 2009. 87 Francis Bacon: Valerius Terminus. Von der Interpretation der Natur mit den Anmerkungen von Hermes Stella (englisch-deutsch, in Übersetzung hrsg. von Franz Träger; hier und im Folgenden zitiert als: VT). Würzburg 1984, S. 41. Vgl. »[…] for, saith our Saviour, You err, not knowing the Scriptures nor the power of God; laying before us two books or volumes to study if we will be secured from error; first the Scriptures revealing the will of God, and then the creatures expressing his power; for that latter book will certify us that nothing which the first teacheth shall be thought impossible.« (Works VI, 33.) 86

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Die Metapher von den zwei Büchern hat Bacon auch im Novum Organon später wieder aufgegriffen (vgl. NO I, 89). Unter terminologischem Rückgriff auf den späten Husserl sagt Blumenberg von der Metapher vom ›Buch der Natur‹, sie sei »nicht nur ein Belegsammlungsobjekt der Toposforschung«, sondern ermögliche zudem eine »Orientierung für das Zurückfragen vom faktischen Status des theoretischen Weltverhaltens zu den ihm zugrunde liegenden lebensweltlichen Sinngebungen« (SZ 91). Blumenberg greift hiermit die Unterscheidung von »naturalistischer« (a4) und »personalistischer Einstellung« (b4) insofern auf, als die Metaphernanalyse dieses konkreten Beispiels aufweisen kann, wie Bacon den Sinn seines »naturalistischen« (d. h. naturwissenschaftlichen) Programms, durch Rückgriff auf einen buchkulturell vertrauten und scholastisch weitertradierten Motivfundus der Bibelexegese, gegenüber seinen gebildeten Zeitgenossen »personalistisch« (d. h. geisteswissenschaftlich) abzusichern versucht. 88 Indem die personalistische Einstellung über die Metapher vom lesbaren ›Buch der Natur‹ in einen naturalistischen Beschreibungskontext eingeflochten wird, bindet sie den Weltbegriff der Naturwissenschaften an denjenigen einer personalistisch erfahrenen Welt zurück. Die Funktion der Doppelmetapher von ›Buch der Natur‹ und ›Buch der Offenbarung‹ bei Bacon wird von Blumenberg dann als eine der »Legitimation« identifiziert: Die Metapher trägt die Legitimation der Naturwissenschaft als das ausdrücklich erklärte Interesse der Religion an der Erweiterung des Wissens von der Natur. Indem das eine Buch alles zusammenfaßt, was den Gehorsam und die Unterwerfung des Menschen erfordert, umfaßt das andere alles, was umgekehrt der Unterwerfung durch den Menschen fähig und zugänglich ist. (LdW 88)

Dies lässt sich so erläutern, dass die Unterscheidung zweier Bücher es Bacon nicht nur gestattet, sein Programm einer empirisch-erklärenden Einheitswissenschaft gegen Vorwürfe der Häresie zu verteidigen, Der Kontext von Bacons Schaffen ist der einer repräsentativen Öffentlichkeit: Der direkte Adressat seines Werbens für die Instauratio Magna ist König Jakob I. als »Vertheidiger des Glaubens« (»fidei defensori«), eine rhetorische Anbindung des geplanten Unternehmens an theologische Diskurse lag schon aus diesem Grunde nahe. Darüber hinaus gehörten Biblizismen zu jener Zeit zum festen Repertoire der »Political Language«, weshalb ihre Verwendung auch wissenschaftspolitisch die größte Aussicht auf Erfolg versprach. Vgl. Andreas Pečar: Macht der Schrift. Politischer Biblizismus in Schottland und England zwischen Reformation und Bürgerkrieg (1534–1642). München 2011. Hier bes. das Kapitel »Biblizismus als Political Language«, S. 21–28. 88

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indem er darauf verweist, es stehe völlig im Einklang mit dem in der Genesis überlieferten ›Wort Gottes‹, demzufolge der Mensch sich die Erde untertan machen soll. Der göttliche Auftrag wird von Bacon sogar übersetzt in »die Lizenz, unter Wahrung des Gehorsams gegenüber dem göttlichen Willen, also der Moral, selbst ein über die Natur mächtiges Wesen zu sein« (LdW 89). Als ein solches Programm der gattungsmäßigen Selbstermächtigung ist die Instauratio Magna zwar kaum geeignet, Herrschaft über Menschen zu legitimieren, die vermittels der technischen Kontrolle von Umweltverhältnissen ermöglicht wird. Indem Bacon diesen Aspekt jedoch herunterspielt und mit Vorstellungen eines Gottesgnadentums verbindet, gelingt es ihm, sein Projekt einer Erneuerung der Wissenschaften nicht nur als uneingeschränkt wünschenswert darzustellen, sondern ihm sogar den Anstrich eines in der Bibel ausdrücklich formulierten göttlichen Auftrags zu verleihen. Dies setzt die wissenschaftspolitischen Widersacher seines Programms in den Nachteil, ggf. selbst den Vorwurf der Heterodoxie auf sich zu ziehen. Die offensiv vorgetragene Charakterisierung konkurrierender Positionen als »Aberglauben« macht einen der wesentlichen Aspekte von Bacons Wissenschaftskritik aus (NO I, 49; 65). Parallel zu Husserls paradigmatisch an Galileo Galilei (1564– 1642) durchgeführter Interpretation der neuzeitlichen Wissenschaftsbegründung lässt sich dann geltend machen, dass etwa zur selben Zeit Francis Bacon (1561–1626) mit seinem Projekt einer Instauratio Magna eine Wissenschaftsbegründung unternommen hat, die in ihrer wissenschafts- und gesellschaftspolitischen Dimension bereits zwischen naturalistischer (a4) und personalistischer Einstellung (b4) metaphorisch differenziert, indem sie ›Buch der Natur‹ (a5) und ›Heilige Schrift‹ (b5) einerseits unterscheidet, sie andererseits jedoch zugleich zueinander in ein Verhältnis setzt. Die tatsächliche Einnahme einer personalistischen Einstellung wird – wie in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden soll (s. u. Kap. II.) – von Bacon allerdings dazu instrumentalisiert, der naturalistischen Einstellung wissenschaftspolitisch ein Monopol zu sichern. Die Verschränkung von personalistischer und naturalistischer Einstellung in der Metapher vom ›Buch der Natur‹ als dem von der ›Heiligen Schrift‹ bezeugten Ausdruck von Gottes ›Macht‹ hat erkennbar den Sinn, die personalistische Einstellung wissenschaftlich längerfristig zu diskreditieren: ›Gottes Wort‹ legitimiert zwar erst die Wissenschaften von ›Gottes Werk‹, trägt zu einem tatsächlichen Verständnis natürlicher Ursache-Wirkung-Verhältnisse jedoch nichts bei. Seine Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Lektüre kann aus wissenschaftlicher Sicht daher in letzter Konsequenz der Religion überlassen werden. Die Berufung auf das ›Buch der Offenbarung‹ stellt dann eine von Bacon vorläufig noch für nötig gehaltene Konzession an etablierte Sprechweisen dar, die wissenschaftlich ausgeklammert werden kann, sobald seine Instauratio Magna in die Tat umgesetzt worden ist: »Die Worte Gottes werden zwar in einem festen und nicht zu erweiternden Bestand verwahrt, seine Werke jedoch […] werden ständig fortgeführt, indem eines dieser Werke, der Mensch, seinerseits zum Werksetzen installiert und legitimiert ist.« (LdW 90 f.) Eine metaphorisch-vorläufige Erfassung der begrifflich späteren Perspektivendoppelung von Teilnehmer und Beobachter – im Habermas’schen Sinne – lässt sich am von Blumenberg identifizierten Lektüreschlüssel dann daran festmachen, dass Bacon einerseits mit der Metapher vom ›Buch der Natur‹ (a5) die beobachterperspektivische (a2) Beantwortung von Quid-facti?-Fragen (a3) umschreibt. Andererseits stellt Bacon mittels der Formulierung ›Buch vom Willen Gottes‹ (b5), die hier ganz wörtlich genommen werden soll, das Verhältnis des Menschen zu Gott als eines der – freilich absolut asymmetrischen – Interaktion dar, innerhalb dessen die teilnehmerperspektivische (b2) Quid-juris?-Frage (b3) nach der Berechtigung einer ›Herrschaft‹ über die Natur bereits ein für alle Male erledigt ist. Der göttliche Auftrag soll nicht nur die Naturwissenschaften legitimieren, Geltungsfragen werden überhaupt dem Zuständigkeitsbereich der Religion (d. h. dem bloßen Glauben) zugewiesen, wodurch die Quid-juris?-Frage bei der wissenschaftlichen ›Lektüre‹ des ›Buches der Natur‹ (a5) letztlich eliminiert werden kann. Weil damit auch die nur durch Lektüre der Heiligen Schrift zu lösende Frage nach der Berechtigung unserer Erkenntnisansprüche wissenschaftlich für unbeantwortbar erklärt wird, wir uns hinsichtlich der durchgängigen kausalen Regelung der Natur laut Bacon auf Gottes ›Wort‹ verlassen müssen, kann dann in letzter Konsequenz Habermas den szientistischen Glauben an Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ werten. Frappierend ist nun, dass ausgerechnet die von Habermas an Horkheimer und Adorno aufgewiesene sprachliche Unschärfe, sie verstünden »›Beherrschung‹ der Natur nicht als Metapher«, den strategisch entscheidenden rhetorischen Zug Francis Bacons zu Beginn der Neuzeit ausmacht, um sein naturwissenschaftliches Programm nach außen hin ein für alle Male zu legitimieren (TkH I, 507). Nur indem Bacon Teilnehmer- und Beobachterperspektive durch den kon80

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trollierten Einsatz von Metaphorik miteinander verschränkt, gelingt es ihm, seine Instauratio Magna gegenüber den Zeitgenossen als das Programm einer »scientia universalis« darzustellen, das als Einheit von Theorie und Praxis automatisch zur Realisierung eines ›Goldenen Zeitalters‹ der Menschheitsgeschichte führen werde (Works II, 253; VIII, 471; s. u. Kap. II.). Horkheimer und Adorno hätten ihre Kritik – mit Habermas gesprochen – also tatsächlich »tiefer« ansetzen müssen, nämlich an Bacons Instrumentalisierung der Teilnehmerperspektive zu Zwecken einer exoterischen ›Legitimation‹ der reinen Beobachterperspektive, wie sie von Blumenberg aufgewiesen wird (DM 156). Vor diesem theoriegeschichtlichen Hintergrund kann nun die systematische Anschlussfähigkeit von Blumenbergs Metaphorologie an Habermas ausgewiesen werden: Habermas hat in der Theorie des kommunikativen Handelns eine demokratische »Selbstverständigung« gefordert über die Frage, »wie Expertenkulturen mit der Alltagspraxis vermittelt werden können.« (TkH II, 584) 89 Die Relevanz meines Anschlusses von Blumenberg an diese Selbstverständigung besteht dann in der Funktionsanalyse metaphorischer Verschränkungen von Teilnehmer- und Beobachterperspektive an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlichem Experten- und öffentlichem Laiendiskurs, die Habermas selbst nicht mehr untersucht hat.

4.

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Ich werde im Folgenden zunächst eine bestimmte Theoriestruktur skizzieren, die in meiner Untersuchung entwickelt werden soll und die als Beitrag zu einer Antwort auf das Habermas’sche Übersetzungsproblem zu verstehen ist, »wie […] die heute noch naturwüchsige Beziehung zwischen technischem Fortschritt und sozialer Lebenswelt reflektiert und unter die Kontrolle einer rationalen Auseinandersetzung gebracht werden kann« (TWI 107) bzw. »wie Expertenkulturen mit der Alltagspraxis vermittelt werden können.« (TkH II, 584) Im Anschluss an diese Skizze werde ich meine beiden Thesen

Vgl. außerdem Jürgen Habermas: »Die Philosophie als Platzhalter und Interpret«. In: Ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (im Folgenden zitiert als: MkH). Frankfurt a. M. 1985, 9–28. Hier bes.: S. 25 ff.

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exponieren und darlegen, wie sie in den weiteren Kapiteln der Untersuchung argumentativ eingelöst werden sollen. Die von mir anvisierte Theoriestruktur ist die einer Einheit von Theorie und Praxis, vermittels derer methodisch kontrolliert über objektive Möglichkeiten der Gegenwart gesprochen und zugleich praktisch dazu aufgerufen werden kann, sich stellungnehmend zu diesen Möglichkeiten zu verhalten. Zur textgestalterischen Umsetzung dieser Theoriestruktur ist es erforderlich, Beobachter- und Teilnehmerperspektive miteinander zu verschränken, wozu Metaphern ein geeignetes Mittel darstellen, die eine beobachterperspektivisch-teilnehmerperspektivisch gedoppelte Lesart des zugrundeliegenden Textes zulassen. Da in arbeitsteilig ausdifferenzierten Gesellschaften zwangsläufig mit einem heterogenen Kreis von Rezipienten einer Schrift gerechnet werden muss, die teilnehmerperspektivisch zur Stellungnahme aufgefordert werden sollen, müssen die verwendeten Metaphern dabei methodisch so gewählt sein, dass sie zugleich an der Schnittstelle von Experten- und Laiendiskurs, also in esoterischer und exoterischer Blickrichtung eine Wirkung entfalten. An dieser Schnittstelle können metaphorische Sprechweisen dann aber exoterisch entweder in diskursverschließender oder diskurseröffnender Funktion auftreten und den wissenschaftlichen Laien entweder zu mehr Expertenvertrauen (d. h. zur Passivität) oder zum eigenen aktiven Handeln auffordern. Meine entlang der skizzierten Theoriestruktur ausgerichtete erste These lautet, dass die metaphorische Verschränkung einer appellativen Teilnehmerperspektive mit einer systemisch gelagerten Beobachterperspektive ein charakteristisches Gestaltungsmittel bei der konzeptionellen Umsetzung des Theoriekerns einer Einheit von Theorie und Praxis ausmacht, was anhand konkreter Texte und im Rückgriff auf metaphorologische Analysen Hans Blumenbergs gezeigt werden kann. Metaphorik kann an der Schnittstelle zwischen Experten- und Laiendiskurs teilnehmerperspektivisch entweder in diskursverschließender oder -eröffender Funktion auftreten. Diese erste These möchte ich in meiner Arbeit zunächst an Bacons Instauratio Magna (Kapitel II.) und anschließend an Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (Kapitel III.) entwickeln. Eine konzeptionelle Einheit von Theorie und Praxis im Sinne der skizzierten Theoriestruktur kommt bei Bacon insofern zum Tragen, als es ihm unter Einsatz von biblischer Metaphorik, die sein tatsächliches Programm gegenüber wissen82

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schaftlich Außenstehenden religiös verschleiert, gelingt, esoterisch und exoterisch zugleich zu argumentieren: Die Verheißung von ›Herrschaft‹ über die Natur kann vom Rezipienten entweder religiös (d. h. wörtlich) oder säkular (d. h. als bloße Metapher) verstanden werden. Bacon strebt in letzter Konsequenz die Etablierung einer wissenschaftlichen Expertenkultur an, die – so Bacons Prognose – durch Forcierung wissenschaftlichen Fortschritts eine aktive Gestaltung der menschlichen Zukunft praktisch gewährleisten soll. Sein fortschrittsoptimistisches Programm läuft damit im Ergebnis auf einen technokratischen Paternalismus hinaus, der von Johann Gottfried Herder als diskursverschließend kritisiert wird. Herder knüpft einerseits an die Theoriestruktur von Bacons Programm an, klagt andererseits jedoch die Beteiligung einer Laienöffentlichkeit an der Selbstverständigung über objektive Möglichkeiten ein. Wie schon die Werke Bacons ist Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit durch den gezielten Einsatz von Metaphorik gekennzeichnet. Vor diesem rezeptionsgeschichtlichen und theoriestrukturellen Hintergrund soll daher Herders Metaphernverwendung daraufhin beleuchtet werden, ob sich darin eine Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive mit diskurseröffnender Wirkung an der Schnittstelle zwischen Experten und Laien abzeichnet. Meine auf den Textanalysen zur Theoriestruktur von Schriften Bacons und Herders aufbauende zweite These lautet, dass klassische Vertreter der Kritischen Theorie von Horkheimer bis Habermas – im Anschluss an Marx und Engels – den Theoriekern einer Einheit von Theorie und Praxis zwar metareflexiv freigelegt und konzeptionell erst auf den Begriff gebracht, die Wirkungsdimension eines an geschichtliche Kontexte gebundenen metaphorischen Sprechens jedoch noch unzureichend reflektiert haben. Auf der Kontrastfolie der an Bacon und Herder entwickelten Theoriestruktur soll aufgewiesen werden, dass zwar auch in der Dialektik der Aufklärung und der Theorie des kommunikativen Handelns Metaphern an entscheidenden Gelenkstellen der Argumentation eine Rolle spielen, dabei allerdings der methodisch-praktische Sinn dieses Darstellungsmittels nicht hinreichend reflektiert wird. In der Dialektik der Aufklärung greifen Horkheimer und Adorno Bacon direkt an, verfehlen jedoch den von Herder bereits gesehenen, eigentlich kritikwürdigen Zug von Bacons paternalistischem Fortschrittsprogramm, indem sie die Metapher einer ›Herrschaft‹ über die Natur wörtlich verstehen, weshalb auch die von ihnen geZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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forderte ›Versöhnung‹ mit der Natur als problematisch bewertet werden muss. Wie Habermas feststellt, können Horkheimer und Adorno dieser ›Versöhnung‹ mit der Natur keinen eigenständigen Sinn mehr beilegen, da sie nicht in derselben Weise in Begriffe eines naturwissenschaftlichen Programms übersetzt werden kann, wie die auf Bacon zurückgehende Metapher einer ›Naturbeherrschung‹. Die in ausdrucksvollem Stil vorgetragene Diagnose einer hoffnungslosen »Verschlingung von Mythos und Aufklärung« trägt quietistische Züge, indem sie kategorial mögliche Differenzierungen bereits im Ansatz rhetorisch so verwischt, dass die theorietypische Verschränkung von Kritik und Theorie überhaupt zum Verschwinden gebracht wird (vgl. DM 130–157; Kapitel IV.1). Habermas erneuert in der Theorie des kommunikativen Handelns das Unternehmen der älteren Kritischen Theorie deshalb im Rückgang auf ihre anfängliche Intention der 30er-Jahre kommunikationstheoretisch so, dass die von Horkheimer und Adorno angemahnte ›Versöhnung‹ den methodisch ausweisbaren Sinn einer teilnehmerperspektivischen Verständigung über Möglichkeiten der zukünftigen Menschheitsentwicklung zurückerhält. Der bleibende Ertrag kausalerklärender Wissenschaften kann von Habermas auf diesem Wege in seinen Gesellschaftsentwurf einerseits integriert und andererseits als eindimensional kritisiert werden, indem uniform kausal erklärenden Theorien ein Defizit in der Selbstreflexion ihrer Einbindung in die Alltagspraxis kommunizierender Individuen nachgewiesen wird. In der von ihm selbst aufgeworfenen Frage, »wie Expertenkulturen mit der Alltagspraxis vermittelt werden können«, plädiert Habermas für eine Gesellschaftstheorie, welche die »Bedingungen für eine Rückkoppelung der rationalisierten Kultur mit einer auf vitale Überlieferungen angewiesenen Alltagskommunikation zu untersuchen« habe (TkH II, 584; 522). Die verkapselten Expertenkulturen sollen so ihres gemeinsamen Rückhalts in der Alltagspraxis innewerden und – »diesseits der Expertenkulturen« selbst – mit diesem Hintergrund und untereinander kommunikativ vermittelt werden können (TkH II, 586). Eine gezielte praktische Wirkung der Gesellschaftstheorie auf eine breitere Öffentlichkeit allerdings, die nötig wäre, um über gesellschaftstheoretische Einsichten aufzuklären und zugleich zum konkreten Handeln aufzurufen, ist in Habermas’ Konzeption offenbar nicht mehr vorgesehen: »Statt der Ideologiekritik zu dienen, hätte sie [sc. die Theorie des kommunikativen Handelns] die kulturelle 84

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Verarmung und die Fragmentierung des Alltagsbewußtseins zu erklären« (ebd.). Im Ergebnis legt die von Habermas entworfene Theorie – indem gesellschaftstheoretische ›Erklärung‹ an die vormalige Stelle der ›Ideologiekritik‹ tritt –, den Schluss nahe, der Theoretiker solle in seiner gesellschaftlichen Rolle als teilnehmerperspektivisch informierter Experte die objektiven Möglichkeiten der Gesellschaftsentwicklung lediglich darstellen, in seiner Rolle als Privatmensch dann aber seiner staatsbürgerlichen Aufgabe zur aktiven Stellungnahme nachkommen. Diese Lösung erscheint nun aber nicht nur prima facie als unplausibel, weil die sprachliche Kluft zwischen verkapselten Expertenkulturen und öffentlich-kommunikativer Alltagspraxis auf diesem Wege wohl eher zementiert als tatsächlich überbrückt würde, sie entspricht bei näherem Hinsehen auch nicht dem, was Habermas de facto bereits tut, wenn er verschiedene metaphorische Krisenbegriffe und die Metapher einer ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ ins Feld führt, um damit einerseits beobachterperspektivisch den Vorgang einer Ausweitung instrumenteller Vernunft auf kommunikativ strukturierte Handlungsbereiche zu beschreiben, andererseits teilnehmerperspektivisch die Pathologie dieses geschichtlichen Prozesses in einer Weise bildhaft zu veranschaulichen, die in einer exoterischen Kommunikation zumindest in ihren groben Zügen auch von gesellschaftstheoretischen Laien verstanden werden könnte (vgl. TkH II, 452; Kapitel IV.2). Obwohl sich also auch in der Theorie des kommunikativen Handelns Ansätze zu metaphorischen Sprechweisen finden lassen, die auf die an Bacon und Herder entwickelte Theoriestruktur hinweisen, kann Habermas selbst letztlich nicht mehr klären, wie die von der Gesellschaftstheorie analysierten Pathologien der technisierten Moderne zivilgesellschaftlich zu Bewusstsein gebracht und dann auch beseitigt werden könnten. Für dieses Übersetzungsproblem einer Kommunikation zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit bietet allerdings – wie ich meine – Blumenbergs ›Metaphorologie‹ einen Schlüssel. Mittels der Habermas’schen Perspektivendoppelung und unter Einbeziehung von Blumenbergs Metaphorologie können auch solche metaphorischen Wendungen als eine Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive aufgefasst werden, die in hochgradig ausdifferenzierten Gesellschaften bei der Kommunikation über technologische Krisenphänomene eine Überbrückung des begriffssprachlichen Gefälles zwischen wissenschaftlichem Experten- und öffentlichem Laiendiskurs ermöglichen. Durch den Einsatz von gesamtkulZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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turell tradierten Metaphern lassen sich Sachverhalte so ›übersetzen‹, dass auch dem am gesellschaftlichen Selbstverständigungsdiskurs beteiligten Laien eine teilnehmerperspektivische Stellungnahme zu konkreten Fragen der Technikentwicklung eröffnet wird. Die Heterogenität der verwendeten Formeln zeigt dabei die in Anschlag gebrachte Verschränkung von systemischer Beobachter- und appellativer Teilnehmerperspektive bereits an (›Technikkatastrophe‹, ›Naturschutz‹, ›technisches Versagen‹ etc.). Die Verschränkung kann auch hier entweder diskursverschließend zur Passivität aufrufen (›Ruhe ist die erste Bürgerpflicht‹) oder diskurseröffend zur aktiven Stellungnahme auffordern. Als ein metaphernreflexiver Beitrag zur demokratisch geleiteten Selbstverständigung in öffentlichen Ökologieund Technologiediskursen entfaltet die vorliegende Untersuchung dergestalt auch eine gesellschaftliche Relevanz.

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II. Kapitel: Francis Bacons Große Erneuerung als eine theoretische Wissenschaftsbegründung in gesellschaftspraktischer Absicht

Daher hören wir so gerne […] Denker und Originalköpfe von der Methode reden, in der sie denken; daran liegt mir nicht, was Baco ausgedacht hat; sondern wie er dachte. – Johann Gottfried Herder (SW II, 263) 90

Der wissenschaftlich an Inhalten orientierte moderne Leser, der verwöhnt ist, von seinen Autoren aufrichtig behandelt zu werden, kann sich bei der Bacon-Lektüre ein ums andere Mal vor den Kopf gestoßen fühlen. Mal scheinen seine geschliffen vorgetragene Plädoyers im großen Entwurf stecken zu bleiben, mal wirken die Vorschläge des Lordkanzlers zu wissenschaftlichen Fortschritten im Einzelnen allzu nebensächlich und geradezu spitzfindig – einen bleibenden Beitrag zur konkret empirischen Forschung hat Bacon überhaupt nie geleistet. 91 Dieser Umstand hat dazu geführt, dass Bacons Begründungsleistungen ab dem 19. Jh. von einer Bandbreite von Autoren – von Joseph de Maistre über David Brewster und Georg Lasson bis hin zu Ernst Cassirer – immer wieder in Zweifel gezogen und herabgesetzt wurden. Tatsächlich ist der Grund für Bacons Einfluss auf Autoren wie Newton, Leibniz, Kant oder Marx kaum in inhaltlichen Fortschritten zu suchen, die er dem Fortgang der empirischen Wissenschaften beigesteuert hätte und an die man hätte anschließen können: mit Herder gesprochen in dem, was Bacon ausgedacht hat, sondern in der Art, wie er dachte – in der an seinen Schriften ablesbaren Methodik. Diese – wenn man so will – ›Herder’sche‹ Herangehensweise an Bacon hat der englische Marxist Benjamin Farrington erst 1953 für Johann Gottfried Herder: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Bernhard Suphan (hier und im Folgenden zitiert als: SW). 33 Bde., Berlin 1877 ff. Bd. 2, S. 263. 91 Zur hier referierten Rezeptionsgeschichte von Bacons Schriften vgl. Wolfgang Krohn: »Einleitung«. In: NO I, S. IX-XL, bes. S. XI f. 90

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die Forschung wiederentdeckt, indem er über eine »soziologische Analyse der Wirkung« von Bacons Werk den manifest politischen Gehalt dieser Philosophie neu zu Bewusstsein gebracht hat: »Der Kontext und die Ziele der baconischen Philosophie sind nach Farrington Politik; man muß sie in diesem Kontext und unter diesen Zielen begreifen.« 92 Dabei gilt es den Umstand zu berücksichtigen, dass gerade politische Kontexte des eigenen Schaffens einem Autor in Zeiten der Zensur durch Kirche und Staat ein besonderes Maß an rhetorischem Geschick abverlangen. Der Frage, wie Bacon dem Problem der politischen Brisanz seines Programms rhetorisch Rechnung getragen hat und wie seine Absichten gleichwohl entschlüsselt werden können, gilt die besondere Aufmerksamkeit der folgenden Analysen. Bacons Äußerungen zu Möglichkeiten des gesellschaftlich-technischen Fortschritts bilden dabei den Ausgangspunkt meiner Auseinandersetzung. Ich werde zunächst – im Anschluss an Benjamin Farrington und Wolfgang Krohn – meine Interpretationsthese zur Text- und Argumentationsstruktur von Bacons Instauratio Magna anhand von Bacons unterschiedlichen Stellungnahmen zur Technik exponieren, die nur auf den ersten Blick widersprüchlich scheinen, tatsächlich jedoch ein hohes Maß an Methodenreflexion erkennen lassen (Kap. II.1). Die auf diese Weise skizzierte Interpretationsthese werde ich dann weiter ausführen, indem ich in einem ersten Schritt das Programm einer einheitswissenschaftlichen Neubegründung wissenschaftlicher Erkenntnis im Novum Organon als eine Verbindung von Methodenbegründung und Ideologiekritik expliziere. Eine konzeptionelle Einheit von Theorie und Praxis kommt in dieser zweigleisigen Vorgehensweise Bacons insofern zum Tragen, als nicht nur der anvisierte Methodenbegriff einer ›Interpretation der Natur‹ auf eine experimentelle (d. h. praktische) Bewährung theoretischer Hypothesen abzielt, sondern zudem die praktische Ideologiekritik eine anthro-

Ebd., XII f. Vgl. außerdem Benjamin Farrington: »On Misunderstanding the Philosophy of Francis Bacon«. In: Science, Medicine and History, Vol. 1 (Singer Presentation Volume). Oxford 1954, S. 439–450. Und Ders.: Francis Bacon. Philosopher of Industrial Science. London 1951: »The Great Instauration, then, was intended not only as the blue-print for a revolution in production. The Novum Organon […] is not like any other book of logic ever published. If it is detached from its setting in the plan of The Great Instauration and treated simply as a contribution to logic, it becomes difficult to understand.« S. 97 f. 92

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pologisch-sozialpsychologische Theorie über Beschaffenheit und Stand des menschlichen Erkenntnisvermögens und der zeitgenössischen Wissenschaften impliziert (Kap. II.2). Auf dem Hintergrund von Bacons Analysen zu Wirkungsvoraussetzungen seines Schaffens und unter Einbeziehung des von Blumenberg identifizierten Lektüreschlüssels einer doppelten Lesbarkeit der Welt werde ich anschließend die religiöse Legitimationsstruktur der Instauratio Magna auf eine metaphorische Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive hin näher beleuchten. Im Zentrum steht hierbei die Frage, welche konkreten Konsequenzen Bacon aus seinen anthropologisch-zeitdiagnostischen Analysen für die literarische Darstellung seines eigenen Werkes gezogen hat (Kap. II.3). In einer das Kapitel abschließenden Metareflexion, die Bacons wissenschafts- und gesellschaftspolitisches Programm als einen Versuch zur Etablierung eines technokratischen Paternalismus identifiziert, werde ich dann die Ansatzpunkte für eine sich bei Herder, Horkheimer und Adorno vor dem Hintergrund ihrer eigenen Gegenwart formierenden Kritik an Bacons oligarchisch-antidemokratischer Haltung freilegen (Kap. II.4).

1.

Skizze einer Interpretationsthese zu Bacons Instauratio Magna

Wolfgang Krohn beginnt seine Gesamtdarstellung zu Francis Bacon mit den Worten: »Bacons Philosophie ist eine revolutionäre Philosophie.« 93 Das Anliegen von Krohns Interpretation ist es, »Bacons Philosophie als eine Philosophie der Forschung zu erfassen.« 94 Er trägt damit dem von Farrington um die Mitte des 20. Jahrhunderts etablierten Interpretationsansatz Rechnung, das Programm von Bacons Wissenschaftsbegründung vor dem Hintergrund seiner wissenschaftspolitischen und damit zunächst in diesem Sinne ›revolutionären‹ Absicht zu lesen: »Bacons Leben war ein politisches Leben, und seine Philosophie gehört in dieses hinein.« 95 Krohn bestimmt es als die zentrale Aufgabe jeder Interpretation, die »innere Konsistenz und die Bedingungen der Gültigkeit« von Bacons Philosophie ernst

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Wolfgang Krohn: Francis Bacon. München 22006, S. 7. Ebd., S. 13. Ebd.

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zu nehmen. 96 Dabei vertritt er – ergänzend zu einer wissenschaftspolitischen Lesart des Novum Organon – in Bezug auf das übergreifende Unternehmen der Instauratio Magna die These, die Große Erneuerung sei »auf keinen Fall auf Naturwissenschaften und Technologien beschränkt«, sondern programmiere »ein umfassendes Menschheitsunternehmen«: »Eine neue Stufe der Kultur sollte errichtet werden auf dem Boden einer Verbesserung der materialen und sozialen Lebensbedingungen.« 97 Die wissenschaftliche Revolution soll als Initialzündung fungieren für eine gesellschaftliche, im Hinblick auf die sie allererst ihren tieferen Sinn als ein langfristig angelegtes Unternehmen zur Verbesserung der Lebensumstände des Menschen bezieht. ›Revolutionär‹ ist Bacons Absicht also auch in einem weiteren, gesellschaftspolitischen Sinne der Verbesserung der conditio humana. Da bereits »das Zustandekommen der neuen Wissenschaft von einer neuen gesellschaftlichen Praxis abhängt«, muss allerdings schon die geforderte Wissenschaftsbegründung eine Form von Praxis darstellen, die gleich zwei Bedingungen für die projektierte zukünftige Gesellschaft zu schaffen im Stande ist: »Erstens, die Einrichtung von Forschungsinstitutionen durch die Gesellschaft; zweitens, die Bereitschaft der Gesellschaft, Forschungsergebnisse zu benutzen.« 98 Auch das Novum Organon als der wissenschaftsbegründende Hauptteil der Instauratio Magna muss folglich in seiner praktischen Absicht bereits zugleich wissenschafts- und gesellschaftspolitisch ausgerichtet sein, um dem Anforderungsprofil von Bacons Projekt einer revolutionären Philosophie genügen zu können. Ohne die Bereitschaft zur gesellschaftlichen Reform – so lässt sich Bacons kurzfristigere Prognose über den möglichen Verlauf der zukünftigen Gesellschaftsentwicklung lesen – wird auch die wissenschaftliche Revolution bereits im Ansatz steckenbleiben. Das in den gesellschaftspolitischen Kontext einer Beförderung der Wohlfahrt des Menschen eingebettete wissenschaftspolitische Kernanliegen Bacons, das auf die Etablierung einer neuen Logik und Methodik für den Forschungsbetrieb abzielt, kann Krohn zufolge nur dann angemessen verstanden werden, wenn es gelingt, den »engen Zusammenhang zwischen seiner theoretischen Philosophie und Ebd. Vgl. auch Krohn: »Einleitung«: »Die Selbstbegründung und Kohärenz der baconischen Philosophie muß wieder Thema werden.« (NO I, XIV) 97 Krohn: Bacon. S. 60 f. 98 Ebd., S. 168. 96

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seiner Sozialutopie darzustellen.« 99 Die Interpretation des auf theoretisch-methodische Fundierung der Naturwissenschaften abzielenden Novum Organon (1620) müsse folglich durch eine Berücksichtigung des sozialutopischen Spätwerkes Nova Atlantis (1623) ergänzt werden. 100 Besonderes Augenmerk für die vorliegende Arbeit gilt hierbei den Stellungnahmen Francis Bacons zur sozialen Bedeutung von Wissenschaft und Technologie.

a.) Problemaufriss Wie Krohn referiert, hat Bacon in seinem frühen Werk De Interpretatione Naturae Prooemium (1603) zu der Frage, ob die von ihm vorgeschlagene Erkenntnismethode, die nicht nur ›Wissen‹, sondern auch ›Macht‹ produziere, unter diesen Umständen nicht für den richtigen Gebrauch geschützt werden müsse, eine gesellschaftspolitisch ausgewogene Position bezogen: Aus »gesunder Voraussicht« habe er vorgeschlagen, so Krohn in seiner Übersetzung einer lateinischen Passage, »dass die Formel der Interpretation und die mit ihr erreichten Erfindungen unter den legitimierten und befähigten Geistern geheim gehalten werden sollten«. 101 Diesen frühen Gedanken greift Bacon in seinem letzten Werk wieder auf. In Nova Atlantis heißt es aus dem Munde eines Angehörigen des »Hauses Salomon« (NA 43), das im utopischen Staat Bensalem institutionell für die Beförderung der Wissenschaften und deren Anwendung zuständig ist: Krohn: Bacon. S. 14. Dass Bacon auch die im Novum Organon entwickelten Grundsätze wissenschaftlichen Arbeitens nicht auf den Bereich der Naturwissenschaften beschränkt wissen wollte, wird an folgender Äußerung deutlich: »Man wird wohl zweifeln, wenn auch der Einwand nicht laut wird, ob ich hier nur von der Naturphilosophie spreche oder ob auch die übrigen Wissenschaften, die Logik, Ethik, Politik, nach meiner Methode vollendet werden sollen. Nun gilt das, was ich hier gesagt habe, gewiß für alles. […] Denn die Geschichte und die Tafeln zum Erfinden verfertige ich auch über den Zorn, über die Furcht, die Scham und ähnliches mehr; auch über die Dinge des politischen Lebens […].« (NO I, 127) 101 Hier zitiert nach Krohn: Bacon. S. 36. Vgl.: »Sed ego sine omni imposture ex providentia sana prospicio, ipsam interpretationis formulam et inventa per eandem, intra legitima et optata ingenia clausa, vegetiora et munitiora futura.« (Works VI, 449) Auch im Temporis Partus Masculus erwähnt Bacon die Frage, ob die »Sache der Wissenschaft […] öffentlich oder auch verborgen gehandhabt werden muß« (Francis Bacon: »Temporis Partus Masculus sive de Interpretatione Naturae. Lib. 3«. In: VT, S. 106–109. Hier: S. 107). 99

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Wir haben Konsultationen darüber, welche der Erfindungen und Experimente, die wir entdeckt haben, veröffentlicht werden sollen und welche nicht: Und wir leisten einen Eid der Geheimhaltung (oath of secrecy), um dasjenige zu verbergen, was uns geheim zu halten wichtig erscheint, obwohl wir einiges davon mitunter dem Staat offenbaren, anderes nicht. (Hier zitiert nach der Übers. von Krohn: Bacon. S. 178; vgl. NA 56; Works V, 441)

Ein Expertengremium berät also gemeinschaftlich über den möglichen Nutzen oder Schaden bestimmter Forschungen und fällt eine »rechtmäßige Entscheidung über die gesellschaftliche Zulässigkeit der Erzeugung und Verwendung von Wissen.« 102 Aus De Interpretatione Naturae Prooemium und Nova Atlantis ergibt sich damit insgesamt ein recht klares Bild von Bacon als einem sozial reflektierten Technikoptimisten, der sich der Möglichkeit eines Missbrauchs technischer Mittel durchaus bewusst ist und daher für eine verantwortungsvolle Lenkung und Kontrolle von Wissenschaft und Technik auf innerszientifisch institutionalisierter Ebene plädiert. Krohn zitiert selbst an anderer Stelle jedoch eine längere Passage aus dem Novum Organon, die zu den Zitaten aus De Interpretatione Naturae Prooemium und Nova Atlantis in Widerspruch zu stehen scheint: Denn die Wohltaten der Erfinder können dem ganzen menschlichen Geschlecht zugute kommen, die politischen hingegen nur den Menschen bestimmter Orte, auch dauern diese nur befristet, nur über wenige Menschenalter, jene hingegen für alle Zeiten. Auch vollzieht sich eine Verbesserung des politischen Zustandes meistens nicht ohne Gewalt und Unordnung, aber die Erfindungen beglücken und tun wohl, ohne jemandem ein Unrecht oder ein Leid zu bereiten. (NO I, 129)

Bacon misst Wissenschaft und Technik hier – unter erheblicher Relativierung der Bedeutung politischer, allerdings nicht explizit institutionell-innerszientifischer Kontrollorgane – eine rein positive Bedeutung bei und tritt für die rückhaltlose Beförderung naturwissenschaftlicher Forschung ein. Dabei schließt er ausdrücklich aus, Technik könne Menschen »Unrecht oder Leid« (»injuria aut tristitia«) bereiten. Im nächsten Satz des Aphorismus vergleicht Bacon die Technik sogar mit der göttlichen Schöpfung, was den der Technik zugedachten Charakter als reiner ›Segen‹ für die Menschheit noch un-

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terstreicht: »Die Erfindungen sind gleichsam neue Schöpfungen und sind Nachahmungen der göttlichen Werke« (NO I, 129). Ähnlich unkritische und unter Verwendung theologischer Bezüge präsentierte Einschätzungen durchziehen das gesamte Novum Organon. Besonders augenfällig rühmt Bacon mehrfach die Erfindung des Schießpulvers als einen unbezweifelbaren Fortschritt im Dienste der Menschheit (vgl. NO I, 109 f.; 129; II, 31). Gegen Ende des ersten Buches stellt er in einer dieser Lobreden auf die Möglichkeiten der Technik zwar die »Herrschaft über das menschliche Geschlecht« (»imperium inter humanum genus«) und die »Herrschaft über Dinge« (»imperium in res«) in ein vergleichendes Verhältnis (NO I, 129). Dies allerdings nur, um festzustellen, dass das Streben nach »Herrschaft des Menschengeschlechts selbst über die Gesamtheit der Natur […] gesünder und edler« sei als persönliches Machtstreben innerhalb eines Staates oder das Streben nach Macht für die eigene Nation (ebd.). Die Unterscheidung zwischen drei Arten oder Graden menschlichen »Ehrgeizes« (»ambitionis«) schließt zwar nicht grundsätzlich aus, dass durch eine Herrschaft über die Natur indirekt auch Macht über Menschen oder andere Nationen ausgeübt werden könnte, Bacons Argumentation klammert diesen Aspekt jedoch aus, um stattdessen die auf den Künsten und Wissenschaften beruhende Herrschaft über Dinge gegen die vergleichsweise bedenklicheren Arten eines Ehrgeizes auf politische Herrschaft umso deutlicher hervorstrahlen zu lassen. Sein Vertrauen in den allgemeinen Menschheitsnutzen von Naturwissenschaft und Technik erweckt einen unerschütterlichen Eindruck, Gefahren einer missbräuchlichen Anwendung stellt er dagegen als vernachlässigbar dar. Die verantwortungsvolle Lenkung ergebe sich praktisch von selbst und sei letztlich nur eine Frage des rechten Glaubens: »Das Menschengeschlecht mag sich nur wieder sein Recht über die Natur sichern, welches ihm kraft einer göttlichen Schenkung zukommt. Mag ihm das voll zuteil werden. Die Anwendung wird indes die richtige Vernunft und die gesunde Religion lenken.« (NO I, 129) Vorbehalte, wie sie in De Interpretatione Naturae Prooemium und Nova Atlantis ausgesprochen werden, finden sich im Novum Organon nicht. Akzeptiert man die von Krohn aufgestellte Forderung, das Werk Bacons müsse auf seine »innere Konsistenz und die Bedingungen seiner Gültigkeit« hin interpretiert werden, stellt ein solcher Selbstwiderspruch des Autors jede Interpretation vor erhebliche Schwierigkeiten. Um die innere Konsistenz von Bacons Werk zu erweisen, ist es Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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notwendig, seine inhaltlichen Ausführungen auf das Werk selbst zurückzubeziehen und sie mit diesem in Einklang zu bringen. Sofern man nun nicht annehmen wollte, der bei Abfassung von De Interpretatione Naturae Prooemium 1603 bereits über 40-jährige Bacon habe in den 20 Jahren bis zu Nova Atlantis seine Position zur Bewertung von Wissenschaft und Technik gleich zwei Mal grundlegend revidiert, müsste sich also nachweisen lassen, dass auch seine uneingeschränkt positiven Äußerungen zur Technik im Novum Organon von 1620 in irgendeiner Weise mit seinen sonstigen, deutlich vorsichtigeren Stellungnahmen verträglich sind. Klärungsbedürftig ist insbesondere, weshalb Bacon mit dem Novum Organon eine »Anleitung zur Interpretation der Natur« öffentlich zugänglich gemacht hat (NO, S. 37), obwohl er im unveröffentlichten De Interpretatione Naturae Prooemium noch geltend gemacht hatte, die »Formel der Interpretation und die durch sie erreichten Erfindungen« (»interpretationis formulam et inventa per eandem«) sollten »unter den legitimierten und befähigten Geistern geheim gehalten werden« (Works VI, 449)? Zunächst bleibt festzuhalten, dass Bacon tatsächlich nirgends die Auffassung vertreten hat, die Leistungssteigerungen in Naturwissenschaft und Technik seien ein an ihm selbst neutraler Prozess der Anreicherung von Verfügungswissen. Bacons Bewertung von Wissenschaft und Technik fällt stets entweder vorbehaltlos positiv (sc. im Hauptwerk Novum Organon) oder unter Einschränkungen positiv aus (sc. in der Frühschrift De Interpretatione Naturae Prooemium und im Spätwerk Nova Atlantis). Die Einschränkungen sind dabei so gelagert, dass sie nicht die Neutralität wissenschaftlich-arbeitsteiliger Forschung, also deren prinzipielle ethische Unbestimmtheit, sondern lediglich eine ethische Unterbestimmtheit im rein naturwissenschaftlichen Kontext zum Ausdruck bringen, der gerade deshalb schon in der Forschungspraxis selbst mit einer ethischen Reflexion verbunden werden muss. Aus diesem Grunde hat Bacon in Nova Atlantis »für die experimentelle Forschung einen institutionellen Rahmen der Verständigung und Kooperation vorgeschlagen«, in dem durch ein Expertengremium über den gesellschaftlichen Umgang mit Wissen entschieden werden soll. 103 Die von Marx/Engels und noch vom frühen Horkheimer vertretene These von der »Unschuld der Produktivkräfte« (Habermas; s. o. S. 42 f.) gegenüber ihrer 103

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Instrumentalisierung zu politischen Zwecken ist also – obwohl es im Novum Organon so scheinen mag – in dieser starken Form nicht baconistisch: Der Produktionsprozess von wissenschaftlicher Erkenntnis, der die experimentelle Erprobung ihrer Gültigkeit und ihre praktische Anwendung einschließt, ist für Bacon als eine ›Produktivkraft‹ selbst immer schon auch ein gesellschaftspolitisch dimensionierter Vorgang. Er schließt also Aspekte ein, die gemäß der später von Marx/Engels getroffenen Unterscheidung den ›Produktionsverhältnissen‹ zuzurechnen wären. 104 Der Funktionär der institutionalisierten Wissenschaftspraxis ist im utopischen Staat Bensalem seiner staatsbürgerlichen Einbindung in reale gesellschaftliche Prozesse keineswegs entledigt, sondern im Gegenteil: Gerade die paternalistische Struktur der von Bacon technokratisch entworfenen Wissenschaftsund Technikpolitik Bensalems, wie sie im Hause Salomon institutionalisiert ist, fordert eine Reflexion seiner Mitglieder auf ihre gesellschaftliche Rolle, um die verantwortungsvolle Distribution der durch ›Wissen‹ ermöglichten ›Macht‹, unter direkter Implikation einer »professionellen Ethik«, auch noch gegenüber der eigenen politischen Führung zu gewährleisten. 105 Hätte Bacon die wissenschaftlich-arbeitsteilige Forschung als einen an ihm selbst im Prinzip politisch neutralen Vorgang der gesellschaftlichen Anreicherung von Verfügungswissen begriffen, wären solche Erwägungen müßig gewesen. Krohn betont nun zwar die Komplementarität des einerseits wissenschaftstheoretischen, andererseits sozialutopischen Programms von Francis Bacon: Die Werke der Wissenschaft können allen nützen, ohne jemandem schaden zu müssen. Dies ist die Keimzelle des auf Technologie gestützten Fortschrittsoptimismus der Neuzeit. Bacons eigene Reflexionen auf die Probleme dieses Optimismus werden wir später im Zusammenhang mit seiner Utopie ›Neu-Atlantis‹ diskutieren. 106

Seiner Forderung, die Selbstkonsistenz von Bacons Gesamtwerk darzustellen, kann Krohn auf diese Weise jedoch auch an späterer Stelle nicht in Gänze nachkommen, wo es in Bezug auf Nova Atlantis heißt:

104 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen die Ausführungen von Marx im Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie, MEW 13, 7–11. 105 Krohn: Bacon. S. 178. 106 Ebd., S. 88.

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Eine durch die politische Zentralgewalt nicht gesteuerte Forschung verlangt nach einer besonderen Gestaltung der gesellschaftlichen Einbindung, nach einer professionellen Ethik. Bacon stellte deren Recht unzweideutig über die Staatsräson. Wissenschaftliche Verantwortung war für ihn nicht delegierbar, weil das erzeugte Wissen als solches seine Verwendungskontexte entwirft. 107

Krohn unternimmt – soweit ich sehe – nicht den Versuch, die in Nova Atlantis vorgebrachten Erwägungen zur Geheimhaltung mancher Erfindungen sowie Bacons Aussage, »die Formel der Interpretation« sollte »unter den legitimierten und befähigten Geistern geheim gehalten werden«, mit der erklärten Absicht des Novum Organon, die Methode der Interpretation zum Wohle der gesamten Menschheit öffentlich zu machen, in Einklang zu bringen (Works VI, 449; vgl. NO I, S. 5 f.). Eine Verknüpfung von wissenschaftlich-technischem Fortschritt und gesellschaftlicher Verantwortung in der literarischen Utopie Nova Atlantis kann nicht als Indiz für die innere Konsistenz von Bacons Gesamtprogramm gewertet werden, wenn er im wissenschaftsbegründenden Hauptteil seines Werkes, dem Novum Organon, zugleich als Advokat eines ungezügelten Strebens nach wissenschaftlichem Fortschritt auftritt. Wenn die wissenschafts- und gesellschaftspolitische Dimension gleichermaßen den Hintergrund abgeben, die Selbstkonsistenz Bacons das Ziel einer Analyse sein soll, muss auch am Novum Organon, das den zweiten von sechs Teilen der fragmentarisch gebliebenen Instauratio Magna bildet, gezeigt werden können, dass die wissenschaftspolitische Absicht einer Etablierung der naturwissenschaftlichen Methode dem gesellschaftspolitisch weiteren Horizont des von Bacon veranschlagten Großprojektes zumindest nicht zuwiderläuft (vgl. NO I, S. 37). Mehr noch stünde die wissenschaftspolitisch motivierte Veröffentlichung seiner Methode dem gesellschaftspolitischen Interesse der antizipierten Forschungsgemeinschaft an einer Geheimhaltung potentiell gefahrenträchtiger Technologien in direkter Weise entgegen. Wie passen Bacons wissenschafts- und seine gesellschaftspolitischen Äußerungen zusammen?

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b.) Interpretationsthese Der entscheidende Hinweis zu einer Auflösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen Bacons wissenschafts- und seinen gesellschaftspolitischen Äußerungen lässt sich dem von Krohn und auch schon von Farrington bemerkten Umstand entnehmen, dass Bacon erhebliche Mühen darauf verwendet hat, die für eine politische Durchsetzung seines Unternehmens günstigste Form einer literarischen Darstellung zu finden. 108 Vor der Veröffentlichung des Novum Organon hatte er bereits zahlreiche stilistische Versuche unternommen, sein Anliegen auf möglichst erfolgversprechende Weise vorzutragen. In den Zusammenhang stilistischer Experimente und Erwägungen gehört auch der fragmentarische Charakter seiner Schriften, der zu eigenen Anstrengungen bei der Etablierung der neuen Wissenschaft anregen soll: Krohn bezeichnet Bacon als einen »Experimentator mit Stilformen«, der »mit Absicht und Gründen ein Hauptwerk geschrieben [hat], das ein Plan und ein Fragment ist.« 109 Der Widerspruch zwischen den beiden Aussagen Bacons, Erfindungen könnten Menschen weder Unrecht noch Leid bereiten einerseits, und andererseits: Erfindungen und die Wege ihrer Entdeckung sollten vor der Bekanntgabe daraufhin geprüft werden, ob sie zu einer solchen bedenkenlos geeignet seien, ist nun logisch auf ein und derselben Textebene offenbar nicht aufzulösen. Wenn Erfindungen keinem Menschen schaden oder Leid bereiten könnten, bestünde keinerlei Grund, diese selbst und die Wege ihrer Entdeckung geheim zu halten. Ich werde deshalb, unter Berücksichtigung des Umstands, dass Bacon »dem literarischen Gewand und der rhetorischen Form dieselbe Bedeutung wie dem Inhalt beimaß« 110, den über Krohn hinausgehenden Interpretationsversuch unternehmen, das Novum Organon durch eine Analyse seiner Textstruktur als eine Schrift auszulegen, die über einen doppelten Textsinn verfügt: Während sich die vordergründige Textebene in der Bemühung um allgemeine Zustimmung zur wissenschaftlichen ›Revolution‹ an ein breiteres Publikum richtet, zielt die hintergründige im Streben nach einer Gewinnung

108 Vgl. Krohn: Bacon. S. 33–41; Farrington: Philosopher of Industrial Science. S. 61: »[…] he began to experiment in various ways of clothing his idea so that it might win acceptance.« 109 Krohn: Bacon. S. 63. Vgl. ebd., S. 144. 110 Ebd., S. 33.

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von Mitstreitern bei der Etablierung der experimentellen Methode auf die »legitimierten und befähigten Geister«. 111 Der Grad der Einsichtsfähigkeit eines Rezipienten gibt dabei selbst das Regulativ dafür ab, ob der Inhalt der eigentlichen Lehre vor ihm gewissermaßen »geheim« bleibt oder ob er aufgrund seiner Befähigung zum inhaltlichen Tiefenverständnis »legitimiert« ist, die so verstandene Lehre – die nur Richtungen und fragmentarische Ansätze, aber keine genauen Wege der Forschung angibt – dann auch anzuwenden und konkret in die Tat umzusetzen (Works VI, 449). Der Textstruktur des Novum Organon ist – so die These – durch den Einsatz des literarischen Stilmittels mehrdeutigen Sprechens dergestalt eine Art dynamischer Zugriffssteuerung implementiert, die sich dem Grad der Erkenntnisfähigkeit des Rezipienten anpasst. Die vordergründig-exoterische Ebene soll den Leser zur Zustimmung überreden: Selbst derjenige, der nicht zu einem tieferen Verständnis der im Novum Organon enthaltenen Lehre vorzudringen vermag und der daher bei allem Willen auch kaum Missbrauch von ihr machen könnte, soll sich durch eine von religiöser Motivik bestimmte und betont glückverheißende Argumentation genötigt sehen, dem Projekt insgesamt sein Plazet zu geben. Die hintergründig-esoterische Ebene ist dazu da, teilnehmerperspektivisch zur Mitarbeit an einem selbst beobachterperspektivisch gelagerten Programm aufzurufen: Derjenige, der befähigt ist, sich ein Tiefenverständnis anzueignen, zählt allein vermöge dieser Befähigung schon zu den legitimierten Geistern, die zur forschungspolitischen Mitbestimmung und zur Mitsprache darüber, ob manche Erfindungen und die Verfahren ihrer Entdeckung besser in einem engeren Forscherkreis geheim gehalten werden sollten, qualifiziert und berechtigt sein wird. Er kann die exoterische Ebene der Argumentation und die ihr zugehörige religiöse Motivik beim Lesen als eine Captatio benevolentiae ausklammern, die sich an ein breiteres Publikum richtet, und sich ganz auf die eigentliche Lehre konzentrieren. Er kann das Werk also in ähnlicher Weise ›säkular‹ rezipieren, wie es der philosophisch geschulte moderne Leser tut, der die religiösen Be-

111 Wenn ich hier von einem breiteren Publikum spreche, so sind damit nicht ›Laien‹ im heutigen Sinne einer bürgerlichen Zivilgesellschaft gemeint, die es zu Bacons Zeit noch nicht gab. Er konnte sich nur an eine gebildete Öffentlichkeit aus Klerus und Adel wenden; d. h. mit Habermas an eine »repräsentative Öffentlichkeit« (vgl. SÖ 58– 67).

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Skizze einer Interpretationsthese zu Bacons Instauratio Magna

zugnahmen Bacons eher dem Zeitgeist und dem bloß literarischen Gewand als der Sache zuschreiben wird. Die szientifische Experte-Laie-Differenz befindet sich dergestalt bei Bacon noch in statu nascendi der bloß geplanten Etablierung einer nicht mehr politischen oder religiösen, sondern wissenschaftlichen Expertenkultur. In diesem Sinne spricht Bacon schon 1603 im Temporis Partus Masculus davon, die »vorgetragene Wissenschaft« bedürfe »einer Kraft, die gleichsam eingewurzelt und eingeboren ist, bald um den Glauben zu gewinnen, bald um die Ungerechtigkeiten der Zeiten abzuhalten«, und sie müsse »sich dem geeigneten und rechtmäßigen Leser vorbehalten und ihn gleichsam auswählen.« (VT 109; Herv. NP) Weitere Plausibilität gewinnt die hier von mir umrissene Interpretationsthese aus einer Passage der Vorrede zum Novum Organon, in der Bacon davon spricht, es werde in Zukunft »zwei Stämme oder Geschlechter von Philosophen« geben: Kurz, es bestehe in Zukunft eine Art, die Wissenschaft zu pflegen und eine andere, sie zu erfinden. Wem die erste mehr zusagt und willkommener ist, vielleicht aus Eile oder aus Rücksicht aufs politische Leben, vielleicht weil seine Geisteskräfte nicht ausreichen, die andere Art zu fassen – was wohl bei den meisten zutreffen mag –, dem wünsche ich ein volles und glückliches Gelingen. […] Will aber einer der Sterblichen nicht lediglich Nutznießer des bereits Erreichten bleiben, sondern immer weiter vordringen, will er nicht nur durch Worte den Gegner, sondern durch Werke die Natur selbst besiegen, […] so gehört er zu den wahren Söhnen der Wissenschaft. Er soll nur zu mir stoßen, wenn er will, damit wir endlich die schon von so vielen Besuchern betretenen Vorhallen der Natur verlassen können, um in ihr Heiligtum einzutreten. Damit man mich von vornherein recht versteht, will ich mein Vorhaben klar formulieren: Die eine Art zu philosophieren nenne ich die Antizipation des Geistes, die andere die Interpretation der Natur. Ich habe danach gestrebt und alle Sorgfalt darauf verwendet, daß meine Lehre nicht nur wahr ist, sondern auch dem Geist der Menschen nicht zu unerfreulich oder schwer begreiflich erscheine, so voreingenommen und verschlossen er auch sein mag. (NO I, S. 77)

Bacon trifft hier die Unterscheidung zwischen den bloßen »Nutznießern« des verheißenen Fortschritts und den »wahren Söhnen der Wissenschaft«, die in der Lage sind, an der Großen Erneuerung mitzuwirken, wobei letztere Gruppe mit den aus De Interpretatione Naturae Prooemium bekannten »befähigten […] Geistern« identifiziert werden kann. Den beiden Personengruppen werden unterschiedliche Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Methodenbegriffe zugeordnet. Während den »Nutznießern« die leichter zugängliche Methode der »Antizipation des Geistes« zugedacht ist, soll die einzig wissenschaftliche Methode der »Interpretation der Natur« den »wahren Söhnen der Wissenschaft« vorbehalten sein. Prinzipiell ist jeder Leser herausgefordert und dazu angehalten, sich an einer Interpretation der Natur zu versuchen. Es wird auch deutlich, dass Bacon die Fähigkeit, »durch Worte den Gegner« (»disputando adversarium«) zu überzeugen, also auf dem Wege der ›Antizipation‹ argumentativ den Sieg davonzutragen, erheblich geringer einschätzt als das Vermögen, »durch Werke die Natur selbst« (»opere naturam«) zu besiegen, was seine Aufforderung zur Mitarbeit noch unterstreicht. Da sein erklärtes Interesse in der Etablierung der Methode der »Interpretation der Natur« (»Interpretatio Naturae«), also in einer wissenschaftsrevolutionären Neubegründung der naturwissenschaftlichen Forschung besteht, könnte es nun so scheinen, als habe er die Methode der »Antizipation des Geistes« (»Anticipatio Mentis«), die er der traditionellen Philosophie zurechnet, für sich bereits endgültig verabschiedet und sich von ihr losgesagt. Es ist nun allerdings entscheidend, dass die »Antizipation des Geistes«, von der hier die Rede ist, nicht mit der »Antizipation der Natur« verwechselt wird, die Bacon später als dasjenige Verfahren bezeichnet, das es naturwissenschaftlich zu überwinden gilt (NO I, 26). Als ›Antizipation‹ bezeichnet er ganz allgemein ein vertrauensbasiertes Verfahren der Gewinnung von Einsichten, das sich auf die Verlässlichkeit einer herangezogenen Quelle stützt. Die von Bacon kritisierte Antizipation der Natur beruht auf der Prämisse der Untrüglichkeit unserer Sinneswahrnehmungen als Quelle unserer Welterkenntnis, die Antizipation des Geistes dagegen stützt sich auf ein vorzuschießendes Vertrauen im Umgang mit anderen Personen. Es besteht allerdings ein grundlegender Unterschied, ob ein antizipatives Verfahren, das sich ausschließlich auf Autorität bzw. auf den guten Glauben an eine Vermittlungsinstanz stützt, in den Naturwissenschaften angewendet wird oder ob es die Grundlage eines zwischenmenschlichen Austauschs bildet. Während es im sozialen Kontext einer arbeitsteiligen Gesellschaft unter bestimmten Umständen unerlässlich ist, den Aussagen seines Gegenübers Glauben zu schenken und ihm die Verantwortung für die Korrektheit seiner Aussagen aufzubürden, ist die »Mitteilung der Sinne« von Naturverhältnissen grundsätzlich fehleranfällig (NO, S. 47). Da ihr nicht getraut werden kann, bedarf sie in

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jedem zur wissenschaftlichen Erklärung der Natur herangezogenen Einzelfalle der Überprüfung. Bacon betont – wie bereits erwähnt – ausdrücklich, er habe »alle Sorgfalt darauf verwendet«, dass seine »Lehre nicht nur wahr«, sondern auch »dem Geist der Menschen nicht zu unerfreulich« sei (s. o.). Während ›Wahrheit‹ für ihn das Signum der naturwissenschaftlichen Interpretation als des »wahren Hilfsmittel[s] des Verstandes« (»auxiliis veris intellectus«), also ein Kriterium ist, das zur ›objektiven‹ Überprüfung von Wahrheitsansprüchen an der Erfahrung auffordert, ist demgegenüber die subjektive ›Gefälligkeit‹ einer Rede etwas, das die philosophisch-argumentative Methode der Antizipation auszeichnet, der Bacon selbst es als Mangel vorhält, keine solchen Kriterien einer objektiven Überprüfbarkeit von Aussagen an die Hand zu liefern, also gar nicht im naturwissenschaftlich strengen Sinne ›wahr‹ oder ›falsch‹ sein zu können (NO I, S. 41). Es bleibt damit zunächst festzuhalten, dass Bacon gemäß seinem eigenen Bekenntnis einerseits darauf abzielt, dass die in seinem Werk vorgetragene Lehre ›wahr‹ sei, zugleich aber in Kauf nimmt, dass sie zum Teil in dem Sinne ›nichtwahr‹ ist, für ein Gegenüber nach keinem naturwissenschaftlich gültigen Kriterium überprüfbar zu sein. Wenn Bacon also davon spricht, er habe darauf geachtet, sein Werk solle zugleich »dem Geist der Menschen nicht zu unerfreulich« sein, legt er de facto offen, dass er sich nicht darauf verlässt, die Wahrheitsfähigkeit seiner neuen Methode werde zwangsläufig jedem Leser unmittelbar einleuchten. Stattdessen bekennt er sich dazu, von der in seinem Werk naturwissenschaftlich bekämpften Methode der »Antizipation« in sozialpraktischer Absicht (sc. als Antizipation nicht der Natur, sondern des Geistes) zugleich Gebrauch zu machen bzw. sie zu dem zu nutzen, wozu sie seines Erachtens einzig geeignet ist. Nämlich zwar nicht, um zu wahrer und gesicherter Naturerkenntnis zu gelangen, was das eigentliche Ziel seiner empirischen Wissenschaftsbegründung ist, wohl aber »Zustimmung zu erzwingen«, wo sich ein Adressat gegenüber der Erprobung der Wahrheitsfähigkeit einer naturwissenschaftlichen Methodik so »voreingenommen und verschlossen« zeigt, dass ihm mit Mitteln der neuen Wissenschaft nicht beizukommen ist (NO I, 29; S. 77). Es ist folglich Bacons Absicht, sich an zwei Gruppen von Rezipienten (»Stämme oder Geschlechter von Philosophen«) gleichzeitig zu richten, indem er zwei unterschiedliche Methoden miteinander verzahnt und sie zugleich auf verschiedenen Textebenen ansiedelt. Während das Novum Organon inhaltlich die Lehre der InZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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terpretation der Natur zum Thema hat, die in ihrer behaupteten Wahrheitsfähigkeit durch experimentelle Erprobung ›für sich selbst‹ sprechen muss, findet sich in der Textstruktur noch eine zweite, argumentativ-oberflächliche Ebene der bloßen Fürsprache zugunsten der Lehre von der Interpretation der Natur, deren Ziel die subjektive Überredung ›an ihrer statt‹ ist, und die sich jenseits der wissenschaftlichen Wahr-Falsch-Differenz bewegt. Bacon richtet sich also im Zuge der Etablierung einer wissenschaftlichen Experte-Laie-Differenz an ›Experten‹ und ›Laien‹, führende Köpfe und bloße Nutznießer seiner neuen Wissenschaft gleichermaßen, ohne im Voraus bereits wissen zu können, wer unter seinen Lesern zu ersteren, wer zu letzteren zählen wird. Der Einsatz einer solchen Doppelstruktur ist strategisch insofern sinnvoll, als sie es ermöglicht, erwartbaren Widerständen gegen das wissenschaftliche Programm bereits im Vorfeld die Spitze zu nehmen. Bacon musste versuchen, Mitstreiter zu finden, die als Avantgarde und wissenschaftliche ›Experten‹ der projektierten Gesellschaftsveränderung durch eine Philosophie der Forschung fungieren konnten, ohne dabei jenen Rezipienten seiner Schrift eine Angriffsfläche zu bieten, die – diese Faktoren führt Bacon selbst an – aufgrund von Vorurteilen, aus Zeitmangel oder aus Gründen mangelnder Geisteskräfte nicht bzw. noch nicht in der Lage sein würden, dem Anforderungsprofil der neuen Wissenschaftlichkeit zu entsprechen: »Er musste in der Sprache der Philosophen sprechen, die er bekämpfte, und die Ideen benutzen, die er ablehnte.« 112 Gegen Ende der Vorrede betont Bacon daher auch, die neue Wissenschaft sei eine Sache der Gewöhnung und erfordere angemessene Geduld in der Verbesserung eingelebter Irrtümer (vgl. NO I, S. 79). Er hoffte demzufolge gar nicht, seine Wissenschaftsrevolution werde sofort auf der ganzen Breite der wissenschaftlichen Front durchschlagen, sondern plante zur Umsetzung eine gewisse Karenzzeit ein, in der sich die neue Idee von Wissenschaftlichkeit gesellschaftlich allmählich immer weiter gegen das wissenshegemonial zu seiner Zeit noch dominierende Modell einer »Antizipation der Natur« durchsetzen würde. Der genannte Widerspruch zwischen Bacons Stellungnahmen zur Technik lässt sich dann so auflösen, dass er im Novum Organon, wenn er die uneingeschränkte Nützlichkeit von Wissenschaft und Technik anpreist, dies mit der wissenschaftspolitischen Rhetorik des112

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jenigen tut, der für sein geplantes Unternehmen durch »Antizipationen des Geistes« um allgemeine Zustimmung wirbt und sich nicht davor scheut, seinem Unternehmen den Anstrich göttlicher Legitimation und religiöser Glücksverheißung zu verleihen. Da gemäß De Interpretatione Naturae Prooemium und Nova Atlantis die gesellschaftliche Verantwortung für den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt bei einer intellektuellen Elite von Technokraten bzw. »legitimierten und befähigten Geistern« liegt, die aufgrund ihrer Einsichtsfähigkeit in der Lage ist, als Avantgarde der Großen Erneuerung zu fungieren, ist es aus Bacons Sicht gar nicht erforderlich, das fortschrittsoptimistische Programm des Novum Organon um gesellschaftspolitisch einschränkende Erwägungen zu ergänzen, die der Durchsetzung desselben eher abträglich wären. Auf der oberflächlichen Textebene eines bloßen Werbens um Zustimmung zu seinem Unternehmen kann er sich darauf beschränken, Motivationspotenziale für die Wissenschaftsrevolution freizusetzen, indem er den zu erwartenden Nutzen in höchsten Tönen auf eine Weise anpreist, die »der Fassungskraft der Menge« gemäß ist (NO I, S. 76; 128). Die von mir hier umrissene Interpretationsthese werde ich im Folgenden näher ausführen und einer Bewährungsprobe an Bacons Schriften unterziehen. Sollte es sich dabei als zutreffend erweisen, dass Bacon die religiös bemäntelte These, die Leistungssteigerungen in Naturwissenschaft und Technik seien durchweg positiv einzuschätzen, nur in politischer Absicht und nur exoterisch vertreten hat, selbst und in esoterischer Absicht aber der Ansicht war, Forschung bedürfe innerhalb des institutionellen Rahmens der Wissenschaftspraxis notwendig einer verantwortungsvollen Lenkung durch eine dazu geeignete Wissenschaftselite, die durch »Verständigung und Kooperation« 113, d. h. in einem kommunikativen Prozess gemeinsamer Beratung über Schaden und Nutzen von Wissenschaft und deren technischer Anwendung entscheidet, dann wäre die vom frühen Horkheimer vertretene Auffassung von der ›Dauer‹ und ›Unschuld‹ der Produktivkräfte dahingehend kritisierbar, dass sie sich auf dem Umweg über Marx und Engels affirmativ auf ein Theorem stützt, das Bacon so nur nach außen hin vorgetragen hat, um seinem wissenschaftspolitischen Anliegen zur Durchsetzung zu verhelfen, während er selbst eine wesentlich differenziertere Position vertrat. 113

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Bacons wissenschaftspolitisches Projekt beinhaltet sowohl eine ideologiekritische Analyse als auch eine methodische Neuausrichtung der zeitgenössischen Wissenschaftspraxis. Er verfolgt dabei das Ziel der Etablierung einer »tätigen Wissenschaft« (»Scientia Activa«; NO I, S. 36 f.), die zugleich »Einheitswissenschaft« (»una Scientia Universalis«; Works II, 253) sein soll. Gemäß der »Distributio Operis« (»Einteilung des Werkes«; NO I, S. 36–65) ist die »Anleitung zur Interpretation der Natur« das Thema des Novum Organon als des zweiten Teils der Großen Erneuerung (NO I, S. 37). Es soll »die Lehre […] über die wahren Hilfsmittel des Verstandes« beinhalten (NO I, S. 41). Das wissenschaftliche Instrumentarium, das Bacon damit einzuführen beansprucht und das er als »Interpretation der Natur« bezeichnet, »gehört zur Logik« (NO I, S. 41). An die Stelle des in der scholastischen Tradition zur Erklärung von Naturverhältnissen gepflegten aristotelischen Organon soll das baconische Novum Organon treten. Bacon stellt in seiner »Einteilung des Werkes« drei wesentliche Aspekte heraus, in denen sich sein eigenes Programm von der Tradition abheben soll. Er nennt (1) das Ziel, (2) die Art des Beweisens und (3) den Ausgangspunkt der Untersuchung: 1) Das Ziel naturwissenschaftlicher Erkenntnis, wie er es kontrastierend zur Scholastik bestimmt, ist »die Entdeckung nicht von Beweisgründen (argumenta), sondern von Künsten (artes)« zur Etablierung und Sicherung der Herrschaft des Menschen über die Natur (NO I, S. 41). Die Absicht, die er mit seinen Aphorismen über die Interpretation der Natur und die Herrschaft des Menschen – so der Untertitel des Novum Orgnanon – verfolgt, ist erklärtermaßen von Anfang an eine praktische. Der grundlegende Unterschied dieses Programms zur Tradition besteht darin, dass nach Bacons Darstellung die traditionelle Logik allein darauf gerichtet ist, ein Gegenüber durch formal korrekte Schlüsse zu überzeugen, ohne ein überzeugendes Instrumentarium bereitzustellen, anhand dessen über die inhaltliche Korrektheit getroffener Aussagen verlässlich entschieden werden könnte. Die Tradition bewegt sich in einem leeren Formalismus von Syllogismen, der zwar argumentativ Zustimmung zu erzwingen, nicht jedoch die Sache selbst zu fassen vermag, da ein solcher Formalismus »der Feinheit der Natur nicht annähernd gleichkommt« (NO I, 13). Die Zustimmung einer Person zu einem formal korrekt vorgetra104

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Die Neubegründung wissenschaftlicher Erkenntnis im Novum Organon

genen Argument kann nicht den Gradmesser für die inhaltliche Wahrheit naturwissenschaftlicher Aussagen abgeben. Diese müssen an der Natur selbst als dem Gegenstand, über den eine Aussage getroffen wird, auf ihre empirische Wahrheit hin geprüft werden. Aus den unterschiedlichen Absichten der beiden Forschungsprogramme folgt demnach ein unterschiedliches Ergebnis: »Wird dort ein Gegner durch Disputieren (adversarius disputatione) besiegt, so soll hier die Natur durch die Tat (natura opere) unterworfen werden.« (NO I, S. 40 f.) Es ist an dieser Stelle von entscheidender Bedeutung für meine Interpretationsthese, solche Aussagen beim Wort zu nehmen: Bacon behauptet keineswegs die Nutzlosigkeit der bisherigen Logik als eines Verfahrens der »Antizipation« überhaupt, sondern lediglich ihre Unbrauchbarkeit zur Gewinnung von Erkenntnissen über die Natur. Seine Position in der Einteilung des Werkes der Instauratio Magna stimmt dabei mit derjenigen überein, die er in der Vorrede zum Novum Organon vertritt, wenn er davon spricht, die »Antizipationen des Geistes« seien geeignet, »durch Worte den Gegner«, nicht aber »durch Werke die Natur selbst« zu besiegen, wozu allein das von ihm selbst vorgetragene Erkenntnisverfahren der »Interpretation der Natur« tauglich sei (NO I, S. 77). Dass er damit das Verfahren der Antizipation keineswegs in Gänze verabschiedet, wird gegen Ende des ersten Buches des Novum Organon deutlich: Ich habe nichts dagegen, daß diese Wissenschaften, welche jetzt zur Geltung gekommen sind, Stoff für Disputationen geben, die Reden ausschmücken, weiter für die Bequemlichkeit der Professoren und zum Besten des politischen Lebens (vitae civilis compendia) verwendet werden und in Geltung bleiben. Sie mögen ruhig wie gewisse Geldstücke nach Übereinkommen der Menschen (consensu inter homines) im Umlauf bleiben. (NO I, 128)

Der moderne Leser, dem solche Formulierungen als wissenschaftliche Floskeln nur allzu vertraut sind, wird die zitierte Passage wohl gewohnheitsmäßig als eine reine Immunisierungsstrategie lesen, die es Bacon ermöglicht, im Bescheidenheitsgestus kleinerer Zugeständnisse die Angriffsfläche für mögliche Einwände zu minimieren. Setzt man die uns bereits als selbstverständlich erscheinenden Rechtfertigungsroutinen von Wissenschaftlern jedoch einmal in Klammern und lässt sich auf das Argument ein, anstatt es als eine rhetorische Floskel zu betrachten, ergibt sich ein klareres Bild vom strategischen Zug dieses Arguments vor dem Hintergrund von Bacons eigener Zeit: Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Er lässt das argumentative Verfahren der Antizipation überall dort weiterhin zu, wo es im sozialen Umgang von Personen miteinander zur Erzielung eines Konsenses gebraucht, nicht jedoch dort, wo es mit einem naturwissenschaftlich-weiterführenden Wahrheitsanspruch in Anschlag gebracht wird. Für sein wissenschaftspolitisches Anliegen ist dabei von besonderer Relevanz, dass er den Antizipationen ausgerechnet im öffentlichen Bereich den Nutzen einer ›Ersparnis‹ oder ›Abkürzung eines Weges‹ zubilligt (»vitae civilis compendia«), d. h. ihnen in diesem Kontext eine pragmatisch-praktisch zielführende Funktion zuspricht (NO I, 128). Dieser Befund wird gestützt durch die Analogie zum ökonomischen Vorgang einer Währungsreform, den Bacon zur Veranschaulichung einsetzt. In pragmatischer Hinsicht kann es wirtschaftlicher sein, eine überkommene Währung in einem begrenzten Bereich auch dann vorübergehend in Geltung zu belassen, wenn sie ansonsten bereits von einer neuen abgelöst worden ist – sei es, weil in bestimmten Regionen eine neue Währung bei der Bevölkerung noch zu wenig Vertrauen genießt, sei es, dass sie noch nicht in ausreichendem Umfange als Zahlungsmittel verfügbar ist. Die einzige Voraussetzung für die Zulässigkeit einer solchen Regelung bildet die Übereinkunft zwischen den beteiligten Handelspartnern (»consensu inter homines«), die herkömmliche Währung weiterhin zu akzeptieren (ebd.). Ein solches, an intersubjektivem Konsens gemessenes Gültigkeitskriterium unterliegt für Bacon in Bezug auf die Wissenschaften zwar einem klaren Verdikt: »Nur in göttlichen und politischen Dingen gilt das Recht der Abstimmung (suffragiorum jus est).« 114 Es muss deshalb in der erst noch zu etablierenden naturwissenschaftlichen Forschungspraxis durch ein Verfahren der empirisch-praktischen Bewährung von Geltungsansprüchen ersetzt werden. Indem Bacon die Antizipation jedoch nicht in Gänze verabschiedet, hält er sich – zumindest prinzipiell – die Möglichkeit offen, in politisch-strategischer Absicht der Durchsetzung seines Forschungsprogramms ggf. selbst von diesem Verfahren Gebrauch zu machen. Ich werde noch darauf zurückkommen, inwiefern ihm dies von Nutzen sein kann.

114 NO I, 77. Göttliche und politische Dinge rangieren für Bacon hier offenbar insofern auf derselben Ebene, als – im Gegensatz zu naturkausal geregelten Gesetzmäßigkeiten – im weitesten Sinne ›personale‹ und ›soziale‹ Verhältnisse das Thema bilden (s. u. Kap. II.3).

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2) Hinsichtlich der Art des Beweisens grenzt Bacon seine eigene induktive Methode in aller Deutlichkeit von der »Beweisführung durch Syllogismen« ab, da letztere »die Natur aus den Händen gleiten« lasse (NO I, S. 43). »Über die induktive Methode haben die Dialektiker scheinbar kaum ernsthaft nachgedacht.« (NO I, S. 43) Die Begründung dafür, dass die Scholastik in die Irre geht, wenn sie beansprucht, auf dem Wege formalen Schließens zu gesicherter Naturerkenntnis zu gelangen, erörtert er hier unter einem sprachkritischen Aspekt, der eine Kritik an der Art und Weise einschließt, wie in der Tradition induktive Schlüsse auf zu schmaler empirischer Basis gezogen werden: Der Syllogismus ist für ihn deshalb in naturwissenschaftlicher Hinsicht mit Mängeln behaftet, »weil ja der Syllogismus aus Sätzen besteht, diese aus Worten, die Worte aber die Pfänder und Zeichen der Begriffe sind. Wenn diese Begriffe des Verstandes […] nun selbst unzureichend von den Dingen abstrahiert und unklar, nicht scharf genug bestimmt und umschrieben sind, bricht alles in sich zusammen.« (NO I, S. 43) Die von Bacon kritisierte Tradition hält kein Verfahren der Überprüfung bereit, ob die Begriffe, mit denen operiert wird, die Natur, die man zu beschreiben beansprucht, überhaupt systematisch sinnvoll abzubilden vermögen. Inwiefern nicht? Auch die Tradition verfährt im Ansatz ›induktiv‹, insofern sie sich auf intersubjektiv nachvollziehbare und wiederholbare Beobachtungen stützt. Übereinstimmende sinnliche Eindrücke unterschiedlicher Personen können jedoch für sich genommen noch nicht verbürgen, dass die Verhältnisse in der Natur tatsächlich so beschaffen sind, wie sie dem Menschen erscheinen, da unser natürlicher Sinnesapparat ungeeignet ist, diese unmittelbar und lückenlos adäquat abzubilden: »Die Sinne fehlen auf zwei Arten: entweder lassen sie uns im Stich oder sie täuschen.« (NO I, S. 47) Ihre »Übermittlung geschieht immer entsprechend dem Menschen, nicht entsprechend dem Weltall; und es ist ein großer Irrtum zu behaupten, die Sinne seien das Maß aller Dinge.« (NO I, S. 47) Wenn nun die bloße Übereinstimmung von Beobachtungen mehrerer Forscher den Ausgangspunkt dafür bildet, sogleich »zu den Formeln des Disputierens zu jagen«, wie es gemäß Bacons Darstellung in der Scholastik der Fall ist, so handelt es sich dabei zwar um ein im Ansatz ›induktives‹ Verfahren, insofern Beobachtungen den Ausgangspunkt der Theoriebildung darstellen (NO I, S. 43). Die Begriffe, die in der anschließenden Disputation den Syllogismen zur Grundlage dienen, sind jedoch nur ›anZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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tizipativ‹, d. h. auf bloßen Glauben hin gewonnen. Ohne Berücksichtigung des Umstandes möglicher Sinnestäuschungen kann nicht ausgeschlossen werden, dass unterschiedliche Beobachter zum Zeitpunkt der Begriffsbildung derselben Täuschung aufgesessen sein und einen Begriff von Naturverhältnissen gebildet haben könnten, der zwar intersubjektiv einheitlich und daher zu einer Einigung zwischen Gesprächspartnern tauglich ist, den tatsächlichen Naturverhältnissen jedoch nicht entspricht: »Die Antizipationen sind genügend stark, um Einstimmigkeit zu erzielen; da ja, selbst wenn die Menschen in gleicher Weise und einmütig sich wie toll gebärdeten, sie dabei recht wohl untereinander übereinstimmen könnten.« (NO I, 27) Das traditionelle Verfahren der Beweisführung subsumiert Bacon unter dem Titel der »Antizipation der Natur«, da »man von den Sinnen und dem Einzelnen zu dem Allgemeinsten […], als zu bestimmten festen Polen, um die die Disputationen sich drehen« fliegt, von diesem bloß antizipierten und keineswegs gesicherten Allgemeinsten aber dann das Übrige durch entsprechend nicht weniger bloß antizipierte Mittelbegriffe ableite: »Ein solcher Weg ist zwar kurz, aber gefährlich; er führt von der Natur fort, aber zum Disputieren ist er bequem und geeignet.« (NO I, 26; S. 45) Dem Reflexionsdefizit der Tradition in Bezug auf das Ziehen induktiver Schlüsse will er mit seiner eigenen Methode der »Interpretation der Natur« abhelfen, die sich auf die »wahre Induktion« als auf eine solche stützt, die der Täuschungsanfälligkeit unseres Sinnesapparates Rechnung trägt, indem sie ein Verfahren der Überprüfung von Aussagen an der Natur selbst bereitstellt: »Die Wissenschaften […] brauchen eine solche Form der Induktion, welche die Erfahrung auflöst und zergliedert und notwendig durch Ausschließung und Zurückweisung zu einer richtigen Schlußfolgerung gelangt.« (NO I, 14; S. 45) Anstatt vom Einzelnen sogleich zum Allgemeinsten zu springen, um von dort aus die Mittelbegriffe abzuleiten, sollen die Lehrsätze (»axiomata«, NO I, S. 45) hier stufenweise und einer nach dem anderen aufgestellt werden, um erst am Ende zum Allgemeinsten vorzudringen, wobei auf jeder einzelnen Stufe eine neuerliche wissenschaftliche Überprüfung der inhaltlichen Korrektheit von Aussagen gefordert ist. 3) Da Bacon den Irrtum einer Anwendung der traditionellen Logik auf die Natur bereits im Ansatz als das Ziehen unzureichend gesicherter induktiver Schlüsse kritisiert, die den Syllogismen vorausgehen, muss auch bereits der Ausgangspunkt der Untersuchung für ihn ein anderer sein. Es darf nicht von leeren und ungesicherten 108

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Begriffen der Ausgang genommen werden, sondern diese selbst müssen auf methodisch kontrolliertem Wege gewonnen und mit Inhalt gefüllt werden. Die entscheidende Frage lautet deshalb, wie eine wissenschaftliche Form der Induktion auszusehen habe, die in der Lage ist, der Unzuverlässigkeit unserer Sinneswahrnehmungen bei der Bildung von Begriffen Rechnung zu tragen. Die Aufarbeitung des Reflexionsdefizits im Ziehen induktiver Schlüsse bedarf einer Reflexion auf die Beschaffenheit des menschlichen Anschauungsapparates, die darin ihr Resultat finden muss, dass ein Mittel zur Prüfung dessen gefunden wird, »was die gewöhnliche Logik allein dem Glauben nach annimmt«, nämlich die Evidenz unserer Sinneseindrücke (NO I, S. 45). Bacon schlägt deshalb ein Verfahren vor, mittels dessen »die Mitteilung der Sinne« (ebd.) bewährt oder falsifiziert werden kann: »Das versuche ich durch Experimente« (NO I, S. 47). Da den Mitteilungen der Sinne nicht unmittelbar getraut werden darf, plant er, »auf die eigentliche Wahrnehmung der Sinne nicht viel Gewicht« zu legen, sondern bei der Gewinnung der grundlegenden Begriffe der Wissenschaft so zu verfahren, dass »der Sinn nur über das Experiment, das Experiment aber über die Sache das Urteil spricht.« (NO I, S. 49) Durch die Planung von Experimenten, in denen bestimmte Versuchsbedingungen konstant gehalten, andere variiert werden, wird es möglich, die »unmittelbaren Eindrücke der gesunden Sinne«, die hier nur noch als ungesicherte Hypothesen über Naturverhältnisse behandelt werden können, zu verifizieren bzw. zu falsifizieren, d. h. theoretische Annahmen an der Natur selbst praktisch zu überprüfen (NO I, S. 47). Das Verfahren der experimentellen Überprüfung von Hypothesen über die sinnlich wahrgenommene Natur bildet die methodische Leitlinie der »wahren […] Induktion« (NO II, 7). Da die »Feinheit der Experimente […] weit größer als die der Sinne« (NO I, S. 49) und der »Feinheit der Natur« (NO I, 13) entsprechend gemäßer ist, gleichwohl aber von Sinneswahrnehmungen der Ausgang genommen werden muss, bezeichnet sich Bacon selbst als »einen treuen Priester der Sinne« und »nicht ungeschickten Dolmetscher ihrer Orakel« (»oraculorum ejus non imperitos interpretes«; NO I, S. 48 f.). Die von ihm angestrebte ›Interpretation der Natur‹ muss dergestalt verstanden werden als eine allgemeine Methode zur stufenweisen Überführung von bloßen sinnlichen Wahrnehmungen und daraus abgeleiteten Annahmen (d. h. ›Meinungen‹ bzw. ›Antizipationen‹) in überprüfbare Hypothesen und empirisch bewährte Tatsachen (d. h. ›Wahrheiten‹ bzw. ›Interpretationen‹) durch kontinuierlich wiederZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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holende Anwendung des Verfahrens der ›wahren Induktion‹. Das von Bacon gewählte Bild eines »Orakels« der Sinne bringt dabei zum Ausdruck, dass die Verantwortung für die Korrektheit einer Auslegung von Beobachtungsdaten beim Interpreten liegt. Dieser Umstand gestattet es ihm, die Tradition der moralischen Verfehlung anzuklagen, sie habe nur in Worten versprochen, die Sinne zu ehren und zu pflegen, sei – im Missverständnis der »Autorität der Sinneswahrnehmung« – jedoch auf letztlich selbstmissverständliche Weise wortbrüchig geworden, indem sie die Auflösung dieser Orakel einem Verfahren überantwortet habe, das sich »nur in Meinungen um sich selbst« drehe (vgl. NO I, 37; S. 49; 82).

a.) Zum Problem der politisch erfolgversprechenden Darstellung einer hypothesenbasierten Wissenschaft Bacon begnügt sich nun allerdings nicht mit der Einführung einer neuen Logik. Die ›Interpretation der Natur‹ soll zwar durch die Etablierung einer experimentellen Methodik ein »Heilmittel gegen die Irrtümer« an die Hand geben, zu denen die althergebrachte Methode der »Antizipation« in den Wissenschaften von der Natur geführt habe (vgl. S. 47 f.). Die bloße Bestimmung des naturwissenschaftlichen Erkenntnisverfahrens verfügt nach seiner Einschätzung jedoch für sich genommen noch nicht über die forschungs- und gesellschaftspolitische Durchschlagskraft, die nötig ist, um die angestrebte Revolution der Wissenschaftspraxis auch sicher herbeizuführen. Bacon hegt ernstliche Zweifel daran, dass die größere Wahrheitsfähigkeit der von ihm vorgeschlagenen Logik allein durch sich selbst auf allgemeine Zustimmung stoßen werde, da sie »doch nicht leicht [sei], so daß sie etwa im Vorübergehen erfaßt werden könnte«, sondern sich »der Fassungskraft der Menge nur durch ihren Nutzen und ihre Ergebnisse« empfehle (NO I, S. 76 ff.; vgl. NO I, 128). Weithin nach außen sichtbare Erfolge kann die Interpretation der Natur erst dann zeitigen, wenn sie bereits in die Tat umgesetzt worden ist und sich die projektierte Wissenschaft in der Gewinnung neuer Erkenntnisse sowie in der technischen Kontrolle von Naturverhältnissen praktisch bewährt hat. Dies stellt für Bacon insofern ein Problem dar, als es ihm unmöglich ist, hartnäckigen Kritikern seines Programms noch vor der systematischen Durchführung von Experimenten unwiderlegbare Beweise für die Richtigkeit desselben entgegenzusetzen. 110

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Wie bereits in der Erörterung des Ziels deutlich wurde, räumt Bacon der von ihm vorgeschlagenen Methode einer »Interpretation« keineswegs in allen Punkten Vorrang gegenüber der »Antizipation« ein. Die Interpretation soll es zwar einzig gestatten, zu gesicherter Erkenntnis von der Natur zu gelangen, was die Voraussetzung dafür bildet, dass der Mensch sie auch kontrollieren kann. Sobald jedoch die Zustimmung von Personen zu eigenen Absichten und Ansichten das Ziel ist, können Antizipationen, die sich auf Syllogismen, gängige Meinungen, Vorurteile und letztlich auf den bloßen Augenschein stützen, den eindeutigen Vorteil für sich verbuchen, den Adressaten einer Aussage allein durch formale Korrektheit zu überzeugen und ihm die Akzeptanz einer Theorie dadurch zu erleichtern, dass lediglich auf Begriffe Rekurs genommen wird, welche die angesprochene Person unkritisch aus dem Fundus des allgemein ohnehin bereits für wahr Gehaltenen mit Inhalt füllen kann: Sind doch fürwahr die Antizipationen hinsichtlich der Gewinnung der Zustimmung weit wirksamer als die Interpretationen. Da sie ja aus Wenigem entnommen sind und aus dem, was im Alltag am meisten vorkommt, fesseln sie sogleich den Verstand und füllen die Phantasie aus. Hingegen können die Interpretationen, welche aus recht verschiedenen und weit zerstreut liegenden Fällen gesammelt sind, den Verstand nicht plötzlich für sich einnehmen; so daß sie, im Verhältnis zu den gängigen Meinungen, hart und ungewohnt, fast wie Mysterien der Religion erscheinen müssen. (NO I, 29)

Die Verteilung von Vorteil und Nachteil unter den beiden Methoden stellt für den Wissenschaftsrevolutionär Francis Bacon eine nicht zu unterschätzende methodische Herausforderung dar: Zwar geht es ihm im Novum Organon primär um die Etablierung des naturwissenschaftlichen Erkenntnisverfahrens. Zur wissenschaftspolitischen Durchsetzung desselben, die nicht einzig in seinem eigenen Ermessen liegt, sondern der Mithilfe und Zustimmung breiterer Kreise eines wissenschaftlichen und politischen Publikums der Öffentlichkeit seiner Zeit – vordringlich aber derjenigen des Königs – bedarf, ist allerdings jenes auf persönliche Zustimmung möglichst vieler Leser orientierte, den Verstand fesselnde und die Phantasie ausfüllende Überzeugungsverfahren der Antizipation weitaus geeigneter. Im Valerius Terminus stellt er kritisch gegen seine Gegner gerichtet fest: »Derjenige, der Wissen vermittelt, wünscht, dies in derartiger Form zu tun, daß es schnellstens geglaubt werden kann, und nicht in derjenigen, in der es am leichtesten überprüft werden kann.« (VT 51) Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Der »Staat des Wissens ist bisher immer eine Demokratie gewesen, in der dasjenige überdauert, das den Sinnen und Vorstellungen des Volkes am angenehmsten ist.« (ebd. 53) Dieser ›demokratische‹ Charakter einer an intersubjektiver Übereinkunft orientierten Wissenschaft wird von Bacon allerdings nicht einfach nur bekämpft und abstrakt als ›unwissenschaftlich‹ zurückgewiesen, sondern als ein Problem identifiziert, das theoretisch aufgearbeitet und bei der methodisch richtigen Darstellung der eigenen Wissenschaft praktisch adressiert werden muss. Er begründet den psychologischen Vorzug der Antizipation, der zugleich ein Hindernis bei der naturwissenschaftlichen Überwindung dieses Verfahrens darstellt, mit einer empirisch-anthropologischen Beobachtung zur Natur des menschlichen Geistes: Es wäre für sich genug, wenn der menschliche Geist eben und gleich einer Tabula rasa wäre. Aber die Geister der Menschen sind auf wunderliche Weise besessen, so daß die ebene und reine Oberfläche fehlt, um die Strahlen der Dinge richtig aufzufangen. So ist es notwendig, auch hierfür ein Heilmittel zu suchen. (NO I, S. 49)

Nicht nur die menschlichen Sinne müssen berichtigt werden, indem Sinneseindrücke experimentell überprüft werden, auch der menschliche Geist bedarf eines Remediums. Bacon nennt von außen gekommene und angeborene »Idole«, d. h. tradierte Vorurteile und die im menschlichen Geist tief verankerte Neigung zu Fehlschlüssen als Hinderungsgründe einer Beschränkung auf die bloße Kritik der Sinneswahrnehmungen durch Darlegung eines wahrheitsfähigen naturwissenschaftlichen Erkenntnisverfahrens (NO I, S. 49). Da es sich nach Bacons eigener Einschätzung nicht lediglich um wissenschaftlich falsifizierbare Irrtümer bei der Auslegung der Natur handelt, die bekämpft werden müssen, um dem von ihm anvisierten neuen Paradigma wissenschaftspolitisch zur Durchsetzung zu verhelfen, sondern auch um dogmatisch fixierte Verblendungszusammenhänge psychologischer und anthropologischer Art, kann er nur dann hoffen, sein im Novum Organon vorgetragenes Projekt werde genügend Befürworter finden, wenn es ihm gelingt, seine naturwissenschaftliche Methode nicht nur der »Natur der Dinge« – worunter als ein Vermittlungsorgan zwischen dem menschlichen Organismus und der äußeren Natur auch der menschliche Sinnesapparat subsumiert werden kann –, sondern auch die Art ihrer Darstellung der »Natur des Geistes«, also dem antizipationsaffinen Bewusstseinszustand derjenigen 112

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anzupassen, für die sie gemacht ist. 115 Die Verknüpfung seines Postulats einer experimentellen Methodik der ›Interpretation der Natur‹, die den Unzulänglichkeiten des menschlichen Sinnesapparats Rechnung tragen soll, mit seiner ideologiekritisch orientierten ›Idolenlehre‹, die einerseits Grenzen des naturgegebenen menschlichen Erkenntnisvermögens ausloten und kulturbedingte Vorurteile theoretisch identifizieren, andererseits aber zugleich helfen soll, beide Hindernisse in praktisch möglichst zielführender Weise zu überwinden, macht daher die für die Instauratio Magna spezifische Form einer Verbindung von Theorie und Praxis aus. Da die Idolenlehre zu dieser Verknüpfung den systematischen Angelpunkt ausmacht, werde ich sie im Folgenden als Erstes erörtern (b.). Anschließend werde ich den Methodenbegriff einer ›Interpretation‹ der Natur in seinen forschungspraktischen Implikationen und Konsequenzen näher erläutern (c.).

b.) Die ›Idolenlehre‹ als ideologiekritische Selbstverständigung über die angemessene Methode und ihre Darstellung Die von Bacon in Form einer »Lehre der Idole« vorgetragene Ideologiekritik erhebt den theoretischen Anspruch, natürliche und sozial bedingte Irrmeinungen heuristisch zu erfassen und theoretisch zu beschreiben, um sie auf diesem Wege einer Berichtigung durch forschungspraktisches Handeln zuführen zu können (vgl. NO I, 38–40). Das traditionelle Verfahren der »Antizipation der Natur«, das durch die Idole begünstigt wird, soll so überwunden und durch die »Interpretation der Natur« ersetzt werden (NO I, 26). Gemäß der hier vertretenen Interpretationsthese, die speziell in diesem Punkt über Krohns Bacon-Auslegung hinausgeht, ist die Idolenlehre jedoch nicht nur Mittel der Kritik und Anleitung zum wissenschaftlichen Neuanfang, sondern zugleich Medium einer methodischen Selbstverständigung über poetologische Fragen, die Einsichten zu einer reflektierten Darstellung des logischen Instrumentariums einer ›Interpretation der Natur‹ zutage fördert. Die Idolenlehre impliziert eine Reflexion 115 NO I, S. 49 ff. Dass Bacon den menschlichen Körper und damit auch die Sinnesorgane zur Natur rechnet, wird daran deutlich, dass er ausdrücklich auch den Arzt zu denjenigen Berufsklassen rechnet, die sich traditioneller Weise »in die Natur (um Werke zu bilden) […] einzumischen« pflegen (NO I, 5).

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Bacons auf objektive Möglichkeiten einer Öffentlichkeitswirksamkeit seiner Schrift, die ihm Anhaltspunkte liefert, wie die neue Wissenschaft präsentiert werden muss, um ihr die bestmögliche Aussicht auf längerfristige wissenschafts- und gesellschaftspolitische Durchsetzung zu garantieren. Welche konkreten Konsequenzen er aus der Idolenlehre für den Aufbau seiner Schrift zieht, werde ich später im Zusammenhang erläutern (Kap. II.3–4). In der folgenden Erörterung der rund 30 Aphorismen zur »Lehre von den Idole[n]« werde ich jedoch bereits die besonders aufschlussreichen Äußerungen Bacons zu dieser Frage herausstellen und vorblickend problematisieren (NO I, 39–68). Mein spezielles Augenmerk gilt dabei möglichen Selbstwidersprüchen, die sich mittels meiner Interpretationsthese auflösen lassen müssen. Gerade »argumentative Inkohärenzen« können Indizien dafür liefern, dass ein Autor innerhalb eines Textes auf mehreren Ebenen argumentiert und sich des literarischen Stilmittels »vieldeutigen Sprechens« bedient, das sowohl zur Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive als auch in der exoterischen Kommunikation mit Laien eine Schlüsselfunktion erfüllen kann. 116 Bacon unterscheidet vier Arten von »Idolen«, die den menschlichen Geist gefangen« halten, und die »selbst bei der Erneuerung der Wissenschaften wiederum auftauchen als eine rechte Last, wenn die Menschen nicht, vor ihnen gewarnt, sich gegen sie nach Möglichkeit schützen.« (NO I, 39; 38) Er nennt erstens die »Idole des Stammes« (»Idola Tribus«), zweitens die »Idole der Höhle« (»Idola Specus«), drittens die »Idole des Marktes« (»Idola Fori«) und viertens die »Idole des Theaters« (»Idola Theatri«) (NO I, 39). Die Arten von Idolen teilt er in zwei Gruppen ein. Während er die ›Idole des Stammes‹ und der ›Höhle‹ als »angeboren« (d. h. als anthropologisch bedingt) charakterisiert, sollen die ›Idole des Marktes‹ und des ›Theaters‹ »von außen gekommen« (d. h. sozial konstituiert) sein (NO I, S. 49). Bacons Wahl natürlicher bzw. sozialer Metaphern (»Stamm« und »Höhle« bzw. »Markt« und »Theater«) zeigt die begrifflich intendierte Unterscheidung an. Die ›Idole des Stammes‹ sind in der allgemeinen Natur des Menschen verwurzelt und gehören gewissermaßen zum Grundinventar gattungsmäßig vererbter Neigungen unserer Spezies (vgl. NO I, 41; 45–52). Mit den ›Idolen der Höhle‹ bezieht er sich auf individuelle Einschränkungen der Fähigkeit zur erfolgreichen Naturkenntnis, die 116

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Vgl. Rapic: Subjektive Freiheit. S. 15.

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zwar gleichermaßen angeboren sind, jedoch keine übereinstimmenden Merkmale der menschlichen Gattung insgesamt definieren, sondern nur in der ›Höhle‹ des individuellen Bewusstseins ihren Ort haben. Hierunter zählen subjektive Neigungen, wie sie sich im individualgenetischen Zusammenspiel körperlicher und geistiger Anlagen mit gesellschaftlichen Sozialisations- und Bildungsprozessen ausformen und die sich dergestalt im Durchlaufen einer persönlichen Lebensgeschichte ergeben (NO I, 42; 53–58). Auf Seiten der in einem engeren Sinne ›sozial konstituierten‹ Irrmeinungen wiederum trennt Bacon einerseits zwischen den ›Idolen des Marktes‹, die der mangelnden Präzision einer im öffentlichen Verkehr gebrauchten Sprache zuzuschreiben sind (NO I, 43; 59–60), sowie andererseits den »dogmatischen Behauptungen philosophischer Lehrmeinungen« und »verkehrten Sätzen der Beweisführung«, die über die philosophischen »Sekten« in den Geist der Menschen eingedrungen sind und die er als ›Idole des Theaters‹ bezeichnet, da sie – »unwirklich und erdichtet« – nur »durch Tradition, Leichtgläubigkeit und Nachlässigkeit Geltung erlangt haben« (NO I, 44; 61–65). Die Unterscheidung dieser vier Arten von Idolen wird begrifflich nicht allzu trennscharf geführt, was sich etwa darin manifestiert, dass schon bei der ersten Einführung der Idole der Höhle auch Faktoren der »Erziehung und des Verkehrs mit anderen« mit hineinspielen, die streng genommen den Idolen des Theaters (Erziehung) bzw. des Marktes (Verkehr) zugerechnet werden müssten (NO I, 42). Zwischen den beiden aus zwischenmenschlicher Interaktion entspringenden Idolen – den ›Ideologien‹ im engeren heutigen Sinn – ist eine klare Grenze noch schwieriger einzuziehen. Die Idole des Marktes und des Theaters beruhen offensichtlich nicht nur beide zum Teil auf anthropologischen Voraussetzungen, die den angeborenen Idolen zugerechnet werden müssen, sondern können zudem gleichermaßen auf sprachliche Verwirrungen zurückgeführt werden. Nicht nur die Idole des Marktes, auch die des Theaters sind »Idole, welche mit Worten dem Geist aufgelastet werden« (NO I, 60). Bacons sprachkritische Wendung gegen die wissenschaftliche Forschungspraxis seiner Zeit zielt nicht zuletzt auf den Umstand, dass den Erdichtungen des ›Theaters‹ keine größere wissenschaftliche Genauigkeit anhaftet als den alltäglichen Sprechweisen, wie sie auf dem ›Markt‹ gebräuchlich sind. Beide unterscheiden sich zwar hinsichtlich ihres Grades an Komplexität und Artifizialität, basieren hinsichtlich der Prinzipien einer Begriffsbildung jedoch auf denselben formalen Voraussetzungen der Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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ungezügelten Tätigkeit eines natürlichen Anschauungs- und Denkapparates: »Die gebräuchlichen Sätze (Axiomata) haben sich aus einer flüchtigen und auf der Hand liegenden Erfahrung […] ergeben. Sie sind so ziemlich nach deren Maß gebildet und bemessen.« (NO I, 25) Zudem sieht Bacon die Meinungen, wie sie auf dem Markt vorherrschen, bereits als durch wissenschaftliche Irrlehren infiziert an, so dass auch inhaltlich eine Trennung kaum möglich ist (vgl. NO I, 43). Die Idolenlehre stellt damit insgesamt einen eher heuristisch orientierten Versuch dar, eine allgemeine Gemengelage – gewissermaßen ›idealtypisch‹ – dingfest zu machen, wobei die Grenzen zwischen den einzelnen Arten der Idola realiter als fließend zu betrachten sind. Die Idole sind in ihrer Gesamtheit Ursache für die Fehler der »Antizipation der Natur« (NO I, 26). Für den vorliegenden Zusammenhang einer Erörterung der poetologischen Selbstverständigungsfunktion der Idolenlehre verdient Bacons Unterscheidung von angeborenen (d. h. natürlich bedingten) und äußerlichen (d. h. sozial konstituierten) Idolen größere Beachtung. Er betont, man könne zwar die sozial konstituierten Idole des Marktes und des Theaters »nur schwer ausmerzen«, die natürlich bedingten des Stammes und der Höhle ließen sich jedoch »überhaupt nicht beseitigen«: Es bleibt nur übrig, sie anzuzeigen, so daß diese hinterlistige Eigenschaft des Geistes erkannt und bekämpft werde, damit nicht aus der Zerstörung der alten Irrtümer wegen der schlechten Beschaffenheit des Geistes neue sich erheben und die Sache darauf hinausläuft, daß die Irrtümer nicht ausgelöscht, sondern nur vertauscht werden. (NO I, S. 51)

Sowohl für die nachhaltige Etablierung seiner wissenschaftlichen Methode als auch im Hinblick auf deren möglichst erfolgversprechende Darstellung geht von den Idolen des Stammes und der Höhle also die größte Gefahr aus. Während auch der innovationsoffene Leser sich mit Erkenntnishindernissen konfrontiert sieht, die in seinen natürlichen Anlagen (d. h. in den Idolen des Stammes) wurzeln und ihm eine Selbstdisziplinierung abverlangen, können die von Bacon vorgeschlagenen Neuerungen auf solche Rezipienten seiner Schrift, die der neuen Wissenschaft von Haus aus (d. h. aufgrund von Idolen der Höhle) skeptisch gegenüber stehen, »hart und ungewohnt, fast wie Mysterien der Religion« wirken (NO I, 28). Die Ungewohntheit der neuen Methode kann einen unverständigen Leser in seiner ablehnenden Haltung also schlimmstenfalls noch bestärken und ihn zu 116

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ihrer aktiven Bekämpfung reizen. Das wirft die Frage auf, ob Bacon es wirklich dabei belassen hat, die angeborenen Idole bloß »anzuzeigen«, wie er es behauptet. Hinsichtlich der subjektiv-zufälligen Idole der Höhle erscheint diese Option als alternativlos, da »die Fälle dieser Art mannigfaltig und zahllos sind«, so dass er kaum hoffen durfte, ihnen sämtlich vorgreifen zu können (NO I, 53). In den Aphorismen zu diesem Idoltypus verhandelt Bacon namhafte historische Philosophen und deren individuelle Vereinseitigungen unter dem Gesichtspunkt, ob sie als Personen eher »die Unterschiede zwischen den Dingen« oder deren »Ähnlichkeiten« zu erkennen vermochten, belässt es ansonsten jedoch bei dem Hinweis, der Naturforscher müsse »im allgemeinen […] das für verdächtig halten, was besonders seinen Verstand anspricht und fesselt«, fordert also eine kritische Selbstreflexion des einzelnen Forschers auf seine Gefühle und Neigungen, »damit der Geist sich unparteiisch und rein halte« (vgl. NO I, 53–58; bes. 55; 58). Die Idole des Stammes allerdings sind – zumindest prinzipiell und zunächst rein hypothetisch gesprochen – aufgrund ihres gattungsuniversalen Charakters durchaus geeignet, in stärkerem Maße berücksichtigt zu werden. Sie sind nicht nur am tiefsten verankert, sondern tragen zudem Wesentliches zu den Idolen des Marktes und des Theaters bei, die wiederum die Idole der Höhle entscheidend begünstigen. Die allgemein anthropologisch bedingten Irrtümer bilden also einen Dreh- und Angelpunkt der Idolenlehre überhaupt. Anstatt auf die aufklärerische Wirkung des bloßen Hinweises zu hoffen, der menschliche Geist unterliege einer natürlichen Tendenz zu bestimmten Arten von Fehlschlüssen, kann eine Lehre nun aber auch so formuliert sein, dass sie sich den gattungsmäßigen Neigungen, die allen Rezipienten der Theorie von Natur aus gemeinsam sind, anschmiegt, um den Leser in eine bestimmte Richtung zu lenken. Bacon kann sich also eine »Kraft, die gleichsam eingewurzelt und eingeboren ist«, zunutze gemacht haben, »bald um den Glauben zu gewinnen, bald um die Ungerechtigkeiten der Zeiten abzuhalten«. (VT 109) Begreift man die Idole des Stammes als einen neuralgischen Punkt der Entstehung von Irrtümern, darf angenommen werden, dass ein Leser, der sich nicht in dieser Weise lenken lässt (und der z. B. religiöse Bezüge der bloßen Captatio benevolentiae zurechnet, sie ansonsten jedoch ignoriert), auch die übrigen Idole überwinden und sich zu einer selbstdiszipliniert-naturwissenschaftlichen Einstellung emporarbeiten wird. So viel Überzeugungsarbeit eine solche Form der Darstellung also Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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beim »voreingenommen[en] und verschlossen[en]« Geist und bloßen »Nutznießer« der neuen Wissenschaft leisten kann, wird sie einen der »wahren Söhne[ ] der Wissenschaft« kaum davon abhalten, sich die Methode anzueignen und sie eigenständig zu vervollkommnen (vgl. NO I, S. 77). Wenn Bacon sich tatsächlich zu einem derart strategischen Aufbau seiner Schrift entschlossen hat, was in der vorliegenden Arbeit plausibel gemacht werden soll, bildet die Analyse der Idole des Stammes aber nicht nur eine wichtige Orientierungsgrundlage für die Ausbildung einer wissenschaftlichen Methode, indem sie Hinweise liefert, wie angeborene Neigungen des menschlichen Geistes durch eine intellektuelle Technik und Methodik ausgeglichen werden können. Sie verspricht zudem einen Aufschluss darüber, was selbst von den widerstrebendsten und ungeeignetsten Rezipienten von Bacons Schrift noch am ehesten akzeptiert wird und was daher als Leitlinie für eine möglichst erfolgversprechende Darstellung dienen kann. Bevor zu den übrigen Idoltypen fortgegangen wird, ist daher eine nähere Betrachtung der Idole des Stammes speziell vor diesem Hintergrund angebracht. Die Idole des Stammes (bzw. der Gattung) machen die natürliche Tendenz des menschlichen Geistes zu Fehlschlüssen aus, wobei Bacon im Rahmen seiner Erörterung dieser Idola auch deren Zusammenspiel mit dem menschlichen Sinnesapparat thematisiert, den er als zu einer adäquaten Erfassung von Naturverhältnissen unzureichenden beschreibt (NO I, 50). Unter die Idole des Stammes sind die Neigungen zu rechnen, dass der Mensch »in den Dingen eine größere Ordnung und Gleichförmigkeit« voraussetzt, »als er darin findet« (NO I, 45), und dass er dazu neigt, Beobachtungen, die ihn in seinen Vorurteilen bestätigen, eher zur Kenntnis zu nehmen als solche, die ihnen zuwiderlaufen (vgl. NO I, 46). Weiterhin, dass der menschliche Verstand für alles besonders empfänglich ist, was ihn »mit einem Male und plötzlich aufpeitscht und erschüttert«, während er den eher unscheinbaren und fernliegenden Ereignissen keine Beachtung schenkt (NO I, 47). Letztere Ereignisse sind nach Bacon jedoch eine viel geeignetere »Feuerprobe« für Hypothesen, bieten also aussagekräftigere Bewährungsinstanzen für aufgestellte »Lehrsätze« dar als bloß prima facie besonders aufsehenerregende und naheliegende Phänomene (ebd.). Außerdem – und hinsichtlich der Textstruktur des Novum Organon besonders aufschlussreich – erwähnt er, dass der menschliche Geist über das Gegebene hinaus zu methodisch un-

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gesicherten Re- bzw. Progressen neigt, was sich insbesondere »bei der Erforschung der Ursachen« negativ auswirkt: Denn da das Allgemeinste der Natur nach positiv sein muß, wie es auch gefunden wird, kann es in keiner Weise Verursachtes sein, dennoch strebt der rastlos strebende Verstand nach immer noch Höherem. Während er aber so nach Entfernterem strebt, fällt er ins Nächstliegende zurück, nämlich in die Endursachen (causas finales), welche offensichtlich der Natur des Menschen, nicht aber der des Universums angehören. Aus dieser Quelle hat man die Philosophie auf eigenartige Weise verdorben. (NO I, 48)

Hiermit ist das Problem angesprochen, dass der Mensch »beim Trennen und Mischen seiner Begriffe seine eigene Natur mit der Natur der Dinge vermengt.« (NO I, S. 49) In der Philosophie kommt diese allzu menschliche Tendenz, wie Bacon an entsprechenden Stellen der Erörterung der Idole des Theaters geltend macht, in der »Einführung von abstrakten Formen, Endzwecken (causas finales) und ersten Ursachen« zum Tragen, so dass etwa der Anfang der Naturphilosophie »auf das erste Kapitel der Schöpfung« gegründet oder dinglich beobachtbaren Veränderungen quasi-subjektive Absichten der Dinge selbst unterstellt werden (NO I, 65 f.). Diese Ideologiekritik ist insbesondere deshalb aufschlussreich, weil sie ein analoges Argument zur von Habermas gegen Horkheimer und Adorno vorgebrachten Metaphernkritik beinhaltet (s. o. S. 54 ff.). Habermas wirft Horkheimer und Adorno vor, sie verstünden »›Beherrschung‹ der Natur nicht als Metapher«, sondern vermischten den in der zwischenmenschlichen Interaktion (d. h. mit Bacon in der »Natur des Menschen« als eines zoon politikon) beheimateten Begriff von ›Herrschaft‹ methodisch unkontrolliert mit demjenigen einer ›Kontrolle von Umweltverhältnissen‹ (d. h. mit der instrumentellen Einflussnahme auf die »Natur der Dinge«) (TkH I, 507; NO I, S. 49). Horkheimers und Adornos wörtlich verstandene Rede von ›Herrschaft über die Natur‹ geht paradoxerweise jedoch ausgerechnet auf Bacon selbst zurück, der ja im Novum Organon ausdrücklich sagt, das Ziel sei die Wiedereinsetzung des Menschen in seine rechtmäßige Stellung einer »Herrschaft« über die Natur (NO I, S. 81). Bacon widerspricht sich also entweder unbemerkt selbst, indem er die Kontrolle von Umweltverhältnissen unter ›Herrschaft‹ subsumiert, oder – und das ist die von mir an dieser Stelle vertretene Lesart – er zieht aus seinen Beobachtungen zur Natur des menschlichen Geistes den Schluss, dass es vorläufig besser ist, eine nicht endgültig zu beseitigende Neigung des menschlichen GeisZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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tes durch die bewusste Verwendung einer Metapher in eine für eigene Zwecke willkommene Richtung zu lenken, anstatt sie, das Beste hoffend, unkontrolliert sich selbst zu überlassen. Diese Lenkung geschieht dadurch, dass er den Rezipienten seiner Schrift von vornherein zwei sinnvolle Lesarten anbietet: Erstens kann ›Herrschaft‹ von einem Leser wörtlich verstanden werden, was jedoch nur im personalen Verständnis der göttlichen Aufforderung Sinn ergibt, der Mensch solle sich ›die Erde untertan‹ machen. Nach diesem Verständnis hat Gott den Menschen gewissermaßen als ›Treuhänder‹ oder ›Verwalter‹ über die Erde eingesetzt. ›Herrschaft‹ bedeutet in diesem sozial zu verstehenden Kontext die Übertragung von Verantwortung für eine Sache vom rechtmäßigen ›Eigentümer‹ (Gott) auf einen durch ihn legitimierten ›Besitzer‹ (den Menschen). ›Herrschaft‹ kann aber zweitens auch metaphorisch verstanden werden und bedeutet dann nicht mehr als die naturwissenschaftlich-technische Einflussnahme auf Naturdinge. Da die Natur sich aus diesem zweiten Blickwinkel als gegenüber subjektiven Herrschaftsabsichten völlig gleichgültig darstellt, spielen Fragen der ›Legitimität‹ einer an ihr vollzogenen Handlung hier keine Rolle. Der Leser, der die Metapher als eine solche erkennt, hat sich performativ – durch diesen Akt eines metaphorischen Umverstehens selbst – bereits der Einnahme eines naturwissenschaftlichen Standpunktes für fähig erwiesen. Wer sie dagegen wörtlich nimmt, ist zwar kein würdiger Naturwissenschaftler, kann der neuen Wissenschaft jedoch trotzdem einen uneingeschränkten Nutzen beimessen, indem er die göttliche Aufforderung zur ›Herrschaft‹ über die Natur als ein moralisch gebotenes Anliegen versteht. ›Herrschaft‹ lässt sich also wörtlich als eine moralisch verbindliche Handlungsaufforderung Gottes begreifen oder bloß metaphorisch als eine Umschreibung für die instrumentelle Kontrolle von Umweltverhältnissen. Wie Bacon die anthropologische Neigung, der Natur eine Finalität zu unterstellen, durch das Versprechen einer göttlich verbürgten ›Herrschaft‹ über sie methodisch eher stillschweigend für eigene Zwecke nutzt, kann im Einzelnen erst im Rahmen des nächsten Abschnitts gezeigt werden. Sehen wir zunächst weiter zu, welche Einsichten und Schwierigkeiten die Idolenlehre zutage fördert. Als das »größte Hindernis« bei der Gewinnung gesicherter Erkenntnisse von dinglichen Naturverhältnissen bezeichnet Bacon die in den ›Idolen des Stammes‹ angelegte Anfälligkeit des menschlichen Geistes für die »Fallstricke der Sinne« (NO I, 50). Da der Verstand 120

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dem sinnlich unmittelbar Dargebotenen nicht nur die größte Beachtung, sondern tendenziell auch unmittelbar Glauben schenkt, neigt er zu Fehlschlüssen und gelangt bestenfalls zu einer oberflächlichen Kenntnis von der ihn umgebenden Natur: »Daher hört die Betrachtung fast mit dem Anblick auf; dementsprechend gibt es von den unsichtbaren Dingen eine nur geringe oder gar keine Beobachtung. […] Denn die Sinne für sich allein sind ein gar schwaches und irrtumsgebundenes Ding.« (Ebd.) Um die Wirkungsweise der Natur auch in ihren mit bloßem Auge nicht sichtbaren Teilen wirklich erklären zu können, genügt es nicht, nur die technischen »Werkzeuge (organa) zur Erweiterung und Schärfung der Sinne« zu verbessern, da etwa Mikroskope oder Fernrohre zwar nützliche Hilfsmittel darstellen, den Bereich des Wahrnehmbaren auszuweiten, sie jedoch der grundsätzlichen Irrtumsanfälligkeit des menschlichen Geistes in der Beurteilung des Gesehenen keinerlei Abhilfe schaffen (ebd.). Bacon schlägt deshalb vor, die Natur aus der Umklammerung dessen zu lösen, was nur nach Maßgabe eingespielter Gewohnheiten unseres natürlichen Erkenntnisvermögens Geltung beanspruchen kann, indem ein Begriff von Gesetzlichkeit eingeführt wird, demgemäß die Natur von unserem Geist unabhängig formal geregelt ist (d. h. einen Begriff von ›Naturgesetzlichkeit‹): »Die Materie selbst muß betrachtet werden, ihre Struktur und Neugestaltung und auch die reine Tätigkeit und die ihr zugrunde liegende Gesetzmäßigkeit« (NO I, 51; Herv. NP). Sein »Verfahren der Erklärung« soll »nicht bloß wie die gewöhnliche Logik auf die Bewegungen und Wendungen des Geistes, sondern auch auf die Natur der Dinge blicken.« (NO I, 127) Erst auf Basis der Voraussetzung, dass die Natur eine nach eigenen Gesetzen geregelte Struktur besitzt, die nicht in allen Teilen dem menschlichen Erkenntnisvermögen unmittelbar zugänglich ist, kann gefragt werden, wie diese Struktur mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln indirekt sicher erkannt werden kann: »Ich leite den Geist so, daß er sich an die Natur der Dinge auf alle nur entsprechenden Weisen anpassen kann.« (NO I, 127) Da unsere Sinne »für sich allein […] ein gar schwaches und irrtumsgebundenes Ding« sind, sollen die »Gesetze der Tätigkeit« (d. h. gesetzmäßige Ursache-Wirkung-Beziehungen) durch methodisch durchgeführte Experimente dem Geist zugänglich gemacht werden, in denen »der Sinn nur über das Experiment, das Experiment über die Natur und die Sache selbst entscheidet.« (NO I, 50) Da durch eine solche Verfahrensweise der tatsächliche Ausgang eines Experiments »über die Sache das Urteil Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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spricht«, ein vom Menschen bloß vorurteilsmäßig antizipiertes Ergebnis desselben sich aber als ›Wahrheit‹ oder ›Falschheit‹ einer bloßen Hypothese über faktische Naturverhältnisse erweisen kann, kommt durch »Einzelfälle und geeignete durchführbare Experimente« eine »richtigere Interpretation der Natur« zustande, als es bei einem Verfahren der Fall ist, das Natur und Geist von vorherein vermengt und allein der ungeschützten menschlichen Urteilsfähigkeit die Entscheidung über das ›Wahr‹ oder ›Falsch‹ von Aussagen über die Natur überlässt (NO I, S. 49; 50). »Ich habe das Werkzeug (Organum) dargeboten; der Inhalt muß aber von den Dingen selbst entnommen werden.« (NO I, S. 11) Bei den ›Idolen des Marktes‹, »welche mit Worten dem Geist aufgelastet werden«, unterscheidet Bacon zwei Arten (NO I, 60). Zum einen kritisiert er die Verwendung von »Namen von Dingen, die es nicht gibt«, wie etwa den Begriff des Glücks/Schicksals (»fortuna«) oder den eines »erste[n] Bewegers«; zum anderen wendet er sich gegen »Namen von Dingen, die wirklich sind, aber […] verworren, schlecht abgegrenzt und voreilig […] von den Dingen abstrahiert« (ebd.). Hinsichtlich eines drohenden Selbstwiderspruches gilt es hier zu beachten, dass Bacon den Schicksalsbegriff zwar kritisiert, ihn aber später selber ganz unkritisch in Anspruch nimmt, wenn er sagt, die »Prophezeiung Daniels über die letzten Zeiten der Welt […] deutet klar an […], es sei von der Vorsehung beschlossen (significans esse in fatis, id est in providentia), daß die Durchwanderung der Welt […] und die Vertiefung der Wissenschaften in dasselbe Zeitalter fallen.« (NO I, 93) Auch wenn man mit Krohn »fortuna« mit »Glück« übersetzt, das als ›blinde Zufälligkeit‹ von Vorstellungen eines divinatorisch vorhergesehenen »Fatums« getrennt zu halten wäre, bleibt die Verwendung des Begriffs »Vorsehung« (»providentia«) problematisch, da die biblische Prophezeiung über das Weltende mehr sein soll als eine Hypothese, so dass vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet auch der Begriff der »Vorsehung« zu den »Namen von Dingen« gerechnet werden muss, die es »nicht gibt«. Umso irritierender erscheint es, dass er von den Namen für »Dinge, die es nicht gibt«, sagt, sie könnten im Vergleich zu den verworrenen Begriffen »leichter beseitigt« sowie »durch beharrliche Verleugnung und durch Beiseitelassen der Lehrmeinungen ausgerottet werden« (NO I, 60). Nimmt man einmal an, dass Bacon hier keinem simplen Selbstmissverständnis unterliegt – was angesichts der begrifflich und kulturgeschichtlich recht offensichtlichen Nähe von »fortuna« und »fatum« 122

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unwahrscheinlich ist –, muss gezeigt werden, weshalb er vom wissenschaftlich leicht zu eliminierenden Begriff der »Vorsehung« Gebrauch macht, obwohl jede Vorhersage über Zukünftiges gemäß seinen eigenen Ausführungen als bloße Hypothese zu behandeln ist. Auch an dieser Stelle bietet sich eine Deutung an, derzufolge er mit »Vorsehung« lediglich eine metaphorische Umschreibung einführt, die (entsprechend dem Verhältnis zwischen ›Herrschaft über die Natur‹ und ›Kontrolle von Umweltverhältnissen‹) den naturwissenschaftlichen Begriff der ›Hypothese‹ hinter einer theologischen Formulierung verbirgt, die in erster Linie dazu gedacht ist, dem Leser durch die Zurschaustellung besonderer Frömmigkeit zu gefallen. Nicht zuletzt spielt auch bei den ›Idolen des Theaters‹ die Religion für Bacon eine entscheidende Rolle. Diese Idole werden von Bacon in drei Gruppen unterteilt. Sie sind entweder »sophistischer, empirischer« oder »abergläubischer« Art (NO I, 62). Als ›sophistisch‹ bezeichnet er Lehren, welche die »Vernunft« überbetonen und die zwar oberflächlich »aus der Erfahrung das Verschiedenste und Nächstliegende« aufraffen, das übrige aber »der Überlegung und der Regsamkeit des Geistes« überlassen (ebd.). Als ›empirisch‹ gelten ihm dagegen solche Philosophien, die nur »wenige Experimente exakt durcharbeiten und daraus die Philosophie entwickeln«, die an Teilbereichen gewonnenen Erkenntnisse anschließend jedoch in unzulässiger Weise generalisieren und auf fernstehende Phänomenbereiche ausdehnen (ebd.). Für den vorliegenden Zusammenhang von größter Bedeutung ist die dritte Gruppe der Theorien »abergläubischer Art«, denen Bacon vorhält, »aus gläubigem Eifer und Gottesverehrung die Theologie und die Überlieferungen« mit einzumischen, ihre Naturwissenschaft also methodisch nicht sauber von der Theologie getrennt zu halten (ebd.). Bacon mobilisiert allerdings selbst die Schöpfungsgeschichte und die biblische Vorsehung der Apokalypse Daniels als Argumente für den uneingeschränkten Nutzen seiner neuen wissenschaftlichen Methode. Das wirft die Frage auf, inwiefern sich seine Bezugnahmen auf Offenbarungsgehalte von denjenigen anderer Autoren unterscheiden sollen. Handelt es sich nicht auch hierbei um einen Versuch, »die Naturphilosophie auf das erste Kapitel der Schöpfung […] zu gründen« bzw. um eine »Beimischung der Theologie«, die »den Verstand umschmeichelt und verblendet« (NO I, 65)? Zur besseren Übersicht seien die drei selbstwidersprüchlichen Aussagen Bacons, die meine Interpretationsthese auflösen soll, hier noch einmal zusammengefasst: 1) Er betont, finalkausale Aussagen Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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seien in der Naturwissenschaft fehl am Platze, da sie nur der »Natur des Menschen«, nicht aber der »Natur der Dinge« zugerechnet werden dürfen. Zugleich überträgt er jedoch den Begriff von ›Herrschaft‹ aus dem Bereich personaler Interaktion auf die dingliche Natur, womit er sich selbst widerspricht. Die Dinge lassen sich ›kontrollieren‹, aber im wörtlichen Sinne nicht ›beherrschen‹, da ihnen zu jedweder Form von sozialer Interaktion die Voraussetzungen fehlen. Solche Voraussetzungen müssten animistisch begründet werden, was er jedoch ablehnt. 2) Bacon kritisiert den Begriff »fortuna« als einen Namen für etwas, das es nicht gibt, verwendet jedoch selbst diejenigen von »fatum« und »providentia«, die ebenso wenig den geforderten Wissenschaftsstandards entsprechen, da sich empirisch-induktiv zwar eine ›Regelhaftigkeit‹, aber keine absichtsvolle ›Vorherbestimmung‹ kausaler Abläufe bewähren lässt. 3) Außerdem kritisiert er Positionen, welche die Naturphilosophie durch »Beimischung der Theologie« verdorben haben, als »abergläubisch«, beruft sich jedoch selbst wiederholt auf die Schöpfungsgeschichte und die Apokalypse Daniels, um den Nutzen seiner Methode anzupreisen. Betrachtet man die hier aufgewiesenen Selbstwidersprüche im Zusammenhang, dann wird erkennbar, dass sie sämtlich im von Bacon verwendeten Motiv eines verheißenen Dominium terrae kulminieren: Die Berufung auf die Heilige Schrift mischt finalkausale Spekulationen über den Willen Gottes in die Naturphilosophie ein, indem Anfang und Ende der Geschichte theologisch gedeutet werden. Die ›Herrschaft‹ über die Natur, die im Sündenfall verloren gegangen sein und durch die Naturwissenschaft wiederhergestellt werden soll, ist ein eschatologisches Motiv (s. o. 1). Den (Un-)Begriff des »fatums« verwendet Bacon nur im Kontext der Apokalypse Daniels, die genau diese eschatologische ›Herrschaft‹ divinatorisch verheißen soll (s. o. 2). Vor dem Hintergrund seiner Idolenlehre lassen sich die Selbstwidersprüche dann aber auf die Frage hin zuspitzen, ob Bacon im Novum Organon nicht selbst eine »abergläubische« Lehrmeinung vorträgt, indem er vom eschatologischen Motiv des Dominium terrae Gebrauch macht (s. o. 3). Einen Ansatzpunkt zur Auflösung dieser Frage liefert Bacon, indem er darauf hinweist, es sei »nur heilsam, wenn nüchternen Geistes dem Glauben […] gegeben wird, was des Glaubens ist.« (NO I, 65) Er erhebt damit offenbar den Anspruch, im Novum Organon methodisch sauber zwischen Theologie und Naturwissenschaft zu trennen, so dass von einer ›Beimischung‹ in dem Sinne keine Rede sein kann, 124

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als die theologischen Bezugnahmen dem naturwissenschaftlichen Theorierahmen selbst äußerlich bleiben. Dass er nicht vollständig auf religiöse Bezugnahmen verzichten wollte, lässt sich mit der aus der Ideologiekritik abergläubischer Lehrmeinungen gewonnenen Einsicht erklären, dass die »Religion« nach Bacons Einschätzung »am meisten auf die Herzen der Menschen wirkt« (NO I, 89). Ob und wie ihm die Trennung zwischen Naturwissenschaft und Theologie im Rahmen einer einzigen Schrift gelingt, wird eine Klärung anhand des Aufbaus seiner Schrift zeigen müssen. Zunächst gilt es jedoch, den Bacon’schen Methodenbegriff einer ›Interpretation der Natur‹ näher zu erörtern, da gerade er das Positiv der neuen Wissenschaft ausmacht, gegen das zu verstoßen Bacon auch bei der Darstellung seiner Methode vermeiden muss, wenn sich seine Wissenschaftsinitiative nicht überhaupt in Unklarheiten verlieren soll.

c.)

Der Methodenbegriff einer ›Interpretation der Natur‹ und die Bestimmung des Verhältnisses zwischen ›Wissen‹ und ›Handeln‹

Zu Beginn des zweiten Buches des Novum Organon, das »die Kunst der Interpretation der Natur selbst« darbieten soll, stellt Bacon fest: »was im Tätigsein am nützlichsten, ist im Wissen am wahrsten.« (NO I, 130; NO II, 4) 117 Dieser Satz enthält die Quintessenz der ›Interpretation der Natur‹ als einer Einheit von Theorie und Praxis. Er impliziert einen Maßstab zur Beurteilung von Wahrheitsansprüchen, der eng mit einer These über das Verhältnis zwischen theoretischem Wissen und praktischem Handeln verknüpft ist: Der Erfolg einer Handlung, die sich auf einen prognostisch erhobenen Wahrheitsanspruch stützt, bewährt rückwirkend dessen Berechtigung. Bacon erklärt damit den Maßstab erfolgskontrollierten Handelns zum zentralen Kriterium der Beurteilung von Aussagen, mit denen sich ein begründeter Anspruch auf Wissenschaftlichkeit verbinden lässt, während er alle Sätze, die mittels dieses Maßstabes nicht auf ihre Wahrheit hin überprüft werden können, als ›unwissenschaftlich‹ bzw. als ›bloße Meinung‹ kennzeichnet.

117 Krohn, von dessen Übersetzung ich hier ausnahmsweise abweiche, übersetzt »quod in Operando utilissimum id in Sciendo verissimum« mit »was im Tätigsein am nützlichsten, ist im Wissen reine Wahrheit« (NO I, 4; Herv. NP).

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Man könnte nun annehmen, dass der so etablierte Beurteilungsmaßstab der Erfolgskontrolle zugleich die Selbstverpflichtung einschließt, im Rahmen des Novum Organon nur solche Sätze aufzustellen, die sich diesem Maßstab auch unterwerfen, d. h. sich im Handeln an der Natur überprüfen lassen. Er sagt ausdrücklich, er benutze »lieber den Weg der Induktion für die Natur der Dinge« und habe mit den »auf bloße Meinung sich stützende[n] Künste[n] […] nichts zu schaffen« (»nil enim in hac parte movemus«; NO I, S. 43). Dass diese Behauptung allerdings auf das Novum Organon zumindest nicht lückenlos zutrifft, zeigen bereits die religiösen Bezüge, mit denen Bacon einen Anspruch auf normative Richtigkeit seiner ›Interpretation der Natur‹ geltend macht. Der erhobene Richtigkeitsanspruch, die neue Wissenschaft sei gutzuheißen, weil sie sich im Einklang mit der Offenbarung bewege, kann durch »wahre Induktion« nicht auf seine Berechtigung hin geprüft werden (NO I, 14). Hierzu wäre es nötig, die These von der Existenz Gottes empirischinduktiv zu bewähren, der als normative Instanz die Verbindlichkeit der Offenbarungsgehalte verbürgen soll. Ob das Wissenschaftsprogramm mit den Geboten der Heiligen Schrift in Einklang gebracht werden kann, wäre dann eine Anschlussfrage. Bacon betont jedoch selbst, es solle »nüchternen Geistes dem Glauben nur das gegeben« werden, »was des Glaubens ist«, worunter zuvörderst die Annahme der Existenz Gottes gerechnet werden muss (NO I, 65). In seinen Essays betont er zwar, dass fortgeschrittene Erkenntnis natürlicher Kausalketten den Menschen dahin dränge, »zum Glauben an Gott und eine Vorsehung seine Zuflucht zu nehmen«: »Oberflächliches Philosophieren […] verführt den menschlichen Geist zur Gottesleugnung, allein tieferes Eindringen lenkt ihn zur Religion zurück«. 118 Zwischen Naturerkenntnis und Gottesglauben, Wissenschaft und Religion zieht er damit jedoch auch hier eine unmissverständliche Grenze, indem Wissen zwar – über sich hinausweisend – zum Glauben veranlasst, jedoch nicht mit diesem verwechselt werden darf. Gemäß dem empiristischen Wahrheitskriterium muss also jede Berufung auf Offenbarungsgehalte letztlich als eine bloße ›Meinung‹ bzw. ›Antizipation‹ gelten. Nun war Bacon Jurist im Staatsdienst, kein Philosoph oder Naturwissenschaftler im engeren Sinne. Nicht nur seine übrigen 118 Francis Bacon: Essays oder praktische und moralische Ratschläge (Übersetzung von E. Schücking, hrsg. von L. Schücking). Stuttgart 2005, S. 53.

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Schriften, auch das wissenschaftsbegründende Novum Organon muss als eine wissenschaftspolitische Abhandlung über die angemessene naturwissenschaftliche Methode gelesen werden, nicht als eine selber naturwissenschaftliche Schrift. Sein Selbstbekenntnis, er habe mit den auf »bloße Meinung« sich stützenden Künsten »nichts zu schaffen«, lässt sich auf diesem Hintergrund so verstehen, dass es einzig auf Wahrheitsansprüche über die »Natur der Dinge«, also auf naturwissenschaftliche Aussagen bezogen ist. Wenn das Novum Organon selbst keine naturwissenschaftliche Schrift im eigentlichen Sinne ist, kann sie also sehr wohl noch Sätze enthalten, die dem aufgestellten Wahrheitskriterium nicht gemäß sind, ohne dass Bacon sich damit schon in einen Selbstwiderspruch verwickelte. Etwas anders verhält sich die Sachlage, wenn man die Frage nach der »innere[n] Konsistenz« von Bacons Kriterium für wissenschaftlich ›wahre‹ Aussagen stellt. 119 Hier nämlich ergibt sich ein Problem, das den naturwissenschaftlichen Anspruch der geforderten ›Interpretation der Natur‹ selbst betrifft. In der »Einteilung des Werkes« wird »für alle Ewigkeit bestimmt und festgelegt«, das empirische Verfahren der »Induktion« sei die »rechtmäßige Form« des Geistes und der »wahre Weg« der Erkenntnis (NO I, S. 51; »quae via vera est«, NO I, 19). Diese Festlegung ist insofern problematisch, als es sich hierbei um eine philosophische These handelt, die selbst nicht empirisch-induktiv bewiesen werden kann. Wendet man den von Bacon aufgestellten Beurteilungsmaßstab für wissenschaftliche Aussagen auf Sätze an, in denen er ausgesprochen wird, ergibt sich die Konsequenz, dass dem Maßstab der Status einer bloßen ›Meinung‹ zugesprochen werden muss, die selbst keine naturwissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen kann. Für die Neubegründung der Wissenschaften droht sein Wahrheitskriterium damit aber »jede argumentative Bedeutung zu verlieren.« 120 Wenn der oberste Grundsatz der ›Interpretation der Natur‹ als eine ›bloße Meinung‹ oder ›Antizipation‹ begriffen werden muss, ist nicht mehr einzusehen, inwiefern der Ausgangspunkt von Bacons Untersuchung besser gewählt sein soll als derjenige der »Dogmatiker« (NO I, 95). Er setzt sich hier demselben Einwand aus, der später von Russell gegen den Wiener Kreis erhoben werden wird: »empiricism, as a theory

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Krohn: Bacon. S. 13. Vgl. Rapic: Erkenntnis und Sprachgebrauch. S. 139.

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of knowledge, is self-refuting« (s. o. S. 34). 121 Da es sich hierbei um einen Einwand handelt, der den wissenschaftlichen Status der empirischen Wissenschaftsbegründung selbst betrifft und nicht lediglich die Form ihrer Darstellung bzw. wissenschaftsexoterische Fragen, wiegt er ungleich schwerer als die Einfügung religiöser Bekenntnisse im Rahmen einer wissenschafts- und gesellschaftspolitischen Schrift des 17. Jh. Als fragwürdig erscheinen dann die »innere Konsistenz und die Bedingungen der Gültigkeit« der vorgeschlagenen Wissenschaft selbst. 122 Lässt sich dieser Selbstwiderspruch aus der These zum Zusammenhang zwischen theoretischem Wissen und praktischem Handeln heraus auflösen? Oder handelt es sich bei Bacons Maßstab zur Beurteilung von Wahrheitsansprüchen letztlich um eine dogmatische Setzung? Was ist mit dem ›wahren Weg‹ der Erkenntnis gemeint? Bacons Grundthese, die den Schlüssel zum Verständnis seines Programms einer Einheit von Theorie und Praxis ausmacht, lautet: »Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen läßt. […]; was bei der Betrachtung als Ursache erfaßt ist, dient bei der Ausführung als Regel.« (NO I, 3) Er formuliert hiermit dasselbe Verhältnis zwischen Wissen und Handeln, das er im eingangs bereits zitierten Satz des zweiten Buches unter umgekehrten Vorzeichen auf die Formel bringt: »was im Tätigsein am nützlichsten, ist im Wissen am Wahrsten.« (NO II, 4) Während der Erfolg einer Handlung die prognostisch mit ihr verbundenen Wahrheitsansprüche bewährt (vgl. NO II, 4), kann umgekehrt nur theoretisches Wissen um die zur Realisierung einer Absicht relevanten Ursache-Wirkung-Verhältnisse den Erfolg einer Handlung garantieren (vgl. NO I, 3). Da ›Wissen‹ und ›Können‹ des Menschen gleichermaßen von einer Orientierung an autonom geregelten Naturverhältnissen abhängen, treffen sie »im selben zusammen« (»in idem coincidunt«, NO I, 3). In diesem Sinne bezeichnet Bacon »menschliche Wissenschaft und Macht« auch als »Zwillingsziele« (NO I, S. 65). Sie können in einer Einheitswissenschaft so zusammengeführt werden, dass das menschliche Wissen um natürliche Ursache-Wirkung-Verhältnisse und die menschlichen Möglichkeiten einer bewussten Einflussnahme auf die so geregelte Natur koextensiv anwachsen. 121 122

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Russell: Meaning and Truth. S. 165. Krohn: Bacon. S. 13.

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Indem eine Mehrung menschlicher ›Macht‹ über die Natur darüber hinaus eine Potenzierung unserer Möglichkeiten zur Selbsterhaltung und Wohlfahrtssteigerung zur Folge hat, gewinnt die Einheitswissenschaft eine auch gesellschaftspraktische Dimension. Die Einheit von Theorie und Praxis, wie sie sich aus dem Zusammenhang von Naturkausalität und Handlungsregel ergibt, erhält bei Bacon also einen doppelten Sinn: In theoretisch-wissenschaftlicher Hinsicht besteht die Einheit darin, dass nur die experimentelle Bewährung von Hypothesen an der Natur es uns gestattet, zu gesichertem theoretischen Wissen zu gelangen. Unter Aspekten praktisch-gesellschaftlichen Fortschritts hingegen gewährleistet nur die technische Anwendung theoretisch wahrer Erkenntnisse es uns, unsere Möglichkeiten zur Selbsterhaltung und Wohlfahrtssteigerung sukzessive zu erweitern. Der wissenschaftliche und gesellschaftliche Fortschritt der Menschheit sind dann dergestalt miteinander verzahnt, dass ein Zuwachs an wissenschaftlichen Erkenntnissen einerseits unsere technischen Handlungsmöglichkeiten zur Kontrolle von Umweltverhältnissen erweitert, während andererseits die Erweiterung unserer technischen Handlungsmöglichkeiten immer fortgeschrittenere Mittel zur experimentellen Bewährung von wissenschaftlichen Prognosen bereitstellt. Bacon spricht deshalb auch davon, die »Kunst des Erfindens« werde »mit den Erfindungen erstarken« (NO I, 130). Indem auf Basis gewonnener Einsichten in Naturzusammenhänge technisch immer ausgefeiltere und immer zahlreichere Apparaturen zur experimentellen Überprüfung von neuen wissenschaftlichen Hypothesen konstruiert werden können, vervielfältigen sich mit jedem Fortschritt des wissenschaftlich-technischen Betriebs zugleich die Möglichkeiten zu weiteren Fortschritten. In diesem Sinne kann Bacon sagen, die Induktion sei der ›wahre Weg‹ der Erkenntnis: Als ein Verfahren des experimentellen Ausschlusses falscher Annahmen führt dieser ›Weg‹ zur immer größeren ›Wahrheit‹ unser Aussagen über die Natur. Wenn aber unser Wissen um Naturverhältnisse in dieser Weise stetig ansteigt, so dass jeder neuerliche Fortschritt unsere bisher für ›wahr‹ gehaltenen Erkenntnisse als ›unzureichend‹ oder gar als ›falsch‹ erweisen kann, wie lässt sich dann Bacons Aussage in der »Einteilung« des Werkes, es sei »für alle Ewigkeit bestimmt und festgelegt« (»in aeternum ratum et fixum sit«, NO I, S. 50 f.), das empirische Verfahren der »Induktion« sei die »rechtmäßige Form« des Geistes, noch Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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aufrechterhalten? Bacon bedient sich im Novum Organon auch der Formulierung, es sei »die Wahrheit eine Tochter der Zeit« (NO I, 84). Wenn die menschlichen Wissenschaften aber dergestalt in einem historischen Fortschreiten begriffen sind, kann unmöglich ausgeschlossen werden, dass die »wahre Induktion« sich eines Tages als der ›falsche Weg‹ und als eine ›illegitime Form‹ des Geistes erweist (NO I, 14). Der überzeitliche Geltungsanspruch von Bacons Beurteilungsmaßstab für die Wahrheit von Aussagen ist also unhaltbar. Zieht man allerdings den Ort in Rechnung, an dem dieser überzeitliche Geltungsanspruch erhoben wird, fällt auf, dass er nur in der »Einteilung des Werkes« explizit davon spricht, die »Induktion« sei »für alle Ewigkeit« als die »rechtmäßige Form« des Geistes zu betrachten (NO I, 51). Er richtet sich mit dieser starken Behauptung gegen die angeborenen Idole, die sich »überhaupt nicht beseitigen« lassen (ebd.). Die »Einteilung« muss – zusammen mit den »Vorbemerkungen«, der Widmung an den König und der »Vorrede« (NO I, 2–35) – noch dem Prolog des eigentlichen Werkes zugerechnet werden. Hier geht es aus wissenschaftspolitischer Sicht vorrangig darum, zunächst einmal den dogmatischen Schleier zeitgenössischer Ideologien aufzustoßen, um überhaupt eine Grundlage für die Darlegung der eigenen Lehre zu schaffen. Die Aussage lässt sich so als eine Hyperbel lesen, die in sozialpsychologischer Absicht über das eigentliche Ziel der Abhandlung rhetorisch hinausschießt, um den Boden dafür zu bereiten, dass »Irrtümer ausgelöscht […] werden« können (ebd.). Im sonstigen Werk verwendet Bacon im lateinischen Originaltext dagegen häufig Superlative, um die Koinzidenz von ›Wissen‹ und ›Macht‹ zu verdeutlichen. Lateinische Superlative müssen im Deutschen kontextabhängig übersetzt werden, wobei der Übersetzer zwischen einem deutschen Elativ (z. B. »äußerst wahr« bzw. »reine Wahrhheit«) oder einem deutschen Superlativ (z. B. »am wahrsten«) die Wahl zu treffen hat. Weshalb ich hier mit Superlativen übersetze, wird im Folgenden aus dem baconischen Kontext begründet. Bacon sagt etwa, »Wahrheit und Nutzen« seien »die selbigsten Dinge« (»ipsissimae res«; NO I, 124) und dieser Zusammenhang sei »am wahrsten« (»verissimum«; NO II, 4). Der Einsatz von Superlativen lässt sich dadurch rechtfertigen, dass Bacon nur höheren Wesen vollgültige Einsicht in die gesetzmäßige ›Wahrheit‹ von Naturverhältnissen zugesteht: »Aber nur Gott, der die Formen geschaffen und den Dingen eingeprägt hat, oder vielleicht den Engeln […] steht es zu, diese Formen durch bejahende Fälle in unmittelbarer Anschauung 130

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ein für allemal vollkommen zu begreifen, denn das geht über Menschenkräfte hinaus.« (NO II, 15) Der Mensch kann nicht mit abschließender Sicherheit die ›reine Wahrheit‹ einer These über die Natur beweisen. Ihm ist es nur vergönnt, »über verneinende Fälle voranzuschreiten, um am Ende nach gänzlichem Ausschluß alles Abwegigen zu einer Bejahung zu gelangen«; d. h. nicht ›äußerste Wahrheit‹ ist der Endpunkt der menschlichen Erkenntnisbemühungen, sondern ›Bejahung‹ und ›größte Wahrscheinlichkeit‹ bzw. solche zeitgenössischen Sätze, die verglichen mit anderen ›am wahrsten‹ sind (ebd.). Da ›Bejahung‹ eine Urteilsform darstellt, Urteile jedoch vom menschlichen Geist gesprochen werden, der dem Einfluss von angeborenen und nicht restlos zu beseitigenden Idolen unterliegt, während ›Wahrheit‹ eine Eigenschaft ist, die der Natur selbst zukommt, kann der Mensch – so lässt sich Bacon verstehen – auf ›ewige Wahrheiten‹ keinerlei Anspruch erheben. Der von Bacon in der Einteilung erhobene Wahrheitsanspruch für seinen Beurteilungsmaßstab wahrer Aussagen lässt sich so dahingehend relativieren, dass es sich dabei um keinen absoluten, sondern bloß um einen relativen Geltungsanspruch handelt, der sich folgendermaßen paraphrasieren lässt: ›Unter den gegenwärtig gebräuchlichen Methoden ist die vorgeschlagene Interpretation der Natur, die sich auf methodisch kontrollierte Induktion stützt, »am wahrsten«, d. h. wahrer als alle übrigen – aber nicht für alle Zeiten unerschütterlich‹. Versteht man den Satz, »Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen läßt«, im Sinne dieses bescheideneren Wahrheitsanspruches, dann wird klar, dass auch er eine bloße Hypothese ist, die durch Handeln an der Natur bewährt werden muss (NO I, 3). Er ist also – anders als die stärkere Behauptung einer ewigen und ausschließlichen Wahrheitsfähigkeit induktiver Methodik – auf sich selbst anwendbar: Ob die Hypothese zutrifft, die Induktion sei allen zu Bacons Gegenwart etablierten Methoden vorzuziehen, muss durch die gesellschaftliche Umsetzung seines Wissenschaftsprogramms erprobt werden. Die prognostizierten Fortschritte des Wissenschaftsbetriebs können eintreten oder ausbleiben. Aber selbst wenn die Induktion sich als die ›wahrste‹ Methode bewährt, kann nicht prinzipiell ausgeschlossen werden, dass ihr eine Bewährung dereinst auch versagt bleiben könnte, wenn sich etwa herausstellt, dass die Natur nicht in allen Teilen nach Ursache-Wirkung-Verhältnissen geregelt ist. Wahrheitsfähiger als der Dogmatismus wäre die Methode der Induktion jedoch auch Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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dann noch, da sie den zukunftsweisenden Maßstab ihrer möglichen Falsifikation gleich mit an die Hand gibt. Sollte es sich im Zuge experimenteller Versuche einmal herausstellen, dass nicht alle Phänomene im Universum durch Bacons Induktion aufgeschlüsselt werden können und sollte ferner ein Verfahren entdeckt werden, das zur Erklärung dieser Phänomene besser geeignet ist, wäre die Induktion nicht mehr mit Recht als die ›wahrste‹ Methode zu bezeichnen. Als ›Tochter ihrer Zeit‹ und »bloße Forschungsmaxime« hätte die Interpretation der Natur damit jedoch den wissenschaftlichen Fortschritten späterer Zeitalter zumindest noch den Weg geebnet: Sobald Bacons erkenntnistheoretische Position ihre wissenschaftspolitische Funktion erfüllt, den Forschungsprozeß voranzutreiben, kehrt sich ihr zukunftsweisender Charakter um: Sie wird zu einem Dokument der Vergangenheit, das nur noch von historischem Interesse ist. In diesem Sinne ist es nicht bedauerlich, sondern entspricht den Intentionen Bacons, wenn »in späteren Zeiten« das Urteil gefällt wird, er habe »nichts Großes geleistet«, sondern lediglich zum Durchbruch naturwissenschaftlicher Forschung beigetragen (NO I, 97). 123

Die von Krohn aufgeworfene Frage nach der »inneren Konsistenz und den Bedingungen der Gültigkeit« von Bacons Wissenschaftsbegründung kann mit Smail Rapic dann aber so beantwortet werden, dass er den Anspruch auf argumentative Einlösbarkeit eines Beurteilungsmaßstabs für wahre Aussagen und damit seinen »Anspruch auf ein eigenständiges philosophisches Wissen« überhaupt preisgibt, wodurch ein Selbstwiderspruch in der Grundthese vermieden wird. 124 Indem Bacon die nur argumentativ zu entscheidende Quid juris?-Frage nach der letzten Berechtigung unserer Erkenntnisansprüche wissenschaftlich verabschiedet und sie durch die empirisch-experimentell beantwortbare Quid facti?-Frage danach, was es in Wirklichkeit gibt, ersetzt, verzichtet er darauf, »die philosophische Frage nach dem Verhältnis von ›bloßer Meinung‹ und ›wahrem Wissen‹ argumentativ zu erörtern; statt dessen stellt er die Prognose auf, daß im Zuge des Erkenntnisfortschritts jeder philosophische Klärungsbedarf verschwinden wird – da es der naturwissenschaftlichen Forschung gelingen werde, sich ihrem Ziel, die Existenz einer kausalen Ordnung

Rapic: Erkenntnis und Sprachgebrauch. S. 157; 159. Krohn: Bacon. S. 13. Rapic: Erkenntnis und Sprachgebrauch. S. 159. Vgl. auch Rapic: Subjektive Freiheit. S. 328 f. 123 124

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der Welt aufzuweisen, immer weiter anzunähern«. 125 Die bloße ›Antizipation der Natur‹, das Universum sei in seiner Gesamtheit kausal geregelt, wird in eine Schritt für Schritt empirisch-experimentell an der Natur zu bewährende Hypothese übersetzt: »Anfangen aber muß man am Ende, und von da aus ist rückblickend alles Vorausliegende zu ergänzen.« (NO II, 10) Damit kann die ›Interpretation der Natur‹ zwar den von der Tradition noch vertretenen starken Wahrheitsanspruch nicht mehr für sich reklamieren. Indem sie jedoch ›Nutzen‹ und ›Werke‹ hervorbringt, ist die neue Wissenschaft der alten hinsichtlich der Praxis-Aspekte von menschlicher Erkenntnissteigerung, Umweltkontrolle, Selbsterhaltung und Wohlfahrtssteigerung, die in Bacons Programm kaskadenartig aufeinander aufbauen, gleichwohl überlegen: Vielleicht wird man auch einwenden: Ich hätte nicht das wahre und beste Ziel für die Wissenschaften aufgestellt […]. Denn die Betrachtung der Wahrheit sei doch weit würdevoller und erhabener als aller Nutzen und alle Größe von Werken; jenes so lange und eifrig betriebene Verweilen bei der Erfahrung […] fessele unseren Geist gleichsam an die Erde oder stürze ihn in eine Hölle voll Irrungen und Wirrungen, halte ihn fern […] von einem gleichsam viel gottähnlicheren Zustande. […] Die Menschen mögen dazu bedenken […], wie groß der Unterschied zwischen den Idolen des menschlichen Geistes und den Ideen des göttlichen Geistes ist. Jene sind nichts anderes als willkürliche Abstraktionen; diese aber sind die echten Siegel des Schöpfers an seinen Geschöpfen […]. Daher sind Wahrheit und Nutzen dieselben Dinge (ipsissimae res). Die Werke selbst sind höher einzuschätzen, weil sie Pfänder (pignora) der Wahrheit sind […]. (NO I, 124)

Die von Rapic an Bacon aufgewiesene wissenschaftliche Verabschiedung der Quid-juris?-Frage wirft nun aber auch ein neues Licht auf die Bacon’sche Inanspruchnahme von Offenbarungsgehalten. Wenn die durchgängige kausale Regelung der Natur als eine bloße Hypothese zu betrachten ist, die Wahrheitsfähigkeit der Induktion als des ›wahren Weges‹ durch praktische Umsetzung von Bacons Forschungsprogramm erst noch erprobt werden muss, wie kann er unter Berufung auf die Apokalypse Daniels dann zugleich behaupten, es sei »von der Vorsehung beschlossen, daß die Durchwanderung der Welt, die nach so vielen langen Seereisen so gut wie erreicht oder wenigstens schon nahe bevorzustehen scheint, und die Vertiefung der WisRapic: Erkenntnis und Sprachgebrauch. S. 158. Zur kantischen Unterscheidung zwischen Quaestiones juris und Quaestiones facti (KrV A 84 / B 116) s. o. Kap. I.2.b.

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senschaften in dasselbe Zeitalter fallen« (NO I, 93)? Selbst wenn man zugesteht, dass das Novum Organon als eine wissenschaftspolitische und nicht im engeren Sinne naturwissenschaftliche Schrift begriffen werden muss, manövriert Bacon seine Instauratio Magna doch in gefährliche Untiefen, sobald er Aussagen macht, die dem Positiv seiner neuen »Logik« für die Wissenschaften in direkter Weise zuwiderlaufen (NO I, S. 41). Die Verbindlichkeit von Offenbarungsgehalten ist in der Weise, wie sie eingeführt wird, nicht nur davon abhängig, dass Gott existiert, was empirisch-induktiv nicht bewährt werden kann. Indem Bacon sich auf das autoritativ gesprochene Wort eines Schöpfers beruft, beantwortet er zugleich die Quid-juris?-Frage nach der Berechtigung unserer Erkenntnisansprüche, die er wissenschaftlich doch ausgeschlossen wissen will, mit dem Hinweis auf eine göttlich zugesicherte Heilsgeschichte, die durch menschliches Handeln sicher ins Werk gesetzt werden könne. Ein solcher Erfolg des von Bacon vorgeschlagenen Projektes kann ja nur dann als ›gewiss‹ behauptet werden, wenn die durchgängige kausale der Regelung der Natur bereits als göttlich verbürgt betrachtet wird, da ansonsten die Induktion nicht zur vollständigen Erklärung der Natur führen würde und das apokalyptisch verheißene Ziel folglich ausbleiben könnte. Wenn eine wissenschaftliche Antwort auf Quid-juris?-Fragen ausgeschlossen ist und die letzte Berechtigung unserer Erkenntnisansprüche nicht bewiesen werden kann, wie kann Bacon dann behaupten, sein Fortschrittsprogramm werde mit Gewissheit in ein ›Goldenes Zeitalter‹ der Menschheitsgeschichte einmünden? Umgekehrt gefragt: Wenn »Vorsehung« (providentia) und »Schicksal« (fatum) den Gang der neuen Wissenschaft lenken (NO I, 93), weshalb sollte der Leser sich dann noch mit der Beschränkung auf Quid-facti?-Fragen zufriedengeben und sich unnötig vom bloßen Hypothesencharakter der neuen Wissenschaft beunruhigen lassen? Diese Fragen aufzuklären bildet den Zielpunkt des folgenden Abschnitts. Eine Antwort auf sie kann nur gegeben werden, indem die Instauratio Magna in ihrem wissenschafts- und gesellschaftspolitischen Gesamtzusammenhang betrachtet wird.

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3.

Religiöse Legitimation und methodisch kontrollierte Begründung der Wissenschaften? Die Metapher einer doppelten Lesbarkeit der Welt (Blumenberg) und die Argumentationsstruktur der Instauratio Magna

Welche herausragende Bedeutung Bacons Erwägungen zur Religion für ein Verständnis des Aufbaus seiner Schrift und die Form der Darstellung seiner Lehre einnimmt, deutete sich bereits bei der Analyse der Idolenlehre an, in der immer wieder theologische Betrachtungen ins Thema einrücken. Zur näheren Untersuchung der bereits von Krohn und Farrington betonten Relevanz von Bacons Überlegungen zur Textgestaltung kann an Arbeiten von Hans Blumenberg angeschlossen werden. Insbesondere hinsichtlich des Versuchs einer Vereinbarung von naturwissenschaftlichem Fortschritt und christlich-religiöser Überlieferung bietet seine ›Metaphorologie‹ erhellende Einsichten. Blumenberg hat wiederholt auf die zentrale Funktion hingewiesen, die in Bacons Werk Formen literarischen und religiössymbolischen Sprechens gerade dort zukommt, wo es um die Legitimation und Motivation naturwissenschaftlicher Forschung im Rahmen der Instauratio Magna als eines umfassenden Menschheitsunternehmens geht. 126 Wenn ihm tatsächlich daran gelegen war, seine Instauratio Magna gegenüber den bloßen »Nutznießern« (qua ›Laien‹) und gegenüber den »wahren Söhnen« der neuen Wissenschaft (qua wissenschaftliche ›Experten‹) gleichermaßen zu rechtfertigen, indem er zwei Ebenen der Argumentation miteinander verschränkt hat, wie es die hier vertretene Interpretationsthese behauptet, muss neben der wissenschaftlichen Ebene des Novum Organon eine zweite aufgewiesen werden, die als möglicher Träger einer wissenschaftsexoterischen Legitimation der Naturwissenschaften in Frage kommt. Diese muss zugleich geeignet sein, in der gesellschaftlichen Gegenwart Motivationspotenziale zur systematischen Nutzung von Forschungsergebnissen freizusetzen. Bacon muss es – mit Marx’ Brief an Ruge gesprochen – gelingen, nicht nur den ›Kämpfen‹ seiner Zeit gegen die Unbilden der äußeren und inneren Natur durch Ausarbeitung einer neuen Methodik, sondern durch ›Selbstverständigung‹ auch bestehenden ›Wünschen‹ seiner Zeitgenossen Rechnung zu tragen. 127 Genau eine solche Ebene als Aus126 127

LdN 447–456; LdW 86–91. Vgl. MEW 1, 346; s. o. S. 69 f.

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drucksform zeitgenössischer Wünsche stellt nun die Religion dar, von der Bacon sagt, dass sie »am meisten auf die Herzen der Menschen wirkt«. 128 Francis Bacon war ein juristisch geschulter Staatsmann, wobei auf der politisch dominierenden Linie Englands seit der Inthronisation Jakobs I. im Jahre 1603 die Lehre vom Gottesgnadentum Aktualität gewonnen hatte, der ein strenger Verfechter dieser Doktrin war. Die Vorstellung der religiösen Legitimation auch einer Kontrolle über die Natur gemäß diesem Paradigma musste unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Bacon sein Werk explizit an König Jakob I. als den »Vertheidiger des Glaubens« (»fidei defensori«) adressierte, also naheliegen (NO I, S. 9). Die Frage, wie ernst er es mit seinen religiösen Bezugnahmen gemeint, ob die historische Person Francis Bacon selbst ein religiöser Mensch gewesen oder diese Anknüpfungen ausschließlich zur politischen Verschleierung seiner tatsächlichen Absichten unternommen hat, soll in der vorliegenden Arbeit nicht näher erörtert werden. Der religiöse Zeitgeist und die strenge Zensur hätten ihn in jedem Falle gezwungen, seiner wissenschaftlichen Lehre ein Ideenkleid anzupassen, das sie vor dem Verdacht schützt, »gegen herrschende Moral, Religion und Politik« zu verstoßen. 129 Die Aufrichtigkeit seiner Glaubensbekenntnisse ist auf Basis der auf uns gekommenen Texte und Zeugnisse daher nicht mit abschließender Sicherheit zu beurteilen. Entscheidend für den Zusammenhang, um den es mir geht, ist eine andere Frage: diejenige nämlich, ob es Bacon gelungen ist, das Programm seiner Wissenschaftsbegründung methodisch kontrolliert von seinen theologischen Erwägungen getrennt zu halten und unabhängig von diesen zu entwickeln. Nur wenn das der Fall wäre, der Einsatz religiös-symbolischen Sprechens in Bezug auf die Wissenschaften selbst also einen rein äußerlichen Charakter hätte, könnte erstens festgestellt werden, Bacon argumentiere auf zwei verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Methoden. Zweitens aber könnte seine Begründung der Naturwissenschaften überhaupt nur dann auch

128 NO I, 89. Wie Andreas Pečar feststellt, waren zudem »im 16. und 17. Jahrhundert […] biblisch hergeleitete Argumente im politischen Diskurs Allgemeingut. […] Politik und Religion waren keine klar ausdifferenzierten Themenfelder, sondern waren in gegenseitiger Abhängigkeit ineinander verwoben.« Pečar: Macht der Schrift. S. 2 f. 129 Krohn: Bacon. S. 168. Vgl. auch Farrington: Philosopher of Industrial Science. S. 144 f.

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im säkularen Zeitalter noch eine gewisse Gültigkeit beanspruchen, wenn eine solche methodische Trennung gewährleistet wäre. Wenn Bacons naturwissenschaftliche Methodik selbst keinerlei Einflüssen aus der Theologie unterliegt, kann dann drittens aber auch der Punkt, ob der historische Francis Bacon ein gläubiger Mensch gewesen ist, offenbleiben. Es genügt dann festzustellen, dass er die religiöse Dogmatik in wissenschaftsimmanenter Hinsicht nicht für tauglich hielt, den Erfordernissen einer ›wahren‹ naturwissenschaftlichen Methodik zu genügen. Religiöse Legitimation und methodische Begründung der Wissenschaften liefen auf den analytisch voneinander getrennten Sprach- und Argumentationsebenen von ›nicht beweisbarem Glauben‹ und ›überprüfbarer Hypothese‹. Sind diese Voraussetzungen geklärt, ist die Frage zu stellen, ob Bacon sich durch den Einsatz einer derart gedoppelten Textstruktur tatsächlich auch an zwei voneinander unterscheidbare Rezipientenkreise richtet, von denen er nur den zweiten in der Lage wähnte, sein Programm einer Neubegründung der Wissenschaften aktiv umzusetzen und arbeitsteilig mitzugestalten. Es wird in einer das Kapitel abschließenden Metareflexion also zu klären sein, ob Bacon vielleicht nicht nur in der analytischen Dimension seiner Schriften zwischen Religion und Wissenschaft trennt, sondern auch in der Wirkungsdimension des Novum Organon eine doppelte Absicht verfolgt, nämlich eine exoterische, die auf ein breiteres Publikum zielt, und eine esoterische, die sich an einen im Zuge der Rezeption seines Werkes erst noch zu formierenden Kreis von wissenschaftlichen Experten richtet (Kap. II.4). Die im Folgenden in Unterabschnitten (a.–c.) zu beantwortenden Fragen lauten: a.) Auf welchem Wege versucht Bacon eine methodische Trennung zwischen Religion und Naturwissenschaften innerhalb einer einzigen Schrift zu gewährleisten? b.) Weshalb führt er die Religion im Novum Organon überhaupt ein? Welche Funktion erfüllen religiöse Bezugnahmen innerhalb einer Wissenschaftsbegründung? c.) Inwieweit sind Bacons Rekurse auf die Heilsgeschichte mit seinen Aussagen über den ›wahren Weg‹ der Wissenschaften tatsächlich vereinbar?

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a.) Bacons Metapher von den ›zwei Büchern‹ als ein Lektüreschlüssel der Instauratio Magna Schon der Titel des Bacon’schen Großprojektes trägt eschatologische Züge, die auf den ersten Blick mit modernen Vorstellungen einer seriösen Wissenschaftsbegründung nur schwer in Einklang zu bringen sind. Die Rede von einer »Instauratio« spielt an auf die Wiedereinsetzung des Menschen in die rechtmäßige Stellung seiner paradiesischen ›Herrschaft über die Natur‹ (Dominium terrae), wie sie in Genesis 1,28 als Gottes Auftrag an den Menschen formuliert ist: »Seid fruchtbar und vermehrt euch, bevölkert die Erde, unterwerft sie euch und herrscht über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels und über alle Tiere, die sich auf dem Land regen.« 130 Der Eindruck eines von Bacon betriebenen eschatologischen Programms wird durch einen Leitspruch im berühmten Frontispiz von 1620, das dem Betrachter ein Schiff zeigt, welches zwischen den Säulen des Herakles hindurchsegelnd nach langer Irrfahrt endlich festes Land sieht, sogar noch untermauert. Sowohl (1) auf die bildliche Darstellung selbst als auch (2) auf den beigefügten Leitspruch wird im Haupttext Bezug genommen: 1) Die Säulen des Herakles sollen, wie aus der Vorrede der Instauratio Magna hervorgeht, das doppelte Selbstmissverständnis des Menschen kennzeichnen, dass er weder seine bisherigen »Werke« (»opes«) noch die ihm verfügbaren »Kräfte« (»vires«) richtig zu beurteilen wisse (NO I, S. 13). Indem er seine »Werke« überschätze, seine »Kräfte« aber zu gering erachte, strebe er gar nicht danach, seine technischen Möglichkeiten (»Werke«) durch Ausbildung seiner wissenschaftlichen Fähigkeiten (»Kräfte«) zu befördern: »Daher haben auch die Wissenschaften gleichsam ihre Schicksalssäulen, über die hinauszukommen werden die Menschen weder durch Verlangen noch Hoffnung beflügelt.« (NO I, S. 13) Die nautische Motivik, derer sich Bacon im Frontispiz und durch den Einsatz der Symbolik von den Säulen des Herakles bedient, referiert auf die Entdeckungsreise des Kolumbus: »So machte es Kolumbus, bevor er seine berühmte Seereise durch den Atlantischen Ozean antrat. Er legte die Gründe dar, warum er überzeugt war, neue Länder und Erdteile außer den schon bekannten aufzufinden.« (NO I, 92) Erst die Entlarvung ideologischer Schranken, die darin bestehen, dass der Mensch ein ›falsches Be130

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wusstsein‹ von sich und seinen objektiv gegebenen Möglichkeiten zur Weltgestaltung besitzt, soll einen möglichen Fortschritt der Menschheit offenlegen und plausibilisieren. Die von Bacon gewählte Allegorie im Frontispiz ist bis zu diesem Punkt ohne Weiteres in die säkulare Sprache einer empirisch-induktiven Hypothese übersetzbar: Dass man es vor der Reise des Kolumbus für unwahrscheinlich gehalten hat, es könne noch unentdeckte Erdteile geben, bedeutete nicht, dass es tatsächlich keine gegeben hätte. Man befuhr lediglich keine neuen Seewege, um nach ihnen zu suchen. In analoger Weise sucht man zu Bacons Gegenwart nicht nach Fortschritten in Wissenschaft und Technik, weil man die Möglichkeit von solchen nicht in Betracht zieht. Da man sich bezüglich der Erdteile irrte, ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, dass man sich in Bezug auf die Möglichkeit von wissenschaftlichen und technischen Fortschritten auf anderen Gebieten, deren Unmöglichkeit ebenso wenig bewiesen ist, in ähnlicher Weise irrt. Das Beschreiten neuer Wege der Forschung könnte solche Fortschritte der Wissenschaften durchaus bereithalten. 2) Bacon hat dem symbolisch an die historisch-faktischen Umstände der Entdeckung Amerikas angelehnten Titelbild nun allerdings einen Leitspruch beigefügt, der im Ausdruck einer eschatologischen Hoffnung kaum deutlicher sprechen könnte: »Multi pertransibunt & augebitur scientia« (»Viele werden hindurchgehen & die Wissenschaft wird sich mehren« NO I, 1; Übers. NP). Es handelt sich um ein beinahe wörtliches Zitat aus der Apokalypse des Daniel, in der die Auferstehung der Toten und das Jüngste Gericht verkündet werden: »[…] plurimi pertransibunt, et multiplex erit scientia.« 131 In dieser »letzten Zeit« werde das von Daniel zu versiegelnde »Buch der Wahrheit« (»scriptura veritatis«), in dem die Gerechten verzeichnet sind, geöffnet. 132 Die Berufung auf biblische Offenbarungsgehalte sprengt nun merklich die Grenzen dessen, was sich noch ohne

131 Dan. 12,4: »Tu autem Daniel claude sermones, et signa librum usque ad tempus statutum: plurimi pertransibunt, et multiplex erit scientia.« (Herv. NP; Biblia Sacra Vulgata, https://www.bibelwissenschaft.de/online-bibeln/biblia-sacra-vulgata/lesen -im-bibeltext/; zuletzt abgerufen am 4. März 2019). Nach Die Bibel: Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung. Freiburg 1980 ff.: »Du, Daniel, halte diese Worte geheim und versiegle das Buch bis zur Zeit des Endes! Viele werden nachforschen und die Erkenntnis wird groß sein.« Vgl. außerdem Bacons eigene Auslegung in NO I, 93; Works VI, S. 32. 132 Vgl. Dan. 10,21.

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Schwierigkeiten in die säkulare Sprache einer empirisch-induktiven Hypothese übersetzen ließe. Die Existenz Gottes kann empirisch nicht überprüft werden, weshalb die Berufung auf sein vermeintlich autoritativ gesprochenes Wort unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten als fragwürdig gelten muss. Die Lehre vom Anfang und Ende aller Zeiten stellt ein religiöses Dogma dar, das nicht auf experimentell überprüfbaren Beobachtungen beruht und sich schon deshalb auf einer ganz anderen kategorialen Ebene bewegt als eine wissenschaftliche Hypothese. Die Berufung auf die Heilige Schrift trägt folglich nichts dazu bei, die aus dem Vergleich mit der Entdeckung Amerikas gestellte Prognose zu möglichen Fortschritten in Wissenschaft und Technik in empirisch-wissenschaftlicher Hinsicht noch zusätzlich zu untermauern. Im Gegenteil: Das eschatologisch verheißene glückliche Ende aller Zeiten erscheint in Bezug auf den materiellen Geschichtsverlauf als eine Antizipation, da auf Basis von naturwissenschaftlichen Beobachtungen nicht gefolgert werden kann, die Menschheitsgeschichte werde mit Gewissheit auf das in der Offenbarung prophezeite Ziel hinauslaufen. Das Programm einer empirisch gesicherten Wissenschaftsbegründung läuft hier folglich Gefahr, durch eine ganze Serie von Selbstwidersprüchen zwischen Bacons Ideologiekritik und seinen eigenen Darlegungen unterminiert zu werden. Indem die Texte von Genesis und Apokalypse die Fixsterne einer Navigation über die Säulen des Herakles hinaus zur Großen Erneuerung darbieten sollen, präsentiert sich das von Bacon vorgelegte wissenschaftsrevolutionäre Programm schon vor der ersten Textseite in Wort und Bild als die teleologisch gerichtete Kreisbewegung der erneuernden Rückkehr zu einer dogmatisch-religiös bezeugten Ursprungskonstellation. Er scheint eine regelrechte Radikalisierung des Gedankenguts der Renaissance betreiben zu wollen, indem er deren humanistisches Ziel einer Rückbesinnung auf verlorengegangene Gehalte der Antike auf den Zeitpunkt der Schöpfung zurückverlegt und es so ins Unüberbietbare steigert. Das im Ursprung der Geschichte verlorengegangene Paradies soll, in Entsprechung eines in der Genesis explizit formulierten göttlichen Auftrags und durch einen auf wissenschaftlichem Wege zu initiierenden Fortschritt, dessen Zielperspektive die Apokalypse vorgibt, in fernerer Zukunft technisch restituiert werden können. Blumenberg nennt dies die »Umdisponierung des biblischen Paradieses in eine Utopie des menschlichen Geschichtszieles« (LdN 451). 140

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Ein mögliches Panorama, wie dieses Menschheitsprogramm aussehen könnte, hat Bacon in seinem utopischen Fragment Nova Atlantis in den schillerndsten Farben ausgemalt. Die Utopie markiert indes nicht den finalen Endpunkt wissenschaftlicher Forschungsbemühungen, sondern umschreibt den glücklichen Gang, den die Entwicklung einer Gesellschaft annehmen könnte, die sich der im Novum Organon geforderten »Philosophie der Forschung« (Krohn) verschreibt. 133 Nova Atlantis enthält ausführliche Beschreibungen von Forschungslaboren und Erfindungen, die das Leben der Menschen im utopischen Staat Bensalem erleichtern (NA 43–54). Auch in der Ausgestaltung dieses fiktiven Staates hat Bacon Wert auf eine religiöse Legitimation von Herrschaft gelegt. Christliche Bezüge und Hinweise auf die Frömmigkeit der Bewohner des technisch weit fortgeschrittenen Bensalem ziehen sich durch das gesamte Fragment (vgl. NA 6 f.; 12; 15 etc.). Durch eine direkte göttliche Schenkung in ferner Vergangenheit verfügen die isoliert lebenden Insulaner über »die gesamten kanonischen Bücher des Alten und Neuen Testaments«, eingeschlossen »die Apokalypse und verschiedene andere Schiften aus dem Neuen Testament, die damals noch nicht bekannt«, d. h. zum Zeitpunkt der Schenkung nur im neuen Atlantis, in Europa aber noch nicht zugänglich waren (NA 18). Dass Bacon die Verfügbarkeit der Apokalypse eigens hervorhebt, ist ein Indiz für die Wichtigkeit speziell dieser, bereits im Frontispiz der Instauratio Magna zitierten Schrift für eine religiöse Legitimation und Motivation seines naturwissenschaftlichen Fortschrittsprogramms. Von der Identifikation seines Unternehmens mit dem in der Heiligen Schrift verheißenen Dominium terrae gibt zudem der Titel des Novum Organon ein Echo, wenn von Aphorismen über die Interpretation der Natur und die Herrschaft des Menschen (Aphorismi de interpretatione naturae et regno hominis) die Rede ist (NO I, S. 80 f.). Auch das Novum Organon ist mit seiner Anspielung auf das Dominium terrae schon in der Titelwahl – aber nicht nur in der Titelwahl, Bacon ruft dieses Leitmotiv wiederholt in Erinnerung – dazu gedacht, ein methodisches Instrumentarium an die Hand zu liefern, das eine Wiederermächtigung des Menschen über das ihm von Gott rechtmäßig zugedachte Reich der Natur gestattet (vgl. NO I, 89; 93; II, 52). Selbst in jenem seiner Werke also, in dem es primär um eine neue »Logik« für die Wissenschaften geht, verbindet er sein Un133

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ternehmen unmissverständlich mit der religiösen Verheißung eines ›Goldenen Zeitalters‹ der Menschheitsgeschichte. Da es ihm um die Etablierung einer streng empirisch-induktiven Methodik zu tun ist, erscheint es auf den ersten Blick ausgesprochen merkwürdig, dass er sich wiederholt Argumenten bedient, die sich auf die Autorität eines Gottes berufen, über den keine wissenschaftlich wahrheitsfähigen (d. h. an Handlungserfolg kontrollierbare) Aussagen getroffen werden können. Wie ist dieser Selbstwiderspruch Bacons, dass er im Zuge der Forderung bestimmter methodischer Standards zugleich – und offenbar systematisch – gegen dieselben Standards verstößt, zu erklären? Der von Blumenberg in Die Lesbarkeit der Welt identifizierte Lektüreschlüssel für diese Bezugnahmen auf die religiöse Überlieferung bildet die von Bacon zunächst in Valerius Terminus gewählte und im Novum Organon später erneut aufgegriffene Metapher zweier ›Bücher‹, deren jeweils verschiedene ›Lesbarkeiten‹ die Grundweisen bestimmen sollen, mittels derer sich das göttliche Geschöpf ›Mensch‹ die Ordnung der geschaffenen Welt, d. h. sein Verhältnis zu seinesgleichen und zur äußeren Natur, zugänglich zu machen vermag: […] denn, so sagt unser Heiland: Du gehst dann in die Irre, wenn du weder die Heilige Schrift noch die Macht Gottes kennst; damit legt er uns zwei Bücher vor, die es zu studieren gilt, wenn wir vor dem Irrtum sicher sein wollen; erstens die Heilige Schrift, die den Willen Gottes offenbart, und zweitens die Geschöpfe, die seine Macht zum Ausdruck bringen. Und das zweite Buch wird uns bezeugen, daß nichts, was das erste Buch lehrt, für unmöglich genommen werden darf. (VT 41; vgl. Works VI, 33) 134 […] für den, der die Sache richtig bedenkt, ist aber die Naturphilosophie, nächst dem Worte Gottes, die sicherste Medizin gegen den Aberglauben und ebensosehr der erprobteste Nährboden für den Glauben. Daher wird sie mit Recht der Religion als ihre treueste Dienerin beigesellt, da die eine den Willen Gottes, die andere seine Macht offenbart. Denn jener irrte sich nicht, der da sagte: ›Ihr irrt, da ihr die Schrift und die Macht Gottes nicht kennt.‹ Er mischte und verknüpfte durch ein besonderes Band die Offenbarung über den Willen und das Nachdenken über die Macht. (NO I, 89)

Dass der im Jahre 1603 durch einen Ritterschlag von Jakob I. politisch begünstigte und über die Interessen seines Herrschers wohl auch bestens informierte Francis Bacon noch im Jahr von dessen Inthronisie134

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Vgl. NO I, 89.

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rung erstmals zu dieser Metapher griff, ist wohl kaum ein Zufall. Jakob I. war ein strenger Gegner der populären Genfer Bibel, da sie seinen Überzeugungen von der Gültigkeit des Gottesgnadentums zuwiderlief. Bereits ein Jahr später sollte er in einer Synode am Hampton Court Palace zu einer neuen Bibelübersetzung anregen, deren Ergebnis wir heute als King-James-Bibel kennen. 135 Der Tenor von Bacons Metaphernverwendung übermittelt vor diesem politischen Hintergrund eine klare Botschaft: Derselbe König, der das Interesse an einer neuen Ausgabe der Schriften von Gottes ›Willen‹ verfolgt, soll auch für Bacons Anliegen, die bessere Lesbarkeit des Buches von Gottes ›Werken‹ zu gewährleisten, politisch Rechnung tragen. Bacons Metapher von den zwei Büchern, deren erstes den göttlichen ›Willen‹ offenbart, während das zweite aber seine ›Macht‹ bezeugt, setzt die Heilige Schrift und die Natur – bzw. die ›rechtverstandene Religion‹ als die Lehre von ersterer und die ›wahre Naturwissenschaft‹ als die Lehre von der letzteren – in ein durch ihre gemeinsame göttliche Urheberschaft verbürgtes Ergänzungsverhältnis. Die gedoppelte Weise des Weltverständnisses, die Gott dem Menschen als seiner Kreatur zum Wissenserwerb ermöglicht haben soll, besteht einerseits in seinem ›Wort‹, das der Mensch im wahrsten Sinne ›buchstäblich‹ in der Bibel nachzulesen vermag. Andererseits in seinem ›Werk‹, der Natur, die als Ausdruck göttlicher Macht und Werktätigkeit dem Menschen sinnlich wahrnehmbar – und in diesem übertragenen Sinne interpretatorisch ›lesbar‹ – vor Augen steht. Der Mensch, so Bacon im Advancement of Learning (1605), möge eine unaufhörliche Vermehrung seiner Kenntnisse von beiden anstreben: To conclude therefore, let no man […] think or maintain that a man can search too far or be too well studied in the book of God’s word or in the

Zur Datierung der Handschrift des Valerius Terminus vgl. Franz Träger: »Einige Bemerkungen zum Text und zur Übersetzung«. In: VT, S. 24–27, hier S. 24. Die Datumsangabe basiert auf Annahmen von Spedding und Ellis, den Herausgebern der englischen Werkausgabe von Bacons Schriften. Die Entstehung datiert auf jeden Fall vor Advancement of Learning (1605), vgl. ebd. Wann auch immer in diesem Zeitraum zwischen 1603 und 1605 der Valerius Terminus genau entstanden sein mag, kann jedenfalls davon ausgegangen werden, dass Bacon schon vor der zusätzlichen Inthronisierung Jakobs VI. von Schottland zum König Jakob I. von England und Irland sehr genau über die gesellschafts- und religionspolitischen Interessen seines künftigen Regenten Bescheid wusste.

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book of God’s works; […] but rather let men endeavour an endless progress or proficience in both […]. (»Advancement of Learning«; Works VI, S. 97)

Dieses im Kern theologische, symbolisch in der Metapher zweier Bücher veranschaulichte Verhältnis zwischen den ›Worten‹ und den ›Werken‹ Gottes lässt sich anhand der über Bacons Schriften verstreuten Äußerungen zum Verhältnis zwischen Naturwissenschaft und Religion näher erläutern. Zunächst ist zu betonen, dass Bacon sich, – wie aus seinen von 1597–1625 immer wieder erweitert und revidiert herausgegebenen Essays deutlich wird – als ein strenger Gegner jeden Wunder- und Aberglaubens verstanden wissen wollte: »Ich könnte eher alle Märchen der Heiligenlegende, des Talmud und des Koran glauben, als daß das Weltall unbeseelt sei. Gott hat deshalb auch keine Wunder bewirkt, weil seine Werke in der Natur dazu schon hinreichen.« 136 Sogar den Atheismus schätzt er dort deshalb noch höher ein als naturgesetzwidrigen Wunderglauben, weil selbst gar kein Gottesbegriff noch besser sei als ein falscher: Es wäre weit besser, überhaupt keine Vorstellung von Gott zu haben als eine, die seiner unwürdig ist. […] Dem Atheisten bleiben noch Verstand, Philosophie, natürliches Gefühl, Recht und Achtung auf den guten Namen, welche allesamt als Führer zu einem äußerlich sittlichen Lebenswandel dienen können, wenn auch die Religion fehlt. Der Aberglaube aber bringt sie alle zum Schweigen und beherrscht allein und unumschränkt die menschlichen Gemüter. Deshalb hat der Atheismus auch niemals Unruhen in Staaten zuwege gebracht, denn er macht den Menschen auf sich selbst bedacht, weil er nicht über sich hinaussieht. 137

Der von Bacon im Valerius Terminus umschriebene göttliche Auftrag darf demzufolge nicht so begriffen werden, als wären etwa die Grundsätze der Naturwissenschaft in direkter Weise dem Glauben zu entlehnen. Im Gegenteil ist genau dies die schiefe Auffassung einer Erübrigung der Erforschung von Gottes Werk durch Beruhigung bei seinem Wort, die als eine in der Naturwissenschaft unzulässige »Antizipation der Natur« bekämpft wird (NO I, 26). Bacons Position zu dieser Frage ist auch in der Idolenlehre unmissverständlich: »Das Unheil durch Aberglauben und die Beimischung der Theologie ist in der Philosophie weit verbreitet, die im allgemeinen und im einzelnen da136 137

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Francis Bacon: Essays. S. 53. Ebd., S. 57 f.

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durch stark geschädigt wird.« (NO I, 65) Jedes der beiden Bücher stellt je für sich eine unabhängig geregelte Einheit dar. Dem Atheisten mag nun zwar das Buch von Gottes ›Worten‹ verschlossen bleiben, gegenüber dem Abergläubischen ist er jedoch trotzdem noch höher zu schätzen, da er nicht den in der menschlichen Natur in Gestalt der Idole des Stammes angelegten Versuchung erlegen ist, die Inhalte der Bücher nach eigenem Gutdünken zu vermischen (vgl. NO I, S. 49; I, 65). Unter umgekehrten Vorzeichen argumentiert Bacon im Novum Organon auch, Aristoteles sei härter zu tadeln als die Scholastiker, da er Spekulation und Empirie vermischt habe, während jene der Erfahrung, also dem Studium des ›Buchs der Natur‹, wenigstens ganz entsagt, sich also keiner Vermischung der ›Quelltexte‹ schuldig gemacht hätten (vgl. NO I, 63). Weiterhin ist es wichtig hervorzuheben, dass die Metapher von den beiden Büchern nicht so verstanden werden soll, als offenbare Gott sich dem Menschen in disparater oder unergründlich rätselhafter Weise. Wie schon aus der Metapher von den ›Schicksalssäulen der Wissenschaft‹ in der Vorrede zur Instauratio Magna erhellt, ist es für Bacon »nicht mehr der verborgene und unbegreiflich souveräne Gott der Natur, der dem Menschen Einblick und Eingriff in die Natur verwehrt, sondern die geschichtliche Trägheit des Menschen selbst, der […] sich vorzeitig mit einem Glauben an seine Begünstigung durch die Natur den Weg des Fortschritts versperrt« (LdN 448). Die Mängel der Wissenschaft seiner Zeit führt er nicht auf eine prinzipielle Unerkennbarkeit der Schöpfung zurück, sondern auf ein in der bisherigen Geschichte begangenes, moralisch kritikwürdiges Versäumnis bei der Erbringung eines dem Menschen von Gott abverlangten ›Lektüreaufwands‹. Der Mensch ist zwar per »unmittelbarer Anschauung« nicht fähig, »bejahende Fälle« von Naturgesetzlichkeit aufzustellen, wie es »Gott […] oder vielleicht den Engeln und anderen höheren Wesen« vorbehalten ist (NO II, 15). Er kann jedoch »nach gänzlichem Ausschluß alles Abwegigen zu einer Bejahung gelangen.« (Ebd.) Da Bacon den Lektürerückstand dergestalt für aufholbar erklärt, muss es ihm in seiner Unterscheidung zweier Bücher primär um eine bis dato unbeachtete Grenze innerhalb des menschlichen Erkenntnisvermögens bzw. um eine ›Kritik‹ im Sinne einer Unterscheidung kategorial verschiedener Weisen der Weltbetrachtung gehen, die es zu beachten gilt, nicht um einen grundsätzlichen Obskurantismus im Verhältnis zwischen Gott und Geschöpf.

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Die kategoriale Differenz der beiden Bücher, die hier geltend gemacht wird, und die nicht recht beachtet zu haben den Kardinalfehler der bisherigen Wissenschaften ausmachen soll, wird deutlich, wenn man die jeweils zugrunde gelegten Begriffe von Kausalität näher betrachtet. Bacon betont im zweiten Buch des Novum Organon, in Anlehnung an die aristotelische Lehre von den vier Ursachen, dass finalkausale Aussagen »nur für das menschliche Handeln« Geltung beanspruchen dürfen, für die Wissenschaften aber »geradezu schädlich« seien: »In der Natur nämlich existiert nichts wahrhaft außer den einzelnen Körpern mit ihrer besonderen reinen, gesetzmäßig hervorgebrachten Wirksamkeit« (NO II, 2). Die irrtümliche Anwendung der Finalität auf Naturvorgänge gehört gemäß der Idolenlehre zu den Idolen des Stammes (Idola Tribus), die dem Menschen angeboren sind (vgl. NO I, 48). Sie wirkt sich jedoch auch auf jene kulturbedingten Idole des Theaters aus, in denen von »Endzwecken (causas finales) und ersten Ursachen (causas primas)« die Rede ist (NO I, 65). Wie Krohn bemerkt, finden sich im Novum Organon ansonsten allerdings keine konkreten Aussagen, die diese kurzen Hinweise noch näher erläuterten. Zur Klärung von Bacons Verständnis der Ursachenlehre zieht er daher die Schrift De augmentis hinzu. 138 Dort nämlich kritisiert er Platon, Aristoteles und Galen dafür, ihr Vertrauen in die Finalursachen habe sie von der Erforschung der physikalischen Ursachen abgehalten. Für ihn gehört die Lehre von den Finalursachen in den Bereich der Metaphysik, nicht der Physik. 139 Die genannten Autoren jedoch hätten sie fälschlicherweise der Physik zugerechnet und sich so der notwendigen Untersuchung derjenigen Ursachen entledigt, die tatsächlich und in Wahrheit physikalisch seien: The second part of Metaphysics is the inquiry of Final Causes, which I report not as omitted but as misplaced. For they are generally sought for in Physic, and not in Metaphysic. And yet if it were but a fault in order I should not think so much of it; for order is matter of illustration, but pertains not to the substance of sciences. But this misplacing has caused a notable deficience, and been a great misfortune to philosophy. For the handling of final causes in physics has driven away and overthrown the diligent inquiry of physical Vgl. Krohn: Bacon. S. 131. Bacon zählte auch die Metaphysik in ihrem ersten Teil zur Naturwissenschaft, sofern sie mit ›Formursachen‹ beschäftigt sei. Seine Einteilung in De augmentis ist höchst eigenwillig. Für den vorliegenden Zusammenhang genügt es jedoch hervorzuheben, dass jedenfalls die Erforschung der ›Finalursachen‹, als dem zweiten Teil der Metaphysik zugehörig, für Bacon in den Naturwissenschaften keinen Platz hat. 138 139

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causes, and made man stay upon these specious and shadowy causes, without actively pressing the inquiry of those which are really and truly physical; to the great arrest and prejudice of science. (Works VIII, 508 f.)

Bacons Diagnose eines »erheblichen Defizits« (»notable deficience«) in der bisherigen Wissenschaftsmethodik, das sich zur »großen Fessel« (»great arrest«) und zum »Vorurteil in den Wissenschaften« (»prejudice of science«) ausgewachsen habe, lässt sich zu seiner Verwendung der Metapher von den ›Schicksalssäulen‹ in der Vorrede zur Instauratio Magna in Beziehung setzen. Der Kategorienfehler einer Anwendung der Finalkausalität auf Naturvorgänge hat es bisher nicht nur verhindert, dass man Kenntnis von physikalischen Ursachen hätte erlangen können, dieser Fehler hat sogar dazu geführt, dass man nicht einmal das »Verlangen« verspürt hat, Forschungsbemühungen in dieser Richtung anzustellen, geschweige denn, dass sich die »Hoffnung« hätte regen können, sie könnten in irgendeiner Weise von Nutzen sein; – man wähnte sich ja bereits im Besitz ewiger und letzter Wahrheiten. Insofern der Mensch seine »Werke« unter Stützung auf finalkausale Aussagen dergestalt zu hoch schätzt, seine tatsächlichen »Kräfte« in der kausalen Erklärung von Beobachtungen jedoch zu gering erachtet, haben die Wissenschaften ihre ›Schicksalssäulen‹ in der menschlichen Selbstberuhigung bei einer falschen Prämisse der Naturbetrachtung. Die in den Idolen der Gattung begründete anthropozentrische Neigung zum falschen Glauben, die Natur sei dem menschlichen Sinnesapparat in analoger Weise direkt anschaulich ›offenbart‹, wie die Heilige Schrift ihm als das von Gott autoritativ gesprochene Wort lesbar vor Augen liegt, habe – so könnte man Bacon mit Marx und Engels paraphrasieren – bisher als eine ideologische ›Fessel‹ der tatsächlich möglichen, wissenschaftlichen Produktivkraftentfaltung gewirkt. 140 Als Beispiele kritikwürdiger Aussagen führt Bacon Sätze der Art »Die Blätter schlagen aus, um die Früchte vor Sonne und Wind zu schützen« oder »Wolken entstehen in der Höhe, um die Erde mit Regen zu versorgen« an. 141 Setzt man diese Kritik mit der im Novum Organon aufgestellten These in Beziehung, in der Natur existiere »nichts außer den einzelnen Körpern mit ihrer besonderen reinen, gesetzmäßig hervorgebrachten Wirksamkeit«, dann lässt sich seine Ablehnung von Aussagen, die Naturvorgängen eine Finalität zu140 141

Vgl. MEW 3, 71 f.; 13, 9. Krohn: Bacon. S. 131.

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schreiben, so verstehen, dass keine Beobachtung es rechtfertigen kann, in solchen Prozessen eine bewusste Absicht erkennen zu wollen, während zugleich kein Wissen um die Absicht eines Schöpfers es vermag, die Kausalität von Naturvorgängen zu erklären (NO II, 2). Der Dualismus zwischen metaphysischen, in der Natur nicht beobachtbaren Ursachen, sofern sie final sind und in einem ›Willen‹ gründen, und physikalischen Ursachen, die naturgesetzlich am ›Werk‹ sind und sich aus Einzelbeobachtungen erschließen lassen, lässt sich so direkt der Unterscheidung zweier Bücher zuordnen: Während die Offenbarung von Gottes Absichten handelt und finalkausal zum Ende der Geschichte einen paradiesischen Zustand in Aussicht stellt, handelt das Buch der Natur von Ursache-WirkungBeziehungen, die unabhängig von Gottes Willensbekundung naturgesetzmäßige Gültigkeit beanspruchen und nicht auf diese reduziert werden können. Die subjektiv-absichtsvolle Institutionalisierung einer Funktion und die objektiv-mechanische Realisation einer Funktionsweise sind für Bacon also zwei voneinander getrennt zu behandelnde Fragen, die sich ggf. zwar ergänzen, insofern nämlich die Kenntnis einer Absicht heuristisch einen Orientierungshorizont bei der Ermittlung der zu ihrer Realisierung erforderlichen Kausalbedingungen abgeben kann, die jedoch nicht verlustfrei ineinander überführt werden können. Wie Krohn feststellt, geben finalkausale Aussagen »Antworten auf Absichten (intentiones), lassen aber offen, wie diese in der Natur objektiv realisiert werden (ihre consecutio). Bacon glaubte also an Finalursachen, sie sind letztlich die Absichten Gottes.« 142 Die Frage ausgeklammert, ob der historische Francis Bacon tatsächlich an das Offenbarungswort geglaubt hat, die Natur sei ihrem Endzweck gemäß finalkausaler Ausdruck eines göttlichen Willens zum Zeitpunkt der Schöpfung, ist mit Krohn festzuhalten, dass für ihn jedenfalls »die beiden Kausalformen auf begrifflich unabhängigen analytischen Ebenen angesiedelt sind.« 143 Die Identität Gottes als des Verfassers beider Schriften soll als Aufforderung an den Menschen begriffen werden, die beiden Bücher miteinander in Einklang zu bringen. Nichts, was die Bibel von Gottes Absichten lehre, soll in der Natur als kausal unmöglich vorgestellt werden, d. h. die prinzipielle Vereinbarkeit der komplementären In-

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halte beider Bücher ist durch Gott, der in Werk und Willen als Einheit gedacht werden muss, gesichert. Gott wird so zur erklärten Bedingung der Möglichkeit des dem Menschen in beiden Büchern jeweils exegetisch zugänglichen Weltgehalts. Wenn er also im Buch der Offenbarung zum Ende aller Zeiten finalkausal die Wiederkehr eines paradiesischen Zustandes verheißt, so muss die Vorstellung eines solchen auch mit dem Buch der Natur und den diesem zu entnehmenden Gesetzen verträglich sein. Dass der Mensch diese Vereinbarkeit noch nicht einzusehen vermag, ist – um im Bilde zu bleiben – auf mangelnde ›Textkenntnis‹ zurückzuführen und verleiht, ergänzend zum in der Genesis ausdrücklich formulierten göttlichen Auftrag, der behaupteten Lektüresituation den Charakter einer moralisch verbindlichen Aufforderung zur progressiv auf die Zukunft gerichteten Erkenntnissteigerung durch fortgesetzte Exegese des ›Buches der Natur‹. Den beiden Büchern mit den ihnen jeweils zugehörigen Kausalformen lassen sich nun aber auch die unterschiedlichen Verfahren zuordnen, die im Novum Organon vorgesehen sind. Dem ›Buch der Natur‹ die ›Interpretation‹ (a), dem ›Buch der Offenbarung‹ die ›Antizipation des Geistes‹ (b): a) Das naturkausal verfasste ›Buch der Natur‹ muss auf dem Wege der empirisch-induktiven »Interpretation« gelesen werden, da der vermeintlichen »Autorität der Sinneswahrnehmung« nicht getraut werden darf, weshalb eine »Antizipation der Natur« unmöglich zu wahren und nützlichen Erkenntnissen über natürliche Kausalverhältnisse führen kann (NO I, 26; 37). b) Dem ›Buch der Offenbarung‹ dagegen ist mit Glauben und Vertrauen zu begegnen, da Gottes gütige Menschheitsabsichten nicht – ja nicht einmal seine Existenz – empirisch-induktiv zu belegen sind, womit ein Verfahren der ›Interpretation‹ hier ausgeschlossen ist. Das heißt aber, der Mensch muss sich gewissermaßen freiwillig »durch Worte« von Gott als seinem Gegenüber »besiegen« lassen, um der biblischen Einsichten über Ziel und Endzweck der Menschheit teilhaftig zu werden (vgl. NO I, 77). Bacon fordert diese Form der demütigen Unterwerfung ausdrücklich, indem er sagt, die »ehrgeizige und herrschsüchtige Begierde nach moralischem Wissen, das über Gutes und Böses entscheidet« sei die Ursache des Sündenfalls gewesen, weshalb man sich in moralischen Fragen nur an die Offenbarung halten solle (NO I, S. 33). Der Mensch (d. h. insbes. Bacons Leser) soll sich Gottes Autorität blind und auf bloßes Vertrauen hin, d. h. in einer reinen »Antizipation des Geistes«, unterwerfen, um eine ›Gewissheit‹ Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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zu erlangen, die ihm die Naturwissenschaft nicht bieten kann (NO I, 26). Weiterhin lässt sich den beiden Büchern dann aber auch eine Doppelung der Perspektiven zuordnen, die Gott dem Menschen zu einem möglichen Weltverständnis eröffnet hat: Während das ›Buch der Offenbarung‹ (b5) die teilnehmerperspektivische (b2) Erörterung der ethischen Fragen, was der Mensch tun sollte und dann auch berechtigterweise hoffen dürfe, zum Gegenstand hat, enthält das ›Buch der Natur‹ (a5) die Mittel zur beobachterperspektivischen (a2) Beantwortung der Frage, was in der Welt, die Gott als naturkausalen Tatsachenzusammenhang geschaffen hat, physikalisch der Fall und damit dem menschlichen Handeln überhaupt zugänglich ist. 144 Das heißt aber: Antworten auf ethische Fragen werden als unwissenschaftliche Fragen überhaupt in den Bereich der Religion (d. h. des bloßen Glaubens) verwiesen und dort für bereits beantwortet erklärt. Es stellt sich nun allerdings die Frage, weshalb Bacon überhaupt einen solchen Aufwand betreibt, um religiöse Erwägungen in eine Schrift zur Erneuerung der Wissenschaften einzuflechten. Was leisten die Metapher von den ›zwei Büchern‹ und die Bezugnahmen auf die Religion für Bacons Wissenschaftsbegründung, dass er sie für zu wichtig hielt, um auf sie verzichten zu wollen?

b.) Die legitimatorische Funktion der Religion für Bacons wissenschaftliches Programm Was in den Essays – und unter den fiktionsbedingt eingeschränkten Bedingungen auch noch in Nova Atlantis – als ein frommes Plädoyer für die rechtverstandene Religion auftritt, das um jeden Preis eine Erniedrigung der Gottheit auszuschließen sucht, indem betont wird, Gott könne sich in Willen und Werk nirgends selbst widersprechen, ohne seinem Begriff zu widerstreiten, entwickelt im Gesamtzusammenhang von Bacons Schriften eine kaum zu überschätzende politisch-legitimatorische Funktion.

144 Die hier in Anschlag gebrachten Unterscheidungen wurden im ersten Kapitel entwickelt (s. o. S. 60–81). Bacons Verabschiedung von Quaestiones juris habe ich, im Anschluss an Rapic, bei der Erörterung des Bacon’schen Methodenbegriffs näher erläutert (s. o. S. 132–134; vgl. auch Rapic: Erkenntnis und Sprachgebrauch. S. 139– 159).

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Das Argument, Gottes ›Wort‹ und Gottes ›Werk‹ seien gleichsam nur als zwei widerspruchslos miteinander vereinbare Seiten derselben Medaille aufzufassen, stellt der von Bacon geforderten Bemühung um wahre Naturerkenntnis die Generallizenz aus, dass – welches Wissen der Mensch auf diesem wissenschaftlichen Wege auch immer von Naturzusammenhängen erlangen und zur Mehrung seiner Macht durch eigene Werke nutzen möge – dieses Wissen per definitionem zugleich legitimiertes Wissen sein muss, das unmöglich zum göttlichen Willen in Widerspruch stehen kann, da Gott selbst den Menschen nicht nur so geschaffen haben muss, dass er zum Erwerb solchen Wissens fähig ist, sondern in der Bibel sogar ausdrücklich seinen ›Willen‹ äußert, der Mensch möge sich jede Macht über die Natur zu eigen machen, zu der er fähig ist. Das ›Buch der Offenbarung‹ fordert selbst zur Lektüre des ›Buchs der Natur‹ auf. Dies stellt Hans Blumenberg als das entscheidende Legitimationsgefüge der Bacon’schen Instauratio Magna, in die sich das Novum Organon einfügt, fest: Die Metapher trägt die Legitimation der Naturwissenschaft als das ausdrücklich erklärte Interesse der Religion an der Erweiterung des Wissens von der Natur. Indem das eine Buch alles zusammenfaßt, was den Gehorsam und die Unterwerfung des Menschen erfordert, umfaßt das andere alles, was umgekehrt der Unterwerfung durch den Menschen zugänglich ist. Die Funktion der Metapher der ›beiden Bücher‹ bei Bacon läßt sich auch als Vermeidung der Rivalität des Menschen mit Gott bestimmen (LdW 88).

Das ›Buch der Offenbarung‹ bietet so allerdings nur die äußerliche Gewähr, dass die vom Menschen an der Natur vollbrachten Werke im Prinzip ›gewollt‹ sind und als solche »nicht zerstörerisch in die Werke Gottes eingreifen« können (LdW 90). Damit ist zwar ein Freibrief ausgestellt, der jede Form von Erkenntnisgewinn und durch ihn ermöglichte Technologie gegenüber dem göttlichen Willen legitimiert. Eine ›Hybris‹ des Menschen im Umgang mit der Natur kann es laut Bacon gar nicht geben, da Gott den Menschen gerade dazu bestimmt hat, tätig in sie einzugreifen, soweit die Mittel, die er ihm dazu an die Hand gegeben hat, es zulassen: Andere befürchten in ihrer Einfalt, daß eine tiefere Erforschung der Natur über die erlaubte Grenze gebotener Mäßigung hinausginge. Sie beziehen fälschlich das, was in der Bibel über die göttlichen Mysterien gegen diejenigen gesagt wird, die sich der göttlichen Geheimnisse bemächtigen wollen, auf das Verborgene der Natur. Das aber untersteht keinem Verbot. (NO I, 89) Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Welche Mittel es allerdings sind, mit denen der Mensch sich die Erde soll untertan machen können, lässt sich dem Buch der Offenbarung nicht mehr entnehmen. Hierzu ist die Lektüre des anderen Buches, des ›Buches der Natur‹, also Naturwissenschaft gemäß den im Novum Organon festgelegten wissenschaftlichen Standards erforderlich. Was Bacon mit der Doppelung zweier Welttexte erreicht, ist mehr als eine bloß äußerliche Absicherung seines wissenschaftlichen Programms gegen Atheismusvorwürfe. Er enthebt sein Wissenschaftsprojekt nicht nur der Konkurrenz zu Religion und Bibelexegese, indem er geltend macht, es handle sich hier um die Auslegung eines kategorial ganz anders zu rubrizierenden Weltbuches vom selben Verfasser. Er identifiziert dieses Projekt sogar mit einem göttlichen Auftrag, der in der Heiligen Schrift selbst formuliert sein soll. Dies gestattet es ihm, die auf ein Jenseits eingestellte christliche Eschatologie mit einem konkreten teilnehmerperspektivischen Handlungsappell zur Forcierung naturwissenschaftlicher Anstrengungen im Diesseits seiner eigenen Gegenwart zu verbinden: Denn der Mensch hat durch seinen Fall den Stand der Unschuld und die Herrschaft über die Geschöpfe verloren. Beides aber kann bereits in diesem Leben einigermaßen wiedergewonnen werden, die Unschuld durch Religion und Glauben, die Herrschaft durch Künste und Wissenschaften. Denn die Schöpfung ist durch den Fluch nicht gänzlich und bis ins Mark hinein widerspenstig gemacht worden. Sondern Kraft jenes Machtspruches »Im Schweiße Deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen« wird sie durch mancherlei Arbeit – gewiß nicht durch Disputationen oder nutzlose magische Formeln – dahin gebracht, schließlich und einigermaßen dem Menschen sein Brot zu gewähren, das heißt, den Zwecken seines Lebens zu dienen. (NO II, 52)

Der Eintritt des Goldenen Zeitalters soll, wie an diesem letzten Satz des Novum Organon deutlich wird, für den Rezipienten von Bacons Werk nicht einzig eine Frage der kontemplativen Frömmigkeit in der eigenen Lebensführung sein, sondern ist gebunden an und abhängig von menschlicher Aktivität zum Wohle der Menschheit überhaupt – von einer »Scientia Activa« (NO I, S. 36). Die vorhandene Natur soll durch menschliche Tätigkeit so umgestaltet werden, dass sie dem von Gott verheißenen Paradies progressiv immer ähnlicher wird, wie Blumenberg herausstellt:

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Das Buch der Worte Gottes und das Buch der Werke Gottes – diese Dualisierung ist für Bacon nicht mehr strikt symmetrisch. Die Worte werden zwar in einem festen und nicht zu erweiternden Bestand verwahrt, seine Werke jedoch […] werden ständig fortgeführt, indem eines dieser Werke, der Mensch, seinerseits zum Werksetzen installiert und legitimiert ist. (LdW 89) So ist die Folge der Anreicherungsfähigkeit des Welttextes durch den Menschen bei Bacon, daß das ›Buch der Natur‹ nicht einfachhin Machtausdruck bleibt, sondern sich im Maße der Selbstermächtigung des Menschen in deren Manifest verwandelt, letztlich zum Buch seiner Geschichte wird. Die Natur tritt zurück hinter dem, was eines ihrer Wesen hervorbringt; es ist darauf angelegt, daß sie dahinter verschwindet. (LdW 91)

Natur- und Heilsgeschichte sollen letztlich in einer geordneten »Geschichte der Natur und der Erfahrung« insofern zusammengehen, als der Mensch zur Beförderung seiner eigenen Wohlfahrt einen göttlichen Auftrag ausführt, indem er die Naturgeschichte und die Geschichte seiner an der Natur vollzogenen Lern- und Bearbeitungsprozesse aktiv fortschreibt; also diese Geschichte selbst macht (NO I, 130). Die Naturgeschichte, die bisher Geschichte der »ungebundenen Natur (wenn sie ihrem eigenen Lauf überlassen ist und ihr Werk vollbringt)« gewesen sei, soll um »eine Geschichte der gebundenen und bezwungenen Natur, d. h. wenn sie durch die Kunst und die Tätigkeit des Menschen aus ihrem Zustand gedrängt, gepreßt und geformt wird«, erweitert werden (NO I, S. 55). Der Umstand, dass Bacon sein eigenes Wissenschaftsprogramm mit einem göttlichen Auftrag identifiziert, verleiht nun aber im Umkehrschluss den von ihm kritisierten Irrtümern der Vergangenheit und konkurrierender wissenschaftlicher Positionen den Charakter auch moralisch kritikwürdiger Verfehlungen. Was an der bisherigen Wissenschaftsentwicklung aus naturwissenschaftlicher Sicht als ein Kategorienfehler der irrtümlichen Applikation finalkausaler Aussagen auf Naturverhältnisse identifiziert werden kann, erscheint unter religiösen Gesichtspunkten als ein Verstoß gegen göttliche Gebote. Die Idola Theatri, also die »verschiedenen dogmatischen Behauptungen philosophischer Lehrmeinungen« (NO I, 44), die sich diesen Verstoß haben zu Schulden kommen lassen, subsumiert Bacon unter dem Sammelbegriff »Sekten« (»sectis«; NO I, S. 49; I, 61). Der Begriff »secta« war zu Bacons Zeit noch ambivalent konnotiert und konnte sowohl im ursprünglich wertfreien Sinne einer philosophischen Lehrmeinung verstanden werden, wie auch in pejorativer VerZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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wendung eine vom christlich-religiös »wahren« Weg abweichende Irrlehre bezeichnen. 145 Diese Ambivalenz macht Bacon sich zunutze, indem er die überkommenen philosophischen Überzeugungssysteme einerseits sachlich für einen unangemessenen Umgang mit der Empirie kritisiert, ihnen dabei andererseits aber zugleich eine aus Selbstmissverständnissen geborene, heterodoxe Auslegung der Offenbarung zur Last legt, die darin besteht, dass sie sich des göttlichen Gebots, »›Im Schweiße deines Angesichts sollst Du Dein Brot essen‹«, durch »Disputationen oder nutzlose magische Formeln« entledigt hätten (NO II, 52). In der Idolenlehre unterscheidet er zwar drei unterschiedliche Klassen solcher Sekten, die Vertreter derselben kommen jedoch letztlich alle darin überein, keine »treuen Priester der Sinne« bzw. der Natur keine geschickten »Dolmetscher ihrer Orakel« zu sein (NO I, S. 49). Bacon bezieht aus dem von ihm selbst festgestellten Perspektivendualismus von ›Buch der Offenbarung‹ und ›Buch der Natur‹ also nicht nur die Legitimation für sein eigenes wissenschaftliches Programm, er verwendet diese Unterscheidung von Weisen der Weltbetrachtung zugleich als Basis für einen ideologiekritischen Angriff auf althergebrachte und zeitgenössische Überzeugungssysteme. Indem man bisher – so der Tenor – entweder dem ›Werk‹ Gottes, der Natur, keine angemessene Würdigung habe zuteilwerden lassen oder sogar einer »ungesunden Vermischung des Göttlichen und Menschlichen« verfallen sei, sei man nicht nur wissenschaftlich auf Abwege geraten, sondern habe zugleich gegen die gebotene Autorität von Gottes ›Wort‹ in Fragen einer sittlichen Lebensführung verstoßen (NO I, 65). Diese Kritik an konkurrierenden Positionen ist es letztlich, die es Bacon gestattet, sein eigenes Programm als eines der therapeutischen »Sühnung und Reinigung des Geistes« anzubieten (NO I, 69). Damit ist angezeigt, weshalb er die Religion im Rahmen seiner Begründung der Naturwissenschaften überhaupt einführt: Sie erfüllt keine wissenschaftliche, sondern eine politische Funktion. Sie dient der Immunisierung gegen Einwände und der Diskreditierung wissenschaftshegemonial konkurrierender Positionen. Vor diesem politischen Hintergrund wird aber die Frage virulent, ob Religion und 145 Vgl. den Eintrag im Historischen Wörterbuch der Philosophie zu »Sekte«. In: Ritter/Gründer/Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie (13 Bde.). Basel 1971–2007, Bd. 9, S. 274–288. Hier: 277 f.

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Naturwissenschaft tatsächlich so mühelos miteinander vereinbar sind, wie Bacon es suggeriert, oder ob sich bei näherer Betrachtung nicht an einigen Stellen Brüche und argumentative Inkohärenzen ergeben, die er vielleicht sogar bewusst in Kauf genommen hat, um seinem Programm die größtmögliche Aussicht auf politischen Erfolg zu garantieren. Kann die eschatologische Motivik einer finalkausalen Legitimation der Naturwissenschaften tatsächlich in überzeugender Weise mit einer rein naturkausal orientierten, empirisch-induktiven Begründung in Einklang gebracht werden?

c.)

Das Verhältnis von Finalität und Naturkausalität im Novum Organon

Aufgrund der Komplexität der Sachlage sind im Folgenden einige Wiederholungen der für ein Verständnis des Verhältnisses zwischen Finalität und Naturkausalität notwendigen Argumente angebracht, die bisher erläutert wurden. Die Ausführungen haben also den Charakter eines Fazits zu Bacons eigener Darstellung seines Unternehmens. Dieses Fazit bildet zugleich den Übergang zur folgenden Reflexion über sein wissenschafts- und gesellschaftspolitisches Programm. Wie ich ausgeführt habe, betont Bacon die kategoriale Differenz zwischen metaphysischen, in der Natur nicht beobachtbaren Ursachen, sofern sie final sind und in einem ›Willen‹ gründen, und physikalischen Ursachen, die naturgesetzlich am ›Werk‹ sind und sich aus Einzelbeobachtungen erschließen lassen (s. o. Kap. II.3.a). Die irrtümliche Anwendung der Finalität auf Naturvorgänge gehört gemäß der Idolenlehre zu den Idolen des Stammes (Idola Tribus), die dem Menschen angeboren sind und sich nicht restlos beseitigen lassen (vgl. NO I, 48; 51). In den Wissenschaften macht sich diese menschliche Neigung zur Fehlanwendung finalkausaler Aussagen in den abergläubischen Lehrmeinungen bemerkbar: Sie kommt in der »Einführung von abstrakten Formen, Endzwecken (causas finales) und ersten Ursachen« zum Tragen, so dass etwa der Anfang der Naturphilosophie »auf das erste Kapitel der Schöpfung« gegründet wird (NO I, 65 f.). Bacon selbst beansprucht, diesen Fehler nicht zu begehen, indem er sagt, es sei »nur heilsam, wenn nüchternen Geistes dem Glauben […] gegeben wird, was des Glaubens ist.« (Ebd.) Dies lässt sich so verstehen, dass er seine eigenen eschatologischen Bezugnahmen kategorial strikt von seinen naturwissenschaftlichen Aussagen geZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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trennt, sie zugleich jedoch extern auf die Naturwissenschaft bezogen wissen möchte: Die Naturwissenschaft gibt Antworten auf empirische Wahrheitsfragen, die Religion auf Fragen ethischen Handelns. Wenn die Religion und die Naturwissenschaft unverbunden nebeneinander bestünden, fehlte jeder Maßstab, der die Wissenschaft dessen versichert, dass sie sich noch auf dem von der Offenbarung verheißenen Weg befindet. Dass naturwissenschaftliche Bemühungen im Allgemeinen nicht zum göttlichen Willen in Widerspruch stehen, folgt aus Bacons Ausführungen zum Verhältnis von ›Buch der Offenbarung‹ und ›Buch der Natur‹, die beide von Gott als demselben Verfasser stammen sollen. Ob ein Forschungsunternehmen im Einzelnen die Menschheit jedoch dem göttlich verheißenen Ziel tatsächlich näher bringt, kann aus der bloßen ›Bibliographie‹ von Gottes Schriften noch nicht gefolgert werden, da es sich hierbei um eine Frage handelt, welche die Inhalte der beiden Bücher betrifft. Um das Problem einer gefährlichen Disparität zwischen Religion und Naturwissenschaft zu lösen, muss es Bacon gelingen, zwischen Finalität und Kausalität eine Übersetzungsleistung zu erbringen, die zwar nicht verlustfrei sein kann, da die beiden Bücher Themen behandeln, die jeweils nicht restlos ins andere Buch überführbar sein sollen, die es aber gleichwohl ermöglicht, den Naturwissenschaften ein ›wahres Hilfsmittel‹ bzw. ein ›Werkzeug‹ in der Art eines Kompasses an die Hand zu liefern, der ihr die Möglichkeit einer Überprüfung gestattet, ob sie sich noch auf dem von der Vorsehung verheißenen Kurs befindet. Das einzige Mittel zur Prüfung, das Bacon der Naturwissenschaft zur Verfügung stellt, ist die Induktion, die den ›wahren Weg‹ der Erkenntnis ausmachen soll (vgl. NO I, 19; s. o. Kap. II.2.c). Es handelt sich dabei allerdings um ein Mittel der erfolgskontrollierten Überprüfung von Wahrheitsansprüchen über die Natur, nicht der Klärung von Fragen nach der Rechtmäßigkeit von Eingriffen in dieselbe. Die Induktion kann nur Quid facti?-, nicht aber Quid juris?-Fragen klären, so dass sie rein für sich genommen ungeeignet ist, die Frage zu beantworten, ob wissenschaftliche Fortschritte im Einzelnen auch moralisch richtig, d. h. gottgewollt sind. Um seinem Unternehmen den Anstrich eines moralischen Gebots verleihen zu können, muss es Bacon also gelingen, die religiöse Prophezeiung vom Ende aller Zeiten in Begriffen einer empirisch-induktiv schrittweise überprüfbaren Prognose über den zukünftigen Geschichtsverlauf zu reformulieren. Möglich wird dies, indem er die religiöse Legitimationsstruktur seiner 156

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Instauratio (die sich aus dem ›Buch der Offenbarung‹ ergibt) mit der Idee erfolgskontrollierten Handelns (die den Wahrheitsmaßstab des ›Buchs der Natur‹ ausmacht) verknüpft: Ob eine empirisch-wissenschaftliche Erkenntnis bzw. ein technischer Eingriff in die Natur tatsächlich einen Schritt auf dem Wege zum eschatologisch prophezeiten Dominium terrae, also einen Fortschritt in der Erfüllung des göttlichen Auftrags darstellt, zeigt sich letztlich daran, ob das menschliche Handeln von Erfolg gekrönt ist. Das folgt aus der Verbindung der biblisch abgesicherten Annahme einer von Gott geschaffenen Natur mit dem Satz: »Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen läßt.« (NO I, 3) Da die von Gott geschaffene Natur nur solche Handlungen belohnt, die im Einklang mit den ihr von Gott verliehenen (d. h. letztlich mit seinen) Gesetzen stehen, die vom Menschen zuvor als solche erkannt worden sein müssen, wenn nicht der Zufall den Ausschlag über den Erfolg einer Handlung geben soll, kann der Mensch sich überall dort des rechten Weges versichert sein, wo sein wissenschaftliches Handeln die zuvor prognostizierten Erfolge zeitigt. Je exakter folglich die Ergebnisse von Handlungen deren zuvor prognostizierten Folgen entsprechen, desto gewisser kann der Mensch die Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen behaupten und desto näher kann er sich dem verheißenen Ziel eines Dominium terrae wähnen. Wenn allerdings die Prophezeiung vom Ende aller Zeiten auf diese Weise in eine Hypothese des bloß möglichen zukünftigen Geschichtsverlaufs umgemünzt wird, ergibt sich die Konsequenz, dass die Religion für das von Bacon geforderte wissenschaftliche Programm selbst letztlich eine Quantité négligeable darstellt. Ob der einzelne Forscher die Annahme einer signifikanten Verbesserung der conditio humana auf naturwissenschaftlichem Wege lediglich für wissenschaftlich ›wahrscheinlich‹ hält oder aufgrund persönlicher religiöser Überzeugungen darüber hinaus noch an die geistige Antizipation eines ›Goldenen Zeitalters‹ glaubt, ist hinsichtlich der angestrebten Umsetzung des Programms solange unerheblich, wie der Betreffende der kategorialen Differenz zwischen Glauben und Wissen eingedenk bleibt, sich also in seiner Rolle als Naturwissenschaftler nicht dazu hinreißen lässt, der finalkausal gelagerten Offenbarung den Charakter einer auch naturkausalen ›Gewissheit‹ zuzusprechen, was eine »Antizipation der Natur« darstellte (NO I, 26). Die Zielperspektive der Naturwissenschaften mag final betrachtet und religiös interpretiert werden können, die Wissenschaften Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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selbst schreiten jedoch einzig auf dem Wege der kausalen Erklärung von Naturverhältnissen voran. Die Vorhersage eines ›Goldenen Zeitalters‹ ist wissenschaftlich betrachtet eine bloße Hypothese, die schrittweise bewährt oder falsifiziert werden muss. Dass Bacon dieser Hypothese noch zusätzlich das Ideenkleid einer religiösen Heilsgewissheit zuschneidert, ist – als eine »Antizipation des Geistes« – für den wissenschaftlichen Gang der Dinge eine Extravaganz, die aus beobachterperspektivischer Sicht ohne weiteres getilgt werden könnte, ja in der konkreten Forschungspraxis sogar getilgt werden muss, da sie dem Beurteilungsmaßstab für wissenschaftlich ›wahre‹ Aussagen nicht genügt (NO I, S. 77; s. o. Kap. II.2.c). Als eine Triebfeder, das von Bacon entworfene wissenschaftliche Programm tatsächlich in die Tat umzusetzen, leistet die religiös begründete Zuversicht, das verheißene ›Goldene Zeitalter‹ werde für diejenigen mit Gewissheit eintreten, die es unterstützen, allerdings gute Dienste. Dass dem so ist, lässt sich damit begründen, dass – wie die anthropologische und psychologische Analyse der Beschaffenheit des menschlichen Geistes gezeigt hat – Antizipationen eine psychologisch stärkere motivationale Wirkung zu entfalten geeignet sind als die nüchterne Interpretation (s. o. Kap. II.1; 2.b). Antizipationen sorgen dafür, dass »alles schonender vonstatten geht«, wo Bacons Verfahren auf den voreingenommenen Leser »hart und ungewohnt« wirkt (NO I, 92; 28). Sobald die neue Methode allerdings einmal etabliert ist und sich in einem naturwissenschaftlichen Weltbild verfestigt hat, können die religiösen Bezüge innerhalb einer Wissenschaftsbegründung – mit Marx gesprochen – »der nagenden Kritik der Mäuse« überlassen werden, da das anvisierte Ziel dann auf dem Wege einer gesellschaftlichen »Selbstverständigung« bereits erreicht und zu einem Dokument der Vergangenheit geworden ist. 146 Die Aussage, die »Induktion« sei der »wahre Weg« der Erkenntnis, da das Universum naturkausal geregelt ist, lässt sich dann aber auf zweierlei Arten – wissenschaftlich oder religiös – lesen, je nachdem, welches Bezugssystem bzw. welches ›Buch‹ man zugrunde legt. Wenn Bacon sagt, »Anfangen aber muß man am Ende, und von da aus ist rückblickend alles Vorausliegende zu ergänzen«, dann ist dieser Satz naturwissenschaftlich zu verstehen (NO II, 10). Die Annahme

146 Vgl. Marx Äußerung im »Vorwort« von Zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 10.

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Rel. Legitimation und methodisch kontrollierte Begründung der Wissenschaften?

einer vollständigen kausalen Regelung der Natur ist aus wissenschaftlicher Sicht eine reine Hypothese, die, im Rückgang auf einfachste Ursache-Wirkung-Verhältnisse und zu komplexeren fortschreitend, sukzessive bewährt werden muss (s. o. Kap. II.2.c). Wenn er an anderer Stelle betont, »[d]en Anfang aber muß man von Gott hernehmen. Denn das, worum es hier geht, ist offenbar wegen seiner ausgezeichneten, guten Eigenschaften von Gott, der der Urheber des Guten und der Vater allen Lichtes ist«, dann handelt es sich dabei um eine religiöse Formulierung desselben Sachverhalts (NO I, 93). Die vollständige kausale Regelung der Natur ist unter religiösen Gesichtspunkten eine Glaubensgewissheit, ›Antizipation des Geistes‹, deren Apodiktizität naturwissenschaftlich allerdings unhaltbar ist, da Antizipationen keine naturwissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen dürfen. Wenn nun aber die teleologische Behauptung, es sei von der Vorsehung beschlossen, dass ein wissenschaftliches Fortschrittsprogramm dereinst ein ›Goldenes Zeitalter‹ der Frömmigkeit und des menschlichen Wohlergehens einleiten werde, keine naturwissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen kann, weil die Apodiktizität, mit der sie in Aussicht gestellt wird, aufgrund des unüberholbaren Hypothesencharakters der Naturwissenschaften keinen wissenschaftlichen Status hat, wie kann die Behauptung, »die Erfindungen beglücken und tun wohl, ohne jemandem ein Unrecht oder ein Leid zu bereiten«, dann noch irgendeine naturwissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen (NO I, 129)? Muss diese Aussage – aller religiösen Legitimationsversuche zum Trotz – nicht dennoch als eine in den Naturwissenschaften unzulässige »Antizipation der Natur« begriffen werden, die per Offenbarung als gewiss aufstellt, was per Natur nur hypothetisch behauptet werden kann (NO I, 26)? Eine solche kritische Nachfrage an Bacon greift nur dann, wenn man annimmt, er habe eine bis ins Letzte überzeugende Lösung in der Frage nach einer Vereinbarkeit von Finalität und Naturkausalität überhaupt im Sinn gehabt. Gemäß der hier von mir vorgeschlagenen Lesart ist allerdings genau das nicht der Fall: Wenn man die These akzeptiert, Bacon habe sich in seiner Reflexion auf die Wirkungsdimension seiner Schrift an zwei voneinander unterscheidbare Empfängerkreise gerichtet, kommt es auf die Kohärenz der Gesamtheit seiner Aussagen weit weniger an als darauf, dass der jeweilige Rezipientenkreis aus seinen Ausführungen die richtigen, d. h. in diesem Falle die vom Autor gewünschten Schlüsse zieht. Da das Novum Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Organon als eine wissenschaftspolitische Schrift über die angemessene naturwissenschaftliche Methodik verstanden werden muss, nicht als eine selber naturwissenschaftliche Schrift, könnte sein Verfasser zugunsten der prognostizierten Wirksamkeit also durchaus Brüche und Inkohärenzen in Kauf genommen haben, sofern sie die tatsächliche Umsetzung des naturwissenschaftlichen Fortschrittsprogramms wahrscheinlich befördern oder sie jedenfalls nicht entscheidend behindern würden. Um diese Lesart am Text zu bewähren, muss plausibel gemacht werden, dass Bacon seine theologische Argumentation so in seine wissenschaftsbegründende Schrift eingebettet hat, dass sie – wenn schon nicht einer streng wissenschaftlich-kritischen Prüfung – so doch einer oberflächlicheren Lektüre hätte standhalten können. Wenn darüber hinaus am Text Anhaltspunkte für die Annahme gefunden werden könnten, er habe den bewussten Versuch unternommen, die im Grunde recht naheliegende Möglichkeit einer missbräuchlichen Anwendung von Wissenschaft und Technologie zu Zwecken der Herrschaft über Menschen – die vom Offenbarungsgebot eines Dominium terrae nicht, wohl aber bis zu einem gewissen Grade durch die Vorstellung vom Gottesgnadentum legitimiert wird – zu verschleiern, wäre ein starkes Indiz dafür gewonnen, dass er die Meinung, »Erfindungen beglücken und tun wohl, ohne jemandem ein Unrecht oder ein Leid zu bereiten«, in seiner Wissenschaftsbegründung selbst nicht ernstlich, sondern nur exoterisch und aus politischem Kalkül vertreten hat (NO I, 129).

4.

Die Textstruktur einer gedoppelten Wirkungsdimension von Bacons Novum Organon und sein gesellschaftspolitisches Programm der Etablierung eines technokratischen Paternalismus

Es ist deutlich geworden, dass Bacon die naturwissenschaftliche Forschung so verstanden wissen wollte, dass sie unter keinen Umständen zum göttlichen Willen in Widerspruch stehen kann. Im Ergebnis seiner Darlegungen ist in Wahrheit jedoch nichts darüber entschieden, weshalb vermittels technischer ›Naturbeherrschung‹ nicht illegitime Macht über Menschen sollte ausgeübt werden können. Anhand dieses Befundes lassen sich Ansatzpunkte für eine Kritik an seiner Position freilegen, wie sie von Johann Gottfried Herder später formuliert worden ist. 160

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Die Textstruktur einer gedoppelten Wirkungsdimension

Das biblisch verheißene Dominium terrae sieht eine ›Herrschaft‹ der menschlichen Gattung über die Erde vor, die sich als Metapher mit einer naturwissenschaftlich-technischen Kontrolle von Verhältnissen der äußeren Natur identifizieren lässt, wodurch aber keine ›Herrschaft‹ im eigentlichen Wortsinne eines Bestimmens über andere Menschen legitimiert ist. Wenn, wie Blumenberg es beschreibt, »das ›Buch der Natur‹ nicht einfachhin Machtausdruck bleibt, sondern sich im Maße der Selbstermächtigung des Menschen in deren Manifest verwandelt«, die Geschichte von Mensch und Natur zu gestalten, muss zwangsläufig damit gerechnet werden, dass diese Macht auch von Einzelnen oder Staaten dazu gebraucht werden könnte, sich gegenüber anderen Menschen bzw. Nationen Vorteile zu verschaffen (LdW 91). Fortgeschrittene Technologie stellt unausweichlich auch die Mittel einer instrumentellen Einflussnahme auf Personen bereit. Dieses grundsätzliche Problem wissenschaftlich-technischen Fortschritts wird im Novum Organon nur auf ausgesprochen irreführende Weise adressiert. Im Schlussteil des ersten Buches werden »drei Arten oder Grade des Ehrgeizes bei den Menschen« benannt, die in der Betrachtung »mechanischer Dinge«, welche »das Antlitz der Dinge auf der Erde verändert« hätten – namentlich »die Buchdruckerkunst, das Schießpulver und der Kompaß« –, als »zur Sache gehörig« (»non abs re fuerit«) zu unterscheiden seien: Bei der ersten ist man darauf aus, die eigene Macht in seinem Vaterlande zu vermehren, dies ist die gewöhnliche und teilweise unedle Art; bei der zweiten strebt man dahin, des Vaterlandes Macht und Herrschaft über das menschliche Geschlecht zu erweitern; diese Art ist gewiß würdiger, reizt aber zu stärkerer Begierde; erstrebt nun jemand, die Macht und die Herrschaft des Menschengeschlechtes selbst über die Gesamtheit der Natur zu erneuern und zu erweitern, so ist zweifellos diese Art von Ehrgeiz, wenn man ihn so nennen kann, gesünder und edler als die übrigen Arten. Der Menschen Herrschaft aber über die Dinge beruht allein auf den Künsten und Wissenschaften. (NO I, 129)

Bacon erwähnt hier drei Formen von Ehrgeiz, von denen zwei sich auf Verhältnisse der sozialen Interaktion beziehen, während die dritte auf die Natur gerichtet ist. Der Sinn der Textpassage ist allerdings alles andere als eindeutig. Schon die Formulierung »non abs re fuerit« erscheint als eine Untertreibung, da die Frage, mit welcher Zielsetzung jemand von Technik Gebrauch macht, zumindest aus heutiger Sicht

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nur schwerlich als eine Nebensächlichkeit betrachtet werden kann. Umso irritierender wirkt es, dass Bacon diese nach seinen vorangegangenen Ausführungen zum Einfluss der »mechanischen Dinge« auf »die menschlichen Belange« sehr naheliegende Frage gar nicht erst direkt ansteuert. Wenn er von »Arten oder Graden« (»genera et quasi gradus«) spricht, trägt er nicht dazu bei, dem Leser ein Verständnis zu erleichtern, worin die Distinktion eigentlich genau bestehen soll. Ob es sich um »Arten« oder bloß um »Grade« menschlichen Ehrgeizes handelt, ergibt hinsichtlich des Textsinns einen signifikanten Unterschied. Wenn er zunächst von »Arten« spricht, so legt das die Lesart nahe, dass es sich um streng voneinander geschiedene Formen von Ehrgeiz handelt. Unter dem Aspekt einer finalkausal gelagerten Absicht ist die erstrebte Herrschaft über andere Menschen tatsächlich etwas qualitativ völlig anderes als das Streben nach biblischer ›Herrschaft‹ des gesamten Menschengeschlechts über die Natur. Legt man die Betonung jedoch auf »Grade«, so gelangt man zu der Lesart, die unterschiedenen Formen des Ehrgeizes könnten von Fall zu Fall durchaus zusammengehen oder vielleicht gar nicht so klar zu trennen sein, wie es die Rede von »Arten« des Ehrgeizes suggeriert. Der Ehrgeiz nach Macht und Herrschaft über Menschen könnte mit dem Ehrgeiz nach Macht und Herrschaft über Dinge unter bestimmten Umständen verschwistert sein. Diese zweite Lesart lässt sich dadurch begründen, dass in der Wahl der Mittel zur naturkausalen Durchsetzung einer Absicht in beiden Fällen »Künste« und »Wissenschaften« ein mögliches Instrumentarium zur Ausübung von Kontrolle darstellen können, auch wenn Bacon auffälliger Weise lediglich von der Herrschaft über die »Dinge« sagt, sie beruhe auf den »Künsten und Wissenschaften« (»artibus et scientiis«). Und selbst die Absicht vorausgesetzt, es strebe jemand einzig nach Macht und Herrschaft über Dinge im Dienste der Menschengattung als Ganzer, kann nicht ausgeschlossen werden, der Erwerb solcher Macht könnte indirekt negativen Einfluss auf einzelne Menschen oder Menschengruppen haben. Es ist nun außerordentlich unwahrscheinlich, dass dem wortgewandten Politiker und geschulten Rhetoriker Bacon diese Unschärfen in der Formulierung bloß zufällig unterlaufen sind. So eindeutig er auf einer oberflächlichen Ebene darum bemüht ist, dem Leser die Unbedenklichkeit – ja den uneingeschränkten Wert – wissenschaftlich-technischer Forschung nahezulegen, lässt der teils unpräzis-nebulöse, teils beinahe fadenscheinige Zug seiner Beweisführung doch den Schluss zu, dass er sich des eigentlich zugrundeliegenden Pro162

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Die Textstruktur einer gedoppelten Wirkungsdimension

blems durchaus bewusst gewesen ist, ohne es indes wirklich offenlegen zu wollen. Dieser Anfangsverdacht lässt sich stützen durch eine Textanalyse der Art und Weise, wie Bacon für die gesellschaftliche Umsetzung seines Unternehmens wirbt. Er betont, dass »der Ausbau der Wissenschaften […] von genialen Köpfen« seinen Ausgang nimmt, deren Leistungen »über die Fassungskraft des größten Teils der Menschen« hinausgehen und »vom Winde der öffentlichen Meinung (opinionum vulgarium ventis) leicht verweht und ausgelöscht« werden, so dass den Erfindern wenig »Ehre« zuteilwerde (NO I, 91). Es kommt hier weniger auf den eigentlichen Inhalt des Satzes an als auf die in Anspruch genommene Differenzierung zwischen gesellschaftlichen Rollen. Bacon macht von einer wissenschaftlichen Experte-Laie-Unterscheidung Gebrauch, indem er zwischen »genialen Köpfen« und dem »größten Teil der Menschen« einen Gegensatz aufmacht. Diese Experte-Laie-Differenzierung lässt sich auf die darauf folgenden Aphorismen applizieren (NO I, 92–95), in denen Bacon den Wert seines wissenschaftlichen Fortschrittsprogramms zunächst religiös (NO I, 93), dann aber naturwissenschaftlich (NO I, 94) rechtfertigt, woran sich teilnehmerperspektivische Handlungsappelle zur Großen Erneuerung ablesen lassen – und zwar, das ist die Pointe meiner Bacon-Interpretation, zwei kategorial voneinander unterscheidbare. Die Rede ist in diesen Aphorismen von den Gründen zur »Hoffnung«, dass die Instauratio Magna nicht nur einen Fortschritt der Wissenschaften, sondern auch eine Steigerung menschlichen Wohlergehens zur Folge haben werde (NO I, 92). Bei der Analyse dieser Passagen gilt es, sehr genau zu lesen. Die Kursivierungen im folgenden Zitat stammen von mir: Ohne Unterlaß ist danach Ausschau zu halten, was an Hoffnung aufglänzt und von welcher Seite aus sie sich zeigt. Und nachdem wir die leichteren Brisen der Hoffnung beiseite geschoben haben, müssen wir das, was fester zu sein scheint, unter allen Umständen durchdenken und untersuchen. Auch ist der Rat der Rechtsgelehrten zu hören und zu befolgen, deren Regel es ist, zu mißtrauen und in menschlichen Angelegenheiten argwöhnisch zu sein. (Ebd., Herv. NP)

Der Aphorismus, dem dieses Zitat entnommen ist (NO I, 92), steht unmittelbar vor demjenigen über finalkausal-religiöse Veranlassungen zur Hoffnung (NO I, 93), auf den jener zu den naturkausal-wissenschaftlichen Gründen derselben folgt (NO I, 94). Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Es kann nun auf den ersten Blick so scheinen, als handle es sich bei den »leichteren Brisen der Hoffnung«, die »beiseite geschoben« werden müssen, um solche, die – als dem »Winde der öffentlichen Meinung« zugehörig – von Bacon in eigener Sache übergangen werden, wohingegen die folgenden religiösen und naturwissenschaftlichen Ausführungen zu den Hoffnungen gezählt werden, die »fester zu sein« scheinen und durchdacht werden müssten. Wozu aber dann der Hinweis, man müsse »mißtrauen und in menschlichen Angelegenheiten argwöhnisch« sein? Ein Appell zum Argwohn scheint wenig geeignet, beim Leser »Hoffnung« zu erregen, zumal Bacon keinerlei konkrete Beispiele von Fällen anführt, in denen eine Hoffnung trügerisch ist. Der Satz wirkt an dieser Stelle also wie ein Fremdkörper. Was macht die »menschlichen Angelegenheiten« aus, denen zu misstrauen hier aufgerufen wird? Was haben sie mit dem »Winde der öffentlichen Meinung« zu tun? Zur Gewinnung von Hoffnung ruft Bacon zunächst die Religion zur Hilfe, indem er sagt, den »Anfang« müsse man »von Gott hernehmen«, wozu er auf die finalkausale »Prophezeiung Daniels über die letzten Zeiten der Welt« zurückgreift, »es sei von der Vorsehung beschlossen, daß die Durchwanderung der Welt, die nach so vielen langen Seereisen so gut wie erreicht oder wenigstens schon nahe bevorzustehen scheint, und die Vertiefung der Wissenschaften in dasselbe Zeitalter fallen.« (NO I, 93) Im darauffolgenden Aphorismus, der den »allerwichtigste[n] Grund, um Vertrauen zu fassen«, enthalten soll, argumentiert er naturkausal, die Hoffnung für die Zukunft ergebe sich aus den »Irrtümern der Vergangenheit und der bisher begangenen Wege«: »Daher wird es das Beste sein, gerade die Irrtümer klarzulegen; denn soviel als in der Vergangenheit Hindernisse durch die Irrtümer entstanden, soviel Gründe zur Hoffnung für die Zukunft ergeben sich.« (NO I, 94) Beide Argumente für den Fortschritt der Wissenschaften sind uns bereits aus der Erörterung des Titelkupfers und des ihm beigefügten Leitspruchs bekannt. Die finalkausale Prophezeiung Daniels entstammt dem ›Buch der Offenbarung‹, die naturkausale Argumentation mit Irrtümern der Vergangenheit stützt sich auf die Kritik von Idolen, die eine Interpretation des ›Buches der Natur‹ verhindern, und auf das Beispiel der Entdeckungsreise des Kolumbus. Wendet man nun einmal versuchsweise die Aussage, es müssten zunächst »die leichteren Brisen der Hoffnung beiseite geschoben«, sodann aber das, »was fester zu sein scheint«, durchdacht werden, 164

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auf die Reihenfolge in Bacons eigener Darlegung von Gründen zur wissenschaftlichen Revolution an, dann ergibt sich das Bild, dass er die religiösen Veranlassungen als »leichtere Brisen« verstanden wissen will, während er die naturwissenschaftlichen Gründe als das bezeichnet, »was fester zu sein scheint«. Die hier vorgeschlagene Lesart der genannten Aphorismen ergibt nicht nur in der Hinsicht Sinn, dass Bacon die in der Idolenlehre offengelegten Irrtümer der Vergangenheit als den »allerwichtigste[n] Grund, um Vertrauen zu fassen« einführt, womit er seine vorherige Bezugnahme auf die Apokalypse Daniels relativiert – diese hatte er ohnehin im Konjunktiv formuliert und nur sehr vorsichtig davon gesprochen, es sei durch die Vorsehung »zugewinkt« (»innuens«) und »angezeigt« (»significans esse«), dass das ›Goldene Zeitalter‹ eintreffen werde (NO I, 93). Es lässt sich dann auch seiner Aufforderung, »zu mißtrauen und in menschlichen Angelegenheiten argwöhnisch zu sein«, im Text eine Funktion beilegen: Bacon ruft mit diesem Appell dazu auf, seine eigenen Ausführungen kritisch daraufhin zu prüfen, ob sie bloß »leichtere Brisen der Hoffnung« oder tatsächlich handfeste Argumente liefert. Er sagt, seine Appelle seien keine »bloßen Versprechungen«, sondern solche, die er den »Urteilen der Menschen« anheimstellt, welche er »ganz frei führen will« (NO I, 92). Wer aber die Ausführungen bis zu diesem Punkt mitdenkend verfolgt hat, kann aus eigener freier Überlegung argwöhnen, dass die dargelegten Gründe zur Hoffnung wissenschaftlich keineswegs gleichermaßen stichhaltig sind: Während sich das eschatologische Argument auf eine ungesicherte ›Antizipation des Geistes‹ im Vertrauen auf die Autorität Gottes (d. h. auf ›bloßen Glauben‹) stützt, ist die Wahrheitsfähigkeit der naturwissenschaftlichen Methode durch Idolenlehre und ›Interpretation‹ insofern gesichert, als sie auf dem Wege der »wahren, auf unterstützenden Experimenten fußenden Induktion« schrittweise bewährt werden kann (NO II, 7). Ob es sich mit möglichen Fortschritten in den Wissenschaften objektiv tatsächlich ähnlich verhält wie mit der Entdeckungsreise des Kolumbus, kann experimentell überprüft werden. Um durchschauen zu können, dass die Berufung auf die Offenbarung kein wissenschaftlich überzeugender Grund ist, muss der Leser allerdings das Programm bereits verstanden haben, d. h. er muss zu den »legitimierten und befähigten Geistern« zählen, die als ›Experten‹ der neuen Wissenschaft in der Lage sind, sie voranzutreiben (Works VI, 449). Der wissenschaftliche ›Laie‹, der hierzu nicht in der Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Lage ist, wird das religiöse Argument dagegen ganz unkritisch rezipieren, was Bacon insofern auch willkommen sein kann, als der Leser die Instauratio Magna damit als ein eschatologisches Programm begreift, das göttliche Legitimation genießt und das daher unter allen Umständen für ›gut‹ und sogar für moralisch ›geboten‹ erachtet werden muss. Genau eine solche Textstruktur ist es, die Bacon im Temporis Partus Masculus (1603) bereits im Blick hat, wenn er sagt, die »vorgetragene Wissenschaft« bedürfe »einer Kraft, die gleichsam eingewurzelt und eingeboren ist, bald um den Glauben zu gewinnen, bald um die Ungerechtigkeiten der Zeiten abzuhalten«, und sie müsse »sich dem geeigneten und rechtmäßigen Leser vorbehalten und ihn gleichsam auswählen.« (VT 109) Der Leser, der nicht imstande ist, die gattungsmäßig angeborenen ›Idole des Stammes‹ zu überwinden – ein Leser, der »in den Dingen eine größere Ordnung und Gleichförmigkeit« voraussetzt, »als er darin findet«; der dazu neigt, Beobachtungen, die ihn in seinen Vorurteilen bestätigen, eher zur Kenntnis zu nehmen als solche, die ihnen zuwiderlaufen; der für alles empfänglich ist, was seinen Geist »mit einem Male und plötzlich aufpeitscht und erschüttert«; ein Leser, der mithin über das Gegebene hinaus zu abergläubischen Lehrmeinungen neigt –, soll sich vom vorgeschlagenen Wissenschaftsprogramm ebenso angesprochen fühlen und ihm zustimmen können wie der ausgewählte Experte (NO I, 45–47). Bacon unternimmt also den doppelbödigen Versuch, Mitstreiter für die arbeitsteilig projektierte Wissenschaft zu gewinnen, zugleich jedoch den »Wind der öffentlichen Meinung« eines Laienpublikums zu beschwichtigen, indem er auch dieser Lesergruppe liefert, wofür sie empfänglich ist: Eine religiöse Legitimation, die nur der wissenschaftliche Experte als der Sache selbst äußerlich und insofern als für die wissenschaftliche Methodenbegründung als solche unerheblich zu durchschauen vermag. Bacon trennt so einerseits auf der analytischen Ebene seiner Schrift zwischen Naturwissenschaft und Religion, wobei er die durchgängige Vereinbarkeit von ›Buch der Natur‹ und ›Buch der Offenbarung‹ nicht schlüssig zu plausibilisieren vermag, so dass Inkohärenzen und Brüche auftreten. Die Prophezeiung vom ›Goldenen Zeitalter‹ lässt sich weder naturwissenschaftlich rechtfertigen, noch kann wissenschaftlich ausgeschlossen werden, dass ein erfolgreicher Einsatz von Technik in der Zukunft dazu führen wird, dass gegen göttliche Gebote der Mitmenschlichkeit verstoßen wird. Da die bei166

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Die Textstruktur einer gedoppelten Wirkungsdimension

den Ebenen der Argumentation jeweils für sich genommen jedoch stimmig sind, kann er sich durch diese analytische Unterscheidung andererseits an zwei unterscheidbare Rezipientenkreise richten, nämlich an Experten und Laien. Die esoterischen Erörterungen zum ›Buch der Natur‹ sollen einen erst noch zu formierenden Kreis von Experten ansprechen, der in der Lage ist, das Programm zur Erneuerung der Wissenschaften in die Tat umzusetzen. Den Experten ist hierfür die Darstellung der Methode der »Interpretation der Natur« zugedacht (NO I, 26). Die wissenschaftsexoterischen Bezugnahmen auf das ›Buch der Offenbarung‹ dagegen dienen vorrangig dem Zweck, den bloßen Laien der neuen Wissenschaft zu beschwichtigen. Er soll durch »Antizipation[en] des Geistes«, die unterschwellig und diskursverschließend zur Passivität auffordern, überredet werden. (NO I, S. 77). Bacon sagt, die »ehrgeizige und herrschsüchtige Begierde nach moralischem Wissen, das über Gutes und Böses entscheidet«, seien »Grund und Anlass des Sündenfalls« gewesen, was den Leser dazu auffordert, sein moralisches Urteil über die projektierte Wissenschaft nur nach der offerierten Auslegung der Offenbarung zu richten (NO I, S. 33). Ansonsten soll er als Laie, der aufgrund von Vorurteilen, aus Zeitmangel oder aus Gründen mangelnder Geisteskräfte nicht in der Lage ist, das Wissenschaftsprogramm wirklich zu begreifen, den Experten vertrauen und sich in der Sicherheit wiegen, dass auch er als bloßer Befürworter ein »Nutznießer« der Großen Erneuerung sein wird (NO I, S. 77). Über eine Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive hinaus kommt also in Bacons Anlage der Teilnehmerperspektive eine Experte-Laie-Differenzierung zum Tragen, die in der Unterscheidung zwischen einem wörtlichen und einem metaphorischen Verständnis der Formel einer ›Herrschaft‹ über die Natur ihren Ausdruck findet. Während der wissenschaftliche Experte in der Lage ist, die biblische verheißene ›Herrschaft‹ metaphorisch als ein Programm zur Kontrolle von Naturverhältnissen zu begreifen, das hinsichtlich einer Verbesserung der conditio humana ›Erfolg‹ verspricht, ihn aber nicht garantiert, versteht der Laie die verheißene ›Herrschaft‹ über die Natur im christlichen Sinne wörtlich und begreift Bacons primäres Anliegen als dasjenige der Herstellung von Gottes Reich auf Erden. Indem der Laie ihn aber so versteht, wird er verleitet, mit seiner Zustimmung zum Reich Gottes nolens volens zugleich der Umsetzung eines Programms zuzustimmen, das primär auf die Etablierung einer wissenschaftlichen Expertenkultur zielt. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Dass dieses Programm eine Herrschaft über Menschen gestattet, derer ein Laie kaum teilhaftig werden wird, solange er von Experten abhängig bleibt, wird von Bacon dabei exoterisch verschwiegen. Obwohl er nun die tatsächliche Rolle der Wissenschaftler gegenüber Außenstehenden dergestalt verschleiert, macht er keinen Hehl daraus, dass es sich bei der Großen Erneuerung nicht um ein ›demokratisches‹ Programm handelt. Er schmeichelt im Novum Organon König Jakob I., indem er einen Ausspruch des biblischen Königs Salomon anführt: »Der Ruhm Gottes sei, die Dinge zu verhüllen, des Königs Ruhm, die Dinge zu ergründen.« (NO I, 129) Noch deutlicher könnte er seinen Monarchen und Dienstherren kaum zur Schirmherrschaft über die Instauratio Magna aufrufen. Dabei geht er sogar so weit, Vergleiche zwischen dem »kultivierten Teil von Europa« und einer »sehr wilden und barbarischen Gegend Neu-Indiens« anzustellen, so dass man mit Recht sagen könne: »Der Mensch ist dem Menschen ein Gott«, womit er auf die überlegene Technologie der Europäer anspielt, die ihnen eine Eroberung Amerikas und die Unterjochung der ortsansässigen Bevölkerung ermöglichte (ebd.). Nicht umsonst sei schon ein »Erfinder, der das gesamte Menschengeschlecht durch eine Wohltat sich ergeben machte, für einen Menschen höherer Art gehalten« worden (ebd.). Der Tenor dieser Äußerungen zielt recht präzise auf das monarchische Selbstverständnis Jakobs I., der sich nicht nur als einen Herrscher von Gottes Gnaden – und somit tatsächlich als einen »Menschen höherer Art« – verstand, sondern in dessen Regierungszeit zudem 1607 die erste dauerhafte englische Siedlung in Nordamerika etabliert worden war, die man sogar nach ihm benannt hatte – nämlich Jamestown. Indem Bacon König Jakob I. so um den Bart streicht, übergeht er die möglichen negativen Folgen technischer Errungenschaften für diejenigen, die noch nicht über sie verfügen. Das wird Herder ihm später ankreiden. Wenn er allerdings im Spätwerk Nova Atlantis – zu einer Zeit, da er durch einen Korruptionsskandal politisch bereits in Ungnade gefallen ist – sagt, die Wissenschaftler sollten Erfindungen sogar gegenüber der eigenen politischen Führung geheim halten, wird klar, dass auch sein Werben um die Hilfe des Königs im Novum Organon im Grunde politisches Kalkül war. Als ›salomonisch‹ werden nun ausdrücklich die Technokraten des »Hauses Salomon«, nicht mehr der König angesprochen (NA 43). Wie Krohn hervorhebt, galt die Politik zu Bacons Zeit »als Geheimkunst (Arcanum imperii), die Auserwähl168

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Die Textstruktur einer gedoppelten Wirkungsdimension

ten vorbehalten bleiben müsse«. 147 Im Advancement of Learning habe er sich deshalb »für eine sehr knappe Behandlung der Themen Regierung und öffentliche Gesetzgebung« entschieden, »weil sie entweder geheim seien oder nicht für öffentliche Äußerungen geeignet«. 148 Im Novum Organon deutet er in einer kurzen Bemerkung zwar ebenfalls bereits an, seine Methode der Interpretation gelte »auch für die übrigen Wissenschaften, die Logik, Ethik, Politik«, aber erst im Zusammenhang mit dem Hinweis bezüglich der ›Geheimhaltung‹ durch das ›Haus Salomon‹ im Spätwerk Nova Atlantis wird deutlich, dass letztlich auch politische Macht in den Händen einer intellektuellen Elite konzentriert und deren bevormundender Verfügung anheimgestellt werden soll (NO I, 127). Die über Natur und Menschen ›herrschende‹ Klasse sollen letztlich die Technokraten bilden, die nach außen hin paternalistisch über die gesellschaftliche Distribution von durch Wissen ermöglichter Macht entscheiden. Wie meine über Krohn hinausgehende Analyse der gedoppelten Wirkungsdimension des Novum Organon gezeigt hat, soll der Satz, »die Erfindungen beglücken und tun wohl, ohne jemandem ein Unrecht oder ein Leid zu bereiten«, zwar wissenschaftsexoterisch beeindrucken und von Laien geglaubt werden, entspricht jedoch weder Bacons eigener Auffassung, noch macht er die politische Botschaft aus, die er den zukünftigen Experten der neuen Wissenschaft auf esoterischem Wege übermitteln will (NO I, 129). Eben dieser technokratisch-paternalistische Duktus von Bacons Wissenschaftsprogramm aber und sein Zynismus gegenüber Menschen, denen die technischen Mittel ermangeln, sich gegen Kolonialisierungsversuche und Fremdherrschaft zur Wehr zu setzen, machen den aus Herders Sicht kritikwürdigen Zug seiner Lehre aus. 149

Krohn: Bacon. S. 168. Ebd., S. 169 149 Mit dem Erweis meiner Interpretationsthese ist zugleich die Einschätzung von Hans Jonas relativiert, der Baconismus einer »Naturbeherrschung« sei »naiv« (vgl. Jonas: Prinzip Verantwortung. S. 256). Bacon war in diesem Sinne selbst kein ›Baconist‹. Auch Lothar Schäfer, der an Jonas anschließt, lässt die politische Dimension von Bacons Schaffen weitgehend unberücksichtigt, wenn er zwar zwischen baconischem Ideal und Programm trennt, dem englischen Lordkanzler seine exoterischen Ausführungen dabei jedoch offenbar aufs Wort glaubt. Vgl. Lothar Schäfer: Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Natur. Frankfurt a. M. 1993, S. 95–151, bes. 106 f. 147 148

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III. Kapitel: Die geschichtsphilosophisch fundierte Technisierungskritik Johann Gottfried Herders in Auch eine Philosophie der Geschichte

Der in Bacons Zukunftsentwurf aufkeimende Konflikt zwischen ›Buch der Natur‹ und ›Buch der Offenbarung‹ ergibt sich aus der Schwierigkeit, Wissenschaft und Religion innerhalb des Theorierahmens der Instauratio Magna nicht nur methodisch voneinander getrennt zu halten, sondern sie anschließend in inhaltlich überzeugender Weise auch wieder aufeinander zu beziehen. Während das ›Buch der Natur‹ durch den Fortschritt der Wissenschaften unentwegt fortgeschrieben wird, indem die Natur vom durch Gott hierzu legitimierten Menschen »gedrängt, gepreßt und geformt« wird, so dass »neue Naturen« (»naturae novae«) entstehen, reklamiert Bacon für das ›Buch der Offenbarung‹ einen im Prinzip überzeitlichen Geltungsanspruch (NO I, S. 55; NO II, 19). Im Ergebnis programmiert die Konzeption eines Perspektivendualismus damit aber einen zunehmenden Überschuss der Erkenntnis gegenüber der Moral, da die Natur sich durch menschliche Eingriffe ständig weiter verändert, während die Handlungsregeln des ›Buchs der Offenbarung‹, die sich auf ein Zusammenleben in ihr beziehen, im Grunde dieselben bleiben – Blumenberg spricht hier von »Asymmetrien der Lesbarkeit« (LdW 86): Das Buch der Worte Gottes und das Buch der Werke Gottes – diese Dualisierung ist für Bacon nicht […] strikt symmetrisch. Die Worte werden zwar in einem festen und nicht zu erweiternden Bestand verwahrt, seine Werke jedoch […] werden ständig fortgeführt, indem eines dieser Werke, der Mensch, seinerseits zum Werksetzen installiert und legitimiert ist. (LdW 89)

Aus dieser sich programmatisch ausdehnenden Kluft zwischen den beiden Büchern resultieren unabsehbare Passungsprobleme, die nach Lösungen verlangen und deren Schwierigkeit Bacon wohl zwar geahnt, insgesamt jedoch offenbar unterschätzt hat. Die Frage, die sich hier stellt, lautet, wie garantiert werden kann, dass die im Zuge der Institutionalisierung eines professionellen Forschungsbetriebs stetig und unabsehbar fortschreitende Technisierung der Natur sich auch 170

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längerfristig im Toleranzbereich einer biblisch gebotenen Moral bewegt. Anders als Bacon das im Novum Organon exoterisch zu suggerieren versucht, bilden Buch der Offenbarung und Buch der Natur keineswegs einen zwanglosen Zusammenhang. Er betont in seinem Hauptwerk zwar, »das Verborgene der Natur […] untersteht keinem Verbot«, womit er sein wissenschaftliches Programm insgesamt als göttlich legitimiert verstanden wissen möchte (NO I, 89). Über die durchgängige Rechtmäßigkeit der Anwendung einer durch Wissenschaft ermöglichten Realtechnik ist bei näherem Hinsehen damit jedoch noch nichts entschieden. Fortgeschrittene Technologie könnte dazu gebraucht werden, Macht über andere Menschen auszuüben, die durch das biblisch gebotene Dominium terrae so nicht legitimiert ist. Dass er diese Schwierigkeit in Ansätzen vorausgesehen hat, wird in Nova Atlantis deutlich, wo er eine wissenschaftsesoterische Lösung für das Problem der Korrumpierbarkeit technischer Zwecksetzungen anbietet: Die Angehörigen des Hauses Salomon, d. h. die Mitglieder der ›Scientific Community‹ selbst, sollen darüber entscheiden, ob sich eine Erfindung oder ein Experiment »zur allgemeinen Bekanntgabe eignet oder nicht.« (NA 56) Die Konstruktion einer rein innerszientifischen Kontrolle von durch Wissen ermöglichter Macht kann aus heutiger Sicht allerdings – wie Krohn feststellt – »weder ethisch noch forschungspolitisch überzeugen«: Wissenschaftler sind weder als einzelne noch als Gruppe vertrauenswürdiger als andere Menschen. Geheimhaltung wäre eine Einladung, ihren privilegierten Zugang zu neuem Wissen zu einer institutionellen Sonderposition auszubauen, in der ihnen die Macht des Wissens als Instrument der Manipulation zur Verfügung steht. 150

Bacons technokratisch-paternalistische Lösung ist auch deshalb so wenig überzeugend, weil er sowohl die Möglichkeit von Turbulenzen innerhalb einer Gesellschaftsformation, die sich aus der technischen Umgestaltung der gesellschaftlichen Produktionsweise ergeben können, als auch den zur Vorhersage von solchen Störungen des sozialen Gleichgewichts notwendigen theoretischen Aufwand offenbar massiv unterschätzt hat. Die Frage von ›Bekanntgabe‹ oder ›Geheimhaltung‹ wissenschaftlicher Erkenntnisse spielt im Forschungsbetrieb, wie Bacon ihn in Nova Atlantis utopisch entwirft, eine institutionell nach150

Krohn: Bacon. S. 179.

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geordnete Rolle. Seine diesbezüglichen Bemerkungen erstrecken sich auf nur wenige Sätze, in denen jeder Hinweis darauf fehlt, nach welchen Kriterien bereits vor der konkreten Anwendung einer Technologie über deren möglichen Schaden und Nutzen entschieden werden könnte. Wie wir heute wissen, erwachsen gerade aus den unvorhergesehenen Fernwirkungen der technologischen Entwicklung (den sog. ›Nebenfolgen‹) häufig Verschärfungen im konfliktvollen MenschUmwelt-Verhältnis. Zudem stellen unter großem technischen Einsatz durchgeführte wissenschaftliche Experimente bereits selbst zuweilen massive Eingriffe in Naturverhältnisse dar, die in Bacons szientifischer Selbstkontrolle gar nicht berücksichtigt sind. Zwar konnte ihm politisch gewiss nicht daran gelegen sein, die sich möglicherweise aus seinem Programm ergebenden gesellschaftlichen Folgeprobleme in ihrer ganzen Bandbreite offenzulegen. Dass er eine derart unbefriedigende Lösung – wie sie im kurz nach seinem Tode veröffentlichten Nova Atlantis enthalten ist – dennoch anzubieten und relativ ungeschützt in den Raum zu stellen plante, spricht gleichwohl dafür, dass nicht nur den Zeitgenossen, sondern auch ihm selbst das tatsächliche Ausmaß der Problematik nicht bewusst gewesen ist. Weshalb aber konnte er die Schwierigkeit, den überzeitlichen Moralkodex aus dem ›Buch der Offenbarung‹ mit dem aus der Lektüre des ›Buchs der Natur‹ stetig wachsenden menschlichen Machtpotential expertenkulturell zu koordinieren, derart unterschätzen? Eine systematische Antwort auf diese Frage lässt sich – so meine These – dem Werk Johann Gottfried Herders (1744–1803) und insbesondere seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) entnehmen: Bacon fehlte eine entfaltete Theorie der Geschichte, die sein Bewusstsein für die historische Bedingtheit von Moralvorstellungen und die entwicklungsdynamischen Kontingenzen des Geschichtslaufs hätte schärfen können. 151 Deshalb war es ihm unmöglich, über den Tellerrand seiner zeitgenössischen Moralvorstellungen hinauszusehen und aus der Einsicht in deren historische Bedingtheit den Schluss auf den vollen Umfang der Folgeprobleme seines wissenschaftlichen Fortschrittsprogramms

151 Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts (im Folgenden zitiert als: AP). Stuttgart 2012. Die Inanspruchnahme des Begriffs einer ›Entwicklungsdynamik‹ zur Explikation von Herders Position rechtfertige ich an späterer Stelle (s. u. Kap. III.2.b).

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zu ziehen. Inwiefern sich diese Einsicht bei Herder findet und wie seine Geschichtsphilosophie mit der Nachwirkung Bacons im Zusammenhang steht, sei an dieser Stelle einführend erläutert. Im Hinblick auf seine beinahe unüberschaubar vielfältigen Anleihen bei der sonstigen Tradition können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur vereinzelte Hinweise gegeben werden. Wenn im Folgenden zugunsten der Traditionslinie von Bacon zu Herder die Einflüsse insbesondere Kants, Spinozas, Vicos, Leibniz’, Humes, Newtons, Voltaires, Rousseaus und zahlreicher anderer Autoren auf Herders Schaffen häufig ausgespart oder im Hintergrund bleiben, dann geschieht dies aus argumentationsökonomischen, nicht aus inhaltlichen Gründen. Eine gegenüber den genannten Autoren besonders prominente oder gar exklusive Bedeutung Bacons wird also nicht behauptet – wohl aber, dass auch er in die Reihe jener Vorbilder gerechnet werden muss, deren Impulse für Herders Schaffen maßgeblich waren. Die nähere Bekanntschaft mit Bacons Schriften verdankte Herder, wie H. B. Nisbet in seinem verdienstvollen Aufsatz »Herder and Francis Bacon« herausgestellt hat, seinem 14 Jahre älteren Freund und Lehrer Johann Georg Hamann (1730–1788). 152 Blumenberg zufolge war es »Hamann, der aus der Zweizahl der großen Bücher die Dreizahl gemacht hat – Buch der Natur, Buch der Offenbarung und Buch der Geschichte«, wobei »Bacons Metapherngebrauch zum faßbaren Ausgangsbestand« von Hamanns weiterführender Ergänzung der Buchmetaphorik gehört (LdW 91). Was Blumenberg meint, wenn er Bacons Doppelung von Buch der Natur und Buch der Offenbarung zum »Ausgangsbestand« einer Theorie der Geschichte bei Hamann – und auf diesem Umwege letztlich auch bei Herder – erklärt, lässt sich anhand von Hamanns Aesthetica in nuce (1762) verdeutlichen (vgl. LdW 178). Hamann stellt in dieser Schrift seine wohl bekannteste These auf: »Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts«. 153 Er beruft sich in einer Fußnote zu diesem Ausspruch nicht nur affirmativ auf eine Aussage Bacons aus De augmentis, derzufolge »Gleichnisse […] älter als Begründungen« seien, sondern macht im selben Atemzug zugleich den entscheidenden Schritt über ihn hinaus, indem er den Wortlaut der Bibel nicht mehr in direkter 152 Hugh B. Nisbet: »Herder and Francis Bacon«. In: The Modern Language Review 62 (1967), S. 267–283. Hier: S. 267 f. 153 Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten. Aesthetica in nuce. Stuttgart 1998, S. 81.

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Urheberschaft Gott als ihrem Autoren zuschreibt, sondern das Buch der Offenbarung selber als ein historisches, von Menschen geschaffenes Stück Poesie begreift: »Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist, Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen«. 154 Die sinnlich-materiell vorliegende Textfassung der Bibel ist für Hamann kein buchstabengetreuer Ausdruck göttlichen ›Willens‹, sondern eine von historischen Menschen angefertigte poetische Übersetzung göttlich offenbarter Einsichten in die eigene weltliche und damit geschichtlich bedingte Sprache. Indem der von Bacon noch vertretene überzeitliche Geltungsanspruch des Buches der Offenbarung von Hamann so relativiert und der geschichtlichen Bedingtheit des vom Menschen stetig weiter bearbeiteten Buches der Natur angepasst wird, transformiert sich das aporetisch gebliebene Problem der zunehmenden Kluft zwischen zwei verschiedenen Büchern in die Frage nach der Möglichkeit einer Zusammenführung von Moral und Erkenntnis in einem dritten Buch, dem ›Buch der Geschichte‹. Die Suche nach einer Antwort auf die Frage nach dem Zusammenhang von wissenschaftlichem Fortschritt und moralischer Einsicht kulminiert dann in der Aufgabe einer Ergründung des »Buche[s] aller Welten«, das Herder im siebzehnten seiner Briefe zu Beförderung der Humanität (1792) später als das eigentliche »Buch Gottes« apostrophieren wird, nämlich als das Buch »der großen Weltgeschichte«. 155 Dass Herder sich der Hamann’schen Wendung des Bacon’schen Problems einer Vereinbarkeit von ›Buch der Natur‹ und ›Buch der Offenbarung‹ schon früh anschließt, wird in seiner autobiografischen Programmschrift Journal meiner Reise im Jahre 1769 greifbar, in der er sich selbst die Lebensaufgabe stellt: »Suche […] aus den Zeiten der Bibel nur Religion, und Tugend, und Vorbilder und Glückseligkeiten, die für uns sind: werde ein Prediger der Tugend deines Zeitalters!« 156 Das Buch der Offenbarung ist schon zu dieser Zeit für Herder nicht mehr das Bacon’sche »book of God’s word«, das man Buchstabe für Hamann: Aesthetica. S. 82 f.; 87. Vgl. Nisbet: »Herder and Bacon«. S. 267 f. AP 85; SW XVIII, S. 314. Vgl. SZ 51. 156 Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Historisch-kritische Ausgabe. Hrsg. von Katharina Mommsen (im Folgenden zitiert als: JR). Stuttgart 2002. S. 31. Vgl. außerdem Hans Dietrich Irmscher: Johann Gottfried Herder. Stuttgart 2011, S. 29: »Schon früh vertritt Herder die These vom menschlichen Ursprung der biblischen Schriften.« 154 155

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Buchstabe bloß auswendig zu lernen brauchte, um in Fragen der Moral kundig zu sein (Works VI, 97). Ethische Fragen sind keine seit der Verfügbarkeit des Bibeltextes bereits als erledigt zu betrachtende Angelegenheit, wie es bei Bacon den Anschein hat. Die althergebrachten Tugenden sind selbst einem mit der Geschichte voranschreitenden Wandel unterworfen, der aus Herders Sicht den Einzelnen – und insbesondere ihn selbst – vor die Aufgabe stellt, die in der Bibel in altertümlicher Sprache und Denkweise enthaltenen Einsichten vor dem Hintergrund der Gegenwart zu aktualisieren und in die eigene Nationalsprache zu übersetzen. Wenn Herder in Auch eine Philosophie der Geschichte sagt, es spreche »die Analogie in der Natur, das redende Vorbild Gottes in allen Werken!«, dann deutet sich darin an, dass es sich für ihn letztlich nicht mehr um zwei verschiedene Bücher handelt, die zur Lektüre stehen, sondern um eine teilnehmerperspektivisch-beobachterperspektivisch gedoppelte Lesbarkeit ein und desselben ›Buches der Geschichte‹ (AP 38). Wie ich in diesem Kapitel zeigen möchte, ist für Herders ›Buch der Geschichte‹ dabei – im Begriff einer »Physik der Geschichte« – der Gedanke einer Analogie zwischen ›Buch der Natur‹ und ›Buch der Offenbarung‹ leitend (AP 83). Indem er die »Analogie in der Natur« zum Deutungsschlüssel der Geschichte erklärt, bringt er den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt und die moralische Entwicklung der Menschheit als »Ganzheiten oder Strukturen in ein Verhältnis zu einander«. 157 Ich werde im Folgenden zunächst die Theoriestruktur von Auch eine Philosophie der Geschichte umreißen (Kap. III.1). Anschließend werde ich auf die Bedeutung von Metaphorik und Muttersprache als Verständigungsmedien von Herders Geschichtsphilosophie eingehen, die auf dem Hintergrund der eigenen Gegenwart zugleich eine geschichtliche Selbstreflexion leisten soll (Kap. III.2). Für eine adäquate Interpretation von Herders Metaphernverwendung ist sein Konzept eines ›analogischen Verstehens‹ zentral, dessen allgemeinen Charakter ich deshalb zunächst einführend erläutern werde (Kap. III.2.a). Herders konkrete Analogien und Metaphern werde ich im Zuge einer Textanalyse und -interpretation von Auch eine Philosophie der Geschichte dann unter der Fragestellung näher beleuchten, inwiefern 157 Hans Dietrich Irmscher: »Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. März 1981 (1), S. 64–97. Hier: S. 89.

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darin eine beobachterperspektivisch-teilnehmerperspektivisch gedoppelte Betrachtung geschichtlicher Prozesse zum Ausdruck kommt (Kap. III.2.b.α–ε). Welche Bedeutung er der Muttersprache als einem Medium beimisst, dessen Möglichkeiten zur poetischen ›Übersetzung‹ traditionellen Wissens das gewissermaßen ›demokratische‹ Moment innewohnt, alle an einer Sprachgemeinschaft beteiligten Individuen im Prinzip zu Wort kommen lassen zu können, werde ich dann anhand der esoterisch-exoterisch gedoppelten Wirkungsdimension von Auch eine Philosophie der Geschichte erörtern (Kap. III.2.c). Vor dem Hintergrund von Herders eigener geschichtsphilosophischer Position kann dann seine Kritik an Bacon und den Ambivalenzen des Fortschritts näher untersucht werden (Kap. III.3). Zum Abschluss des Kapitels werde ich Herders Konzept einer Einheit von Theorie und Praxis daraufhin untersuchen, inwieweit es als eine Theoriekonzeption begriffen werden kann, die den von Horkheimer in den 1930er Jahren entworfenen Typus einer Kritischen Theorie der Sache nach bereits antizipiert, wofür der Begriff der geschichtlichen ›Kraft‹ den Schlüssel abgibt (Kap. III.4).

1.

Die Theoriestruktur von Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit Noch ist Alles Theorie: es werde Praxis und dazu diene die Seelensorge meines Amts. (JR 38)

Gemäß der von mir in dieser Arbeit vertretenen ersten These weist nicht nur die Instauratio Magna, sondern auch Herders Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit eine Theoriestruktur auf, die eine kausale Beobachterperspektive mit einer appellativen Teilnehmerperspektive verschränkt, wobei Metaphern eine Schlüsselrolle spielen. Die teilnehmerperspektivischen Appelle richten sich – wie diejenigen Bacons – sowohl in einer esoterischen Wirkungsdimension an Experten (d. h. im Falle Herders an zeitgenössische Autoren und Geschichtsphilosophen) als auch in einer exoterischen an Laien (d. h. an die Öffentlichkeit seiner Zeit). Die Theoriestruktur von Herders Schrift werde ich im Folgenden zunächst anhand ihres Titels umreißen. Anschließend werde ich, auf dem Umweg einer Erläuterung seines Analogiebegriffs anhand des Journals meiner Reise im Jahre 1769 (Kap. III.2.a), die Rolle von Metaphorik 176

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in seiner frühen Geschichtsdeutung in Auch eine Philosophie der Geschichte untersuchen (Kap. III.2.b-c). Die von Herder in Anschlag gebrachte Theoriestruktur lässt sich – mit Hans Dietrich Irmscher – anhand des für seine Schrift gewählten Titels in wenigen Strichen skizzieren, wobei ich den Titel so erläutern werde, dass der Reihe nach (1) die Verschränkung von (a) Beobachter- und (b) Teilnehmerperspektive, dann aber (2) die gedoppelte Wirkungsdimension der Schrift deutlich wird, die sich in einer (i) esoterischen Lesart an Experten und in einer (ii) exoterischen an Laien richtet. 158 Der Titel lautet vollständig: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Beytrag zu vielen Beyträgen des Jahrhunderts. 1) Die Verschränkung einer kausalen Geschichtsbetrachtung mit einer aufklärerischen Wirkungsabsicht kann anhand des doppelsinnigen Zusatzes »zur Bildung der Menschheit« erläutert werden: a) Herder verspricht damit eine Philosophie der Geschichte, die den Bildungsgang der Menschheit beobachterperspektivisch nachzeichnet und in seinen entwicklungsgenetischen Zusammenhängen theoretisch darstellt, d. h. es soll eine »›Darstellung der Geschichte der Menschheit als Bildung‹« geliefert werden. 159 b) Zugleich schließt die Schrift jedoch auch Geltungsaspekte mit ein, indem sie den praktischen Zweck erfüllen soll, ihre Rezipienten zu bilden und »ihr Denken und Handeln in einer bestimmten Richtung zu verändern.« 160 Herders geschichtsphilosophisches Programm einer Einheit von Theorie und Praxis besteht darin, die genetische und die geltungsbezogene Bedeutung von ›Bildung‹ im Rahmen einer einzigen Schrift so zusammenzuführen, dass die beobachterperspektivische Darstellung der Menschheitsgeschichte ›als Bildung‹ (s. o. a) zugleich den Zweck verfolgt, den Rezipienten der Schrift in dem Sinne ›zu bilden‹ (s. o. b), dass dem Leser – aus der Einsicht in beobachterperspektivisch feststellbare Kontingenzen des bisherigen Geschichtslaufs – ein teilnehmerperspektivisches Zukunftsbewusstsein für Möglichkeitshorizonte seiner eigenen geschichtlichen Situation erwächst. Den Schlüssel zum Verständnis des Zusammenhangs zwischen theoretischer Vgl. Irmscher: Herder. S. 111–123. Insbesondere die Arbeiten von Hans Dietrich Irmscher, der bereits eingangs genannte Aufsatz von Hugh B. Nisbet und die verstreuten Äußerungen Blumenbergs zu Herder bilden den Forschungshintergrund meiner Interpretation. 159 Irmscher: Herder. S. 112. 160 Ebd. 158

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Geschichtsrekonstruktion und praktischer Konstruktion der Zukunft bildet dabei der Begriff der ›Kraft‹, den Herder als eine geschichtlich jeweils vorliegende ›Potentialität‹ im Sinne eines ›Spielraums für menschliches Handeln‹ versteht und den ich zum Abschluss dieses Kapitels näher erörtern werde (Kap. III.4). 2) Dass Herder sich mit seiner Schrift zugleich an Experten und Laien richtet, wird daran deutlich, dass er mit dem polemischen Untertitel »Beitrag zu vielen Beiträgen des Jahrhunderts« einerseits i) auf einen vorangegangenen Forschungsdiskurs verweist: Schon die Formulierung im Haupttitel »Auch eine Philosophie der Geschichte« zeigt an, dass Herder hier eine von den zu seiner Zeit bereits vorhandenen Geschichtsphilosophien abweichende Deutung liefert, die den Sinn hat, diese wissenschaftlich zu widerlegen, was die esoterische Wirkungsdimension seiner Schrift ausmacht. Im Hinblick auf kritisierte Positionen sind prominent Rousseau, Voltaire (s. u. Kap. III.2.c.α), aber auch Francis Bacons fortschrittsoptimistische Deutung der Zukunft zu nennen, die Herder – wie ich später am Text ausweisen werde – mit einigem Sarkasmus bedenkt. ii) Andererseits wendet Herder sich mit dem ironischen Beiklang der Formulierung »Beitrag zu vielen Beiträgen« aber zugleich an die bürgerliche Öffentlichkeit seiner Zeit, indem er dieser gegenüber deutlich macht, dass er mit seinem Text einen Metadiskurs über die wissenschaftlichen Geschichtsdiskurse zu etablieren gedenkt, der dem Leser eine Auseinandersetzung mit den geschichtsphilosophischen Theorien der verschiedenen anderen Autoren im Einzelnen ersparen soll. In einem Brief an seinen Verleger Johann Friedrich Hartknoch vom Anfang August 1773 sagt Herder von Auch eine Philosophie der Geschichte: »Es ist Feuer darinn und glühende Kolen auf die Schädel unseres Jahrhunderts«. 161 Irmscher nennt diese Schrift daher auch ein »Pamphlet« und eine »Bußpredigt«, die sich in ihrem »Appell zur Umkehr« an ein breites Publikum der zeitgenössischen Gegenwart richtet, worin – wie ich hier geltend mache – ihre exoterische Wirkungsdimension zu sehen ist. 162 Auch für die folgende Erörterung der Bedeutung von Sprache und Metaphorik im Zusammenhang von Herders Schrift bilden Forschungsarbeiten Irmschers den Hintergrund, insbesondere sein pro161 Zitiert nach Hans Dietrich Irmscher: »Nachwort«. In: AP. S. 145–164. Hier: S. 146. 162 Ebd., S. 146 f.

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Die Rolle von Sprache und Metaphorik in Herders Geschichtsphilosophie

grammatischer Aufsatz »Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders«. 163 In einer späteren Publikation beruft Irmscher sich in Sachen seiner ›analogischen‹ Auslegung Herders auch ausdrücklich auf Hans Blumenberg, dessen »metaphorologische Studien« dazu ermuntert hätten, »in der Bildlichkeit seines [sc. Herders] Stils nicht mehr allein Unschärfe des Denkens zu erkennen«. 164

2.

Die Rolle von Sprache und Metaphorik in Herders Geschichtsphilosophie

Die bildreiche und symbolisch aufgeladene Sprache von Herders Schriften erschwert modernen Lesern ein Verständnis zum Teil erheblich. Er bespielt beinahe die gesamte Klaviatur abendländisch tradierter Topoi von der Nautik, über Biblizismen, Theater- und Buchmetaphorik, bis hin zur mechanistischen und organismischen Allegorisierung von Geschichtsprozessen, wobei man Mühe hat, die Entscheidungen für bestimmte Motivfelder im Einzelfall methodisch wirklich nachzuvollziehen. Eine klare und deutliche Zuordnung der Art, dass etwa mechanistische Metaphern grundsätzlich als rhetorische Formeln gebraucht würden, um geschichtliche Instrumentalisierungstendenzen zu brandmarken, lässt sich nicht ausmachen. Um die gleichwohl vorhandene Methodik von Herders Metapherngebrauch verstehen und angemessen würdigen zu können, ist es notwendig, zunächst von einer Betrachtung der einzelnen Metaphernfelder zu abstrahieren und seine Idee eines »analogischen Entdeckens« in den Fokus zu nehmen. 165 Wie Hans Dietrich Irmscher gezeigt hat, verwendet Herder Metaphern nämlich keineswegs ausschließlich als ›Schmuck‹ zur Veranschaulichung bestimmter Sachverhalte oder als bloßes Mittel einer rhetorischen ›Überredung‹ des Lesers, sondern immer auch in erkenntnisleitender Absicht. 166 Metaphorische Redeweisen spielen also eine tragende Rolle bei der ErfülIrmscher: »Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders«. Hans Dietrich Irmscher: »Aneignung und Kritik naturwissenschaftlicher Vorstellungen bei Herder«. In: Hibberd/Nisbet (Hrsg.): Texte, Motive und Gestalten der Goethezeit. Festschrift für Hans Reiss. Tübingen 1989, S. 33–63. Hier: S. 40. 165 Irmscher: »Analogie«. S. 65. 166 Diese Verwendungsweise von Metaphern findet ihre analytische Entsprechung in der Ursprungsintention von Blumenbergs Metaphorologie, Metaphern bei ihrer Analyse »als Leitsphäre abtastender theoretischer Konzeptionen, als Vorfeld der Begriffs163 164

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lung der geschichtsphilosophisch angelegten Bildungsfunktion seiner Schriften. Der Metaphernverwendung liegt dabei die Hypothese von Strukturverwandtschaften zwischen verschiedenen Bereichen der menschlich erfahrbaren Wirklichkeit zugrunde. Herder selbst gebraucht hierfür in verschiedenen seiner Werke den Ausdruck »Analogie« (JR 79; AP 38, 46; SW XIII, 9), deren methodische Leitlinie Irmscher folgendermaßen kennzeichnet: »Die Analogie bringt Ganzheiten oder Strukturen in ein Verhältnis zu einander.« 167 Innerhalb der einzelnen, strukturanalogisch zueinander ins Verhältnis gebrachten Ganzheiten aber herrscht keineswegs eine wertende Eindeutigkeit, sondern grundsätzlich Ambivalenz. Dieser Umstand lässt sich folgendermaßen exemplarisch veranschaulichen: Während in der Nautik Schiffe ›sinken‹ und ihre Besatzungen gleichwohl noch das ›sichere Ufer‹ erreichen können, kann der Gegenspieler in einem Theaterstück ein ›tragisches‹ Ende nehmen, wodurch das Schauspiel selbst aus Sicht des Publikums allerdings ›glücklich‹ endet. Organismen können ›gesund‹ und in längerer Frist dennoch unweigerlich ›zum Tode verurteilt‹ sein. Mechanismen können sich im ›Gleichgewicht‹ befinden und gerade dadurch eine ›zerstörerische Wirkung‹ entfalten. In jedem metaphorischen Bezugsrahmen wird dergestalt ein allgemein-analogisches Deutungsspektrum in jeweils besonderer Weise realisiert, wobei die Strukturganzheiten als solche weder ›gut‹ noch ›schlecht‹ sind bzw. zwischen diesen beiden Extremen im ständigen Fluss und aus wechselnden Perspektiven jeweils unterschiedlich konnotiert sein können. Dieses analogische Verständnis von Wirklichkeitssphären gehört zu den »Grundzüge[n] der Hermeneutik« Herders. 168 Begreift man nun seine Metaphernverwendung vor dem Hintergrund seines Analogiebegriffs und verwendet die Analogie als Deutungsrahmen zu deren Entschlüsselung, dann wird klar, dass das, was er mit einer konkreten Metapher zu sagen beabsichtigt, immer im Kontext ihres jeweiligen Gebrauchs verstanden werden muss, da er Metaphern nicht (wie etwa Bacon seine Biblizismen) als quasi-begrifflich feststehende ›Formeln‹, sondern als ein ›heuristisches Ausbildung, als Behelf in der noch nicht konsolidierten Situation von Fachsprachen« zu begreifen (SZ 87; vgl. PM 13). 167 Irmscher: »Analogie«. S. 68. 168 Vgl. Hans Dietrich Irmscher: »Grundzüge der Hermeneutik Herders«. In: Johann Gottfried Maltusch (Hrsg.): Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1971. Bückeburg 1973. S. 17–57. Hier bes.: S. 29 f.

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drucksmedium‹ in erkenntnisleitender Funktion einsetzt. So kann etwa die in Auch eine Philosophie der Geschichte häufig gebrauchte Werkzeugmetapher sich auf sehr Verschiedenes beziehen und je nach Kontext positiv konnotiert sein, etwa wenn Herder vom Menschen als »der Vorsehung Werkzeug« oder dem »Werkzeuge zu großem Guten in der Zukunft« spricht (AP 48; 52). Zugleich kann dieselbe Metapher aber auch einen neutralen Unterton haben und relativ wörtlich gemeint sein, etwa wenn Herder feststellt, der Mensch selber habe »das Werkzeug verändert«, womit er an dieser Stelle auf technische Erfindungen abzielt, die einen qualitativen Sprung menschlicher Möglichkeiten zum Eingriff in Naturverhältnisse bedeutet haben (AP 58). Andernorts kann die Werkzeugmetapher wiederum einen anklagendpejorativen Tonfall annehmen, wenn dem Eigendünkel des ›Lichts‹ aufgeklärter Philosophie die Vorstellung vom Menschen als einem »kleine[n], blinde[n] Werkzeug« entgegengehalten wird (AP 57). Die jeweilige Entscheidung für die Werkzeugmetapher bedeutet bei all dem jedoch nicht, dass ›analoge‹ Metaphern aus anderen Metaphernfeldern an selber Stelle nicht eine vergleichbare Funktion übernehmen könnten. Metaphern können einander also sehr wohl vertreten. Anstelle der Metapher vom Menschen als ›Werkzeug der Vorsehung‹ verwendet Herder z. B. auch das Bild eines Schauspiels, in dem »jeder Schauspieler nur Rolle hat«, ohne die »Hauptvorstellung« vor Augen zu haben, oder diejenige von »Lettern« im »großen Buche Gottes«, von denen jede einzelne nur die unmittelbar angrenzenden Buchstaben kennt – wobei die variierende Inanspruchnahme unterschiedlicher Metaphernfelder das Gemeinte auch um Nuancen erweitern oder unter mehreren Facetten beleuchten kann (AP 83; 110). Spricht die Werkzeugmetapher eher aus Sicht eines neutralen Beobachters, so schwankt bei der Bühnenmetapher die Perspektive zwischen ›Publikum‹ und ›Schauspieler‹ gewissermaßen hin und her, während bei der Buchmetapher schließlich der Standpunkt des einzelnen ›Buchstabens‹ im tendenziellen Mittelpunkt der Aussage steht. Aufgrund der zentralen Bedeutung der Analogie als Erklärungsrahmen für Herders Metapherngebrauch werde ich im Folgenden zunächst ihre Funktion anhand des Journals meiner Reise im Jahre 1769 näher erläutern. Anschließend werde ich zur Analyse von Auch eine Philosophie der Geschichte übergehen, die sich zu einem maßgeblichen Teil entlang bestimmter Analogien bewegt, deren Entschlüsselung für ein adäquates Verständnis seiner Geschichtsdeutung überhaupt die Voraussetzung bildet. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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a.) Die heuristische Funktion der Analogie Die Funktion der Analogie im Denken Herders hat Irmscher als eine der »Entdeckung neuer Gebiete des Erkennens und der geschichtlichen Selbstverwirklichung des Menschen« bestimmt. 169 Streng genommen lassen sich damit zwei Rollen der Analogie aufweisen, die zwar doppelfunktional ineinanderspielen, gleichwohl aber begrifflich unterschieden werden können, nämlich (1) eine methodisch-erkenntnisleitende Teilfunktion und (2) eine weitere der geschichtlichen Selbstverständigung über Möglichkeitshorizonte der Menschheitsentwicklung. Ich werde zunächst erstere Funktion erörtern, um dann letztere (a) einzuführen und sie (b) zu problematisieren. Es lässt sich – so die These dieses Unterabschnitts – auf diesem Wege sichtbar machen, dass Herder im Zuge einer methodischen Übertragung naturwissenschaftlicher Verfahrensweisen auf die geisteswissenschaftliche Erklärung von Geschichte eine über Bacon hinausweisende Funktion der Analogie als Mittel zur geschichtlichen Selbstverständigung des Menschen geltend macht, die in Bacons wissenschaftspolitischer Zukunftsperspektive zwar angelegt, in Ermangelung einer Geschichtstheorie jedoch nicht voll entwickelt ist. Sobald dies gezeigt ist, kann zur Analyse konkreter Analogien und Metaphern in Herders früher Geschichtstheorie in Auch eine Geschichte der Philosophie übergegangen werden. Die Frage wird dann lauten, ob er den Gedanken einer Selbstverständigungsfunktion von Analogien im Anschluss an Bacon tatsächlich kohärent entwickeln und in seiner frühen Geschichtstheorie auch performativ erfolgreich umsetzen kann. 1) Methodisch zeichnet sich die Analogie durch den »Vergleich aufgrund einer auch im Unbekannten vorauszusetzenden analogen Struktur« aus: Indem Strukturverwandtschaften zwischen einem bereits erforschten Phänomenbereich und anderen, bis dato noch unerforschten Gebieten des Erkennens ausgemacht werden, wird es möglich, bereits erworbene Kenntnisse auf neue Sachverhalte zu übertragen und dann zu prüfen, ob mittels dieser heuristischen Transferleistung Ansätze zur Erklärung des vorläufig noch Unbekannten gefunden werden können. 170 Die von Herder verwendeten Analogien haben dergestalt einen »innovierenden, heuristischen 169 170

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Charakter« bzw. erfüllen eine »heuristische Erkenntnisfunktion«. 171 Die Analogie »leistet Schrittmacherdienste für die ihr folgende begriffliche Erschließung.« 172 Analogien stellen damit nicht selbst schon eine Erkenntnis dar, sondern bereiten diese zunächst nur vor – gehören also in den Bereich einer »ars inveniendi, die seit Francis Bacon zahlreiche Philosophen in Regeln zu fassen sich bemüht haben«. 173 Wie Analogien diese Funktion genauer erfüllen sollen, kann daher einführend auf dem Hintergrund von Bacons Erläuterungen zum Verfahren einer ›Interpretation der Natur‹ gezeigt werden. Er spricht im zweiten Buch des Novum Organon von einer Zweigliedrigkeit des Verfahrens einer ›Interpretation der Natur‹ : Die Mittel für die Interpretation der Natur umfassen im allgemeinen zwei Teile, in dem ersten werden die Grundsätze aus der Erfahrung entwickelt oder klar umfaßt, in dem zweiten werden neue Versuche aus den Grundsätzen entwickelt und abgeleitet. […] Anfangen aber muß man am Ende, und von da aus ist rückschreitend alles Vorausliegende zu ergründen. (NO II, 10)

Bacon umreißt damit nicht nur das Verfahren einer Gewinnung erster gesicherter Erkenntnisse über die Natur, sondern zeigt auch an, wie von hier aus zur Erzielung weiterer wissenschaftlicher Einsichten fortgeschritten werden soll. Unter Inanspruchnahme der Prämisse, dass bisher noch unverstandene Teilbereiche der Natur sich kausal ähnlich (i. d. S. ›analog‹) zu jenen verhalten, die man bereits erkannt hat, werden Hypothesen aufgestellt und Versuchsaufbauten entwickelt, mittels derer sich Prognosen über bisher noch unerschlossene Phänomenbereiche experimentell bewähren oder falsifizieren lassen. Er spricht deshalb auch davon, dass »die Kunst des Erfindens (artem inveniendi) mit den Erfindungen erstarken kann.« (NO I, 130) Eine ›bloß heuristische‹ Funktion erfüllt die Analogiebildung dabei insofern, als die Formulierung einer Hypothese auf Basis zunächst nur behaupteter Strukturverwandtschaften selbst noch keine Erkenntnis darstellt. Analogien sind als ein orientierender Vorgriff auf das Gelingen des Erkenntnisprozesses zu werten. In Bacons Terminologie gesprochen handelt es sich bei Analogiebildungen damit um nicht mehr als ›Antizipationen des Geistes‹, die falsch würden, wenn man sie als Aussagen über die Natur selbst (sc. als ›Antizipationen der 171 172 173

Ebd., Fn. Irmscher: Herder. S. 115. Irmscher: »Analogie«. S. 67. Ebd., S. 96.

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Natur‹) auffasste. Analogien können – als geistig-antizipative Vorgriffe auf das Gelingen von Erkenntnisprozessen – deshalb erst dadurch wissenschaftliche Relevanz entfalten, dass sie in Hypothesen übersetzt werden, die sich empirisch-induktiv auch tatsächlich bewähren oder falsifizieren lassen; die also nicht im Bereich ›bloßer Meinung‹ steckenbleiben. In einem weiteren Sinne wird auch bereits Bacons wissenschaftsbegründendes Programm insgesamt propädeutisch aus einer ›Analogie‹ begründet, wenn er auf Basis des Vergleichs zur Entdeckungsreise des Kolumbus die Prognose aufstellt, die wissenschaftspolitische Institutionalisierung seines neuen Erkenntnisverfahrens werde ähnlich bahnbrechende Entdeckungen zutage fördern, wie es das Befahren neuer Seewege für das Wissen der Europäer um fremde Kontinente bereits getan hat (vgl. NO I, 92). Dieses heuristische Verfahren zur Erschließung neuer Wissensgebiete und zur Gewinnung fortgeschrittener Erkenntnisse über die Natur wird von Herder zunächst übernommen, dann aber auf den Bereich der Geschichtserklärung übertragen. 2) Hinsichtlich der Funktion von Analogien wird die Aufnahme und gleichzeitige Überbietung Bacons besonders im Journal meiner Reise im Jahr 1769 deutlich, einer Programmschrift, in der Herder die Erlebnisse seiner Reise von Riga nach Nantes reflektiert und sich selbst über die bei dieser Überfahrt gewonnenen Einsichten Rechenschaft gibt. Das Reisejournal ist zugleich Schilderung eines Erweckungserlebnisses, Selbstanklage und Medium einer Selbstverständigung über den eigenen weiteren Lebensweg – es ist in all dem aber auch Dokument des Einflusses von Bacons Schriften auf den jungen Herder. Er erhebt zu Beginn des Journals die Selbstanklage, er sei auf seinem bisherigen Lebensweg »ein Tintenfaß von gelehrter Schriftstellerei, […] ein Wörterbuch von Künsten und Wißenschaften […] ein Repositorium voll Papiere und Bücher geworden, das nur in die Studierstube gehört«, wobei er sein plötzlich empfundenes Ungenügen an einer rein theoretisch orientierten Existenz als eines Schriftgelehrten daran fest macht, dass auf See sein »enge[r], veste[r], eingeschränkte[r] Mittelpunkt […] verschwunden« sei (JR 9 f.; 12). Die poetische Verarbeitung der Überfahrt von Riga nach Nantes wird so zur Stilisierung eines Erweckungserlebnisses: […] was gibt ein Schiff, daß zwischen Himmel und Meer schwebt, nicht für weite Sphäre zu denken! Alles gibt hier dem Gedanken Flügel und Bewegung und weiten Luftkreis! […] Auf der Erde ist man an einen todten Punkt

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angeheftet; und in den engen Kreis einer Situation eingeschlossen. […] welch eine andre Aussicht! Wo ist das veste Land, auf dem ich so veste Stand? (SR 11)

Rückblickend auf die Situation an Bord des Schiffes und die dort als überwältigend empfundene Naturfülle von »Himmel, Sonne, Sterne, Mond, Luft, Wind, Meer, Regen, Strom, Fisch [und] Seegrund« stellt er sich die Lebensaufgabe, »die Physik alles dessen […] aus sich herausfinden zu können. Philosoph der Natur, das sollte dein Standpunkt seyn, mit dem Jünglinge, den du unterrichtest!« (JR 13) Indem er sich eine Abkehr vom reinen Schriftgelehrtentum und die Hinwendung zur direkten Betrachtung von Naturphänomenen auferlegt, erneuert Herder die von Bacon zu Beginn der Neuzeit geübte Kritik an einer buchkulturell erstarrten Forschungspraxis und schließt sich damit der empiristischen Position Bacons in der Erklärung von Naturverhältnissen an. Er erklärt das Theorieprogramm einer Einheit von Theorie und Praxis ausdrücklich zum künftigen Paradigma seiner eigenen wissenschaftlichen Bemühungen: »Noch ist Alles Theorie: es werde Praxis und dazu diene die Seelensorge meines Amts.« (JR 38) Inwiefern Herder mit dem Hinweis auf die eigene seelsorgerische Tätigkeit hierbei den Schritt über Bacon hinaus zur geschichtlichen Selbstverständigung macht und ob sich daraus nicht Schwierigkeiten für das Programm einer kausal erklärenden Theorie nach baconischem Muster ergeben, wird noch zu klären sein (b). Betrachten wir zunächst die Art und Weise, wie er Bacons heuristisches Verfahren bei der Erschließung neuer Erkenntnisgebiete adaptiert. a) Die Selbstaufforderung einer Ergründung der »Physik alles dessen«, was ihn an Naturdingen umgibt, löst Herder im Reisejournal exemplarisch anhand von vergleichenden Betrachtungen zwischen den Medien von ›Wasser‹ und ›Luft‹ ein, wobei die imaginativ rekonstruierte Situation auf dem Schiff bei der Überfahrt den Erzählrahmen des Vergleichs bildet: Waßer ist eine schwerere Luft: Wellen und Ströme sind seine Winde: die Fische seine Bewohner: der Waßergrund ist eine neue Erde! Wer kennet diese? Welcher Kolumb und Galiläi kann sie entdecken? Welche urinatorische neue Schiffart; und welche neue Ferngläser in diese Weite sind noch zu erfinden? (JR 14)

Unabhängig davon, wie weit die analogisch-heuristische Verfahrensweise in diesem Falle für ozeanographische Erklärungen tatsächlich tauglich sein mag – aus heutiger Sicht wird man die Analogie wohl Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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als allzu unscharf und allgemein werten müssen –, wird doch deutlich, dass Herder hier dem von Bacon skizzierten Verfahren einer ›ars inveniendi‹ folgt, indem er vorschlägt, die bereits erzielten Erkenntnisse über kausale Gesetzmäßigkeiten im Luftmedium experimentell auf das Wasser zu übertragen. Auf Basis der analogischen Betrachtung und der Erfindung vergleichbarer Instrumente (»neue Ferngläser«) soll der Weg zu einer Erforschung der Meere ebenso geebnet werden wie zur technischen Anwendung der so ermöglichten Entdeckungen, etwa durch die Konstruktion von U-Booten (»urinatorische neue Schiffart«). Der Eindruck, Herder habe sich bei seiner analogischen Verfahrensweise an dieser Stelle von Bacons Schriften leiten lassen, wird dadurch gestützt, dass er Kolumbus erwähnt, dessen Entdeckungsreise schon dort als paradigmatisch für die Entdeckung neuer Erkenntnisgebiete ins Feld geführt wird. Zudem stellt bereits Bacon in Nova Atlantis die Erfindung von verbesserten Ferngläsern und von U-Booten mittels seines neuen Erkenntnisverfahrens in Aussicht (vgl. NA 51; 53). b) Herder belässt es jedoch nicht dabei, das analogische Verfahren zur Erschließung neuer Erkenntnisgebiete einzig für naturwissenschaftliche Betrachtungen heranzuziehen. Während Bacon nur vorläufig in Aussicht gestellt hatte, die Methode der Interpretation solle »auch für die übrigen Wissenschaften, die Logik, Ethik, Politik« gelten (NO I, 127), erhebt Herder im Reisejournal den Anspruch, die baconische Wissenschaftsidee praktisch über ihren Urheber hinaus weiterzuführen, indem er sie nun auch auf den Bereich einer Wissenschaft vom Menschen überträgt: Die Psychologie, was ist sie anders als eine reiche Physik der Seele? Die Cosmologie anders, als die Krone der Newtonschen Physik? Die Theologie anders, als eine Krone der Cosmologie, und die Ontologie endlich die bildendste Wissenschaft unter allen. Ich gestehe gern, daß wir noch keine Philosophie in dieser Methode haben […]. O was wäre hier eine Metaphysik in diesem Geiste durchgängig, seine Aussichten von einem Begriffe auf einen höhern auszubreiten, im Geist eines Bako, was wäre das für ein Werk! (JR 54)

Mit dem Postulat einer »Physik der Seele« wird offenbar gefordert, das Paradigma kausaler Erklärung auch auf den Menschen anzuwenden und den Aufbau der Wissenschaften systematisch-einheitlich so darzustellen, dass ihr Zusammenhang untereinander klar wird. Angesichts einer solchen Forderung erhebt sich allerdings die Frage, ob 186

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Herder damit nicht jene Durchsetzung von »Bacons Utopie […] in tellurischem Maßstab« betreibt, die Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung später als einen »Zwang« brandmarken werden, der entsteht, wenn kausale Erklärungen eindimensional auf die Gesellschaftstheorie ausgeweitet werden (DA 57). Pointiert gefragt: Wenn Herder vorschlägt, das Verfahren kausaler Erklärung einheitlich auf sämtliche Wissenschaftsgebiete auszuweiten, vertritt er dann nicht eine ›positivistische‹ Position im von Horkheimer kritisierten Sinne? Eine abschließende Antwort auf diese ausgesprochen voraussetzungsreiche Frage kann erst zum Ende des Kapitels gegeben werden. An dieser Stelle sei zunächst nur festgehalten, dass ein solches ›positivistisches‹ Programm zumindest nicht Herders Selbstverständnis entspricht. Die Absicht, die er mit seiner Darstellung der Art und Weise verfolgt, wie die Welt als solche ›gebildet‹ ist, ist erklärtermaßen eine aufklärerische. Ihr Ziel soll es sein, den Leser selber im Hinblick auf die zukünftige Menschheitsentwicklung ›zu bilden‹ : Eben so die Moral mit der Seelenlehre, die Ethik mit der Menschlichen Natur, die Politik mit allen Phänomenen der Bürgerlichen Haushaltung verbunden! wie schließt sich alles an, was für ein Bako gehört dazu, um dies alles nur zu zeigen, wie es in den Plan der Erziehung und Aufweckung einer Menschlichen Seele gehört! der es ausführe und selbst dahinbilde! (JR 55)

Herder erhebt also den Anspruch, Bacons Theorieprogramm nicht einfach bruchlos fortzuführen, sondern es – durch die Implikation des geschichtlichen Bildungsauftrags einer »Erziehung und Aufweckung« – sogar noch zu übertreffen. Das wird daran deutlich, dass der mit einer historischen Persönlichkeit verbundene Name »Bako« (sc. Francis Bacon) an dieser Stelle selbst nur noch in analogischer Funktion (»was für ein Bako gehört dazu«) auftritt: So wie jener den historischen Kolumbus und dessen Entdeckungsreise als ein veranschaulichendes Analogon zur von ihm geplanten Erneuerung der Wissenschaften angeführt hatte, bedient Herder sich nun seinerseits der baconischen Erneuerung als eines Analogons, die »Universalgeschichte der Bildung der Welt« in der praktischen Absicht darzustellen, »den Zustand der künftigen Litteratur und Weltgeschichte zu weißagen« (JR 16 f.): was ists das eigentlich in Europa nicht ausgerottet werden kann vermöge der Buchdruckerei, so vieler Erfindungen und der Denkart der Nationen? Kann man über all dies nicht rathen nach der Lage der gegenwärtigen Welt, Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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und der Analogie verflossener Jahrhunderte? Und kann man nicht hierin zum Voraus einwürken? […] Da wird man mehr als Bako: da wird man im Weißagen größer als Newton: da muß man aber mit dem Geist eines Montesquieu sehen; mit der feurigen Feder Roußeaus schreiben, und Voltaires Glück haben, das Ohr der grossen zu finden. (JR 79)

Während Bacon die Möglichkeit neuer Erfindungen durch Umsetzung seines vorrangig wissenschaftspolitischen Programms in Aussicht stellt und prognostiziert, dass fortgeschrittene Technologie indirekt zu einer Verbesserung der conditio humana beitragen werde – wobei letztere Prognose von Bacon, zu dessen Zeit Politik noch als eine Geheimkunst galt, nicht mehr wirklich ›gesellschaftstheoretisch‹, sondern lediglich ›utopisch‹ eingeholt wird –, will Herder offenbar auf Basis einer noch zu entfaltenden Geschichtstheorie ganz gezielt und direkt auch gesellschaftspolitisch wirken. Der in rhetorischer Frageform formulierte Hinweis, ob man nicht »nach der Lage der gegenwärtigen Welt und der Analogie verflossener Jahrhunderte« raten könne, zeigt an, dass ihm dabei auch innerhalb der Geschichtsdeutung ein analogisches Verfahren vorschwebt: Aus der Einsicht in die kausale Verkettung vergangener geschichtlicher Ereignisse soll auf zukünftige geschlossen werden können. Wenn Herder hieran allerdings die gleichfalls rhetorisch gemeinte Frage anschließt, ob man dann nicht auch auf zukünftige Entwicklungen »einwürken« könne, indem man »mit der feurigen Feder Roußeaus« schreibt, dann scheint dies auf den ersten Blick im Widerspruch zu jener »große[n] Analogie der Natur« zu stehen, mittels derer er vorschlägt, das Verfahren einer ›Interpretation der Natur‹ auch auf den Bereich der Geschichtserklärung hin auszuweiten (SW XIII, 9). Eine rein kausale, empirisch-induktive Erklärung der Historie nach dem Strickmuster von Bacons ›Interpretation der Natur‹ kann den Geschichtslauf methodisch nur mit dem rekonstruktiven Anspruch zur Darstellung bringen, die Ereignisse in ihrer historischen Abfolge so zu erfassen, wie sie tatsächlich passiert sind und sich mit kausaler Zwangsläufigkeit aus einander entwickelt haben. Überträgt man also Bacons Methode der ›Interpretation‹ einfach nur von der Natur auf gesellschaftliche Verhältnisse, dann muss eine geschichtliche Rekonstruktion derselben zwangsläufig auch einen quasi-naturkausalen Duktus annehmen. Ein ›Weissagen‹, wie Herder es mit seiner ersten rhetorischen Frage postuliert, wäre hier zwar in dem Sinne tatsächlich möglich,

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dass man – unter Einbeziehung von Daten über vergangene Ereignisse – Hochrechnungen über zukünftige Geschehnisse anstellen könnte, so wie es in der Astronomie schon seit dem 6. Jh. v. Chr. möglich ist, periodisch wiederkehrende Sonnenfinsternisse vorherzusagen. Indem man beispielweise feststellt, dass eine bestimmte politische Ausgangslage in der Vergangenheit zum Ausbruch eines Krieges zwischen zwei Staaten geführt hat, ist es angesichts einer vergleichbaren Situation zur eigenen Gegenwart und unter Berücksichtigung von Abweichungen möglich, das in näherer Zukunft mit einem bestimmten Prozentsatz wahrscheinliche Heraufziehen eines neuen Krieges erfolgreich vorherzusagen. Da allerdings die Übertragung des von Bacon vorgeschlagenen Paradigmas kausaler Erklärung aus den Naturwissenschaften auf eine Philosophie der Geschichte in diesem Sinne ein deterministisches Geschichtsbild impliziert, ist ohne Weiteres nicht einzusehen, wie auf Basis solcher Geschichtsanalysen die Behauptung gerechtfertigt werden kann, man könne auf die Zukunft »einwirken« – einen drohenden Krieg also auch verhindern, wie Herder das offenbar behauptet. Die Schlüsselfrage zum Verständnis seiner frühen Geschichtsphilosophie muss deshalb lauten, wie die beiden von Irmscher herausgestellten Teilfunktionen der Analogie – einerseits die »Entdeckung neuer Gebiete des Erkennens« zu ermöglichen (s. o. 1) und andererseits der »geschichtlichen Selbstverwirklichung des Menschen« zu dienen (s. o. 2) – so zusammenpassen, dass die mit der Analogie zu den Naturwissenschaften behauptete Kausalität des bisherigen Geschichtslaufs mit der Unterstellung vereinbart werden kann, die Zukunft ließe sich durch freies Handeln gleichwohl noch bewusst gestalten. Meine Hypothese zu dieser Frage lautet, dass Herder über Analogien und Metaphern in methodisch-propädeutischer Funktion zunächst einen Selbstverständigungsdiskurs über Geschichte eröffnet (s. o. 1). Auf dem Wege einer empirisch fundierten, aber eben nicht ›streng kausalen‹ Rekonstruktion des Geschichtslaufs werden dann in sukzessiver Annäherung an die eigene Zeit die sozialen Umstände erkannt (d. h. begriffssprachlich erfasst), die zur gegenwärtigen Gesellschaftsformation geführt haben. Der methodisch leitende Selbstverständigungsdiskurs kommt jedoch erst darin zum Ziel, dass das ursprünglich leitende Verständigungsinteresse der Gegenwart reflexiv selber als ein Produkt von geschichtlichen Prozessen ausgewiesen wird, deren Erkenntnis dann den Hintergrund bildet für Herders meZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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taphorisch gehaltene Appelle zu einem selbstverwirklichenden Handeln der Zeitgenossen auf die Zukunft hin (s. o. 2). Die Einlösung dieser Interpretationsthese setzt eine nähere Auseinandersetzung mit den historischen Analysen seiner frühen Geschichtsphilosophie voraus und bildet daher deren Abschluss.

b.) Das Verhältnis von Beobachter- und Teilnehmerperspektive in der Lektüre des ›Buchs der Geschichte‹ Wie eingangs dieses Kapitels bemerkt, führt Herder die Bacon’sche Unterscheidung von ›Buch der Natur‹ und ›Buch der Offenbarung‹ in Auch eine Philosophie der Geschichte mit der Metapher vom »Buche aller Welten« weiter, das in einer gedoppelten Lesbarkeit des ›Buches der Geschichte‹ seinen Ausdruck findet (AP 86). Dieses Buch aller Welten ist einerseits »Buch der Vorgeschichte« und gewährt damit Einblick in die bisherige Historie der Menschheit, es soll andererseits jedoch als das »große Buch[ ] Gottes« zudem ein Handeln im Hinblick auf die Zukunft der Menschheit gestatten (AP 86; 110). Dass für diese Zusammenführung der beiden Bücher zu einem der Herder’sche Analogiebegriff leitend ist, wird daran deutlich, dass er den Bacon’schen Dualismus von ›Gottes Werk‹ und ›Gottes Willen‹ aufgibt, indem er die beiden Weisen, die Gott – den Herder nicht mehr personal, sondern pantheistisch begreift – dem Menschen als seinem Geschöpf zur Welterschließung ermöglicht hat, ›analogisch‹ zusammenführt: Wenn hat in der ganzen Analogie der Natur die Gottheit anders als durch Natur gehandelt? und ist darum keine Gottheit, oder ists nicht eben Gottheit, die so all-ergossen, einförmig und unsichtbar durch alle ihre Werke würkt? (AP 46)

Mit der von Herders Spinoza-Rezeption beeinflussten Wendung zu einem pantheistischen Gottesbegriff fällt jedoch nicht nur die Bacon’sche Unterscheidung zweier Bücher fort, es droht zugleich deren wissenschaftlicher Ertrag verloren zu gehen. 174 Der Sinn dieser Differenzierung war ja in erster Linie, zwischen Kausalität und Finalität

174 Zu den Einflüssen Spinozas und zu Herders Positionierung im sog. ›Pantheismusstreit‹ vgl. Frederick C. Beiser: The Fate of Reason. German Philosophy from Kant to Fichte. Cambridge/Massachusetts/London 1987. S. 158–164.

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eine kategoriale Grenze einzuziehen, so dass finalkausale Aussagen aus der Betrachtung des ›Buches der Natur‹ ausgeschlossen und damit als ›bloße Meinung‹ disqualifiziert bzw. der Religion und dem ›Buch der Offenbarung‹ zugeordnet werden konnten. Indem Herder die Natur nun jedoch offenbar als eine direkte »Tatoffenbarung Gottes« begreift, in der die beiden metaphorischen ›Bücher‹ Bacons unmittelbar in eins fallen, kann es auf den ersten Blick so scheinen, als kämen damit auch Kausalität und Finalität in der Geschichte in dem Sinne zur Deckung, dass die Geschichte insgesamt kausal durchdeterminiert und unmittelbar zugleich in allen Teilen von Gott in dieser Weise final vorherbestimmt wäre. 175 Es besteht damit die Gefahr, dass die von Bacon – zumindest wissenschaftsesoterisch – bereits suspendierte Theologie wieder an ihren alten Platz rückt, indem Herder sich zu »einer ungesunden Vermischung des Göttlichen und Menschlichen« hinreißen lässt, wovor jener in der Kritik abergläubischer Lehrmeinungen ausdrücklich gewarnt hatte (NO I, 65). Hat Herder Bacon also schlicht fehlinterpretiert oder fällt er gar in eine ›scholastische‹ Position und damit auch weit hinter seinen Lehrer Immanuel Kant zurück? Angesichts der vernichtenden Kritik Kants an den ersten beiden Bänden von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–85), in der Kant ihm vorwirft – so die Paraphrase Irmschers –, er habe »mit seiner Verwendung der Analogie den fundamentalen Fehler begangen, die heuristische Idee, die allenfalls zu neuen Erkenntnissen hinführen kann, mit diesen selbst« zu verwechseln, liegt dieser Verdacht auch in Bezug auf Auch eine Philosophie der Geschichte nahe. 176 Eine solche Verwechslung wäre in Bacon’scher Terminologie gesprochen tatsächlich nichts anderes als die erneute Verwischung der kategorialen Grenze zwischen ›Antizipation des Geistes‹ und ›Interpretation der Natur‹. Wie ich hier zeigen möchte, ist der Verdacht eines fundamentalen Fehlers zumindest in Bezug auf Auch eine Philosophie der Geschichte jedoch unbegründet, da in dieser Schrift eine Perspektivendoppelung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive realisiert ist, Irmscher: »Grundzüge«. S. 27. Irmscher: »Analogie«. S. 93 f. Die Kritik Kants an den Ideen ist Irmscher zufolge »im einzelnen kaum zu widerlegen«, weshalb diese Schrift im Rahmen der vorliegenden Untersuchung im Hintergrund bleibt. Ob oder bis zu welchem Punkt Herders Position in den Ideen sich nicht doch gegen Kant verteidigen lässt, wäre Gegenstand einer eigenständigen Untersuchung. 175 176

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die ein naives Verständnis der Leistungsfähigkeit von Analogien vermeidet, indem die Analogiebildungen von vornherein einer propädeutischen und teilnehmerperspektivisch-interessierten Weltbetrachtung (d. h. dem Bereich einer ›Antizipation des Geistes‹) zugeordnet sind (i), während die empirisch-kausalen Geschichtsanalysen aus einer wissenschaftlichen Beobachterperspektive (d. h. als ›Interpretationen der Natur‹) vorgenommen werden (ii): i) Die Analogien dienen dem Geschichtsschreiber Herder dazu, einen Sinn in der Geschichte freizulegen, dem in seiner eigenen Gegenwart eine teilnehmerperspektivische Bildungsfunktion gegenüber den Rezipienten seiner Schrift zukommen soll. ii) Dieser Sinn in der Geschichte hat jedoch den historisch an einer Entwicklung beteiligten Individuen selbst so noch gar nicht bewusst werden können. Dass dem so ist, kann der Historiker rückblickend auf dem Wege einer beobachterperspektivischen Rekonstruktion des Selbstverständnisses dieser Individuen aus 3.-PersonPerspektive zeigen und dadurch erklären, dass er diese Selbstinterpretationen als Ausdruck der bestimmten Lebensverhältnisse einer historischen Stufe der Menschheitsgeschichte begreift. Das historische Selbstverständnis eines Kulturkreises oder einer Nation (s. o. ii) muss also durch den Historiker selbst von seinem eigenen geschichtlichen Selbstverständnis (s. o. i), auf Basis dessen er einen Sinn in der Geschichte postuliert, kategorial unterschieden – das ›antizipative‹ Interesse des Historikers am Geschichtslauf (s. o. i) darf mit der beobachterperspektivischen ›Interpretation‹ historischer Prozesse (s. o. ii) nicht verwechselt werden. Auf diesem Wege – so die hier vertretene These – wird nicht nur ein Rückfall hinter Bacon vermieden, die Perspektivendoppelung gestattet es Herder außerdem, in der Frage von naturkausaler Determination oder menschlicher Veränderbarkeit der Geschichte zu einer ›kompatibilistischen‹ Position vorzudringen, die den Widerspruch zwischen den beiden Aussagen (sc. ›Die Geschichte ist durchgängig kausal geregelt‹ und ›Die Geschichte lässt sich durch menschliche Aktivität verändern‹), durch Einführung einer Hinsichtenunterscheidung vermeidet. 177 Wie Herder eine ethisch-kritische Teilnehmerperspektive aus der beobachterperspektivisch-empirischen Rekonstruktion des Geschichtslaufs heraus entwickelt, werde ich im Folgenden darstellen (s. u. α.–ε.). Die 177 Dass Herder seine ›kompatibilistische‹ Position in den Ideen später preisgibt, zeigt Rapic: Subjektive Freiheit. S. 254 f.

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ideologiekritische Dimension einer teilnehmerperspektivischen Geschichtsdeutung kommt allerdings erst in seiner Betrachtung der eigenen Gegenwart zur vollen Entfaltung (s. u. ε.). Herder bedient sich in seiner frühen Geschichtsphilosophie erkenntnisleitend einer ganzen Reihe von biologistischen und mechanistischen Analogien. Zuvörderst ist hier die Lebensalteranalogie zu nennen, deren Verwendung die These zugrunde liegt, dass sich die moralische Entwicklung der Menschheit analog zu individualgeschichtlichen Bildungsprozessen begreifen lässt, so dass bestimmte Stufen der Kulturentwicklung jeweils als ›Kindheit‹, ›Knaben-‹, ›Jünglings-‹ oder ›Mannesalter‹ der Menschheit angesprochen werden können. Der Hinweis, dass die »Analogie, von menschlichen Lebensaltern hergenommen, nicht Spiel sei«, zeigt dabei die über eine bloße Veranschaulichung hinausgehende, erkenntnisleitende Funktion der Analogie an (AP 15). Er erhebt allerdings nicht den Anspruch, die Besonderheiten der von ihm beschriebenen Kulturen auf diese Weise auch erschöpfend behandeln zu können: »Niemand in der Welt fühlt die Schwäche des allgemeinen Charakterisierens mehr als ich. Man malet ein ganzes Volk, Zeitalter, Erdstrich – wen hat man gemalt? Man fasset aufeinanderfolgende Völker und Zeitläufe in einer ewigen Abwechslung, wie Wogen des Meeres, zusammen – wen hat man gemalt?« (AP 28) Wenn er von Morgenländern, Ägyptern, Phöniziern, Griechen und Römern spricht, dann behandelt er sie also in erster Linie als ›archetypische‹ Vertreter einer Entwicklungsstufe entsprechend dem allgemeinen Schema einer Abfolge der Lebensalter eines Menschen, das in seiner Allgemeinheit ebenso wenig für sich reklamieren kann, der Entwicklung eines bestimmten Individuums (z. B. der ›Kindheit‹ einer konkreten Person) völlig gerecht zu werden. Mit seiner Lebensalteranalogie antizipiert Herder das später von Habermas im Anschluss an entwicklungspsychologische Arbeiten Lawrence Kohlbergs vorgelegte Programm, »homologe normative ›Lernprozesse‹ in der Individual- und Gattungsgeschichte aufzuweisen«, wobei er bereits – freilich nur der Sache, nicht dem Begriff nach – zwischen der »›Entwicklungslogik‹ des moralischen Bewusstseins und seiner gattungsgeschichtlichen ›Entwicklungsdynamik‹« trennt. 178 Die hier zur Erläuterung herangezogene Begrifflichkeit, deRapic: Subjektive Freiheit. S. 205. Jürgen Habermas: »Einleitung: Historischer Materialismus und die Entwicklung normativer Strukturen.« In: Ders.: Zur Rekon-

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ren Leistungsfähigkeit für eine Explikation im Folgenden am Text erwiesen werden soll, sei an dieser Stelle einführend erörtert. Kohlberg unterscheidet in seinen Essays on Moral Development drei übergreifende ›Niveaus‹ (»Level[s]«) der ontogenetischen Entwicklung des Moralbewusstseins, an die Habermas in seiner Darstellung der sozialen Evolution des normativen Bewusstseins in Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus anschließt und die sich bis zu einem gewissen Grade auch in Herders früher Geschichtsphilosophie repräsentiert finden lassen – nämlich (1) das präkonventionelle, (2) das konventionelle und (3) das postkonventionelle Moralbewusstsein (vgl. MD 409–412; vgl. RHM 13). Es kommt mir im vorliegenden Zusammenhang nur auf den retrospektiv-explanatorischen Nutzen der von Habermas in Anspruch genommenen Kohlberg’schen Begrifflichkeit für ein Verständnis von Herders früher Geschichtstheorie an. Auf die Einzelheiten (und Grenzen) von Kohlbergs Theorie selbst kann in dieser Arbeit nicht eingegangen werden. 179 1) Das präkonventionelle Moralniveau ist durch eine Orientierung an Autoritäten bestimmt, wobei Bestrafung und Gehorsam (»Punishment and Obedience«, MD 409) die Richtlinien eines als ›moralisch‹ zu bewertenden Handelns abgeben. In Herders Lebensalterschema entspricht dieser Stufe das ›Kindheitsalter‹ der Menschheit – d. h. die Frühgeschichte (s. u. α.). 2) Die konventionelle Ebene ist durch die Ausübung von Normkonformität gegenüber geltenden Regeln und Gesetzen ausgezeichnet. Die Triebfeder zu moralischem Handeln ist die Erfüllung von gestruktion des Historischen Materialismus (im Folgenden zitiert als: RHM). Frankfurt a. M. 1976, S. 9–41. Hier: S. 12. Zu Habermas’ Anschluss an Kohlberg vgl. außerdem den titelgebenden Aufsatz in Jürgen Habermas: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln (MkH 127–206). Herders Auch eine Philosophie der Geschichte hat Habermas bereits in der Zeit zwischen Abitur und Studienbeginn beschäftigt, vgl. Stefan Müller-Doohm: Jürgen Habermas. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 2014, S. 52. Habermas zitiert in MkH (134 f.) die gesamte Tabelle zu den Moralstufen aus dem Appendix von Lawrence Kohlberg: Essays on Moral Development (Vol. 1): The Philosophy of Moral Development: Moral Stages and the Idea of Justice (im Folgenden zitiert als: MD). San Francisco 1981, S. 409–412. 179 Vgl. zum Thema etwa Günter Becker: Kohlberg und seine Kritiker: Die Aktualität von Kohlbergs Moralpsychologie. Wiesbaden 2011. Einen kurzen Überblick über die vielfältigen Anregungen, die Habermas Piaget und Kohlberg verdankt, gibt: Gertrud Nunner-Winkler: »Kognitive Entwicklungspsychologie«. In: Brunkhorst/Kreide/Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. Stuttgart 2009, S. 58–61.

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sellschaftlichen Rollenerwartungen (»to follow rules and expectations«, MD 410) und die Einsicht in die Sinnhaftigkeit gesellschaftlicher Regeln zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. Das entscheidende Kriterium zur Beurteilung einer Handlung ist hierbei die Frage nach einer Verallgemeinerungsfähigkeit derselben (»What if everyone did it?«, MD 411). Bei Herder entsprechen dem konventionellen Moralniveau analogisch die archetypischen Stufen von ägyptischem und phönizischem ›Knaben-‹ (s. u. β.) sowie griechischem ›Jünglings-‹ und römischem ›Mannesalter‹ (s. u. γ.), wobei allerdings immer die »Schwäche des allgemeinen Charakterisierens« in Rechnung zu ziehen ist, dass das von einer Gesellschaft erreichte Moralniveau nicht auf die einzelnen Individuen derselben heruntergebrochen werden kann (AP 28). Die Zuordnung besagt also nicht, dass zwangsläufig alle Individuen dieser Gesellschaften ein konventionelles Moralniveau erreicht oder zuweilen historische Einzelpersönlichkeiten nicht bereits über ein postkonventionelles Moralverständnis verfügt hätten. Herder beschreibt etwa das Handeln des historischen Sokrates so, dass es sich dem postkonventionellen Moralniveau im Kohlberg’schen Sinne zuordnen lässt (vgl. AP 92). 3) Dieses postkonventionelle Niveau zeichnet sich durch die Ausrichtung des eigenen Handelns an universalistischen ethischen Prinzipien aus (»universal ethical principals that all humanity should follow«, MD 412). Die faktisch geltenden Gesetze und Regeln einer Gesellschaft werden auf diesem Niveau vom Individuum nicht mehr fraglos befolgt, sondern von Fall zu Fall »reflexiv« geprüft und ggf. – auf Basis der Einsicht in höher zu gewichtende abstrakte Moralprinzipien – kritisiert (RHM 19). Zentrales Beurteilungskriterium ist die Antizipation einer möglichen Zustimmung aller Individuen zu einem in Anschlag gebrachten Moralprinzip (d. h. dieses muss »agreeable to all individuals composing or creating a society« sein, MD 412). Unter Voraussetzung eines postkonventionellen Moralverständnisses zumindest in Ansätzen ex-post kritisierbar wird das Verhalten von historischen Akteuren für Herder erstmals mit dem Aufkommen des (Ur-)Christentums. In der Kritik stehen hierbei allerdings zunächst nur die politischen und spirituellen Eliten des Mittelalters (s. u. δ.). Einen darüber hinausgehenden öffentlichen Appell zur postkonventionellen Moral erhebt er erst gegenüber den eigenen Zeitgenossen (s. u. ε.). Den Übergang von einem Niveau zum nächsten fasst Kohlberg »als Lernen« auf, d. h. ein Heranwachsender baut »die jeweils schon Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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verfügbaren kognitiven Strukturen« so um, dass »er dieselbe Sorte von Problemen, nämlich die konsensuelle Beilegung von moralisch relevanten Handlungskonflikten, besser lösen kann als vorher«, wobei er auch selbst rückblickend »seine eigene moralische Entwicklung als Lernprozeß« im Sinne eines Fortschritts zu einem höheren Niveau versteht (MkH 135 f.). An der Schwelle zur konventionellen Moralstufe etwa lernt ein Kind, geltende Regeln auch dann einzuhalten, wenn mit der Sanktionierung eines Verstoßes gegen sie nicht gerechnet werden muss. Es tut dies, indem es die Sinnhaftigkeit der Beachtung geltender Normen für ein funktionierendes Zusammenleben im gemeinsamen Interesse aller Mitglieder seiner Gesellschaft begreift. Zugleich erscheint ihm nun eine bloße Orientierung an einer ggf. zu erwartenden Strafe, wie sie auf der präkonventionellen Stufe noch vorliegt, als unmündig-opportunistisch und daher als moralisch kritikwürdig. In Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus überträgt Habermas dieses kognitiv-entwicklungspsychologische Lernschema auf »systematisch nachkonstruierbare Muster der Entwicklung normativer Strukturen« in der Gattungsgeschichte, wobei er die Unterscheidung zwischen einer Entwicklungslogik der Evolution des normativen Bewusstseins und einer Entwicklungsdynamik derselben einführt: Diese Strukturmuster beschreiben eine den kulturellen Überlieferungen und dem Institutionenwandel innewohnende Entwicklungslogik. Diese sagt nichts über die Entwicklungsmechanismen; sie sagt nur etwas über den Variationsspielraum, innerhalb dessen kulturelle Werte, Moralvorstellungen, Normen usw. auf einem gegebenen Organisationsniveau der Gesellschaft verändert werden und verschiedene historische Ausprägungen finden können. In seiner Entwicklungsdynamik bleibt dieser Wandel normativer Strukturen abhängig von den evolutionären Herausforderungen ungelöster, ökonomisch bedingter Systemprobleme, und von Lernprozessen, die darauf antworten. (RHM 12)

Den sachlichen Sinn der Unterscheidung zwischen ›Entwicklungslogik‹ und ›Entwicklungsdynamik‹ bei Herder, der für eine Explikation der metaphorischen Doppelung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive in Auch eine Philosophie der Geschichte essentiell ist, werde ich im Folgenden anhand des Textes entwickeln. Habermas hat in Faktizität und Geltung darauf hingewiesen, dass die These von einer ›Entwicklungslogik‹ weder eine substantielle »Teleologie der Geschichte« behaupten noch beanspruchen kann,

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»aus dem zufälligen Fundus gelungener Überlieferungen« eine kausale Zwangsläufigkeit abzuleiten (FG 17). 180 Eine dem Menschen einsichtige, substantiell teleologische »Vernunft […] in der Weltgeschichte« im Sinne Hegels wird allerdings von Herder auch nicht postuliert. 181 Darüber hinaus kann von einer Entwicklungslogik der Menschheitsgeschichte in Auch eine Philosophie der Geschichte nur in dem eingeschränkteren naturanalogischen Sinne die Rede sein, dass sich vom Standpunkt des Geschichtsphilosophen aus betrachtet am bisherigen Geschichtsverlauf eine gewisse Konsequenz ablesen lässt, die – cum grano salis beobachterperspektivisch zu konstatierender Kontingenzen (d. h. nicht weiter erklärbarer geschichtlicher Fakten) – allerdings nicht als eine im strengen Sinne ›logische‹ begriffen werden darf. Für die von Herder bei der sprachlichen Ausgestaltung seiner Theorie in Anschlag gebrachten Metaphern bildet das Lebensalterschema eine Art Leitmotiv, an dessen Untersuchung sich verschiedene weitere Metaphernfelder (z. B. Baumanalogie, Mechanismus- und Werkzeugmetaphorik) bei der Interpretation anschließen lassen. Die Gliederung der mit griechischen Buchstaben gekennzeichneten Unterabschnitte folgt der Periodisierung in Auch eine Philosophie der Geschichte. α.) Die Anfänge der Menschheit als ›Kindheit‹, ›Baum-‹ und ›Patriarchenalter‹: Zur metaphorischen Mehrdeutigkeit von Herders Leitanalogien Herders Darstellung der Evolution des normativen Bewusstseins in Analogie zu Prozessen des technisch-ökonomischen Fortschritts setzt ein bei der Schilderung einer »Heldenzeit des Patriarchenalters« im Orient, die er als das »goldne Zeitalter der kindlichen Menschheit« bezeichnet und somit der individualgeschichtlichen Stufe der ›Kindheit‹ zuordnet (AP 6; 9). Die Formulierungen »Baum- und Patriarchenleben«, »Patriarchengegend und Patriarchenzelt«, derer er sich bei der Charakterisierung dieser Stufe bedient, verweisen einerseits 180 Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung (hier und im Folgenden zitiert als: FG). Frankfurt a. M. 1998. S. 17. 181 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Werke in 20 Bd., Bd. 12). Frankfurt a. M. 1986, S. 22.

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auf die historisch-faktischen Umstände eines Lebens in Stammesverbänden unter der Leitung eines Familienoberhaupts oder Clanchefs, sollen andererseits jedoch zugleich das weltanschauliche Selbstverständnis der Individuen beschreiben, die in diesen Clanstrukturen gelebt haben (AP 6). Der Ausdruck ›Patriarch‹ deutet sowohl auf die hierarchisch-despotische Struktur der bestehenden Gesellschaftsordnung als auch auf das religiöse Selbstverständnis der zeitgenössischen Individuen hin, demgemäß sich – in Herders Darstellung – die »ganze Welt ringsum, voll Segen Gottes: [als] eine große, mutige Familie des Allvaters« zeigte (AP 8). Zwischen dem tatsächlichen Leben in familiären Stammesverbänden unter Leitung eines ›Patriarchen‹ und dem mythisch-religiösen Selbstverständnis der Individuen als ›Kinder‹ Gottes besteht auf dieser Stufe demnach ein Entsprechungsverhältnis. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Herder zeitgleich zur Abfassung von Auch eine Philosophie der Geschichte (1774) an seiner Schrift Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774–76) arbeitete, »eine[r] Interpretation der biblischen Genesis als Ursprung der Geschichte der Menschheit.« 182 Die historisierende Interpretation biblisch kanonisierter Schriften in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts wird in Auch eine Philosophie der Geschichte aufgegriffen, wenn Herder davon spricht, es gehe um »die Geschichte der frühesten Entwicklungen des menschlichen Geschlechts, wie sie uns das älteste Buch beschreibt«, womit das erste Buch Mose gemeint ist (AP 5; vgl. Anm. AP 116). Unter Einbeziehung der Ältesten Urkunde wird klar, dass es sich bei der Berufung auf das erste Buch Mose zu Beginn von Auch eine Philosophie der Geschichte gerade nicht um einen Versuch handelt, die Geschichtsphilosophie in dem Sinne »auf das erste Kapitel der Schöpfung […] zu gründen«, dass der Genesis im Wortlaut naturwissenschaftliche ›Wahrheiten‹ entnommen werden sollen, wie Bacon es in seiner Idolenlehre unter Verdikt gestellt hatte (NO I, 65). Indem das erste Buch Mose vielmehr als eine »Urkunde« und damit als ein von Menschen geschaffenes historisches Dokument verstanden wird, macht Herder deutlich, dass die darin enthaltenen Einsichten über Naturverhältnisse nur dem Wissensstand des zeitlichen Entstehungskontextes der Schrift entsprechen können: »die Geschichte der frühesten Entwicklungen des menschlichen Geschlechts, wie sie uns das älteste Buch 182

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beschreibt, mag also so kurz und apokryphisch klingen, daß wir vor dem philosophischen Geist unsers Jahrhunderts […] damit zu erscheinen erblöden: eben deswegen ist sie wahr.« (AP 5) Wenn Herder hier von ›Wahrheit‹ spricht, dann ist damit nicht die inhaltliche Wahrheit der Schrift gemeint, sondern die ›Wahrheit‹ des empirischen Befundes, dass eine teilnehmerperspektivische Selbstbeschreibung aus der Zeit der frühesten Menschheitsgeschichte vorliegt, die in gewissem Sinne ›für sich selbst‹ spricht. Als ein historisches Dokument begriffen, das den Wissenschaftsstandards der eigenen Zeit nicht genügt (»zu erscheinen erblöden«), muss die Schrift dem Geschichtslauf eingegliedert und vor ihrem Entstehungshintergrund gelesen werden, um in einem historisch entsprechend bloß relativen Sinne die ›Wahrheit‹ eines bestimmten Weltbildes zu verkörpern. Für seine beobachterperspektivische Geschichtsrekonstruktion nimmt Herder biblische Zeugnisse nur insofern in Anspruch, als die Interpretation ihres Wortlauts Aufschlüsse darüber gestattet, wie Menschen zur Zeit der Entstehung ihrer älteren und jüngeren Textschichten jeweils gedacht haben. Schon im ersten methodischen Schritt seiner Schrift gelingt es Herder damit, die Bacon’sche Kluft zwischen ›Buch der Natur‹ und ›Buch der Offenbarung‹ so zu überwinden, dass der im Alten Testament repräsentierte Stand des normativen Bewusstseins von Anfang an selber als historisch und in einem geschichtlichen Wandel begriffen verstanden wird. Dieser Wandel schreitet nicht nur analog zur menschlichen Erkenntnis über Naturverhältnisse stetig voran, sondern steht mit diesem Entwicklungsgang auch in einem materiell handgreiflichen Zusammenhang: »Man bildet nichts aus, als wozu Zeit, Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal Anlaß gibt […]. Ein Patriarch kann kein römischer Held, kein griechischer Wettläufer, kein Kaufmann von der Küste sein; […] er ist, wozu ihn Gott, Klima, Zeit und Stufe des Weltalters bilden konnte, Patriarch!« (AP 32) Mit den Begriffen ›Zeit‹, ›Klima‹, ›Bedürfnis‹ etc. umreißt Herder die Lebensumstände einer historischen Gesellschaftsformation, wobei er die These vertritt, dass die bewusstseinsmäßige Selbstinterpretation der vergesellschafteten Individuen notwendig der »Stufe des Weltalters« gemäß, d. h. der ›Zeit‹, dem herrschenden ›Klima‹ und den natürlichen ›Bedürfnissen‹ dieser Stufe evolutionär angepasst ist. Dem Selbstverständnis einer Gesellschaft wird damit eine teilweise kausale Abhängigkeit von den jeweiligen materiellen Lebensumständen unterstellt. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Herders These besagt dann in Bezug auf die Frühzeit, dass Menschen, die in familiären Gesellschaftsstrukturen gelebt haben, in diesem naturwüchsigen Erfahrungsraum ein Selbst- und Weltverständnis entwickeln mussten, demzufolge die Welt insgesamt eine ›familiale‹ Struktur aufweist: »Die ganze Welt ringsum, voll Segen Gottes: eine große, mutige Familie des Allvaters« (AP 8). Die Lebensumstände der Menschen auf dieser Stufe werden von Herder als geradezu idyllisch, »so simpel, zart und wunderbar« beschrieben, »wie wir sie in allen Hervorbringungen der Natur sehen«, wobei er auch die »Gedankenform« dieser Zeit als »Groß und heiter wie die Natur!« bezeichnet (AP 5; 8). Damit soll offenbar angezeigt sein, dass die ›Gedankenform‹ (d. h. das Selbstverständnis der Individuen) nicht nur den Lebensumständen angepasst war, sondern zudem beide noch einen gleichsam naturwüchsigen Zusammenhang bildeten. Die Gedankenform dieser Stufe war aus der rekonstruktiven Sicht Herders selber gewissermaßen ein reines ›Naturprodukt‹, dem die im eigentlichen Sinne ›sozialgeschichtlichen‹ Kulturalisierungs- und Bildungsprozesse noch bevorstanden. Zugleich betont er, dass die morgenländischen Anfänge der Menschheitsgeschichte weniger »fremde und schrecklich« gewesen seien, als spätere Zeitalter sie sich zu einem »Despotismus des Orients« zusammengesponnen hätten: »Mags sein, daß im Zelte des Patriarchen allein Ansehen, Vorbild, Autorität herrschte […] Gibt’s nicht in jedem Menschenleben ein Alter, wo wir durch trockne und kalte Vernunft nichts, aber durch Neigung, Bildung nach Autorität alles lernen?« (AP 9) Herder ist also um ein ausgewogenes Urteil bemüht, wobei seine Äußerungen darauf abzielen, die retrospektive Ambivalenz zwischen ›Ursprünglichkeit‹ und ›Rohheit‹ dieser präkonventionellen Moralstufe der Menschheitsgeschichte herauszustellen. 183 Wenn er vom ›Patriarchenzeitalter‹ als der ›Kindheit‹ der Menschheit spricht, dann hat diese Bezeichnung – über ihre Funktion 183 Herders zuweilen vielleicht allzu idyllisch anmutende Einschätzung der Frühgeschichte hat ihr Vorbild in Rousseaus Erster Abhandlung: »Bevor die Kunst unsere Manieren geformt hatte und unsere Leidenschaften eine geschickte Sprache sprechen lernten, waren unsere Sitten ländlich, aber natürlich (rustiques, mais naturelles).« Jean-Jacques Rousseau: »Über Kunst und Wissenschaft« (im Folgenden zitiert als: KW). In: Ders.: Schriften zur Kulturkritik. Die zwei Diskurse von 1750 und 1755 (übers. u. hrsg. von Kurt Weigand). Hamburg 41983, S. 1–59. Hier: S. 10 f. Ein ›Zurück zur Natur‹, wie es schon Rousseau oft fälschlich und sogar von Voltaire unterstellt wurde, entspricht jedoch nicht Herders Intention (s. u. S. 233).

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für die Periodisierung der Menschheitsgeschichte hinaus – aber noch einen weiteren Sinn. Der ›Patriarch‹ einer Familie ist zugleich in dem Sinne auch ›Kind‹, dass er – seinem stammesgeschichtlichen Selbstverständnis zufolge – seinerseits Nachfahre seiner Väter und dabei zugleich ›Mitglied der Familie des göttlichen Allvaters‹ ist. Herder verwendet die Begriffe (1) ›Patriarch‹ und (2) ›Kind‹ also jeweils in einer doppelten Bedeutung: 1) Der Patriarchenbegriff bezieht sich (i) auf das Oberhaupt eines Stammesverbands und beschreibt damit die faktisch hierarchische Gliederung innerhalb einer frühzeitlichen Gesellschaft, soweit der Geschichtsforscher sie auf Basis empirischer Befunde rekonstruieren kann. Der Begriff findet (ii) jedoch auch auf Gott Anwendung und umreißt dann das teilnehmerperspektivische Selbstverständnis eines Stammesoberhauptes, der sich von seinem ›Allvater‹ her legitimiert weiß, seinerseits ›Patriarch‹ seines Stammes zu sein. 2) Der Begriff ›Kind‹ bezeichnet einerseits (i) die historische Entwicklungsstufe der menschlichen Frühgeschichte, wie nur der Geschichtsforscher sie beobachterperspektivisch und retrospektiv vor Augen hat, andererseits jedoch auch (ii) das mythisch-religiöse und teilnehmerperspektivische Selbstverständnis der Angehörigen einer frühzeitlichen Gesellschaft, von Gott abkünftig und einem Patriarchen untergeordnet zu sein. Dem Geschichtsforscher sind die teilnehmerperspektivischen Selbstbeschreibungen der historischen Individuen dabei allerdings nur aus der beobachterperspektivisch-rekonstruktiven 3.-Person-Perspektive desjenigen zugänglich, der auf der Grundlage historischer Zeugnisse indirekte Rückschlüsse auf das präkonventionelle normative Selbstverständnis von Mitgliedern dieser historischen Gesellschaftsformationen zieht. Die Lebensalteranalogie behält also – bei all ihrer metaphorischen Vielschichtigkeit – einen quasi-naturkausalen Duktus. Aus Sicht des Philosophiegeschichtsschreibers ist der Gottesbegriff der Individuen dieser Stufe eigentlich ein Naturbegriff, insofern Herder ihnen ein Weltbild unterstellt, das zwischen natürlichen und sozialen Verhältnissen begrifflich nicht trennscharf unterscheidet, sondern die »ganze Welt ringsum« als »Familie des Allvaters« begreift (AP 8). 184 184 Eine ähnliche Deutung findet sich später auch bei Habermas: »Wie bei der egozentrischen Weltauffassung des präoperational denkenden Kindes die Erscheinungen auf

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Dass Herders Geschichtstheorie sowohl die materialen Lebensbedingungen als auch das normative Selbstverständnis historischer Individuen ins Auge fasst, das diesen Bedingungen aufruht, wird zudem an seiner Verwendung der Baumanalogie deutlich. Die Baummetaphorik hat in Auch eine Philosophie der Geschichte nicht nur eine gegenüber der Lebensalteranalogie vergleichbare Funktion, sie steht zudem mit dieser in einem motivischen Zusammenhang. Bei beiden handelt es sich um organismische Analogiebildungen, die durch Vergleich mit wissenschaftlich bereits beschriebenen Naturverhältnissen einen heuristischen Zugang zur Erklärung geschichtlicher Prozesse eröffnen sollen. Während das Lebensalterschema den Geschichtslauf analogisch entlang der Linie Kindheit, Knaben-, Jünglings und Mannesalter gliedert, bedient sich die Baumanalogie der Aufeinanderfolge von Wachstumsphasen einer Pflanze vom Keim, der seine »harte Schlaube« abstreift, über Sprössling, Blüte und immer höhere Äste bis hinein in eine schlussendliche Verwesung des Organismus, die wiederum für den nächsten Keim als Nährstoffgrundlage dient etc.: »Der Keim fällt in die Erde und erstirbt: der Embryon wird im Verborgenen gebildet« (AP 17; 5). Wie schon die Lebensalteranalogie eine religiöse Dimension aufweist, indem der Begriff ›Patriarch‹ sowohl wörtlich auf das Oberhaupt eines Stammes verweist als auch metaphorisch (sc. vom Standpunkt Herders) bzw. mythisch-religiös (sc. aus der beobachterperspektivisch rekonstruierten Sicht der Beteiligten) auf Gott als den ›Allvater‹ bezogen werden kann, enthält die Baumanalogie einen religiös-metaphorischen Nebensinn. Wenn Herder vom ›Baum‹ spricht, dann hat er damit zugleich die »heilige Zeder eines Stammvaters der Welt« im Blick: »Ringsum schon hundert junge blühende Bäume, ein schöner Wald der Nachwelt und Verewigung! aber siehe! die alte Zeder blüht noch fort, hat ihre Wurzeln weit umher und trägt den ganzen jungen Wald mit Saft und Kraft aus der Wurzel.« (AP 7) 185 »Baum- und Patriarchenleben« gehören für ihn also sowohl natur-

das Zentrum des kindlichen Ich relativiert werden, so beim soziomorphen Weltbild auf das Zentrum des Stammesverbandes. Das bedeutet nicht, dass die Stammesmitglieder ein distinktes Bewußtsein von der normativen Realität einer Gesellschaft, die sich von der objektivierten Natur abhebt, ausgebildet hätten; diese beiden Regionen sind noch nicht klar geschieden.« (RHM 18) 185 Vgl. Die Bibel: Psalm 104,16: »Die Bäume des Herrn trinken sich satt, / die Zedern des Libanon, die er gepflanzt hat«.

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als auch weltbildgeschichtlich untrennbar zusammen (AP 6). Lebensalter- und Baumanalogie dienen beide einerseits der Veranschaulichung eines quasi-organischen Zusammenhangs der Menschheitsentwicklung, verweisen andererseits jedoch auf einen biblischen Buchkontext. Wenn vom »Ursprung des ganzen Geschlechts von Einem« die Rede ist, dann trägt diese Formulierung von vornherein den Doppelsinn, sowohl den historischen Ursprung der Menschheitsentwicklung zu beschreiben als auch die unterste, präkonventionelle Stufe eines menschheitsgeschichtlichen Selbstverständnisses zu dokumentieren, wie es in der Textfassung des Alten Testaments seinen Ausdruck gefunden hat (AP 5). Auf der Folie seiner Schilderung der Frühgeschichte lassen sich nun die beiden Kernthesen entfalten, die Herder der weiteren Rekonstruktion der Bildungsgeschichte der Menschheit zugrunde legt. Er bedient sich zu ihrer Explikation der Analogie einer »Physik der Geschichte«: »jede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!« (AP 83; 35) Die erste These, die sich hieraus unmittelbar ablesen lässt, lautet, dass jede auf die Frühgeschichte folgende Kulturstufe in kausal-analoger Weise einem auf den Zweck des allgemeinen Wohls ausgerichteten Equilibrium zwischen materiellen Lebensbedingungen und Gedankenformen zusteuert, wie es im Ursprung der Menschheitsgeschichte als naturwüchsige Einheit bereits realisiert gewesen ist. Jede »Stufe des Menschengeschlechts« folgt dabei einem zentralen Organisationsprinzip, das wiederum analog demjenigen ›familialer‹ Strukturen auf der untersten Stufe fungiert und vermittels dessen es diesem Gleichgewicht als seinem »Mittelpunkt der Glückseligkeit« zustrebt (AP 12; 35). Die zweite These, die sich aus der Hinzunahme der gleich zu Beginn von Auch eine Philosophie der Geschichte aufgestellten Behauptung eines »Ursprung[s] des ganzen Menschengeschlechts von Einem« ergibt, lautet, dass diese zentralen Organisationsprinzipien aufeinander aufbauen, woraus sich aus Sicht des Geschichtsphilosophen eine gewisse – cum grano salis ›logische‹ – Konsequenz des Geschichtslaufs insgesamt ergibt: »Der Ägypter ohne morgenländischen Kindesunterricht wäre nicht Ägypter, der Grieche ohne ägyptischen Schulfleiß nicht Grieche – eben ihr Haß zeigt Entwickelung, Fortgang, Stufen der Leiter!« (AP 5; 16) Mit dem Hinweis, dass gerade die kritische Negation vorangegangener Stufen (»ihr Haß«) den Motor des Fortgangs ausmacht, verweist Herder bereits hier auf AmZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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bivalenzen des menschheitsgeschichtlichen Fortschritts, der einen Zugewinn an moralischer Einsicht immer auch mit realen Verlusten an anderer Stelle erkauft (s. u. Kap. III.3). Eine für die historisch beteiligten Individuen zunächst nicht einsehbare ›Entwicklungslogik‹ umschreibt die skizzierte Abfolge von Stufen der Menschheitsgeschichte dann insofern, als mit dem geschichtlichen Fortschreiten der materiellen Lebensbedingungen auch die normativen Selbstbeschreibungen historischer Gesellschaftsformationen in einem ständigen Wandel begriffen sind, wobei dieser Wandel sich aus nachträglicher Sicht in Analogie zur Höherentwicklung der Lebensbedingungen vollzieht. Dass sich in der postulierten Entwicklungslogik – allen Brüchen und partiellen Negationen zum Trotz – insgesamt ein moralischer Fortschritt und nicht etwa eine Verfallsgeschichte abzeichnen soll, ist unmittelbar aus Lebensalterschema und Baumanalogie ersichtlich: die Ausbildung natürlicher Anlagen ist hier wie dort ein auf den Endpunkt einer Erfüllung der ureigensten biologischen Bestimmung hin gerichteter Prozess. Dass Herder in diesem Prozess auch ›entwicklungsdynamische‹ Kontingenzen am Werk sieht, wie die äußere Zufälligkeit von »Klima, Bedürfnis, Welt [und] Schicksal« sie eben mit sich bringt, wird im Folgenden näher zu zeigen sein (AP 32). Sehen wir also zu, wie er seine These von einer inneren Konsequenz des Geschichtslaufs im Ausgang vom »Baum- und Patriarchenleben« weiter entfaltet (AP 6). β.) Ägypten und Phönizien: ›Entwicklungslogik‹ und ›Entwicklungsdynamik‹ in Herders Geschichtsdeutung Nach seiner Schilderung der morgenländischen Anfänge der Menschheitsgeschichte geht Herder zum »Knabenalter der Menschheit« über (AP 14). Diese Entwicklungsstufe behandelt er anhand gleich zweier Kulturkreise, nämlich der alten Ägypter (AP 15–19) und der Phönizier (AP 19–21). Diese beiden Kulturen bezeichnet er als »Zwillinge einer Mutter des Morgenlands«, die »nachher gemeinschaftlich Griechenland und so die Welt weiter hinaus bildeten« (AP 21). Weshalb Herder auf der Stufe des Knabenalters zwei antike Zivilisationen abhandelt, während er sich sonst auf nur eine Kultur beschränkt, wird aus seiner Betonung der starken Kontraste zwischen den beiden deutlich. Hier nämlich wird die äußere, historisch-hori204

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zontale Zufälligkeit greifbar, die er dem Geschichtslauf neben der postulierten ›Entwicklungslogik‹ auch zuschreibt und die insgesamt als Unterstellung einer ›Entwicklungsdynamik‹ geschichtlicher Entwicklungen aufgefasst werden kann. Hätte er sich bei seinem Lebensalterschema auf jeweils einen welthistorischen Archetypus pro individualgenetischer Entwicklungsstufe beschränkt und nicht dem Knabenalter zwei solcher Typen zugeordnet, hätte der Leser die ›entwicklungsdynamischen‹ Momente der Menschheitsgeschichte weitaus schlechter von den ›entwicklungslogischen‹ unterscheiden können, als es durch die Kontrastierung eines Landvolkes gegen ein Seevolk der Fall ist. Wie bereits an seiner autobiografisch gehaltenen Programmschrift Journal meiner Reise im Jahre 1769 deutlich geworden ist, umreißen Land und See für Herder zwei einander diametral entgegengesetzte, gleichwohl jedoch ›analog‹ strukturierte Erfahrungsräume. Vor diesem Hintergrund musste es für ihn also naheliegen, just die altägyptische und die phönizische Zivilisation zu Zwecken einer kontrastierenden Veranschaulichung ›entwicklungsdynamisch‹ divergierender Fortführungen desselben ›entwicklungslogischen‹ Niveaus des normativen Bewusstseins heranzuziehen. Die Behandlung der Griechen als Entsprechung zu einer »Jünglingszeit« (AP 21–25) und der Römer als Analogon zu einem »Mannesalter« (AP 26–28) der Menschheit kann dann nur der Vollständigkeit halber und relativ kurz abgehandelt werden, da sich das allgemeine Schema von Herders Geschichtsdeutung, das – wie ich hoffe – dann bereits hinreichend klar geworden sein wird, auf diesen Stufen nur noch einmal wiederholt (s. u. γ). Darüber hinausgehende Akzente setzt er erst wieder bei der Völkerwanderung und dem Aufkommen des Christentums, bei denen die Lebensalteranalogie zudem abrupt abbricht. Weshalb das so ist, werde ich an entsprechender Stelle erörtern (s. u. δ). Das dominierende Thema von Herders Erörterung der ägyptischen Zivilisation ist die neolithische Revolution: Ägypten war ohne Viehweide und Hirtenleben: der Patriarchengeist der ersten Hütte ging also verloren. Aber aus Nilschlamm gebildet und von ihm befruchtet, gabs […] den vortrefflichsten Ackerbau: also ward die Schäferwelt von Sitten, Neigungen, Kenntnissen ein Bezirk von Ackermenschen. Das Wanderleben hörte auf: es wurden feste Sitze; Landeigentum. (AP 14 f.)

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Betont wird hier die Kontinuität eines Rationalisierungsprozesses, der den Zugewinn neuer »Sitten« und »Neigungen« mit einem teilweisen Verlust der alten ordnungsstiftenden Prinzipien von »Ansehen, Vorbild [und] Autorität« bezahlt (AP 9). Als charakteristisch für das höhere – nun nämlich konventionelle – Moralniveau der ägyptischen Zivilisation führt Herder »Landessicherheit, Pflege der Gerechtigkeit, Ordnung, Polizei« bzw. »Ordnung, Fleiß [und] Bürgersitten« an, »wie alles im Wanderleben des Orients nie möglich gewesen: es ward neue Welt« (AP 15). Auch diese ›neue‹ Welt ist wieder in doppelter Weise Gegenstand der Betrachtung, nämlich (1) hinsichtlich der materiellen Bedingungen der Existenzsicherung und (2) in Bezug auf das diesen aufruhende Selbstverständnis der altägyptischen Kultur: 1) Herder betont zunächst die Differenz zwischen dem von ihm als idyllisch skizzierten »Baum- und Patriarchenleben« der vorangegangen Kulturstufe und den Bedingungen, wie die Ägypter sie in ihrer Umwelt vorfanden: »Ägypten hatte keine Weiden – der Einwohner mußte also Ackerbau wohl lernen, wie sehr erleichterte [die Vorsehung] ihm dies schwere Lernen durch den fruchtbringenden Nil. Ägypten hatte kein Holz: man mußte mit Stein bauen lernen: Steingruben gnug da« (AP 16). Die Ägypter standen also – mit Habermas’ Charakterisierung ›entwicklungsdynamischer‹ Kontingenzen in der Evolution des normativen Bewusstseins gesprochen – vor ganz spezifischen »evolutionären Herausforderungen ungelöster, ökonomisch bedingter Systemprobleme«, die »Lernprozesse erforderten, die darauf antworten.« (RHM 12) Auf die Herausforderungen eines Lebens in Sesshaftigkeit reagierten sie mit der Entwicklung fortgeschrittener Produktivkräfte: Herder führt hier »Industrie« und »Künste« als innovative Lösungen zur Existenzbewältigung an. Dabei hebt er zugleich hervor, dass der »müßige Hüttenbewohner, der Pilger und Fremdling auf Erden« (d. h. ein Angehöriger der vorigen Entwicklungsstufe) diese Erfindungen nicht nur »nicht gekannt« hat, sondern sie auch »weder brauchte noch zu brauchen Lust fühlte.« (AP 15) Entscheidend ist hier der Hinweis darauf, dass der sein »Baum- und Patriarchenleben« bestreitende Mensch auf Basis der ihm vertrauten Produktionsweise eines Lebens aus und in einer naturwüchsig ›großzügigen‹ Umwelt nicht nur keine Verwendung für ägyptische Industrie und Künste gehabt hätte, die Sesshaftigkeit erfordert hätten, sondern sich als »müßiger Hüttenbewohner« zudem mit dem Konzept ägyptischen »Ackerfleißes« auch kaum hätte identifizieren können (AP 15). 206

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2) Die von Herder als ägyptische Primärtugenden präsentierten Konventionen von »Ordnung, Fleiß [und] Bürgersitten« wären der Patriarchenzeit also noch gar nicht gemäß gewesen und wären – so die zweite Ebene, auf der er sich seinem Untersuchungsgegenstand annähert – dem präkonventionell an charismatischen Autoritäten orientierten Selbstverständnis der Individuen dieser Entwicklungsstufe sogar zuwidergelaufen. Erst im Zusammenhang mit einem gesamtgesellschaftlichen Fortgang des technischen Fortschritts in einem neuen ›Klima‹, das der Naturfülle des ›Baumlebens‹ ermangelte, rückten die neuen Tugenden auf in den Rang von tragenden Prinzipien einer zentralistischen Gesellschaftsordnung. Sie hingen also unmittelbar ab von den Erfordernissen einer gesellschaftlichen Organisation, die den nun stärker technisierten Produktionsbedingungen auch gemäß war: die Neigungen, die dort bloß väterlich, kindlich, schäfermäßig, patriarchisch gewesen waren, wurden hier bürgerlich, dörflich, städtisch. Das Kind war dem Flügelkleide entwachsen: der Knabe saß auf der Schulbank und lernte Ordnung, Fleiß, Bürgersitten. Eine genaue Vergleichung des morgenländischen und ägyptischen Geistes müßte zeigen, daß meine Analogie, von menschlichen Lebensaltern genommen, nicht Spiel sei. Offenbar war allem, was beide Alter auch gemeinschaftlich hatten, der himmlische Anstrich genommen, und es mit Erderhaltung und Ackerleim versetzt: Ägyptens Kenntnisse waren nicht mehr väterliche Orakelsprüche der Gottheit, sondern schon Gesetze, politische Regeln der Sicherheit, und der Rest von jenen ward bloß als heiliges Bild an die Tafel gemalt, daß es nicht unterginge, daß der Knabe davor stehen, entwickeln und Weisheit lernen sollte. (AP 15)

Die Lebensalterallegorie transportiert auch hier die doppelte Bedeutung (i) einer aus Perspektive des Geschichtsschreibers vorgenommenen Periodisierung und (ii) der inhaltlichen Bestimmung des Gegenstandsbereichs, indem Herder die ›Knabenzeit‹ der Menschheitsgeschichte mit dem Motiv eines ›Schulknaben‹ verbindet, der vor Tafeln und altägyptischen Götterbildern steht und aktiv etwas über seine Kultur lernt, anstatt sich – wie noch das Kind – intuitiv in sie einzuleben. Wo es früher genügt hatte, dass der Patriarch sich den Gehorsam seines Stammes von Fall zu Fall durch die Verhängung von Strafen und die Einforderung von Gehorsam (Kohlbergs »Punishment and Obedience«; MD 409) sicherte, war den Mitgliedern der zentralisierten altägyptischen Zivilisation nun ein höheres Maß an Selbstdisziplinierung abverlangt, wenn die organisatorisch kompleZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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xen Aufgaben einer Nutzung des Nils durch »Ausmessungen, Ableitungen, Dämme, Kanäle, Städte, Dörfer« von Erfolg gekrönt sein sollten (AP 16). Die Kinder der alten Ägypter mussten also einen aktiven Sozialisationsprozess der Erziehung und Bildung durchlaufen, in dem ihnen ein Arbeitsethos von »ägyptische[m] Fleiß [und] Bürgertreue« eingeprägt wurde, das für ein ökonomisch erfolgreiches und sozial konfliktarmes Funktionieren ihrer Gesellschaft essentiell war (AP 16). Sie mussten also lernen, Regeln zu folgen und gesellschaftliche Rollenerwartungen zu erfüllen (»to follow rules and expectations«; MD 410). Die Übergangsphase, während derer »Baum- und Patriarchenleben« und ägyptische Zivilisation noch nebeneinander bestanden, charakterisiert Herder als eine der wechselseitigen Antipathie zwischen nomadischen Völkern und den bereits sesshaft gewordenen Ägyptern: Dem Morgenländer, wie ekelt ihm […] Ackerbau, Städteleben, Sklaverei in Kunsthandwerksstätten! […] er lebt und webt als ein freies Tier des Feldes. Der Ägypter im Gegenteil, wie haßte und ekelte er den Viehhirten, mit allem, was an ihm klebte! eben wie sich nachher der feinere Grieche wieder über den lastbaren Ägypter erhob – es hieß nichts, als dem Knaben ekelte das Kind in seinen Windeln, der Jüngling haßte den Schulkerker des Knaben; im ganzen aber gehörten alle drei auf- und nacheinander. Der Ägypter ohne morgenländischen Kindesunterricht wäre nicht Ägypter, der Grieche ohne ägyptischen Schulfleiß nicht Grieche […]« (AP 16)

Herder erklärt damit das Moment einer partiellen Negation des Vergangenen zur Triebfeder des geschichtlichen Fortgangs. 186 Die Teilnehmerperspektive der beteiligten Individuen rekonstruiert er dabei beobachterperspektivisch so, dass jede vorangegangene Stufe eine konservative Aversion gegen das Aufkommen neuer Sitten zeigt, während die Mitglieder von ökonomisch weiter entwickelten Gesellschaften ein progressives, von Antipathie gegen die vorige Stufe geprägtes Selbstverständnis von sich als wirtschaftlich und – damit zusammenhängend – normativ überlegen ausbilden. Indem jedoch jede »Stufe der Leiter« zu ihrer Besteigung der vorherigen bedarf, stellt sich der wechselseitige »Haß« der Angehörigen eines Kulturkreises gegenüber höher oder geringer entwickelten Nachbarn aus Sicht des

Vgl. Irmscher: Herder. S. 118: »Diese partielle Negation des Überlieferten betrachtet Herder geradezu als die bewegende Kraft des geschichtlichen Fortgangs […].«

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Geschichtsschreibers Herder nur als Triebfeder einer »Entwickelung« dar, die insgesamt die Tendenz zu einem kontinuierlichen »Fortgang« in der Geschichte aufweist, wobei der Abgrenzung gegen andere Kulturen ein identitätsstiftendes Moment zukommt: »Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich.« (AP 16; 36) Dass Herder damit nicht selbst ein Urteil über vergangene Gesellschaftsformationen zu sprechen beabsichtigt, wird daran deutlich, dass er die kulturellen Eigenheiten überwundener Entwicklungsstufen der Menschheit als ein »Vehikulum der Bildung« begreift und vor dem Hintergrund der zeitgeschichtlich jeweils gegebenen Möglichkeiten relativiert: »Die Entwickelung geschah aus dem Orient und der Kindheit herüber – natürlich mußte also noch immer Religion, Furcht, Autorität, Despotismus das Vehikulum der Bildung werden: denn auch mit dem Knaben von sieben Jahren läßt sich noch nicht, wie mit Greis und Manne, vernünfteln.« (AP 17) Aufgrund dieses Charakters jeder historischen Epoche als eines Durchgangsstadiums zum weiteren geschichtlichen Fortgang verwahrt Herder sich auch entschieden gegen eine geschichtsphilosophische Interpretation und Bewertung historischer Gesellschaftsformationen vor dem Hintergrund des Moralverständnisses der zeitgenössischen Aufklärung. Die Selbstverständnisse historischer Individuen müssen vielmehr in ihrem materiellen Kontext interpretiert und in ihrer Aufeinanderfolge dargestellt werden: »Torheit, eine einzige ägyptische Tugend aus dem Lande, der Zeit und dem Knabenalter des menschlichen Geistes herauszureißen und mit dem Maßstabe einer anderen Zeit zu messen!« (AP 17) Obwohl Herder es also zum Konstituens einer konsequenten Realisierung des »Mittelpunkts der Glückseligkeit« jeder Gesellschaft erklärt, dass ihre Mitglieder sich gegenüber vorangegangenen Entwicklungsstufen abgrenzen, charakterisiert er bereits hier eine solche Denkweise als im Prinzip vorurteilsbehaftet (d. h. ›ideologisch‹) und fordert, dass der seriöse Geschichtsforscher sich – als ein Experte für die Vergangenheit – solcher Urteile enthalten soll, um sich einen unverstellten Blick auf seinen Gegenstandsbereich zu bewahren (AP 35). Die Feststellung: »Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich« bezieht sich also zwar auf vorangegangene Epochen und muss dann als eine Leitlinie zur Rekonstruktion historischer Gesellschaftsformationen begriffen, darf jedoch nicht als Einladung des Rezipienten von Herders Schrift zur Legitimation des eigenen Ressentiments gelesen werden (AP 36). Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Im Rahmen der Geschichtsrekonstruktion bedeutet die Leitlinie einer möglichst vorurteilsfreien Beschreibung des Selbstverständnisses vergangener Gesellschaftsformationen aber zunächst, dass Herder den geschichtlichen Fortgang keineswegs als harmonisch, sondern vielmehr als äußerst konfliktbehaftet und ambivalent kennzeichnet, indem er die Perspektiven der Angehörigen sowohl früherer als auch späterer Entwicklungsstufen adäquat zu erfassen sucht. So sehr jede Nation für sich genommen einem »Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich« zustrebt, so wenig geht der Übergang zu einer neuen Stufe kampflos ab und ebenso wenig sind einzelne Stufen darum, sub species aeternitatis betrachtet, vollkommen. Im Gegenteil hält er eine solche Perfektion sogar für unmöglich: »Das menschliche Gefäß ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muß immer verlassen, indem es weiterrückt.« (AP 25) Mit Habermas’ Begriff einer »Entwicklungslogik« gesprochen, umschreiben die einzelnen Stufen der historischen Entwicklung lediglich den jeweiligen »Variationsspielraum, innerhalb dessen kulturelle Werte, Moralvorstellungen, Normen usw. auf einem gegebenen Organisationsniveau der Gesellschaft verändert werden und verschiedene historische Ausprägungen finden können.« (RHM 12) Wie viel bei der faktischen Realisierung dieses Variationsspielraums von ›entwicklungsdynamischen‹ Kontingenzen abhängt, zeigt Herder anhand der Phönizier, indem er sie auf derselben historischen Stufe ansiedelt wie die Ägypter. Die kontrastierende Absicht wird bereits im ersten Satz der Einführung in die phönizische Kultur deutlich: »Die Phönizier waren, oder wurden, so verwandt sie den Ägyptern waren, gewissermaßen ihre Gegenseite von Bildung.« (AP 19) Den entscheidenden Unterschied zwischen beiden macht Herder dabei nicht an einem prinzipiellen Gegensatz im Entwicklungsniveau der Kulturen fest, obwohl er die Phönizier auch als den »erwachsenere[n] Knaben« bezeichnet, ihnen gegenüber den Ägyptern also einen kleineren Entwicklungsvorsprung einräumt (AP 21). Die differentia specifica zwischen den beiden Archetypen des Knabenalters siedelt er vielmehr in den äußeren Umständen ihrer kulturellen Fortentwicklung im Ausgang vom Patriarchenalter an: »Jene [Ägypter], wenigstens in den späteren Zeiten, Hasser des Meeres und der Fremden, um einheimisch nur ›alle Anlagen und Künste ihres Landes zu entwickeln‹ ; diese [Phönizier] zogen sich hinter Berg und Wüste an eine Küste, um eine neue Welt auf dem Meere zu stiften«. (AP 19) Wie an dieser Passage deutlich 210

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wird, beinhaltet die Behauptung der Abhängigkeit einer Kultur von »Klima, Bedürfnis, Welt, Schicksal« zwei unterschiedliche Aspekte entwicklungsdynamischer Kontingenz (AP 32). Sie zielt einerseits (i) auf Bedingungen der äußeren Natur (d. h. hier ›Meer‹ oder ›Land‹) und (ii) auf Entscheidungen historischer Akteure, die zwar als in ihrer inneren Natur gegründet aufgefasst (vgl. »Physik der Seele«, JR 54), jedoch aus der 3.-Person-Perspektive des Geschichtsschreibers im Einzelnen nicht immer lückenlos erklärt werden können: i) Dass die Phönizier »so vorteilhaft mit Glas, mit zerstücktem, gezeichnetem Metall, Purpur und Leinwand, Gerätschaft vom Libanon, Schmuck, Gefäßen [und] Zierat« umgehen lernten, lag in Herders Darstellung darin begründet, dass ihnen aufgrund der günstigen Lage ihrer Siedlungen an einem Meerbusen mit vorgelagerten Inseln die »Mühe des Schwimmens und Landsuchens« erleichtert war, was ihnen beste Voraussetzungen für den Kontakt zu anderen Völkern auf dem Seeweg verschaffte (AP 20). Um mit diesen Völkern Handel treiben zu können, war es notwendig, »nutzbare Schiffe« mit hohem Ladevolumen zu konstruieren und »fremden Nationen« hochwertige Waren »in die Hände« zu spielen, was zu einem Aufblühen des phönizischen Handwerks führte (AP 20). Der entstehende rege Warenverkehr wiederum bedurfte der Koordination: Warenlisten mussten geführt werden, was zur Entwicklung einer auch im überseeischen Außenhandel leicht zu handhabenden »Rechen- und Buchstabenkunst« führte (AP 21). Zugleich musste man Wege finden, mit fremden Kulturen unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Eigenheiten zu kommunizieren, um sich auf Preise einigen und Missverständnisse im Interesse beider Handelspartner vermeiden zu können. All diese Leistungen der phönizischen Kultur wären in letzter Instanz jedoch nie zustande gekommen, wenn die äußerlich kontingenten (d. h. bloß faktischen) Umstände eines Lebens an der Küste sie als Leistungen nicht herausgefordert hätten. ii.) Die anfängliche Entscheidung der Phönizier, »sich hinter Berg und Wüste an eine Küste« zurückzuziehen, um »eine neue Welt auf dem Meere zu stiften«, woraus wiederum ›klimaspezifische‹ Bedürfnisse und ein bestimmtes Selbstverständnis erwuchsen, kann Herder aus der 3.-Person-Perspektive nur beobachterperspektivisch als ein historisches Faktum des Geschichtslaufs beschreiben, das – gleichsam ›schicksalhaft‹ – Konsequenzen gezeitigt hat, die in anderem »Klima« vielleicht ausgeblieben wären bzw. bei den Ägyptern

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(trotz gleicher Voraussetzungen im Patriarchenalter) auch tatsächlich ausgeblieben sind (AP 19). Die Konsequenz der Verbindung beider Faktoren phönizischer Kulturentwicklung war: »Ein erster handelnder Staat, ganz auf Handel gegründet, der die Welt zuerst über Asien hinaus recht ausbreitete, Völker pflanzte und Völker band – welch ein großer neuer Schritt zur Entwicklung!« (AP 19). Seine Einschätzung, dass es sich bei der phönizischen Kultur um einen »großen neuen Schritt zur Entwicklung« der Menschheit gehandelt habe, begründet Herder damit, dass zwar »der Phönizier gleich nicht aus Menschenliebe Nationen besuchte«, gleichwohl durch die Ausdehnung von Handel und Kommunikation jedoch »Völkerliebe, Völkerbekanntschaft, Völkerrecht sichtbar« geworden sei (AP 20). Obwohl also die »Völkerliebe« nicht der eigentlichen Absicht der subsistenzsichernd und gewinnorientiert handelnden Phönizier entsprach, brach sich – gewissermaßen hinter ihrem Rücken und von den historisch Beteiligten so selbst zunächst nicht ›gesehen‹ – eine reale Gemeinschaftlichkeit der »Menschengeschlechter« Bahn, die der Geschichtsforscher rückblickend »sichtbar« machen und damit begründen kann, dass die Gemeinsamkeit der Völker ›im Keim‹ bereits im »Ursprung des ganzen Menschengeschlechts von Einem« als der »Grundsäule alles dessen, was später über sie gebaut werden soll«, angelegt war, nun jedoch in dieser (wie auch immer durch Zufälle mitbedingten) Weise ›zu sprossen‹ begann (AP 5; 10). Als der »erwachsenere Knabe« werden die Phönizier vor diesem Hintergrund deshalb apostrophiert, weil die größere Universalität der durch phönizische Kultur bedingten Werte (»Völkerrecht«) gegenüber der nationalen Enge der ägyptischen Gesetzgebung den vom gemeinsamen Ursprung der Menschheit bis in Herders Zeit hinein normativ signifikanteren Zug in Richtung eines postkonventionellen Moralverständnisses ausmachte. Schon aufgrund der ganz basalen Bedingung für einen erfolgreich betriebenen Außenhandel, mit fremden Kulturen einen modus vivendi finden zu müssen, tendierten die Phönizier zu größerer Toleranz gegenüber den konventionellen Regelungen anderer Kulturen. Wie sich die der Sache nach postulierten ›entwicklungsdynamischen‹ Kontingenzen konkret geschichtlich ausgewirkt haben, wird an den weiteren Beschreibungen einsichtig, mit denen er ägyptische und phönizische Kultur zueinander in Beziehung setzt:

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Auf einmal stieg der Fleiß der Menschen von der schweren Pyramidenindustrie und dem Ackerfleiße in ein ›niedliches Feld kleinerer Beschäftigungen‹ hinunter. Statt jener unnützen, teillosen Obelisken wandte sich die Baukunst auf teilvolle und in jedem Teil nutzbare Schiffe. Aus der stummen, stehenden Pyramide ward der wandelnde, sprechende Mast. […] Nun mußte natürlich aus der schweren, geheimnisreichen Hieroglyphenschrift ›leichte, abgekürzte, bräuchliche Rechen- und Buchstabenkunst werden […]. (AP 20)

Wie schon im Reisejournal und – wie man einräumen muss – mit deutlich autobiografischem Einschlag von diesem her, stellt Herder dem statuarischen Zug einer gleichsam ›in Stein gemeißelten‹ Ordnung auf dem Festland und dem damit verbundenen »eingeschränkte[n] Mittelpunkt« den »Mittelpunkt der Glückseligkeit« einer Nation entgegen, deren »Gedankenform« – bedingt durch die Eigenheiten einer maritimen Lebensweise im Seehandel – von einer Offenheit, Anpassungsfähigkeit und Dynamik geprägt war, wie sie den durch ihre Produktionsweise vaterländisch und xenophob veranlagten Ägyptern nicht nur fremd, sondern sogar zuwider gewesen wäre (JR 12; AP 8; 35.) Der Sinn der Kontrastierung tritt besonders in der Triangulation des Standpunkts der Phönizier zum Patriarchenzeitalter und zu den Ägyptern zutage, die auf das zuletzt in Einrückung Zitierte unmittelbar folgt: nun mußte der Bewohner des Schiffs und der Küste, der expatriierte Seestreicher und Völkerläufer [d. h. der Phönizier] dem Bewohner des Zelts [d. h. dem Patriarchen] und der Ackerhütte [d. h. dem Ägypter] ein ganz anderes Geschöpf dünken: der Morgenländer mußte ihm vorwerfen können, daß er Menschliches, der Ägypter, daß er Vaterlandsgefühl geschwächt, jener, daß er Liebe und Leben, dieser, daß er Treue und Fleiß verloren: jener, daß er vom heiligen Gefühl der Religion nichts wisse, dieser, daß er das Geheime der Wissenschaften, wenigstens in Resten auf seine Handelsmärkte zur Schau getragen.‹ Alles wahr. Nur entwickelte sich dagegen auch […] phönizische Regsamkeit und Klugheit, eine neue Art Bequemlichkeit und Wohlleben, […] der Übergang zur griechischen Freiheit. Ägypter und Phönizier waren also bei allem Kontraste der Denkart Zwillinge einer Mutter des Morgenlands […]. Also beide Werkzeuge der Fortleitung in den Händen des Schicksals […]. (AP 21)

So sehr sich die Phönizier von den Ägyptern aufgrund ihrer Lebensumstände auch unterschieden und sich vom Standpunkt beider Kulturen aus berechtigte Kritik an der jeweils anderen formulieren lässt (»Alles wahr.«), gaben doch nur beide zusammen für die FortentwickZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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lung zum »schöne[n] griechische[n] Jüngling« die Voraussetzung ab (AP 21). Mit dem Hinweis, die »Zwillinge einer Mutter des Morgenlands« seien »beide Werkzeuge der Fortleitung in den Händen des Schicksals« gewesen, gibt Herder dabei zu verstehen, dass zwar die ›entwicklungslogische‹ Fortbildung zu immer höheren Entwicklungsniveaus der Menschheitsgeschichte durch materielle Voraussetzungen mitbedingt war, die als solche als zufällig bewertet und damit ›entwicklungsdynamisch‹ interpretiert werden müssen, dem Fortgang insgesamt aus Sicht des Geschichtsphilosophen jedoch eine gewisse Konsequenz attestiert werden kann (»Schicksal«). Indem die jeweiligen Einzelkulturen auf äußerlich zufällige, »evolutionäre Herausforderungen« mit »Lernprozessen« antworteten, die sich – entlang der ›im Keim‹ bereits in der frühesten Entwicklungsstufe angelegten Möglichkeiten der Menschheitsentwicklung – zwar unterschiedlich ausnahmen, sich zugleich jedoch auf der entwicklungslogisch bereits erreichten Stufe zueinander analog verhielten, realisierte sich im Gang der Geschichte über die Besonderheit der beiden Kulturen eine höhere allgemeine, d. h. menschheitsuniversale Struktur: Da sowohl Ägypter als auch Phönizier nur auf der Patriarchenzeit aufbauen konnten, waren ihre Voraussetzungen zur Bewältigung evolutionärer Herausforderungen zunächst gleich. Die »ökonomisch bedingten Systemprobleme«, denen sie begegneten, waren jedoch, aufgrund von nicht weiter erklärbaren Entscheidungen (s. o. ii) und ›klimatischer‹ Differenzen zwischen den natürlichen Bedingungen an Land und auf See (s. o. i) grundverschieden (RHM 12). Gerade weil die ihnen gestellten evolutionären Herausforderungen jedoch verschieden waren und so ›entwicklungsdynamisch‹ nach anders gelagerten Antworten verlangten, trugen beide Kulturen auf je verschiedene Weise partiell zur Erweiterung des entwicklungslogischen »Variationsspielraums« bei, auf dem schließlich die Griechen – durch zweierlei Quellen belehrt – aufbauen konnten (RHM 12). Herders frühe Geschichtsphilosophie folgt so einem allgemeinen Schema, demgemäß der logische Variationsspielraum eines erreichten Entwicklungsniveaus des normativen Bewusstseins zwar unausgesetzt dynamischen Pluralisierungstendenzen ausgesetzt ist, gerade durch diese historisch-horizontale Pluralisierung jedoch der Spielraum des nächst höheren Entwicklungsniveaus (zusätzlich zur vertikalen einer geschichtlich-progressiven Anreicherung von normativ gehaltvollem Wissen) immer weiter vergrößert wird. Indem jede Kultur auf den gefundenen Antworten der ihr bekannten Vorgänger 214

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aufbauen kann, stellt sich die Menschheitsgeschichte bis in die Römerzeit hinein aus der retrospektiven Sicht des Geschichtsschreibers insgesamt ebenso als ein Bildungsprozess dar wie die individualgeschichtliche Entwicklung eines Menschen vom Kind über das Knaben- und Jünglings- bis hin zum Mannesalter. Mittels der uns heute zur Verfügung stehenden Begriffe lässt sich das von Herder implizit bereits in Anspruch genommene Konzept zur Erklärung geschichtlich-normativer Bildungsprozesse folglich so definieren, dass er das ›entwicklungslogische‹ Niveau der Menschheit als das weltgeschichtlich – aus Sicht des Geschichtsphilosophen zum Teil auch bloß ›zufällig‹ – tradierte Gesamt aller zumindest virtuell verfügbaren normativen Kriterien einer Stufe auffasst, wobei die faktische Realisierung derselben durch bestimmte Gesellschaften im Einzelfalle von realen Außenbedingungen abhängt, die als kontingent anzusehen sind und vom Geschichtsphilosophen deshalb einer ›Entwicklungsdynamik‹ zugerechnet werden müssen. Die »griechische Freiheit« verdankt sich in Herders weiterer Darstellung des Geschichtsprozesses den Völkerbekanntschaften der Phönizier, während die »Idee einer Republik in griechischem Sinne« ihren Vorläufer im ägyptischen Sinn für »Landessicherheit, Pflege der Gerechtigkeit, Ordnung« hat, ohne dass die griechische Kultur freilich darin aufginge, eine einfach Summe aus ägyptischen und phönizischen Einflüssen zu sein (AP 23; 15). Konfrontiert mit neuen ökonomischen Herausforderungen und mit weiteren Lernprozessen auf diese antwortend, bildet das antike Griechenland als »Jünglingszeit« vielmehr die Voraussetzung für das menschheitsgeschichtliche »Mannesalter« römischer Kultur (AP 21; 26). γ.) Griechen und Römer als ›Jünglings-‹ und ›Mannesalter‹ In der Behandlung von Griechen und Römern wiederholt Herder im Wesentlichen das allgemeine Schema, wie es meine Interpretation von Auch eine Philosophie der Geschichte in den vorangegangenen Unterabschnitten bereits aufgewiesen hat. Ich werde mich deshalb hier auf eine knappe Skizze der Besonderheiten bezüglich normativer Errungenschaften und dem jeweils zentralen Ordnungsprinzip dieser beiden Kulturen beschränken. Die antike griechische Kultur wird als »Jünglingszeit« und »Blüte des Lebens« eingeführt (AP 21). Herder analogisiert also auch Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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hier zugleich zu individualgeschichtlichen Bildungsprozessen und zu den Wachstumsphasen einer Pflanze im Sinne der Baumanalogie (AP 21). Den geschichtlichen Ort dieser Kultur bestimmt er aus dem Rückblick auf ihre Vorgänger: »Die Orakelsprüche der Kindheit [sc. im Morgenland] und Lehrbilder der mühsamen Schule [sc. im alten Ägypten] waren jetzt beinahe vergessen; der Jüngling entwickelte sich daraus alles, was er zu Jugendweisheit und Tugend, zu Gesang und Freude, Lust und Leben brauchte.« (AP 22) Das Selbstverständnis der Griechen charakterisiert er als geprägt von einem Überlegenheitsgefühl und der Antipathie gegen Ägypter und patriarchisches Hirtenleben: »Die groben Arbeitskünste verachtete er, wie die bloß barbarische Pracht und das zu einfache Hirtenleben« (AP 22). Er hebt jedoch auch die Abhängigkeit hervor, in der sich der antike Grieche von vorangegangen Kulturen bewegte: »Handwerkerei [sc. phönizische] ward durch ihn schöne Kunst: der dienstbare Landbau [sc. der Ägypter], freie Bürgerzunft, schwere Bedeutungsfülle des strengen Ägypten, leichte, schöne, griechische Liebhaberei in aller Art.« (AP 22) Die Betonung der Kontinuität zu den geschichtlichen Vorläufern gipfelt schließlich in der rhetorischen Frage nach einer nicht bloß technisch-materiellen (d. h. ökonomischen), sondern auch weltanschaulich-ideellen Abhängigkeit der Griechen von Lernprozessen sowohl des Morgenlandes als auch der Ägypter und Phönizier: »Die Regimentsform, mußte sie sich nicht vom orientalischen Vaterdespotismus durch die ägyptischen Landzünfte und halbe phönizische Aristokratien herabgeschwungen haben, ehe die schöne Idee einer Republik in griechischem Sinne, ›Gehorsam mit Freiheit gepaart und mit dem Namen Vaterland umschlungen‹ statthaben konnte?« (AP 22) Das höhere konventionelle Entwicklungsniveau dieser Zivilisation macht Herder dabei an der Fähigkeit der antiken Griechen fest, den vielfältigen kulturellen Einflüssen eine kohärente Form gegeben und sie so zur Blüte gebracht zu haben: »ein rechtes Zwischenland der Kultur, wo aus zwei Enden alles zusammenfloß, was sie so leicht und edel verwandelten! Die schöne Braut wurde von zweien Knaben bedient zur Rechten und zur Linken, sie tat nur schön idealisieren; eben die Mischung phönizischer und ägyptischer Denkart« (AP 23). Mit dieser Charakterisierung der griechischen Kultur verbindet er dabei zugleich den Anspruch, »›den ewigen Streit über die Originalität der Griechen oder ihre Nachahmung fremder Nationen‹« beilegen zu können, indem er einerseits die Bedeutung auswärtiger Einflüsse, 216

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andererseits jedoch die originäre Leistung der antiken Griechen hervorhebt, aus diesen eine »ganz neue Natur angeschaffen« zu haben, in der nichts »Orientalisches, Phönizisches und Ägyptisches« mehr seine Art behalten, sondern – gewissermaßen amalgamiert und veredelt zugleich – »Griechisch« geworden sei (AP 25). Bemerkenswert ist dabei, dass er den Naturbegriff hier in einer Weise verwendet, dem jeder romantisierende Zug von ›Ursprünglichkeit‹, den man auf den ersten Blick vielleicht aus seiner eher ›idyllischen‹ Schilderung der Patriarchenzeit noch hätte herauslesen können, abgeht. Die ›neue Natur‹ des Griechen ist – aller vorangegangenen Bildungsprozesse zum Trotz – nicht weniger ›natürlich‹ als jene ›naturwüchsige‹ des Morgenländers, sondern – analogisch und metaphorisch verstanden – lediglich eine zeitlich spätere ›Entwicklungs-‹ bzw. ›Wachtumsphase‹ ein und desselben organischen ›Lebewesens‹ Menschheit. Die römische Kultur schließlich entspricht dem »Mannesalter menschlicher Kräfte und Bestrebungen« (AP 26). Diese Charakterisierung trägt über die periodisierende Funktion hinaus insofern einen inhaltlichen Zug, als Herder den Römern – entsprechend einer traditionellen Interpretation der Geschlechterrollen – typisch ›mannhafte‹ Tugenden von Tapferkeit, Selbstdisziplin, Opferbereitschaft und Heldenmut attestiert: »Römertapferkeit idealisiert: Römertugend! Römersinn! Römerstolz! Die großmütige Anlage der Seele, über Wollüste, Weichlichkeit und selbst das feinere Vergnügen hinwegzusehen und fürs Vaterland zu würken: der gefaßte Heldenmut, nie tollkühn zu sein und sich in Gefahr zu stürzen, sondern zu harren, zu überlegen« (AP 26). Damit grenzt er die Römer zugleich gegen »die Nordländer« ab, die ihnen zwar an »barbarischer Härte« voraus gewesen sein mögen, jedoch nicht über ein rationalisiertes Tapferkeitsideal in jenem römischen Sinne verfügten, wie es nötig war, um Schlachtformationen diszipliniert einzuhalten und als Truppenverband insgesamt strategisch als »Glieder [einer] großen Maschine« agieren zu können (AP 26). Die Maschinenmetapher dient bei der Beschreibung römischer Kultur darüber hinaus zur Erfassung eines von konsequenter Durchorganisation geprägten römischen Staates, der sich seinen Status als einer Weltmacht der Antike nur dadurch sichern konnte, dass er »über die ganze Erde eine Staatskunst, Kriegskunst und Völkerrecht« einführte, sich also strategisch so verhielt, dass er andere Völker imperialistisch in eine große ›Maschinerie‹ eingliederte, bis diese zusammenbrach: »da die Maschine stand, und da die Maschine fiel, Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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und da die Trümmern alle Nationen der römischen Erde bedeckten gibt’s in aller Geschichte der Jahrhunderte einen größeren Anblick! Alle Nationen von oder auf diesen Trümmern bauend!« (AP 28) Herder betont also rückblickend, dass ohne den römischen Imperialismus, so wenig er auf eine gleichberechtigte Angliederung anderer Völker zielte, sondern diese vielmehr durch Unterwerfung ›römisch‹ zu machen trachtete, für die zahllosen Kulturen, die den Römern nachfolgten, niemals ein vergleichbar ›gemeinsames‹ kulturelles Erbe als Basis bereitgelegen hätte, neue Formen der Gemeinschaftlichkeit zu stiften: »Der Stamm des Baums zu seiner größern Höhe erwachsen, strebte, Völker und Nationen unter seinen Schatten zu nehmen, in Zweige.« (AP 27) Während er die Baumanalogie als Ausgangspunkt seiner Schilderungen der Völkerwanderung noch in Anspruch nimmt, bricht das Lebensalterschema mit dem Ende der römischen Kultur, auf die eigentlich das ›Greisenalter‹ der Menschheit folgen müsste, abrupt ab. Das lässt sich daraus begründen, dass sich für Herder im Aufkommen des Christentums ein weltgeschichtlicher Epochenbruch abzeichnet, der in der Bibel seinen lesbaren Ausdruck gefunden hat: Während bis dahin noch alles im langen – wenn auch bei den Römern zuletzt bis zur Unkenntlichkeit verblassten 187 – Schatten einer Traditionslinie des Alten Testaments gestanden hatte, wie die häufigen Rückverweise auf das »Baum- und Patriarchenleben« des Morgenlandes anzeigen, beginnt mit dem Aufkommen des Christentums gewissermaßen ein neues Kapitel: das Neue Testament und die Botschaft Jesu (AP 6). 188 Dieser Epochenbruch sei im Folgenden erörtert. Voll zum 187 Herders Behauptung einer Traditionslinie, die vom Alten Testament noch bis ins Römische Reich hineinreicht, mag auf den ersten Blick wenig plausibel erscheinen. Bis zur Zeit des Prinzipats (27 v. Chr.) lassen sich jedoch im antiken Rom noch stark monokratische bzw. – nun allerdings rechtlich kodifiziert – ›patriarchale‹ oder ›despotische‹ Strukturen an der Rolle des Pater familias und seiner Patria potestas festmachen, die unter anderem das Recht einschloss, die eigenen Kinder zu verkaufen (ius vendendi) oder sogar zu töten (ius vitae necisque). In späterer Zeit wurde außerdem zahlreichen (nach 192 sogar allen) römischen Kaisern der Titel eines Pater patriae (Vater des Vaterlandes) verliehen. Vgl. die Einträge zu »Pater familias«, »Patria potestas« und »Pater Patriae« in: Ziegler/Sontheimer (Hrsg.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. München 1979, Bd. 4, S. 546–548, 552 f. 188 Hegel wird in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte im Zusammenhang der Völkerwanderung zwar vom »Greisenalter« der Menschheit sprechen, dem analogischen Lebensalterschema dabei jedoch eine ganz andere, nämlich substantiell-geschichtsteleologische Wendung geben: »Hiermit tritt dann das Germanische

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Tragen kommt Herders Doppelung einer kausalen Beobachter- und einer kritisch-appellativen Teilnehmerperspektive jedoch erst in seiner Behandlung der Neuzeit (s. u. ε). Die inhaltlichen Aspekte seiner Kritik werde ich gesondert behandeln (s. u. Kap. III.3). δ.) Völkerwanderung, (Ur-)Christentum und der weltgeschichtliche Epochenbruch Das Ende Roms malt Herder in drastischen Bildern, die im Zeichen der Baumanalogie stehen und als deutlicher Hinweis auf einen tiefschneidenden Epochenbruch gewertet werden müssen: Auch die römische Weltverfassung erreichte ihr Ende, und je größer das Gebäude, je höher es stand, mit desto größerm Sturze fiels! die halbe Welt war Trümmer. Völker und Erdteile hatten unter dem Baume gewohnt und nun, da die Stimme der heiligen Wächter rief: ›Haut ihn ab!‹ – welch eine große Leere! wie ein Riß im Faden der Weltbegebenheiten! (AP 40)

Die Metapher vom Fällen desjenigen Baums, der bis zu diesem Punkt sowohl für die materielle Kontinuität des bisherigen Geschichtslaufs als auch – als »heilige Zeder eines Stammvaters der Welt« – für den mythisch-religiösen Zusammenhang einer orientalisch begründeten Traditionslinie gestanden hatte, verweist auf die historischen Umstände der Völkerwanderung (AP 6). In immer wiederkehrenden Schüben drangen ab dem 3. Jh. germanische Stämme von Norden her in ein innenpolitisch bereits destabilisiertes Römisches Reich ein und sorgten – verstärkt nach der Reichsteilung im Jahre 395 – über die Zeit hinweg insbesondere im Weströmischen für eine massive Erschütterung der vormaligen Pax Romana. Weshalb Herder die Völkerwanderung als einen »Riß im Faden der Weltbegebenheiten« wertet, wird aus der Weise ersichtlich, wie er die nach Rom vordringenden »Goten, Vandalen, Burgunden, Angeln, Hunnen, Heruler, Franken und Bulgaren« charakterisiert, nämlich als ›Patriarchen‹ (AP 41):

Reich, das vierte Moment der Weltgeschichte ein: dieses entspräche nun in der Vergleichung mit den Menschenaltern dem Greisenalter. Das natürliche Greisenalter ist Schwäche, das Greisenalter des Geistes aber ist seine vollkommene Reife, in welcher er zurückgeht zur Einheit, aber als Geist.« Hegel: Vorlesungen über die Geschichte. S. 139. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Obwohl historisch betrachtet Zeitgenossen der Römer und in derselben Epoche der – bei Herder freilich stark eurozentrisch orientierten – Menschheitsgeschichte angesiedelt, bezeichnet er die Gesellschaftsstruktur dieser Völker als »›Patriarchien wie sie in Norden nur sein konnten‹«, wobei er äußere Faktoren als Grund dafür anführt, dass die Germanen sich dem Klima und der Art der Bedürfnisse nach zunächst noch auf dem entwicklungslogischen Stand der ›kindlichen‹ Menschheit befanden: Da unter solchem Klima kein morgenländisches Hirtenleben möglich war, schwere Bedürfnisse hier den menschlichen Geist mehr druckten als wo die Natur fast allein für den Menschen würkte; eben die schwereren Bedürfnisse und die Nordluft die Menschen aber mehr härtete […]: natürlich blieb ihr Zustand roher, ihre kleine Gesellschaften getrennter und wilder: aber die menschlichen Bande noch in Stärke, menschlicher Trieb und Kraft in Fülle. (AP 40)

Von der südlichen Kulturblüte über Jahrhunderte schon geographisch weitestgehend abgeschnitten und von den härteren Bedingungen des europäischen Nordens geprägt, trafen die germanischen Völker bei ihrer Wanderung nach Süden auf ein Römisches Reich, in dem die »Religion der Alten Welt, die aus dem Morgenlande über Ägypten nach Griechenland und Italien gekommen« war, bereits deutliche Anzeichen eines Verfalls zeigte: »in allem Betracht ein verduftetes, kraftloses Ding […], das wahre Caput mortuum dessen, was sie gewesen war und sein sollte.« (AP 42) Diese Kollision von Kulturkreisen macht für Herder einen »Riß im Faden der Weltbegebenheiten aus«, hatte jedoch keinen gänzlichen Abbruch jeder Kontinuität in der Geschichte zur Folge, sondern konfigurierte vielmehr eine neue Ausgangslage für den weiteren Fortgang (AP 40). Die Nordländer brachten neue Impulse »auf den Schauplatz der Bildung der Welt«, indem sie »statt der Künste Natur: statt der Wissenschaften gesunden nordischen Verstand, statt der feinen, starke und gute, obgleich wilde Sitten« mit sich führten, was nach Herders Darstellung gewissermaßen eine Auffrischung des ›kulturellen Genpools‹ der orientalischen Traditionslinie zur Folge hatte (AP 41). Die von mir früher aufgeworfene Frage (s. o. S. 205), weshalb Herder die Lebensalteranalogie an dieser Stelle fallen lässt, anstatt mit einem ›Greisenalter‹ der Menschheitsgeschichte fortzufahren, kann vor diesem diagnostischen Hintergrund vorläufig so beantwortet werden, dass das Lebensalterschema keine geeigneten Mittel ge220

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boten hätte, den teilweisen Bruch mit der Tradition bei gleichzeitiger Verjüngung der Traditionslinie analogisch angemessen zu beschreiben. Im Zustand des drohenden Zerfalls stand für das Römische Reich, um im Bilde zu bleiben, die ›Vergreisung‹ zwar gewissermaßen an, bedingt durch das Eindringen der Germanen blieb sie jedoch aus. Die Lebensaltermetaphorik stößt hier also an die Grenzen einer Paradoxie, wie sich an Herders weiterer Charakterisierung der Germanen zumindest noch erahnen lässt. Er bezeichnet die germanischen Völker nämlich zwar als »Patriarchien«, betont jedoch zugleich, dass die Gesetze dieser Völker »männlichen Mut, Gefühl der Ehre, Zutrauen auf Verstand, Redlichkeit und Götterverehrung« geatmet hätten (AP 41). Die adjektivische Zuschreibung von ›Männlichkeit‹ zeigt hier mit den Mitteln der Lebensalteranalogie den Charakter der Vermischung zumindest noch an, die eintrat, als die Germanen auf eine römische Kultur im ›Mannesalter‹ der Menschheitsgeschichte trafen. Indem die germanischen Völker nach Süden wanderten, brachten sie nicht nur ihre Kultur von außen in eine weltgeschichtliche Traditionslinie ein, die sich bis dato ohne sie fortgepflanzt hatte, letztere wirkte zugleich auf ihr normatives Selbstverständnis zurück. Die »›Patriarchien wie sie in Norden nur sein konnten‹« waren im Süden plötzlich mit dem dort weltgeschichtlich bereits erreichten Entwicklungsniveau konfrontiert und müssen aus Sicht des Geschichtsschreibers Herder, der seine Rekonstruktion mit einer im Orient angesiedelten ›Kindheit‹ begonnen hat, daher fortan entlang dieser Traditionslinie betrachtet werden: »welche neue nordsüdliche Welt!« (AP 40) Auf die Entwicklungen insgesamt sehend, ergibt sich in Betrachtung des Geschichtslaufs dann aber die zwar krisenhaft konfliktträchtige, aber gleichwohl keineswegs ›greise‹, sondern – wie Herder es durch Wechsel des analogischen Bezugssystems ausdrückt – ›fruchtbare‹ neue Situation einer »Gärung nordsüdlicher Säfte«: »Bedenke man z. B., was die Menschheit in den Jahrhunderten dieser Gärung für Erholungsfrist und Kräfteübung dadurch bekam, daß alles in kleine Verbindungen, Abteilungen und Untereinanderordnungen fiel und so viele, viele Glieder wurden!« (AP 42) Da nun aber die »Religion der Alten Welt« (d. h. ältere Mysterienkulte und der mythische Götterapparat der Griechen und Römer) bereits ein »verduftendes, kraftloses Ding« geworden war, verfügte sie nicht mehr über die identitätsstiftende Integrationskraft, den Zustrom nördlicher Völker noch im Rahmen eines einheitlichen WeltZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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bildes zu kompensieren und auftretende Konflikte zwischen unterschiedlichen Volksgruppen erfolgreich zu pazifizieren (AP 42). Desgleichen bot auch die »Philosophie« der Zeit hierzu kein geeignetes Mittel, da sie – in Herders Deutung – »das ausgearbeitetste Sophistenzeug, Disputierkunst, Trödelkram von Meinungen ohne Kraft und Gewißheit, eine mit alten Lumpen behangene Holzmaschine ohne Würkung aufs menschliche Herz geschweige denn der Würkung ein verfallen Jahrhundert, eine verfallene Welt zu bessern« gewesen sei (AP 43). Der »Riß im Faden der Weltbegebenheit«, den die Völkerwanderung verursacht hatte, zeichnet sich auf Ebene der Weltbilder also insgesamt dadurch aus, dass ein kulturell einheitliches Selbstverständnis für die der Herkunft nach rückständig-präkonventionellen Nord- und die bereits auf eine ›Vergreisung‹ zusteuernden Südländer zunächst nicht zur Verfügung stand: »Nichts minder, als eine neue Welt war nötig, den Riß zu heilen.« (AP 40) »Woher nun Ersatz?« (AP 43) Die »neue Welt«, die geeignet war, unterschiedlichste Völker aus Nord und Süd zu einer Einheit zu bringen, wurde erst mit dem Aufkommen der »christliche[n] Religion« möglich (AP 42): »Zwischen den nackten Bergen Judäas! kurz vor dem Umsturze des ganzen unberühmten Volkes, eben in der elendsten Epoche desselben […], entstand sie, erhielt sich, schlug sich hindurch – auf einem Schauplatz, der sie so nötig hatte!« (AP 43) Wenn der Theologe Herder also vom »Riß im Faden der Weltbegebenheiten« spricht, dann markiert dieser Riss zugleich den Einschnitt zwischen dem Alten Testament einerseits und der Botschaft Jesu sowie der Abfassung des Neuen Testaments andererseits (AP 40). 189 Während alle vorigen Religionen »nur enge national, voll Bilder und Verkleidungen, voll Zeremonien und Nationalgebräuche« gewesen seien, »kurz, Religionen eines Volks, eines Erdstrichs, eines Gesetzgebers, einer Zeit!«, stellt das Christentum für Herder den universalistischen Durchbruch zu einer »Religion des Weltalls« dar: »die lauterste Philosophie der Sittenlehre, die reinste Theorie der Wahrheiten und Pflichten, von allen Gesetzen und kleinen Landverfassungen unabhängig, kurz, wenn man will, 189 Herder widmet sich an dieser Stelle – was ich hier ausspare – auch dem ausbrechenden Konflikt zwischen den »älteste[n] heidnische[n]« (d. h. den griechisch-römischen Mythen und den orientalischen Mysterienkulten) und der »neuere[n] christliche[n]« Religion, wofür ihm insbesondere Julian Apostatas misslungener Versuch, die Einheit Roms durch Beförderung Ersterer zu sichern, als Untersuchungsgegenstand dient (AP 43 f.).

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der menschenliebendste Deismus.« (AP 44 f.) »Von solcher Religion […] hatte doch kaum ein Zeitalter vorher gewußt« (AP 53). Mit dem Urchristentum ist für Herder also endlich eine entwicklungslogische Stufe des normativen Bewusstseins erreicht, die schon allein aufgrund ihrer Universalität den Anspruch erheben kann, wenn auch in ihrer realen Verbreitung geographisch noch auf Europa beschränkt, allen Menschen gleiche Rechte zuzugestehen, wie sie ihnen gemäß dem »Ursprung des ganzen Geschlechts von Einem« zukommen (AP 5). Mit den Mitteln der Baumanalogie bringt er die neue Qualität des geschichtlichen Fortgangs so zum Ausdruck, dass die Zeitalter nun nicht mehr in erster Linie vertikal aufeinander aufbauen, sondern die historische Variation der Gesellschaftsstrukturen in deutlich größerem Umfang in der Horizontalen eines allgemeineren »Variationsspielraum[s]« der bereits erreichten Stufe erfolgt: »Von Orient bis Rom wars Stamm: jetzt gingen aus dem Stamme Äste und Zweige; keiner an sich stammfest, aber ausgebreiteter, luftiger, höher!« (RHM 12; AP 52) Dabei unterscheidet er allerdings scharf zwischen der Botschaft Jesu als solcher, d. h. der urchristlichen Fassung von Religiosität »nach dem Sinne des Urhebers«, und ihrer Rezeption durch die Zeitgenossen und folgende Generationen (AP 44). Während er das Urchristentum seinem Zweck nach als »eigentliche Religion der Menschheit, Trieb der Liebe und Band aller Nationen zu einem Bruderheere« charakterisiert, stellt er ausdrücklich in Zweifel, ob das im Urchristentum angelegte entwicklungslogische Niveau des normativen Bewusstseins seither jemals in auch nur einer Gesellschaftsverfassung entwicklungsdynamisch realisiert worden ist: »ihre Bekenner mögen späterhin aus ihr gemacht haben, was sie wollten« (AP 44). Die tatsächlichen Folgen der Christianisierung werden damit äußerst zwiespältig bewertet: »Eben das also, worüber man meistens so witzig und philosophisch spottet, ›wo denn dieser Sauerteig, christliche Religion genannt, rein gewesen? wo er nicht mit Teige eigner, der verschiedensten und oft der abscheulichsten Denkart vermischt worden?‹ eben das dünkt mich offenbare Natur der Sache.« (AP 46) Diese Differenz zwischen dem postkonventionellen Gehalt der Botschaft Jesu und ihrer praktischen Umsetzung gibt von hier an das Richtmaß ab, nach dem Herder letztlich auch seine eigene Epoche nicht mehr nur in ihrer faktischen Genese beobachterperspektivisch darstellen, sondern sie zugleich einer teilnehmerperspektivischen Kritik von Geltungsansprüchen unterziehen wird: »Ich darf doch bei Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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unserm christlichen Jahrhunderte nicht erst um Verzeihung bitten, daß ich von ihr [sc. der christlichen Religion] als einer Triebfeder der Welt rede – betrachte sie ja nur als Ferment, als Sauerteig, zu Gutem oder zu Bösem – wozu man noch will.« (AP 42) Indem er betont, dass selbst die christliche Religion in ihrem ursprünglichen Zweck, »eigentliche Religion der Menschheit« zu sein, zu »Bösem« instrumentalisiert und pervertiert werden kann, betritt seine Geschichtsphilosophie erst eigentlich das Feld einer Kritik von Ambivalenzen des Rationalisierungsprozesses. Es erhebt sich an dieser Stelle zunächst allerdings noch die Frage, weshalb Herder, der es bis zum Aufkommen des Christentums vermieden hat, ein eigenes Urteil über historische Gesellschaftsformationen zu fällen, plötzlich davon spricht, die christliche Religion sei nicht nur de facto instrumentalisierbar, sondern zudem offenbar die Ansicht vertritt, dass es sich bei einer solchen Instrumentalisierung um einen illegitimen Vorgang handelt. Woran bemisst sich diese Kritikwürdigkeit? Den Verständnisschlüssel bildet hier der christliche Epochenbruch selbst, den Herder als eine Wasserscheide zwischen der älteren orientalischen Tradition und dem breiteren Strom einer Verbindung nord-südlicher Kräfte beschreibt. Während die Selbstverständnisse vorchristlicher Kulturen sich noch in einer Traditionslinie zum Alten Testament bewegten, die sich aus Sicht des Geschichtsschreibers nur beobachterperspektivisch als ein Reifungsprozess entlang der Linie ›Kindheit‹, ›Knaben-‹, ›Jünglings-‹ und ›Mannesalter‹ beschreiben ließ, ist mit dem Urchristentum eine Entwicklungsstufe erreicht, die es rechtfertigt, den Bildungsprozess der Menschheit insofern als ›abgeschlossen‹ zu begreifen, dass nun zumindest bestimmten historischen Individuen selbst (sc. den religiösen Experten, insofern sie um den universalistischen Gehalt der Botschaft Jesu wussten) eine Verantwortung für Inkohärenzen zwischen ihren normativen Selbstbeschreibungen und ihrem faktischen Handeln zugeschrieben werden kann. 190 Ein weiterer Grund, weshalb das Lebensalterschema mit dem Aufkommen des Christentums endet, liegt entsprechend darin, dass sich mit der einheitsstiftenden Verbreitung christlicher Religiosität – aller fortdauernden Grabenkämpfe zwischen den europäischen Nationen zum Trotz – jene neue nord-südliche Traditionslinie Bahn brach, 190

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Vgl. hierzu Rapic: Subjektive Freiheit. S. 268.

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auf der auch noch Herders Gegenwart verortet wird, so dass alle auf die christliche Religionsstiftung folgenden Zeitalter in zumindest eingeschränktem Maße (so muss man Herder verstehen) bereits kritisiert werden können. Die ersten Ansätze einer teilnehmerperspektivischen Kritik treffen namentlich die Kirchenoberen des Mittelalters: »Man denke sich von Jahrhundert zu Jahrhundert jene ungeheuren Anstalten von geistlichen Ehrenämtern, Klöstern, Mönchsorden, endlich später gar Kreuzzügen und der offenbaren Herrschaft der Welt – ungeheures gotisches Gebäude!« (AP 49) Zu einer teilnehmerperspektivischen ›Ideologiekritik‹ im engeren, appellativen Sinne kann Herder diese ersten Ansätze allerdings erst in einer Analyse seiner eigenen Zeit ausbauen. Wie sich dabei das Verhältnis zwischen kausaler Beobachterperspektive und dem teilnehmerperspektivischen Selbstverständnis von Individuen einer Gesellschaft aus Sicht des Geschichtsphilosophen ändert, wird im Folgenden zu erörtern sein. ε.)

Die Gegenwart als Schauplatz einer Krise und Herders Handlungsappell

Bis hin zum historischen Auftreten des Christentums rekonstruiert Herder die Aufeinanderfolge von Epochen der Menschheitsgeschichte in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit aus einer ›analogisch‹ angeleiteten Beobachterperspektive, indem er die Lebensbedingungen und das normative Bewusstsein einer historischen Gesellschaftsformation im Zusammenhang betrachtet und darstellt, wie sich spätere Gesellschaften aus den früheren heraus geschichtlich entwickelt haben. Die teilnehmerperspektivischen Selbstverständnisse der Individuen werden dabei nur aus einer 3.-PersonPerspektive thematisiert, die es zwar gestattet, historische Weltbilder als abhängig von materiellen Bedingungen der menschlichen Existenzsicherung in einem bestimmten Klima darzustellen, nicht jedoch, Inkohärenzen zwischen diesen Selbstverständnissen und dem faktischen Handeln historischer Akteure vom Standpunkt des Geschichtsschreibers aus zu kritisieren. Wenn Herder sagt: »[J]ede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!« (AP 35), dann erhebt er mit dieser mechanistischen Metapher einen – von ihm freilich noch nicht so bezeichneten – rein ›systemfunktionalen‹ Erklärungsanspruch, der besagt, dass jede Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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historische Gesellschaftsformation eigendynamisch in quasi-physikalischer Weise einem Equilibrium zwischen materiellen Lebensbedingungen und den Gedankenformen ihrer Individuen zusteuert (vgl. »Physik der Geschichte«; AP 83). Kulturspezifischen Vorurteilen kommt dabei eine systemstabilisierende Funktion zu, weshalb sie auch nicht aus späterer Sicht kritisiert werden sollten: »Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich.« (AP 36) Auf diese Weise wird dann auch der Sinn der Geschichte als derjenige einer Stiftung immer höherer Stufen der Gemeinschaftlichkeit zwischen den Völkern und Nationen, den Herder dem Geschichtslauf als einer Aufeinanderfolge von Gesellschaftsformationen insgesamt unterstellt, von vornherein nur aus Sicht des Geschichtsphilosophen behauptet und vollzieht sich gewissermaßen hinter dem Rücken der historisch beteiligten Akteure, deren Handeln der Geschichtsforscher gleichwohl – und zwar ebenfalls quasi-physikalisch, nämlich psychologisch (vgl. »Physik der Seele«; JR 54) – erklären kann. Stellt man sich vor diesem Hintergrund die Frage, aus welcher Perspektive die Analogiebildungen vorgenommen werden, die Herder erkenntnisleitend für seine Rekonstruktion historischer Gesellschaftsformationen und die Darstellung der Aufeinanderfolge der Kulturen verwendet, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass auch hier unterschwellig bereits ein eigenes Interesse des Geschichtsphilosophen Johann Gottfried Herder wirksam ist, das sich – als ein Selbstverständigungsprozess über Geschichte – mit Aufkommen des Christentums zusehends einzuholen beginnt: In dem Maße, wie die »Analogie der Natur« zu Beginn erkenntnisleitend einen Diskurs über die beobachterperspektivische Erklärbarkeit des Geschichtslaufs eröffnet, führt die Geschichtsrekonstruktion zum Ende hin ihrerseits zur quasi-physikalischen Erklärung des historisch eigenen, teilnehmerperspektivischen Selbstverständnisses des Historikers aus der Perspektive einer 3. Person (AP 38). Die Lektüre des ›Buches der Geschichte‹ beschreibt in ihrer Struktur also letztlich eine Kreisbewegung, die sich in einer wechselseitigen Bezogenheit von Beobachter- und Teilnehmerperspektive aufeinander realisiert. Während die aus Teilnehmerperspektive erkenntnisleitend ins Spiel gebrachten Analogien zunächst das Feld einer quasi-physikalischen Betrachtung von Geschichtsprozessen eröffnen, erweist diese Art der Betrachtung von Geschichte im Resultat die analogische Sichtweise selber als Produkt eines ›geschichtsphysikalischen‹ Prozesses, so dass Herder – als nur ein historisches Indivi226

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duum wie alle anderen vor ihm – sich so verstehen muss, dass seine spezifische Weise der Weltbetrachtung ein sozialpsychologisch erklärbares Ergebnis der geschichtlich gewordenen materiellen Verhältnisse ist, in denen er lebt. Sogar sein eigenes, teilnehmerperspektivisches Geschichtsinteresse ist damit letztlich historisch-materiell bedingt und beobachterperspektivisch aus der Geschichte heraus erklärbar. Mit diesem Ergebnis der Rekonstruktion des Geschichtslaufs käme Herders Geschichtsphilosophie allerdings in der Selbsterkenntnis zum Ziel, dass ihr Urheber sein eigenes Schreiben und das Handeln seiner Zeitgenossen als durch äußere Faktoren bestimmt auffassen muss. Hierzu passen auch jene Passagen, in denen er den Menschen als ein »kleines, blindes Werkzeug«, als »Werkzeug des Schicksals« oder als bloßen »Schauspieler« bezeichnet, der die »Hauptvorstellung« nicht kennt (AP 57; 82; 83 f.) und sich gegen Ende von Auch eine Philosophie der Geschichte sogar selbst zuruft: wer bin ich, daß ich urteile, da ich eben nur den großen Saal quer durchgehe und einen Seitenwinkel des großen verdeckten Gemäldes im dunkelsten Schimmer beäuge? […] was soll ich zu dem großen Buche Gottes sagen, das über Welten und Zeiten gehet! von dem ich kaum ein Letter bin, kaum drei Lettern um mich sehe. (AP 109 f.)

Ein Geschichtsbild, in dem der Mensch Spielball einer höheren Macht ist, kann jedoch zumindest nicht die einzige Antwort Herders auf die Frage nach dem Sinn in der Geschichte sein, wenn er seine Zeitgenossen wiederholt energisch kritisiert und die Rezipienten seiner Schrift sogar mehrfach und mit einer von Emphase getragenen Zukunftshoffnung zum entschlossenen Handeln aufruft: »welche Aufmunterung zu hoffen, zu handeln, zu glauben, selbst wo man nichts oder nicht alles sieht!« (AP 39) »Lasset uns, meine Brüder, mit mutigem, fröhlichem Herzen auch mitten unter der Wolke arbeiten: denn wir arbeiten zu einer großen Zukunft.« (AP 104) Wie passen diese teilnehmerperspektivischen Handlungsappelle und die beobachterperspektivisch diagnostizierte Abhängigkeit menschlicher Selbstverständigung von materiellen und historischen Faktoren zusammen? Wenn er auch das Handeln der Zeitgenossen für unfrei hält, welchen Sinn hat es dann, sie zum Handeln zu ermuntern? Wäre Defätismus nicht die naheliegendere Konsequenz aus seiner Geschichtsdeutung? Herder scheint sich diese Fragen angesichts der Ergebnisse seiner Geschichtsrekonstruktion zumindest zeitweise auch selbst gestellt zu Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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haben: »Was lohnts, daß ich weiterrede? Wenns bloß Sieche wäre; und nicht zugleich Hindernis, das jedes Mittel dagegen aufhebet! – im Todesschweiße aber mit Opium träumen: warum den Kranken stören, ohne daß man ihm hilft?« (AP 82) Die organismische Analogiebildung trägt hier den Hinweis auf eine systempathologische Krise der neuzeitlichen Zivilisation, deren Ursache er in der Ausweitung ›mechanistischer‹ Denkweisen auf alle Bereiche der menschlichen Existenz erkennt: »Daher wird denn nun wohl begreiflich, zu welchem Mittelpunkte die Bildung hinstrebe und immer hingelenkt werde: ›Philosophie! Gedanke! – leichtere Mechanik! […]!‹« (AP 63). Ohne die bereits von Bacon geforderte Technisierung der Wissenschaften, deren Chancen Herder bereits im Reisejournal begeistert kommentiert hatte, zu verteufeln, macht er geltend, dass dem aufgeklärten Selbstverständnis als dem quasi-physikalischen »Schwerpunkt« und »Mittelpunkt der Glückseligkeit« seiner Zeit der objektiv falsche Schein anhaftet, als sei der Fortschritt per se schon als ein ›Allheilmittel‹ für jede Art von Problemlagen zu betrachten (vgl. JR 14; AP 35). Dieser sei in Wahrheit jedoch nicht Selbstzweck, sondern bloßes Mittel zu menschlichen Zwecken, von deren Setzung vielmehr die weitere Menschheitsentwicklung abhänge: »Der wievielste Teil von euch betrachtet Logik, Metaphysik, Moral, Physik als was sie sind – Organe der menschlichen Seele, Werkzeuge, mit denen man würken soll!« (AP 61) 191 Die Rede von ›Organen‹ der menschlichen Seele greift mit Mitteln der Organismusanalogie den Titel von Bacons Novum Organon auf und stellt den dort geforderten Fortschritt der Wissenschaften in den Kontext seiner zwar potentiell nutzbringenden, gleichwohl jedoch nicht isoliert zu betrachtenden Funktion innerhalb des Gesamtorganismus menschlicher Vergesellschaftung. Im Gegenteil ist gerade die ›krankhafte Wucherung‹ des ›Organs‹ einer eindimensional gewordenen Technisierung für Herder Ursache einer unverhältnismäßigen Zuspitzung der Aufklärung, deren terminale Symptomatik durch die ›Krankheit‹ selber jedoch zugleich verschleiert wird (»im Todesschweiße, aber mit Opium träumen«, AP 82). Als das »Opium« bezeichnet Herder dabei einerseits den ökonomischen und wissenschaftlichen Fortschritt: »Wie wissen wir, den einzigen Gott aller Götter, Mammon, als einen zweiten Proteus zu erhaschen!« (AP 72) »Was hilft dem Kranken alle der Vorrat 191 Vgl. auch: »Alle Aufklärung ist nie Zweck, sondern immer Mittel; wird sie jenes so ists Zeichen daß sie aufgehört hat, dieses zu seyn« (JR 91).

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von Leckerbissen, den er mit siechem Herzen nicht genießen kann, ja der Überfluß ihn eben siechherzig machte.« (AP 66) Andererseits gelten ihm die schon von Bacon exoterisch so effektvoll vorgetragenen (quasi)religiösen Appelle zu Passivität und naivem Expertenvertrauen als ein bloßes ›Beruhigungsmittel‹ zur diskursverschließenden Verschleierung von im Grunde auf technischem Wege ohne Weiteres nicht lösbaren gesellschaftlichen Schieflagen, wie seine ironisierende Paraphrase des aufgeklärten Expertendünkels zeigt: »›Wir sind die Ärzte, die Heilande, die Aufklärer, die neuen Schöpfer – die Zeiten des tollen Fiebers sind vorbei‹ – Nun ja, gottlob! und der schwindsüchtige Kranke liegt da so ruhig im Bette, wimmert und – – danket!« (AP 81) Die Diagnose einer lebensbedrohenden ›Krankheit‹ der europäischen Zivilisation hat dabei – über den Rang einer objektiven Zeitdiagnose hinaus – eine unübersehbare teilnehmerperspektivische Dimension. Wie Habermas es vor dem Hintergrund eines vorwissenschaftlich-medizinischen Verständnisses des Krisenbegriffs in unserer Zeit geltend macht, so ist auch schon für Herder eine »Krise nicht von der Innenansicht dessen zu lösen, der ihr ausgeliefert ist: der Patient erfährt seine Ohnmacht gegenüber der Objektivität der Krankheit nur, weil er ein zur Passivität verurteiltes Subjekt ist, dem zeitweise die Möglichkeit genommen ist, ein Subjekt im vollen Besitz seiner Kräfte zu sein.« (RHM 304) Wenn Herder seine Zeitgenossen angesichts einer als derart aporetisch beschriebenen Situation, wie es das Bild einer ›Krankheit‹ unter Behandlung durch falsche ›Ärzte‹ suggeriert, trotzdem zum Handeln aufruft, verharrt er dann – ähnlich wie Horkheimer und Adorno es später in der ›Dialektik der Aufklärung‹ tun werden – in der Paradoxie eines mit Bewusstsein vollzogenen, ohnmächtig-kulturpessimistischen Kassandrarufes? Der Schlüssel zur Auflösung dieser Frage liegt in Herders Inanspruchnahme der Unterscheidung einer ›Entwicklungslogik‹ von einer ›Entwicklungsdynamik‹ des Geschichtslaufs. Anlässlich seiner Behandlung der alten Ägypter und der Phönizier hatte er dem Leser seiner Schrift die Zufälligkeit vor Augen geführt, mit der auf einer einzigen Entwicklungsstufe der Menschheit (dort dem ›Knabenalter‹) unterschiedliche Aspekte des normativen Bewusstseins unabhängig voneinander – aber abhängig von äußeren Faktoren – in unterschiedliche Richtungen weiter rationalisiert werden können, bevor sie auf einem höheren Entwicklungsniveau (dem ›Jünglingsalter‹ griechischer Zivilisation) wieder zusammenfinden. Der vergangene GeZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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schichtslauf folgt in Herders Darstellung zwar mit gewisser Konsequenz einer allgemeinen Struktur der sukzessiven Höherentwicklung der Menschheit (bzw. einer ›Entwicklungslogik‹), das bedeutet jedoch nicht, dass damit im Besonderen nicht historische Zufälle, Kontingenzen und unvorhersehbare Lernprozesse (bzw. eine ›Entwicklungsdynamik‹) eine weichenstellende Rolle spielten, ob und wie eine bestimmte Nation zur Höherentwicklung der Menschheit und zur faktischen Realisierung des historisch bereits möglichen Entwicklungsniveaus beiträgt. Streng genommen – und das ist Herders Pointe im Hinblick auf die eigene Gegenwart – bedeutet es nicht einmal, dass diese Entwicklung sich in die Zukunft hinein fortsetzen muss, wie Irmscher feststellt: »Der unaufhebbare Perspektivismus geschichtlicher Erkenntnis hindert Herder an einer präzisen Aussage über Ziel und Sinn der Geschichte.« (»Nachwort«, AP 161) Die Entwicklung könnte also auch umkippen und die Menschheit in einer alles verheerenden Katastrophe ihr Ende finden. Herders Hinweise darauf, dass er selbst »kaum eine Letter« im »großen Buche Gottes« sei, die »kaum drei Lettern um [sich] sehe«, soll dem Leser allerdings keineswegs Ausweglosigkeit vermitteln, sondern ihm signalisieren, dass aktives Handeln gerade dort lohnt, »wo man nichts oder nicht alles sieht« – insofern ein solches Handeln nämlich nur da Aussicht auf Erfolg verspricht, wo die geschichtliche Gegenwart kausal unterbestimmt ist bzw. teilnehmerperspektivisch und horizonthaft als ›alternativ‹ erscheint (AP 104; 39). Indem also Kontingenzspielräume der beobachterperspektivischen Rekonstruktion des Geschichtslaufs in Bezug auf die eigene Gegenwart teilnehmerperspektivisch als ein Anlass zur Hoffnung umgedeutet werden, gelingt es Herder, auf dem Wege einer Hinsichtenunterscheidung zu einer ›kompatibilistischen‹ Position vorzudringen. Gerade der Mangel an menschlicher Einsicht in eine lückenlose Bestimmtheit des Geschichtslaufs soll die Motivation zum Handeln liefern: Was für ein Werk, zu dem so viele Schattengruppen von Nationen und Zeiten, Kolossenfiguren fast ohne Gesichtspunkt und Ansicht, so viel blinde Werkzeuge gehören, die alle im Wahne des Freien handeln und doch nicht wissen, was? oder wozu? die nichts übersehen und doch so eifrig mithandeln, als wäre ihr Ameisenhaufe das Weltall – was für ein Werk, dies Ganze! (AP 109)

Mit den Mitteln der Organismusanalogie und unter Zuhilfenahme medizinischer Metaphorik stellt er daher auch fest: »Also vielmehr, 230

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was dem Kranken auch gefallen wird. Wir sind bei dieser Fortrückung freilich auch auf unserer Stelle, Zweck und Werkzeug des Schicksals.« (AP 82) Ob ein aktives Mithandeln zukünftig allerdings tatsächlich zum gewünschten Ergebnis führt, kann erst der geschichtliche Fortgang der Menschheit selbst zeigen. Auch ein solcher Erfolg wäre jedoch – wie Herder hier klarmacht – noch nicht geeignet, die tatsächliche Freiheit (sc. in ihrem emphatischen Sinne) des Handelnden retrospektiv zu beweisen (»Wahne des Freien«). Als spätere Geschichtsphilosophen können wir auf Basis von Herders Schrift jedoch zumindest geltend machen, dass der Umstand, dass er sich selbst bis zu einem gewissen Grade als frei verstand, maßgeblich zur Rezeptionswirkung von Auch eine Philosophie der Geschichte beigetragen hat, weil er ohne dieses freiheitliche Selbstverständnis das Werk in der uns heute vorliegenden Fassung kaum jemals veröffentlicht hätte. Es kann also festgehalten werden, dass sich mit Herders Unternehmen einer beobachterperspektivischen Rekonstruktion der Entwicklungslogik des normativen Bewusstseins zunächst ein ›systemfunktionaler‹ Erklärungsanspruch verbindet. Indem dann jedoch die aufgewiesenen entwicklungsdynamischen Kontingenzen des verflossenen Geschichtslaufs vor dem Hintergrund der eigenen Zeit teilnehmerperspektivisch so interpretiert werden, dass über objektiv mögliche Zukunftsverläufe noch nichts entschieden ist, kann er auch den kritisch-appellativen Charakter seiner Schrift rechtfertigen: Der »bilden[de]« Appell zur postkonventionellen Prüfung der »Kluft« zwischen entwicklungslogisch erreichtem Niveau und entwicklungsdynamischer Realisierung desselben in der eigenen Gegenwart verfolgt den Zweck, die »Neigungen« der Zeitgenossen zu »wecken oder stärken« und sie zur aktiven Mitgestaltung der Zukunft anzuhalten (AP 65). Wie sich diese kritisch-appellative Teilnehmerperspektive von Auch eine Philosophie der Geschichte im Einzelnen ausnimmt, nämlich in einer esoterisch an Experten und einer exoterisch an Laien gerichteten Wirkungsdimension, werde ich im Folgenden zeigen. Als prominenter Ausgangspunkt dient mir dabei der Geschichts- und Theodizeediskurs zwischen Voltaire und Jean-Jacques Rousseau. Herder kritisiert nicht nur den Fortschrittsoptimismus im Geiste Bacons, sondern rekurriert in seinen Schriften wiederholt auch auf den Kulturpessimismus Rousseaus und den Skeptizismus Voltaires, um seine eigene Geschichtsdeutung zu exponieren (vgl. JR 79; AP 12; 37; 71; 107). Dabei übernimmt er Elemente aller drei Positionen und eröffnet so einen Metadiskurs über die vorangegangenen Geschichtsdiskurse. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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›Muttersprache‹ und ›Übersetzung‹: Die Experte-Laie-Unterscheidung Wir können der französischen Revolution wie einem Schiffbruch auf offenem, fremdem Meer vom sichern Ufer herab zusehen, falls unser böser Genius uns nicht selbst wider Willen ins Meer stürzte. (Herder: »Briefe zu Beförderung der Humanität«; SW XVIII, 315)

α.) Rousseaus Erste Abhandlung und sein Briefwechsel mit Voltaire Der Vordenker der Französischen Revolution Jean-Jacques Rousseau hat 1750 mit seiner Abhandlung »Über Kunst und Wissenschaft« einen kulturkritischen Diskurs über die Errungenschaften menschlichen Fortschritts durch Wissenschaft eingeleitet. 192 Der eher äußerliche Anlass, der Rousseau beinahe über Nacht berühmt machen und seine ungeheure Nachwirkung begründen sollte, war die von der Akademie zu Dijon ausgeschriebene Preisfrage: »Hat der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?« (KW 5) Unter einer die kritische Absicht der Schrift thematisch vorstrukturierenden Berufung auf Sokrates und im Gestus sokratischen Nichtwissens (vgl. KW 5; 23–25) beantwortet Rousseau die gestellte Frage abschlägig und stellt erstmals die auch für sein Gesamtwerk programmatischen Thesen auf: »In dem Maß, in dem unsere Wissenschaften fortschritten, sind unsere Seelen verderbt worden.« (KW 15) »Die Wissenschaften und Künste verdanken ihre Entstehung unseren […] Lastern. […] Wenn unsere Wissenschaften schon in dem Ziel, das sie sich setzen, vergeblich sind, so sind sie erst recht durch die Folgen, die sie nach sich ziehen, gefährlich.« (KW 31 f.) Hinsichtlich der Vereinbarkeit von wissenschaftlichem und moralischem Fortschritt vertritt Rousseau hier folglich die kulturpessimistische Auffassung einer geschichtlich zunehmenden Disparität zwischen Moral und Erkenntnis, die sich – mit Bacons Metaphorik gesprochen – aus der fortgesetzten Lektüre des ›Buchs der Natur‹ ergibt. Die Geheim192 Die folgenden Ausführungen zur Meinungsverschiedenheit zwischen Voltaire und Rousseau in Fragen eines geschichtsphilosophischen Optimismus und der Theodizee stützen sich in erster Linie auf den Aufsatz von Uwe Steiner: »Ärger im Paradies. Rousseaus Replik auf Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne«. In: Daphnis 21 (1992), S. 695–749.

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nisse der Natur unterstehen zwar auch in Rousseaus Deutung »keinem Verbot« (Bacon; NO I, 89), ihre Entschlüsselung hat jedoch fatale Folgen für ein menschliches Zusammenleben: »Laßt euch endlich gesagt sein, ihr Völker, daß euch die Natur vor der Wissenschaft bewahren wollte, wie eine Mutter eine gefährliche Waffe aus den Händen ihres Kindes reißt. Die Geheimnisse, die sie euch verbirgt, sind ebensoviele Übel, vor denen sie euch bewahrt.« (KW 29) Die zeitgenössisch einflussreichste Kritik an Rousseau zielte allerdings nicht auf seine Wendung gegen den Fortschrittsoptimismus im Geiste Bacons, sondern betraf vielmehr die Zeichen seiner Wertschätzung für ein Leben unter vorzivilisatorischen Bedingungen: »Bevor die Kunst unsere Manieren geformt hatte und unsere Leidenschaften eine geschickte Sprache sprechen lernten, waren unsere Sitten ländlich, aber natürlich.« (KW 11) Dem 18 Jahre älteren Voltaire ließ Rousseau ein Exemplar seiner Ersten Abhandlung zukommen. Der beantwortete die Schenkung am 30. August 1755 mit einem Dankesschreiben, das schon im ersten Satz einen Vorblick auf die Ironie gibt, mit der er in seinem Candide später die Idee einer Theodizee – d. h. einer Rechtfertigung Gottes angesichts der Übel in der Welt – dem Spott preisgeben wird: 193 Ich habe, mein Herr, Ihr neues Buch gegen das Menschengeschlecht erhalten und danke Ihnen dafür. […] Nie hat man soviel Geist darauf verwendet, uns wieder zu Eseln zu machen. Man bekommt Lust, auf vier Füßen zu gehen, wenn man ihr Werk liest. Da ich jedoch seit über sechzig Jahren aus der Übung gekommen bin, fühle ich leider, daß es mir unmöglich ist, sie wieder aufzunehmen. Ich überlasse diese natürliche Gangart denen, die ihrer würdiger sind als Sie und ich. 194

Voltaire hat damit das gängigste Vorurteil gegen Rousseau, dieser »habe ein ›retour à la nature‹ propagiert«, zwar nicht aus der Taufe gehoben, es aber »wohl auf die witzigste Weise kolportiert.« 195 Offenbar an einer sachlicheren Auseinandersetzung über das Thema interessiert und im Zeichen deutlicher Ehrbekundungen gegenüber dem älteren Aufklärer, übergeht Rousseaus Antwortbrief vom 10. Sep193 Voltaire: Candide oder der Optimismus. Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie sind dann bloss die anderen? München 2005. 194 »Brief Voltaires an Rousseau, 30. August 1755«. In: Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. Die zwei Diskurse von 1750 und 1755 (übers. u. hrsg. von Kurt Weigand). Hamburg 41983, S. 301–309. Hier: S. 301 f. 195 Steiner: »Ärger im Paradies«. S. 717.

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tember desselben Jahres den satirischen Ton von Voltaires Bemerkung geflissentlich und zielt auf die Bereinigung eines fundamentalen Missverständnisses, dem der Autor sein Anliegen bei Abfassung der Ersten Abhandlung ausgesetzt sieht: In Bezug auf Sie, mein Herr, wäre diese Rückkehr ein Wunder, so groß und so schädlich zugleich, daß es nur Gott zu vollbringen und nur dem Teufel zu wollen zukäme. Versuchen Sie deshalb nicht, in die Gangart auf vier Füßen zurückzufallen. Niemand auf der Welt wird es schwerer fallen als Ihnen. Sie richten uns zu gut auf unsere Füße auf, als daß Sie nicht mehr auf den Ihren zu stehen brauchten. […] Wenn es wahr ist, daß alle menschlichen Fortschritte für die Gattung gefährlich sind, dann beschleunigen die Fortschritte des Geistes und der Kenntnisse […] bald unsere Leiden. Jedoch es kommt eine Zeit, in der das Übel so groß ist, daß die Ursachen, die es entstehen ließen, nötig sind, um seinem Wachsen Einhalt zu gebieten. Man muß das Eisen in der Wunde lassen, damit der Verwundete nicht beim Herausziehen verblute. 196

Rousseau betont mit der Metapher vom ›Eisen in der Wunde‹, dass er keineswegs so naiv ist zu glauben, der wissenschaftliche Fortschritt bis in die eigene Zeit hinein ließe sich umstandslos rückgängig machen, wodurch dann der Rückkehr zu einer Art ›paradiesischem Urzustand‹ der Menschheit der Weg geebnet wäre. Die durch den Fortschritt der Wissenschaften und Künste entstandene ›Verletzung‹ des moralischen ›Körpers‹ der Menschheit ist so schwerwiegend, dass eine volle Genesung nicht mehr in Aussicht steht, sondern günstigstenfalls nur weiterer Schaden vielleicht noch verhindert werden könnte. Stärker Kontur gewinnt Rousseaus Position und der Gegensatz zu Voltaire, wenn man einen weiteren Brief Rousseaus in Rechnung zieht, der auf den 18. August 1756 datiert. Er bedankt sich darin nun seinerseits für die Zusendung zweier Gedichte Voltaires, die er ohne Nennung des Absenders erhalten hatte und deren erstes (Poème sur la Loi naturelle) ihm sehr gefallen, das zweite jedoch, das »Gedicht auf die Zerstörung von Lissabon« (Poème sur le désastre de Lisbonne), ihn zutiefst empört – man muss beinahe sagen: gekränkt hatte. 197 196 »Antwort, Paris, den 10. September 1755«. In: Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. Die zwei Diskurse von 1750 und 1755 (übers. u. hrsg. von Kurt Weigand). Hamburg 41983, S. 309–315. Hier: S. 311 f. 197 Jean-Jacques Rousseau: »Brief an Herrn von Voltaire, 18. August 1756«. In: JeanJacques Rousseau: Schriften, Bd. 1 (hrsg. von Henning Ritter). Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978, S. 313–332. Hier: S. 315. Eine deutsche Übersetzung des in der For-

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Den satirischen Ton von Voltaires Antwortbrief auf die Zusendung seiner Ersten Abhandlung hatte er dabei offenbar auch ein Jahr später nicht vergessen und trug ihn dem Briefpartner nun nach: Sie wollen nicht, mein Herr, daß man ihr Werk als ein Gedicht gegen die Vorsehung betrachte, und ich werde mich wohl hüten, ihm diesen Namen zu geben, obgleich Sie eine Schrift, worin ich die Sache des menschlichen Geschlechts gegen es selbst führte, als ein Buch gegen das menschliche Geschlecht ausgegeben haben. […] Die gerechte Verteidigung meiner selbst verpflichtet mich bloß, Sie bemerken zu lassen, daß, als ich das menschliche Elend schilderte, mein Endzweck zu entschuldigen und sogar rühmlich war, wie ich glaube, denn ich zeigte den Menschen, wie sie ihr eigenes Unglück selber schufen, und folglich auch, wie sie es vermeiden konnten. 198

An dieser Passage wird endgültig das Missverständnis offenbar, Rousseau habe einem kultureskapistischen ›Zurück zur Natur‹ das Wort reden wollen. Seine erklärte Absicht ist es, Pathologien der gegenwärtigen Gesellschaftsformation aufzuweisen und über ihre Ursachen aufzuklären, um so einem weiteren Verfall der Menschheit vorzubeugen. Zugleich wird an Rousseaus Brief aber auch das Missfallen greifbar, das er angesichts des von Voltaire über Leibniz und Pope ausgeschütteten Spotts empfunden haben muss. Woran entzündete sich der Dissens zwischen den beiden Aufklärern? Voltaire hatte in seinem Gedicht – wie auch später im Candide, den Rousseau nicht einmal mehr zu lesen bereit war 199 – die erstmals von Leibniz auf den Begriff gebrachte Theodizee sinngemäß mit der Aussage persifliert, ein Gott, der solche Verheerungen zulasse, wie sie am Allerheiligentag 1755 in Lissabon durch das Erdbeben, den anschließenden Brand und den nachfolgenden Tsunami ausgelöst worden waren, müsse schon ein Zyniker oder Sadist sein. Er wendet sich damit gegen die Auffassung, es lasse sich am Geschichtslauf die gütig leitende Absicht eines Schöpfers ablesen. Rousseau widerspricht diesem skeptisch-agnostischen Zug von Voltaires Satire. In einer Bemerkung, die selbst auf dem Hintergrund heutiger Debatten um Sinn und Gehalt einer Unterscheidung zwischen ›Natur-‹ und ›Technikkataschung gegenüber dem Candide vergleichsweise selten beachteten Erdbebengedichts liefert Uwe Steiner im Anhang zu seinem Aufsatz: »Voltaire oder der Optimismus: Zu einigen philosophischen und poetischen Aspekten von Voltaires Gedicht über das Erdbeben von Lissabon. Mit einer Neuübersetzung von Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne«. In: Daphnis 21 (1992), S. 305–407. Hier: S. 373–407. 198 Ebd., S. 317 199 Vgl. Steiner: »Ärger im Paradies«. S. 695. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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strophen‹ noch Aktualität beanspruchen kann, weist er darauf hin, dass keineswegs Gott oder die Natur, sondern vermeintliche technische Fortschritte den Ereignisverlauf in Lissabon ganz entscheidend bestimmt haben: Ohne Ihren Gegenstand Lissabon zu verlassen, gestehen Sie mir zum Beispiel zu, daß nicht die Natur dort zwanzigtausend Häuser von sechs oder sieben Stockwerken versammelt hatte und daß, wenn die Einwohner dieser Stadt gleichmäßiger zerstreut und leichter beherbergt gewesen wären, die Verheerung weit geringer gewesen und vielleicht gar nicht geschehen wäre. Bei der ersten Erschütterung wäre alles geflohen und des Morgens darauf hätte man sie zwanzig Meilen von dort so munter gesehen, als ob nichts geschehen wäre. Allein, man muß bleiben, man muß bei diesen Trümmern verweilen, man muß sich neuen Erschütterungen aussetzen, weil das, was man daselbst zurückläßt, kostbarer ist als das, was man mit sich nehmen kann. Wieviele Unglückliche sind nicht bei diesem Unfall umgekommen, weil der eine seine Kleider, der andere seine Papiere, ein anderer sein Geld retten wollte? 200

Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist, dass Rousseaus Bemerkung, indem er es der Verantwortung der Menschheit zuschreibt, dafür zu sorgen, dass der technische Fortschritt keine katastrophalen Ereignisse der Größenordnung von Lissabon heraufbeschwört, in die Forderung eines nicht theoretisch-wissenschaftlichen, sondern praktisch-politischen Programms überleitet. Stadtplanerisch unterlassene Vorschriften bzgl. Besiedlungsdichte, Erdbebensicherheit und Gebäudehöhe sowie die Angewiesenheit der Menschen auf finanzielle Mittel sind Aspekte, welche die gesellschaftliche Organisation betreffen und die nicht der Natur oder Gott angelastet werden können. Als der »vielleicht größte Philosoph« gilt Rousseau daher auch kein lebensferner Stubengelehrter und nicht einmal sein aufklärerisches Vorbild Sokrates, sondern ein »Kanzler von England« – nämlich der durch seine politische Stellung im Wirken begünstigte Lord Chancellor Francis Bacon: »Die großen Gelegenheiten schaffen die großen Männer.« (KW 55)

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β.) Herders Metadiskurs über Geschichte Interessant ist nun, dass Herder diesen Übergang Rousseaus vom gelehrten Theodizeediskurs in die öffentliche Praxis so radikalisiert, dass ihm die Theodizeeproblematik überhaupt in den Hintergrund tritt. Anstatt in der Frage Stellung zu beziehen, eröffnet er einen Metadiskurs zu den vorangegangen Geschichtsdiskursen von Bacon über Voltaire und Rousseau bis hinein in die eigene Zeit. Ohne also eine mögliche Schuld oder Unschuld Gottes am irdischen Leid noch eigens zu erörtern, kennzeichnet er den Fortgang der Menschheitsgeschichte nicht nur im Einzelnen als von erheblichen Zufällen geprägt, sondern auch als grundsätzlich ambivalent: Wers bisher unternommen, den Fortgang der Jahrhunderte zu entwickeln, hat meistens die Lieblingsidee auf der Fahrt: Fortgang zu mehrerer Tugend und Glückseligkeit einzelner Menschen. […] Andere, die das Leidige dieses Traums sahen und nichts Besseres wußten – sahen Laster und Tugenden wie Klimaten wechseln […] – kein Plan! kein Fortgang! ewige Revolution […]! Widersprüche und Meereswogen: man scheitert, oder was man von Moralität und Philosophie aus dem Schiffbruche rettet, ist kaum der Rede wert. (AP 37)

Während sich die Idee eines linearen Fortschritts in der Geschichte der Position Bacons zuordnen lässt, stehen für Herder als deren Gegenbilder Rousseaus Kulturpessimismus und Voltaires satirischer, gegen den Optimismus gerichtetes Gedicht über die Katastrophe von Lissabon (1755) Pate. Auch im fünften Kapitel von Voltaires Candide (1759) erleiden die Protagonisten vor der Küste Lissabons Schiffbruch, nur um nach ihrer Rettung ans vermeintlich sichere Ufer sogleich vom dortigen Erdbeben überrascht zu werden. 201 Wo Bacon für eine optimistische Zukunftsvision eintritt und Rousseau den technischen Fortschritt als einen Sündenfall der Menschheitsgeschichte brandmarkt, gibt es für Voltaire gar keinen sicheren Beobachterstandpunkt, von dem aus sich über den Sinn in der Geschichte ein Urteil fällen ließe. Der Mensch bleibt in allem ein Gestrandeter, der nur auf sein Glück hoffen kann, auch die weiteren Unwägbarkeiten seiner Odyssee zu überleben. Herder schließt sich allerdings weder Bacons optimistischer noch Voltaires erkenntnisskeptischer oder Rousseaus kulturpessimistischer Geschichtsdeutung vorbehaltlos an,

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sondern sucht in seiner Schrift eine eigene, vermittelnde Metaposition zum wissenschaftlichen Expertendiskurs über den Sinn in der Geschichte: »Sollte es nicht offenbaren Fortgang und Entwickelung aber in einem höheren Sinne geben, als mans gewähnet hat?« (AP 38) Diesen »höheren« Sinn in der Geschichte sieht Herder in einer eigentümlichen Verbindung entwicklungslogischer und entwicklungsdynamischer Momente, deren geschichtliche Konsequenz dem Individuum zwar im Blick auf vergangene Ereignisse bis zu einem gewissen Grade retrospektiv einsichtig werden kann, die hinsichtlich der eigenen Gegenwart jedoch von erheblichen Unwägbarkeiten gekennzeichnet ist: »Schauplatz einer leitenden Absicht auf Erden! wenn wir gleich nicht die Absicht sehen sollten, Schauplatz der Gottheit, wenngleich nur durch Öffnungen und Trümmer einzelner Szenen.« (AP 38) Seine bescheidene Hoffnung auf einen in die Zukunft hinein fortwirkenden Sinn in der Geschichte stützt sich dergestalt auf die analogische Deutung der Vergangenheit als einer tendenziellen Entwicklung zu einem Fortschritt der Menschheit, wobei ein sich darin möglicherweise verwirklichender göttlicher Plan – ganz im Sinne Voltaires – dem Menschen ohnehin undurchschaubar bleibt und daher (sc. im Sinne von Bacons ›Antizipationen des Geistes‹) nur ›geglaubt‹, nicht aber rational gerechtfertigt werden kann, wie es eine ›Theodizee‹ voraussetzen würde. Dass Herder die Ungewissheiten, die den hoffnungsvollen Blick auf eine bessere Zukunft trüben, keineswegs herunterspielt, wird nicht zuletzt an der eingangs dieses Abschnitts zitierten Bemerkung deutlich, in der er mittels der von Blumenberg metaphorologisch untersuchten Figuration ›Schiffbruch mit Zuschauer‹ zwar zunächst geltend macht, die in Frankreich stattfindende und mit erheblichem Blutvergießen einhergehende Revolution sei vom »sicheren Ufer« des Standpunkts der eigenen Nation aus betrachtet beobachterperspektivisch beschreibbar, dann aber in die Teilnehmerperspektive wechselt und einräumt, es könne nicht bis ins Letzte ausgeschlossen werden, dass ähnliche Ereignisse auch auf Deutschland übergreifen (vgl. SZ; vgl. SW XVIII, 315). Selbst die Entwicklung im eigenen Land sei eben – so lässt sich Herder verstehen – durch entwicklungsdynamische Kontingenzen geprägt, die sich nicht vorhersehen lassen: »falls unser böser Genius uns nicht selbst wider Willen ins Meer stürzte« (SW XVIII, 315; vgl. SZ 49–51). Die Formulierung »wider Willen« kann dabei zunächst den Eindruck erwecken, als habe er damit gesellschaftliche Prozesse im Sinn, die sich überhaupt jeder Kontrolle entziehen oder sogar im Wortsinne ›dämo238

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nisch‹ sind. Ich möchte an dieser Stelle stattdessen die These vertreten, dass Herder damit auf den Umstand anspielt, dass sich die weitere Entwicklung der eigenen Nation aus dem Zusammenspiel des Handelns aller Akteure derselben ergibt. Auf diese Weise ist einer Interpretation Herders der Weg geebnet, die besagt, dass zwar aus Sicht jedes einzelnen Individuums eine zukünftige Entwicklung »wider Willen« eintreten kann, zugleich jedoch die Selbstinterpretationen und das kollektive Handeln derselben Individuen bei der Entscheidung über das ›Ob‹ oder ›Ob-nicht‹ einer bestimmten Zukunft eine ausschlaggebende Rolle spielen. Entgegen einer völligen Kontingenz oder gar ›Dämonie‹ zukünftiger Ereignisse kommt damit der publizistischen Tätigkeit des Geschichtsphilosophen Herder eine ganz entscheidende Funktion bei der Beeinflussung des als alternativ prognostizierten Geschichtsprozesses zu. Er könnte, wie er selbst es bereits im Reisejournal ausdrückt und sich selbst abfordert, insofern also tatsächlich »mehr als Bako« und »im Weißagen größer als Newton« geworden sein, als seine Prognosen auf einer entfalteten Theorie der Geschichte fußen und nicht einfach einen linearen Progress postulieren, sondern alternative Möglichkeiten der Zukunft unter einer wesentlich differenzierten Betrachtung der sozialen Ausgangslage ins Auge fassen, um die gesellschaftlichen Entwicklungen dann praktisch zu beeinflussen (JR 79). Dass Herder seine eigene Rolle in Auch eine Philosophie der Geschichte in genau diesem pädagogisch-aufklärerischen Sinne interpretiert, indem er sich nicht nur (1) esoterisch an andere geschichtsphilosophische Experten wendet, sondern zudem (2) exoterisch auf die bürgerliche Öffentlichkeit seiner Zeit einzuwirken versucht, sei im Folgenden gezeigt. 1) Es gehört zu den Auffälligkeiten von Herders früher Geschichtsphilosophie, dass er die 3.-Person-Perspektive des bloßen Beobachters bei der Erörterung der eigenen Gegenwart durch Einführung einer Teilnehmerperspektive nicht nur begrifflich, sondern durch Wechsel des Personalpronomens zuweilen auch grammatisch fallen lässt, um den Leser seiner Schrift direkt anzusprechen: »Du kannst, Sokrates unserer Zeit! nicht mehr wie Sokrates würken: denn dir fehlt der kleine, enge, starkregsame, zusammengedrängte Schauplatz! die Einfalt der Zeiten, Sitten und des Nationalcharakters!« (AP 92) Herder wendet sich mit dem ›Du‹ an den Geschichtsphilosophen und Aufklärer seiner Zeit und eröffnet so einen esoterischpoetologischen Diskurs der Reflexion über WirkungsvoraussetzunZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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gen eines Schaffens, das darauf abzielen soll, die Zeitgenossen ›zu bilden‹ (vgl. den Titel »zur Bildung der Menschheit«). Dass hier Bildung und die Korrektur inkohärenter Selbstverständnisse der Zeitgenossen das Thema ausmachen, wird schon daran deutlich, dass Herder sein gedachtes Gegenüber als »Sokrates« anspricht, auf den schon Rousseau sich in seiner Ersten Abhandlung berufen hatte. Er hebt damit zunächst die geschichtliche Differenz zwischen dem Wirkungsbereich des historischen Sokrates auf der Athener Agora und demjenigen eines Aufklärers im 18. Jh. hervor, der nicht mehr der Reihe nach jeden einzelnen seiner Mitbürger ansprechen und mäeutisch zur Selbsterkenntnis führen kann, sondern stattdessen mit einer unüberschaubaren Zahl von Zeitgenossen konfrontiert ist. Während Sokrates auf eine schriftliche Fixierung seiner Philosophie verzichten und den direkten Dialog suchen konnte, ist der bürgerliche Aufklärer darauf angewiesen, sich durch die Publikation von Schriften Öffentlichkeit zu verschaffen. Herder ruft den intellektuellen Experten seiner Zeit daher explizit dazu auf, die Publikationstätigkeit auch angesichts des Risikos auf sich zu nehmen, von den Zeitgenossen nicht gelesen, wie Rousseau zuweilen völlig missverstanden oder – aufgrund eingelebter Vorurteile im Sinne von Bacons ›Idola‹ – sogar gehasst zu werden: Dich werden hundert lesen und nicht verstehen: hundert und gähnen: hundert und verachten: hundert und lästern: hundert und die Drachenfesseln der Gewohnheit lieber haben und bleiben, wer sie sind. Aber bedenke, noch vielleicht hundert überbleiben, bei denen du fruchtest: wenn du lange verweset bist, noch eine Nachwelt, die dich lieset und besser anwendet. Welt und Nachwelt ist dein Athen! rede! (AP 93)

Gerade die Möglichkeit einer zukünftigen Rezeption, die beim historischen Sokrates allein durch Vermittlung seiner Schüler stattgefunden hat, stellt Herder so als den entscheidenden Vorzug seines Zeitalters dar, in dem seit Erfindung und massenhafter Verbreitung der »Buchdruckerkunst« auch solche Schriften wissenschaftliche Erhaltung finden, die zur Zeit ihrer Entstehung kaum oder gar nicht zur Kenntnis genommen wurden (AP 58). Er widerspricht damit ganz offen auch Rousseaus kulturpessimistischer Deutung, der »Buchdruck« sei per se eine »schreckliche Kunst«, die nur »Wirren […] in Europa« verursacht habe (KW 53, Anm.). Die hier geltend gemachte Verteilung von Vorteil und Nachteil zwischen dem antiken Griechenland und der eigenen Zeit beschränkt sich jedoch nicht auf eine Erörterung 240

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des geeigneten Aufklärungsmediums. Auch der gesellschaftliche Standpunkt des philosophischen ›Experten‹, der esoterisch und exoterisch zu wirken beabsichtigt, wird neu verortet: Erdbürger und nicht mehr Bürger zu Athen, fehlt dir natürlich auch die Ansicht dessen, was du in Athen tun sollt: das sichere Gefühl dessen, was du tust; die Freudempfindung von dem, was du ausgerichtet habest – dein Dämon! Aber siehe! wenn du wie Sokrates handelst, demütig Vorurteilen entgegenstrebest, aufrichtig, menschenliebend, dich selbst aufopfernd Wahrheit und Tugend ausbreitest, wie du kannst – Umfang deiner Sphäre ersetzt vielleicht das Unbestimmtere und Verfehlende deines Beginnens! (AP 92 f.)

Herder räumt ein, dass die eigene historische Situation in einem Maße von einer – gegenüber der Zeit des Sokrates neuen – Unübersichtlichkeit geprägt ist, was es unmöglich macht, sich in der eigenen Rolle als Aufklärer im Ratschlagen völlig gewiss zu sein. Der in direkter Ansprache an den wissenschaftlichen Experten gerichtete Aufruf, das Wagnis der Publikationstätigkeit dennoch auf sich zu nehmen, kann sich jedoch auf die Feststellung stützen, dass auch die übrigen ›Experten‹ nur über eine – wiederum in ihrer besonderen Weise – beschränkte Einsicht in die gesellschaftliche Situation und den Fortgang der Geschichte verfügen. Er möchte damit nicht einfach nur Geschichtsdeutungen konkurrierender Autoren diskreditieren, sondern bezieht diese Diagnose ganz explizit auch auf sich selbst: Eben die Eingeschränktheit meines Erdpunktes, die Blendung meiner Blicke, das Fehlschlagen meiner Zwecke, das Rätsel meiner Neigungen und Begierden, das Unterliegen meiner Kräfte nur auf das Ganze eines Tags, eines Jahrs, einer Nation, eines Jahrhunderts – eben das ist mir Bürge, das ich nichts, das Ganze aber alles sei! (AP 109)

Indem er eingesteht, dass er als historisch situierte Person – nicht weniger als alle übrigen Geschichtsphilosophen – ›Idolen der Höhle‹, d. h. subjektiven Beschränkungen unterliegt, die in seiner persönlichen Geschichte, seinem Bildungsweg und den ›klimatischen‹ Bedingungen seines eigenen Lebensweges begründet sind, wendet er sich aber zugleich in einer exoterischen Perspektive an Rezipienten seiner Schrift, die sich selbst als geschichtsphilosophische Laien verstehen müssen. 2) Herders Bescheidenheit (»ich nichts, das Ganze aber alles«) ist mehr als bloßer Gestus. Indem er betont, dass nicht nur der Mensch überhaupt, sondern speziell auch die wissenschaftlichen Experten nur Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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über eine begrenzte Einsicht verfügen, ermuntert er die bürgerliche Öffentlichkeit zur Mitwirkung. Die exoterischen Appelle stehen dabei grammatisch in der 1. Person Singular oder Plural: »Mit dir rede ich lieber, Hirt deiner Herde, Vater, Mutter in der armen Hütte! Auch dir sind tausend Antriebe genommen, die dir einst dein Vatergeschäft zum Himmel machten. Kannst dein Kind nicht bestimmen! […] Untätig sein kannst du doch nicht: böse oder gut erziehen mußt du: gut – und wie größere Tugend!« (AP 96) »Wir sind bei dieser Fortrückung freilich auch auf unserer Stelle, Zweck und Werkzeug des Schicksals.« (AP 82) »Lasset uns, meine Brüder, mit mutigem, fröhlichem Herzen auch mitten unter der Wolke arbeiten: denn wir arbeiten zu einer großen Zukunft.« (AP 104) Die Emphase der Gemeinschaftlichkeit (»uns, meine Brüder«) wird an dieser Stelle noch massiv verstärkt durch die Inanspruchnahme einer biblischen Metapher. Das Arbeiten »mitten unter der Wolke« spielt nicht nur an auf das beobachterperspektivisch-naturanaloge ›Klima‹ der zeitgenössischen Situation, sondern auch auf den Exodus, wie er in der Bibel rückblickend mit den Worten in Erinnerung gerufen wird: »Ich will euch aber, liebe Brüder, nicht verhalten, dass unsre Väter sind alle unter der Wolke gewesen und sind alle durchs Meer gegangen« (1. Kor. 10.1). 202 Der direkte Appell an die Zeitgenossen (»Lasset uns, meine Brüder«) variiert also im Wortlaut eine Bibelpassage, in der an die leidvollen Erfahrungen des Auszugs der Israeliten aus Ägypten erinnert und dazu aufgerufen wird, dies »zum Vorbilde« zu nehmen, um Hoffnung für die Zukunft zu schöpfen (1. Kor. 10.6). Herder hätte die Aufgabe, die er sich selbst im Reisejournal stellt, hier schwerlich noch konkreter umsetzen können: »Noch ist Alles Theorie: es werde Praxis und dazu diene die Seelensorge meines Amts.« (JR 38) Weshalb er auch den wissenschaftlichen Laien gefordert sieht, etwas zur Verbesserung der gesellschaftlichen Lage beizutragen, und er bei seinem Appell auf einen Biblizismus zurückgreift, erklärt sich nicht zuletzt aus seinen sprachphilosophischen Erwägungen, die an Hamanns Diktum »Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts« anknüpfen. 203 Da auch für Herder die »Bibel […] als Muster einer solchen Poesie« der muttersprachlichen Selbstvergewisserung fungiert, bietet insbesondere die aktualisierende Übersetzung biblischer Einsichten einen besonders geeigneten Weg zur Selbstver202 203

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Vgl. Anm. AP 136. Hamann: Aesthetica. S. 81.

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ständigung über die eigene, christlich geprägte Gegenwart. 204 Schon vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, wenn Herder seine eigene Geschichtsrekonstruktion in Auch eine Philosophie der Geschichte mit einer Erörterung des Alten Testaments als einem zeitgeschichtlichen Dokument beginnen lässt, das über das historische Selbstverständnis von Individuen zu ihrer Entstehungszeit Aufschluss geben soll. Insofern die Muttersprache einer Nation nicht nur das naheliegendste Medium ihrer Selbstverständigung darstellt, sondern zudem einen gewissermaßen ›demokratischen‹ Zug aufweist, da sämtliche an einer Sprachgemeinschaft beteiligten Individuen dieses Medium mitprägen, können auch ›heuristisch-analogische‹ Diskussionsbeiträge von Laien – die sich letztlich im Bereich einer bloß erkenntnisleitend-propädeutischen Betrachtung bzw. ›Antizipation des Geistes‹ bewegen – signifikant zum moralischen Fortschritt der Menschheit beitragen. Dass letztlich die Sprache für Herder das Leitmedium darstellt, in dem sich der geschichtliche Fortgang bewegt, wird auch an einer seiner frühen Äußerungen in Ueber den Fleiß in mehreren gelehrten Sprachen (1764) sichtbar: So wie nun ein Kind alle Bilder mit dem ersten Eindruck vergleicht: so passet unser Geist insgeheim alle Mundarten zu unserer Muttersprache, und wie nützlich kann dieses sein? Dadurch bekommt die grosse Mannichfaltigkeit der Sprachen Einheit: unsre Schritte in fremden Gegenden werden kürzer und gewisser, wenn das Ziel unseres Vaterlandes uns stets in die Augen blickt: unser Fleiß wird durch sie erleichtert: ich schwimme mit einer Rinde, die mich trägt. (SW I, 6) 205

Die Metapher des Schwimmens mit einer Rinde verknüpft dabei die auch in Auch eine Philosophie der Geschichte prominente Baumanalogie mit dem nautischen Motiv eines vorangegangen Schiffbruchs, wobei gerade die Übersetzung ›versunkener‹ Einsichten aus anderen Sprachen in die eigene Muttersprache das tragende Element sowohl der Kontinuität im Geschichtslauf wie auch der eigenen, geschichtlich informierten Selbstverständigung ausmacht: Die »Rinde« steht einerseits sinnbildlich für den beobachterperspektivisch-systemischen und quasi-organismischen Zusammenhang der Gegenwart mit der Vergangenheit, während sie andererseits als eine ›rettende Planke‹ zuIrmscher: Herder. S. 15. Vgl. hierzu Irmscher: Herder. S. 47: »Die Einsicht, daß es eigentlich die Sprache ist, die den Zusammenhang der unendlich individualisierten Geschichte konstituiert, gehört zu den Grundgedanken von Herders Sprachphilosophie.« 204 205

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gleich die teilnehmerperspektivische Möglichkeit eines »Schiffbau[s] aus dem Schiffbruch« und folglich eines gestaltenden Handelns auf die Zukunft hin signalisiert (SZ 78). Die Sprache bildet damit aber in zweierlei Hinsicht ein Bildungsvehikel: Sie ermöglicht nicht nur die Erschließung des Gebiets einer Erkenntnis geschichtlich-objektiv vorgängiger Bildungsprozesse, sondern dient auch der weiteren ›Selbstbildung‹ der Menschen in Herders eigener Gegenwart, wobei diese beiden Aspekte doppelfunktional ineinander spielen. Während das in der sprachlichen Form von Analogien und Metaphern zum Ausdruck gebrachte Interesse an einer Selbstverständigung die Beschäftigung mit der Geschichte methodisch-antizipativ eigentlich erst in Gang bringt, kommt die Selbstverständigung erst darin zum Ziel, dass die gegenwärtig-sozialen Umstände interpretativ erkannt (d. h. begriffssprachlich erfasst) werden, aus denen heraus dieses gegenwärtig leitende Interesse überhaupt seinen historisch-sozialen Anfang nehmen konnte. Nur das sprachlich koordinierte und kollektive Handeln aller Individuen – so lässt sich Herder verstehen – kann vermeiden, dass »wider Willen« eine Situation herbeigeführt wird, die so zwar von niemandem intendiert, zugleich jedoch von allen gemeinsam unwissentlich betrieben wird. Sinn und Unsinn in der Geschichte konstituieren sich also letztlich gleichermaßen durch die Summe von Handlungen der einzelnen, geschichtlich situierten Individuen, ob sie nun geschichtsphilosophische Laien oder Experten sein mögen. Die teilnehmerperspektivischen Appelle in Auch eine Philosophie der Geschichte richten sich deshalb in einer esoterischen Wirkungsdimension an Experten und in einer exoterischen an ein zeitgenössisches Laienpublikum. Wie ist nun die geschichtliche Situation inhaltlich bestimmt, angesichts derer in dieser esoterisch-exoterisch gedoppelten Weise zum Handeln aufgerufen wird? Wie ich im nächsten Abschnitt im Ausgang von seiner Bacon-Rezeption zeigen möchte, legt Herder eine tiefgreifende Ambivalenz im Rationalisierungsprozess frei, die es rechtfertigt, Auch eine Philosophie der Geschichte als eine Vorwegnahme der von Horkheimer und Adorno später gestellten Diagnose einer gesellschaftspathologischen ›Dialektik der Aufklärung‹ zu begreifen. 206

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Vgl. Irmscher: »Nachwort«. AP 142. Rapic: Subjektive Freiheit. S. 284 f.

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Herders Bacon-Kritik und die Ansätze zu einer ›Dialektik der Aufklärung‹

3.

Herders Bacon-Kritik und die Ansätze zu einer ›Dialektik der Aufklärung‹ Dieselbe Materie, die uns Stärke gibt, und unsere Knorpel zu Knochen macht, macht auch endlich die Knorpel zu Knochen, die immer Knorpel bleiben sollen (JR 90).

a.) Zur Revision von Bacons Technikbewertung Bacon hatte in seiner Instauratio Magna den durch sein wissenschaftliches Programm zu initiierenden technischen Fortschritt exoterisch mit dem Versprechen eines ›Goldenen Zeitalters‹ der Menschheitsgeschichte verknüpft, wie es in der Apokalypse Daniels verheißen wird. Durch Einlösung des göttlichen Gebots, der Mensch solle sich die Erde untertan machen, und durch die wissenschaftliche Bereitstellung der technischen Mittel zu einer umfassenden Bedürfnisbefriedigung sollte zugleich ein sozialer Fortschritt der Menschheit realisiert werden. Bacons exoterische Darstellung seines wissenschaftlichen Programms kulminiert in der Aufstellung der – von ihm selbst esoterisch so nicht vertretenen – These: »die Erfindungen beglücken und tun wohl, ohne jemandem ein Unrecht oder ein Leid zu bereiten« (NO I, 129). Er führt eine Reihe von Beispielen zu seiner Zeit bereits bekannter Technologien an, die diese These untermauern sollen: Weiter hilft es, die Kraft, den Einfluß und die Folgen der Erfindungen zu beachten; dies tritt am klarsten bei jenen dreien hervor, die im Altertum noch unbekannt waren und deren Anfänge, wenngleich sie in der neueren Zeit liegen, doch dunkel und ruhmlos sind: die Buchdruckerkunst, das Schießpulver und der Kompaß. Diese drei haben nämlich die Gestalt und das Antlitz der Dinge auf der Erde verändert, die erste im Schrifttum, die zweite im Kriegswesen, die dritte in der Schiffahrt. (NO I, 129)

Der Buchdruck, das Schießpulver und der Kompass – genau diese drei Technologien werden im Novum Organon wiederholt als besonders geeignete Beispiele für den uneingeschränkten Nutzen von Technik genannt (vgl. weiterhin NO I, 109; II 31). Diese bedeutenden Erfindungen seien aber nicht »durch kleinliches Nachsinnen und Ausdehnen der Werke anderer entstanden, sondern stets durch Zufall.« (NO II, 31) Erst die Entdeckung der »Formen« (d. h. der Naturgesetze) aber vermöge es, »diesen Zufall zu beschleunigen, ihm wohl auch zuvorzukommen« (ebd.).

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Die Verheißung eines geradlinigen technischen Fortschritts zum Wohle der Menschheit wird von Herder in Auch eine Philosophie der Geschichte aufgegriffen und – »mit der feurigen Feder Roußeaus« schreibend (JR 79) – virtuos persifliert: Gemeiniglich ist der Philosoph alsdenn am meisten Tier, wenn er am zuverlässigsten Gott sein wollte: so auch bei der zuversichtlichen Berechnung von Vervollkommnung der Welt. Daß doch alles hübsch in gerader Linie ginge und jeder folgende Mensch und jedes folgende Geschlecht in schöner Progression, zu der er allein den Exponenten von Tugend und Glückseligkeit zu geben wußte, nach seinem Ideal vervollkommnet würde! (AP 82)

Herder hat bei dieser Satire gewiss auch andere seiner Vorgänger und Zeitgenossen im Sinn, der entlarvende Blick auf Bacons Programm als einer »Selbstermächtigung« nicht einfach des Menschen, sondern wissenschaftlicher Technokraten (»der Philosoph […] am zuverlässigsten Gott sein wollte«), deutet sich jedoch bereits in dieser Passage an (vgl. LdW 91). Bacons Verheißung eines ›Goldenen Zeitalters‹ der Menschheitsgeschichte, das er unter Bezugnahme auf Genesis und Offenbarung geltend macht, wird hier einer an Rousseaus kulturpessimistischer Position geschulten Kritik unterzogen: Nun sollte ich noch das Beste, unsre ungeheuren Fortschritte in der Religion rühmen. Da wir gar die Lesarten der Bibel aufzuzählen anfangen! in den Grundsätzen der Ehre, seitdem wir das lächerliche Rittertum abgeschafft und Ordens- zu Leitbändern der Knaben und Hofgeschenken erhoben – am meisten aber unsern höchsten Gipfel von menschlichen – Vater-, Weibs- und Kindestugenden rühmen – aber wer kann in einem solchen Jahrhunderte, als das unsere ist, alles rühmen! Gnug wir sind ›Gipfel des Baums! in himmlischer Luft webend: die goldne Zeit ist nahe!‹ (AP 78)

Er spielt damit der Sache nach auf die Forderung Bacons an, der Mensch möge sich in der Lektüre von ›Buch der Natur‹ und ›Buch der Offenbarung‹ sowohl der ›Werke‹ als auch der ›Worte‹ Gottes ertüchtigen (»let men endeavour an endless progress or proficience in both«; Advancement of Learning, Works VI, 97). Herder führt seinem Leser vor Augen, dass der Zuwachs an Bibel-Lesarten bis in die eigene Gegenwart hinein keineswegs dazu geführt hat, dass man sich einem ›Goldenen Zeitalter‹ menschlicher Gemeinschaftlichkeit angenähert hätte. Das Selbstverständnis seiner Zeitgenossen parodiert er vielmehr als bloße Anmaßung einer moralischen Überlegenheit gegenüber früheren Zeiten: »Man begann zu denken, wie wir heute denken: man war nicht mehr barbarisch.« 207 246

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Beinahe mit Händen greifbar wird der Umstand, dass Herders Polemik sich ganz gezielt auch gegen Bacon richtet, aber dann, wenn er die Veränderungen aufrechnet, welche die Erfindungen von Buchdruck, Schießpulver und Kompass tatsächlich bedeutet haben: ›Meist nur simple mechanische Erfindungen, die man zum Teil längst gesehen, gehabt, damit gespielt, die aber jetzt durch einen Einfall so und nicht anders angewandt, die Welt veränderten.‹ So z. E. die Anwendung des Glases zur Optik, des Magneten zum Kompasse, des Pulvers zum Kriege, der Buchdruckerkunst für die Wissenschaften […] – und alles nahm andre Gestalt an. (AP 58)

Herder zählt hier zunächst nur die Technologien auf und weist, wie bereits Bacon es tat, auf die Zufälligkeiten hin, die bei der Erfindung von Fernrohr, Kompass, Schießpulver und Buchdruck eine entscheidende Rolle gespielt haben. Er bestreitet dabei nicht, dass diese Erfindungen die Welt »verändert« haben (NO I, 129; AP 58), sondern pflichtet ihm sogar ausdrücklich bei, dass mit diesen technischen Revolutionen zugleich eine ungeheure Umwälzung im menschlichen Weltverhältnis verbunden gewesen ist: »Man hatte das Werkzeug verändert, einen Platz außer der alten Welt gefunden, und so rückte man diese fort.« (AP 58) Während die Werkzeugmetapher in Auch eine Philosophie der Geschichte ansonsten dafür verwendet wird, das Unvermögen des geschichtlich situierten Individuums zu kennzeichnen, sich über das Ganze des Geschichtslaufs einen vollgültigen Überblick zu verschaffen, so dass der Mensch nur der »Vorsehung Werkzeug«, »Werkzeuge zu großem Guten in der Zukunft« etc. sei (AP 48; 52), bedient Herder sich ihrer hier in einem völlig anderen Sinn. Indem er sagt, der Mensch selber habe »das Werkzeug verändert«, bezeichnet er damit den Vorgang einer technischen Ermächtigung des Menschen über die Natur, dessen konsequente Durchsetzung Bacon gefordert hatte. Obwohl Herder das historische Gelingen dieses Unternehmens nicht anzweifelt, bestreitet er doch vehement die normativ gelagerten Schlussfolgerungen von Bacons Argumentation, die genannten Erfindungen hätten ausschließlich dem Wohle der Menschheit gedient, weshalb der weitere technische Fortschritt überhaupt uneingeschränkt gutgeheißen werden müsse:

207 Herder formuliert den Satz in Französisch: »on commençoit á penser comme nous pensons aujourd’hui: on n’étoit plus barbare.« (AP 55) Ein Zitat lässt sich nicht belegen (vgl. Anm., AP 124).

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Geschütz erfunden: und siehe! die alte Tapferkeit der Theseus, Spartaner, Römer, Ritter und Riesen weg – der Krieg anders und wieviel anders mit diesem Kriege! Buchdruckerei erfunden! und wie sehr die Welt der Wissenschaften geändert! erleichtert und ausgebreitet! licht und flach worden! Alles kann lesen, buchstabieren – alles, was lesen kann, wird gelehrt. Mit der kleinen Nadel auf dem Meer – wer kann die Revolutionen in allen Weltteilen zählen, die damit bewürkt sind. Länder gefunden, so viel größer als Europa! Küsten erobert voll Gold, Silver, Edelsteine, Gewürz und Tod! Menschen in Bergwerke, Sklavenmühlen und Lastersitten hineinbekehrt oder hineinkultiviert! […] Das Rad, in dem sich seit drei Jahrhunderten die Welt bewegt, ist unendlich – und woran hings? was stieß es an? Die Nadelspitze zwei oder drei mechanischer Gedanken! (AP 59)

Die sarkastische Aufzählung der ›Veränderungen‹, die durch Technologie in die Welt gebracht worden sind, orientiert sich an der von Bacon aufgezählten Trias von Buchdruck, Schießpulver und Kompass. Herders Feststellung, der Kompass habe »Tod« in die außereuropäischen Nationen gebracht und dazu geführt, dass die dort lebenden »Menschen in Bergwerke, Sklavenmühlen und Lastersitten hineinbekehrt« wurden, führt Bacons exoterische These, »die Erfindungen beglücken und tun wohl, ohne jemandem ein Unrecht oder ein Leid zu bereiten«, ad absurdum und entlarvt sie zugleich als den reinsten Zynismus, da Herder dem Politiker und Lordkanzler Bacon unterstellen muss, dass dieser um die tatsächlichen Folgen der von ihm selbst ins Feld geführten Erfindungen für außereuropäische Völker sehr wohl gewusst hat (AP 59; NO I, 129). Vor dem Hintergrund von Herders eigener Geschichtsdeutung müssen die technischen Errungenschaften, die an der Schwelle zur Neuzeit zu tiefgreifenden Veränderungen im globalen Machtgefüge geführt haben, als ambivalent gewertet werden, wobei er die Zivilisationen Europas nach Christi Geburt – und damit auch Bacons England des 16. und frühen 17. Jh. – vor dem postkonventionellen Hintergrund der Botschaft Jesu beurteilt (s. o. Kap. III.2.b.δ). Er kann Bacon so vorhalten, sich zwar auf die Bibel berufen zu haben, um sein wissenschaftliches Programm zu legitimieren, zu dessen Umsetzung allerdings billigend in Kauf genommen zu haben, dass England die durch den technischen Fortschritt ermöglichten Erfindungen dazu nutzen würde, sich gegenüber anderen Völkern und Nationen politisch in einer Weise zu verhalten, die dem Urstiftungssinn dieser Religion, »eigentliche Religion der Menschheit, Trieb der Liebe und 248

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Band aller Nationen zu einem Bruderheere« zu sein, zuwiderlief (AP 44). Indem der englische Lordkanzler die Lebensweise in einem »sehr kultivierten Teil von Europa« gegenüber derjenigen in einer vermeintlich »sehr wilden und barbarischen Gegend Neu-Indiens« als materiell und moralisch überlegen darstellt und dann affirmativ referiert: »Der Mensch ist dem Menschen ein Gott.«, negiert er implizit den »Ursprung des ganzen Geschlechtes von Einem« und beansprucht für den Europäer gegenüber der indigenen Bevölkerung Amerikas eine gottähnliche Stellung, die mit der Idee eines »Bande[s] aller Nationen zu einem Bruderheere« unvereinbar ist (NO I, 129; AP 5; 44).

b.) Zur Kritik an aufgeklärter Bildung und den Ambivalenzen der Technisierung Nicht nur, aber auch vor dem Hintergrund seiner Bacon-Kritik lässt sich Herders frühe Geschichtsphilosophie nun als eine Vorwegnahme des Gedankens einer ›Dialektik der Aufklärung‹ begreifen (s. u. Kap. IV.1). 208 Seine Rationalisierungs- und Technisierungskritik richtet sich in erster Linie gegen das Selbstverständnis der zeitgenössischen Aufklärer. Den Eigendünkel der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit brandmarkt er als »das Licht, das wir in die Welt säen, womit wir jetzt viel Augen blenden, viel elend machen und verfinstern«, womit er auf den quasi-religiösen Status von technischem Fortschritt und Aufklärung in der realen Gesellschaftspraxis seiner Zeit verweist (AP 98). Seine Kritik an den Ambivalenzen des Fortschritts macht er zunächst an der Kriegstechnik fest: Geschütz erfunden und damit welche Nerve, roher körperlicher Kriegsstärke und Seelenkriegsstärke […] ermattet! Das Heer ist eine gedingte, gedanken-, kraft-, willenlose Maschine geworden, die ein Mann in seinem Haupte lenkt und die er […] als eine lebendige Mauer bezahlt, Kugeln zu werfen und Kugeln aufzufangen. Im Grunde also, würde ein Römer und Spartaner vielleicht sagen, Tugenden im innersten Herde des Herzens weggebrannt, und verwelkt ein Kranz militärischer Ehre […]. (AP 59).

Herder konstatiert also einen faktischen, partiellen Rückschritt in der Menschheitsentwicklung, der darin besteht, dass die Technisierung 208

Vgl. Irmscher: »Nachwort«. AP 142. Rapic: Subjektive Freiheit. S. 284 f.

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des Krieges einer Entmenschlichung Vorschub geleistet hat, unter deren Bedingungen weder die gegnerischen noch auch nur die eigenen Soldaten als reale Personen, sondern nur noch als eine »bezahlte«, »lebendige Mauer« erscheinen. Er wirft die Frage auf, ob mit dem Entwurf vom Soldaten als einem »Lohndiener des Staats in Heldenlivree« tatsächlich ein moralischer Fortschritt gegenüber der Vergangenheit gemacht ist oder ob auf diesem Wege nicht einer verdinglichenden (»gedingte […] Maschine«) Sichtweise auf den Menschen Vorschub geleistet wurde (AP 60). Dieser ›verdinglichende‹ Vorgang, den er hier gleichsam paradigmatisch am Militärwesen festmacht, ist für Herder aber keineswegs auf dieses beschränkt. Er macht vielmehr einen wesentlichen Zug der Aufklärung aus, worin Herders Diagnose einer ›Dialektik der Aufklärung‹ Kontur gewinnt. Den Zeitgeist paraphrasiert er mit den Worten: Sehet ein Kriegsheer; das schönste Urbild menschlicher Gesellschaft! Alle wie bunt und leicht gekleidet, leicht genähret, harmonisch denkend, frei und bequem in allen Gliedern! edel sich bewegend! Wie helle treffliche Werkzeuge in ihrer Hand! Summe von Tugenden, die sie bei jeder täglichen Handhabung lernen – ein Bild der höchsten Vortrefflichkeit des Menschengeistes und der Regierung der Welt – Resignation! (AP 72)

Das Schlagwort von der »Resignation« bezeichnet hier die Geisteshaltung »jedes Einzelnen« Zeitgenossen, der sich diesem »Urbild menschlicher Gesellschaft« widerstandslos einfügt (AP 74). Der blinde Konformismus ist für Herder selbst eine Folge von Technisierungsprozessen, wie sich insbesondere an der amalgamierenden Verwendung mechanistischer und organismischer Metaphorik verdeutlichen lässt. Herder stellt zunächst beobachterperspektivisch fest, dass die fortschreitende Technisierung das wesentliche Signum seines Zeitalters ausmacht: »Das Rad, in dem sich seit drei Jahrhunderten die Welt bewegt, ist unendlich – und woran hings? was stieß es an? Die Nadelspitze zwei oder drei mechanischer Gedanken!« (AP 59) Das mechanische Abrollen eines von der Nadelspitze zweier oder dreier Gedanken angestoßenen Rades fasst hier die expansive Eigendynamik in Bilder, die der technische Fortschritt seit der Erfindung von Kompass, Schießpulver und Buchdruck angenommen hat. Mit einer Organismusmetapher nähert Herder sich dann aber einer Erfassung der Konsequenzen an, die sich aus der Mechanisierung für ein Lebewesen ergeben, das in diesem großen Mechanismus befangen ist: 250

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»siehst du, Ameise, nicht, daß du auf dem großen Rade des Verhängnisses nur kriechest?« (AP 57) Das »Rad[ ] des Verhängnisses«, von dem er an dieser Stelle spricht, ist eben jenes von der »Nadelspitze zwei oder drei mechanischer Gedanken« angestoßene (s. o.). Mit dem teilnehmerperspektivischen Appell, sich der eigenen (»siehst du, Ameise, nicht«) uneingestandenen Verflechtung in ökonomische (»großer Gott, Mammon, – dem wir alle jetzt dienen, hilf uns!«, AP 75) und bildungsmäßige (»Philosophie! Gedanke! – leichtere Mechanik!«, AP 63) Technisierungsprozesse gewahr zu werden, ruft Herder den Leser dazu auf, der Eindimensionalität zeitgenössischer Rationalisierung Einhalt zu gebieten. Die »Nadelspitze zwei oder drei mechanischer Gedanken«, wie sie in Kompass, Schießpulver und Buchdruck ihr Vorbild gefunden hat, um dann von Bacon zu einem nur konsequent genug durchzuführenden Programm rationalisiert zu werden, hat zu einer mechanistischen Bildung geführt: »Eben daher muß folgen, daß ein großer Teil dieser sogenannten neuen Bildung selbst würkliche Mechanik sei« (AP 59). »[H]ier ward alles nun in Methode, in Form der Wissenschaft geschlagen – und denn kamen nun eben die neuen, kältesten mechanischen Erfindungen hinzu, die es ins Große spielten: Maschinen der kalten europäisch-nordischen Abstraktion, für die Hand des Allenkers große Werkzeuge!« (AP 88) Herders prägnanteste Formulierung für diesen Sachverhalt aber lautet: »[E]s ward Maschine, und die Maschine regiert nur einer« (AP 59). Der Ausdruck »die Maschine regiert nur einer« bzw. die Rede von »des Allenkers große[n] Werkzeuge[n]« verweist hier nicht mehr auf Gott, sondern soll die von einer monarchischen und wissenschaftlich-aufgeklärten Elite vorangetriebenen Vereinseitigungen eines mechanistischen Bildungsverständnisses zu Herders Gegenwart kennzeichnen: »Regenten! Hirten! Pfleger der Völker! – ihre Kraft mit den Triebfedern unserer Zeit ist halbe Allmacht!« (AP 95) »Der Geist der neuern Philosophie – daß er auf mehr als eine Art Mechanik sein müsse, zeigt, denke ich, der meiste Teil seiner Kinder.« (AP 60) Er kritisiert damit auch eine Pädagogik, die – wie sich anhand seines Selbstbekenntnisses aus der Programmschrift Journal meiner Reise erläutern lässt – der Jugend Europas ein buchkulturell erstarrtes Wissen eintrichtert und sie so zu einem »Tintenfaß von gelehrter Schriftstellerei, […] ein[em] Wörterbuch von Künsten und Wißenschaften« werden lässt, anstatt sie zu eigenen Erfahrungen und zur selbständigen Bildung zu ermutigen: »Philosoph der Natur, das sollte dein Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Standpunkt seyn, mit dem Jünglinge, den du unterrichtest! Stelle dich mit ihm aufs weite Meer, und zeige ihm Fakta und Realitäten, und erkläre sie ihm nicht mit Worten, sondern laß ihn sich alles selbst erklären.« (JR 9; 13 f.) Den Charakter eines illusorischen Selbstverständnisses nimmt diese auf dem Wege quasi-mechanischer Bildungsprozesse auf alle Gesellschaftsbereiche ausgreifende ›Mechanisierung‹ dadurch an, dass sich Widersprüche konstatieren lassen zwischen den behaupteten Absichten der Aufklärer und ihrem faktischen Handeln. Er hält den zeitgenössischen Eliten vor, die Ideale von »Religion, Vernunft und Tugend«, »Freiheit, Geselligkeit und Gleichheit« zwar vor sich herzutragen, sie jedoch zugleich zur politischen Verschleierung faktischer Ungleichheit zu verwenden (AP 103; 100): »Das allgemeine Kleid von Philosophie und Menschenliebe kann Unterdrückungen verbergen, Eingriffe in die wahre, persönliche Menschen- und Landes-, Bürger- und Völkerfreiheit« (AP 102). Wie sehr diese Ideale im Handeln korrumpiert werden, führt er speziell am Umgang europäischer Nationen mit den Einwohnern anderer Kontinente vor Augen: »Je mehr wir Europäer Mittel und Werkzeuge erfinden, euch anderen Weltteile zu unterjochen, zu betrügen und zu plündern – vielleicht ists eben einst an euch, zu triumphieren!« (AP 103) 209 Die Zukunftsprognose ist damit in einem völlig anderen Sinne ›apokalyptisch‹ als noch die Bacon’sche: Während jener die ungetrübte Hoffnung auf ein ›Goldenes Zeitalter‹ der Menschheitsgeschichte, auf ein ›Millenium des Glücks‹ geschürt hatte, stellt Herder dem die düstere Vision einer Zukunft entgegen, in der aus »Krankheit, Blähung, ungesunde[r] Fülle, Ahndung des Todes« ein neuer Auftritt ungewissen Charakters naht – »freilich bloß durch Verwesung«. 210 Er kritisiert das Selbstverständnis der europäischen Aufklärung dabei sowohl (a) unter den beobachterperspektivisch-systemfunktionalen Gesichtspunkten seiner Geschichtsrekonstruktion wie auch (b) im Hinblick auf eine teilnehmerperspektivisch-moralische Kritikwürdigkeit vor dem Hintergrund des weltgeschichtlich bereits erreichten Niveaus des normativen Bewusstseins. Beide Aspekte kommen in der 209 Den ausbeuterischen Charakter der Kolonialisierung brandmarkt auch schon Rousseau (vgl. KW 21, Anm.). 210 AP 36; 82. Irmscher weist angesichts der Prognose eines neuen Auftritts durch »Verwesung« darauf hin, dass Herder sich zur Zeit der Entstehung von Auch eine Philosophie der Geschichte speziell mit der Apokalypse des Johannes (aber auch derjenigen Daniels) zu beschäftigen begann, vgl. Irmscher: Herder. S. 121.

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Gegenwartskritik zusammen und treten dabei (c) in einer perspektivischen Verschränkung auf. a) Herder betont in seiner systemischen Rekonstruktion des materiellen Geschichtslaufs: »[J]ede Nation hat ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich, wie jede Kugel ihren Schwerpunkt!« (AP 35) Kulturspezifische Vorurteile beurteilt er mittels dieser mechanistischen Kugel-Metapher bis zu einem gewissen Grade als nützlich, da sie zur Herbeiführung und Erhaltung eines Equilibriums zwischen der bestimmten Lebensweise und dem Selbstverständnis einer Gesellschaft beitragen: »Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich.« (AP 36) Als typisch für das Ende einer Gesellschaftsformation bezeichnet er es dabei allerdings, dass ein »Zeitalter fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten« eintritt, welches den Niedergang einer Kultur einläutet (AP 36). Unzeitgemäß gewordene »Vorurteile« – d. h. ein systemfunktional krisenhaftes Verhältnis zwischen der materiellen Grundlage und dem ideologischen Selbstverständnis einer Gesellschaft – sind für ihn also ein untrügliches Indiz und Vorbote des drohenden Zerfalls. b) Den »Mittelpunkt der Glückseligkeit« seiner eigenen Gegenwart bestimmt Herder näher, indem er einerseits die Ideale der Aufklärung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit anführt, andererseits jedoch deren Instrumentalisierung zur Verschleierung von faktischen Auswirkungen ›mechanistischer‹ Rationalisierungsprozesse kritisiert: »Freiheit, Geselligkeit und Gleichheit, sie haben in tausend Mißbräuchen Übel gestiftet und werdens stiften.« (AP 100) Aufklärung und Technisierung sind die zentralen Ordnungsprinzipien der zeitgenössischen europäischen Nationen – analog denen vorangegangener Epochen. Die Ideale der Aufklärung repräsentieren den entwicklungslogischen Stand des normativen Bewusstseins, der allerdings aufgrund von entwicklungsdynamischen Momenten des Fortschritts in den einzelnen Staatsverfassungen Europas keineswegs realisiert ist. Dass er nicht realisiert ist, macht Herders Impetus aus, eine Beteiligung der Öffentlichkeit an der Beratung über gesellschaftliche Fragen der Zeit einzuklagen, zumal er geltend machen kann, dass selbst der Geschichtsphilosoph und Experte nicht über die Einsicht verfügt, gesellschaftliche Prozesse in allen Einzelheiten erfolgreich vorherzusagen – geschweige denn sie ohne aktive Einbeziehung und Zustimmung der Öffentlichkeit zu gestalten. Die Folgen eines Rationalisierungsprozesses, wie Bacon ihn gefordert hatte und wie er zu Herders eigener Gegenwart bis zu einem gewissen Grade bereits Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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durchgesetzt worden ist, prangert er dann unter dem Gesichtspunkt an, dass der technische Fortschritt eine Entwicklung in Gang gesetzt hat, die den engen Umkreis einer »Nation«, welche den »Mittelpunkt ihrer Glückseligkeit in sich« trägt, überhaupt bereits gesprengt hat, wobei ein der Aufklärung selbst inhärentes, mechanistisches Bildungsverständnis dazu beigetragen hat, dass diese Sprengung den Zeitgenossen phänomenal verborgen geblieben ist. Der Buchdruck hat nicht nur zu einer nie dagewesenen Verbreitung von Wissen geführt, sondern auch eine Uniformisierung der Individuen bewirkt, die Gelerntes nur noch ›mechanisch‹ reproduzieren, anstatt sich das Wissen in Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart aktiv selbst anzueignen: »alles, was lesen kann, wird gelehrt.« (AP 59) c) Der quasi-physikalische »Mittelpunkt« der Nationen hat sich dadurch erheblich verlagert, dass die Europäer sich unter Einsatz von Kompass und Schießpulver auf andere Kontinente ausgedehnt haben, was Herder aufgrund der gesteigerten Bedürfnisse nach Luxusgütern wie »Silber und Edelsteine, Gewürze und Zucker« bereits als den Eintritt eines »Zeitalter[s] fremder Wunschwanderungen und ausländischer Hoffnungsfahrten« werten kann (AP 35; 59; s. o. a). Bei ihrer Expansion trafen die Europäer auf andere Kulturen, die sich – mit dem Lebensalterschema gesprochen – noch in der Kindheitsphase der Menschheitsentwicklung befanden: »siehe um dich! der größte Teil von Nationen der Erde ist noch in Kindheit« (AP 91). In historischer Analogie ergibt sich für Herder zu seiner Zeit also eine ähnliche Situation, wie sie zum Ende Roms in der Völkerwanderung als eine Mischung »nordsüdlicher« Kräfte eingetreten ist (s. o. Kap. III.2.b.δ), nur dass dieses Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturkreise nun entlang der Ost-West-Achse verläuft und die technisch fortgeschritteneren Europäer die Invasoren darstellen, während im Untergang Roms die vergleichsweise rückschrittlichen Germanen zuwanderten. Herder kann dann die aus der Kolonialisierung resultierende Ausweitung des Kontakts unter den Völkern aus der neutralen Beobachterperspektive des Geschichtsphilosophen heraus zwar insgesamt als einen möglichen Schritt zur Höherentwicklung der Menschheit werten, weil diese Kolonialisierung längerfristig ein neues Equilibrium größerer Gemeinschaftlichkeit der Völker nach sich ziehen könnte, so wie es analog bei der phönizischen und römischen Expansion zu ihrer Zeit der Fall gewesen ist. Da er dem von ihm freigelegten Sinn in der Geschichte jedoch keine kausale Zwangläufigkeit 254

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beilegen kann, die auch auf die Zukunft noch applizierbar wäre, ist keineswegs ausgeschlossen, dass die Krise zu Herders eigener Gegenwart nicht auch in einem Zusammenbruch menschlicher Globalzivilisation enden könnte. Den usurpierenden Charakter des europäischen Ausgreifens auf andere Erdteile muss er daher unter dem teilnehmerperspektivischen Gesichtspunkt kritisieren, dass man zwar für sich reklamiert, die dortige Bevölkerung durch Aufklärung auf die in Europa bereits erreichte Stufe des normativen Bewusstseins emporzuheben, sich in Wahrheit jedoch eines ›Patriarchengeistes‹ und ›Despotismus‹ schuldig macht, der viel eher dem entwicklungslogischen Niveau derjenigen entspricht, die man unterwirft, als dem eigenen. Das grundlegende Krisensymptom macht Herder dabei nicht am entwicklungslogischen Niveau europäischer Zivilisation, sondern an dessen entwicklungsdynamisch unzureichender Realisierung fest. Obwohl die technisierten Europäer den im Wortsinne ›physikalischen‹ Mittelpunkt ihrer Nationen bereits in die Mitte der Welt verlegt haben, finden die im Prinzip universalistischen Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit spätestens an den europäischen Küsten ein jähes Ende. Er verdeutlicht das anhand der Sklaverei, die, soweit sie Europäer betraf, bereits abgeschafft war, in Übersee aber weiterhin praktiziert wurde: In Europa ist die Sklaverei abgeschafft, weil berechnet ist, wieviel diese Sklaven mehr kosteten und weniger brächten als freie Leute: nur eins haben wir uns noch erlaubt, drei Weltteile als Sklaven zu brauchen, zu verhandeln, in Silbergruben und Zuckermühlen zu verbannen – aber das sind nicht Europäer, nicht Christen, und dafür bekommen wir Silber und Edelsteine, Gewürze und Zucker und – heimliche Krankheit […]. (AP 74)

Indem er sagt, dass mit den Edelmetallen und Handelsgütern zugleich »heimliche Krankheit« nach Europa importiert werde, weist er darauf hin, dass das Handeln der Europäer einen systemfunktional pathologischen Zug aufweist. Diese Diagnose kann er damit begründen, dass das faktische Handeln der Europäer mit dem durch die Kolonialisierung verlagerten gesellschaftlichen »Schwerpunkt« ihrer Nationen (s. o. a) und ihrem entwicklungslogisch möglichen Selbstverständnis (s. o. b) nicht mehr in Einklang steht. Da gemäß dem universalistischen Gehalt aufgeklärter Ideale nun auch die indigene Bevölkerung anderer Erdteile mit berücksichtigt werden müsste, um den »Mittelpunkt der Glückseligkeit« kolonialistischer Nationen zu Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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bestimmen, was jedoch faktisch nicht geschieht, droht das gesamte gesellschaftliche Ordnungsgefüge längerfristig aus den Fugen zu geraten: »wir nahen uns einem neuen Auftritte, wenn auch freilich bloß durch Verwesung!« (AP 103) Dieses Heraufziehen menschheitszivilisatorischer Bedrohungen im Sog einer global gewordenen Technisierung prognostiziert Herder bereits im Reisejournal, wenn er fragt: Was wollen doch alle unsre Kriegskünste sagen? Ein Griechisches Feuer, Eine neue Erfindung, die alle vorigen zerstört, ist allen überlegen. Was will alle Gelehrsamkeit, Typographien, Bibliotheken u. s. w. sagen? Eine Landplage, eine Barbarische Ueberschwemmung, alsdenn ein Herrnhutischer Geist auf den Kanzeln, der Gelehrsamkeit zur Sünde und Mangel der Religion und Philosophie zum Ursprunge des Verderbens macht, kann den Geist einführen, Bibliotheken zu verbrennen, Typographien zu verbrennen, das Land der Gelehrsamkeit zu verlassen, aus Frömmigkeit Ignoranten zu werden. So arbeiten wir uns mit unserm Deism, mit unsrer Philosophie über die Religion, mit unsrer zu feinen Cultivierung der Vernunft selbst ins Verderben hinein. (JR 90)

Die Herausgeber des Journals haben darauf hingewiesen, dass Herder hier mit dem neuen »Griechische[n] Feuer« und dem Hinweis auf Bücherverbrennungen »apokalyptische Entwicklungen« heraufziehen sieht, von denen »bis in unser Atomzeitalter« hinein manche Wirklichkeit geworden ist. 211 Für den handelnden Menschen des Jahres 1774 Johann Gottfried Herder stellt sich dann aber die Frage, wie die von ihm als bloß möglich prognostizierten Menschheitskatastrophen vielleicht noch verhindert werden könnten. Ein systematisch überzeugender Ansatz zur Lösung dieser Frage im Rahmen seiner frühen Geschichtsphilosophie setzt voraus, dass es ihm gelungen ist, dem zeitgenössischen Publikum eine Antwort auf das Problem der faktischen Diskrepanz zwischen dem entwicklungslogischen Niveau aufgeklärter Ideale und deren faktischer Realisierung anzubieten.

4.

Der Begriff der ›Kraft‹ und die ›objektiven Möglichkeiten‹ der geschichtlichen Situation

Irmscher interpretiert in seinem Aufsatz »Grundzüge der Hermeneutik Herders« den Begriff der ›Kraft‹, den bereits Hans-Georg Gadamer die »zentrale Kategorie der historischen Weltansicht« 211

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Katharina Mommsen u. a.: »Nachwort«. In: JR 187–271. Hier: JR 224.

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Der Begriff der ›Kraft‹ und die ›objektiven Möglichkeiten‹

Herders genannt hat, als Schlüsselbegriff einer Deutung von Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. 212 Der Begriff der ›Kraft‹ muss im Sinne einer von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft hinein fortwirkenden »historische[n] Potentialität« verstanden werden, wobei in der Verwendung des Ausdrucks durch Herder zwei Bedeutungen unterschieden werden können, nämlich ›Kraft‹ als (1) »Rivalität, Wetteifer« und als (2) »Möglichkeit«. 213 1) Die Bedeutung von ›Kraft‹ als Rivalität und Wetteifer steht in Tradition zum antik-römischen poetologischen Prinzip der ›imitatio et aemulatio‹, also dem Übertreffen eines Vorbilds durch Nachahmung, wie Vergil es mustergültig in seiner Aeneis angewandt hat. Indem er sich zunächst an den Vorlagen von Homers Ilias und Odyssee orientierte und thematisch sogar an den dort behandelten Fall Trojas anschloss (›imitatio‹), gelang es ihm, ein römisches Nationalepos zu schaffen, von dem der Zeitgenosse Properz schon in der Entstehung urteilte: »Weicht zurück, ihr römischen Dichter, weicht ihr griechischen! Hier entsteht etwas, ich weiß nicht was, das größer als die Ilias ist« (›aemulatio‹). 214 Es ist vor diesem Hintergrund kaum als eine Beliebigkeit zu werten, wenn Herder seine Darstellung der römischen Zivilisation ausgerechnet mit einem Aeneis-Zitat beginnen lässt (vgl. AP 26). 215 Wenn er im Reisejournal sagt: »Da wird man mehr als Bako: da wird man im Weißagen größer als Newton« beruft er sich ebenso auf das hier skizzierte römische Verständnis einer von Nachahmung und Übertreffung gekennzeichneten, durch Sprache vermittelten Kontinuität im Geschichtslauf, wie wenn er in der Abhandlung Über Thomas Abbts Schriften (1768) verkündet: »[D]aran liegt mir nicht, was Baco ausgedacht hat; sondern wie er dachte.« (JR 79; SW II, 263)

212 Vgl. Irmscher: »Hermeneutik«. S. 51–53. Gadamer zitiere ich hier nach Irmscher (ebd.). 213 Irmscher: Herder. S. 118. Vgl. Ders.: »Hermeneutik«. S. 50 ff. 214 Vgl. Properz: Elegien, II 34 (65/66): »cedite Romani scriptorcs, cedite Grai! nescio quid maius nascitur Iliade.« (https://www.thelatinlibrary.com/prop2.html; zuletzt abgerufen am 4. März 2019). Die hier zitierte deutsche Übersetzung folgt Friedrich Gottlieb Klopstock: Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe. Bd. 2, Berlin/ New York 2011, S. 576. 215 Vgl. Vergil: Aeneis. Leipzig 1982, S. 148: »Du aber, Römer, bedenke, daß du mit deiner Macht die Völker lenken sollst! Darin wird deine Kunstfertigkeit bestehen.« (VI, 851)

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Das schriftstellerische Selbstverständnis Herders hat dabei seine Entsprechung in der Weise, wie er die Aufeinanderfolge historischer Selbstinterpretationen aus der 3.-Person-Perspektive rekonstruiert, nämlich als eine der Identitätsstiftung jeder Kultur vermittels der Abgrenzung gegen die vorige durch »Haß« (vgl. AP 16; s. o. Kap. III.2.b.α–β). Auch die Selbstvergewisserung der einzelnen Kulturkreise vollzieht sich also im Modus von Rivalität und Wetteifer, wobei der Kraftbegriff so verstanden werden muss, dass die bereits im erreichten Kulturniveau vorliegende ›Potenz‹ (z. B. der antiken Griechen) die Nachfolger (hier die antiken Römer) herausforderte und anspornte, durch kritische Aneignung des Tradierten eigene ›Kräfte‹ zu mobilisieren, um die Vorgänger noch zu übertreffen: »Kraft ruft die eigenen, in dieser Zeit noch unverwirklichten Möglichkeiten ans Licht.« 216 Dieses Verständnis von ›Kraft‹ spielt so schon in die zweite Bedeutung des Begriffs über. 2) ›Kraft‹ muss bei Herder »auch im Sinne von ›Möglichkeit‹ verstanden werden, die nie ganz in ihren Realisationen aufgeht und ihnen also stets voraus ist.« 217 Auf das in diesem Kapitel Verhandelte zurückblickend, lässt sich diese Diagnose Irmschers nun so verdeutlichen, dass die ›Kraft‹ einer historischen Epoche im entwicklungslogisch bereits erreichten Niveau der Menschheitsentwicklung besteht, während das entwicklungsdynamische Zurückbleiben einer faktischen Gesellschaft den Überschuss des Ideals gegenüber der Wirklichkeit anzeigt. Mit seinem Hinweis: »Das menschliche Gefäß ist einmal keiner Vollkommenheit fähig: muß immer verlassen, indem es weiterrückt« macht Herder zwar seine Zweifel deutlich, ob dieser entwicklungslogische Möglichkeitsüberschuss in irgendeiner Epoche jemals realiter ganz ausgeschöpft werden kann (AP 25). Seine Schilderung der Vergangenheit zeigt allerdings an, dass gleichwohl das Handeln eines Einzelnen einen signifikanten Unterschied machen kann, in welchem Grade der entwicklungslogische »Variationsspielraum« einer historischen Situation tatsächlich realisiert wird (RHM 12). Insbesondere angesichts von Krisen kann das äußerlich betrachtet zufällige Handeln einer einzelnen Person tatsächlich den Ausschlag über die weitere Entwicklung geben. 218 Herder führt diesen Irmscher: »Hermeneutik«. S. 51. Ebd., S. 52. 218 Zum Verhältnis zwischen ›Kritik‹ und ›Krise‹ vgl. auch Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Frankfurt a. M. 1973 216 217

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Umstand geradezu paradigmatisch am Auftreten der historischen Persönlichkeit Jesus von Nazaret vor Augen, wenn er feststellt: Zwischen den nackten Bergen Judäas! kurz vor dem Umsturze des ganzen unberühmten Volkes, eben in der elendsten Epoche desselben – auf eine Weise, die allemal wunderbar bleiben wird, entstand sie [sc. die christliche Religion], erhielt sich, schlug sich ebenso sonderbar durch Klüfte und Höhlen weiten Weg hindurch – auf einen Schauplatz, der sie so nötig hatte! (AP 43)

Ohne dieser Entwicklung einen Plan zu unterstellen, der den einzelnen handelnden Individuen – Jesus eingeschlossen – unmittelbar hätte durchsichtig werden können, macht Herder hier eine wechselseitige Bedingtheit zwischen Krise und kritischer Lösung derselben durch das Handeln eines »außerordentliche[n] Menschen« geltend, das den weiteren Fortgang der Menschheit entscheidend prägte (AP 108). Diese kontextuelle Ereignisdynamik diagnostiziert er nicht nur für Leben und Wirken des christlichen Religionsstifters, sondern auch für eine ganze Reihe anderer großer historischen Persönlichkeiten: Der Grund jeder Reformation war allemal eben solch ein kleines Samenkorn, fiel still in die Erde, kaum der Rede wert: die Menschen hattens schon lange, besahens und achtetens nicht – aber nun sollen dadurch Neigungen, Sitten, eine Welt von Gewohnheiten geändert, neugeschaffen werden – ist das ohne Revolution, ohne Leidenschaft und Bewegung möglich? Was Luther sagte, hatte man lange gewußt; aber jetzt sagte es Luther! Roger Baco, Galilei, Cartes, Leibniz, da sie erfanden, wars stille: es war Lichtstrahl – aber ihre Erfindungen sollten durchbrechen, Meinungen wegbringen, die Welt ändern – es ward Sturm und Flamme. (AP 58)

Indem er darauf hinweist, dass die ›Kraft‹ zur Lösung eines menschheitsgeschichtlichen Problems im Verborgenen reifen kann, bis der kritische Fall der Notwendigkeit ihrer Entfaltung, d. h. eine geeignete »evolutionäre Herausforderung« auftritt, gibt er in esoterisch-exoterischem Appell auch seinen Zeitgenossen zu verstehen, dass die geschichtlich-vertikale und historisch-horizontale Anreicherung von Wissen um normative Lösungen (»Luther«) und technische Verund Jürgen Habermas: »Zwischen Philosophie und Wissenschaft: Marxismus als Kritik«. In: Ders.: Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien (im Folgenden zitiert als TP). Frankfurt a. M. 1978, S. 228–289. Hier bes.: S. 244–252. Außerdem den Lexikoneintrag: Reinhart Koselleck: »Krise«. In: Ritter/Gründer/Gabriel (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie (13 Bde.). Basel 1971–2007, Bd. 4, S. 1235– 1240. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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fügungsgewalt über die Natur (»Galilei, Cartes, Leibniz«) einen Möglichkeitshorizont eröffnet hat, vor dessen Hintergrund die gegenwärtige Krise, durch Entfesselung eines ›Kraft‹-Potentials im Handeln, in eine gewünschte Richtung zur Entscheidung gebracht werden kann. Herder macht mit seinen teilnehmerperspektivisch-kritischen Handlungsappellen also nicht nur deutlich, dass man sich in einer Krise befindet, indem er auf die Diskrepanz zwischen dem aufgeklärten Selbstverständnis der europäischen Nationen und ihrem faktischen Handeln hinweist. Er führt dem Leser von Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit zugleich kritisch vor Augen, dass die gegenwärtige Krise ›objektive Möglichkeiten‹ im Sinne von beobachterperspektivisch zum Teil kontingenten, d. h. aber teilnehmerperspektivisch betrachtet horizonthaft-alternativen Zukunftsverläufen bereithalten könnte, die durch die ›Kraftanstrengung‹ eines Einzelnen öffentlich zum Vorschein gebracht werden können, um dann – durch das aktive kollektive (Mit-)Handeln aller Individuen – in einer gemeinschaftlich gewünschten Weise realisiert zu werden. Die Ungewissheit des Ausgangs angesichts einer unübersichtlich gewordenen Situation (»weiß ich, wohin ich mit meiner kleinen Woge komme?«) dispensiert also nicht von der Verpflichtung, zumindest den Versuch zu unternehmen, die Umstände zu bessern (AP 105). Für Herder ist es keineswegs bloße Sache eines anonymen Fatums, ob die objektiv mögliche Katastrophe eintritt oder stattdessen eine Lösung gelingt, sondern die Gestaltung der Zukunft hängt ganz wesentlich ab von einem auf Kooperation und Kommunikation orientierten Handeln der einzelnen Individuen: »Alle Eräugnisse unsrer Zeit sind auf großer Höhe und streben weit hinaus – mich dünkt, in beidem liegt der Ersatz dessen, daß wir freilich als einzelne mit wenigerer Kraft und Freudegefühl würken können. Also würklich Aufmunterung und Stärke.« (AP 92) Die Muttersprache, in deren Medium sich bei der Beschäftigung mit Texten der Vergangenheit eine geschichtliche Selbstverständigung vor dem Hintergrund der eigenen Gegenwart als eine Übersetzung vollzieht, macht dabei das tragende Element der Gemeinschaftlichkeit aus: »Grieche muß ich überdem schon werden, wenn ich Homer lese, ich lese ihn, wo ich wolle; warum denn nicht in meiner Muttersprache? Insgeheim muß ich ihn doch in dieser schon jetzo lesen: insgeheim übersetzt ihn sich die Seele des Lesers, wo sie kann, selbst wenn sie ihn Griechisch hört« (SW III, 126). »Kurz! als poeti260

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sche Heuristik wollen wir die Mythologie der Alten studieren, um selbst Erfinder zu werden.« (SW I, 444) Indem sich in Herders gedoppelter Lesbarkeit des ›Buches der Geschichte‹ in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit eine Theoriestruktur realisiert, die durch sprachlichmetaphorische Verschränkung einer analogisch angeleiteten Beobachter- mit einer kritisch-appellativen Teilnehmerperspektive die Geschichte zugleich als einen Bildungsprozess der Menschheit theoretisch zur Darstellung bringt und den bürgerlichen Rezipienten im selben Atemzug dazu aufruft, durch praktische Selbstbildung aktiv auf einen realen Fortschritt der Menschheit hinzuwirken, vermeidet er nicht nur eine ›positivistische‹ Position im von Horkheimer kritisierten Sinne. Er antizipiert sogar das Programm der Kritischen Theorie, wie Horkheimer es in den 1930er-Jahren im Anschluss an den Historischen Materialismus von Marx und Engels entworfen hat und wie es bis hin zu Habermas und seinen Schülern in unsere eigene Gegenwart hinein weiter fortwirkt.

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IV. Kapitel: Zwischen Expertenkultur und Öffentlichkeit: Texte der Kritischen Theorie auf der Folie von Bacons Instauratio Magna und Herders Auch eine Philosophie der Geschichte An dieser Stelle ist zunächst ein kurzer Rückblick auf die zu Beginn dieser Untersuchung exponierten Thesen und das bisher Erreichte angebracht. Die vorangegangenen Kapitel II.–III. dienten dem Beleg meiner ersten These, dass die Verschränkung einer appellativen Teilnehmermit einer systemisch gelagerten Beobachterperspektive über Metaphern ein theoriekonzeptionell entscheidendes Merkmal von Texten darstellt, in denen eine Einheit von Theorie und Praxis angestrebt wird. In Bacons Instauratio Magna und Herders Auch eine Philosophie der Geschichte ließen sich Reflexionen auf die Wirkungsdimension der Werke selbst nachweisen, die als Schlüssel zur Dechiffrierung der sich in ihnen realisierenden Theoriestruktur begriffen werden konnten. Metaphern und Analogien werden von Bacon und Herder nicht nur dazu verwendet, ihre Theorien um den praktischen Aspekt einer gezielten Öffentlichkeitswirksamkeit zu erweitern, die auf diesem Wege ins Spiel gebrachte Teilnehmerperspektive zielt in ihrer esoterisch-exoterischen Doppelung außerdem auf zwei unterscheidbare Rezipientenkreise, nämlich auf Experten und wissenschaftliche Laien. Während Bacon den exoterischen Leser durch den formelhaften Einsatz von Biblizismen von der Legitimität seines Forschungsvorhabens zu überzeugen versucht und ihn dazu anhält, den wissenschaftlichen Experten zu vertrauen, kritisiert Herder diese Vorgehensweise als diskursverschließend und ruft in seiner eigenen Schrift durch Verwendung von Organismus- und Mechanismusmetaphern die breitere Öffentlichkeit zum aktiven Handeln auf, worin sich die demokratisch diskurseröffnende Wirkung von Auch eine Philosophie der Geschichte manifestiert. Im Folgenden soll nun die zweite These meiner Untersuchung belegt werden, dass klassische Vertreter der Kritischen Theorie von Horkheimer bis Habermas den Theoriekern einer Einheit von Theorie und Praxis zwar metareflexiv freigelegt und auf den Begriff ge262

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bracht, die esoterisch-exoterisch gedoppelte Wirkungsdimension metaphorischen Sprechens dabei jedoch noch unzureichend reflektiert haben. Auf der Folie der an Bacon und Herder aufgewiesenen Theoriestruktur werde ich zunächst die von Horkheimer und Adorno gemeinsam verfasste Dialektik der Aufklärung und anschließend Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns auf die Frage hin beleuchten, ob – bzw. bis zu welchem Grade – auch in diesen Texten eine Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive über Metaphern vorliegt, die geeignet ist, eine exoterisch-diskurseröffnende Wirkung zu entfalten.

1.

Die Fortschrittskritik Horkheimers und Adornos in den 40er-Jahren als eine ›Flaschenpost‹

Die Metapher von der ›Flaschenpost‹ ist eine der einschlägigsten Formulierungen zur Wirkungsabsicht der Kritischen Theorie Anfang der 40er-Jahre, auch wenn sie in den Werken Horkheimers und Adornos nur ein einziges Mal und dort nur in Bezug auf die Kunst auftaucht – nämlich in Adornos Philosophie der neuen Musik (1958). 219 An indirekten Zeugnissen von Zeitgenossen und an Briefen lässt sich jedoch nachweisen, dass die Metapher im Kreis der nach Los Angeles exilierten Intellektuellen offenbar ein geflügeltes Wort gewesen ist. 220 So schreibt Herbert Marcuse am 11. November 1941 an Horkheimer: Ich bin nun mal nicht für ›Flaschenpost‹. Was wir zu sagen haben, ist nicht für eine mythische Zukunft bestimmt. Ich habe Sie oft genug in Diskussionen beobachtet und weiß, was Sie für eine Response erwecken können. 219 Vgl. Reijen/Schmid Noerr: »Vorwort der Herausgeber.« In: Dies. (Hrsg.): Vierzig Jahre Flaschenpost: ›Dialektik der Aufklärung‹ 1947 bis 1987. Frankfurt a. M. 1987, S. 7–10. Hier: S. 8. 220 Vgl. die von Kerstin Stolt zitierte Anekdote Karl Markus Michels: »Adorno liebte das Bild der Flaschenpost. Leo Löwenthal erzählte mir, daß Adorno einst mit Hanns Eisler und anderen Freunden der Emigration am Pazifik stand und seufzte: ›Ach, was ich jetzt möchte, ist: die Quintessenz meines Denkens auf einen Zettel schreiben, in eine Flasche stecken und in den Ozean werfen. Dann wird eines fernen Tages auf einer fernen Insel irgend jemand die Flasche finden und öffnen und lesen …‹ – ›Na was schon, Teddy? -: Mir ist so mies!‹ konterte Eisler.« Kerstin Stolt: Teddys Flaschenpost. Die Figur der Verdinglichung in Adornos Kritik der Massenkultur (Working Paper des John F. Kennedy Instituts für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin). Berlin 1997 (https://www.diss.fu-berlin.de/docs/receive/FUDOCS_document_00000 0006516; zuletzt abgerufen am 4. März 2019).

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Auch das verpflichtet. Ihr Buch [sc. die Dialektik der Aufklärung] muß ein ›Erfolg‹ werden: ich weiß sehr genau, was ich sage. Wir können unsere Probleme an der Gegenatmosphäre und an der Gegenrede formulieren – das kann ihnen nur gut tun. 221

Horkheimer und Adorno sind diesem eindringlichen Appell Marcuses zur gezielten Bemühung um Öffentlichkeit – wie ich im Folgenden an der Dialektik der Aufklärung zeigen möchte – allerdings nicht gefolgt. An einen Gesprächspartner, an den man sich in direkter Ansprache wenden könnte, haben sie offenbar nicht mehr geglaubt. In einem der fragmentarischen Entwürfe, die dem Werk angehängt sind, bringen sie die ziellos gewordene Wirkungsabsicht ihrer Schrift unter Verwendung der Figuration ›Schiffbruch mit Zuschauer‹ zum Ausdruck: Freilich: suspekt ist nicht die Darstellung der Wirklichkeit als Hölle, sondern die routinierte Aufforderung, aus ihr auszubrechen. Wenn die Rede heute an einen sich wenden kann, so sind es weder die sogenannten Massen, noch der Einzelne, der ohnmächtig ist, sondern eher ein eingebildeter Zeuge, dem wir es hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht. (DA 307)

Im Selbstverständnis von sich und den Zeitgenossen als »ohnmächtig« adressieren Horkheimer und Adorno ihre Schrift an einen unbeteiligten Beobachter in der Zukunft, der gewissermaßen ›vom sicheren Ufer‹ seiner späteren Geburt aus auf den kulturellen ›Untergang‹ der 40er-Jahre zurückblicken soll. In einem ersten Sinne von ›Flaschenpost‹ sollte die Dialektik der Aufklärung, von der sich ihre Verfasser angesichts der Hölle des Zweiten Weltkriegs keine unmittelbare Wirkung mehr erhofften, also die Nachgeborenen erreichen. Neben dieser Bedeutung von ›Flaschenpost‹ lässt sich allerdings noch ein weiterer Sinn der Metapher ausmachen. Willem van Reijen und Gunzelin Schmid Noerr erläutern ihn anhand eines Briefes vom 21. August 1941, mit dem Adorno auf Horkheimers Aufsatz »Art and Mass Culture« reagiert hat: Es geht wirklich eine Erfahrung davon aus – fast könnte man sagen, der Aufsatz stelle eine Gebärde dar noch mehr als einen Gedanken. Etwa wie man, verlassen auf einer Insel, verzweifelt einem davonfahrenden Schiff mit einem Tuch nachwinkt, wenn es schon zu weit weg ist zum Rufen. 221 Aus einem Brief im Horkheimer-Archiv zitiert nach van Reijen/Schmid Noerr: »Vorwort«. S. 8 f.

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Unsere Sachen werden immer mehr solche Gesten aus Begriffen werden müssen und immer weniger Theorien herkömmlichen Sinns. Nur daß es eben dazu der ganzen Arbeit des Begriffs bedarf. 222

Die nautische Metaphorik zeigt hier performativ (d. h. selber ›gestisch‹) an, was Adorno meint, wenn er von »Gesten aus Begriffen« spricht: Der am Ufer Zurückgelassene, der nicht mehr gehört und nicht mehr verstanden wird, kann nur noch metaphorisch ›gestikulieren‹, um sich seinem Gegenüber auf dem auslaufenden Schiff verständlich zu machen. In der Verwendung nautischer Motivik spricht Adorno also nicht nur die Hoffnung aus, von einer zukünftigen Generation gehört zu werden. Sie ist zugleich ein Akt der Verzweiflung, Kritische Theorie noch irgend bemerkbar zu machen, wo die Mittel einer streng begrifflich-diskursiven Verständigung bereits versagt haben. Die Metapher von der ›Flaschenpost‹ signalisiert also nicht nur, dass der Adressat der Ideologiekritik anonym geworden ist, sie bezeichnet zugleich eine spezifische Art und Weise der Übermittlung. Sie ist Ausdruck der »Einstellung«, »die Anstrengung des Begriffs angesichts des Zerfalls allgemein geteilter begrifflicher Normen, in denen sich die Kritik am allgemein Geteilten ausdrücken ließe«, dennoch nicht aufzugeben. 223 Das metaphorische Sprechen wird so zur Ultima Ratio einer heimatlos gewordenen Rationalität, die jedes Vertrauen in die objektive Möglichkeit von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit bereits verloren hat: »Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.« 224 »Die an Aufklärung geübte Kritik soll einen positiven Begriff von ihr vorbereiten, der sie aus der Verstrickung in blinder Herrschaft löst.« (DA 10) »Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun.« (DA 9) Mit Herders Begriff eines ›analogischen‹ Verstehens gesprochen, soll die Metapher von der ›Flaschenpost‹ also eine heuristisch-erkenntnisleitende Funktion der Dialektik der Aufklärung anzeigen, die darin besteht, den konkreten Begriff von etwas vorzubereiten, das in der Gegenwart nur mehr als eine inzwischen trügerisch gewordene »vergangene Hoffnung« bzw. als eine abstrakte »Utopie« zu haben ist.

222 223 224

Ebd., S. 9. Van Reijen/Schmid Noerr: »Vorwort«. S. 9. Adorno: »Negative Dialektik«. S. 21.

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Auch dieser zweite Sinn von ›Flaschenpost‹ lässt sich vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund erläutern: Wenn es wahr ist, dass die begriffssprachlichen Mittel vom tosenden Applaus der Massen für die Propaganda in Ost und West übertönt worden sind – wovon Horkheimer und Adorno ausgehen müssen –, dann bleibt nur der Versuch, sich auf anderem Wege Gehör zu verschaffen. Der Rückgriff auf Metaphern zur öffentlich-exoterischen Veranschaulichung eines wissenschaftsesoterisch Eingesehenen (»Gesten aus Begriffen«, s. o.) bietet hierzu zumindest prima facie eine geeignete Möglichkeit, wie ich an Bacon und insbesondere an Herder gezeigt habe. So begreiflich nun allerdings die beiden Bedeutungen von ›Flaschenpost‹ jeweils für sich genommen sind, so unklar wird doch der Plan, den Horkheimer und Adorno verfolgen, wenn sie die Metapher in diesem doppelten Sinne verstehen: Während ersterer Sinn eindeutig auf eine Rezeption in der Zukunft abzielt, liegt dem Entschluss zu einer eher ästhetisierenden Darstellung offenbar die Einsicht zugrunde, man werde zur eigenen Zeit anders nicht mehr verstanden. Dem heutigen Empfänger der ›Flaschenpost‹ bereitet allerdings just jene ›gestikulierende‹ Sprachform der Dialektik der Aufklärung, die völlig aus dem Horizont einer Zeiterfahrung spricht, die nicht mehr die unsere ist, die größten Verständnisschwierigkeiten. So nachvollziehbar die Verzweiflung Horkheimers und Adornos in den 40er-Jahren dem historisch informierten Leser ist, so schwierig gestaltet es sich, die »Gesten« in »Begriffe« zurückzuübersetzen. Das allerdings wäre gefordert, wenn das von den Autoren der Dialektik der Aufklärung formulierte Programm, »einen positiven Begriff« von Aufklärung vorzubereiten, vom Rezipienten als die Aufgabe verstanden werden soll, diesen inzwischen historisch gewordenen Vorgriff in der eigenen Gegenwart auf irgendeine Weise gesellschaftlich konkret zu realisieren (DA 10). Das Urteil der späteren Flaschenpost-Empfänger zeugt denn auch von einer gewissen Ratlosigkeit gegenüber einem fragmentarisch gebliebenen Werk, das zwar in Bezug auf spätere Arbeiten Horkheimers und Adornos den Status einer »Programmschrift« (Günter Figal) für sich reklamieren kann, auch darin jedoch selbst für einschlägige Experten »ein polarisierendes Buch« (Rahel Jaeggi), »ein merkwürdiges Buch« (Habermas) geblieben ist. 225 225 Günter Figal: »Dialektik der Aufklärung«. In: Franco Volpi (Hrsg.): Großes Werklexikon der Philosophie (2 Bde.). Stuttgart 2004, Bd. 1, S. 8 f. Hier: S. 9. Rahel Jaeggi: »Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente.« In: Honneth/Institut für

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Ich werde im Folgenden anhand der Dialektik der Aufklärung zeigen, weshalb Horkheimer und Adorno auch noch im Hinblick auf eine spätere Rezeption meinten, ihre Aufklärungskritik in der Form eines nicht mehr im engeren Sinne ›begrifflichen‹, sondern metaphorischen bzw. allegorischen Sprechens durchführen zu müssen. Unter Berufung auf Habermas werde ich dabei geltend machen, dass sie sich in der Wirkungsabsicht ihrer Schrift »in den performativen Widerspruch einer sich selbst überbietenden Ideologiekritik« verstricken: »Der Leser gewinnt mit Recht das Gefühl, daß die nivellierende Darstellung wesentliche Züge der kulturellen Moderne nicht berücksichtigt.« (DM 154, 138) Vor dem Hintergrund der in den vorigen Kapiteln an Bacon und Herder aufgewiesenen Theoriestruktur soll gezeigt werden, dass die Dialektik der Aufklärung als eine ›Flaschenpost‹ zwar beansprucht, in der Zukunft eine diskurseröffnende Wirkung zu entfalten, es ihren Autoren aufgrund von »sachliche[n] Mängel[n] und theoretische[n] Aporien« der Schrift jedoch nicht mehr gelungen ist, dem antizipierten Diskurs eine konkrete Richtung zu geben. 226 Dies lässt sich nicht zuletzt an der Formelhaftigkeit der von Horkheimer und Adorno verwendeten Metaphern ablesen: Indem sie sprachliche Anleihen aus dem technischen Motivfeld nur noch als Kampfbegriffe einer »radikal negativen Geschichtstheorie« (Hauke Brunkhorst) verwenden, denunzieren sie mit dem moralischen zugleich jeden technischen Fortschritt der Menschheit von Bacon über Herder bis hinein in ihre eigene Zeit als bloße ›Ideologie‹, womit sie – wie Axel Honneth feststellt –, das interdisziplinäre Programm kritischer Gesellschaftstheorie als einer Einheit von Theorie und Praxis de facto preisgeben. 227 In ihrem Anliegen, einen positiven Begriff von Aufklärung vorzubereiten, stellt die Dialektik der Aufklärung zwei Thesen auf: »schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Sozialforschung (Hrsg.): Schlüsseltexte der Kritischen Theorie. Wiesbaden 2006, S. 249–253. Hier: S. 253. Habermas: DM 130. 226 Honneth: »Kritische Theorie«. S. 25. 227 Hauke Brunkhorst: »Die Welt als Beute. Rationalisierung und Vernunft in der Geschichte.« In: van Reijen/Schmid Noerr (Hrsg.): Vierzig Jahre Flaschenpost: ›Dialektik der Aufklärung‹ 1947–1987. Frankfurt a. M. 1987, S. 154–191. Hier: S. 157. Vgl. Honneth: »Kritische Theorie«, S. 44: »Mit der ›Dialektik der Aufklärung‹ kehrt die Kritische Theorie in die Sphäre einer philosophisch selbstgenügsamen Theorie zurück, aus der sie sich ursprünglich mit dem methodischen Vorstoß in die interdisziplinäre Sozialforschung gerade hatte lösen wollen«. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Mythologie zurück.« (DA 10) Die erste These werde ich zunächst anhand des Odyssee-Exkurses der Dialektik der Aufklärung näher untersuchen, wobei die Frage nach einer möglichen, esoterisch-exoterisch gedoppelten Wirkungsdimension der Schrift im Fokus steht (a.). An Horkheimers und Adornos Bacon-Rezeption, die nicht nur die metaphorische Doppelung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive bei Bacon weitgehend außer Acht lässt, sondern sich zudem ihrerseits einer rückhaltlos teilnehmerperspektivischen Geschichtsanalyse überlässt, soll anschließend die zweite These des fragmentarischen Werkes erläutert und kritisiert werden (b.).

a.) Der späte Mythos vom homerischen Epos Ihre geschichtsphilosophische These, »schon der Mythos ist Aufklärung«, versuchen Horkheimer und Adorno im ersten Exkurs der Dialektik der Aufklärung durch einen literaturgeschichtlich weiten Rückgriff zu belegen: »Kein Werk aber legt von der Verschlungenheit von Aufklärung und Mythos beredteres Zeugnis ab als das homerische, der Grundtext der europäischen Zivilisation.« (DA 10; 61) Bereits an Homers Odyssee soll gezeigt werden können, dass die »Urgeschichte der Subjektivität […] virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht«, zur Folge habe (DA 71). Indem Odysseus als Archetypus eines bürgerlichen Subjekts ausgedeutet wird, das sich gegen die mythischen Mächte der äußeren Natur nur zu behaupten vermag, indem es sukzessive seine innere Triebnatur zu unterdrücken und zu beherrschen lernt (»Introversion der Unterdrückung«; DA 88), wird der homerische Held von Gesang zu Gesang zusehends zum Sinnbild einer auf ihren Urheber zurückschlagenden Naturbeherrschung: Odysseus, wie die Helden aller eigentlichen Romane nach ihm, wirft sich weg gleichsam um sich zu gewinnen; die Entfremdung von der Natur, die er leistet, vollzieht sich in der Preisgabe an die Natur, mit der er in jedem Abenteuer sich mißt, und ironisch triumphiert die Unerbittliche, der er befiehlt, indem er als Unerbittlicher nach Hause kommt, als Richter und Rächer der Erbe der Gewalten, denen er entrann. (DA 62 f.)

Als ›dialektisch‹ bezeichnen Horkheimer und Adorno den Aufklärungsprozess dabei insofern, als die Selbstinstrumentalisierung des Subjekts in der technisch-instrumentellen Anmessung an die zu be268

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siegende Natur mit jedem gewonnenen Kampf zugleich das für weitere Siege zu erbringende Opfer vergrößert: »die Institution des Opfers selber ist das Mal einer historischen Katastrophe« (DA 67). Auf Gesellschaften übertragen bedeutet dieses von Horkheimer und Adorno an einem prototypischen Odysseus abgelesene Schema, dass mit der zunehmenden Technisierung der Naturverhältnisse zugleich der Druck auf die Individuen ansteigt, durch soziale Anpassung an die Sachzwänge des technischen Apparats den erreichten Stand der gesellschaftlichen Technisierung aufrechtzuerhalten und stetig weiter zu steigern. Die Selbstverdinglichung des Menschen wird also Schritt für Schritt umfassender, wobei die im gesellschaftlichen Produktionsprozess erzeugten Konsumgüter eine konfliktpazifizierende Wirkung entfalten, die dafür sorgt, dass den Individuen dieser katastrophische Zug der instrumentellen Rationalisierung auch ihrer sozialen Beziehungen entweder völlig unauffällig oder zumindest erträglich bleibt. Die Homer-Lektüre Horkheimers und Adornos ist allerdings mit einer ganzen Reihe von methodisch-philologischen Mängeln behaftet. Insbesondere aus den Ergebnissen der »bereits seit Herder durch die Arbeiten vieler ›Außenseiter‹ vorbereitete[n]« Oral-Poetry-Forschung ergeben sich Einwände, sowohl was das von der Dialektik der Aufklärung vermittelte Bild von Homer als einem eigenmächtig redigierenden Dichtersubjekt als auch was eine Lektüre des OdysseeEpos als einer Art Urform des bürgerlichen Bildungsromans angeht. 228 Diese Einwände, die auf Grundlage der Entzifferung von Linear B als einer frühen Form des Griechischen im Jahre 1952 noch an Joachim Latacz: Homer. Der erste Dichter des Abendlands. Düsseldorf/Zürich 2003, S. 19. Latacz gibt einen knappen Abriss von 200 Jahren Homerforschung, in der Herder insofern die Rolle eines ›Außenseiters‹ einnimmt (ebd., S. 14–22), als er auf die mündliche Kompositionsform der Epen hinwies und Homer primär als einen »Volksdichter« begriff: »Der größte Sänger der Griechen, Homerus, ist zugleich der größte Volksdichter.« (SW XXV, 314) »Homers Sprache ist nicht die unsre. Er sang, da dieselbe noch blos in dem Munde der artikuliert sprechenden Menschen, wie er sie nennt, lebte, noch keine Bücher, noch keine grammatische und am wenigsten eine wissenschaftliche Sprache war.« (SW III, 197) Vgl. Joachim Latacz: »Tradition und Neuerung in der Homerforschung«. In: Ders. (Hrsg.): Homer: Tradition und Neuerung. Darmstadt 1979, S. 25–44. Hier bes.: S. 29. Dass Horkheimer und Adorno die Odyssee relativ willkürlich als einen »Bildungsroman« lesen, stellen Helga GeyerRyan und Helmut Lethen fest: »Von der Dialektik der Gewalt zur Dialektik der Aufklärung. Eine Re-Vision der Odyssee.« In: Reijen/Schmid Noerr (Hrsg.): Vierzig Jahre Flaschenpost: ›Dialektik der Aufklärung‹ 1947–1987. Frankfurt a. M. 1987, S. 41– 72. Hier: S. 42–46. 228 4

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Gewicht gewonnen haben, werde ich hier nur kursorisch erörtern, um dann einen Deutungsansatz der Dialektik der Aufklärung stark zu machen, demzufolge Horkheimer und Adorno an Homer bewusst eine »poetische Heuristik« im Herder’schen Geiste betreiben: »Kurz! als poetische Heuristik wollen wir die Mythologie der Alten studieren, um selbst Erfinder zu werden.« (SW I, 444). Die Autoren der Dialektik der Aufklärung erheben letztlich gar nicht den Anspruch, ihre Thesen im historisch und philologisch strengen Sinne ›beweisen‹ zu können, sondern wollen vielmehr eine Erkenntnis nur vorbereiten bzw. dieselbe durch ›Gesten‹ vorläufig anzeigen. Ihre Auslegung der Odyssee soll performativ und allegorisch (d. h. im Stile einer historischen ›Analogie‹) ihre Gegenwartsdiagnose veranschaulichen: »Maßnahmen, wie sie auf dem Schiff des Odysseus im Angesicht der Sirenen durchgeführt werden, sind die ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung.« (DA 48) Als eine »ahnungsvolle« Allegorie kann die Situation auf dem Schiff des Odysseus nur vom historischen Standpunkt desjenigen aus bewertet werden, der über den Fortgang des Aufklärungsprozesses bereits im Bilde ist. Die Odyssee-Deutung Horkheimers und Adornos bleibt also letztlich unverständlich, wenn sie nicht an den zeitlichen Kontext der 1940er-Jahre rückgebunden wird, von dem aus sie allererst ihren Sinn als eine von einem teilnehmerperspektivischen Selbstverständigungsinteresse ihrer Autoren geleitete Retrospektive bezieht. Was Horkheimer und Adorno damit eigentlich leisten, ist eine späte, kunstvolle Adaption des Odyssee-Mythos vor dem Hintergrund ihrer eigenen Zeit, keine philologisch abgesicherte Textinterpretation der homerischen Odyssee. Die Bildungsvoraussetzungen, die Horkheimer und Adorno dem Leser zumuten, um diese heuristische Funktion ihrer Odyssee-Interpretation für eine Gegenwartsdiagnose der 40er-Jahre auch wirklich verstehen zu können, sind allerdings exorbitant. Ohne auf eine umfangreiche humanistische und philosophische Vorbildung zurückgreifen zu können, sieht sich ein wissenschaftlicher Laie im Grunde vor die Wahl gestellt, entweder vor der stilistischen Brillanz des Textes in Ehrfurcht zu erstarren oder aber das Werk resigniert beiseitezulegen. Einen exoterisch kräftemobilisierenden Anspruch auf die demokratische Diskursbeteiligung einer breiteren Öffentlichkeit können die beiden Frankfurter in Anbetracht des hermetisch-intellektualistischen Zugs ihrer Schrift also nicht mehr erheben. Hieraus ergibt sich ein erhebliches Defizit der Dialektik der Aufklärung hin270

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sichtlich des erklärten Ziels Kritischer Theorie, eine Einheit von Theorie und Praxis zu gewährleisten: Eine Theorie, die den bei weitem größten Teil ihrer möglichen Rezipienten schon durch die Wahl der Darstellungsform vom eröffneten Diskurs ausschließt, kann auf eine gesellschaftspraktische Wirksamkeit ihres Anliegens kaum mehr hoffen. Das Problem einer »Ohnmacht […] der Masse« bleibt also letztlich unbewältigt (DA 9). Horkheimer und Adorno sprechen gleich zu Beginn ihres ersten Exkurses »Odysseus oder Mythos und Aufklärung« von einer »homerischen Redaktion«, die sich am zu Homers Zeit bereits historisch gewordenen mythischen Stoff zeige: »In den Stoffschichten Homers haben die Mythen sich niedergeschlagen; der Bericht von ihnen aber, die Einheit, die den diffusen Sagen abgerungen ward, ist zugleich die Beschreibung der Fluchtbahn des Subjekts vor den mythischen Mächten.« (DA 58; 61) Ich möchte hier nur exemplarisch zwei Einwände geltend machen, die sich gegen diese Odyssee-Interpretation der Dialektik der Aufklärung ins Feld führen lassen. Sie betreffen (1) die eindeutige, wenn auch unausdrückliche Zuordnung des Epos zur literarischen Gattung des Bildungsromans und (2) das durch die Forschung inzwischen deutlich relativierte Bild von Homer als einem Autor, der »den diffusen Sagen« erst »Einheit« abgerungen habe (DA 61). 1) Wie schon Helga Geyer-Ryan und Helmut Lethen festgestellt haben, spricht philologisch wenig dafür, die Odyssee als einen Bildungsroman, als einen »rationalistisch radikalisierte[n] Wilhelm Meister« zu lesen. 229 Selbst wenn man über den Anachronismus der Anwendung einer literarischen Gattung des 18. Jh. auf ein Epos des 8. Jh. v. Chr. hinwegsieht, steht die Odyssee einem Abenteuerroman bei Lichte betrachtet wesentlich näher als einem Bildungsroman. 230 Odysseus besteht im Verlauf der Odyssee Abenteuer, aber er macht dabei keinen Bildungsgang durch, sondern präsentiert sich vom ersten bis zum letzten Vers als eben jener mythische Held, der dem zeitgenössischen Publikum vom Mythos her wohlbekannt ist. Das antike Epos hat hierin Ähnlichkeit mit dem vorgelesenen Märchen, dessen Protagonisten über feste Wesenszüge und eine gleichsam statuarische Persönlichkeit verfügen, mit der der Hörer sich identifizieren oder von der er sich selbstbewusst distanzieren kann. 229 230

Geyer-Ryan/Lethen: »Dialektik der Gewalt«. S. 46. Ebd., S. 45.

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Horkheimer und Adorno treffen also eine methodische Vorentscheidung, wenn sie die Odyssee als Geschichte der Selbstermächtigung eines Subjekts lesen – und zwar ohne diese Prämisse zu rechtfertigen oder auch nur als solche auszuweisen. Diese Vorentscheidung ist für sie der Sache nach aber unabdingbar, weil sie die Odyssee ansonsten gar nicht als Vorwegnahme einer Dialektik der Aufklärung lesen könnten. 2) Bevor Homer das Großepos Odyssee niederschrieb, war der mythische Stoff der Troja-Sagen bereits über Jahrhunderte durch fahrende Sänger mündlich weiter tradiert worden. Wie Milman Parry in den 1920er und 30er-Jahren durch vergleichende Studien zeigen konnte, bedeutete dieser mündliche Vortrag der Mythen nicht, dass der Sänger einfach immer wieder dieselbe Geschichte Wort für Wort auswendig rezitiert hätte. Im Jahre 1934 konnte Parry noch einen serbischen Sänger ausfindig machen, der weder lesen noch schreiben konnte, der jedoch in der Lage war, ein inhaltlich komplexes »Gedicht von der Länge der Odyssee, das er im Vortragen frei gestaltete«, unter Beibehaltung von Form und Metrum zu singen, was insgesamt zwei Wochen in Anspruch nahm, in denen der Sänger vormittags und nachmittags jeweils zwei Stunden vortrug. 231 Dies gelang ihm, indem er immer wieder versfertige und sich beizeiten auch wiederholende Formeln in seinen Vortrag einbaute, die ihm während des Singens den Spielraum gaben, die zu erzählende Geschichte gedanklich vorgreifend weiterzuspinnen und kreativ auszuschmücken. Ganz ähnliche Formeln finden sich nun aber auch in den wiederkehrenden Epitheta Homers, in denen z. B. zu jedem Sonnenaufgang vom ›Aufgang der rosenfingrigen Eos‹ die Rede ist. Die homerischen Epen enthalten also noch zahlreiche sprachliche und stilistische Rudimente ihrer mündlichen Vorgeschichte, was so weit geht, dass z. T. sogar nachgewiesen werden konnte, dass sich in der langen Überlieferungsgeschichte inhaltliche Brüche ergeben haben, die daraus resultieren, dass ein späterer Sänger einen von ihm selbst rezitierten Hexameter offenbar inhaltlich gar nicht mehr richtig verstehen konnte – etwa wenn darin von einer zu seiner eigenen Zeit bereits ungebräuchlich gewordenen Schildform gesungen wurde. 232 Moses I. Finley: Die Welt des Odysseus (Neuauflage). Frankfurt/New York 2005. S. 27. 232 Vgl. T. B. L. Webster: Von Mykene bis Homer. Anfänge griechischer Literatur und Kunst im Lichte von Linear B. München/Wien 1960. S. 128. 231

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Ohne auf die mit viel philologischem Fleiß und Akribie betriebene Oral-poetry-Forschung zu Homer hier weiter einzugehen, lässt sich für den vorliegenden Zusammenhang bereits anhand dieser wenigen Bemerkungen geltend machen, dass Züge einer mündlichen Dichtung, die sich über Jahrhunderte öffentlich vor Publikum zu bewähren hatte, bis in einzelne Formulierungen von Homers schriftlichen Epen hineingewirkt haben. 233 Auch wenn man den Verfassern der Dialektik der Aufklärung zugestehen kann, dass tatsächlich ein individueller Dichter den Epen bei ihrer Verschriftlichung erst die festgefügte Form gegeben hat, die wir heute kennen, bleibt die Odyssee doch in wesentlichen Teilen gewissermaßen ein kulturelles ›Gemeinschaftsprodukt‹, sowohl was die Prägung bestimmter Formeln durch frühere Sänger als auch was die Abhängigkeit des Erfolgs der Mythenerzählung vom Beifall des Publikums angeht. Joachim Latacz bringt diesen Umstand unter die Überschrift: »Heldensang als Selbstvergewisserung und Halt«. 234 Das Publikum des Heldensangs und auch noch seiner verschriftlichten Form war eine »Aristokratie, die sich in ihrer Heldendichtung nicht nur wiederfinden, sondern sich auch durch sie bestätigt und vorangetrieben fühlen« wollte. 235 Diese Öffentlichkeitsdimension einer sich im Heldensang solidarisch selbstvergewissernden Oberschicht aber wird von Horkheimer und Adorno konsequent ausgeblendet, wenn sie die Odyssee einzig als Zeugnis einer listig auf selbststeigernde »Naturbeherrschung durch […] Angleichung« angelegten Subjektivität lesen (DA 74). Nun wäre es gewiss verfehlt, Horkheimer und Adorno unterstellen zu wollen, sie seien sich der philologischen Gewaltsamkeit ihrer Odyssee-Interpretation nicht bewusst gewesen. Wenn aber ihre Deutung die Korrektheit der These, »schon der Mythos ist Aufklärung«, nicht zu beweisen vermag, weil sie sowohl den Literaturtypus als auch den geschichtlichen Entstehungskontext von Homers Epos ignoriert, was leistet sie dann (DA 10)? Da ihre These den historischen Befunden zur Textentstehung und Überlieferungsform des mythischen Epos beobachterperspektivisch nachweislich zuwiderläuft, müssen Horkheimer und Adorno mit ihrer Deutung einen teilZum Thema vgl.: Latacz: Homer. S. 61–67; Finley: Welt des Odysseus. S. 23–49. Weiter abgesichert werden konnten die Einsichten der Oral-Poetry-Forschung infolge der Entschlüsselung der Linearschrift B, etwa durch Webster: Von Mykene bis Homer. Hier bes.: S. 127–184. 234 Latacz: Homer. S. 61. 235 Ebd., S. 62. 233

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nehmerperspektivischen Sinn verbinden, wenn ihr Exkurs überhaupt eine erhellende Wirkung entfalten soll. Liest man die Dialektik der Aufklärung unter dieser Prämisse, dann lässt sich der Odyssee-Interpretation aber die Struktur eines performativen Hinweises – also einer ›Geste‹ eher anstelle eines explizit ausformulierten ›Beweises‹ – ablesen. Die These besagt dann genauer, dass zu Horkheimers und Adornos eigener Zeit der Kulturverfall derart vorangeschritten ist, dass selbst ein Text aus mythischer Zeit so gelesen werden muss, dass ihm die logische Konsequenz eines alles nivellierenden Rationalisierungsprozesses in nuce bereits eingeschrieben ist. Der Satz, »schon der Mythos ist Aufklärung«, muss also performativ und selbstreferentiell verstanden werden: Indem die zerstörerische Wirkung der Aufklärung total geworden ist, hat sie zugleich den überlieferten Fundus der abendländischen Kultur überhaupt usurpiert und auf den Nenner von Berechenbarkeit und Kalkül gebracht (DA 10). Selbst der in den Erzählungen der Vorzeit noch aufbewahrte spezifische Eigensinn historischer Epochen und Gesellschaftsformationen – so wollen Horkheimer und Adorno offenbar sagen – zergeht im zeitgenössischen Alleingeltungsanspruch totalitärer Herrschaft: »Nichts anderes gilt.« (DA 14) Ihre Odyssee-Interpretation sagt damit aber wesentlich mehr über ihre eigene Zeit aus als über Homer. Dass sie ihre Diagnose an einem Epos festmachen, hat einzig den Sinn, den Verlust noch irgendwie heuristisch-erkenntnisleitend bzw. allegorisch spürbar zu machen, der eingetreten ist, als die nivellierende Eindimensionalität wissenschaftlich-berechnenden Denkens überfallartig auf sämtliche Kulturbereiche durchzuschlagen begann. Den wissenschaftsexoterischen Laien vermögen sie mit der Entscheidung für eine derart verschlungene und intellektuell hochanspruchsvolle Form der Darstellung, die sich ausgerechnet als Interpretation eines in Hexametern verfassten archaischen Epos präsentiert, freilich weder zu ihrer eigenen noch auch zu späterer Zeit zu erreichen. Es bleibt damit nur der Schluss, dass Horkheimer und Adorno wohl auf einen wissenschaftlich gebildeten FlaschenpostEmpfänger gehofft haben, der ihr Anliegen, einen anderen Begriff von Aufklärung vorzubereiten, in der Zukunft würdigend aufnehmen sollte. Den teilnehmerperspektivischen Gegenwartsbezug der ersten These zugestanden, muss sich diesem späteren Leser aber unweigerlich die Frage nach der inhaltlichen Stichhaltbarkeit der von Horkheimer und Adorno präsentierten Zeitdiagnose aufdrängen, d. h. die Frage nach der Berechtigung ihrer zweiten These, »Aufklärung 274

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schlägt in Mythologie zurück.« (DA 10) Nur dann nämlich, wenn die Gegenwart tatsächlich so verderbt ist, dass der semantische Gehalt des Mythos als unwiederbringlich verschüttet gelten muss, lässt sich auch die Odyssee-Interpretation der Dialektik der Aufklärung in ihrer hier skizzierten, performativ-selbstreferentiellen Struktur rechtfertigen.

b.) Bacon in der Dialektik der Aufklärung: Eine Metakritik Horkheimer stellt in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft technologiekritisch fest: »Die Ausbeutung der Natur kann bis auf die ersten Kapitel der Bibel zurückverfolgt werden. Alle Kreaturen sollen dem Menschen untertan sein. Nur die Methoden und Manifestationen dieser Unterwerfung haben sich geändert.« (KiV 79) Wie ich bereits erörtert habe, beruft Bacon sich in seiner Instauratio Magna auf das biblische Motiv eines Dominium terrae, wenn er die uneingeschränkte Nützlichkeit seines Wissenschaftsprogramms exoterisch zu legitimieren versucht. Wissenschaftsesoterisch ist diese Berufung auf die Bibel jedoch in erster Linie rhetorisch (d. h. als bloße Metapher) zu verstehen. Horkheimer selbst bemerkt in seiner frühen Vorlesung über die Geschichte der neueren Philosophie (1927): »Die Erkenntnis [sc. bei Bacon] ist säkularisiert, sie ist einbezogen in den Stoffwechsel der menschlichen Gesellschaft mit der Natur, sie ist ihres absoluten Charakters entkleidet.« 236 Obwohl Bacon also noch formelhaft von biblischen Motiven Gebrauch macht, ist sein wissenschaftliches Programm von der säkularen Vorstellung geprägt, dass »die fortschreitende Erkenntnis identisch sei mit der Entzauberung der Welt.« 237 Wenn Horkheimer zusammen mit Adorno in der Dialektik der Aufklärung die These aufstellt, »Aufklärung schlägt in Mythologie zurück«, dann wird damit freilich nicht dieser Entzauberungsprozess als solcher angezweifelt, sondern das Glücksversprechen, das Bacon dem Programm wissenschaftlicher Rationalisierung beigelegt hatte, nämlich die Auffassung: »die Erfindungen beglücken und tun wohl,

236 Max Horkheimer: Gesammelte Schriften Band 9: Nachgelassene Schriften 1914– 1931. Frankfurt a. M. 1987, S. 81. 237 Ebd., S. 83.

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ohne jemandem ein Unrecht oder ein Leid zu bereiten.« (DA 10; NO I, 129) Im kulturpessimistischen Geiste Rousseaus (s. o. S. 232 ff.) prangern Horkheimer und Adorno die aus ihrer Sicht verheerenden Konsequenzen an, die sich aus der konsequenten Umsetzung des baconischen Programms ergeben haben, wobei sie – wie schon Herder – die von Bacon prominent ins Feld geführte Erfindungs-Trias von Buchdruck, Schießpulver und Kompass aufgreifen und dann deren technischer Perfektionierung bis in die eigene Gegenwart hinein nachstellen: »das Radio als sublimierte Druckerpresse, das Sturzkampfflugzeug als wirksamere Artillerie, die Fernsteuerung als der verläßlichere Kompaß. Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen.« (DA 14) Bereits in seiner frühen Vorlesung hatte Horkheimer hervorgehoben, dass der von Bacon programmatisch geforderte Fortschritt einem »bestimmten Maßstab« folgt: »zunächst einmal die Ausbreitung der technischen Beherrschung der Natur, dann aber auch die zweckmäßige Organisation der menschlichen Gesellschaft selbst.« 238 Dieses primär wissenschafts-, sekundär gesellschaftspolitische Anliegen der Instauratio Magna habe ich im Bacon-Kapitel nachgezeichnet: Die Erneuerung der Wissenschaften soll zugleich einen gesellschaftlichen Fortschritt auf den Weg bringen, wobei schon die wissenschaftliche Revolution, aufgrund der Notwendigkeit zur Institutionalisierung eines geregelten Forschungsbetriebs, in gewissem Umfange ›gesellschaftspolitisch‹ gelagert ist. Ohne die Bereitschaft, den wissenschaftlichen Fortschritt zu befördern und in Zukunft auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu bauen, bliebe auch bereits das wissenschaftspolitische Kernanliegen Bacons im Ansatz stecken. Innerhalb seines Theorieprogramms hat diese Einsicht ihren Anhalt in der Formel: »Wissen und menschliches Können ergänzen sich insofern, als ja Unkenntnis der Ursache die Wirkung verfehlen läßt. Die Natur nämlich lässt sich nur durch Gehorsam bändigen (non nisi parendo vincitur)« (NO I, 3). Um erfolgreich über Naturverhältnisse verfügen zu können, ist es notwendig, Gesetzmäßigkeiten in der Natur zu erkennen und das gesellschaftliche Handeln so nach diesen auszurichten, dass die Naturgesetze für menschliche Zwecke technisch ausgenutzt werden können. Neu ist an Bacons Organon dabei nicht das an Naturkausalitäten orientierte zweckratio238

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nale Handeln als solches. Bereits die alten Ägypter konnten ihre Kultur nur zur Blüte bringen, indem sie sich – nolens volens – auf die klimatischen Bedingungen einstellten, in denen sie lebten. Neu ist vielmehr nur Bacons Forderung, diese Anpassung an äußere Verhältnisse einer bewussten, methodisch-rationalen, d. h. letztlich wissenschaftlichen Kontrolle zu unterwerfen, indem auf induktiver Basis formulierte Hypothesen über Naturgesetzmäßigkeiten experimentell erprobt und gewonnene Einsichten gezielt zur Bevorratung und Anwendung technischer Mittel genutzt werden. In der Dialektik der Aufklärung setzen Horkheimer und Adorno nun genau an dieser Bacon’schen Metapher eines dem Menschen von der Natur zu ihrer ›Beherrschung‹ abverlangten ›Gehorsams‹ an, um nachzuweisen, dass der von ihm geforderte Rationalisierungsprozess zwar einerseits die Weber’sche »Entzauberung der Welt« (DA 13) zur Folge gehabt hat, dieser Entzauberung jedoch andererseits zugleich das selbst unweigerlich ›mythische‹ Moment anhaftet, nicht die von der Aufklärung behauptete Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unter den Menschen durchzusetzen, sondern stattdessen einem eindimensional-objektivierenden Denken zum Durchbruch zu verhelfen – einem Denken, in dem der Mensch selber als nur noch ein Stück ›beherrschbarer‹ bzw. ›kontrollierbarer‹ Natur erscheint, wodurch die Unterschiede zwischen Mensch und Umwelt, organischer und anorganischer, innerer und äußerer Natur überhaupt nivelliert werden: »Der Mythos geht in die Aufklärung über und die Natur in bloße Objektivität.« (DA 19) »Das Wissen, das Macht ist, kennt keine Schranken, weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegen die Herren der Welt.« (DA 14) »Ohne Rücksicht auf die Unterschiede wird die Welt dem Menschen untertan.« (DA 19) Indem die beobachterperspektivisch-objektivierende Betrachtung der Natur, wie sie in Bacons Programm tatsächlich gefordert ist, dazu führt, dass auch der Mensch und die sozialen Verhältnisse, in denen er lebt, nur noch als ein Stück gegenständlicher ›Natur‹ betrachtet werden, soll – so lassen sich Horkheimer und Adorno verstehen – »Aufklärung […] in Mythologie« zurückschlagen (DA 10). Als selber auch wieder nur ›mythisch‹ kann der Aufklärungsprozess dabei insofern betrachtet werden, als zwar die in diesem Prozess miterzeugten Ideale den Individuen einen Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit suggerieren, die aufgeklärten Ideen de facto jedoch nur die Funktion erfüllen, einen wissenschaftlichen und technischen Fortschritt ideologisch zu verschleiern, der in Wahrheit eine sukzessive Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Einschränkung der Möglichkeiten zur individuellen Selbstbestimmung zur Folge hat. Da eine Ausweitung von ›Herrschaft‹ über die Natur immer mit dem ›Gehorsam‹ gegenüber einem zu ihrer Kontrolle benötigten technischen Apparat verzahnt bleibt, muss jeder Fortschritt einer Gesellschaft mit dem Verlust an Freiheit und Sinnautonomie der einzelnen Individuen bezahlt werden: »Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit.« (DA 15) »Mit der Preisgabe des Denkens, das in seiner verdinglichten Gestalt als Mathematik, Maschine, Organisation an den seiner vergessenden Menschen sich rächt, hat Aufklärung ihrer eigenen Verwirklichung entsagt.« (DA 56) Aus dem Umstand, dass für Horkheimer und Adorno die Aufklärung bis in die neuzeitliche Wissenschaftssprache hinein von der Eindimensionalität eines rein objektivierenden Denkens infiziert ist, erklärt sich nun aber auch, weshalb ihre ›Flaschenpost‹ Dialektik der Aufklärung in einem Stil gehalten ist, der darauf zielt, jede im strengeren Sinne ›begriffliche‹ Fixierung ihres Kerngedankens zu vermeiden. Wenn nämlich Aufklärung in ihrer traditionellen Fassung in Verdinglichung und totalitäre Herrschaft umschlagen muss, wie Horkheimer und Adorno das annehmen, kann ihre Schrift »einen positiven Begriff« von Aufklärung, »der sie aus der Verstrickung in blinder Herrschaft löst«, auch beim zukünftigen Empfänger nur dann vorbereiten, wenn just jene Fallstricke eines auf Formalisierung angelegten Sprechens bewusst vermieden werden (DA 10). Die ›geistige Antizipation‹ eines positiven Begriffs von Aufklärung darf also gar nicht zum Ziel kommen, weil das Haben dieses Begriffs bereits eine ›positivistische‹ Verkürzung; eine Form von macht- und marktgängigem ›Besitz‹ bedeutete, in dem – wie gehabt – Aufklärung in Mythologie zurückschlüge. Der Paradoxie dieser Grundstellung ihrer Schrift sind die beiden Autoren sich, wie insbesondere an Adornos Negativer Dialektik gezeigt werden kann, sehr wohl bewusst: »Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen.« 239 Indem die Dialektik der Aufklärung einen Begriff vorbereitet, der nie zu sich selbst kommen darf – d. h. der gewissermaßen metaphorisch-antizipativ bleiben muss –, weil er ansonsten in Herrschaft umschlüge, verfolgt sie also ein ›utopisches‹ Programm: Nur die ›Ortlosigkeit‹ der Aufklärung im Ko239

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Adorno: »Negative Dialektik«. S. 21.

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ordinatensystem etablierter Wissenschaftlichkeit kann garantieren, dass Aufklärung ihrer quantifizierenden Fixierung, die zugleich ihre Instrumentalisierbarkeit für totalitäre Zwecke bedeutete, entzogen bleibt. Gegen die Dialektik der Aufklärung ist von Jürgen Habermas allerdings der berechtigte Einwand erhoben worden, dass mit dem offenen Eingeständnis einer Paradoxie dieselbe noch nicht auch schon theoretisch legitimiert ist: »Wer […] in einer Paradoxie verharrt, […] kann diese Stellung nur halten, wenn mindestens plausibel zu machen ist, daß es keinen Ausweg gibt.« (DM 155) Im hier verhandelten Zusammenhang bedeutet das aber, dass (1) Horkheimer und Adorno wenigstens an Bacon der Nachweis gelingen müsste, dass die von ihm geleistete Aufklärung zwangsläufig – d. h. nicht nur faktisch, sondern aus einer immanenten Notwendigkeit heraus – in Mythologie zurückgeschlagen ist. (2) Darüber hinaus kann außerdem gefordert werden, dass die von ihnen in der Dialektik der Aufklärung verwendeten Metaphern – wie diejenigen Herders – durch die Offenlegung von horizonthaften Zukunftsalternativen eine diskurseröffnende Wirkung zu entfalten vermögen, die sowohl über eine ›positivistische‹ Verkürzung und Fixierung hinausgeht als auch die diskursverschließenden Effekte von Bacons rhetorischer Biblizismenverwendung vermeidet. Beides ist ihnen, wie ich hier darlegen möchte, jedoch nicht gelungen. 1) Horkheimers und Adornos Ideologiekritik in der Dialektik der Aufklärung beansprucht eine negative Geschichtsdeutung, die sich am historischen Material in irgendeiner Weise rechtfertigen lassen muss – wenn schon nicht an der Odyssee, so doch zumindest an den Texten der von ihnen explizit kritisierten Aufklärer. Dass ›Herrschaft‹ über die Natur unweigerlich eine illegitime Herrschaft über den Menschen zur Folge habe, gibt Bacons Programm, das die Metapher von der ›Herrschaft über die Natur‹ dem Inventar einer religiösen Sprache zuweist, die durch die neuzeitliche Wissenschaft ja gerade längerfristig überwunden werden soll, allerdings gar nicht her. Bacons metaphorische Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive an der Schnittstelle zwischen Experten- und Laiendiskurs verfolgt zwar die in letzter Konsequenz gesellschaftspolitische Strategie, eine technokratische (d. h. instrumentalistische) Herrschaft von Menschen über Menschen zu institutionalisieren. Das macht seine Position für Herder kritisierbar. Daraus folgt jedoch nicht, dass die technische Kontrolle von Umweltverhältnissen zwangsZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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läufig nur unter einer technokratischen Gesellschaftsordnung zu haben oder dass instrumentelle Rationalität gar im Ganzen ebenso gut auch verzichtbar wäre. Die Kausalität einer Kontrolle von Naturverhältnissen und die final gelagerte Betrachtung der Berechtigung von Herrschaftsansprüchen laufen bei Bacon auf kategorial getrennten Ebenen, die in der Instauratio Magna zwar metaphorisch miteinander verschränkt, in ihrer grundsätzlichen kategorialen Differenz dadurch jedoch nicht eingeebnet werden. Dass die »glückliche Ehe zwischen dem menschlichen Verstand und der Natur der Dinge […] patriarchal« sei, können Horkheimer und Adorno nur deshalb behaupten, weil sie – anders als Bacon – ›Naturkontrolle‹ schon im Ansatz ganz wörtlich mit einer Form von quasi-sozialer und illegitimer ›Herrschaft‹ des Verstandes über ›Mutter Natur‹ identifizieren: »Macht und Erkenntnis sind synonym.« (DA 14 f.) Berechtigten Anspruch auf eine diesem vermeintlich ›falschen‹ Bewusstsein entgegenzusetzende ›Wahrheit‹ könnte eine solche Kritik am Herrschaftscharakter instrumentellen Handelns aber nur dann beanspruchen, wenn mindestens eine alternative Handlungsstruktur im Umgang mit der Natur menschenmöglich wäre, was – wie Habermas feststellt – jedoch nicht der Fall ist: Wenn man sich vergegenwärtigt, daß die technische Entwicklung einer Logik folgt, die der Struktur zweckrationalen und am Erfolg kontrollierten Handelns […] entspricht, dann ist nicht zu sehen, wie wir je, solange die Organisation der menschlichen Natur sich nicht ändert […], auf Technik, und zwar auf unsere Technik, zugunsten einer qualitativ anderen sollten verzichten können. (TWI 57)

Wenn schon die alten Ägypter ihre Subsistenz nur durch die Ausweitung von Systemen instrumentellen Handelns zu sichern vermochten, fehlt jede Grundlage, dieses in der menschlichen Natur selbst angelegte Handeln in seiner methodisch kontrollierten Ausweitung seit Bacon insgesamt als ›falsches Bewusstsein‹ zu kritisieren. Herder hat zwar darauf hingewiesen, dass dem ägyptischen ›Knaben‹ ein höheres Maß an Selbstdisziplinierung abverlangt war als dem vorneolithischen Menschen, wenn die organisatorisch komplexen Aufgaben einer Nutzung des Nils durch »Ausmessungen, Ableitungen, Dämme, Kanäle, Städte, Dörfer« von Erfolg gekrönt sein sollten (AP 16). Im Gegensatz zu Horkheimer und Adornos Deutung hat er jedoch zu Recht darauf hingewiesen, dass damit zugleich ein Übergang von einem präkonventionellen zu einem konventionellen Moralniveau 280

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verbunden war, so dass sich in der ägyptischen Gesellschaft ein Maß von Rechtssicherheit etablieren konnte, das vorangegangen Kulturen noch fehlte. Die Folgen des technischen Fortschritts waren zwar ambivalent, indem sie dem Individuum zur Realisierung eines höheren Allgemeininteresses einen partiellen Verzicht auf Entfaltungsspielraum abverlangten, stellten jedoch keine völlige »Negation des Einzelnen« dar, sondern sicherten diesem im Gegenzug zugleich einen gewissen Umfang an Rechten gegenüber den Ansprüchen der anderen Individuen (DA 24). Es galten nun »Landessicherheit, Pflege der Gerechtigkeit, Ordnung [und] Polizei, wie alles im Wanderleben des Orients nie möglich gewesen« ist (AP 15). Wenn Horkheimer und Adorno die Menschheitsentwicklung als eine Verfallsgeschichte begreifen, dann tun sie dies aber letztlich ganz unhistorisch und nur aus der eigenen, teilnehmerperspektivischen Gegenwartsdiagnose heraus. Das »Radio […], das Sturzkampfflugzeug« und die »Fernsteuerung« waren während des Weltkriegs zwar tatsächlich dienstbare Werkzeuge in den Händen faschistischen Terrors (DA 10); und so richtig es einerseits ist, dass die Möglichkeiten zu diesen Erfindungen in Bacons Wissenschaftsprogramm in nuce bereits angelegt waren, so falsch wäre es andererseits, aus dem Gedanken einer erfolgskontrollierten Bearbeitung von Natur eo ipso schon deren zwangsläufige Instrumentalisierung zu Zwecken einer illegitimen Herrschaft über Menschen herauslesen zu wollen. Wenn Horkheimer und Adorno Bacon so auslegen, folgen sie dem nivellierenden Duktus seiner exoterischen Darstellung, derzufolge sein Wissenschaftsprogramm ja tatsächlich mit dem göttlichen Auftrag einer Sicherung von menschlicher ›Herrschaft‹ über die Natur zu identifizieren sein soll, und behaupten dann, diese ›Herrschaft‹ beziehe sich notwendigerweise und unmittelbar auch auf andere Menschen. Mit dieser Anklage konfrontiert, könnte Bacon sich jedoch ohne Weiteres auf seinen esoterischen Standpunkt zurückziehen, er sei sich der Möglichkeit einer instrumentell vermittelten Ausübung von Herrschaft über Menschen durchaus bewusst, dieses Problem müsse jedoch letztlich als eine Frage der »gesunde[n] Religion« (d. h. der Moral) behandelt werden, die mit naturwissenschaftlichen Fragen einer erfolgreichen Kontrolle von Umweltverhältnissen nicht verwechselt werden dürfe (NO I, 129). 2) Dass Horkheimer und Adorno die metaphorische Doppelung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive bei Bacon in der Dialektik der Aufklärung nicht beachten, schlägt dann aber auch auf ihre Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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eigene Metaphernverwendung durch. In der Überzeugung, der wissenschaftlich-technische Fortschritt habe per se ›verdinglichende‹ Auswirkungen, verwenden sie technische Metaphern nur noch als Kampfbegriffe, welche die Ausweglosigkeit einer geschichtlich total gewordenen Technisierung eindeutig brandmarken sollen: Sie sprechen von »motorisierte[r] Geschichte« (DA 6), der »Lenkbarkeit der Masse« und dem »Einschmelzen des Kulturellen im gigantischen Tiegel […] ökonomische[r] Errungenschaften« (DA 9); von der »Abstraktion« als »Werkzeug der Aufklärung« (DA 24) und von der »Reduktion des Denkens auf mathematische Apparatur« (DA 39). Die von den Verfassern der Dialektik der Aufklärung in Anschlag gebrachten Metaphern sind in dieser Funktion aber nicht weniger formelhaft als die Bacon’schen Biblizismen: Während der englische Lordkanzler Anleihen aus dem biblischen Motivfeld dazu verwendet hatte, seinem Wissenschaftsprogramm exoterisch den Anschein göttlicher Legitimation zu verleihen und damit ein Laienpublikum zu Passivität und Expertenvertrauen anzuhalten, bringen Horkheimer und Adorno nun technische Metaphern in Anschlag, um umgekehrt denselben wissenschaftlich-technischen Fortschritt als eine Art unvermeidlichen ›Sündenfall‹ aus technischer Rationalität zu denunzieren. Das esoterisch als Prognose einer möglichen Zukunft präsentierte Programm der Instauratio Magna erweckt – defätistisch umgewertet – in Horkheimers und Adornos Darstellung dann jedoch unvermittelt den Eindruck einer völligen ›Alternativlosigkeit‹. Das erklärte, aber in der Wahl der Mittel kaum noch nachvollziehbare Ziel, das sie mit diesem radikal negativen Begriff von Aufklärung verfolgen, ist eine »umwälzende Praxis«: »Umwälzende Praxis aber hängt ab von der Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Bewußtlosigkeit, mit der die Gesellschaft das Denken verhärten läßt.« (DA 56) Sie verbinden mit ihrer totalisierten Ideologiekritik also letztlich immer noch eine gewisse revolutionäre Hoffnung: »Der Geist solcher unnachgiebigen Theorie vermöchte den des erbarmungslosen Fortschritts selber an seinem Ziel umzuwenden.« (DA 57) Die Zielperspektive der Dialektik der Aufklärung steht damit aber in einem deutlichen Widerspruch zur in bildreicher Sprache gestellten Diagnose eines ausnahmslos verhängnisvollen und ausweglosen Rationalisierungsprozesses. Paradox ist die Forderung einer umwälzenden Praxis nicht nur deshalb, weil eine solche Praxis gemäß Horkheimers und Adornos eigenen geschichtsphilosophischen Prämissen eigentlich unmöglich sein müsste, sondern auch, weil die Me282

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taphern, mit der sie zu einer solchen Praxis aufrufen, selber so formelhaft und quasi-begrifflich fixiert sind, dass einer »temperierte[n] Einstellung zur Technik«, d. h. einer nüchternen Einschätzung und Bewertung der praktischen Folgen des Rationalisierungsprozesses, überhaupt jeder Weg verbaut ist. 240 Wenn es stimmt, dass wir zu unserer Existenzsicherung auf instrumentelle Vernunft nicht verzichten können, dieselbe Vernunft auf quasi-mechanischem Wege aber zugleich eine unvermeidlich zerstörerische Wirkung entfaltet, bleibt als einzige Konsequenz aus der Zeitdiagnose einer Dialektik der Aufklärung die Resignation. Der Diskurs, den Horkheimer und Adorno eröffnen wollen, zeitigt den paradox-diskursverschließenden Effekt, der Aufklärung in ihrem geschichtlich gewordenen Sinn jeden positiven Gehalt abzusprechen, wodurch der Selbstverständigung über objektive Möglichkeiten sämtliche Kriterien entzogen werden, nach denen sie sich in rationaler Argumentation noch vollziehen könnte. Während Herder sich auf die historisch wirksame Botschaft Jesu und den entwicklungslogisch-postkonventionellen Gehalt aufgeklärter Ideale hatte berufen und den Versuch ihrer kollektiv tatkräftigen Realisierung als objektiv mögliche Alternative gegen die entwicklungsdynamisch-fatalen Technisierungstendenzen in seiner Gegenwart hatte ins Feld führen können, verliert die Ideologiekritik Horkheimers und Adornos jede Richtung, wenn sie in einem zweiten Reflexionsschritt nun auch den vernünftigen Gehalt dieser Ideale selber unter Ideologieverdacht stellt und geschichtliche Rationalisierungsprozesse nur noch unter der Prämisse eines alternativlosen Verhängnisses rekonstruiert. Ihre unnachgiebige Theorie einer ›umwälzenden Praxis‹ ist – mit Habermas gesprochen – in Wahrheit ein Theorieverzicht: Nachdem, auf dem erreichten Niveau der Reflexion, jeder Versuch, eine Theorie aufzustellen, ins Bodenlose gleiten müßte, verzichten sie auf Theorie und praktizieren ad hoc die bestimmte Negation. […] Der praktizierte Widerspruchsgeist ist, was vom ›Geist der unnachgiebigen Theorie‹ übrigbleibt. Und diese Praxis ist wie eine Beschwörung, um den Ungeist des erbarmungslosen Fortschritts doch noch ›an seinem Ziel umzuwenden‹. (DM 154 f.)

Die ›Geste‹ Dialektik der Aufklärung erstarrt letztlich selber im bloßen ›Gestus‹ des praktizierten Widerspruchgeistes und verstrickt 240

Blumenberg: Geistesgeschichte der Technik. S. 27.

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sich so in einen Selbstwiderspruch. Dieser wäre jedoch vielleicht vermeidbar gewesen, wenn Horkheimer und Adorno eine historisch-empirische Fundierung ihrer Kritik wenigstens noch ernsthaft versucht und sich nicht stattdessen für die Petitio principii einer performativaufweisenden Zeitdiagnose entschieden hätten, aus der heraus die vorangegangene Menschheitsgeschichte nur noch als ein Menetekel gegenwärtigen Unheils gelesen werden kann. Pointiert stellt Axel Honneth fest: Nur weil Horkheimer und Adorno […] sowohl den Vorgang der individuellen Bedürfnisbildung als auch den Prozeß der sozialen Herrschaftsausübung bereits vorweg nach dem Modell von instrumentellen Verfügungshandlungen konzipiert haben, können sie im nachhinein so mühelos den Zivilisationsprozeß im ganzen von derselben instrumentellen Rationalität beherrscht sehen, die dem Akt der Naturbeherrschung tatsächlich zugrunde liegt. 241

Die Dialektik der Aufklärung hat über Raubdrucke zwar in der Öffentlichkeit der Studentenbewegung der 60er-Jahre eine größere Zahl von Flaschenpost-Empfängern ansprechen können, von der breiten Rezeption ihrer Schrift wurden Horkheimer und Adorno jedoch offenbar völlig überrascht. Die ablehnende und zum Teil regelrecht hilflose Haltung, mit der sie der konkret revolutionären Praxis und der partiellen Radikalisierung der Studenten gegenüberstanden, zeigt, dass man auf Fragen eines Praktischwerdens der Theorie auch in der Nachkriegszeit keine Antworten mehr gefunden hatte, die den gesellschaftlichen Entwicklungen eine dialektisch an Inhalten vermittelte, bestimmte Richtung hätten geben können. Die Kritische Theorie befand sich mit ihrer radikal vernunftskeptischen Kulturkritik in einer Sackgasse, aus der nur eine Änderung des Bezugsrahmens praktischer Rationalität sie wieder herausführen konnte, nämlich erst die von Habermas begrifflich wieder ins Spiel gebrachte Unterscheidung der beobachterperspektivisch-instrumentellen bzw. -funktionalistischen von einer teilnehmerperspektivisch-kommunikativen Vernunft.

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Jürgen Habermas’ Neubestimmung der Kritischen Theorie von den 60er- und 70er-Jahren bis hin zur Theorie des kommunikativen Handelns

Im ersten Kapitel dieser Untersuchung habe ich dargestellt, wie Habermas in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ (1968) eine Neubestimmung des Bezugsrahmens Kritischer Theorie auf Basis der Unterscheidung von »Arbeit und Interaktion« vornimmt, die einen Ausweg aus den Aporien eröffnen soll, in die sich die Entwürfe von Horkheimer, Adorno und Herbert Marcuse ab den 40er-Jahren verstrickt hatten (TWI 62). Die basalen Kategorien instrumenteller ›Arbeit‹ und symbolischer ›Interaktion‹ aus Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ hat Habermas später aufgegeben, da die in dieser Unterscheidung implizierte »Parallelisierung von Handlungssystemen und Handlungstypen […] zu Ungereimtheiten« führt, die darin bestehen, dass auch in Gesellschaftsbereichen, die gemäß dieser ursprünglichen Begriffskonzeption der ›Arbeit‹ zugerechnet werden müssen, Handlungen vom Typus kommunikativer ›Interaktion‹ auftreten – et vice versa (SÖ 35). Die »kurzschlüssige Parallelisierung von Handlungssystemen und Handlungstypen« vermeidend, übernimmt systematisch ab Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus die Perspektivendoppelung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive die Funktion einer Unterscheidung zwischen Handlungsorientierungen bzw. Einstellungen, während Habermas in Bezug auf evolutionär eigensinnig rationalisierte Handlungsbereiche, in denen jeweils eine Einstellung vorherrscht, aber eben nicht exklusiv gilt, fortan konzeptuell zwischen »System« und »Lebenswelt« trennt (SÖ 35 f.; LS 14). 242 Mit der Doppelung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive habe ich in dieser Arbeit durchgängig operiert, die System-Lebenswelt-Unterscheidung, die in den Legitimationsproblemen (1973) eingeführt wird und die insbesondere in der späteren Theorie des kommunikativen Handelns (1981) eine prominente Stellung einnimmt, dagegen nicht in eigener systematischer Absicht verwendet.

242 Vgl. auch Jürgen Habermas: »Entgegnung.« In: Honneth/Joas (Hrsg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen Habermas’ ›Theorie des kommunikativen Handelns‹ (Erweiterte und aktualisierte Ausgabe). Frankfurt a. M. 32002, S. 327–405. Hier: S. 378 f.

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Gegen Habermas’ System-Lebenswelt-Konzeption sind von verschiedenen Seiten Bedenken erhoben worden. Selbst Autoren wie Robin Celikates und Arnd Pollmann, die an die »habermassche Neujustierung« der Kritischen Theorie anschließen möchten, stellen fest, dass ausgerechnet der für die Theorie des kommunikativen Handelns so zentrale Terminus ›Lebenswelt‹ mit Unschärfen behaftet ist, da die »systematisch unterscheidbaren drei Dimensionen [der LebensweltKonzeption] ›implizites Hintergrundwissen‹, Objektbereich ›Alltagswelt‹ und ›symbolische Reproduktion‹ nicht immer in einem klaren Verhältnis zueinander stehen.« 243 Auf die konzeptionellen Schwierigkeiten der System-Lebenswelt-Unterscheidung werde ich im Kontext der Erläuterung des Verdinglichungstheorems einer »Kolonialisierung der Lebenswelt« zurückkommen, die in den drei Jahrzehnten seit der Erstpublikation immer wieder erneuerten und aktualisierten Einwände gegen Habermas’ Hauptwerk insgesamt jedoch nur kursorisch behandeln (TkH II, 522). Sie im Einzelnen anhand des Werkes nochmals einzuholen ist für die Sache der vorliegenden Arbeit systematisch nicht entscheidend. Es soll vielmehr der programmatische und – soweit ich sehe – innovative Versuch unternommen werden, aus einer Metaphernanalyse des Kolonialisierungstheorems weiterführende Einsichten betreffend textgestalterische Erfordernisse einer ihren Rezeptions- und Verwendungszusammenhang reflexiv antizipierenden Theorie zu gewinnen, die auch vor dem Hintergrund der heutigen gesellschaftlichen Situation noch anschlussfähig wäre. Hierfür ist nicht die vielkritisierte System-Lebenswelt-Konzeption, sondern die Unterscheidung zwischen Teilnehmer- und Beobachterperspektive wegweisend, die ich in meiner Thesenexposition unter Einbindung von Blumenbergs Metaphorologie in den theorieRobin Celikates/Arnd Pollmann: »Baustellen der Vernunft. 25 Jahre Theorie des kommunikativen Handelns – Zur Gegenwart eines Paradigmenwechsels«. In: WestEnd Jg. 3 (2006), H. 2, S. 97–113. Hier: S. 113; 106. Vgl. weiterhin die kritische Untersuchung von Habermas’ Anleihen bei der Systemtheorie von Thomas McCarthy: »Komplexität und Demokratie – die Versuchungen der Systemtheorie«. In: Honneth/Joas (Hrsg.): Kommunikatives Handeln, S. 177–215. Außerdem aus einer feministischen Perspektive die Kritik von Nancy Fraser, das für die System-LebensweltUnterscheidung paradigmatische Bild kommunikativen Handelns in der familiären Privatsphäre enthalte Idealisierungen, die das faktische Auftreten patriarchaler Machtstrukturen im häuslichen Bereich dem kritischen Blick des Theoretikers entzögen, vgl. Nancy Fraser: »Was ist kritisch an der Kritischen Theorie? Habermas und die Geschlechterfrage«. In: Dies.: Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht. Frankfurt a. M. 1994, S. 173–221.

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geschichtlichen Kontext einer Einheit von Theorie und Praxis metaphernreflexiv aufgeschlüsselt habe (s. o. S. 66 ff.). Die Perspektivendoppelung von Beobachter und Teilnehmer führt Habermas erstmals in den Legitimationsproblemen über die Explikation des sozialwissenschaftlichen Begriffs von »Systemkrise« ein, wie Marx ihn im 19. Jh. entwickelt hat (LS 9–19). Dabei reflektiert er den modernen Begriff von ›Krise‹ auf seine für die Perspektivendoppelung entscheidenden historischen und alltagssemantischen Voraussetzungen hin, weshalb sich speziell diesem begriffsstrategischen Zugang eine besondere Eignung für die Analyse metaphorischer Verschränkungen von Beobachter- und Teilnehmerperspektive an der Schnittstelle zwischen Experten- und Laiendiskurs zuschreiben lässt. Das werde ich zunächst (s. u. a.) anhand der Legitimationsprobleme näher erläutern, in denen Habermas nicht nur zwischen einer beobachter- und einer teilnehmerperspektivischen Dimension von ›Krise‹ differenziert, sondern den sozialwissenschaftlichen Begriff derselben außerdem zu unserem laienhaften Vorverständnis in Beziehung setzt. Während die teilnehmerperspektivisch diffus erlebte ›Krise‹ erst dadurch im Vollsinne zum Begriff kommt, dass ihre systemischen Ursachen von einer theoretisch orientierten ›Kritik‹ identifiziert werden, muss eine zwischen Experten und Laien vermittelnde kritische Praxis immer schon auf einen in dieser Weise gedoppelten Krisenbefund abzielen, um als ›Kritische Theorie‹ erfolgreich zu sein. Eine theoretische Fundierung der Kritik setzt die Krise also in gewissem Sinne bereits voraus, während letztere den handelnden Individuen überhaupt erst im Gang durch die Praxis des Kritisierens hindurch als systemisch induzierte Krise mit spezifisch alternativen Zukunftsverläufen zu Bewusstsein gebracht und einer gezielten Entscheidung zugeführt werden kann. Aufgrund des dialektischen Zusammenhangs mit ›Kritik‹ nimmt der Krisenbegriff eine Schlüsselstellung in Theorien vom Typus einer Einheit von Theorie und Praxis ein. Auf der Untersuchung von Vorarbeiten zu einem »sozialwissenschaftlich angemessene[n] Krisenbegriff« in den Legitimationsproblemen aufbauend (LS 13), werde ich dann (s. u. b.) zu einer Analyse von Habermas’ Pathologiediagnose in der Theorie des kommunikativen Handelns übergehen. Anders als in seiner früheren Schrift operiert er in seinem Hauptwerk mit dem Krisentheorem einer »Kolonialisierung der Lebenswelt« durch die Imperative der Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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verselbständigten gesellschaftlichen Subsysteme von Wirtschaftsund Staatsapparat, das auf der Folie von Herders Kritik am realgeschichtlichen Kolonialismus als eine ›Metapher‹ oder ›Analogie‹ gewertet werden kann (TkH II, 522). Die analogische Sprechweise beansprucht zwar zu Recht den wissenschaftlichen Status eines begrifflichen ›Grundbestands‹ bzw. einer »absolute[n] Metapher« im Blumenberg’schen Sinne, transportiert darüber hinaus jedoch – und das ist für den vorliegenden Zusammenhang entscheidend – auf der exoterischen Sprachebene den teilnehmerperspektivischen Mehrwert eines metaphorischen ›Restbestands‹ (PM 10). Indem Habermas die Ausweitung von Systemen zweckrationalen Handelns auf primär kommunikativ strukturierte Handlungsbereiche als »innere Kolonialisierung« bezeichnet, weist er schon durch seine Begriffswahl darauf hin, dass es sich hierbei um einen Vorgang handelt, der – analog zur ›äußeren‹ Kolonisation fremder Kontinente durch die Europäer – als ›illegitim‹ kritisiert werden kann, da er den sozialen Integrationsmodus der Lebenswelt in gesellschaftspathologischer Weise verletzt (TkH II, 523). Die Folgen der Verdinglichung durch ›Kolonialisierung‹ und ›kulturelle Verarmung‹ sind Sinnverlust, gesellschaftliche Anomie und persönliche Psychopathologien, mithin Phänomene, die zwar letztlich die systemintegrative Funktionalität einer Gesellschaft bestandskritisch gefährden können, in erster Linie aber Störungen im sozialintegrativen Zusammenleben von kommunikativ vergesellschafteten Individuen darstellen (vgl. TkH II, 215). Mit dem Kolonialisierungstheorem löst Habermas so die bereits in den Legitimationsproblemen formulierte Forderung ein, ein »sozialwissenschaftlich angemessener Krisenbegriff« müsse »den Zusammenhang von System- und Sozialintegration fassen« (LS 13). Meine in diesem Abschnitt zu erhärtende These lautet, dass allerdings die Art, wie Habermas die Metapher einer ›Kolonialisierung‹ der Lebenswelt in der Theorie des kommunikativen Handelns einsetzt, gegenüber der diskurseröffnenden Wirkung von Herders Kritik am Kolonialismus zurückbleibt, da er darauf verzichtet, seine Pathologiediagnose kritisch-appellativ für die Überwindung zeitgenössisch-konkreter Krisen fruchtbar zu machen. Bacon hatte seine biblizistisch verschleierte Aufforderung zur Etablierung einer Expertenkultur an einer Krise der zeitgenössischen Wissenschaften (s. o. Kap. II), Herder seinen mit organismischen Krankheitsmetaphern operierenden Appell zur gesellschaftlichen Umkehr an den akuten Widersprüchen zwischen dem Selbstverständnis und der Handlungs288

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weise der Aufklärer festgemacht (s. o. Kap. III). Wenn man sich dagegen vor Augen führt, welche niederschmetternden Auswirkungen der realgeschichtliche Kolonialismus, den Habermas als Metapher ins Feld führt, auf den gesellschaftlichen Zustand und das kulturelle Selbstverständnis selbst noch der dekolonisierten außereuropäischen Zivilisationen unserer Zeit hat, muss der metaphorische Gehalt der Diagnose einer ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ jeden Rezipienten der Theorie eher ernüchtern und entmutigen, anstatt ihn zum aktiven Mithandeln auf eine bessere Zukunft hin zu ermuntern. Habermas hat in Faktizität und Geltung (1998) später selbst rückblickend betont, dass im Falle der drohenden Selbstvernichtung der Menschheit durch die militärische Nutzung der Atomenergie während des Kalten Krieges die Entstehung eines »Krisenbewußtsein[s] an der Peripherie« der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit dazu geführt hat, »den Problemlösungsmodus des ganzen Systems zu verändern«, indem die kaum vorherzusehende Initiative einer relativ kleinen Avantgarde von Umweltaktivisten und Atomgegnern zur Folge hatte, dass sich langfristig ein generelleres und über die Generierung »kommunikativer Macht« dann eben auch politisch wirksames ökologisches Krisenbewusstsein in der breiteren Öffentlichkeit etablieren konnte (FG 186 ff.; 458–464). In der Zeit nach dem Erscheinen der Theorie des kommunikativen Handelns ermöglichte insbesondere – wofür ich hier argumentieren werde – die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl ein solches Moment »krisenabhängiger Mobilisierung«, indem sie in der BRD die gesamtgesellschaftliche Durchsetzung der Ökologiebewegung, in der DDR die zivilgesellschaftliche Sensibilisierung für Umweltfragen und in der UdSSR den weiteren Fortgang der gerade begonnenen Glasnost katalysierte (FG 462). Vor dem Hintergrund, dass Habermas in den Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus noch selbst zeitdiagnostisch auf die kapitalistischen Folgeprobleme einer akut drohenden ökologischen Krise und die »Gefahren der Selbstzerstörung des Weltsystems durch Anwendung thermonuklearer Waffen« hingewiesen hat, wäre zu fragen (s. u. c.), ob rückblickend nicht auch die Pathologiediagnose der Theorie des kommunikativen Handelns einen metaphorisch-teilnehmerperspektivischen Appell hätte enthalten müssen, der das relativ abstrakte und in seinem faktischen Ertrag eher ernüchternde Kolonialisierungstheorem mit der Analyse vordergründigerer Krisenphänomene der zeitgenössischen Gesellschaftsformation unter Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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dem ideologiekritischen Hinweis verbindet, dass wir die Entscheidung über »den höchst ambivalenten Gehalt der kulturellen und gesellschaftlichen Moderne« – zumindest zum Teil – noch selbst in der Hand haben (LS 61–63; 65 f.; DM 312). Da jede wissenschaftliche Theorie unter dem Vorbehalt des Fallibilismus steht, hätte eine solche Aufforderung zum Handeln selbst unter den kontrafaktischen Bedingungen ihrer gesellschaftstheoretisch augenscheinlichen Aussichtslosigkeit die Integrität der Theorie nicht tangiert, solange der Appell sich auf einer von der Beobachterperspektive methodisch kontrolliert unterschiedenen metaphorischen Ebene bewegt hätte; einer Ebene, die in Habermas’ Verwendung der Kolonialisierungsmetapher – wenngleich unter teilnehmerperspektivisch deutlich ernüchternden Vorzeichen – ohnehin bereits angelegt ist.

a.) ›Kritik‹ und ›Krise‹ in der Doppelperspektive von Beobachter und Teilnehmer Habermas’ Erläuterung des sozialwissenschaftlichen Krisenbegriffs in den Legitimationsproblemen führt über drei begriffsgeschichtliche Vorstufen, die ich hier zunächst im Einzelnen näher erläutern möchte, da die historischen Durchgangsstadien des Krisenbegriffs zugleich die gängigsten Metaphernfelder umreißen, auf deren Boden sich sozialwissenschaftliche Krisendiagnosen traditionell bewegen (α.). Unter reflexiver Aufnahme dieses begriffsgeschichtlich angelegten und metaphorologisch gestützten Exkurses werde ich dann auf Habermas’ eigene systematische Inanspruchnahme des Krisenbegriffs eingehen, deren Potential zur exoterischen Anknüpfung an gesellschaftliche Diskurse der 70er- und 80er-Jahre von Faktizität und Geltung aus rückblickend analysiert werden kann (β.). α.) Zur Semantik des sozialwissenschaftlichen Krisenbegriffs in den Legitimationsproblemen In den Legitimationsproblemen werden (1) ein vorwissenschaftlichmedizinischer, (2) ein dramaturgischer und (3) ein heilsgeschichtlicher Begriff von ›Krise‹ genannt, die unter alltagssemantischen und begriffsgeschichtlichen Gesichtspunkten als Voraussetzungen eines sozialwissenschaftlichen Krisenbegriffs betrachtet werden können. 290

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All diese Krisenbegriffe zeichnen sich durch die Verbindung einer (i) beobachterperspektivischen mit einer (ii) teilnehmerperspektivischen Dimension aus und konnten als Krisenmetaphern in Theorien vom Typus einer Einheit von Theorie und Praxis eine argumentativappellative Doppelfunktion entfalten. Während Bacon sich mit der Metapher einer gedoppelten Lesbarkeit der Welt in erster Linie am heilsgeschichtlichen Krisenbegriff orientiert, wie er in den apokalyptischen Prophezeiungen des Johannes-Evangeliums vorliegt, operiert Herder sowohl mit medizinischen Krisenmetaphern als auch mit dramaturgischen Analogien, um angesichts diagnostizierter Widersprüche der zeitgenössischen Gesellschaftsformation zum Handeln aufzurufen. Diese Beobachtung stellt im Folgenden den Zusammenhang her zwischen Habermas’ Exposition eines sozialwissenschaftlich tragfähigen Krisenbegriffs und den Analysen der vorangegangenen Kapitel. 1) In den Legitimationsproblemen wird zunächst der vorwissenschaftliche Krisenbegriff erörtert, wie er uns heute alltagssprachlich aus dem »medizinischen Sprachgebrauch« vertraut ist (LS 9). Im Blick auf Krankheitsprozesse meint ›Krise‹ die Phase, in der eine Entscheidung über die Verbesserung oder Verschlechterung des Gesundheitszustandes eines Patienten noch nicht gefallen ist. Die (i) beobachterperspektivischen Aspekte des Begriffs lassen sich theoretisch wie folgt von den (ii) teilnehmerperspektivischen abgrenzen: i) Die medizinische Krise kann objektiv festgestellt werden, indem der Patient als ein Organismus aufgefasst wird, der – beispielweise im Falle einer Infektion – seinen biologischen Bestand durch die Aktivierung der körpereigenen Immunabwehr zu erhalten versucht: »die Abweichungen des betroffenen Organismus von seinem Normalzustand des Gesunden kann beobachtet und mit Hilfe empirischer Parameter gemessen werden.« (LS 9) Die beobachtende Einstellung, in der ein Mensch als physiologisches Stoffwechselsystem thematisiert wird, unterscheidet sich nicht prinzipiell vom objektivierenden Zugang zur Physiologie anderer Lebewesen oder der systemischen Betrachtung technischer Funktionskreisläufe. ii) Wir würden allerdings, sobald es »medizinisch um Leben und Tod geht, nicht von einer Krise sprechen, […] wenn der Patient nicht in diesen Vorgang mit seiner ganzen Subjektivität verstrickt wäre.« (Ebd.) Unser vorwissenschaftliches Verständnis des Krisenbegriffs – aber auch dasjenige eines behandelnden Arztes, der in der Patientenkonsultation als Experte die Befindlichkeitsäußerungen seines GeZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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genübers interpretiert und diese anschließend in Begriffe medizinisch beobachtbarer Zusammenhänge übersetzt – zehrt also bereits von der gedoppelten Perspektive auf eine als objektiv erfahrene Gewalt, die eine Person subjektiv in Mitleidenschaft zieht. Aufgrund ihrer immer auch teilnehmerperspektivischen Dimension ist die medizinische Krise »nicht von der Innenansicht dessen zu lösen, der ihr ausgeliefert ist: der Patient erfährt seine Ohnmacht gegenüber der Objektivität der Krankheit nur, weil er ein zur Passivität verurteiltes Subjekt ist, dem zeitweise die Möglichkeit genommen ist, als Subjekt im vollen Besitze seiner Kräfte zu sein.« (LS 9) Ein streng wissenschaftlicher bzw. systemischer Begriff der ›Krise‹ verhält sich zu diesem Alltagsbegriff insofern parasitär, als eine systemische Betrachtung die objektive Seite von Krisenphänomenen aus ihrer sprachlichen Verstrickung in subjektive Mitleidenschaft löst, um sie einer definitorisch eindeutigen Fixierung zuzuführen. Ein solcher Begriff von ›Krise‹ ist eine ›absolute Metapher‹ im Blumenberg’schen Sinne der gezielten definitorischen Ausschaltung des metaphorischen Hintergrundrauschens etwaiger historisch-semantischer oder alltagssprachlicher »Restbestände« (PM 10). Ein dergestalt terminologisch fixierter Begriff mag zwar die teilnehmerperspektivischen Implikationen des vorwissenschaftlichen Krisenbegriffs vermissen lassen, ist zugleich jedoch erheblich präziser, da objektive Krisenbefunde sich intersubjektiv-empirisch ausweisen lassen, während das bloß subjektive Krisenerleben einer vergleichsweise hohen Täuschungswahrscheinlichkeit unterworfen ist. Da der alltagssprachliche Krisenbegriff zwischen den beiden Momenten von ›Krise‹ terminologisch so gut wie nicht trennt, ist er zu sozialwissenschaftlichen Zwecken nicht unmittelbar brauchbar. Zugleich bleibt allerdings ein strikt systemischer Krisenbegriff in gesellschaftskritischer Hinsicht unbefriedigend, da er zu begrifflichen Engführungen zwingt, die es nicht mehr gestatten, der teilnehmerperspektivischen Dimension von Krisenphänomenen gerecht zu werden. Die Übertragung des medizinischen Krisenbegriffs von organischen auf gesellschaftliche Vorgänge hat eine lange Tradition, die bis ins 17. Jh. zurückreicht. 244 Wenn Herder sich in Auch eine Philosophie der Geschichte auf Krankheitsmetaphern stützt, um seine Leser 244 Vgl. Koselleck: »Krise«. Analogien zwischen Medizin und der gesellschaftlichen Aufgabe des wahren Staatsmanns finden sich indes schon bei Platon (vgl. etwa: Gorgias 521a–522e).

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zum Handeln aufzurufen, dann bewegt er sich in genau dieser okzidentalen Traditionslinie: »[I]m Todesschweiße aber mit Opium träumen: warum den Kranken stören, ohne daß man ihm hilft?« (AP 82). Die Analogisierung zu körperlichen ›Pathologien‹ überträgt die im medizinischen Krankheitsbegriff vorwissenschaftlich bereits implizierte Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive auf gesellschaftliche Verhältnisse und soll so selbst dem wissenschaftlich ungebildeten Zeitgenossen klarmachen, dass eine ›kurierende‹ Aufhebung der bislang bloß ›sedativ‹ aufgeschobenen Krisensituation objektiv möglich und zugleich moralisch geboten ist. Mittels der Verwendung medizinischer Metaphern signalisiert Herder also ein Selbstverständigungsinteresse, das auf eine Beseitigung der gesellschaftlichen Krise durch Initiierung eines öffentlichen Diskurses abzielt. 2) Auch der dramaturgische Krisenbegriff wird von Herder zu diesem Zweck in Anspruch genommen, wenn er darauf hinweist, dass es auf der großen ›Bühne‹ der Weltgeschichte auf das Handeln jedes Einzelnen ankommt, selbst wenn das gespielte ›Stück‹ nur einem gedachten Beobachter in Gänze vor Augen steht: »Bedachte endlich nicht […], daß […] alle Szenen noch etwa ein Ganzes, eine Hauptvorstellung machen können, von der freilich der einzelne, eigennützige Spieler nichts wissen und sehen, die aber der Zuschauer im rechten Gesichtspunkte und in ruhiger Abwartung des Folgeganzen wohl sehen könnte.« (AP 83 f.) Das Spannungsverhältnis zwischen Beobachter- und Teilnehmerperspektive ergibt sich hier aus der Kontrastierung von (i) beobachtendem ›Publikum‹ und (ii) beteiligtem ›Schauspieler‹, wobei Herders Metaphernverwendung darauf abzielt, dem Rezipienten von Auch eine Philosophie der Geschichte sowohl die nur eingeschränkte Möglichkeit einer vollgültigen Beobachterperspektive als auch die eigene, subjektive Verwicklung in einen objektiven Krisenzusammenhang ins Bewusstsein zu rufen. Die ›Krise‹ in ihrem dramaturgischen Begriff umschreibt Habermas als »den Wendepunkt eines schicksalhaften Prozesses, der bei aller Objektivität nicht einfach von außen hereinbricht, noch der Identität der in ihm befangenen Personen äußerlich bleibt«, sondern »in der Struktur des Handlungssystems und in den Persönlichkeitssystemen der Helden selbst angelegt« ist (LS 10). In diesem Sinne fordert Herder den einzelnen Zeitgenossen metaphorisch dazu auf, am »Wendepunkt eines schicksalhaften Prozesses« (Habermas) aus eigenen Möglichkeiten heraus so zu handeln, als ob er selbst der vor eine Wahl gestellte Held Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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im Drama des menschheitsgeschichtlichen Aufklärungsprozesses wäre, der eine bewusst dirigierende Lösung für die krisenhafte Situation herbeiführen kann (ebd.). Dem dramaturgischen Krisenbegriff als entscheidender ›Wendepunkt‹ und ›Glückswechsel‹ bzw. »Peripetie« im aristotelischen Sinne ist auch der Begriff der ›Katastrophe‹ zuzurechnen, den wir heute zur wissenschaftlichen wie alltagssprachlichen Bezeichnung akuter Krisenphänomene verwenden. 245 Olaf Briese und Timo Günther haben nachgezeichnet, wie der Katastrophenbegriff – über seine Verwendung in Dramen des 5. Jh. v. Chr., wo er eine »Verkehrung des Rechts« anzeigte –, mit der Zeit auch in die Dramentheorie Eingang fand: »›Katastrophe‹ wurde […], vermittelt über bestimmte römische Poetiken, seit der Renaissance ein ästhetischer, dramentheoretischer terminus technicus, der im regelpoetischen Sinn formal Handlungsabläufe fixierte, genauer: den des letzten Teils eines Dramas […].« 246 Aufschlussreich ist diese begriffliche Herkunft des dramatischen Krisenbegriffs ›Katastrophe‹ deshalb, weil in technikkatastrophalen Zusammenhängen bis heute die ›dramaturgische‹ Rekonstruktion der unglücklichen Verkettung persönlicher Bedienfehler von Operateuren mit system- und umweltbedingten Störungen ein entscheidendes Mittel darstellt, wenn es um die narrative Erklärung von Abläufen geht, die zu einem gravierenden Störfall geführt haben. Unser moderner Katastrophenbegriff ist in dieser Hinsicht kein bloß metaphorisches Rudiment einer dramentheoretischen Vorgeschichte, sondern erfüllt auch eine praktisch-heuristische und erkenntnisleitende Brückenfunktion zum Verständnis des strukturellen Zusammenspiels von Handlungs- und Persönlichkeitssystemen im Falle konkreter Katastrophen. Der »Widerspruch«, der sich – so Habermas – im dramaturgischen Krisenbegriff »in der katastrophischen Zuspitzung eines Handlungskonfliktes ausdrückt«, hat seine Entsprechung in der Beschreibung von Krisen der technologischen Kontrolle von Umweltverhältnissen (LS 10). Das gilt insofern, als die in Realtechnologie institutionalisierten Handlungsroutinen und Mechanismen von Fall zu Fall in Widerspruch treten können zu den Umweltverhältnissen, 245 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch (übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann). Stuttgart 2001, S. 35 (Kap. 11). 246 Zur Begriffsgeschichte von ›Katastrophe‹ vgl. Olaf Briese/Timo Günther: »Katastrophe. Terminologische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft«. In: Bermes/Diese/Erler (Hrsg.): Archiv für Begriffsgeschichte, Bd. 51 (2009), S. 155–195. Hier: S. 159; 161.

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die mit ihrer Hilfe eigentlich instrumentalisiert werden sollen, so dass es zur ›Katastrophe‹, d. h. zu einer ›Wendung zum Schlechten‹ kommt, die sich (i) objektiv als Kollaps eines technischen Funktionskreises beobachten lässt und von der wir zugleich (ii) subjektiv affiziert sind. Dem modernen Verständnis des Katastrophenbegriffs ist über die Implikation einer teilnehmerperspektivischen Dimension dergestalt in nuce bereits das handlungsaktivierende Signal eingebaut, dass von einem krisenhaften Ereignis die Rede ist, dessen zukünftige Wiederholung es zu verhindern gilt, sofern sich reale Möglichkeiten hierzu angeben lassen. 3) Dem heilsgeschichtlichen Krisenbegriff, den Habermas in den Legitimationsproblemen nur knapp schildert, hat er in Theorie und Praxis (1963) eine ausführlichere Erörterung gewidmet (vgl. LS 10; TP 244 ff.). Sie bildet dort den Ausgangspunkt einer Erläuterung des »wissenschaftstheoretisch eigentümlichen Typus« der marxistischen Theorie als einer »explizit in politischer Absicht entworfenen, dabei wissenschaftlich falsifizierbaren Geschichtsphilosophie«, wie bereits der frühe Horkheimer sie methodisch reflektiert und als ›kritische Theorie‹ im Gegensatz zur ›traditionellen‹ auf den Begriff gebracht hat (TP 244). Im Johannes-Evangelium meint Krisis den »heilsgeschichtlichen Prozess der Scheidung des Guten vom Bösen«: »Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht (κρίσις), sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.« 247 Auch hier lassen sich in nuce bereits eine beobachter- und eine teilnehmerperspektivische Dimension von ›Krise‹ ausmachen: Während (i) der Vorstellung vom Ende der »Weltzeit« ein objektiver Sinn anhaftet, der seinen Ausdruck im abschließenden Richterspruch Gottes über seine gesamte Schöpfung findet, ist im Vorblick auf dieses Ereignis zugleich (ii) jeder Einzelne zu seiner »Lebenszeit« dazu aufgefordert, durch ein moralisches Handeln gemäß göttlichen Geboten die Sicherung seines persönlichen Seelenheils zu gewährleisten. 248 Mit dem französischen Kirchenhistoriker Jean Delumeau lassen sich schon an historischen Texten und Bildnissen des Mittelalters motivische Vorentscheidungen konstatieren, je nachdem, ob ein Autor tendenziell eher den beobachter- oder den teilnehmerperspektiviTP 245; Joh. 5, 24; vgl. Koselleck: »Krise«. S. 1236. Hans Blumenberg: Lebenszeit und Weltzeit. Vgl. darin auch »Apokalypse und Paradies«, S. 71–80.

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schen Sinn des heilsgeschichtlichen Krisenbegriffs mobilisieren wollte. Delumeau legt in seinem Werk Angst im Abendland dar, dass sich zwei verschiedene Lesarten der apokalyptischen Prophezeiungen unterscheiden lassen: »Die eine stellt das Versprechen eines Jahrtausends des Glücks, die andere das Jüngste Gericht in den Mittelpunkt.« 249 Die Verheißung eines ›Millenniums‹ des Glücks, das dem eigentlichen Ende der Welt vorausgehen sollte, ist eng mit dem Namen Joachims von Fiore († 1202) und seiner geschichtsteleologischen Lehre von drei aufeinander folgenden Zeitaltern der Menschheitsgeschichte (sc. des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes) verbunden, war jedoch auch im England des 16.–17. Jh. noch lebendige Tradition, an die Francis Bacon daher umstandslos anknüpfen konnte. 250 Die andere, dunklere Lesart der apokalyptischen Schriften bildet hierzu den Gegenpol, wobei die pessimistische Version der Eschatologie, die »das Bevorstehen eines letzten Gerichts verkündete, vor allem von jenen Kirchenmännern verbreitet wurde, denen die pastorale Sorge am Herzen lag.« 251 Während also die »Vorstellung von einem Millennium […] im Abendland […] materialistische, fast nicht mehr christliche Züge« annahm, entfalteten die über »Predigten, religiöses Theater, Kirchenlieder« etc. verbreiteten Bedrohungsszenarien den stärker teilnehmerperspektivischen und pädagogischen Sinn, »die Christen wieder auf den rechten Weg zu bringen«. 252 Vor diesem kultur- und motivgeschichtlichen Hintergrund scheint es nur folgerichtig, wenn Bacon, dem es um das gesellschaftspolitische Großunternehmen einer (i) beobachterperspektivisch-empiristischen Neuorientierung der Wissenschaftspraxis zu tun ist, an die eher optimistische Deutung der Apokalypse anknüpft, während Herder, für den nach eigenem Bekunden die (ii) teilnehmerperspektivisch-ethische »Seelensorge [s]eines Amts« die maßgebliche Triebfeder darstellt, in appellativer Absicht ein relativ düsteres Bild der Zukunft malt, um jeden Einzelnen seiner Zeitgenossen ganz individuell zum aktiven Mithandeln aus eigenen Gewissensgründen zu bewegen (JR 38). Durch Bacon hindurch und nach »Andeutungen schon bei Rousseau« nimmt schließlich im 19. Jh. bei Marx die ›Kritik‹ ihren Bezug

249 Jean Delumeau: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14.–18. Jahrhunderts. 2 Bde.. Reinbeck bei Hamburg 1985, Bd. 2, S. 314. 250 Vgl. ebd., S. 315 f. 251 Ebd., S. 320. 252 Ebd., S. 318 f.; 330; 320.

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zur ›Krise‹ aus dem heilsgeschichtlichen Krisenbegriff im Sinne einer apokalyptischen Entscheidung über »Verdammnis« oder »Erlösung« wieder auf (TP 244 f.). 253 Vor Marx hatte der von Herder in Radikalisierung Rousseaus eröffnete Metadiskurs über Geschichte bereits den Blick weg von der Theodizee auf gesellschaftliche Fragen öffentlicher Deliberation umgelenkt. Erst mit den akuten »Wirtschaftskrisen des 19. Jahrhunderts« jedoch – so Habermas –, »tritt der subjektivierten Kritik die Krisis als ein objektiver Zusammenhang« der widerspruchsvollen Entfaltung der Produktivkräfte entgegen (TP 245). Der ungewisse Ausgang solcher Krisen unterscheidet sich kategorial insofern von eschatologischen Aussichten auf ein horizonthaft allemal feststehendes Weltende, als die Objektivität von Krisenprozessen nun selber reflexiv wird, wodurch sich die kritische Entscheidung endgültig vom Jenseits des Jüngsten Gerichts ins Diesseits politischökonomischen Handelns verlagert. Nicht mehr die Abgeschlossenheit der Weltgeschichte wird hier behauptet, sondern gerade deren Offenheit für menschliches Handeln auf eine noch ungeschriebene Zukunft hin, deren alternative Verläufe sich – wie es im Manifest der Kommunistischen Partei (1848) heißt – zwischen den Extremen einer »revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft« und dem »gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen« entspannen (MEW 4, 462). Der im Briefwechsel zwischen Rousseau und Voltaire anlässlich des Erdbebens von Lissabon 1755 ausgetragene Theodizeediskurs ist bei Marx und Engels endgültig in die Frage nach Zukunftshorizonten menschlichen Handelns angesichts einer krisenhaften Entwicklung des zeitgenössischen kapitalistischen Wachstums übergegangen, wie Habermas feststellt:

253 Vgl. Koselleck: »Krise«. S. 1235. Anders als der auch von Habermas in diesem Zusammenhang zitierte Karl Löwith annimmt, wäre es allerdings verfehlt, hieraus den Schluss zu ziehen, die »wirklich treibende Kraft« hinter der ökonomischen Krisentheorie sei »ein offenkundiger Messianismus, der unbewußt in Marx’ eigenem Sein« wurzelt (Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. Stuttgart 1953, S. 48). Blumenberg hat auf die Gefahr hingewiesen, in der Formelverwendung eines Autors »defensive Argumentation und verschließende Motivation zu verwechseln« und so das vorwärtstreibende Moment innovativer Metaphernverwendung fälschlich als Rückfall in eine geschichtlich bereits überholte Tradition zu identifizieren (Hans Blumenberg: Geistesgeschichte der Technik. S. 27). Dieser Gefahr hat Löwith offenbar reflexiv kaum Rechnung getragen, so dass er die Möglichkeit, Marx könnte sich traditioneller Motive in bewusst progressiver Absicht bedient haben, nicht überzeugend ausschließen kann.

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[E]rst als […] die Wehen des Industriekapitalismus das Erdbeben von Lissabon vergessen machten […], tritt der Kritik die Krisis als ein objektiver Zusammenhang […] entgegen. Das eschatologische Krisenbewußtsein kommt zum historischen Bewußtsein seiner selbst. Die Kritik wird nun in Gang gebracht durch das praktische Interesse an einer Entscheidung des Krisenprozesses zum Guten. Sie kann sich mithin nicht theoretisch aus sich begründen. Ja, weil der zur Welt als Krise universalisierte Krisenzusammenhang keinen transmundanen Standort reiner Erkenntnis außer sich zulässt; weil der Richter vielmehr in diesen Rechtsstreit ebenso verwickelt wie der Arzt von dieser Krankheit selber ergriffen ist, wird sich die Kritik ihrer eigentümlichen Verwicklung in den Gegenstand bewußt. […] Weil die weltgeschichtlich gewordene Krise jede bloß subjektive Kritik überbietet, verlagert sich die Entscheidung so in die Praxis hinein, daß erst mit deren Gelingen Kritik selber wahr werden kann. (TP 245)

Habermas macht an dieser Stelle selber vom metaphorischen Gehalt geschichtlich gewordener Krisenbegriffe Gebrauch, wenn er die von Marx zu seiner Zeit entschlüsselten Wirtschaftskrisen unter transitiver Inanspruchnahme medizinischer und heilsgeschichtlicher Anleihen auf die Formel einer innigen Verflechtung von objektiv-ökonomischem Krisenzusammenhang und subjektiv-ideologiekritischer Praxis bringt. Der sozialwissenschaftliche »Begriff von Systemkrise« ist damit allerdings zunächst bloß vorläufig angezeigt (LS 10). Wie Habermas in den Legitimationsproblemen einen »sozialwissenschaftlich brauchbaren Krisenbegriff systematisch« einführt, sei im Folgenden erörtert (LS 11). β.) Objektive Möglichkeiten Kritischer Theorie in den 70er- und 80erJahren im Rückblick von Faktizität und Geltung Die systematische Explikation des Krisenbegriffs in den Legitimationsproblemen setzt – anders als man es nach Habermas’ begriffsgeschichtlicher Einführung vielleicht erwarten würde – nicht bei der Marx-Engels’schen Krisentheorie, sondern bei einem »systemtheoretisch gefaßte[n] Krisenbegriff« an: »Krisen entstehen, wenn die Struktur eines Gesellschaftssystems weniger Möglichkeiten der Problemlösung zuläßt, als zur Bestandserhaltung des Systems in Anspruch genommen werden müßten. In diesem Sinne sind Krisen anhaltende Störungen der Systemintegration.« (LS 11) Dieser Definition zufolge entstehen soziale Krisen genau dann, wenn eine Ge298

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sellschaft mit Umweltbedingungen konfrontiert wird, die Steuerungsprobleme verursachen, zu deren Bewältigung ihr die selbstorganisatorisch erforderlichen Anpassungsmittel unmittelbar nicht zur Verfügung stehen. Habermas bestreitet nicht die grundsätzliche Berechtigung dieses systemtheoretischen Krisenbegriffs, kritisiert jedoch dessen begrenzte Reichweite, der Teilnehmerperspektive handelnder Individuen nicht Rechnung tragen zu können: »Erst wenn die Gesellschaftsmitglieder Strukturwandlungen als bestandskritisch erfahren und ihre soziale Identität bedroht fühlen, können wir von Krisen sprechen.« (LS 12) Eine den Diskurs offenhaltende Beteiligung von sozialwissenschaftlichen Laien am gesellschaftlichen Selbstverständigungsprozess als einem bewussten Sich-Verhalten zu objektiven Möglichkeiten setzt eine kritische Vermittlung systemischer Krisenbefunde (i) mit dem subjektiven Krisenerleben von Gesellschaftsmitgliedern (ii) voraus (s. o. α.). Eine kritische Theorie, die dem objektiven Wahrheitsmoment einer systemischen Beobachterperspektive Rechnung tragen will, steht damit vor der Herausforderung, dass einerseits Steuerungsprobleme, wie sie systemtheoretisch analysiert und wissenschaftsesoterisch versprachlicht werden, der überwiegenden Zahl der Mitglieder einer Gesellschaft als »den handelnden Subjekten meistens nicht bewusst« sind, während andererseits die von Gesellschaftsmitgliedern alltagssprachlich als krisenhaft artikulierten Konflikte sich auf einer teilnehmerperspektivisch-kommunikativen Ebene bewegen, die dem Blick eines in der Beobachterperspektive verharrenden Systemtheoretikers entzogen bleibt (LS 13): Wenn wir ein soziales System als Lebenswelt auffassen, dann wird der Steuerungsaspekt ausgeblendet; verstehen wir eine Gesellschaft als System, so bleibt der Geltungsaspekt, also der Umstand, daß die soziale Wirklichkeit in der Faktizität anerkannter, oft kontrafaktischer Geltungsaspekte besteht, unberücksichtigt. (LS 15)

Nicht die logischen Widersprüche unvereinbarer Systemimperative spätkapitalistischer Gesellschaften treten in den Fokus öffentlich deliberierender Laien, sondern die sich aus solchen »Steuerungsprobleme[n]« ergebenden »Folgeprobleme, die sich auf ihr Bewußtsein in spezifischer Weise auswirken – eben so, daß die soziale Integration gefährdet ist.« (LS 13) Der kritische Sozialtheoretiker muss sein ebenso beobachterperspektivisch informiertes wie teilnehmerperspektivisch interessiertes Forschungsunternehmen daher zunächst Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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an die von Laien wahrgenommenen Folgeprobleme als den – mit Marx gesprochen – »wirkliche[n] Kämpfe[n]« der Gesellschaft anknüpfen und diese Kämpfe dann in einem zweiten, übersetzenden Schritt mit systemisch tieferliegenden Steuerungsproblemen identifizieren, um einen Diskurs über Möglichkeitshorizonte des weder ausschließlich systemisch noch allein alltagssprachlich angemessen beschreibbaren Zusammenhangs zwischen objektiver Systemkrise und sozialintegrativen Krisenphänomenen zu eröffnen (MEW 1, 345). Wie ich zeigen möchte, lässt sich anhand der Legitimationsprobleme zumindest die Scharnierstelle einer Kritik freilegen, welche die teilnehmer- und beobachterperspektivischen Aspekte der Krise über Metaphern so miteinander verzahnt, dass ein esoterisch-exoterisch gedoppelter Aufklärungseffekt erzielt wird. Als ein empirisches Beispiel für Folgeprobleme spätkapitalistischen Wachstums wird dort – neben der sozialtechnisch evozierten »Verletzung von Konsistenzforderungen des Persönlichkeitssystems (Entfremdung)« und der militärtechnologisch potentiell »explosive[n] Belastung internationaler Beziehungen« –, die durch ziviltechnische Fortschritte und gesteigerte Produktivkraftentfaltung hervorgerufene »Störung des ökologischen Gleichgewichts« genannt (LS 61). Unter der Überschrift »Die ökologische Balance« nimmt Habermas auf den im Vorjahr des Erscheinens der Legitimationsprobleme unter großer Beachtung der Weltöffentlichkeit publizierten und in der Folge immer wieder kontrovers diskutierten Bericht des Club of Rome zur Entwicklung der Weltwirtschaft Bezug. 254 Der zum Schlagwort avancierte Titel dieses Berichts, Die Grenzen des Wachstums, gehört bis heute zum Standardvokabular des interdisziplinären Ökologiediskurses. Er formuliert eine menschheitsgeschichtlich singuläre ökologische Problemlage, die sich im Laufe von zwei Jahrhunderten aus der bestimmten Weise einer technologischen Kontrolle von Umweltverhältnissen ergeben hat, wie sie mit der industriellen Revolution kapitalistisch etabliert worden ist. Die ökologische Krise muss deshalb jedoch noch nicht zwingend als Argument gegen jede mögliche Form einer kapitalistischen Wirtschaftsweise verstanden werden. Wie Habermas feststellt, sind zeitgenössische Gefährdungen der ökologischen Balance angesichts »endliche[r] Ressourcen« und unter Bedingungen »nicht ersetzbare[r] ökologische[r] Systeme« zwar durch die faktisch existierenden kapitalistischen Gesellschaften 254

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Vgl. LS 61–65 und D. Meadows/H. Meadows/u. a.: Die Grenzen des Wachstums.

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hervorgerufen worden, gelten als zukünftig zu lösende Probleme jedoch »unspezifisch für alle komplexen Gesellschaftssysteme«, womit prima facie nicht ausgeschlossen ist, dass möglicherweise auch eine ökologisch gewandelte kapitalistische Gesellschaft diese Probleme am besten lösen könnte (LS 62 f.). So ist es bis heute Gegenstand anhaltender Kontroversen, ob Modelle eines ›Grünen Wachstums‹ bzw. einer »öko-industriellen Revolution«, in der die Entwicklung und Produktion von Nachhaltigkeitstechnologien die Rolle eines Wachstumsmarktes einnimmt, nicht eine langfristige Lösung für ökologische Problemlagen diesseits des Kapitalismus bietet, die ein Denken in gesellschaftlich ungleich aufwendigeren Systemalternativen jenseits desselben überflüssig macht. 255 Habermas, der solche Diskurse in den Legitimationsproblemen mit einem Hinweis auf die Ungewissheit kommender technologischer Entwicklungen bis zu einem gewissen Grade antizipiert, liefert allerdings ein Argument, das zwischen teilnehmerperspektivisch wahrgenommenen ökologischen Folgeproblemen und systemspezifisch kapitalistischen Steuerungsproblemen einen Zusammenhang herstellt, der geeignet ist, Lösungen eines ›Grünen Wachstums‹ bereits auf einer prinzipientheoretischen Grundlagenebene als illusorisch zu entlarven: Kapitalistische Gesellschaften können Imperativen der Wachstumsbegrenzung ohne Preisgabe ihres Organisationsprinzips nicht folgen, weil die Umstellung vom naturwüchsigen kapitalistischen Wachstum auf qualitatives Wachstum eine gebrauchswertorientierte Planung der Produktion verlangt. Die Produktivkraftentfaltung kann von Imperativen der Tauschwerterzeugung jedenfalls nicht ohne Verstoß gegen die Systemlogik abgekoppelt werden. (LS 63)

255 John Bellamy Foster: Die ökologische Revolution. Frieden zwischen Mensch und Natur. Hamburg 2014, S. 14. Zur Kontroverse, die hier nicht dargestellt werden kann und in der Foster selbst die Rolle eines Kritikers von Konzepten eines ›Green Growth‹ einnimmt, vgl. ebd., S. 13–44. Vgl. außerdem die Untersuchung verschiedener direkter und indirekter »Rebound-Effekte« (d. h. der »Mehrnachfrage durch Produktivitätssteigerung«, die daraus entsteht, dass etwa sparsamere PKWs häufiger genutzt oder das eingesparte Geld für andere Produkte ausgegeben wird) durch Tilman Santarius: »Der Rebound-Effekt: Die Illusion des grünen Wachstums.« In: Blätter Verlagsgesellschaft mBH (Hrsg.): Mehr geht nicht! Der Postwachstums-Reader. Berlin 22017, S. 167–174. Hier: S. 168; und Ders.: Der Rebound-Effekt. Über die unerwünschten Folgen der erwünschten Energieeffizienz. Wuppertal-Papers zur Wachstumswende Nr. 5, Wuppertal 2012 (vgl. https://wupperinst.org/a/wi/a/s/ad/1668/; zuletzt abgerufen am 4. März 2019).

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Welche Technologien einer Ersetzung oder Wiederaufbereitung von Rohstoffen also auch immer in der Zukunft entwickelt werden mögen, Habermas kann bereits in den 70er-Jahren ideologiekritisch geltend machen, dass aus dem logischen Widerspruch eines auf kontinuierliches Wachstum ausgerichteten Wirtschaftssystems, wie es für jede Form von Kapitalismus systemkonstitutiv ist, unter Bedingungen einer planetarisch begrenzten Umwelt ex principio gar nicht herauszukommen ist (vgl. LS 62). Er lenkt damit zumindest die Aufmerksamkeit jenes unter dem Eindruck von Grenzen des Wachstums ökologisch sensibilisierten und wissenschaftlich vorgebildeten Lesers, mit dem er für seine Schrift rechnen darf, von sinnfälligeren Folgeproblemen auf die sich spätkapitalistisch perpetuierenden Widersprüche eines Wirtschaftssystems, das ökologische Krisenerscheinungen nicht nur mitverursacht und nachweislich verschärft hat, sondern das aufgrund von systemkonstitutiven Wachstumsimperativen auch nicht geeignet sein kann, das Auftreten weiterer Krisensymptome, die sich als Nachhaltigkeitsimperative aus dem Anpassungsdruck des Stoffwechsels mit einer endlichen Systemumwelt ergeben, auf Dauer zu verhindern. Obwohl Habermas also auf eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeitswirksamkeit seiner Legitimationsprobleme angesichts von Abstraktionsniveau und Komplexität der darin versprachlichten Grundsatzfragen kaum gehofft haben dürfte, reicht er mit seiner Thematisierung vordergründigerer Folgeerscheinungen dem ökologisch informierten Leser exoterisch zumindest in Ansätzen eine Leiter zu jenem Kernproblem der globalisierten Weltgesellschaft, das auf einer wissenschaftsesoterischen Reflexionsebene als fortdauernd begünstigende Ursache von Gewässerverschmutzung, Artentod etc. benannt werden kann. Ohne dass Habermas sich an dieser Stelle metaphorischer Sprechweisen bedient – so lässt sich dann aber vor dem Hintergrund seiner eigenen Analysen zur Semantik des Krisenbegriffs argumentieren –, bestünde zumindest im Hinblick auf spätere Schriften die Möglichkeit, systemische Widersprüche nach Herder’schem Muster so in eine zivilgesellschaftlich handlungsaktivierende Alltagssprache zu übersetzen (»im Todesschweiße aber mit Opium träumen«; AP 82 etc.), dass z. B. die öko-industrielle Revolution kaum mehr als eine vorübergehende ›Symptomlinderung‹ verspricht bzw. – dramenmetaphorisch gefasst – Grünes Wachstum ein bloß ›retardierendes Moment‹ auf der Weltbühne einer sich hinter den ökologischen Kulissen bereits abzeichnenden »Tragödie« kapitalistischer Siege über die Natur darstellt. 256 302

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Im »Unterschied zur Systemanalyse ist«, so Habermas in den Legitimationsproblemen, »Kritik auf das aufklärungsfähige Bewußtsein von Adressaten bezogen«. (LS 46) Die gesellschaftliche Aufgabe Kritischer Theorie angesichts sozialtheoretisch überkomplexer Zusammenhänge wäre es dann, über Metaphern kommunikativ mehrstufige Übersetzungen zwischen zivilgesellschaftlicher Kritik und wissenschaftlich generiertem Fachwissen zu besorgen. Auf diesem Wege ließen sich jene gesellschaftlichen Kräfte argumentativ munitionieren, deren wie auch immer periphere und subkulturelle Kämpfe in der Auseinandersetzung mit krisensymptomatischen Folgeproblemen kapitalistischen Wachstums zu den tieferliegenden Widersprüchen desselben im Verhältnis einer normativ berechtigten und zugleich wissenschaftlich wahrheitsfähigen Kritik stehen. Die hier anhand des Verhältnisses zwischen ›Kritik‹ und perspektivisch gedoppeltem Krisenbegriff umrissene Struktur einer gesellschaftlichen Selbstverständigung zwischen sozialtheoretischen Experten und Laien expliziert auch Nancy Fraser als die uneingeschränkt erhaltenswerte Quintessenz von Marx’ Brief an Ruge vom September 1843: Eine kritische Sozialtheorie entwirft ihr Forschungsprogramm […] mit Blick auf die Ziele und Aktivitäten solcher oppositionellen sozialen Bewegungen, mit denen sie sich parteinehmend, obwohl nicht unkritisch, identifiziert. 257

Da Habermas’ Ausführungen in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus sich deutlich diesseits des Diskurses einer wissenschaftlichen Community bewegen, kann das Werk sich einem Diskurs mit oppositionellen sozialen Bewegungen bestenfalls annähern. Die Legitimationsprobleme bleiben letztlich eine esoterische Schrift. Dass die 256 Friedrich Engels bedient sich in »Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« der Formulierung: »Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene Folgen wieder aufheben.« (MEW 20, 452 f.) Der von mir hier exemplarisch eingeführte Topos einer rächenden Gewalt für menschliche Verblendung ist also nicht ganz ohne theoriegeschichtliches Vorbild. 257 Nancy Fraser: »Was ist kritisch an der kritischen Theorie?«. S. 173. Als eine kritische Parteinahme im geschilderten Sinne ist auch ihr Plädoyer für eine »neue Linke« zu verstehen: Nancy Fraser: »Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus«. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 62, 2 (2017), S. 71–76.

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Identifikation mit der Ökologiebewegung in den 70er- und 80er- Jahren als objektive Möglichkeit Kritischer Theorie gleichwohl brachlag und zudem aussichtsreich hätte sein können, zeigen indes Habermas’ eigene, spätere Analysen in Faktizität und Geltung (1998). Dort nämlich beschreibt er rückblickend die Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung jener Zeit als die Entstehung eines »Krisenbewußtsein[s] an der Peripherie« der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit, die als Paradebeispiel dafür gelten kann, dass sich »auch in mehr oder weniger vermachteten politischen Öffentlichkeiten die Kräfteverhältnisse« so verschieben können, »den Problemlösungsmodus des ganzen Systems zu verändern« (FG 458–461): Denn in Fällen einer krisenabhängigen Mobilisierung bewegt sich […] die informelle öffentliche Kommunikation in Bahnen, die einerseits die Zusammenballung populistisch verführbarer, indoktrinierter Massen verhindern und andererseits die zerstreuten kritischen Potentiale eines über die Medienöffentlichkeit nur noch abstrakt zusammengehaltenen Publikums zusammenführen – und diesem zu einer politisch-publizistischen Einflußnahme auf die institutionalisierte Meinungs- und Willensbildung verhelfen. (FG 462)

Den normativen Angelpunkt solcher Peripetien im gesellschaftlichen Problemlösungsmodus bildet, wie Regina Kreide herausgestellt hat, der Begriff »kommunikativer Macht«, den Habermas in Faktizität und Geltung über eine interne Differenzierung des politischen Machtbegriffs in die kommunikative Macht diskursiv-demokratischer Willensbildung und die administrative politischer Steuerungsmechanismen einführt, wobei das Recht als das Medium betrachtet wird, über das sich kommunikative Macht in administrative umsetzt (FG 186 ff.). 258 Im Normalmodus eines demokratisch geregelten Gesellschaftssystems hat diese Umsetzung kommunikativer in administrative Macht freilich eher den Charakter einer Inanspruchnahme abrufbarer Legitimationsressourcen durch Amtsinhaber oder politische Führer, die Politiken oder Gesetzesinitiativen auf die Agenda setzen, zu deren Durchsetzung sie sich entweder des aktiven Rückhalts der Wahlbevölkerung (»mobilization model«) oder zumindest eines vo-

258 Vgl. Regina Kreide: »Die verdrängte Demokratie. Kommunikations- und Handlungsblockaden in einer globalisierten Welt«. In: Rapic (Hrsg.): Habermas und der Historische Materialismus. Freiburg/München 2014, S. 229–260. Hier bes. S. 253– 259.

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rauszusehenden Ausbleibens von öffentlichem Widerstand (»inside access model«) versichern müssen (FG 458 f.). Für den vorliegenden Zusammenhang des Verhältnisses zwischen Kritik und Krise interessanter als der institutionelle Regelbetrieb einer demokratischen Absicherung von politischer Machtausübung sind daher Habermas’ Ausführungen zur Wirkung kommunikativer Macht in Krisenzeiten. In Fällen eines krisenhaften Versagens systemischer Steuerungsmechanismen nämlich kann kommunikative Macht so wirksam werden, dass eine bis dahin in oppositionellen sozialen Bewegungen noch subkulturell gebliebene Kritik »für die kritischen Augenblicke einer beschleunigten Geschichte […] die Chance« erhält, über die Mobilisierung der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit einen politischen Handlungsdruck zu erzeugen, der ausreicht, die Richtung des Problemlösungsmodus gleichsam vom Kopf auf die Füße zu stellen (FG 460; vgl. 458–464). Nicht mehr der administrative Komplex gibt in solchen Fällen das Thema an, für das politische Lösungen vorgelegt werden, sondern die krisenbedingt in soziale Bewegung geratene Zivilgesellschaft selbst (»outside initiative model«; FG 459). Die akute Krisensituation begünstigt also das Eintreten eines gesellschaftlichen Prozesses, in dem der Zustand einer administrativen und ökonomischen Vermachtung politischer Entscheidungskreisläufe so außer Kraft gesetzt wird, dass diskursive Entfaltungsspielräume für Argumente entstehen, zu deren Durchsetzung bis dahin die zivilgesellschaftlich erforderlichen Kommunikations- und Motivationsressourcen nicht zur Verfügung standen. Damit ist noch nicht gesagt, dass die dramatische Änderung des Problemlösungsmodus des ganzen Systems sich zwangsläufig bereits kurz- oder auch nur mittelfristig in einer erfolgreichen Lösung akuter Krisen niederschlagen müsste. Wie kein anderes Ereignis in den 80er-Jahren hat die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 in der BRD eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft bewirkt, wobei es auf den ersten Blick historisch fraglich erscheinen mag, ob die zu jener Zeit öffentlich aufbrandende Empörung über die drohenden Gefahren einer Verseuchung ganzer Landstriche durch radioaktiven Fallout tatsächlich systemisch feststellbare Wirkungen gezeitigt hat. Aus Sicht eines Umwelthistorikers und eines Experten für Reaktorsicherheit haben Joachim Radkau und Lothar Hahn in einer gemeinsamen Publikation darauf hingewiesen, dass die kritischen Rufe nach einem Atomausstieg im Gefolge von Tschernobyl, aufgrund des damals noch unsicheren Potentials erneuerbarer Energien, zunächst relativ ungehört Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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zu verpuffen schienen. 259 Kohle war »als Langzeitperspektive nicht akzeptabel« und just »im Tschernobyl-Jahr 1986 ertönte auch der erste schrille Klimaalarm, der eine globale Erwärmung als Folge des wachsenden Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre prophezeite.« 260 Ein politischer Entschluss zum Atomausstieg, der als ein klares Indiz für die normative Durchsetzungsfähigkeit kommunikativer Machtentfaltung hätte gewertet werden können, ließ sich damals aus verschiedenen Gründen also nicht feststellen. Die »Langzeitwirkungen der Reaktorkatastrophe«, so Radkau und Hahn, waren jedoch »erheblich; in welchem Maße, erkennt man erst aus zeitlicher Distanz.« 261 Diese Langzeitwirkungen bestanden darin, dass Politik und Energieversorger durch das mit Tschernobyl öffentlich lauter gewordene ›Atomkraft? Nein danke!‹ hindurch und unter dem durch es erzeugten Druck überhaupt erst wirklich begannen, Alternativen zur Kernenergie vorzüglich zu behandeln und die Erforschung erneuerbarer Energien ernsthaft voranzutreiben. Eine politisch-ökonomische Entwicklung, die es längerfristig ermöglichte, dass man sich bei der zweiten öffentlich gewordenen Reaktorkatastrophe der Menschheitsgeschichte, nämlich jener von Fukushima 2011, auf Seiten der deutschen Energiewirtschaft und Politik bereits in der vergleichsweise zu damals deutlich glücklicheren Lage befand, nicht nur den vor Tschernobyl noch bloß subkulturell beachteten Kritikern dieser Energie ohne Risiko eines völligen Gesichtsverlusts Recht geben zu können, sondern einen deutschen Atomausstieg technisch auch tatsächlich in die Wege zu leiten: Obwohl die Grünen damals [sc. 1986] – auch dies ein Unterschied zu der Situation nach Fukushima! – in ihrer Zerrissenheit die Gunst der Stunde nur wenig zu nutzen wussten […], schritt die Förderung der erneuerbaren Energien kontinuierlich voran, so dass diese in der Zeit nach Fukushima bereits eine ökonomische Macht darstellten. 262

Die krisenabhängige Mobilisierung kommunikativer Macht während der teilnehmerperspektivisch geteilten Erfahrung von Tschernobyl hatte langfristig – so lässt sich die These von Radkau und Hahn mit Faktizität und Geltung reformulieren – auf den verschlungenen Pfa259 Joachim Radkau/Lothar Hahn: Aufstieg und Fall der deutschen Atomwirtschaft. München 2013, S. 309. 260 Ebd., S. 310. 261 Ebd. 262 Ebd.

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den einer hintergründig fortgesetzten Legitimitätsdebatte über Kernenergie erst jene ökonomische Macht generiert, die als selbstorganisatorisches Mittel zur systemischen Durchsetzung des ursprünglichen Anliegens der Antikernkraft-Bewegung nach Fukushima die unabdingbare Voraussetzung bildete. Die objektiven Möglichkeiten einer systemischen Bewältigung der energiewirtschaftlichen Krise, zu denen man sich 1986 noch bloß im Modus der abstrakten Utopie hatte verhalten können, waren nach einer politisch und ökonomisch längeren Inkubationszeit 2011 schließlich zu real möglichen Alternativen des weiteren Geschichtslaufs geworden. In welchem gesellschaftsrevolutionären Umfang die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl auch andernorts eine krisenabhängige Mobilisierung bewirkt hat, die dazu beitrug, verkrustete Strukturen der politischen Meinungsbildung und Machtausübung aufzubrechen, lässt sich über einen kürzeren Beobachtungszeitraum hinweg auch an der Wirkung ablesen, die dieses Ereignis einem Selbstzeugnis Michail Gorbatschows zufolge in der UdSSR entfaltete: Mehr als alles andere hat die Katastrophe von Tschernobyl die Durchsetzung der freien Meinungsäußerung ermöglicht. Das System, wie wir es kannten, konnte nicht mehr weiterexistieren. […] Tschernobyl hat mir wie kein anderes Ereignis die Augen geöffnet […]. 263

Zwar ist solchen Bekenntnissen stets mit einer gewissen Vorsicht gegenüber allzu nostalgisch-selbstidealisierenden Schilderungen komplexer politischer Entscheidungszusammenhänge zu begegnen, es ist jedoch kaum von der Hand zu weisen, dass der sog. ›Super-GAU‹ von Tschernobyl für die bereits angeschlagene UdSSR nicht nur einen finanziell kaum zu bewältigenden ökologischen und energiewirtschaftlichen Schaden, sondern für deren politische Führung auch ideologisch eine regelrechte ›Kernschmelze‹ bedeutete, der aus damaliger Sicht nur die forcierte Durchsetzung der bereits einen Monat vor dem Unglück von Michail Gorbatschow öffentlich ausgerufenen Glasnost vielleicht noch entgegenzuwirken vermochte. Das Fanal einer legitimatorisch tiefgreifenden Vertrauenskrise in Lenins Doktrin vom »Kommunismus« als »Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen

263 Michail S. Gorbatschow: »Todesstoß für die UdSSR«. In: DIE WELT, 21. 04. 2006 (vgl.: https://www.welt.de/print-welt/article211929/Todesstoss-fuer-die-UdSSR-Gor batschow-ueber-die-Folgen-des-Reaktorunfalls-in-Tschernobyl.html; zuletzt abgerufen am 4. März 2019).

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Landes« ließ sich nicht mehr ignorieren. 264 Das galt in ähnlicher Weise auch für die DDR, wo Tschernobyl der »Umweltbewegung einen starken Impuls« verlieh, den die Staatssicherheit zwar im Keim zu ersticken versuchte und der sich anhand ihrer Unterlagen heute entsprechend gut nachvollziehen lässt, der 1987 jedoch stark genug war, die umgehende Wiederfreilassung von sieben durch die Stasi inhaftierten Aktivisten zu bewirken, die in der Zionsgemeinde in Berlin eine Umwelt-Bibliothek gegründet hatten. 265 Christa Wolfs im selben Jahr erschienenes Buch Störfall, das sich unverhohlen kritisch mit der Reaktorkatastrophe auseinandersetzt und dabei auch den metaphorisch-euphemistischen Expertenjargon von Atomwirtschaft und Politik (Wolke, Strahlung etc.) zum alltagssprachlichen und traditionellliterarischen Gebrauch derselben Worte ins Verhältnis setzt, avancierte unterdessen sogar zum »Bestseller«. 266 Obwohl nun die Anti-Atomkraft-Bewegung bei der Durchsetzung ihres Anliegens in der politischen Öffentlichkeit, bestätigt durch objektive Bewährungen ihrer pessimistischen Vorhersagen von Tschernobyl bis Fukushima, im wiedervereinigten Deutschland letztlich außerordentlich erfolgreich gewesen ist, hat sich ein klares Bewusstsein um den von Habermas in den Legitimationsproblemen programmatisch noch als wegweisend entworfenen Zusammenhang zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Folgeproblemen zivilgesellschaftlich bis heute kaum durchsetzen können. Themen wie 264 Ebd.; Wladimir Iljitsch Lenin: »Unsere außen- und innenpolitische Lage«. S. 414. Zur Wahrnehmung von Tschernobyl in der Sowjetunion vgl. auch Joachim Radkau: Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte. München 2011, S. 511 f. 265 BStU (Hrsg.): Tschernobyl. Der Super-GAU und die Stasi (Dokumentheft). Berlin 2016, S. 52 (vgl. https://www.bstu.bund.de/DE/Wissen/Publikationen/Publikationen /E_bstu_tschernobyl.pdf; zuletzt abgerufen am 4. März 2019). Zur Umwelt-Bibliothek der Zionskriche vgl.: BStU (Hrsg.): Die Umweltbibliothek (https://www.bstu. de/informationen-zur-stasi/themen/beitrag/die-umweltbibliothek; zuletzt abgerufen am 4. März 2019). 266 Christa Wolf: Störfall. Nachrichten eines Tages. 32002. Zur Deutung des Werkes vgl. die Aufsätze von Rudolf Drux: »Zwischen Störfall und Weltuntergang. Einleitende Bemerkungen zur Vermittlung von Technik-Katastrophe.« In: Dieter Petzold (Hrsg.): Inklings. Jahrbuch für Literatur und Ästhetik (Band 25, 2007). Moers 2007, S. 12–36. Hier bes.: S. 25 f.; sowie Ders.: »Von der Spaltbarkeit des Unteilbaren. Atomphysik und Kernenergie im Spiegel der Literatur von Bertolt Brecht bis Christa Wolf«. In: Deutscher Hochschulverband (Hrsg.): Glanzlichter der Wissenschaft. Ein Almanach. Stuttgart 1999, S. 63–72. Als ein »Bestseller« bezeichnet wird Störfall im Artikel: »Bösartiger Himmel«. In: DER SPIEGEL 13/1987, S. 223–226 (vgl. https:// www.spiegel.de/spiegel/print/d-13523446.html; zuletzt abgerufen am 4. März 2019).

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die ökologischen Gefährdungen eines überstrapazierten Naturhaushaltes (Waldsterben, Gewässerverschmutzung, Artentod usw.), […] die […] Probleme der Weltwirtschaftsordnung […] und […] die steigende Immigration mit den Folgeproblemen einer veränderten ethnischen und kulturellen Zusammensetzung der Bevölkerung (FG 460 f.)

werden auch mehr als vier Jahrzehnte nach programmatischen Einsichten in die Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus und dreißig Jahre nach Tschernobyl zivilgesellschaftlich zumeist noch als isolierte Krisenphänomene thematisiert, die – eindimensional ideologisch aufgeladen und interessengeleitet gegeneinander ausgespielt – eher zum nachgerade eintretenden Zerfall einer in scheinbar unversöhnlichen Interessenkonflikten zerfaserten politischen Öffentlichkeit beitragen als tatsächlich eine kommunikative Macht zum Denken in revolutionär nachhaltigen Systemalternativen aufkeimen zu lassen. Das potentiell integrative Moment eines sich im Wechsel der medialen Hiobsbotschaften durchhaltenden gemeinsamen Anliegens ist nicht erkennbar. Ob die heutige Diskurssituation unter einer textgestalterischen Anlage der Theorie des kommunikativen Handelns im Sinne der von mir aus Bacon und Herder gewonnenen Theoriestruktur dem Bild eines – wenn auch sporadischen und krisenabhängigen – Identitätsbewusstseins gesellschaftskritischer Selbstverständigung näherkäme, kann mit wissenschaftlicher Bestimmtheit nicht ausgesagt werden. Es ging mir an dieser Stelle lediglich darum, plausibel zu machen, dass reale Möglichkeiten zur exoterischen Anknüpfung an Diskurse, die in späterer Zeit tatsächlich durchschlugen, im Vorfeld der Entstehung der Theorie des kommunikativen Handelns gesellschaftlich nicht nur faktisch gegeben waren, sondern dass zudem Habermas’ eigene, an der historischen Semantik des Krisenbegriffs orientierte Skizze zum Zusammenhang von »System- und Sozialintegration« in den Legitimationsproblemen die Ansatzpunkte für den Hebel einer zivilgesellschaftlich möglicherweise aussichtsreichen Kritik bereits markiert hat (LS 13). Indem diese Schrift zwischen Folgeproblemen und systemisch angelegten Widersprüchen kapitalistischen Wachstums einen Zusammenhang herstellt, dessen Evidenz unter Verwendung einer esoterisch-exoterisch über Metaphern gedoppelten Textstruktur auch dem sozialtheoretischen Laien zu Bewusstsein hätte gebracht werden können, wird die Spur zu einer am teilnehmerperspektivischen Kontext von ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgeproblemen sensibilisierten Kapitalismuskritik sichtbar, wie sie Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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von Habermas in dieser Form später nicht mehr stringent durchgeführt worden ist. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, entfaltet die in der Theorie des kommunikativen Handelns in Anschlag gebrachte ›Kolonialisierungsthese‹ zwar neben einer esoterischen tatsächlich auch eine exoterische Rezeptionsdimension, die Kolonialisierungsmetapher erweist sich jedoch aus Gründen ihrer immanenten Metaphernlogik letztlich als – in einem Herder’schen Sinne – zu ›kraftlos‹, das Potential zu einer gesellschaftsverändernden Praxis im Diskurs über Möglichkeitshorizonte der Menschheitsentwicklung, wie es in den Legitimationsproblemen aufscheint und in Faktizität und Geltung später rückwirkend als Beispiel einer geschichtlich-realen Entfaltung kommunikativer Macht in der Ökologiebewegung der 70er- und 80er-Jahre reflektiert wird, tatsächlich auszuloten.

b.) Die These einer ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ in der Theorie des kommunikativen Handelns auf der Folie von Bacon und Herder Die Theorie gesellschaftsgeschichtlicher Rationalisierung, die Habermas in seinem Hauptwerk vorlegt, bringt ein rund zwei Jahrzehnte währendes Forschungsprojekt zu einem vorläufigen Abschluss, das ich in der vorliegenden Arbeit in den Kontext eines ideologiekritischen Forschungsdiskurses von Francis Bacon bis zur Kritischen Theorie gestellt habe, um zu untersuchen, wie – unter der konzeptuellen Zielperspektive einer angestrebten Vermittlung zwischen esoterisch-wissenschaftlicher Theoriebildung und exoterisch-handlungsaktivierender Praxis – durch den Einsatz von Metaphern methodisch kontrolliert über objektive Möglichkeiten der technologischen Menschheitsentwicklung gesprochen werden kann. 267 Konkretisiert habe ich dieses programmatisch unter dem Marx’schen Titel einer »Selbstverständigung« zusammengefasste Anliegen meiner Untersuchung bereits in der Thesenexposition auch im Vorgriff auf die in der Theorie des kommunikativen Handelns aufgeworfene Frage, »wie Expertenkulturen mit der Alltagspraxis vermittelt werden können.« (MEW 1, 346; TkH II, 585; s. o. S. 81 ff.) Diese Vorausset267 Eine knappe Zusammenfassung des spätestens mit Strukturwandel der Öffentlichkeit 1962 begonnenen und in der Theorie des kommunikativen Handelns gipfelnden Theorieprojekts liefern Celikates/Pollmann: »Baustellen der Vernunft.« S. 97 f.

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zung der vorliegenden Arbeit einholend, soll nun geprüft werden, welche Antworten auf die gestellte Frage, die Bacon und Herder zwar jeweils pragmatisch gelöst, in ihren Schriften jedoch theoretisch nicht explizit reflektiert haben, Habermas’ Hauptwerk selbst bereithält. Anfang der 80er-Jahre steht die ihr Erbe antretende Frankfurter Schule vor der selbstkritisch identifizierten Herausforderung, jenen gordischen Knoten aus normativer Unterfundierung und aporetisch gewordener Verdinglichungskritik zu lösen, in den man sich in den 40er-Jahren auf dem Wege der Totalisierung einer Kritik der instrumentellen Vernunft verstrickt hatte. Der »Rückzug« aus der in der Dialektik der Aufklärung epochenmonumental verewigten Ausweglosigkeit führt Habermas zu einer grundlegenden Revision des Begriffs geschichtlicher Rationalisierung in der Theorie des kommunikativen Handelns, die hier nur in ihren groben Zügen skizziert werden kann (DM 155). Es soll daraus zunächst Einsicht in die »doppelte Pathologiediagnose« (Celikates/Pollmann) 268 von Habermas’ Hauptwerk gewonnen werden, anhand derer anschließend zu klären ist, ob der metaphorische Gehalt der in Analogie zum realgeschichtlichen Kolonialismus entworfenen ›Kolonialisierungsthese‹, die eine Seite dieser doppelten Pathologiediagnose ausmacht, erstens der kritischen Intention des Werkes gemäß ist und zweitens, ob dieser metaphorische Gehalt ausreicht, tatsächlich eine exoterisch handlungsaktivierende Vermittlung von Expertenkulturen und Öffentlichkeit zu realisieren, die ich im vorangegangenen Kapitel an Herders Auch eine Philosophie der Geschichte nachgewiesen habe und die zumindest programmatisch auch in den Legitimationsproblemen aufscheint. Ich werde im Folgenden zunächst (α.) die zentralen Begriffe von ›System‹ und ›Lebenswelt‹ erläutern, wie sie in der Theorie des kommunikativen Handelns eingeführt werden, und skizzieren, wie Habermas den Prozess geschichtlicher Rationalisierung als Vorgang einer sukzessiven »Entkopplung von Lebenswelt und System« charakterisiert (TkH II, 229). Anschließend (β.) sollen die ambivalenten Auswirkungen des so skizzierten Rationalisierungsprozesses dargelegt werden, dessen Kehrseiten mit den Pathologiediagnosen einer »Fragmentierung des Alltagsbewußtseins« und »Kolonialisierung der Lebenswelt« auf den Nenner eines gegenüber der ideologiekriti-

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schen Tradition – der sich auch Habermas’ frühere Position noch zurechnen lässt – innovativen Verdinglichungstheorems gebracht werden (TkH II, 522). Wie ich zeigen möchte (γ.), lässt sich mittels einer Analyse des metaphorischen Gehalts der Kolonialisierungsthese auf der Folie von Bacon und Herder aufschlüsseln, weshalb dieses neukonzipierte Verdinglichungstheorem das in den Legitimationsproblemen zuvor freigelegte kritische Potential nicht auszuschöpfen vermag. Indem Habermas zunächst von »nicht-regenerierbare[n] Bestände[n]« der von kultureller Verarmung und Kolonialisierung bedrohten Lebenswelt spricht und dann die Umweltbewegung zu einer Reihe von Gegentendenzen rechnet, die sich an der »kulturellen Reproduktion« entzünden und in erster Linie »Fragen der Grammatik von Lebensformen« betreffen sollen, treten die kritischen Warnrufe vor materiell-systemischen Risiken der Atomenergie in den Hintergrund (TkH 550, 576). Das Kolonialisierungstheorem wirft so (c.) auch ein Schlaglicht auf die öffentliche Bühne einer möglichen Rezeption der Theorie des kommunikativen Handelns durch avantgardistische Protestbewegungen der 80er-Jahre, deren zivilgesellschaftlich-reale Durchsetzungsfähigkeit Habermas in Faktizität und Geltung später affirmativ rezipiert hat. α.) ›System‹, ›Lebenswelt‹ und der rationalisierungsgeschichtliche Prozess ihrer ›Entkopplung‹ Mit der Einführung der Unterscheidung von ›System‹ und ›Lebenswelt‹ soll die Theorie des kommunikativen Handelns einerseits das teilnehmerperspektivische Reflexionsdefizit systemtheoretischer Ansätze überwinden, andererseits aus den Aporien einer in der Dialektik der Aufklärung richtungslos gewordenen Kritik herausführen. Indem Habermas Gesellschaft von Anfang an »gleichzeitig als System und Lebenswelt« konzipiert und sie so zugleich als beobachterperspektivisch beschreibbaren Zusammenhang systemischer Steuerungsmechanismen und als teilnehmerperspektivischen Kontext verständigungsorientiert handelnder Individuen begreift, wird soziale Evolution als ein auf den beiden Gleisen von instrumenteller und kommunikativer Rationalisierung verlaufender Differenzierungsprozess thematisierbar, der sowohl für die instrumentellen Komplexitätssteigerungen und normativ-expressiven Rationalitätsgewinne als auch für die Pathologien einer auf die Individuen zurückschlagen312

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den Funktionalisierung sämtlicher Lebensbereiche die Erklärung liefern soll (TkH II, 183). Die Gesamtarchitektonik von Habermas’ zweibändigem Opus magnum kann hier nicht dargestellt werden. 269 Um verstehen zu können, was mit der Verdinglichungsdiagnose einer ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ gemeint ist, ist es allerdings notwendig, zunächst zumindest (1) einige Schwierigkeiten zu adressieren, die sich bereits auf der theoriearchitektonischen Grundlagenebene der Einführung des Begriffs ›Lebenswelt‹ in der Theorie des kommunikativen Handelns zeigen. Anschließend (2) sind die Grundzüge von Habermas’ Theorie gesellschaftlicher Rationalisierungsprozesse zu skizzieren, denen die diagnostizierte Tendenz einer ›Kolonialisierung‹ eingeschrieben sein soll. 1) Schwierigkeiten des Lebensweltbegriffs: Ulrich Claesges hat nachgewiesen, dass bereits die genuin phänomenologische Verwendung des Lebensweltbegriffs, die Habermas adaptiert und kommunikationstheoretisch umwendet, nicht frei ist von Zweideutigkeiten: ›Lebenswelt‹ ist schon bei Husserl ein »ontologisch-transzendentaler Zwitterbegriff«. 270 Herbert Schnädelbach bezeichnet ›Lebenswelt‹ entsprechend als einen »philosophisch belasteten Terminus« und meldet Zweifel an: Er sehe nicht, wie es möglich sein sollte, diesen Terminus »formalpragmatisch so umzudeuten und ihn dann in die Gesellschaftstheorie zu übernehmen, daß man von der ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ in einem nichtäquivoken Sinne von ›Lebenswelt‹ sprechen« könnte. 271 Ohne die zahlreichen Einwände gegen Habermas’ zweistufiges Gesellschaftskonzept hier erneut zu referieren – er selbst hat sie als die »schärfste Kritik« an seinem Werk aufgefasst, sie aber auch in seiner »Entgegnung« im Sammelband Kommunikatives Handeln nicht überzeugend ausräumen können 272 –, lässt sich zumindest eine Äquivokation des Lebensweltbegriffs, die auch den 269 Einen Überblick bieten etwa Celikates/Pollmann: »Baustellen der Vernunft« und David Strecker: »Theorie der Gesellschaft – ›Theorie des kommunikativen Handelns‹ (1981)«. In: Brunkhorst/Kreide/Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. Stuttgart/ Weimar 2009, S. 220–233. 270 Ulrich Claesges: »Zweideutigkeiten in Husserls Lebenswelt-Begriff«. In: Ders./ Held: Perspektiven transzendentalphänomenologischer Forschung. Für Ludwig Landgrebe zum 70. Geburtstag von seinen Kölner Schülern (Phaenomenologica 49). Den Haag 1972, S. 85–101. Hier: S. 99. 271 Herbert Schnädelbach: »Transformation der Kritischen Theorie.« In: Honneth/Joas (Hrsg.): Kommunikatives Handeln. S. 15–34. Hier: S. 28. 272 Jürgen Habermas: »Entgegnung«. S. 377.

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Aspekt einer möglichen Rezeption der Theorie durch gesellschaftstheoretische Laien tangiert, relativ leicht feststellen. Der Begriff wird von Habermas zunächst a) kommunikationstheoretisch »auf dem Wege der Rekonstruktion eines bei kompetenten Sprechern angetroffenen vortheoretischen Wissens« als gemeinsamer »Horizont« situativ gegebener »Handlungsmöglichkeiten« und somit als »gleichsam der transzendentale Ort« eingeführt, »an dem sich Sprecher und Hörer begegnen«; er wird dann aber b) verwendet, um damit jenes »Laienkonzept der ›Welt‹« zu bezeichnen, das erzählende Individuen ihren »narrativen Darstellungen als Bezugssystem zugrunde legen« (TkH II, 182; 187 f.; 192; 205 ff.). Während das (a) formalpragmatische Lebensweltkonzept der Reflexion des sozialphilosophischen Experten angehört, der das implizit geteilte Hintergrundwissen von Aktoren als Bedingung der Möglichkeit einer über die Geltungsansprüche von Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit konsensorientiert geregelten »Situationsbewältigung« rekonstruiert (TkH II, 194), will Habermas das (b) laienmäßig-inhaltsbestimmte Lebensweltkonzept der »Erzählerperspektive« von kommunizierenden Individuen selbst zugerechnet wissen (TkH II, 208). Er spricht von einem »intuitiv verfügbare[n] Begriff der soziokulturellen Lebenswelt«, mit dessen Hilfe »kommunikativ Handelnde sich und ihre Äußerungen in sozialen Räumen und historischen Zeiten lokalisieren und datieren.« (TkH II, 206 f.) Problematisch ist nun, ob und in welchem Bezugsrahmen von einem Weltkonzept, von dem wir alltäglich Gebrauch machen, als einem »Alltagskonzept der Lebenswelt« oder gar einem »Laienkonzept der Lebenswelt« gesprochen werden kann (TkH II, 206 f.). Der Begriff ›Lebenswelt‹ kommt in unserer Alltagssprache nicht vor. Auch kann man in Alltagskontexten die Frage nach einem zugrundeliegenden Weltkonzept schwerlich in der direkten Weise eines »Was meinst du, wenn du von ›Welt‹ sprichst?« explizit zum Thema machen, ohne damit die Regeln alltäglicher Sprachspiele zu verletzen und beim Gegenüber ggf. erhebliche Irritationen auszulösen. Es ist folglich wenig plausibel anzunehmen, Laien verfügten aktual über ein Konzept, das mit einem expertenkulturellen Lebensweltbegriff umstandslos abgeglichen werden könnte. Sobald Lebensweltkonzepte ins Thema rücken, befinden wir uns offenbar bereits in einer Einstellung, die der theoretisierenden Perspektive eines philosophischen Experten deutlich nähersteht als es der Habermas’sche Begriff eines »Alltagskonzept[s] der Lebenswelt« zunächst suggeriert. Die Rede 314

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von einem »Laienkonzept der Lebenswelt« ergibt tatsächlich nur dann Sinn, wenn zugleich das formalpragmatische (oder ein beliebiges anderes) Expertenkonzept von Lebenswelt als bekannt vorausgesetzt werden kann, d. h. in einem wissenschaftlichen Diskurs zwischen Sozialtheoretikern oder Philosophen. Wie Schnädelbach einerseits darlegt, andererseits kritisiert, kann Habermas den Lebensweltbegriff überhaupt nur in der geschilderten Weise zugleich als (a) transzendentalen Ort und als (b) Laienkonzept einführen, weil er von vornherein »die Teilnehmerperspektive aus der Perspektive des Beobachters – salopp gesagt: die 1. Person in der 3. Person« – präsentiert, d. h. beide Begriffe von ›Lebenswelt‹ verdanken sich letztlich der sozialtheoretischen Rekonstruktion eines (a) formalpragmatisch-impliziten bzw. (b) laienhaft-expliziten Wissens von teilnehmerperspektivisch im kommunikativen Handeln aufeinander bezogenen Individuen. 273 Erst aus diesem Blickwinkel nämlich kann die – aufgrund der Ambiguität des Begriffs in ihrem Theoriestatus allerdings noch immer problematische – These vertreten werden, das vorthematisch-implizite Hintergrundwissen von kommunikativ Handelnden, das der Philosoph unter dem Terminus ›Lebenwelt‹ fasst, werde den Handelnden bei Einnahme einer »Erzählerperspektive« in solcher Weise selber als ›die Welt, in der wir leben‹ explizit thematisch, dass von beiden mit einigem Recht als von ein und derselben ›Lebenswelt‹ gesprochen werden kann. Die Theorie des kommunikativen Handelns ist auf der theoretisch-begrifflichen Ebene des von Ihr beschriebenen Gegenstandsbereichs jedenfalls zunächst einmal nur genau das, was der Titel besagt, nämlich eine ›Theorie‹ über ›kommunikatives Handeln‹ und hat aufgrund des so bezogenen Metastandpunkts, wie Schnädelbach feststellt, nur »beobachtete Teilnehmer im Blick«. 274 Ich werde allerdings dafür argumentieren, dass Habermas’ Metaphernverwendung gleichwohl eine darüber hinausgehende, teilnehmerperspektivisch-exoterische Textebene erkennen lässt, die zur im engeren Sinne theoretisch intendierten Verständnisebene jedoch quer steht (s. u. γ.). Die Einsicht, dass es sich bei ›Lebenswelt‹ um einen rein theoriesprachlichen (d. h. esoterischen) Begriff handelt, gilt es aus zwei Gründen festzuhalten: Zum einen gestattet es Habermas nur sein die Teilnehmerperspektive reflexiv rekonstruierender Zugang, »zu 273 274

Schnädelbach: »Transformation.« S. 28. Ebd., S. 29.

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jenem zweistufigen Gesellschaftsmodell überzugehen, das dann keine Perspektivenprobleme mehr stellt«, weil so bereits im Vorhinein gewährleistet ist, dass ›System‹ und ›Lebenswelt‹ sich auf derselben analytischen Ebene der gesellschaftstheoretischen Beschreibungen bewegen, was die Voraussetzung dafür bildet, Wechselwirkungen zwischen beiden zu untersuchen. 275 Erst die »methodische Vergegenständlichung der Lebenswelt« ermöglicht es, sie als gesellschaftlichen Funktionskreis der »symbolischen und der materiellen Reproduktion« zu thematisieren, der die »strukturellen Komponenten […] Kultur, Gesellschaft und Person« umfasst und der sich mit einem anderen Funktionskreislauf überlappen bzw. von diesem her sogar gestört, d. h. im konkreten Falle systemisch kolonialisiert und damit lebensweltpathologisch dysfunktionalisiert werden kann (TkH II, 549; 209 f.). Zum anderen wäre es ein Missverständnis des Kolonialisierungstheorems, wenn angenommen würde, die ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ – wie Habermas sie charakterisiert – könnte von einer kritischen Theorie in exoterischer Kommunikation direkt zum Thema gemacht und das Theorem auf diesem Wege unmittelbar zur ideologiekritischen Selbstverständigung mit gesellschaftstheoretischen Laien genutzt werden, wie es die Formulierung eines »Laienkonzept[s] der Lebenswelt« vielleicht nahelegt. Im Gegenteil besteht die Pointe der These gerade darin, dass die ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ sich hinter dem Rücken der Beteiligten vollzieht und den Gesprächsfluss zwischen Experten und Laien gewissermaßen schon an der Quelle austrocknet, indem sie – worauf ich noch näher eingehen werde (s. u. β.) – mit der expertenkulturellen Verkapselung in den eigensinnig rationalisierten »Wertsphären von Wissenschaft, Moral und Kunst« und der »Fragmentierung des Alltagsbewußtseins« ein Amalgam bildet (TkH II, 522; 481). Hierin analog zu Habermas’ Bestimmung des Verhältnisses zwischen logischen Widersprüchen unvereinbarer Systemimperative und den von ihnen erzeugten Folgeproblemen in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, kommen den kommunizierenden Laien nur die »selbstdestruktiven Folgen des Komplexitätswachstums« spätkapitalistischer Gesellschaften zu Bewusstsein, nicht aber der sozialanalytisch zwischen System und Lebenswelt anhängige Kolonialisierungsprozess als solcher (TkH II, 577). 275

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2) Grundzüge gesellschaftlicher Rationalisierung: Gegen die Diagnose einer unentrinnbaren Dialektik der Aufklärung gerichtet, ruft Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns die Fortschritte weltgeschichtlicher Rationalisierung wieder in Erinnerung, die für Horkheimer und Adorno im Angesicht des zeitgeschichtlichen Einbruchs jeder zivilisatorischen Fassade unter Trümmern begraben wurden. Indem er den Begriff einer teilnehmerperspektivisch gelagerten kommunikativen Vernunft einführt, soll sich die Kritische Theorie ihrer normativen Verwurzelung im Entstehungszusammenhang gesellschaftlicher Verständigungsprozesse innewerden und zugleich die Einseitigkeit rein beobachterperspektivisch-systemtheoretischer Krisenbegriffe, ihren eigenen Verwendungskontext nicht mehr reflexiv einholen zu können, vermeiden (vgl. TkH II, 591; TP 9). Entsprechend den systematisch und perspektivisch unterschiedenen Vernunftbegriffen vollzieht sich sozialevolutionärer Fortschritt in Habermas’ Darstellung auf den beiden Gleisen einer (a) Rationalisierung der Lebenswelt und einer (b) Komplexitätssteigerung von Systemen, wobei diese Zweigleisigkeit im Ausgang von der Weichenstellung einer (c) Entkopplung von System und Lebenswelt zu Beginn des Rationalisierungsprozesses stetig steigende Grade der System- und Lebensweltdifferenzierung ermöglicht hat. a) Die Rationalisierung der Lebenswelt folgt dem Muster einer »Versprachlichung des Sakralen«, in der »die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines jeweils für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt wird.« (TkH II, 118) Indem ein in mythischen Weltbildern noch unhinterfragt gebliebener Wertekanon schrittweise reflexiv geprüft und traditionale Überlieferungen so der »konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede« überantwortet werden, zeichnet sich vom »Mythos« über ein »religiös-metaphysische[s] Weltbild« bis hin zum »modernen Weltverständnis« in der Menschheitsgeschichte ein Lernprozess ab, der im stetigen Zuwachs von sprachlich artikulierbaren Rationalitätskriterien seinen Ausdruck findet und der insgesamt eine normative Entwicklungslogik umschreibt (TkH I, 28; 104). Während in archaischen Gesellschaften die sittlichmoralische Verwerflichkeit bestimmter Handlungen noch im extrinsisch handlungsmotivierenden Hinblick auf die dadurch riskierte Provokation böser Geister oder Dämonen betrachtet wird, soll in religiös-metaphysischen Weltbildern bereits intrinsisch, d. h. um der moralisch gebotenen Handlung selbst willen gehandelt werden. Im modernen Weltbild schließlich hat sich auch die ehemals transzenZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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dente Legitimationsgrundlage solchen Handelns ins Diesseits einer kommunikativen Aushandlung dessen verlagert, was in einer konkreten Gesellschaft intersubjektiv als normkonformes Verhalten zu gelten habe, so dass lebensweltliche Rationalisierung insgesamt als ein Prozess der Einholung von sakralen Gewissheiten in die diskursiv geregelte Sphäre kommunikativ ausgehandelter Übereinkünfte betrachtet werden kann. b) Die Komplexitätssteigerung von Systemen besteht in einem stetigen Zugewinn an Mitteln zur Bewältigung von Steuerungsproblemen, worunter – obwohl von Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns eher vernachlässigt – neben den sozialtechnisch entsprachlichten Vorgängen staatlicher Bürokratisierung und ökonomischer Monetarisierung auch die gesellschaftlichen Technisierungsfortschritte einer gelingenden Kontrolle von äußeren Naturverhältnissen zu rechnen sind, die insbesondere in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ noch deutlich weiter im Zentrum seines Interesses standen. Aus »Lebensweltperspektive« beschreibt Habermas systemische Komplexitätssteigerung als den prinzipiell wünschenswerten Entlastungsprozess einer »Technisierung der Lebenswelt«, in dem die Handlungskoordinierung vom aufwendigen und dissensanfälligen kommunikativen Handeln auf die funktional reibungslosere Koordinierung durch Steuerungsmedien »wie Geld und Macht« umgestellt wird (TkH II, 272 f.). Anschaulicher als auf den abstrakteren Ebenen der bürokratischen Institutionalisierung von formalen Verfahrensregeln und der ökonomischen Etablierung des Geldmediums zur Steuerung von Wirtschaftskreisläufen lässt sich dieser Effekt anhand technologisch entlastender Formen der Handlungskoordination beim Betrieb hochtechnisierter Produktionsanlagen verdeutlichen: Die Möglichkeit einer Automation zuvor von Menschen verrichteter Arbeiten steigert die Produktion und verringert das Risiko möglicher Bedienfehler, wodurch sich insgesamt der gesellschaftliche Beitrag einer Anlage zur Gewährleistung materieller Reproduktionsleistungen erhöht. Zugleich entlastet Technisierung die am Betrieb beteiligten Operateure funktionalistisch von Verantwortung, indem sich einerseits der Kommunikationsbedarf zur konsensorientierten Koordination jener Handlungen erübrigt, die bereits über die Implementierung eines technischen Kontrollsystems auf das beobachterperspektivisch entsprachlichte Steuerungsmedium ›Realtechnik‹ umgestellt wurden; andererseits, indem die menschliche Arbeit in 318

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zunehmendem Maße durch das realtechnische Medium hindurchgeleitet wird. Der einzelne Schichtarbeiter muss wissen, wie er selbst und die in äquivalenter Funktion tätigen Kollegen einen Teilkreislauf des Systems zu bedienen haben, damit die Produktion funktioniert, d. h. er muss im Sinne eines instrumentell entsprachlichten Könnens ›verstehen‹, was das technische System von ihm ›will‹. Er muss aber nicht mit Arbeitern am anderen Ende der Anlage verständigungsorientiert kommunizieren, um sein Tun umständlich und dissensanfällig mit ihnen zu koordinieren. Indem das technische System den einzelnen Operateuren die Abläufe vorgibt, kann die sprachliche Koordination von Handlungen auf ein effizienzorientiertes Minimum reduziert werden. In einem analogen Sinne kann die systemfunktionalistische Umstellung auf die entsprachlichten Steuerungsmedien von Macht und Geld in Bürokratie und Ökonomie als ›fortschrittlich‹ gewertet werden, da erst sie modernen Gesellschaften jenen hohen Komplexionsgrad ermöglicht, Handlungen einer ins Unpersönliche gewachsenen Zahl von Gesellschaftsmitgliedern systemintegrativ erfolgreich zu verzahnen, indem »Interaktionen in Raum und Zeit zu immer komplexeren Netzen [verknüpft werden], ohne daß diese überschaut und verantwortet werden müßten.« (TkH II, 275) Unter Verzicht auf solche Fortschritte lebensweltlicher Technisierung zur arbeitsteilig koordinierten Befriedigung gestiegener Bedürfnisse, so lässt sich Habermas an dieser Stelle paraphrasieren, wäre selbst das durchaus noch ausbaufähige sozialintegrative Niveau der friedlichen Koexistenz einer so großen Masse von Individuen, wie es in spätkapitalistischen Gesellschaften entwicklungsdynamisch realisiert ist, unmöglich gewesen. Woraus aber, wenn nicht aus der Funktionalisierung als solcher, entspinnt sich dann das gesellschaftspathologische Potential des Rationalisierungsprozesses? c) Die Entkopplung von System und Lebenswelt: Das Gesamtbild gesellschaftlicher Rationalisierung gewinnt erst in der stereoskopischen Betrachtung beider vorgenannten Differenzierungsprozesse die für den Kolonialisierungsbefund benötigte Tiefenschärfe, indem diese Perspektive es erlaubt, »soziale Evolution als einen Differenzierungsvorgang zweiter Ordnung« zu begreifen: »System und Lebenswelt differenzieren sich, indem die Komplexität des einen und die Rationalität der anderen wächst, nicht nur jeweils als System und Lebenswelt – beide differenzieren sich gleichzeitig auch voneinander.« (TkH II, 230). Dieser Vorgang einer »Entkopplung von System Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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und Lebenswelt« vollzieht sich entlang der Entwicklung von Weltbildern über die »sozialevolutionären Stufen der Stammesgesellschaften, der traditionalen oder staatlich organisierten Gesellschaften sowie der modernen Gesellschaften«, wobei Habermas’ Anspruch, Gesellschaften »gleichzeitig als System und Lebenswelt« zu thematisieren, seinen historischen Anhaltspunkt darin findet, dass System und Lebenswelt auf der Stufe von noch kaum differenzierten Stammeskulturen zunächst »koextensiv« waren, sich bis in die modernen Gesellschaften hinein auf den Gleisen ihres jeweiligen Rationalisierungsmaßstabs jedoch stetig weiter voneinander entfernt haben (TkH II, 230 f.; 183). Wie wir gesehen haben, hat die Entlastungsfunktion einer »Technisierung der Lebenswelt« unmittelbar Auswirkungen bereits auf die von Habermas selbst nicht näher thematisierte Art und Weise der Interaktion zwischen Individuen, die gemeinsam im Betrieb derselben technischen Anlage beschäftigt sind. Indem Handlungen durch das Medium eines technischen Systems hindurchgeleitet und so von Kommunikationsprozessen abgekoppelt werden, werden sie nicht nur unspezifisch gegenüber einem qualifizierten Arbeiter, der sie ausführt, sondern auch unpersönlich hinsichtlich einer funktionsäquivalenten Zusammensetzung des qualifizierten Personals, das in einer Betriebsschicht zusammenarbeitet. 276 Unschwer erkennbar birgt die funktionalistische Möglichkeit einer Umgehung kommunikativen Handelns im Produktionsprozess damit bereits die Gefahr zum Aufkommen der »strukturellen Gewalt« einer fremd- oder selbstauferlegten Nötigung zum Verzicht auf die Etablierung und Pflege persönlicher Beziehungen am Arbeitsplatz (TkH II, 278). Indem der einzelne Arbeiter sein eigenes Handeln an technisch möglichen Effizienzsteigerungen orientiert, kann sich die im Prinzip verdinglichende Sichtweise etablieren, Produktionsergebnisse nur noch an systemischen Leistungsimperativen zu bemessen, wodurch kommunikative Handlungen insgesamt in Verdacht geraten, systemfunktional ›überflüssig‹ und in diesem Sinne ›Störfaktoren‹ zu sein. 276 Das Paradigma funktionaler Ersetzbarkeit bei gleichzeitiger Entsprachlichung stößt allerdings selbst hinsichtlich einer erfolgsorientierten Bewährung in hochkomplexen realtechnischen Systemen an Grenzen, die Charles Perrow 1984 organisationssoziologisch – u. A. anhand des Reaktorunglücks von Three Mile Island – in seinem zum Klassiker avancierten Werk Normal Accidents ausgemessen hat. Vgl. Charles Perrow: Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik. Frankfurt a. M./New York 21992.

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Dieser noch näher an Lukács’ Verdinglichungstheorem (s. o. S. 46 ff.) veranlagte Zusammenprall lebensweltlicher Kommunikationsbedürfnisse mit systemisch entkoppelten Leistungsimperativen weist bereits in die Richtung der Kolonialisierungsthese der Theorie des kommunikativen Handelns. Deren entwickelte Pathologiediagnose, die ich nun erläutern werde, bewegt sich allerdings auf einem deutlich höheren Abstraktionsniveau. β.) Die doppelte Pathologiediagnose einer ›Fragmentierung des Alltagsbewusstseins‹ und ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ Wie Habermas im »Vorwort zur Neuauflage« von Strukturwandel der Öffentlichkeit 1990 betont, betrachtet er seit der Theorie des kommunikativen Handelns »Ökonomie und Staatsapparat als systemisch integrierte Handlungsbereiche, die nicht mehr von innen demokratisch umgestaltet, d. h. auf einen politischen Integrationsmodus umgestellt werden könnten, ohne in ihrem systemischen Eigensinn beschädigt und damit in ihrer Funktionsfähigkeit gestört zu werden.« Der »Bankrott des Staatssozialismus« habe diesen Eindruck bestätigt. Ziel kritischer Theorie sei nicht mehr »die ›Aufhebung‹ eines kapitalistisch verselbständigten Wirtschafts- und bürokratisch verselbständigten Herrschaftssystems«, sondern nur mehr die »demokratische Eindämmung der kolonialisierenden Übergriffe der Systemimperative auf lebensweltliche Bereiche« (SÖ 36). Robin Celikates und Rahel Jaeggi fassen bereits eine Reihe von Kritiken zusammen, wenn sie gegen dieses Selbstverständnis einer kritischen Theorie einwenden, mit der Umakzentuierung des Programms einer Einheit von Theorie und Praxis drohe »aus dem Blick zu geraten, was Habermas Ende der 1960er-Jahre noch stärker betonte, nämlich dass nur die demokratische Kontrolle der staatlichen und ökonomischen Systeme den verdinglichenden Tendenzen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts entgegenzusteuern vermag.« 277 Gleichwohl handelt es sich bei Habermas’ Position in der Theorie des kommunikativen Handelns nicht um eine einfache Renaissance der in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ von ihm selbst ver277 Robin Celikates/Rahel Jaeggi: »Technik und Verdinglichung. ›Technik und Wissenschaft als Ideologie‹ (1968)«. In: Brunkhorst/Kreide/Lafont (Hrsg.): HabermasHandbuch. Stuttgart 2009, S. 155–164. Hier: S. 163.

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abschiedeten These von der »politische[n] Unschuld der Produktivkräfte«, sondern um den seit seiner Marcuse- und Weber-Rezeption Ende der 60er-Jahre stetig teils modifizierten, teils revidierten, jedenfalls theoretisch erheblich aufgerüsteten Versuch, der gesellschaftstheoretisch unbewältigten Ambivalenzen von Rationalisierungsprozessen im Rahmen eines innovativen Bezugssystems doch noch Herr werden zu können (TWI 58). Als ein »Differenzierungsvorgang zweiter Ordnung« soll die »Entkopplung von System und Lebenswelt« das deskriptiv-explanatorische Grundgerüst dafür liefern, neben den zweigleisigen Fortschritten einer Binnendifferenzierung von System und Lebenswelt auch jene katastrophischen Konsequenzen analytisch sichtbar werden zu lassen, die eintreten, wenn »Systemimperative mit eigensinnigen kommunikativen Strukturen zusammenprallen.« (TkH II, 575) Um ›Lebenswelt‹ als einen Funktionskreis der symbolischen und materiellen Reproduktion von Gesellschaften in den Blick nehmen und zu systemtheoretischen Beschreibungen ins Verhältnis setzen zu können, muss Habermas zunächst eine gesellschaftsanalytische Ebene identifizieren, auf der die »in der Perspektive der Teilnehmer nur als horizontbildender Kontext einer Handlungssituation« gegebene Lebenswelt objektiv zugänglich wird (TkH II, 208). Zur Erklärung des in den drei »strukturellen Komponenten« von »Kultur, Gesellschaft und Person« verlaufenden Prozesses der Reproduktion der Lebenswelt zieht er eine Funktionsanalyse sprachlicher Verständigung heran (TkH II, 209; 549): Unter dem funktionalen Aspekt der Verständigung dient kommunikatives Handeln der Tradition und der Erneuerung kulturellen Wissens [Kultur]; unter dem Aspekt der Handlungskoordinierung dient es der sozialen Integration und der Herstellung von Solidarität [Gesellschaft]; unter dem Aspekt der Sozialisation schließlich dient kommunikatives Handeln der Ausbildung von personalen Identitäten [Person]. Die symbolischen Strukturen der Lebenswelt reproduzieren sich auf dem Wege der Kontinuierung von gültigem Wissen, der Stabilisierung von Gruppensolidarität und der Heranbildung zurechnungsfähiger Aktoren. (TkH II, 209)

Mit dem auf diesem Wege einer »methodischen Vergegenständlichung der Lebenswelt« vollzogenen »Wechsel von der Teilnehmerzur Beobachterperspektive« führt Habermas das »Systemkonzept der Gesellschaft« ein, das es nun gestattet, Umstellungen von kommunikativem Handeln auf entsprachlichte Steuerungsmedien als potentiell 322

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gesellschaftspathologische Störungen in der Funktionsweise einer Reproduktion der Lebenswelt als solcher zu untersuchen (TkH II, 549). Bei der Reproduktion der Lebenswelt ist zunächst näher zwischen der materiellen und symbolischen Reproduktion zu unterscheiden. Subsumieren wir unter ›materieller Reproduktion‹ der Lebenswelt alle »durch das Medium der Zwecktätigkeit« vermittelten Aufgaben zur »Erhaltung des materiellen Substrats« einer Gesellschaft, so wird klar, weshalb Habermas diese »Technisierung der Lebenswelt« von einer Kritik ausnimmt (TkH II, 209; 273). Er erneuert damit einerseits seine bereits in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ gegen Marcuse vertretene Position, er sehe nicht, »wie wir je, solange die Organisation der menschlichen Natur sich nicht ändert […], auf Technik, und zwar auf unsere Technik, zugunsten einer qualitativ anderen sollten verzichten können«, versteht andererseits ›Technisierung‹ nun jedoch in einem deutlich weiteren Sinne und rechnet zugleich all jene Organisationsleistungen der materiellen Reproduktion zu, die in hochkomplexen spätkapitalistischen Gesellschaften dafür sorgen, dass diese bürokratisch und ökonomisch handlungsfähig bleiben (TWI 57). Da sich für Habermas mit dem eingetretenen »Bankrott des Staatssozialismus« zudem jede Systemalternative zum Kapitalismus, die nicht in einen vergleichbaren Totalkollaps von Wirtschaft und Staatsapparat einmünden soll, als illusorisch erwiesen hat, gibt es für ihn spätestens seit 1989 – wie zur Technologie, so zu kapitalistisch etablierten Steuerungsmechanismen – in Fragen der materiellen Reproduktion »kein Substitut, das ›humaner‹ wäre« (SÖ 36; TWI 58). Nicht nur das Medium ›Realtechnik‹, auch die Medien ›Macht‹ und ›Geld‹ erfüllen unverzichtbare Funktionen, die gewährleisten, dass Gesellschaften sich auf einem technisch, administrativ und ökonomisch hohen Steuerungsniveau selbst erhalten können. Es ist dieser selbsterhaltungslogisch begründete und geschichtsdiagnostisch abgesicherte Hintergrund, vor dem »Ökonomie und Staatsapparat als systemisch integrierte Handlungsbereiche« betrachtet werden, »die nicht mehr von innen demokratisch umgestaltet, d. h. auf einen politischen Integrationsmodus umgestellt werden könnten, ohne in ihrem systemischen Eigensinn beschädigt und damit in ihrer Funktionsfähigkeit gestört zu werden.« (SÖ 36). Als gesellschaftspathologisch kritisierbar, weil objektiv auch anders möglich, werden Umstellungen auf einen systemischen Integrationsmodus für Habermas erst dann, wenn sie die symbolische Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Reproduktion der Lebenswelt betreffen. In Korrektur eines in der phänomenologischen Tradition »kulturalistisch verkürzten Begriff[s] der Lebenswelt« versteht er symbolische Reproduktion als einen dreifach dimensionierten Vorgang (TkH II, 210). Kultur, Gesellschaft und Person umschreiben strukturelle Komponenten der Lebenswelt, denen jeweils eigene reproduktive Funktionen zukommen: Kultur bezeichnet einen »Wissensvorrat« von überlieferten Deutungsmustern, auf den Kommunikationsteilnehmer in der Verständigung rekurrieren und den sie dabei teils performativ weitertradieren, teils konsensorientiert aktualisieren. Gesellschaft meint die »legitimen Ordnungen« von Recht und Moral, über die solidaritätsstiftend Zugehörigkeiten zu einer sozialen Gruppe geregelt werden. Persönlichkeit schließlich bezieht sich auf Sozialisationsprozesse, die den Erwerb von Kompetenzen gewährleisten, die »ein Subjekt sprach- und handlungsfähig machen«, d. h. es im Laufe seiner Lebensgeschichte zu einem vollwertig verantwortlichen Mitglied der gesellschaftlichen Kommunikationsgemeinschaft heranwachsen lassen (TkH II, 209). Pathologien und Krisenerscheinungen in den drei genannten Sphären artikuliert Habermas unter Zuhilfenahme von instrumenteller Nachhaltigkeits- und Bevorratungsmetaphorik. Er spricht von »Ressourcen für die Verständigungsleistungen von Interaktionsteilnehmern«, deren lebensweltliche Vorkommen »verknapp[en]« können, wodurch Reproduktionsstörungen hervorgerufen werden (TkH II, 203; 213). Verknappt die Ressource ›Sinn‹, so ist die kulturelle Reproduktion gestört. Geht der lebensweltliche Vorrat an ›Solidarität‹ zur Neige, werden Gesellschaften anomisch. Ist die sozialisationskatalysierte Ressource ›Ich-Stärke‹ von Erschöpfung bedroht, so ist mit dem vermehrten Auftreten von Psychopathologien zu rechnen (vgl. Fig. 22, TkH II, 215). Dass Habermas’ Metaphernwahl hier dem Paradigma ökonomisch nachhaltigen Wirtschaftens folgt, ist kein Zufall. Als das einigende Band zwischen den heterogenen zeitgenössischen Protestbewegungen der späten 70er- und frühen 80er-Jahre bezeichnet er die »Wachstumskritik«, wozu die metaphorische Forderung nach ›Nachhaltigkeit‹ im Umgang mit ›Lebensweltressourcen‹ ein direktes Gegenstück bildet (TkH II, 577). In Habermas’ konkreter Bezugnahme auf die Ökologiebewegung erzeugt die Entscheidung für dieses Metaphernfeld allerdings den paradoxen Rückkopplungseffekt der symbolisch-expressiven Metaphorisierung eines prima facie materiell-konstativ ganz wörtlich Gemeinten: Forderungen nach ökologischer Nachhaltigkeit angesichts systemischer Risiken erschei324

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nen plötzlich als Ausdruck einer Protestation gegen das lebensweltliche Elend symbolischer Reproduktionsstörungen. Dem exoterischen Nachhall dieser Rückkopplung wird in der Metaphernanalyse der Kolonialisierungsthese noch weiter nachzugehen sein. Systematisch betrachtet, werden Lebensweltpathologien also durch Störungen der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt in den drei Dimensionen von Kultur, Gesellschaft und Person möglich. Das entwicklungsdynamisch-faktische Eintreten von Krisen im Spätkapitalismus erklärt die Theorie des kommunikativen Handelns mittels der »doppelte[n] Pathologiediagnose« einer »kulturellen Verarmung« und »Kolonialisierung« der Lebenswelt. 278 Die eigentliche »Ironie des weltgeschichtlichen Aufklärungsprozesses« entspinnt sich aus den unweigerlichen Spätfolgen einer geschichtlichen »Entkoppelung von System und Lebenswelt«, indem gerade die Rationalisierung der Lebenswelt eine Steigerung der Systemkomplexität ermöglicht, »die so hypertrophiert, daß die losgelassenen Systemimperative die Fassungskraft der Lebenswelt, die in ihnen instrumentalisiert wird, sprengen.« (TkH II, 232 f.). Die von Habermas analysierten Krisentendenzen moderner Gesellschaften haben also keine rein systemischen Ursachen, sondern speisen sich auch aus Rationalisierungsprozessen, die sich im teilnehmerperspektivisch-kommunikativen Handeln selber vollziehen. Während Marx und Engels die Genese eines objektiv ›falschen‹, weil teilnehmerperspektivisch einseitigen Selbstverständnisses vergesellschafteter Individuen in der Deutschen Ideologie noch auf Basis der vergleichsweise einfachen historischen Tatsache einer Teilung zwischen geistiger und materieller Arbeit hatten erklären wollen (vgl. MEW 3, 31 f.), findet Habermas nun in der arbeitsteiligen Professionalisierung der drei entlang der Geltungsansprüche von Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit eigensinnig ausdifferenzierten Wertsphären von Wissenschaft, Recht und Kunst die Ermöglichungsbedingungen zu einer »strukturelle[n] Gewalt«, die sich hinter dem Rücken der Beteiligten als »systematische Einschränkung von Kommunikation« auf so perfide Weise bahnbricht, dass selbst der Begriff eines ›falschen‹ Bewusstseins durch denjenigen eines »fragmentierte[n]« ersetzt werden muss (TkH II, 278; 522). Indem schon durch die Ausdifferenzierung von Fachsprachen der »Abstand zwischen Expertenkulturen und dem breiteren Publikum« wächst, wird die kommunikative Alltagspraxis 278

Celikates/Pollmann: »Baustellen der Vernunft«. S. 108 ff.; TkH II, 481; 293.

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vom Strom der nun überwiegend in gesellschaftlich spezialisierten Subsystemen fortgeschriebenen »Geschichte der Wissenschaften, der Moral- und Rechtstheorie« und der »Kunst« abgeschnitten: »Was der Kultur durch spezialisierte Bearbeitung und Reflexion zuwächst, gelangt nicht ohne Weiteres in den Besitz der Alltagspraxis.« (TkH II, 482) Ohne eigens erbrachte Übersetzungsleistungen zwischen Expertenkulturen und zivilgesellschaftlicher Öffentlichkeit also tritt ein, was Habermas zusammenfassend auf den Begriff einer »kulturelle[n] Verarmung« der Lebenswelt bringt (ebd.): Die rational eigensinnigen Differenzierungen von moderner Wissenschaft, positivem Recht und autonom gewordener Kunst haben eine Immunschwäche alltagspraktisch-kommunikativen Handelns zur Folge, welche die autochthonen Strukturen der Lebenswelt von innen heraus so stark vorschädigt, dass diese gegen das hypertrophierende Wachstum der subsystemischen Gesellschaftsorgane ›Bürokratie‹ und ›Wirtschaft‹ letztlich keine angemessene Schutzreaktion mehr zu erbringen vermögen, so dass die genannten Krisenerscheinungen von Sinnverlust, Anomie und Psychopathologien auftreten (vgl. TkH II, 584). Als ›fragmentiert‹ bezeichnet Habermas das Bewusstsein der vergesellschafteten Individuen dabei insofern, als mit der Tilgung der »auratischen Spuren des Sakralen«, wie sie für den Rationalisierungsprozess charakteristisch sein soll, zugleich die Verbindung zu jenen traditionalen Überlieferungsgehalten abgebrochen ist, die auf vormodernen Stufen noch die Einheitlichkeit eines Weltbilds garantieren konnten (TkH II, 520). Vom identitätssichernden Strom der geschichtlichen Überlieferung ebenso abgeschnitten wie von expertenkulturell verkapselten Selbstverständigungsdiskursen, deren eigensinnige Ausdifferenzierung das vormoderne Maß an Kohärenz auch untereinander vermissen lässt, droht die Lebenswelt letztlich jede strukturelle Integrität von kulturellem Sinn, gesellschaftlicher Solidarität und individueller Ich-Stärke zu verlieren. Auch an der in den Legitimationsproblemen freigelegten Schnittstelle von sozialwissenschaftlicher Ideologiekritik und subjektivem Krisenempfinden klafft damit die bereits weitgehend vor-entsprachlichte Lücke einer Experte-LaieDifferenz zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Subsystemen, durch deren Bresche hindurch die systemischen Steuerungsmedien von Macht und Geld der Lebenswelt ungehindert in den Rücken fallen und sich phänomenal unauffällig in den Poren »einer auf vitale Überlieferungen angewiesenen Alltagskommunikation« einnisten können: 326

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Die Lebenswelt wird an verrechtlichte, formal organisierte Handlungsbereiche assimiliert und gleichzeitig vom Zufluß einer ungebrochenen kulturellen Überlieferung abgeschnitten. So verbinden sich in den Deformationen der Alltagspraxis die Erstarrungs- mit Verödungssymptomen. (TkH II, 522; 483)

Es ist letztlich diese unheilvolle Verbindung von ›kultureller Verarmung‹, ›Fragmentierung des Alltagsbewusstseins‹ und ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹, gegen die Habermas die sozialkritische Aufgabe anmahnt, zu klären, »wie Expertenkulturen mit der Alltagspraxis vermittelt werden können.« (TkH II, 585) Anders als noch in den Legitimationsproblemen, in denen allseits bekannte Krisenerscheinungen auf kapitalistische Ursachen zurückgeführt werden, fällt allerdings die Konkretisierung, welche Arten von Krisenphänomenen er mit seiner »Theorie der spätkapitalistischen Verdinglichung« eigentlich genau im Blick hat, schwer (TkH II, 522). Ein ausgeprägt bildhafter Stil ist in der Theorie des kommunikativen Handelns zwar beinahe durchweg greifbar, er dient jedoch weniger Illustrationszwecken als vielmehr der heuristisch-antizipierenden Materialbeschaffung zur sozialtheoretischen Rekonstruktion hochabstrakter Vorgänge, deren Verbegrifflichung sich dem wissenschaftlich zur Verfügung stehenden Fachvokabular entzieht. Auch metaphernlogisch betrachtet ist das Werk also eine höchst produktive »Baustelle der Vernunft«. 279 Habermas räumt selbst ein, seine »Aussagen über eine innere Kolonialisierung der Lebenswelt« stünden »auf einer relativ hohen Stufe der Verallgemeinerung«, weshalb er seine Kolonialisierungsthese anhand des Beispiels einer in vier Schüben verlaufenden »Verrechtlichung kommunikativ strukturierter Handlungsbereiche« präzisiert, um auf diesem Wege zumindest angeben zu können, »welche Art von Empirie zu ihr paßt.« (TkH II, 523) Auch historische Verrechtlichungsschübe bewegen sich allerdings noch auf einem analytischen Abstraktionsniveau, das es fraglich erscheinen lässt, ob auf dem Wege einer solchen Präzisierung bereits »Expertenkulturen mit der Alltagspraxis« so »vermittelt werden können«, dass kulturelle Verarmung und Fragmentierung wirksam zu überwinden sind (TkH II, 585). Eine weitere Stufe der »Übersetzung«, d. h. eine weitere Pointierung, worin die Pathologien speziell in Bezug auf die zeitgenössi-

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sche gesellschaftliche Situation bestehen sollen, scheint also angeraten (vgl. FG 451). Habermas hat Regina Kreide 2012 in seiner »Entgegnung« auf ihren Beitrag im Sammelband Habermas und der Historische Materialismus nachdrücklich für eine »überzeugende Behandlung der Kolonialisierungsthese« gedankt, die als Beleg dafür gewertet werden könne, dass die These auch nach rund 20 Jahren und unter zeitgeschichtlich bereits veränderten Umständen »ihre Erklärungskraft nicht verloren hat.« 280 Bezeichnend für die Frage nach der textimmanent kritischen Anlage des Habermas’schen Hauptwerks stützt Kreide ihre Aktualisierung der Kolonialisierungsthese allerdings in praktischer Absicht auf den Begriff kommunikativer Macht, der erst in Faktizität und Geltung eingeführt wird. Zur Veranschaulichung des empirischen Phänomenbereichs, den die These in ihrer zu aktualisierenden Gestalt adressieren soll, greift sie außerdem auf die »Einleitung zum Band 1000 der Edition Suhrkamp« von 1979 aus den Kleinen politischen Schriften zurück: Die Instrumentalisierung der Berufsarbeit, die Mobilisierung am Arbeitsplatz, die Verlängerung von Konkurrenz- und Leistungsdruck bis in die Grundschule, die Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Lebenszeiten, die konsumistische Umdefinition des persönlichen Lebensbereichs […], die Bürokratisierung und Verrechtlichung von privaten, informellen Handlungsbereichen, vor allem die politisch-administrative Erfassung von Schule, Familie, Erziehung, kultureller Reproduktion überhaupt – diese Entwicklungen bringen eine neue Problemzone zu Bewußtsein, die an den Grenzen zwischen ›System‹ und ›Lebenswelt‹ entstanden ist. […] Das Übergreifen von Formen der ökonomischen und administrativen Rationalität auf Lebensbereiche, die dem Eigensinn moralisch- und ästhetisch-praktischer Rationalität gehorchen, führt zu einer Art Kolonialisierung der Lebenswelt. 281

Kreide buchstabiert dann eine erhellende Reihe von Bürokratisierungs- und Verrechtlichungstendenzen fortgeschrittener Globalisierung aus, die z. B. zur ökonomischen und emotionalen Ausbeutung von Immigrantinnen in der Kinderbetreuung führen und die helfen können, dem Kolonialisierungstheorem ein an den ruinösen »Facetten 280 Jürgen Habermas: »Entgegnung auf Regina Kreide«. In: Rapic (Hrsg.): Habermas und der Historische Materialismus. München 2014, S. 269–271. 281 Jürgen Habermas: Kleine politische Schriften I-IV. Frankfurt a. M. 1981, S. 432 f. Vgl. Kreide: »Die verdrängte Demokratie«. S. 242; 253 ff. Vgl. auch ähnliche Formulierungen in der Theorie des kommunikativen Handelns: TkH II, 581.

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neoliberaler Globalisierung« konturiertes Anwendungsschema zur Seite zu stellen. 282 Insbesondere der realgeschichtlich fließende Übergang von Kolonialisierungs- in Globalisierungsprozesse erleichtert hier den Schritt von der abstrakten Analyseebene in den konkreten Phänomenbereich, da Globalisierungspathologien postkolonialistischer Ausbeutung es gestatten, handelnden Subjekten – etwa uns als Konsumenten, den Arbeitgebern besagter Immigrantinnen oder den CEOs und Startup-Ikonen global agierender Unternehmen – teilnehmerperspektivisch zumindest eine personale Mitverantwortung für Kolonialisierungen der Lebenswelt zuzuschreiben, während Wirtschaft und Staatsapparat als solche zwar systemisch-kausale Ermöglichungsbedingungen sind, jedoch nicht ohne Weiteres als zurechnungsfähige Urheber gesellschaftspathologisch mediatisierter Verhältnisse angesprochen werden können. Auch die anwendungsschematische Explikation des Verdinglichungstheorems anhand von konkreten Globalisierungseffekten vermag allerdings nicht zu kompensieren, dass die sprachliche Vorentscheidung einer ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ das kritische Potential zur metaphorischen Verschränkung von Beobachter- und Teilnehmerperspektive, wie es in den Legitimationsproblemen aus dem historisch-semantischen Verhältnis von ›Kritik‹ und ›Krise‹ entwickelt wird, weitgehend ungenutzt lässt. Das soll im Folgenden zunächst (γ.) anhand des metaphorischen Gehalts der Kolonialisierungsthese an der Schnittstelle zwischen Experten- und Laiendiskurs gezeigt werden, um aus dieser Analyse abschließend (c.) die von jeder kritischen Theorie methodenreflexiv unweigerlich aufzuwerfende Frage zu entwickeln und zu beantworten, welcher Rezipientenkreis als mögliche Avantgarde einer gesellschaftlichen Durchsetzung objektiv möglicher Fortschritte angesprochen werden kann. γ.) Der metaphorische Gehalt der Kolonialisierungsthese an der Schnittstelle zwischen Expertenkultur und Öffentlichkeit Im Vorigen habe ich zunächst die Grundzüge von Habermas’ Theorie gesellschaftlicher Rationalisierung im Ausgang von der SystemLebenswelt-Unterscheidung und anschließend die doppelte Patho282

Kreide: »Die verdrängte Demokratie«. S. 252.

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logiediagnose der Theorie des kommunikativen Handelns untersucht. Es sollen nun die eingangs dieses Abschnitts aufgeworfenen Fragen geklärt werden, ob erstens die in Anschlag gebrachte Kolonialisierungsmetapher der kritischen Intention des Werkes gemäß ist, und zweitens, ob in der Verwendung dieser Metapher eine exoterische Vermittlung von Expertenkulturen und Öffentlichkeit realisiert ist, wie sie theoriestrukturell in den vorangegangenen Kapiteln aus Bacon und Herder entwickelt wurde. Habermas’ Formulierung einer ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ weist unter Gesichtspunkten der Blumenberg’schen Unterscheidung zwischen ›absoluten Metaphern‹ und metaphorischen »Restbestände[n]« einen Doppelcharakter auf (PM 10). In ihrer Funktion zur Bezeichnung des abstrakten Vorgangs einer Umstellung von kommunikativem Handeln auf systemische Steuerungsmedien trägt das Kolonialisierungstheorem einen beobachterperspektivisch ›absoluten‹, sozialtheoretisch definierten Sinn. Pathologiediagnostisch verstanden transportiert die Formel jedoch zugleich einen teilnehmerperspektivischen Gehalt, den sie als metaphorischen ›Restbestand‹ analogisch dem zur Veranschaulichung herangezogenen Metaphernfeld entlehnt: »die Imperative der verselbständigten Subsysteme dringen […] von außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren in eine Stammesgesellschaft – ein und erzwingen die Assimilation« (TkH II, 522). Mit dem Bild vom durch technologische Fortschritte ermöglichten Eindringen europäischer Kolonialherren ins Siedlungsgebiet indigener Volksgemeinschaften erinnert Habermas an die weltgeschichtlich versehrenden Konsequenzen des Kolonialimperialismus und bindet seine Pathologiediagnose so an einen aufgeklärten Selbstverständigungsdiskurs über die ambivalenten Folgen des rationalisierungsgeschichtlichen Fortschritts zurück, dessen kritische Stoßrichtung sich paradigmatisch an Herders ironisierender Rezeption der Bacon’schen Lobeshymnen auf die Erfindung des Kompasses ablesen lässt: »Mit der kleinen Nadel auf dem Meer – wer kann die Revolutionen in allen Weltteilen zählen, die damit bewürkt sind. Länder gefunden, so viel größer als Europa! Küsten erobert voll Gold, Silver, Edelsteine, Gewürz und Tod!« (AP 59) Während davon auszugehen ist, dass der definitorische Gehalt der Kolonialisierungsthese als einer über »Monetarisierung und Bürokratisierung« erzwungenen »Angleichung des kommunikativen Handelns an formal organisierte Handlungsbereiche« sich auf einem Abstraktionsniveau bewegt, dessen »sozialwissenschaftliche Komple330

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xität und Tragweite bis heute manchen […] Leser schlichtweg überfordert« (Celikates/Pollmann), lässt die Kolonialisierungsmetapher zumindest die intendierte Kritik an Übergriffen durch Politik und Wirtschaft auf die Privatsphäre von Individuen hinreichend klarwerden, um neben der esoterisch-analytischen Funktion des Theorems auch eine exoterisch-kritische Öffentlichkeitswirkung der mit ihm verbundenen Pathologiediagnose vermuten zu lassen. 283 Jede einzelne der auf exoterischem Feld möglichen (Fehl-)Interpretationen der Kolonialisierungsthese ausleuchten zu wollen, die sich nicht zuletzt schon aus der Schwierigkeit des Lebensweltbegriffs ergeben können, ist unmöglich und wäre im schlechten Sinne spekulativ. Ich beschränke mich daher im Folgenden darauf, das dem Leser bereits durch die Metaphernwahl übermittelte Signal näher zu untersuchen. Schon ein Blick auf die Folgen des realen Kolonialismus, den Habermas mit dem Eindringen von Kolonialherren in Stammesgesellschaften umschreibt, muss ernüchtern. Eine signifikante »Eindämmung« von »kolonialisierenden Übergriffe[n]«, wie sie von der Theorie des kommunikativen Handelns als zeitgenössische Herausforderung expliziert wird, ist realgeschichtlich ohne Vorbild (SÖ 36). Bis zum heutigen Tag sind die von europäischen Kolonialexpeditionen angerichteten Schäden an gesellschaftspathologischen Spätfolgen ablesbar, deren erfolgreiche Kompensation auch in dekolonisierten Nachfolgestaaten, die bereits seit Jahrzehnten über einen unabhängigen Status verfügen, nicht abzusehen ist. Als ein Interpretationshorizont verstanden evoziert die von Habermas mit der Kolonialisierungsthese gezogene Parallele ein im günstigsten Fall pessimistisches, wenn nicht gar deprimierendes Bild. Wie etwa hätten amerikanische Stammesgesellschaften die Übergriffe technologisch weit überlegener Konquistadoren abwehren sollen? Im Sinne eines teilnehmerperspektivischen Handlungsappells verstanden lässt sich der Kolonialisierungsthese zugutehalten, dass sie es vermag, den von der Theorie analysierten Krisenphänomenen jenen drastischen Eindruck von Dringlichkeit zu verleihen, der nötig ist, um überhaupt gesellschaftlichen Widerstand zu mobilisieren. Den Eindruck wachzurufen, dass reale Möglichkeiten zu einem gelingenden Ausbruch aus Kolonialisierungstendenzen gesellschaftlich objektiv gegeben wären, vermag sie allerdings kaum.

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TkH II, 593; Celikates/Pollmann: »Baustellen der Vernunft«. S. 99.

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Nimmt man Habermas’ Anliegen ernst, »im kapitalistischen Wirtschaftssystem nicht nur eine neue Formierung von Klassenverhältnissen, sondern ein fortgeschrittenes Niveau der Systemdifferenzierung eigenen Rechts« zu erkennen, wird man annehmen dürfen, dass offenbar dieser durch die Metaphernwahl erzeugte Eindruck zumindest zum Teil so gewollt ist (TkH II, 548). Eine ›Dekolonisation‹ kann für Habermas letztlich nur in der defensiven Aufgabe bestehen, zwischen System und Lebenswelt ein Arrangement zu finden, das es dem Einzelnen ermöglicht, in einem zum materiell-reproduktiven Wohle aller steuerungsmedial liberalisierten Gehäuse sozialtechnischen Fortschritts gleichwohl noch ein symbolisch-reproduktiv unversehrtes Leben zu führen. So verwandelt sich »die semantische Frage, wie etwas aus einer Theoriesprache in die andere übersetzt werden kann, in die empirische Frage, wann das Wachstum des monetär-bürokratischen Komplexes Handlungsbereiche berührt, die nicht ohne pathologische Nebenwirkungen auf systemintegrative Mechanismen umgestellt werden können.« (TkH II, 548) Sobald empirisch geklärt ist, welche Rückzugsgebiete der Lebenswelt um jeden Preis zu halten sind – so offenbar Habermas’ Hoffnung –, können die verfügbaren Kräfte an diesen Fronten konzentriert und weitere Vorstöße der galoppierenden Kolonialisierung gestoppt werden. Die eingangs aufgeworfene erste Frage, ob der metaphorische Gehalt der ›Kolonialisierungsthese‹ der kritischen Intention des Werkes gemäß ist, kann damit bis zu einem gewissen Grade bejaht werden. Insofern »Technisierung der Lebenswelt« einen prinzipiell ambivalenten, keinen schlechthin pathologischen Vorgang darstellen soll, wird die radikale Vernunftkritik der Frankfurter Schule der 40er-Jahre wieder herabgestimmt zu einer Verdinglichungskritik, die Herders ausgewogenerer Diagnose einer prinzipiell ambivalenten Dialektik der Aufklärung nähersteht als jene beinahe ausnahmslos resignative Dialektik der Aufklärung Horkheimers und Adornos (TkH II, 273). Der metaphorisch vom Wissen um geschichtlich-reale Auswirkungen des Kolonialismus transportierte Pessimismus, der in Habermas’ Metaphernwahl mitschwingt, mag indes durchaus so gemeint sein – nichts verpflichtet den kritischen Theoretiker auf eine kontrafaktisch gegen die eigenen Analyseergebnisse gerichtete optimistische Grundhaltung. Es bleibt die zweite Frage, ob in Habermas Metaphernverwendung eine exoterische Vermittlung von Expertenkulturen und Alltagspraxis realisiert ist, die der in den vorangegangenen Kapiteln aus 332

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Bacon und Herder gewonnenen Theoriestruktur entspricht. Wenn man davon ausgeht, dass auch ein eher defensives Signal exoterisch eine bestimmte Wirkung zu entfalten vermag, geht es nun darum, zu klären, ob in der Theorie des kommunikativen Handelns metaphernlogisch ein gegenüber Laien baconisch diskursverschließender oder herderianisch diskurseröffnender Effekt erzeugt wird. Hier nämlich offenbart sich der eigentlich irritierende Zug von Habermas’ Pathologiediagnose einer mit der ›Fragmentierung des Alltagsbewusstseins‹ gekoppelten ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹. Blicken wir zunächst zurück auf die Geschichte des Kolonialisierungsdiskurses im Rahmen von Theorien einer Einheit von Theorie und Praxis, fällt auf, dass es sich dabei bis heute um einen beinahe durchgängig abendländisch geprägten Selbstverständigungsdiskurs handelt. Bereits Francis Bacon wendet sich mit seiner Instauratio Magna direkt an König Jakob I. und dessen höhergestellte Untertanen, wenn er die Lebensweise in einem »sehr kultivierten Teil von Europa« mit derjenigen in einer »sehr wilden und barbarischen Gegend Neu-Indiens« als materiell und moralisch überlegen darstellt: »Der Mensch ist dem Menschen ein Gott.« (NO I, 129) Indem er dem Stolz des kolonialistisch aufstrebenden British Empire das Wort redet, schmiegt Bacon sich teilnehmerperspektivisch eng dem Selbstverständnis seiner Standesgenossen an, die er in wissenschafts- und gesellschaftspolitischer Absicht von seinem Unternehmen, dessen Glücksverheißungen er in Analogie setzt zur Entdeckungsreise des Kolumbus, zu überzeugen beabsichtigt. Den Gedanken, Kompass und Schießpulver könnten anderes sein als Emanzipationsmittel des Menschen in seiner rechtmäßigen Erhebung zur göttlich gebotenen Herrschaft über die Natur, lässt er nicht aufkommen. Johann Gottfried Herder setzt genau an diesem neuralgischen Punkt von Bacons Argumentation an, wenn er auf den Widerspruch zwischen dem normativen Selbstverständnis und dem faktischen Handeln der Aufklärer speziell im Hinblick auf die überseeischen Kolonien hinweist: »In Europa ist die Sklaverei abgeschafft, weil berechnet ist, wieviel diese Sklaven mehr kosteten und weniger brächten als freie Leute: nur eins haben wir uns noch erlaubt, drei Weltteile als Sklaven zu brauchen« (AP 74). Wie bereits Bacon wendet Herder sich dabei an Experten und Laien gleichermaßen, indem er Teilnehmer- und Beobachterperspektive über Metaphern miteinander verschränkt. Schon aus Gründen der rezeptionsreflexiv für seine Schrift zu erwartenden Leserschaft sind diese Laien allerdings auch hier nur die schon von Bacon direkt Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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angesprochenen Europäer, nicht etwa die Ureinwohner in den überseeischen Koloniegebieten selbst. Kurzum: Das zwischen Expertenund Laienrezeption veranlagte Buch der Kolonialisierung hat die öffentlichen Bibliotheken der Kolonialisten bis tief ins 20. Jh. hinein nie verlassen – die Kolonialisierten hätten es als Analphabeten des darin eurozentrisch geführten Aufklärungs- und Selbstverständigungsdiskurses ohnehin schwerlich lesen und verstehen können. Diese Feststellung wirft nun aber auch ein Schlaglicht auf Habermas’ Verwendung der Kolonialisierungsmetapher in der Theorie des kommunikativen Handelns. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ einen Mechanismus bezeichnen soll, dessen Räder von der Nadelspitze eines über Macht und Geld inzwischen lückenlos ausdifferenzierten Rationalisierungsprozesses angestoßen wurden und in Gang gehalten werden, wird klar, dass die Adressaten der Theorie selber gar nicht mehr als die Urheber, sondern nur noch als die Opfer einer Kolonialisierung durch gesellschaftliche Subsysteme und anonyme Steuerungsmedien angesprochen werden können. In einem Kolonialisierungsprozess, der intentional handelnde und verantwortliche Subjekte nur noch auf Seiten der Unterdrückten und Kolonialisierten kennt, bezieht der Sozialtheoretiker allerdings einen eigentümlich esoterischen Metastandpunkt, der die einer kritischen Gesellschaftstheorie abverlangten Reflexionsleistungen ausgerechnet an der praktisch ausschlaggebenden Stelle einer Antizipation ihres Verwendungszusammenhangs vermissen lässt. Die expertenkulturell gestellte Doppeldiagnose einer hermetischen Verschachtelung von ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ und ›Fragmentierung des Alltagsbewusstseins‹ wirft die Herder’sche Frage auf: »warum den Kranken stören, ohne daß man ihm hilft?« (AP 82) Der im Hinblick auf Praxis hier entstehende Eindruck von Reserviertheit wird noch gestützt durch die Art und Weise, wie Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns auf Zivilgesellschaft und Protestbewegungen Rekurs nimmt. Während er in Bezug auf die esoterisch verkapselten Expertenkulturen dafür votiert, die Einheit der Vernunft in ihren drei spezialisierten Teilbereichen von moderner Wissenschaft, Recht und Kunst »diesseits der Expertenkulturen, in einer nichtverdinglichten kommunikativen Alltagspraxis, wieder zu gewinnen«, trägt sein exoterischer Blick auf die zeitgenössischen Protestbewegungen deutlich beobachterperspektivische – ja geradezu verobjektivierende Züge (TkH II, 586). Die zeitgenössischen »Protestpotentiale« von »Antikernkraft- und Ökologiebewe334

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gung«, über »Bürgerinitiativbewegung« und »Frauenbewegung«, bis hin zur »Psychoszene mit Lebenshilfegruppen und Jugendsekten« (TkH II, 578) analysiert Habermas gegen Ende seines Hauptwerks unter dem Gesichtspunkt einer empirischen Bewährung seiner Kolonialisierungsthese: »Aber die Protestpotentiale entstehen nun an anderen Konfliktlinien, nämlich dort, wo sie, wenn die These der Kolonialisierung der Lebenswelt stimmt, auch zu erwarten sind.« (TkH II, 575 f.) Die neuen Konflikte sollen »nicht mehr in Bereichen der materiellen Reproduktion« entstehen, wo sie noch »in Form systemkonformer Entschädigungen zu beschwichtigen« wären, sondern »vielmehr in Bereichen der kulturellen Reproduktion, der sozialen Integration und der Sozialisation«: »Es geht nicht primär um Entschädigungen, die der Sozialstaat gewähren kann, sondern um Verteidigung und Restituierung gefährdeter, oder um die Durchsetzung reformierter Lebensweisen. Kurz, die neuen Konflikte entzünden sich nicht an Verteilungsproblemen, sondern an Fragen der Grammatik von Lebensformen.« (TkH II, 576) Das »einigende Band« zwischen den »heterogenen Gruppen« sei die »Wachstumskritik« (TkH II, 578). Den offensiven Charakter einer Emanzipationsbewegung gesteht Habermas dabei einzig noch dem Feminismus zu, »während alle übrigen Bewegungen einen eher defensiven Charakter haben« sollen (ebd.). Unter Gesichtspunkten der für die vorliegende Arbeit leitenden Frage nach einer philosophischen Selbstverständigung über objektive Möglichkeiten der technologischen Entwicklung ist insbesondere die von Habermas hier eingenommene Haltung zur Antikernkraft- und Ökologiebewegung heute kaum noch nachvollziehbar. Während er einerseits betont, auch diese gesellschaftliche Opposition sei als eine Form von Widerstand »gegen Tendenzen einer Kolonialisierung der Lebenswelt« zu begreifen, der sich nicht in »Bereichen der materiellen Reproduktion« oder an »Verteilungsproblemen, sondern an Fragen der Grammatik von Lebensformen« entzünde, stellt er andererseits im weiteren Verlauf des Abschnitts die These auf, Auslöser des Protests seien »die handfesten Zerstörungen der urbanen Umwelt, die Zersiedlung, Industrialisierung und Verpestung der Landschaft […], also Entwicklungen, die erkennbar die organischen Grundlagen der Lebenswelt antasten« (TkH II, 579; 576; 580). Was, wenn nicht die materielle Reproduktion, so ist man versucht zu fragen, sollte denn die »organischen Grundlagen der Lebenswelt« ausmachen? Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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Paradox wird die Charakterisierung der zivilgesellschaftlichen Wahrnehmung »›Grüne[r]‹ Probleme« nicht zuletzt aufgrund der zur Beschreibung von Lebensweltpathologien gewählten Leitmetaphorik einer ›nachhaltigen‹ symbolischen Reproduktion (TkH II, 579). Habermas’ Rede von »nicht-regenerierbare[n] Bestände[n]« der Lebenswelt und von »Ressourcen für die Verständigungsleistungen von Interaktionsteilnehmern«, deren Vorkommen »verknapp [en]« können, verweist metaphernlogisch zurück auf das Vokabular des ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeitsdiskurses (TkH II, 550; 203; 213). Die anschauliche Vorstellung einer in ihrem Bestand durch die Kolonialisierung akut gefährdeten Lebenswelt profiliert eine sozial gelagerte Spätfolgenkritik, wie sie bereits Friedrich Engels in der Dialektik der Natur aus einer Analogie zu den ökologisch »entfernteren natürlichen Nachwirkungen […] unserer gewöhnlichsten Produktionshandlungen« hatte gewinnen wollen, um daraus das Postulat einer Untersuchung auch der »entfernteren gesellschaftlichen Wirkungen dieser Handlungen« abzuleiten (MEW 20, 453). Wie man es sich »in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo« nicht habe träumen lassen, dass die Abholzung der Wälder längerfristig zum Versiegen des gesamten Wasserhaushalts ganzer Landstriche führen werde, so habe auch Kolumbus nicht vorhergesehen, dass er mit der Entdeckung Amerikas »die in Europa längst überwundene Sklaverei zu neuem Leben erweckte« (ebd., 453 f.). Engels versteht ›Nachhaltigkeit‹ also als ein materialistisch komplex dimensioniertes Problem des Zusammenspiels von »natürlichen« und »gesellschaftlichen Wirkungen« (ebd.). In der Theorie des kommunikativen Handelns aber wird die materielle Dimension ökologischer Nachhaltigkeit, durch eine Rückübertragung der Metapher auf jenes Feld, dem sie zuvor entlehnt wurde, für die gesellschaftliche Praxis zum Verschwinden gebracht. Indem Habermas den durch ökologische Folgeprobleme bewegten Protest auf Fragen der »Grammatik von Lebensformen« reduziert, droht aus dem Blick zu geraten, dass die zivilgesellschaftliche Kritik an atomarer Bewaffnung und ziviler Nutzung der Kernenergie – zumindest in den informierteren Teilen der Bewegung – nie einen rein lebensweltdefensiven Charakter im Sinne der Verteidigung bestimmter Lebensformen aufwies. Ideologiekritisch attackiert wurden von Anfang an vielmehr ganz gezielt auch die systemischen Paradoxien einer Produktion von Mitteln zur apokalyptischen Selbstvernichtung und die kapitalistisch kurzsichtige Irrationalität des Betriebs hochrisikotech336

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nologischer Anlagen, die beim Auftreten von Störfällen Schäden verursachen können, deren generationenübergreifende Bewältigungskosten den zu erwartenden ökonomischen Nutzen derselben Anlage nicht nur ggf. um ein Vielfaches übersteigen, sondern – von CO2Haushalt bis Endlagerungsproblematik – auch eine ganze Reihe von ungelösten Fragen der generationengerechten materiellen Verteilung von Nutzpotentialen und Folgelasten technologischer Entwicklungen aufwerfen; materielle Folgeprobleme, die Habermas in den Legitimationsproblemen noch selbst adressiert hatte, die in der Theorie des kommunikativen Handelns aber in den Sog einer Bewährung des auf symbolische Reproduktionsprozesse fokussierten Kolonialisierungstheorems gerissen werden. An anderer Stelle, nämlich in den Kleinen politischen Schriften, äußert er sich zwar 1979 noch etwas zurückhaltender, indem er im Kontext der dort formulierten Kolonialisierungsthese zugesteht, in »der Furcht vor Kernkraftwerken, Atomabfall oder Gemanipulation« stecke »gewiß ein gutes Stück Realangst«. 284 Neben einer teilnehmerperspektivisch-lebensweltdefensiven Tendenz gesteht er dem von sozialwissenschaftlichen Laien getragenen Protest also eine objektiv bis zu einem gewissen Grade berechtigte Kritik an zeitgenössisch-systemischen Krisentendenzen zu. Einen herablassenden Tonfall in der Unterstellung von Motiven der ›Furcht‹ und ›Angst‹ mag der öffentlich mitangesprochene, ökologisch bewegte Leser seinerzeit gleichwohl bereits empfunden haben. Es kann damit festgehalten werden, dass Habermas in der Theorie des kommunikativen Handelns die Ökologiebewegung als eine treibende Kraft der späteren Durchsetzung eines ökologisch-sozialen Fortschritts offenbar nicht nur unterschätzt hat – ein zeitdiagnostisches Fehlurteil, das er in Faktizität und Geltung später revidieren wird –, sondern dass zudem seine beobachterperspektivisch-psychologisierende Erklärung der ihr zugrundeliegenden Motive den objektivistischen Anschein erweckt, er nehme sie zwar als ein empirischgesellschaftliches Phänomen, nicht jedoch kommunikativrational, d. h. in ihrem Eintreten für eine Sache, ernst. Die über Metaphern aus dem Feld der Nachhaltigkeit geleitete Aufklärung sozialer Bewegungen über ihre vermeintlich ›wahreren‹ Motive eines »Widerstands gegen Tendenzen einer Kolonialisierung der Lebenswelt« erzeugt den dethematisierend-diskursverschließenden Effekt, die materiell-konstativ intendierte Kritik so umzudeuten, dass sie nur 284

Habermas: Kleine politische Schriften I-IV. S. 432.

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noch symptomatisch, und zwar als symbolisch-expressiver Ausdruck eines latent gestörten Bedürfnisses nach kommunikativ vermittelter Selbstverwirklichung erscheint (TkH II, 579). Unter den Vorzeichen dieser exoterischen Signalwirkung ist die Kolonialisierungsmetapher zwar Waffe der analytischen Kritik an den hinterlistig verdinglichenden Auswirkungen einer auf das Privatleben zurückpeitschenden Rationalisierung, sie taugt aber kaum noch zu einer öffentlichkeits- und praxiswirksamen Kritik der Waffen, d. h. der systemisch realtechnisierten Verhältnisse selber. Im Gegenteil entsteht unter dem paradoxen Rückkopplungseffekt der Metaphorisierung eines von Sprechern doch offenbar ganz wörtlich gemeinten Protests der höchst irritierende Eindruck, als würde sich jede solche Kritik, aufgrund des betonten Eigenrechts eines »fortgeschrittene[n] Niveau[s] der Systemdifferenzierung«, von selbst verbieten (TkH II, 548). Nun wird man kaum annehmen wollen, dass Habermas die Entwicklung eines solchen Eigenlebens der von ihm verwendeten Metaphorik vorhergesehen hat, geschweige denn, dass die auf diesem Wege exoterisch übermittelte Botschaft von ihm als öffentlich engagiertem Intellektuellen seinerzeit wirklich in dieser diskursverschließenden Weise intendiert war. Aber auch wenn man in Rechnung zieht, dass er stets darauf beharrt hat, »die Kolonialisierungsthese solle gar nicht alle gesellschaftlichen Missstände aufdecken, sondern nur jenes Verdinglichungstheorem, das sich am hartnäckigsten der Kritik entzieht«, lässt sich konstatieren, dass die metaphorisch-praxiswirksame Textebene zur im engeren Sinne theoretisch-begrifflichen Ebene einer Vermittlung zwischen Experten und Laien jedenfalls im Ergebnis quer steht. 285 Die von mir hier unternommene Metaphernanalyse stützt und verstärkt also den Eindruck, dass Habermas das ideologiekritische Projekt einer Einheit von Theorie und Praxis – offenbar in fester Überzeugung vom Erklärungspotential seiner Zeitdiagnose einer »Fragmentierung des Alltagsbewußtseins« – in der Theorie des kommunikativen Handelns zu schnell preisgegeben hat (TkH II, 522). 286 Die tendenziell eher pessimistische, jedoch – wie ich im Folgenden plausibel machen möchte – einseitige Diagnose von der ›Fragmentie285 Iser: »Kolonialisierung.« S. 330. Vgl. außerdem in ähnlicher Stoßrichtung David Strecker: »Theorie der Gesellschaft – ›Theorie des kommunikativen Handelns‹ (1981)«. S. 228–231. 286 Zu diesem Eindruck vgl. McCarthy: »Komplexität und Demokratie«.

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rung‹ motiviert offenbar auf der hintergründigeren Ebene der metaphernlogischen Reflexion auch die Entscheidung für das Metaphernfeld ›Kolonialisierung‹, weshalb insbesondere die Fragmentierungsthese im Ausgang von der später »optimistischer« angelegten Explikation des Begriffs kommunikativer Macht in Faktizität und Geltung in Teilen zu revidieren und mit den Mitteln der späteren Schrift zu ergänzen ist. 287

c.)

Die Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie und die Frage nach der gesellschaftlichen ›Avantgarde‹

Mit seiner kommunikationstheoretischen Wende, deren Anfänge sich in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ bereits abzeichnen, gelingt es Habermas, die bei Horkheimer und Adorno utopisch gewordenen bürgerlichen Ideale im teilnehmerperspektivischen Handeln vergesellschafteter Individuen neu zu lokalisieren und die Frankfurter Schule so aus den Unklarheiten ihrer normativen Fundierung herauszuführen. Die Akzentverschiebung hin zur kommunikativprozeduralen Begründung erhobener Geltungsansprüche legt allerdings zugleich einen Rückzug Kritischer Theorie aus der Funktion einer gesellschaftlichen ›Avantgarde‹ nahe. Hatten einst Marx und Engels ihr Selbstverständnis noch als dasjenige von ›Bourgeoisieideologen‹ bestimmt, die dafür Sorge zu tragen haben, dass – mit Marx gesprochen – »der Blitz des Gedankens gründlich in [den] naiven Volksboden« einschlägt, lenkt die Neuorientierung den Fokus der Gesellschafts- auf die Diskurs- und Demokratietheorie um (MEW 1, 391). Ein Selbstverständnis des Sozialphilosophen von sich als intellektuellem Kopf einer über das beherzte Eingreifen der revolutionären Klasse stattfindenden Umsturzbewegung ist mit dem kommunikationstheoretischen Konzept eines herrschaftsfreien Diskurses ebenso wenig vereinbar, wie die Adressaten der Theorie für Habermas noch im überkommenen Verständnis der »unhaltbar gewordene[n] Geschichtsphilosophie« klassengegensätzlich ideologisiert sind (TkH II, 583). Als »optimistischer« wertet Habermas’ Position in Faktizität und Geltung Mattias Iser: »Kolonialisierung«. In: Brunkhorst/Kreide/Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. Stuttgart 2009, S. 328–331. Hier: S. 330. Vgl. außerdem Ders.: Empörung und Fortschritt. Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Frankfurt/New York 2008, S. 140.

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Die demokratietheoretische Umakzentuierung hinterlässt damit allerdings eine Vakanz an jener Stelle, die ausfüllen zu können die Kritische Theorie durch ihr erklärtes Interesse an einer ideologiekritischen Aufklärung der Öffentlichkeit zuvor zumindest noch implizit beansprucht hatte. Die Frage lautet dann: Wer, wenn nicht mehr der Theoretiker selbst, soll in die so freigewordene Funktion einer Avantgarde gesellschaftlichen Fortschritts eintreten? Sofern mit dem Titel einer ›Kritischen Theorie‹ noch ein systematischer Anspruch verbunden werden soll, der über die bloße Fortsetzung der Tradition des Frankfurter Instituts für Sozialforschung hinausgeht, lässt sich diese Frage zwar auf der abstrakten Ebene kommunikationstheoretischer Grundlagenreflexionen, nicht aber in gesellschaftspraktischer Absicht ausklammern. Hatte Habermas in Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ – hierin übereinstimmend mit Herbert Marcuse – mit einiger Vorsicht noch die Möglichkeit thematisiert, dass auf »lange Sicht […] der Studenten- und Schülerprotest« die »durch Entpolitisierung abgedeckte Legitimationsgrundlage des Spätkapitalismus zum Einsturz bringen« könnte, spricht einiges dafür, dass er in der späteren Theorie des kommunikativen Handelns die zum Teil aus der Studentenbewegung hervorgegangenen Neuen Sozialen Bewegungen in dieser Vorreiterrolle sieht. 288 Seine doppelte Pathologiediagnose lässt es allerdings völlig offen, wie gesellschaftliche Tendenzen eines Widerstands gegen die ›Kolonialisierung der Lebenswelt‹ ein emanzipatorisches Moment sollten erzeugen können, das ausreicht, das Durchgreifen systemischer Imperative auf die Lebenswelt zu stoppen oder gar eine Art ›Defragmentierung‹ des zivilgesellschaftlich heillos zersplitterten Alltagsbewusstseins zu bewirken. Als offensiv ›emanzipatorisch‹ im Sinne »bürgerlich-sozialistischer Befreiungsbewegungen« begreift er explizit nur mehr den Feminismus (TkH II, 578). Der im Effekt eher diskursverschließende Gehalt der Kolonialisierungsmetapher verhindert zudem, die Rationalisierungsanalysen der Theorie des kommunikativen Handelns unmittelbar mit den Sachen der Umweltbewegung zu identifizieren. Die metaphernlogisch verschlungene Umdeutung der Kämpfe von Antikernkraft- und Ökologiebewegung zu einem Symptom des Widerstands gegen Kolonialisierungstendenzen wirkt letztlich entwaffnend auf die von diesen Bewegungen selber in systemkritischer Absicht artikulierten Einwände. In Gestalt der 288

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Vgl. etwa Herbert Marcuse: Das Ende der Utopie. S. 19; TWI 103.

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These eines aus kultureller Verarmung geborenen fragmentierten Alltagsbewusstseins, das an die Stelle des ›falschen‹ Bewusstseins tritt, richtet Habermas sein Hauptaugenmerk auf das breite zivilgesellschaftliche Publikum, während die hinteren Ränge subkultureller Protestbewegungen nur noch zur abschließenden Bewährung seiner Kolonialisierungsthese ins Thema rücken (vgl. TkH II, 576 ff.). Als eine Art nachweisbarer ›Immunreaktion der Lebenswelt‹ dienen die sozialen Bewegungen dann der indirekten Befundsicherung lebensweltpathologischer Kolonialisierungstendenzen, aber sie sind nicht selber schon Ingrediens eines Heilmittels für die zugrundeliegende Erkrankung. Während die Theorie des kommunikativen Handelns so in einer Hinsicht mit dem von der Kritischen Theorie reflexiv auf den Begriff gebrachten Projekt der Marx-Engels’schen Ideologiekritik bricht, bleibt sie ihr in theoriegeschichtlicher Hinsicht noch verbunden. Wo Marx und Engels einst davon sprachen, dass die herrschende Klasse jeder Gesellschaftsformation sich »im Durchschnitt« bestimmte Herrschaftsgedanken einbilde, womit ihr zugleich »im Durchschnitt die Gedanken derer, denen die Mittel zur geistigen Produktion abgehen, unterworfen« seien, verabschiedet die Theorie des kommunikativen Handelns diesen Ideologiebegriff unter Berufung darauf, dass genau dieses Durchschnittsbewusstsein des Publikums nicht mehr einheitlich ideologisiert, sondern vielmehr ›fragmentiert‹, d. h. vom Traditionsstrom abgeschlossen, von den Expertenkulturen getrennt und dergestalt »hoffnungslos zersplittert« sei, was es aussichtslos erscheinen lasse, heute noch »den verwehten Spuren eines revolutionären Bewußtseins« nachjagen zu wollen (MEW 3, 46 f.; TkH II, 522). Geht man allerdings mit Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ und unter Berücksichtigung der zumindest ansatzweise – wenn auch in anderer Beweisabsicht – in der Theorie des kommunikativen Handelns thematisierten Protestpotentiale davon aus, dass sich in gesellschaftlichen Rand- und Außenbezirken gleichwohl Subkulturen etablieren können, die von der Fragmentierung nicht in derselben Weise betroffen sind – und dieser Deutung entsprechen Habermas’ spätere Ausführungen in Faktizität und Geltung –, greift das Fragmentierungstheorem letztlich zu kurz und erweist sich insofern als einseitig. Eine ›Defragmentierung‹ der ökonomisch und politisch vermachteten Öffentlichkeit zugunsten von ökologischen Themen erfolgte angesichts von Tschernobyl 1986 krisenabhängig, eigendynamisch und vor allem aus Richtung der gesellschaftlichen Peripherie (s. o. Zwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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S. 305 ff.). 289 In welcher Weise die Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie, wie sie in der Theorie des kommunikativen Handelns umrissen werden, vor diesem Hintergrund mit den Mitteln von Faktizität und Geltung zu revidieren und zu ergänzen sind, möchte ich an dieser Stelle abschließend noch etwas näher erläutern. So heterogen die gesellschaftlich-oppositionellen Strömungen in der Bundesrepublik in den 80er-Jahren auch waren, wäre es ein Missverständnis der Fragmentierungsthese, pauschal von einer Fragmentierung des Alltagsbewusstseins bei Angehörigen von Widerstandsbewegungen zu sprechen. Das theoretisch extrapolierte Durchschnittsbewusstsein einer Gesellschaftsformation darf mit dem konkreten Selbstverständnis einzelner handelnder Subjekte nicht verwechselt werden. Das lässt sich schon daran festmachen, dass unter solchen Bedingungen auch der expertenkulturelle Standpunkt des Gesellschaftstheoretikers selbst, der in analytischer Absicht für sich reklamieren muss, keinem in ein und derselben Hinsicht ›falschen‹ oder ›fragmentierten‹ Bewusstsein zu unterliegen, unhaltbar würde. Dass Habermas das Fragmentierungstheorem der Theorie des kommunikativen Handelns in Faktizität und Geltung relativiert, womit er zugleich seine damalige Zeitdiagnose zur Antikernkraft- und Ökologiebewegung korrigiert, zeigt sich daran, dass er es nun dieser zivilgesellschaftlichen Peripherie zuschreibt, »den Vorzug größerer Sensibilität für die Wahrnehmung und Identifizierung neuer Problemlagen« zu besitzen (FG 460). Empirisch belegt er diese aktualisierte Zeitdiagnose an der »Spirale des atomaren Wettrüstens«, den »Risiken der friedlichen Nutzung von Atomenergie [und] anderer großtechnischer Anlagen« sowie an »wissenschaftliche[n] Experimente[n] wie der Genforschung«: »Fast keines dieser Themen ist zuerst von Exponenten des Staatsapparats, der großen Organisationen oder gesellschaftlichen Funktionssysteme aufgebracht worden« (FG 460 f.). Indem er also hervorhebt, dass aus einer »äußersten Peripherie« von »Intellektuellen, Betroffenen, radical professionals, selbsternannten ›Anwälten‹ etc.« kritische Themen »in Zeitschriften und interessierte 289 Dass sozialtheoretische Schriften auch relativ kurzfristig an solche Mobilisierungsmomente anschließen können, zeigt der Erfolg von Ulrich Becks Risikogesellschaft. Die kurz vor der Veröffentlichung noch eingeschobene Vorbemerkung »Aus gegebenem Anlaß« (sc. von Tschernobyl) dürfte den Erfolg des Buches erheblich befördert, den Wert der Studie insgesamt jedoch nicht geschmälert zu haben. Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M. 1986, S. 7–11.

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Vereinigungen, Clubs, Berufsverbände, Akademien, Hochschulen usw.« eindringen, wo sie »Foren« finden, die »gegebenenfalls zum Kristallisationskern von sozialen Bewegungen und neuen Subkulturen werden«, gesteht er einzelnen gesellschaftlichen Strömungen für jeweils bestimmte Themen einen avantgardistischen Charakter zu, der die Diagnose eines durchweg ›entideologisierten‹ und ›fragmentierten‹ Alltagsbewusstseins gleich in zweierlei Hinsicht konterkariert (FG 461). Erstens kann die enge Fokussierung auf ein bestimmtes Themenfeld, wie sie etwa bei »selbsternannten ›Anwälten‹« vorliegt, durchaus die ideologischen Züge eines ›falschen‹ Bewusstseins tragen, indem andere, nicht minder gravierende Probleme interessegeleitet ausgeblendet oder der Durchsetzung eigener Anliegen sogar bewusst geopfert werden. Zweitens erlaubt es der zum Teil über Jahrzehnte hinweg unbeirrt fortgesetzte Einsatz von Individuen für ein bestimmtes Anliegen kaum, hier noch von ›Fragmentierung‹ zu sprechen, insofern Subkulturen durchaus im Stande sind, eigene rationale und wissenschaftlich informierte Diskurstraditionen auszubilden, die sich der These einer »kulturelle[n] Verarmung« der Lebenswelt nicht ohne Weiteres beugen (TkH II, 522). Im Gegenteil macht Habermas selbst geltend, dass just aus den sozialen Bewegungen heraus – deren früher noch überwiegend lebensweltdefensiv konzipierte Zielverfolgung er nun als eine »offensive und defensive« kennzeichnet – das zivilgesellschaftliche Durchschnittsbewusstsein durch die Entfaltung kommunikativer Macht gewissermaßen so ›defragmentiert‹ werden kann, dass sich »auch in mehr oder weniger vermachteten politischen Öffentlichkeiten die Kräfteverhältnisse verschieben«, wodurch der »inoffizielle Gegenkreislauf der Macht neutralisiert« wird (FG 447; 461; 463 f.). Die objektiv ermöglichenden, wenn auch beobachterperspektivisch eher unvorhersehbar-kontingenten Chancen sozialen Wandels findet er in Faktizität und Geltung in den »kritischen Augenblicke[n] einer beschleunigten Geschichte«, wie sie im unmittelbaren Gefolge von akuten Krisenphänomenen in Erscheinung eintreten, wobei ich dafür argumentiert habe, dass insbesondere die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 in Ost und West als Anzeichen einer Krise des Gesellschaftssystems wahrgenommen wurde, die eine Durchsetzung kommunikativer Macht im beschriebenen Sinne katalysiert hat (FG 460; s. o. S. 306 f.). Unter den hier skizzierten praktischen Gesichtspunkten war die Theorie des kommunikativen Handelns – so lässt sich an dieser Stelle bilanzieren – bei ihrer Publikation aus einer ganzen Reihe von GrünZwischen Fortschritt und technischer Katastrophe

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den nicht in der Lage, das zuvor in den Legitimationsproblemen freigelegte Übersetzungspotential zur geforderten »Vermittlung von Expertenkulturen mit der Alltagspraxis« tatsächlich auszuschöpfen (TkH II, 522; 585). Bereits der Befund einer Fragmentierung des Alltagsbewusstseins erscheint im Rückblick als zu einseitig, um objektiven Möglichkeiten der zeitgenössischen Gesellschaftsformation, wie sie in oppositionellen sozialen Bewegungen tatsächlich vorlagen, Rechnung tragen zu können. Indem Habermas die öffentlichkeitsdiagnostische These aufstellt, dass »die kommunikative Alltagspraxis keine Nischen mehr für die strukturelle Gewalt von Ideologien gewährt« und Protestpotentiale an der Peripherie zugleich nur im Hinblick auf eine Bewährung seiner metaphernlogisch verschlungenen Kolonialisierungsthese untersucht, werden Gefahren einer ideologischen Engführung und Radikalisierung selbst von im Kern rationalen oppositionellen Bewegungen ebenso ausgeblendet wie die Tatsache, dass etwa die Motive der Ökologiebewegung als einer Avantgarde von Umweltthemen nicht auf »Fragen der Grammatik von Lebensformen« reduziert werden können, ohne auf diesem Wege zugleich die von dieser Avantgarde vorgebrachte Kritik zu unterminieren (TkH II, 520; 576). Mehr noch als 1981 hätte eine kritische Theorie heute die Aufgabe, der Ideologiekritik zu dienen und zu klären, wie im Anschluss an die auch metaphernreflexiv wegweisende Perspektivendoppelung von Beobachter und Teilnehmer verhindert werden kann, dass in demokratischen Gesellschaften ein teilnehmerperspektivisch nach Gründen heischendes Krisenempfinden in eine objektivitätsblinde »Zusammenballung populistisch verführbarer, indoktrinierter Massen« einmündet, angesichts derer sich einst schon Horkheimer und Adorno zunächst ins Exil und anschließend in die aporetisch-resignative Geste einer Dialektik der Aufklärung zu flüchten gezwungen sahen (FG 462). Wie Habermas in Faktizität und Geltung betont, sind die in sozialen Bewegungen »umgangssprachlich konstituierten Teilöffentlichkeiten porös füreinander« (FG 452). Dies ließ sich in der vorliegenden Arbeit an der mit Blumenberg metaphorologisch aufgeschlüsselten Transponierbarkeit von medizinischen, dramaturgischen und heilsgeschichtlichen Krisenmetaphern festmachen, die wir bis heute gebrauchen und die an der Schnittstelle zwischen Experten- und Laiendiskurs eine handlungsaktivierende Verschränkung von Teilnehmer- und Beobachterperspektive ermöglichen. Nicht zuletzt ihres historisch gewachsenen Motivfundus wegen behält auch 344

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heute noch »die Zivilgesellschaft die Chance, Gegenwissen zu mobilisieren und von einschlägigen Expertisen eigene Übersetzungen anzufertigen«, deren öffentlichkeitsgängige Versprachlichung »nicht notwendigerweise eine Entdifferenzierung der wesentlichen Fragen und Entscheidungsgründe« bedeutet (FG 451). Vor einem gesellschafts- und wissenschaftspolitisch gedoppelten Hintergrund wird daher – was hier nur noch programmatisch angedeutet werden kann – der Erfolg einer sozialwissenschaftlich kritischen Publikation daran bemessen werden müssen, inwiefern es ihr teilnehmerperspektivisch gelingt, im subkulturell und kumulativ veranlagten Wissen sozialer Bewegungen an der Peripherie ein ideologiekritisch-verbindendes Bewusstsein um beobachterperspektivisch analysierte Widersprüche zu verankern, das geeignet ist, der Kritik im Wechsel der Krisen ein zwar vielfach gespiegeltes, gleichwohl aber gemeinsames Gesicht zu geben. Ein Gesicht, das in jenen »Augenblicken der Mobilisierung«, die in Faktizität und Geltung als diskurseröffnende Bedingung dafür genannt werden, »den Problemlösungsmodus des gesamten Systems zu verändern«, von zivilgesellschaftlichen Diskursteilnehmern auch als ein Spiegelbild der ganz eigenen »Kämpfe und Wünsche« erkannt werden kann (FG 460; MEW 1, 346). Solange kritische Selbstverständigungsprozesse sprach- und handlungsfähiger Individuen über Krisen der ökonomischen, sozialen und ökologischen Entwicklung mitentscheiden, kann auch die Kritische Theorie sich aus ihrer gesellschaftlichen Rolle als Teil einer emanzipatorischen Avantgarde zumindest nicht in Gänze zurückziehen. Oder um das, was hier für uns auf dem Spiel steht, mit den nach einem halben Jahrhundert noch immer hochaktuellen Worten Herbert Marcuses zu sagen: »Wir können heute die Welt zur Hölle machen, wir sind auf dem besten Wege dazu, wie Sie wissen. Wir können sie auch in das Gegenteil verwandeln.« 290

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Literaturverzeichnis Rousseau, Jean-Jacques: »Antwort, Paris, den 10. September 1755«. In: JeanJacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. Die zwei Diskurse von 1750 und 1755 (übers. u. hrsg. von Kurt Weigand). Hamburg 41983, S. 309–315 – »Brief an Herrn von Voltaire, 18. August 1756«. In: Jean-Jacques Rousseau: Schriften, Bd. 1 (hrsg. von Henning Ritter). Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978, S. 313–332 – »Über Kunst und Wissenschaft«. In: Ders.: Schriften zur Kulturkritik. Die zwei Diskurse von 1750 und 1755 (übers. u. hrsg. von Kurt Weigand). Hamburg 41983, S. 1–59 Russell, Bertrand: An Inquiry into Meaning and Truth. London 51956 Sandkaulen, Birgit: »1 Begriff der Aufklärung«. In: Gunnar Hindrichs (Hrsg.): Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (Klassiker Auslegen Bd. 63). Berlin/Boston 2017, S. 5–21 Santarius, Tilman: »Der Rebound-Effekt: Die Illusion des grünen Wachstums.« In: Blätter Verlagsgesellschaft mbH (Hrsg.): Mehr geht nicht! Der Postwachstums-Reader. Berlin 22017, S. 167–174 – Der Rebound-Effekt. Über die unerwünschten Folgen der erwünschten Energieeffizienz. Wuppertal-Papers zur Wachstumswende Nr. 5, Wuppertal 2012 (vgl. https://wupperinst.org/a/wi/a/s/ad/1668/; zuletzt abgerufen am 4. März 2019) Schäfer, Lothar: Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Natur. Frankfurt a. M. 1993 Schmid Noerr, Gunzelin: »Technik und Technikkritik im Denken Max Horkheimers«. In: Böhme/Manzei (Hrsg.): Kritische Theorie der Technik und der Natur. München 2003, S. 55–67 Schnädelbach, Herbert: »Transformation der Kritischen Theorie.« In: Honneth/Joas (Hrsg.): Kommunikatives Handeln. S. 15–34 Steiner, Uwe: »Ärger im Paradies. Rousseaus Replik auf Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne«. In: Daphnis 21 (1992), S. 695–749 – »Voltaire oder der Optimismus: Zu einigen philosophischen und poetischen Aspekten von Voltaires Gedicht über das Erdbeben von Lissabon. Mit einer Neuübersetzung von Voltaires Poème sur le désastre de Lisbonne«. In: Daphnis 21 (1992), S. 305–407 Stolt, Kerstin: Teddys Flaschenpost. Die Figur der Verdinglichung in Adornos Kritik der Massenkultur (Working Paper des John F. Kennedy Instituts für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin). Berlin 1997 (http:// www.diss.fu-berlin.de/docs/receive/FUDOCS_document_000000006516; zuletzt abgerufen am 4. März 2019) Strecker, David: »Theorie der Gesellschaft – ›Theorie des kommunikativen Handelns‹ (1981)«. In: Brunkhorst/Kreide/Lafont (Hrsg.): Habermas-Handbuch. Stuttgart/Weimar 2009, S. 220–233 Träger, Franz: »Einige Bemerkungen zum Text und zur Übersetzung«. In: Valerius Terminus. Von der Interpretation der Natur mit den Anmerkungen von Hermes Stella (englisch-deutsch, in Übersetzung hrsg. von Franz Träger). Würzburg 1984, S. 24–27 Tugendhat, Ernst: »Tarskis semantische Definition der Wahrheit und ihre Stellung innerhalb der Geschichte des Wahrheitsproblems im logischen Positivis-

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Literaturverzeichnis mus (1960)«. In: Gunnar Skirbekk (Hrsg.): Wahrheitstheorien. Frankfurt a. M. 1977, S. 189–223 Vergil: Aeneis. Leipzig 1982 Voltaire: »Brief Voltaires an Rousseau, 30. August 1755«. In: Jean-Jacques Rousseau: Schriften zur Kulturkritik. Die zwei Diskurse von 1750 und 1755 (übers. u. hrsg. von Kurt Weigand). Hamburg 41983, S. 301–309 – Candide oder der Optimismus. Wenn dies die beste aller möglichen Welten ist, wie sind dann bloss die anderen? München 2005 Weber, Max: »Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus«. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I. Tübingen 1988, S. 17–206 Webster, T. B. L.: Von Mykene bis Homer. Anfänge griechischer Literatur und Kunst im Lichte von Linear B. München/Wien 1960 Wolf, Christa: Störfall. Nachrichten eines Tages. 32002 Ziegler/Sontheimer (Hrsg.): Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. München 1979

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 14, 32, 39–40, 45–48, 50, 52, 54–60, 62–67, 80–81, 83–84, 89, 119, 187, 229, 244, 263– 285, 317, 332, 339, 344 Anders, Günther 54 Aristoteles 145–146, 294 Bacon, Francis 13, 17, 19–22, 25, 27– 28, 37–39, 42, 46, 48, 54, 62, 65, 77– 85, 87–176, 178, 180, 182–192, 198– 199, 228–229, 231–233, 236–240, 244–249, 251–253, 257, 259, 262– 263, 266–268, 275–277, 279–282, 288, 291, 296, 309–312, 330, 333 Beck, Ulrich 342 Becker, Günter 194 Beiser, Frederick C. 190 Bertalanffy, Ludwig von 61 Blumenberg, Hans 13, 25–26, 28, 30– 31, 39–40, 55, 65–68, 76–78, 80–82, 85, 89, 135, 140, 142, 151–152, 161, 170, 173, 177, 179, 238, 283, 286, 288, 292, 295, 297, 330, 344 Böhme, Gernot 38, 52 Brewster, David 87 Briese, Olaf 294 Brundtland, Gro Harlem 43 Brunkhorst, Hauke 22, 58, 65, 194, 267, 313, 321, 339 Calhoun, Craig 23 Carnap, Rudolf 20, 23, 25, 34 Cassirer, Ernst 87 Celikates, Robin 286, 310–311, 313, 321, 325, 327, 331 Claesges, Ulrich 313

Delumeau, Jean 295–296 Descartes, René 19, 259–260 Drux, Rudolf 308 Eisler, Hanns 263 Engels, Friedrich 14, 36, 40–44, 46, 49– 52, 69–70, 83, 94–95, 103, 147, 261, 297–298, 303, 325, 336, 339, 341 Farrington, Benjamin 87–89, 97, 135– 136 Fellmann, Ferdinand 31, 39 Figal, Günter 266 Finley, Moses I. 272–273 Fiore, Joachim von 296 Flemming, Alexander 53 Foster, John Bellamy 301 Fraser, Nancy 22, 286, 303 Gabriel, Gottfried 68, 154, 259 Galen (Galenos von Pergamon) 146 Galilei, Galileo 75–76, 79, 259–260 Geyer-Ryan, Helga 269, 271 Goldstein, Julius 44 Gorbatschow, Michail 307 Gottl-Ottlilienfeld, Friedrich von 53 Günther, Timo 294 Habermas, Jürgen 13, 17, 22–23, 25– 26, 29–32, 38–40, 42, 45–47, 53–60, 62, 64–69, 71–73, 80–81, 83–85, 94, 98, 119, 193–194, 196–197, 201, 206, 210, 229, 259, 261–263, 266–267, 279–280, 283–291, 293–295, 297– 305, 308–344

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Personenregister Hahn, Hans 20, 23, 25, 34 Hahn, Lothar 305–306 Hamann, Johann Georg 173–174, 242 Hartknoch, Johann Friedrich 178 Hauff, Volker 43 Haverkamp, Anselm 31, 67 Hawking, Stephen 24 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 58, 60, 197, 218–219 Herder, Johann Gottfried 14, 17, 82– 83, 85, 87, 89, 160, 168–170, 172– 232, 237–263, 265–267, 269–270, 276, 279–280, 283, 288, 291–293, 296–297, 302, 309–312, 330, 332– 334 Hindrichs, Gunnar 56 Homer 257, 260, 268–273 Honneth, Axel 45–46, 48–49, 266– 267, 284–286, 313 Horkheimer, Max 14, 32–43, 45–59, 62–63, 65–67, 69–71, 76, 80–81, 83– 84, 89, 94, 103, 119, 176, 187, 229, 244, 261–264, 266–285, 295, 317, 332, 339, 344 Hume, David 173 Husserl, Edmund 14, 26, 39, 55, 60, 68–71, 73–79, 313 Irmscher, Hans Dietrich 174–175, 177–180, 182–183, 189, 191, 198, 208, 230, 243–244, 249, 252, 256– 258 Iser, Mattias 65, 338–339 Jaeggi, Rahel 266, 321 Jakob I. von England 78, 136, 142–143, 168, 333 Jaspers, Karl 54 Jesus von Nazaret 218, 222–224, 248, 259, 283 Jonas, Hans 41, 54, 169 Kant, Immanuel 55, 61–62, 87, 173, 190–191 Klopstock, Friedrich Gottlieb 257 Kluge, Alexander 54

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Kohlberg, Lawrence 14, 193–195, 207 Kolumbus, Christoph 138–139, 164– 165, 184, 186–187, 333, 336 Koselleck, Reinhart 258–259, 292, 295, 297 Kreide, Regina 22, 58, 65, 194, 304, 313, 321, 328–329, 339 Krohn, Wolfgang 13, 19, 87–97, 102, 113, 122, 125, 127–128, 132, 135– 136, 141, 146–148, 168–169, 171 Lasson, Georg 87 Latacz, Joachim 269, 273 Leibniz, Gottfried Wilhelm 87, 173, 235, 259–260 Lenin, Wladimir Iljitsch 52, 307–308 Lethen, Helmut 269, 271 Löwenthal, Leo 263 Löwith, Karl 297 Lukács, Georg 46–49, 52, 59, 321 Luther, Martin 259 Mach, Ernst 20 Maistre, Joseph de 87 Marcuse, Herbert 42, 54, 57, 69, 71, 263–264, 285, 322–323, 340, 345 Marx, Karl 14, 36–37, 40–44, 46, 49– 52, 69–70, 83, 87, 94–95, 103, 135, 147, 158, 261, 287, 296–298, 300, 303, 310, 325, 339, 341 McCarthy, Thomas 286, 338 Meadows, Dennis L. 43, 300 Meadows, Donella H. 43, 300 Merker, Barbara 31, 68 Michels, Karl Markus 263 Mommsen, Katharina 14, 174, 256 Müller-Doohm, Stefan 194 Neurath, Otto 20, 23, 25, 34 Newton, Isaac 87, 173, 188, 239, 257 Nisbet, Hugh B. 173–174, 177, 179 Nullmeier, Frank 58 Nunner-Winkler, Gertrud 194 Parry, Milman 272 Pečar, Andreas 78, 136

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Personenregister Perrow, Charles 320 Piaget, Jean 194 Platon 146, 292 Pollmann, Arnd 286, 310–311, 313, 325, 327, 331 Properz (Sextus Aurelius Propertius) 257 Radkau, Joachim 44, 305–306, 308 Rapic, Smail 15, 34, 38, 55, 57, 59–61, 114, 127, 132–133, 150, 192–193, 224, 244, 249, 304, 328 Rapp, Friedrich 54 Reijen, Willem van 263–265, 267, 269 Ritter, Henning 234 Ritter, Joachim 154, 259 Rousseau, Jean-Jacques 14, 38, 173, 178, 188, 200, 231–237, 240, 246, 252, 276, 296–297 Ruge, Arnold 69–70, 135, 303 Russell, Bertrand 33–34, 127–128

Sandkaulen, Birgit 56 Santarius, Tilman 301 Schäfer, Lothar 169 Schmid Noerr, Gunzelin 52, 263–265 Schnädelbach, Herbert 313, 315 Sokrates 195, 232, 236, 239–241 Sontheimer, Walther 218 Spinoza, Baruch de 173, 190 Steiner, Uwe 232–233, 235 Stolt, Kerstin 263 Strecker, David 313, 338 Träger, Franz 13, 77, 143 Tugendhat, Ernst 34 Vergil (Publius Vergilius Maro) 257 Voltaire (François-Marie Arouet) 173, 178, 188, 200, 231–238, 297 Weber, Max 51–52, 277, 322 Webster, T. B. L. 272–273 Wolf, Christa 308

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Schlagwortregister

Allegorie, allegorisch 139, 179, 207, 267, 270 Alltagspraxis 81, 84 f., 310, 325–327, 332, 334, 344 Analogie, analog, analogisch 44, 106, 175, 179–191, 193, 195, 197, 199, 202–205, 207, 214, 217, 221, 225 f., 253 f., 261, 270, 288, 311, 316, 330, 333, 336 Anthropologie, anthropologisch 28, 72, 88 f., 112, 114 f., 117, 120, 158 Antizipation 100 f., 105 f., 110–112, 126 f., 140, 157, 195, 334 –, des Geistes 99, 100, 103, 105, 149, 158 f., 165, 183, 191 f., 238, 243, 278 –, der Natur 100, 102, 108, 113, 116, 133, 144, 149, 157, 159, 183 f. Atomausstieg/-bombe/-energie/-wirtschaft 17, 43 f., 54, 289, 504–506, 508, 512, 542 Aufklärungsprozess 268, 270, 277, 294, 325 Automation, automatisch 28, 49 f., 81, 318 Bedürfnis/-befriedigung 20, 32, 44, 49 f., 69, 199, 204, 211, 220, 245, 254, 319 Beobachterperspektive 60, 62, 65, 70, 72 f., 75, 80–83, 85, 89, 114, 167, 176, 192, 225, 254, 262 f., 268, 279, 286, 290, 293, 299, 322, 333, 344 Bibel, biblisch 55, 62, 77, 79, 122 f., 138 f., 143, 148, 151, 167, 173–175, 199, 202, 218, 242, 246, 248, 275

Biblizismus 78, 179 f., 262, 282 Bildungsprozess 61, 115, 193, 200, 215–217, 224, 244, 252, 261 Buchdruck s. Erfindungen Buchmetapher/-metaphorik 77, 173, 179, 181 –, Buch der Geschichte 173–175 –, Buch der Natur (book of God’s works) 77–80, 144, 148–150, 153 f., 156, 161, 166 f., 170, 173–175, 190, 199, 246 –, Buch der Offenbarung (book of God’s word) 77 f., 80, 143, 149–152, 154, 156 f., 164, 166 f., 170–175, 190 f., 199, 246 Dekolonisation s. Kolonialisierung Demokratie, demokratisch 17, 22 f., 25, 65, 69 f., 81, 86, 89, 112, 168, 176, 243, 262, 270, 286, 304 f., 321, 323, 344 Demokratietheorie, demokratietheoretisch 17, 22 f., 339 f. Dialektik der Aufklärung (als Begriff) 49, 244, 249 f., 270, 272, 283, 317, 332 Diskurs, diskursiv 19, 136, 226, 232, 265, 267, 271, 283, 299 f., 303–305, 310, 315, 318, 339 –, -eröffnend 82 f., 86, 262 f., 267, 279, 288, 333, 345 –, -verschließend 82 f., 86, 167, 229, 262, 279, 283, 333, 337 f. Dominium terrae s. Herrschaft über die Natur

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Schlagwortregister Einheit von Theorie und Praxis 17 f., 31, 54, 65, 81–83, 88, 125, 128 f., 176 f., 185, 242, 262, 267, 271, 287, 291, 321, 333, 338 Einheitswissenschaft, einheitswissenschaftlich 17, 19–21, 32, 34–36, 38, 60, 62, 71, 75 f., 78, 88, 104, 128 f. Empirie, Empirismus 21, 24, 33 f., 145, 154, 327 Entkopplung (sc. von System und Lebenswelt) 311, 317, 319, 321 f., 325 Entwicklungsdynamik/-logik, entwicklungsdynamisch/-logisch 44, 172, 193, 196 f., 204–206, 210–212, 214 f., 220, 223, 229–231, 238, 253, 255 f., 258, 283, 317, 319, 325 Erfahrungssätze s. Empirie, Empirismus Erfindung(en) 42, 44, 46, 91–98, 129, 141, 159 f., 168 f., 171, 181, 183, 186– 188, 206, 240, 245, 247 f., 250 f., 256, 259, 275, 281, 330 –, Buchdruck/Druckerpresse 46, 240, 245, 247 f., 250 f., 254, 276 –, Kompass 46, 245, 247 f., 250 f., 254, 276, 330, 333 –, Schießpulver 46, 161, 245, 247 f., 250 f., 254, 276, 333 Eschatologie, eschatologisch 124, 134, 137–140, 152 f., 155, 157, 165 f., 290 f., 295–298, 344 Esoterisch/exoterisch 81–83, 85, 103, 114, 160, 167–169, 171, 176 f., 229, 231, 239, 241 f., 244 f., 259, 262 f., 266, 268, 270, 275, 281 f., 288, 290, 300, 302, 309–311, 315 f., 325, 331, 333 f., 338 Experiment, experimentell 36 f., 60, 88, 92, 94, 97, 102, 109, 112, 121– 123, 129, 132 f., 140, 165, 171 f., 183, 186, 277, 342 Expertendiskurs/-kultur 17, 20, 22, 24, 29, 32, 69, 74, 81, 83–85, 99, 167, 171 f., 238, 288, 310 f., 314, 316, 325– 327, 330, 332, 334, 341 f., 344 Expertenvertrauen 82, 229, 282

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Falsifikation/Verifikation 20, 24, 26– 30, 34, 109, 112, 132, 158, 183 f. Finalursachen s. Kausalität Folgeprobleme 51, 172, 289, 299–303, 308 f., 316, 325, 331, 336 f. Forschungsprogramm/-projekt 20, 105 f., 133, 303, 310 Freiheitsverlust/-verzicht 47, 49, 51 Fukushima 306–308 Geltungsanspruch 21, 61, 68, 72 f., 106, 130 f., 170, 174, 223, 314, 325, 339 Heilsgeschichte, heilsgeschichtlich s. Eschatologie, eschatologisch Herrschaft –, über Menschen 43, 62, 79, 160, 162, 168, 281 –, über die Natur 17, 43, 47, 55, 62, 66, 80, 83, 93, 119 f., 123 f., 138, 141, 157, 160, 167, 171, 275, 278 f., 281, 333 Heuristik, heuristisch 261, 182–185, 191, 270, 294 Hölle 54, 133, 264, 345 Hypothese, hypothetisch 27 f., 60, 88, 109, 117 f., 122 f., 129, 131, 133 f., 137, 139 f., 157–159, 180, 183 f., 189, 277 Ideologie/-kritik 52, 56, 63, 70, 80, 84, 88, 104, 113, 119, 125, 140, 154, 193, 225, 265, 267, 279, 282 f., 290, 298, 302, 310, 316, 326, 336, 338, 340 f., 344 f. Induktion, induktiv 108–110, 126 f., 129–134, 156, 158, 165 Instrumentalisierung 43, 51, 53, 59, 62, 79, 81, 95, 224, 253, 279, 281, 295, 325, 328 Interpretation der Natur 19, 88, 94, 99 f., 102, 104 f., 108–110, 113, 122, 125–127, 131–133, 141, 167, 183, 188, 191 Intersubjektivität, intersubjektiv 59, 62, 64, 107 f., 292, 318

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Schlagwortregister Kämpfe (sc. geschichtliche/soziale) 18, 37, 41, 69, 135, 297, 300, 303, 340, 345 Kapitalismus 47–49, 60, 289, 297, 299– 303, 309, 316, 319, 323, 325, 327, 332, 340 Katastrophenbegriff 294 f. Kausalität/Ursache-Wirkung 20, 26 f., 35 f., 38, 41, 58, 63, 71, 75 f., 79, 84, 121, 128, 131, 133, 146, 148, 156, 159, 183, 185, 189–192, 203, 230, 280 –, Natur- 72, 106, 129, 149 f., 155, 157– 159., 162–164, 188, 192, 201 –, Final- 120, 123 f., 146–148, 153, 155 f., 159, 164, 190 f. Klimawandel/globale Erwärmung 17, 306 Kolonialisierungstheorem/-these 288 f., 310–312, 321, 325, 327–332, 335, 337 f., 341, 344 Kolonialismus/Dekolonisation –, als Metapher 289 f., 310, 330 f., 334, 338, 340 –, realer/e 288 f., 311, 331 f. Konsens, konsensuell 23, 30, 32, 106, 196, 314, 317, 318, 324 Kontingenz, kontingent 37, 172, 177, 197, 204, 206, 210–212, 215, 230 f., 238 f., 260, 343 Kontrolle, kontrolliert –, demokratische 25, 81, 321 –, methodische 17, 32, 40, 71, 82, 109, 119 f., 131, 136, 290, 310 –, von Natur- und Umweltverhältnissen 44, 48, 51, 58, 62–66, 79, 110 f., 119 f., 123 f., 129, 133, 136, 161 f., 167, 277–281, 294, 300, 318 –, von Wissenschaft und Technik 42, 92, 171 f. Krisenphänomen 17, 30, 85, 289, 292, 294, 300, 309, 327, 331, 343 Kulturelle Verarmung 49, 84 f., 288, 312, 325–327, 341, 343 Kulturpessimismus, kulturpessimistisch 53, 56, 229, 231 f., 237, 240, 246, 276

Laien/-diskurs/-konzept/-publikum 17, 31 f., 65, 81–83, 85 f., 98, 102, 114, 135, 166 f., 169, 176–178, 231, 241–244, 262, 274, 279, 282, 287, 299 f., 303, 309, 314–316, 329, 333 f., 337 f., 344 Lebensalter/-schema/-analogie 193, 195, 197, 201–205, 207, 218, 220 f., 224, 254 Lebenspraxis 23, 26 Lebensweltbegriff 73, 313–315, 331 Legitimation, legitim 22, 24, 51, 66, 76, 78–81, 89, 91, 94, 96, 98, 103, 120, 130, 135–137, 141, 150 f., 153–156, 159–161, 165 f., 170 f., 201, 209, 224, 248, 262, 275, 279–282, 288, 304, 307, 318, 324 Leitmotiv/-metaphorik 141, 197, 336 Lissabon (sc. Erdbeben von) 234–237, 297 f. Logik, logisch 21, 24, 33 f., 44, 46, 90 f., 104 f., 108–110, 121, 134, 141, 169, 186, 228, 280 –, Entwicklungs- s. Entwicklungsdynamik/-logik –, von Metaphern s. Metaphorologie Macht –, administrative 304 f. –, kommunikative 289, 304–306, 309 f., 328, 339, 343 –, und Geld s. Steuerungsmedien Metapher –, absolute 66, 68, 288, 292 –, als Restbestand 66 f., 288, 292, 330 Metapherngebrauch 39, 65, 173, 179, 181 Metaphorologie, metaphorologisch 31, 39 f., 55, 65–68, 77, 81 f., 85, 135, 179, 238, 286, 290, 310, 327, 333, 336, 339 f., 344 Metaphysik, metaphysisch 21, 30, 33, 146, 148, 155, 186, 228, 317 Möglichkeit, objektive/Potentialität/ Spielraum 17, 37, 70, 82 f., 114, 178, 214, 257, 260, 265, 272, 283, 304, 310, 335

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Schlagwortregister Möglichkeitshorizont 25, 31, 41, 52, 177, 182, 260, 300, 310 Mythologie, Mythos, mythologisch 48, 66, 84, 261, 267 f., 270 f., 273– 275, 277–279, 317 Nachhaltigkeit, nachhaltig 17, 35, 43, 116, 301 f., 309, 324, 336 f. Naturalistische/personalistische Einstellung 60, 71–79 Naturverhältnisse 19 f., 37, 44, 47, 64, 73, 100, 104, 108–110, 118, 120, 122, 128–130, 153, 158, 167, 172, 181, 185, 198–199, 202, 269, 276, 280, 318 Naturwüchsigkeit, naturwüchsig 25, 81, 200, 206, 217, 301 Nebenfolgen s. Folgeprobleme Neuzeit, neuzeitlich 17, 19 f., 27, 32, 45 f., 53, 71, 75, 79 f., 95, 185, 219, 228, 248, 278 f. Öffentlichkeit –, bürgerliche 22 f., 69, 178, 239, 242 –, repräsentative 22, 25, 78 –, zivilgesellschaftliche 289, 302, 304 f., 326 Ökologiebewegung 289, 304, 310, 324, 335, 337, 340, 342 Ökonomie, ökonomisch 47, 49 f., 65, 106, 178, 196 f., 206, 208, 214–216, 228, 251, 282, 297 f., 305–309, 318 f., 321, 323 f., 328, 336 f. 341, 345 Paternalismus, paternalistisch 17, 20, 32, 83, 89, 95, 169, 171 Pathologie, pathologisch 37, 47, 52, 55, 57, 65, 85, 103, 168 f., 171, 228, 235, 244, 246, 255, 279 f., 287–289, 293, 311 f., 316, 319, 321, 323–327, 329– 333, 336, 340 f. Performanz, performativ 22, 120, 182, 265, 270, 274 f., 284, 324 Performativer Widerspruch s. Selbstwiderspruch Personalistische Einstellung s. naturalistische Einstellung Potentialität s. Möglichkeit, objektive

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Physik, physikalisch 21, 24, 27, 146– 148, 150, 155, 185, 226, 228, 254 f. –, der Geschichte 175, 203, 226 –, der Seele 186, 211, 226 Politik 20, 88, 91, 95, 119, 136, 162, 169, 186–188, 248, 304, 306, 308, 331 –, Forschungs-/Wissenschafts- 20, 33, 74, 78 f., 89 f., 96, 98, 102–104, 106, 111 f., 127, 130, 132, 134, 160, 171, 182, 184, 188, 276, 345 –, Gesellschafts- 25, 79, 89–91, 95–97, 103, 110, 114, 128, 134, 155, 188, 276, 279, 296, 333, Positivismus, positivistisch 25, 32, 34, 36, 38, 48, 70, 187, 261, 278 f. Produktivkräfte, Produktionsverhältnisse/-weise 37, 40–42, 45, 49, 53, 70, 94 f., 103, 147, 171, 206, 213, 297, 300 f., 322, 324 Psychologie, psychologisch 36, 50, 52, 72, 74, 89, 112, 130, 158, 186, 193, 196, 226 f., 288, 324, 326, 337 Quid juris?/quid facti? 27, 61–63, 65, 80, 132–134, 156 Rationalisierung/-sprozess, rationalisiert 49, 51, 57, 62, 84, 206, 217, 224, 229, 244, 249, 251, 253, 269, 271, 274 f., 277, 282 f., 285, 310–313, 316 f., 319 f., 322, 325 f., 329 f., 334, 338, 340 Realtechnik, realtechnisch 52 f., 58, 171, 294, 318–320, 323, 338 Reflexionsdefizit 25, 32, 45, 70, 108, 312 Rezeption 22, 35, 71, 73, 83, 87, 137, 190, 223, 231, 240, 244, 266–268, 284, 286, 310, 312, 314, 322, 330, 333 f. Rezipienten/-kreis 82 f., 98, 101 f., 116–118, 120, 137, 152, 159, 167, 177, 192, 209, 227, 241, 261 f., 266, 271, 289, 293, 329 Rhetorik(er), rhetorisch 25, 30, 32, 54, 78, 80, 84, 88, 97, 102, 105, 130, 162, 179, 188, 216, 275, 279

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Schlagwortregister Säkularisierung, säkular, säkularisiert 62, 83, 98, 137, 139 f., 275 Schnittstelle 17, 24, 31, 65, 81–83, 279, 287, 326, 329, 344 Scholastik, scholastisch 19, 37, 78, 104, 107, 145, 191 Scientific Community s. Expertenkultur Selbstreferentialität, selbstreferentiell 274 f. Selbstreflexion, selbstreflexiv 62, 70, 84, 117, 175 Selbstverständigungsdiskurs 69, 86, 189, 330, 333 Selbstwiderspruch 21, 33 f., 56, 93, 114, 122–124, 127 f., 132, 140, 142, 267, 284 Sklaverei, Sklaven 208, 248, 255, 333, 336 Sozialpsychologie, sozialpsychologisch s. Psychologie Spätfolgen s. Folgeprobleme Spätkapitalismus s. Kapitalismus Spielraum s. Möglichkeit, objektive Steuerungsmedien (sc. Macht und Geld) 318 f., 322 f., 326, 330, 332, 334 Studenten/-bewegung 15, 284, 340 System-Lebenswelt-Unterscheidung 71, 285 f., 329 Technokratie, technokratisch s. Paternalismus Theodizee/-diskurs 231–233, 235, 237 f., 297

Theoriekonzeption 17, 56 f., 176, 262 Theoriestruktur, theoriestrukturell 17, 69–71, 81–83, 85, 175–177, 260–263, 267, 309, 330, 333 Tschernobyl (sc. Reaktorkatastrophe) 43, 54, 289, 305–309, 341–343 Übersetzung/-sproblem/-sleistung 17, 25, 30–32, 81, 85, 143, 156, 242 f., 260, 303, 326 f., 344 –, poetische 174, 176 Verarmung s. kulturelle Verarmung Verdinglichung, verdinglicht, gedingt 46–50, 52, 56–59, 62, 64 f., 249 f., 269, 278, 286, 288, 311–313, 320 f., 327, 329, 332, 334, 338 Verifikation s. Falsifikation Verschränkung (sc. von Teilnehmerund Beobachterperspektive) 65, 79, 81–86, 89, 114, 167, 177, 253, 261– 263, 279, 287, 293, 329, 344 Vorwissenschaftlichkeit, vorwissenschaftlich 76, 229, 290–293 Werkzeug/-metapher 23, 53, 58 f., 121 f., 156, 181, 197, 213 f., 227 f., 230, 242, 247, 250–252, 281 f. Wirkungsabsicht 177, 263 f., 267 Zeitdiagnose, zeitdiagnostisch 89, 229, 274, 283 f., 289, 337 f., 342 Zivilgesellschaft, zivilgesellschaftlich 18, 23, 85, 98, 289, 302–305, 308 f., 312, 326, 334, 336, 340–343, 345

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