Zur Theorie der Familie in der Rechtsphilosophie Hegels [1 ed.] 9783428461066, 9783428061068


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Zur Theorie der Familie in der Rechtsphilosophie Hegels [1 ed.]
 9783428461066, 9783428061068

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MARTIN WEBER

Zur Theorie der Familie in der Rechtsphilosophie Hegels

Schriften

zur

Rechtstheorie

Heft 121

Z u r Theorie der Familie in der Rechtsphilosophie Hegels

Von Martin Weber

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CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Weber, Martin: Zur Theorie der Familie in der Rechtsphilosophie Hegels / von Martin Weber. Berlin: Duncker und Humblot, 1986. (Schriften zur Rechtstheorie; H. 121) ISBN 3-428-06106-3 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1986 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin 61 Druck: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3-428-06106-3

Vorwort Die nachfolgende Arbeit hat in leicht veränderter Fassung im Sommer 1983 der Philosophischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen als Dissertation vorgelegen. Prof. Dr. Bubner und Prof. Dr. E. A. Wolff haben die Arbeit in allen ihren Entstehungsphasen eingehend betreut. Ihnen gilt mein Dank in erster Linie. Für wertvolle Anregungen, Hinweise und praktische Unterstützung bei der Erarbeitung des rechtshistorischen Exkurses i m letzten Kapitel fühle ich mich den Mitarbeitern des Frankfurter Max-Planck-Instituts für Europäische Hechtsgeschichte, insbesondere den Herren Dr. Buchholz und Dr. Steindl, sehr verbunden. Zahlreiche Anregungen und Hinweise verdanke ich in diesem Zusammenhang desweiteren zwei rechtshistorischen Seminaren, die Prof. Dr. Troje zusammen mit Dr. Bergfeld vor einiger Zeit in Frankfurt veranstaltete. Auch ihnen gilt mein besonderer Dank. Zu danken habe ich ferner Herrn Dr. Jeimann, Tübingen, für die bereitwillige Überlassung eines im Druck befindlichen Manuskripts über den Familienabschnitt der Hegeischen Rechtsphilosophie, der Studienstiftung des deutschen Volkes, die dieses Dissertationsvorhaben durch ein Stipendium gefördert hat, sowie dem Geschäftsführer des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Thamm, für die Aufnahme dieser Arbeit in die Reihe „Schriften zur Rechtstheorie". Berlin, im Spätsommer 1986 Martin Weber

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

9

Erster Teil Philosophiehistorische Vorerinnerung

1. Aristoteles'Theorie der Freundschaft und des Hauses

10

2. Kants Gedanke eines ,auf dingliche Art persönlichen Rechts'

35

3. Fichtes Versuch der Herleitung des Familienrechts aus einem ursprünglichen Anerkennungsverhältnis 50

Zweiter Teil Grundlagen und Herleitung der Familientheorie Hegels

1. Die Entwicklung der hegelschen Rechtsidee im Anschluß an Kant und Fichte 66 2. Hegels Theorie der Familie als Begründung sozialer Individualität?

79

3. Zum Verhältnis von Theorie und Geschichte des Familienrechts bei Hegel . . . 100

Anhang Struktur und Entwicklung des hegelschen Rechtsbegriffs (Übersicht)

Literaturverzeichnis

124

126

Einleitung Die Darstellung der Familie in Hegels Rechtsphilosophie ist das erste Teilstück einer gegen den Dualismus imperativer Rechts- und Moralvorstellungen konzipierten Theorie der Sittlichkeit. Aufbauend auf dem aristotelischen Konzept der Phronesis und einer so erstmals von Fichte herausgearbeiteten Willenstheorie tritt darin anstelle der kantischen Gegenüberstellung von Denken und Wollen, in sich ruhender Vernunft und historisch formierter Lebenswelt, das Modell einer tätigen Einheit praxisimmanenter Vernünftigkeit, dessen Kernstück die Darstellung eines originären Zusammenhangs zwischen Identitätsbildung und Geschichte liefert. In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, wie das Familienkapitel aus dieser Konzeption hergeleitet und begründet wird und welchen Stellenwert es seinerseits innerhalb dieses Konzepts einnimmt. Hegels Darstellung der Familie w i r d dabei zum einen als Endpunkt der auf Aristoteles zurückführenden Tradition der Oikos-Lehre gesehen, zum anderen als Auseinandersetzung mit den beiden wichtigsten zeitgenössischen Familientheorien: denjenigen Kants und Fichtes. Da diesen drei Autoren zugleich der folgenreichste Einfluß auf die Ausarbeitung der dialektischen Theorie Hegels insgesamt zukommt, soll in den nachfolgenden drei Kapiteln zunächst vergleichsweise gezeigt werden, wie die aristotelische, kantische und fichtesche Familientheorie aus ihrem jeweils eigenen Ansatz praktischer Philosophie heraus entwickelt wird: aus einer teleologisch orientierten (im Rahmen einer K r i t i k an der platonischen Ideenlehre erarbeiteten) Konzeption praxisimmanenter Vernünftigkeit (bei Aristoteles), aus einem subjektorientierten, dualistischen Modell (bei Kant) und aus einem auf dem Konzept gegenseitiger Anerkennung basierenden Ansatz (bei Fichte). Diese drei Theorien werden im ersten Teil der Arbeit jeweils separat, ohne Kreuz- und Querverweise und ohne die Absicht vorgestellt, damit hegelsche Prätentionen auf eine mit ihm endende philosophiehistorische Entwicklungslinie zu kopieren. I m Anschluß daran wird der nachfolgende zweite Teil der Arbeit Grundlagen und Herleitung der Familientheorie Hegels analysieren.

Erster Teil

Philosophiehistorische Vorerinnerung 1. Aristoteles' Theorie der Freundschaft und des Hauses

1. Daß sich das soziale Gemeinwesen aus Familienverhältnissen heraus entwickelt, es in ihnen überhaupt erst seine eigentliche Grundlage findet, war nicht nur für die Staatslehre und Ethik mittelalterlicher Philosophie und Theologie eine mit Hilfe der Predigtliteratur ihrer Zeit 1 so erfolgreich verbreitete Selbstverständlichkeit, daß sie über Jahrhunderte hinweg die politischen Überzeugungen der Menschen beherrschen konnte, diese Ausfassung entfaltet vielmehr noch weit über die mittelalterliche Lebenswelt hinaus 2 , bis hinein in die Predigtanstalten des 20. Jahrhunderts, die Schulen, eine scheinbar unverminderte Wirkkraft. Die Traditionslinie der damit verbundenen politischen Vorstellungsgehalte reicht bekanntermaßen zurück auf die praktische Philosophie des Aristoteles. Weniger dieser philosophischen Konzeption selbst, als der einseitigen Fixierung auf den Herrschaftscharakter der in der aristotelischen OikosLehre entwickelten Verhältnisse verdankt sie jedoch ihren Erfolg. Diese Fixierung, wie sie mit nahezu jeder Aristoteles-Rezeption zum Zwecke handgreiflicher Verwertbarkeit vorherrschend wird, ist auch Grund dafür, daß sich die Ansicht einer Entwicklung des ,Oben' aus dem ,Unten' paradoxerweise besonders gut aus entgegengesetzter Richtung darstellen und in den hierarchischen Gliederbau von Kirche und Staat recht erfolgreich unterbringen ließ. Im Ganzen gründet diese Auffassung weitgehend auf einer Verzerrung des ursprünglichen aristotelischen Gedankens. Um dies zu zeigen, wird sich die Darstellung zunächst der ökonomischen Seite der Oikos-Lehre zuwenden und der Frage nachgehen, welche Gründe den Zerfall der jahrhundertelang personale wie materiale Sphäre gleichermaßen integrierenden Theorie des Hauses bewirkt haben, die praktisch vollständige Ausgliederung ihres ökonomischen Teils, der zwar noch bei Kant, im Rahmen seines „Rechts der häuslichen Gesellschaft", wie die §§ 24 - 30 seiner Rechtslehre überschrieben sind, Berücksichtigung findet, nicht mehr hingegen in den dann ausdrücklich auch nur noch als Familienrechtstheo1

Vgl. dazu Schwab 1975: 261. Zur Aristoteles-Rezeption unter dem Einfluß der Reformation vgl. Wundt 1964, Mater 1969, Dreitzel 1970: 57ff. 2

1. Aristoteles' Theorie der Freundschaft und des Hauses

11

rien konzipierten Darstellungen bei Fichte und Hegel. Die bereits in der Oikos-Lehre angelegten Ursachen dieser Zerfallsgeschichte werden dabei auf einige wesentliche Eigentümlichkeiten der Grundkonzeption aristotelisch-praktischer Philosophie führen, die anschließend in der Freundschaftslehre und personalen Seite der Oikos-Lehre - den beiden zentralen Übergangsbereichen zwischen aristotelischer Ethik und Politik - weiterverfolgt werden sollen. 2. Das aristotelische Ökonomiekonzept wird in den Kapiteln 8 - 1 1 des 1. Buchs der „Politik" sowie - gleichsam als Ergänzung der methodos peri oikonomias - im 8. Kapitel des 5. Buchs der „Nikomachischen E t h i k " 3 entwickelt. Leitmotiv des hier verhandelten Tausch- und Geldverkehrs ist die Vorstellung eines naturgemäßen Harmoniezustands des Lebens. Das Leben als ein, im Gegensatz zum Produzieren, selbstbezügliches Handeln und ein „dem an sich Guten und Angenehmen" Zugehörigen, bedarf danach einer natürlichen Umgrenzung, wie alles, das „zur Natur des Guten" gehört 4 . Aus diesem, im selbstbezüglichen Harmoniezustand der autarkeia normativ verwurzelten Umgrenzungsbedürfnis gehen Maß und Ziel der zur oikonomia zählenden Erwerbskunst, der chrematistike, hervor: das natürliche Bedürfnis (chreia), das Unterscheidungsmerkmal gegenüber den naturwidrigen, nicht zur oikonomia zählenden Verfallsversionen der Erwerbskunst, welche die zur Bedürfnisbefriedigung benötigten Mittel zum Selbstzweck umfunktionieren und in prinzipieller Maßlosigkeit sich ergehen. Vor diesem Hintergrund werden die einzelnen Arten der Erwerbskunst voneinander geschieden, wird der Erwerbsvorgang aus der teleologischen Naturordnung eines hierarchisch gegliederten Worumwillen heraus entwikkelt und gerechtfertigt. Auf den beiden Voraussetzungen aufbauend, daß „die Natur nichts unvollkommen und nichts zwecklos macht" und es ihre Aufgabe ist, „dem erzeugten Lebewesen die Nahrung zu bieten" 5 , existieren die Pflanzen der Tiere, die Tiere der Menschen wegen und diese, soweit nicht von Natur aus zum Dienen bestimmt, ihrer selbst wegen. Sie bilden das letzte Worumwillen, das Ziel (terma) und Maß (horos) allen Handelns - so auch des wirtschaftlichen: die Grenzen der Umgrenzung des guten Lebens (eu zen) gegenüber dem unumgrenzten bloßen Leben (zen) oder einem übermäßig maßlosen, diejenige zwischen naturgemäßer und naturwidriger Erwerbskunst. Letztere entwickelt sich vor allem über die Verwendung des Geldes im zunächst „nur der Erfüllung der naturgemäßen Autarkie" dienenden Tauschhandel 6 . Angelpunkt und einziger Maßstab des Tauschverkehrs bil3

Im folgenden mit NE abgekürzt. 4 Vgl. Pol. 1254a 7 iVm NE 1170a 19 - 21. s Pol. 1256b 20f.; 1258a 35f. β Vgl. Pol. 1257 a 30.

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1. Teil: Philosophiehistorische Vorerinnerung

det, wie im Fall der originären Erwerbsarten (Viehzucht, Jagd und Ackerbau), das Bedürfnis (chreia), für das das Geld „auf Grund einer Abmachung", wie aus seinem Namen (nomisma) hervorgehe, Stellvertreterfunktion ausübt 7 . Das zusätzliche Moment der Gegenseitigkeit des einheitsbildenden Bedürfnisses beim Tausch- und Geldhandel w i r d auch hier wieder in eine natürliche Hierarchie eingeordnet, die im Konzept einer auf proportionaler Vergeltung (antipeponthos) basierenden Gerechtigkeit, als der Grundkonzeption naturgemäße Rangunterschiede wahrender Austauschgemeinschaften, ihren spezifischen Ausdruck findet 8 . Daß dabei durchgängig der Gesichtspunkt naturgemäßer Autarkie der letztendlich entscheidende bleibt, zeigt die nachdrückliche Betonung des am Ende immer wieder naturbezogenen Bedarfsarguments: kein Bedürfnis, kein Austausch, keine Einheit und Gemeinschaft (koinonia) 9 . Doch findet sich in der Darstellung des Tausch- und Geldhandels im 5. Buch der NE noch ein weiteres Moment, das diesen Rahmen sprengt und bereits den Zerfall einer noch alle Lebensformen umfassenden Theorie des Hauses implizit enthält: das im Gegensatz zum konkreten Bedürfnis zu verhältnismäßiger Stabilität tendierende, auf eine selbständige Einheit ausgerichtete und „alles kommensurabel" machende Geld weist in seiner Funktion eines „Bürgen" für künftige Bedürfnisbefriedigung auf ein räum- und zeitunabhängiges Eigenleben des Geldmarktes hin, wie es der abstrakt-analytischen Trennung von Geld-, Güter- und Arbeitsmärkten moderner volkswirtschaftlicher Theorien selbstverständlich geworden ist 1 0 . Das Schicksal dieser ambivalenten Einordnung des Geldhandels, seiner Selbständigkeit und Einbindung in ein Konzept naturgemäßer Autarkie, kann an der Geschichte des Zinsverbots und der Lehre vom gerechten Preis gut verfolgt werden, zeigt sich doch darin bereits eine Umkehrung des Begründungszusammenhangs, welche die Zerfallsgeschichte des aristotelischen Ökonomie-Konzepts unmittelbar einleitete. Beriefen sich Scholastik und kanonisches Recht zur Rechtfertigung des Zinsverbots und der Lehre vom gerechten Preis auch auf die aristotelische Argumentation im 8. Kapitel des 5. Buchs der NE, um so die Theorie auch weiterhin an den gemeinschaftsstiftenden Gedanken eines natürlichen Bedürfnissystems zu binden, so war beides in Wirklichkeit doch bereits kaum mehr als sozialpolitische Reaktion auf eine sich ausbreitende Geldwirtschaft und keineswegs naturalwirtschaftliches Relikt, wie sich schon in Byzanz eindeutig nachweisen läßt 1 1 . Die nationalökonomischen Theorien der Neuzeit zogen zunächst 7

NE 1133a 28. Zum Gedanken proportionaler Vergeltung vgl. NE 1132b 32ff.; dazu Willers 1931: 40 - 43, insbes. 42 (Anm. 9). 9 Vgl. NE V 8 1133b 5 - 9 . 10 Vgl. NE 1133b lOff., insbes. 1133b 11 - 14. 8

1. Aristoteles' Theorie der Freundschaft und des Hauses

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zögernd, dann geradezu programmatisch die Konsequenzen aus diesem Widerspruch zwischen Theorie und Praxis. Während das Zinsverbot, zwecks Kompensierimg dieses Widerspruchs, schon frühzeitig nach einem RegelAusnahme-Schema auf vielfältige Weise durchlöchert wurde, indem etwa ein Gläubiger für fiktiven Gewinn oder Verlust den lucrum cessans bzw. das damnum emergens als zinsähnliche Entgeltform fordern durfte, widersprachen spätere Theorien dagegen der ganzen normierungssüchtigen Regelvorstellung schlechthin und trugen damit dem Umstand Rechnung, das mit den vielen, vermeintlich gewährten Ausnahmen imgrunde eine autonome Wirtschaftspraxis ihrerseits die theoretische Regel Stück um Stück aufhob und nicht etwa umgekehrt. Ihre entscheidende Neuerung bestand darin, den ursprünglichen, in das Konzept naturgemäßer Autarkie unauflöslich eingebundenen Machtfaktor nach und nach vollständig herauszukatapultieren. Analytisch abgespalten konnte er so ein ebenso isoliertes Theorieobjekt werden 12 , wie die dadurch aus einer vorgegebenen Ziel- und Zwecksystematik freigesetzten Mittel, denen mit Wegfall ihrer Stoppregeln markierenden Ziele nunmehr der Weg ins naturwidrige Lager der unbegrenzten Möglichkeiten ungehindert offen stand. Statt das Tausch-, Handels- und Vertragswesen auch weiterhin in aristotelischer Weise an eine naturgemäße Hierarchie· und Machtverhältnisse berücksichtigende Übereinkunft zu knüpfen, ging es nunmehr daran, den Preisbildungsprozeß nach naturwissenschaftlichem Vorbild als eigenständigen Mechanismus zu betrachten 13 . 3. So entwickelt die neu heraufziehende Nationalökonomie erstmals auf dem Gebiet einer selbständigen Geldtheorie ihr wissenschaftliches Instrumentarium, um sich allmählich zu einer eigenständigen Disziplin zu formieren, die sich von allen moralischen Bindungen vollständig löst. Am nachhaltigsten erstmals in England: Während die französischen Physiokraten, ähnlich den frühen Naturrechtlern, noch am Ideal einer natürlichen Ordnimg und ihren mehr pragmatisch als theoretisch ausgerichteten Antipoden Orientierung suchten, die sie in einer, die Landwirtschaft zugunsten der gewerblichen Wirtschaft ruinierenden Wirtschaftspolitik Colberts denn 11 Wo entsprechende Auffassungen der Kirchenväter unterdessen von einem blühenden Handelswesen schon weitgehend ignoriert wurden. Vgl. dazu Ostrogorsky 1963:158 (mwN). Zur Entwicklung der Lehre vom gerechten Preis vgl. Schacht-Schabel 1939. 12 Charakteristisch dafür: die Theorieentwicklung der politischen Philosophie bei Machiavelli und Hobbes; zu letzterem und dessen folgenreicher Instrumentalisierung des Staatsbegriffs: Henrich 1976. 13 So begründet Nikolaus Kopernikus mit einer Denkschrift zur Münzreform „Monetae cudendae ratio" im Jahre 1526 kausalanalytisch die Quantitätstheorie des Geldes. Mit der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes, deren Eigenschaften 1755 Cantillon des näheren untersucht, tritt 1691, seitens John Locke, ein neuer Wirkfaktor in Erscheinung, der neben der Geldmengenänderung 1752 durch David Hume zum alleinigen Preisbildungsfaktor erhoben wird: im Gegensatz zu Kopernikus spielt die Geldmenge selbst keine entscheidende Rolle mehr, nur noch deren Veränderung - der Geldmarkt besitzt damit seine eigene Dynamik.

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1. Teil: Philosophiehistorische Vorerinnerung

auch zu Genüge fanden, spürten die englischen Moralphilosophen weniger idealen Zuständen, als realen Prozessen nach, deren Gesetzlichkeiten man herausbringen wollte. Am weitesten entfernte sich dabei Mandevilles Bienenfabel (1705) vom Weg des Deismus und ordre naturel: "Bare Virtue can't make Nations live in Splendor; they, that would revive a golden Age, must be as free, for Acorns, as for Honesty." 14 Dem Sturm der Entrüstung der ihre unverblümte Rückführung des Wohlstands auf private Laster, egoistische Triebe und Neigungen hervorrief, Schloß sich mit seiner Schrift „Theory of Moral Sentiments" (1759) zunächst auch der Hutchenson-Schüler und Professor für Logik und Moralphilosophie Adam Smith an. Schon ganz andere, den Vorstellungen Mandevilles nun kaum mehr so recht opponierende Töne sind dagegen in seinem 17 Jahre später entstandenen Hauptwerk „ A n Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations" (1776) zu vernehmen - einem Werk, das für die wirtschaftstheoretische Gedankenwelt des deutschen Idealismus größte Bedeutung erlangen sollte. Ist in den ersten fünf Kapiteln noch deutlich eine aristotelische Traditionslinie zu erkennen, werden dort etwa Tausch- und Gebrauchswert auf ähnliche Weise wie in der „Politik" und der ihr folgenden Scholastik voneinander unterschieden, so orientiert sich das Werk im ganzen doch an einem, mit rein analytischem Instrumentarium traktierten, moralentbundenen Wettbewerbsprinzip, bei dem anstelle des Gebrauchswerts (im genauen Gegensatz zu Aristoteles) nur der Tauschwert ausschlaggebende Bedeutung erhält und die Arbeit als dessen „wahrer Maßstab" vorgestellt wird. Zunehmend deutlicher zeigt sich damit der Weg den die Auflösung der einheitlichen Theorie des Hauses bislang gegangen ist und mit der weiteren nationalökonomischen Entwicklung gehen wird: Eine der Moral entbundene Autonomie der Wirtschaftspraxis schüttelt Zug um Zug normative Bevormundungen ab und entwickelt im Gegenzug dazu mit Hilfe analytischer Abstraktion ihre eigenen, moralfreien Theorien, die Machtfaktoren da belassen, wo sie auch einzig zu finden sind: in der (von ihnen freilich mehr und mehr beherrschten) Praxis selbst. „Laissez faire, laissez passer, le monde va l u i meme", lautet schließlich ihre selbstbewußte, de Gournay zugeschriebene 15 Losung eines wirtschaftspolitisch neutralen Freihandels, wie er in A. Smith seinen prominentesten theoretischen Vertreter fand 16 . 14

Vgl. in der Ausgabe Ffm. 1980: 79. Vgl. Schumpeter 1965: 314. 16 Symptomatisch für diese Entwicklung dürfte dabei nicht zuletzt auch der Umstand gewesen sein, daß die Mehrzahl der zukunftsweisenden Wirtschaftstheoretiker Praktiker oder Naturwissenschaftler waren: Conrad Celtes (1459 - 1508), der erste neuzeitliche Schriftsteller, der eine moralfreie ethische Betrachtung forderte, war Kaufmann i n Nürnberg. Der mit Nachdruck für einen Abbau der Handelsschranken und die Aufhebung des Zinsverbots eintretende Humanist Willibald Pirkheimer (1470 - 1530), der über ein beachtliches wirtschaftshistorisches Wissen und ausge15

1. Aristoteles' Theorie der Freundschaft und des Hauses

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Letztlich spiegelt diese aus aristotelisch-scholastischer Tradition ausbrechende Theorieentwicklung einen praxisimmanenten Prozeß wider, der die naturgemäße Autarkie aus einer vorgefertigten Teleologie Stück um Stück herausklaubt, um sie für sich selbst zu beanspruchen und auf immer neuen Märkten zu behaupten: Mit der Bevölkerungsexplosion beispielsweise, die in Berlin zwischen 1650 und 1790 die Einwohnerzahl um mehr als das Fünfundzwanzigfache auf 150000 ansteigen läßt, wird plötzlich der Grundstückhandel in den Städten äußerst lukrativ und erstmalig in Deutschland löst sich der Bodenpreis von demjenigen landwirtschaftlicher Ertragsfähigkeit vollständig ab. Mietshäuser als Kapitalanlagen werden nun ein im großen Stil betriebenes, einträgliches Gewerbe. Zu ihrer Finanzierung wird ab der Mitte des 19. Jahrhunderts das durch Friedrich den Großen eingeführte und zunächst nur auf die Landwirtschaft angewendete System der Pfandbriefhypothek eingesetzt, mit der Folge, daß sich ein eigenes Spezialbankensystem ausbreitet, die Hypothekenbank, usw. - von einem diese Entwicklung noch integrierenden naturteleologischen Sozialbezug aristotelischer Provenienz mithin überall weit und breit kaum mehr die Spur: Die Mittel wachsen vielmehr ins Ziellos-Unbegrenzte und werden Selbstzwecke mit höchst komplexen Eigenstrukturen. Im Gegenzug dazu zerfällt allmählich der ständehierarchische Integrationsentwurf des Oikos als kleinste soziale Einheit einer festgeschriebenen Lebenswelt: „La loi ne reconnaît point de domesticité", konstatiert der 18. Artikel der französischen Verfassung von 1793 schließlich kurz und bündig diesen Niedergang. Etwas vorschnell zwar: Den mit komfortabler Dienerschaft ausgestatteten Bürgerhäusern des nachrevolutionären Frankreich ist ein Ende der Hausherrschaft schon wieder so vollständig unbekannt, wie dem entsprechenden Artikel 15 der Constitution du 5 Fructidor an III, der neuen französischen Verfassimg vom 22. August 1795 - aber auf lange Sicht ist der Weg doch unwiderruflich vorgezeichnet. Nicht zuletzt aufgrund ökonomischer Interessen an sozialer Mobilität, die von einer immer stärker heraufziehenden Industrialisierung auf den Plan gerufen werden, kommt es zu einem funktionalen Durchgriff auf das Individuum: ein Prozeß, der mit den tradierten, auf ihre eigene Identität hin ausgelegten Sozialstrukturen, die den einzelnen fest in sich einbinden, nicht mehr viel im Sinn hat. Die Rechtsentwicklung folgt diesem Prozeß auf dem Fuß. Wo nicht, demonzeichnete Kenntnisse des hochentwickelten italienischen Bankwesens verfügte, war ebendort als Ratsherr und Jurist tätig. Gregor Agricola (1490 - 1555), der ein der celtesschen Forderung entsprechendes Postulat für die Geldtheorie aufstellte, war Arzt und Naturforscher. Mandeville war Arzt. Der Agrarwissenschaftler und Nationalökonom von Thünen verdankte die Daten seiner Theorie einer eigenhändigen, zehnjährigen Sammeltätigkeit auf seinem Mustergut Tellow. Und auch Ricardo wie Keynes, dem der präzise Aufweis zu verdanken ist, daß die Welt, entgegen liberaler Abstraktionsmodelle, nun doch nicht so ganz „va de lui meme", waren nicht nur Theoretiker, sondern darüber hinaus recht erfolgreiche Börsenspekulanten und Geschäftsmänner - eine Liste, die sich beliebig verlängern ließe.

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1. Teil: Philosophiehistorische Vorerinnerung

striert sie weit weniger ihre Rückständigkeit, als eine wohlbegründete Notwendigkeit, den nicht zuletzt auch aus steuerpolitischen Interessen in die Wege geleiteten Abstraktionsvorgang rigoroser Individualisierung gegebenenfalls noch durch einen Rückgriff auf hausväterliche Gewaltverhältnisse komplementär unterstützen zu müssen. Und zu solch einer Zwischenlösung besteht denn auch vielfältiger Anlaß, reicht es zur Finanzierung einer zentralen Disziplinargewalt, die mit der Freisetzung der Untertanen aus dem alten Hausverband und der einsetzenden vorindustriellen Proletarisierung immer dringlicher wird, doch an allen Ecken und Enden nicht. So werden noch einmal die alten Mächte, die Hausväter (an deren Stelle man später ihre ökonomischen Nachkömmlinge, die Hausbesitzer, setzt) und in der Folgezeit vor allem die Kirche, als einer schon immer höchst fruchtbaren moralischen Besserungsanstalt, in die Pflicht genommen: Die Gutsbesitzer haben - gegen Befreiimg von der Grundsteuer - Volksschulen zu bauen. Die quasi als Hausväter behandelten Unternehmer werden für ausbrechende Tumulte ihrer Arbeiter verantwortlich gemacht, deren polizeiliche Verhinderung, bei 226 Polizeibeamten im 2 Millionen Einwohner zählenden Schlesien etwa, ein Ding der Unmöglichkeit darstellt und allenfalls mit Hilfe dann allerdings auch keineswegs verschmähter - harter Militäreinsätze noch gerade zu bewältigen ist. Auf diese Weise erklärt sich schließlich auch, warum gerade im mehr und mehr entliberalisierten Gesinderecht feudalzeitliche Relikte und letzte überkommene Restbestände des alten Oikos noch unverhältnismäßig lange, nämlich bis ins 20. Jahrhundert hinein, überdauern können: Erst am 12. November 1918 hebt der Rat der Volksbeauftragten die preußische Gesindeordnung endgültig auf - drei Tage zuvor hatte Philipp Scheidemann die Republik ausgerufen 17 . 4. Aristoteles' Argument der Umgrenzungsbedürftigkeit guten Lebens, der Orientierung der eupraxia an natürlichen Bedürfnissen ist der Schlüssel zu seinem Öknomiekonzept. Es beruht auf einer teleologischen Voraussetzung, die in mannigfach variierter Gestalt einer zielgerichteten Naturordnung der gesamten aristotelisch-praktischen Philosophie zu Grunde liegt. So insbesondere auch dem Abgrenzungs- und Verweisungszusammenhang ihrer beiden Teile: Ethik und Politik. Den Übergangsbereich zwischen diesen beiden Teilen praktischer Philosophie, die erst durch Aristoteles als eigenständige Disziplinen begründet wurden, bilden die Lehre vom Haus und von der Freundschaft. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Oikosund Freundschaftslehre tritt neben dieser markanten Übergangsposition in dem Umstand zutage, daß die personalen Verhältnisse der Hausgemein17 Zu dieser spezifisch preußischen Entwicklung vgl. Koselleck 1981: 109 - 124; zur nationalökon. Entwicklung insges. vgl. Schumpeter 1965, Schinzinger 1977, Hansmeyer 1972, Borchardt 1972; dort finden sich jeweils auch alle weiteren Lit.-Nachweise, auf die hier im einzelnen verzichtet wurde.

1. Aristoteles' Theorie der Freundschaft und des Hauses

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schaft, die Beziehungen zwischen Mann und Frau, Vater und Kind, Herr und Sklave, sowohl in der Oikos-Lehre des 1. Buchs der „ P o l i t i k " 1 8 , als auch im Rahmen der Freundschaftslehre 19 behandelt werden, die im 8. und 9. Buch der NE entwickelt wird. Im folgenden ist zu untersuchen, was es mit diesen Gemeinsamkeiten auf sich hat und welche Bedeutung ihnen innerhalb der Gesamtkonzeption aristotelisch-praktischer Philosophie zukommt. Ausgangspunkt dieser Untersuchung wird eine genauere Betrachtung der die aristotelische Politik und Ethik miteinander verbindenden, teleologischen Grundstruktur bilden. Handlung verfolgt Zwecke, die ihrerseits wieder Mittel für weitere Zwecksetzungen sein können 20 . So verkörpert die patriarchalische Herrschaftsstruktur des Hauses keinen Selbstzweck an sich, sondern integriert die den häuslichen Einzelverhältnissen eigenen Zwecksetzungen 21 , die selbst wiederum in einen umfassenderen Zweck-Mittel-Zusammenhang einbezogen sind. Die Frage nach Anfang und Ende dieses Zusammenhangs führt in zwei Richtungen, die letztendlich wieder aufeinander zurückverweisen: man w i l l wissen, woher die Zwecksetzungen ursprünglich kommen und wohin das Ganze schließlich führen soll. Dazu sind von Aristoteles zwei Untersuchungsansätze entwickelt worden, die zueinander in einem wechselseitigen Voraussetzungsverhältnis stehen. Fragt die NE mit der Suche nach dem als Selbstzweck erstrebten höchsten Gut dem Abschluß der teleologischen Handlungskonzeption nach, so stellt die „Politik" die Frage nach deren Anfang: nach Ursprung und genetischen Voraussetzungen zweckgerichteter Handlungsweisen. Miteinander verknüpft werden die zwei Untersuchungsansätze durch den gemeinsamen zielorientierten Ausgangspunkt beider Fragestellungen. Das selbst allen Zweck-Mittel-Zusammenhängen entbundene vollkommene Ziel (teleiotaton telos), das „keiner ... wegen eines anderen w ä h l t " 2 2 , übernimmt danach nicht nur eine den Handlungsprozeß limitierende, sondern zugleich auch eine ihn konstituierende Funktion als teleologischer ,Motor 4 des zielgesteuerten Worumwillen (hou heneka) allen Handelns. Dadurch tritt eine gewisse Asymmetrie in den Aufbau der finalen Handlungstheorie ein, die den konstituierenden Zusammenhang von Handlungsmotivation, Handlungsziel und Handlungspraxis unmittelbar beeinflußt. Um diesen Zusammenhang von Grund auf analysieren zu können, muß letztlich auf einen Kernbestand aristotelischer Philosophie zurückgegriffen werden: seine Theologie und Seelenlehre. 18 19 20 21 22

Pol. 13 1253 b 5 ff. NE V I I I 1 2 - 14; 1160b 23ff. N E I 1 1094 a 1. Vgl. dazu Willers 1931: 19 - 32. Vgl. NE I 5 1097 b 5 f. iVm 1097 b 2 f.

2 M.Weber

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1. Teil: Philosophiehistorische Vorerinnerung

Griechischer Gottesvorstellung gemäß wird der von Aristoteles durch die Selbstbezüglichkeit eines „sich selbst denkenden Denkens" 23 charakterisierte Gott, in Entsprechung der delphischen Aufforderimg des „Erkenne Dich selbst", zunächst als dasjenige gefaßt, was der Mensch sein w i l l und soll. Er ist demnach sowohl Endpunkt als auch Ursache des höchsten menschlichen Strebens. Diese zielorientierte Ursachenstruktur überträgt er sodann auf alle triebhaften und willensgesteuerten Handlungsabläufe schlechthin: „Das Streben ist immer um eines Zweckes willen. Denn wonach es geht, das ist der Ausgangspunkt des handelnden Geistes. Denn das Endziel ist der Ursprung der Handlung." 2 4 Dem korrespondiert eine aus der Metaphysik der Bewegung bezogene Theorie des unbewegten Bewegers, wonach Gott alles in Bewegimg setzt, da er das höchste Ziel allen Strebens, selbst aber unbewegt ist. Diese auf einer Zerlegung aller Bewegungsvorgänge i n ein Bewegendes und ein Bewegtes basierende und gegen die platonische Möglichkeit der Selbstbewegung 25 konzipierte Theorie des imbewegten Bewegers erlaubt es, die Ruhe göttlicher Selbstreflexion mit dem Ursprung aller Bewegungsabläufe so zu kombinieren, daß sich beides nicht gegenseitig ausschließt. Eine ähnliche Strategie kann in der aristotelischen Seelenlehre verfolgt werden, wenngleich sich die Situation hier durch den Einbau eines gesonderten Strebevermögens (orektikon) 26 , das eine Kombination von Streben und Geist vorstellt, um einiges komplizierter gestaltet. Auch hier übernimmt die Zergliederung in ein unbewegt Bewegendes und ein Bewegtes (in Gestalt der Unterscheidung einer bewegenden Seele vom bewegten, durch sie in Bewegung versetzten Werkzeug der Seele) die Funktion, den Anschein von Seelenbewegungen, der von Affekten der Wahrnehmung und des Denkens ausgeht, so zu erklären, daß dabei nicht auf die Annahme einer selbstbewegten Seele zurückgegriffen werden braucht, wie in früheren Lehren 27 . Aus dieser Konstruktion erwachsen nun zwei Schwierigkeiten, deren Auflösung zu den dunkelsten Kapiteln der aristotelischen Philosophie überhaupt gehören: Zum einen geht es um die Frage, wie die Binnenbewegung zwischen der unbewegten Seele und den von ihr in Bewegung versetzten Werkzeugen, den Organen des Denkens, der Wahrnehmung und der jeweiligen Affekte vonstatten geht, wie sich die Aktivität der Seelentätigkeit zur Passivität des Wahrnehmungs- und ihr nachgebildeten 28 Erkenntnisvor23 Vgl. etwa Met. X I I 1072b 20. 24 De an. I I I 10 433a 15f.; vgl. auch De an. I I I 10 433a 27. 25 Vgl. De an. 406a 30 - b 10; 406b 11 - 15, sowie Piatons Phaidros 245c. 2β Vgl. dazu De an. I I I 10ff., insbes. 433 a 20f. 27 Vgl. dazu im Anschluß an die Stelle De an. 406b 10: 408a 34 - b 31; zur Darstellung und K r i t i k der Lehre, die die Seele als ein Bewegendes und Bewegtes annehmen vgl. De an. 403b 24 - 404b 30 u. 405b 41 - 406b 25.

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gangs verhält, die beide im wesentlichen nur als bloßes Affiziertwerden, als bloß rezeptive Aktivierung eines aufnahmebereiten Substrats begriffen werden 29 . Zum anderen geht es um die Frage, welche Rolle innerhalb dieser Seelentätigkeit der Geist und das Denken spielen. Im vorliegenden Zusammenhang sind diese Schwierigkeiten von doppelter Bedeutung. Erstens bilden die ihr zugrunde liegenden Verhältnisse das Fundament sowohl der aristotelischen Freundschaftslehre als auch der personalen Seite der Oikos-Lehre. Zweitens wird Hegel diese immer wieder erkannte Schwäche aristotelischer Theoriekonstruktion 30 mit Hilfe einer leisen Interpretationsverschiebung geschickt zugunsten seiner eigenen philosophischen Konstruktion ausnutzen, wie Gadamer dies anhand zweier Stellen aus der Aristoteles-Darstellung der hegelschen Philosophiegeschichte gezeigt hat 3 1 . 5. In einem kleinen Exkurs soll auf diese Interpretation Hegels kurz eingegangen werden, da sich an ihr grundlegende Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Theorieansätzen deutlich aufzeigen lassen. Die interpretierten Stellen beziehen sich auf die aristotelische Erklärung des Denkvorgangs und der damit verbundenen Bestimmung des Geistes, speziell des höchsten nous, den Aristoteles in gewohnter Weise teleologisch von seinem Worumwillen her bestimmt. Bei der ersten Stelle geht es um ein Zitat aus dem 7. Abschnitt des Buchs Lambda der aristotelischen „Metaphysik", auf das Hegel direkt wie indirekt immer wieder Bezug nimmt 3 2 : „Das Denken an sich zielt auf das an sich Beste, und das Höchstmaß des Denkens auf das Höchstmaß des Besten. Der Geist denkt sich selbst auf dem Weg über das Gedachte. Er wird nämlich selbst denkbar, wenn er das Gedachte berührt und denkt, derart, daß Denken und Gedachtes dasselbe werden. Der Geist ist nämlich dazu bereit, das Denkbare aufzunehmen, und er ist tätig dadurch, daß er es aufnimmt. Darum liegt mehr in diesem (also in dem Denkbaren bzw. Gedachten - d.Vf.) als in jenem dasjenige, was der Geist an Göttlichem zu haben scheint, und so ist die Betrachtung das Lustvollste und Beste." 33 28 Den naturwissenschaftlichen Standpunkt von De an. betonend formuliert Theiler im Anschluß an 427 a 21, daß „der G e i s t . . . in die Psychologie sozusagen nur hineingekommen (ist), weil er bei den alten Physikern zusammen mit der Wahrnehmung behandelt war" (Theiler 1983: 77); im Gegensatz dazu sieht Jäger (1923: 355ff.) die ges. arist. Psychologie gleichsam um die Geistlehre des 3. Buches herumgebaut. 29 Vgl. dazu De an. 416b 32 - 427a 16, insbes. 417a 21 - b9 u. 429a lOff. 30 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa nur die Problematik des Platonikers Attikos im 6. Abschnitt seiner Schrift „Über den Gegensatz zwischen Piaton und Aristoteles" aus dem 2. nachchristl. Jhdt. (in: Gigon (Ed.) 1961: 315ff.). 31 Vgl. Gadamer 1980: 25 - 27. 32 So ausdrücklich am Ende seiner „Enzyklopädie". - Wie das ges. hegelsche System als großangelegte Entfaltung der im Buch Lambda wiedergegebenen aristotelischen Gedanken gesehen werden kann, hat Nicolai Hartmann (1957) zu zeigen versucht.

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Bei der zweiten, auf eine Passage aus dem 3. Buch der Seelenlehre bezogenen Stelle 34 geht es um die Frage, „ob der Geist (auch) selbst denkbar ist", also um die Möglichkeit der Selbstreflexion. Von einfachen Reflexionsprozessen ausgehend behauptet Aristoteles hier in einer auf materielose, geistige Dinge bezogenen Anwendimg des parmenideischen Satzes „dasselbe kann man denken und kann sein" (to gar auto noein estin te kai einai) 35 eine gewisse Identität von Denkendem und Gedachtem: der Geist ist „der Möglichkeit nach die denkbaren Dinge". Und wie sie ist der Geist danach selbst ebenfalls denkbar, da auch er zu den stofflosen Dingen zählt, für die gilt, daß „das Denkende und Gedachte eines und dasselbe ist". Die Struktur der Selbstreflexion w i r d hier derjenigen des gewöhnlichen Denkvorgangs nachgebildet, bei der von Sinnenobjekten die (im Gegensatz zur platonischen Idee allerdings nur analytisch abtrennbare) Form eines Gegenstandes so aufgenommen wird, wie die Form des Siegels durch das Wachs 36 . Entsprechend der Wahrnehmung nimmt auch das Denken die Gegenstände ihrer Form nach auf. Und erst wenn es sie dergestalt aufgenommen hat, besitzt das Denken seine Wirklichkeit, während es zuvor nur seiner Möglichkeit nach existent ist: „Der Geist ist der Möglichkeit nach die denkbaren Dinge, aber der Wirklichkeit nach keines bevor er denkt. Dies muß so sein wie auf einer Schreibtafel, auf der faktisch noch nichts geschrieben ist. Dasselbe gilt für den Geist." 37 Hegel bedient sich nun der bei Aristoteles aus dieser Erklärung gezogenen Schlußfolgerung, daß nicht das Können, sondern das Wirken, das Verwirklichen, das Göttliche am Denken ist, um die Verhältnisse kurzerhand auf den Kopf zu stellen und den rezeptiven Vorgang der Aufnahme des Gedachten, von dem bei der Denkbestimmung, nach Aristoteles, auszugehen ist, vermittelst der selbstbezüglichen Struktur neuzeitlich verstandener Selbstreflexionsprozesse als aktive Tätigkeit, als Umschlag des gegenständes 4 in Aktivität und Energie auszugeben38. Die Struktur der Selbstbezüglichkeit, die bei Aristoteles ursprünglich in dem, was den Anfang in sich selbst hat, verankert ist, um erst von hier aus auf den nous übertragen zu werden, und die Struktur neuzeitlicher Subjektivitätsvorstellungen, die von der Voraussetzung reflexiver Selbstbezüglichkeit bereits ursprünglich ausgehen, werden so gewissermaßen ineinanderkopiert: „Hegel stellt also die griechische Form der »Reflexion in sich' sozusagen vom falschen Ende her dar, nämlich von dem aus, was er als die 33 34 35 3β

Met. X I I 1072 b 19-24. Vgl. De an. 429b 25 - 430a 9. Vgl. Diels-Kranz (1964) I, 231: 28 Β 3. Vgl. De an. 424a 17 - b 3; 413b 14; 429a 12. 37 Vgl. De an. 429 a 30 - 430 a 1. 38 Vgl. Met. X I I 1072b 27 - 30 iVm Hegels Gesch. d. Phil.: WW XVIII, 330ff.

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eigentliche Entdeckung der neueren Philosophie preist, daß das Absolute Tätigkeit, Leben, Geist ist." 3 9 Die Einbruchsteile seiner philosophiegeschichtlichen Annexionsbestrebungen, sein Ansatz bei den fragmentarischen Darstellungen des auf sich selbst bezogenen Geistes, könnte indessen kaum besser gewählt sein, um dem Vorwurf einer völligen Fehlinterpretation wirksam zu begegnen. Zwar kann bei Aristoteles von Reflexionsverhältnissen, die ihre eigene Bewegung bereits in sich haben, nicht die Rede sein. Die Identität von Denkendem und Gedachtem ist bei ihm auch gewiß etwas anderes als die jenseits „strohener Verstandesidentität" und Erfahrung anzusiedelnde, energiegeladene Einheit des Subjektiven und Objektiven, also des Begriffs, wie Hegel ihn verstanden wissen w i l l 4 0 . Doch eröffnet die Sonderstellung des auf rätselhafte Weise in den Körper eindringenden, materieentbundenen und wie die Seele mit eigenen Organen operierenden 41 Geistes, dessen Stellung als dritter Bereich des Göttlichen neben dem unbewegten Beweger und der supralunaren Sphäre der ewig kreisbewegten Gestirne 42 sowie seine Funktion als Formkraft, welche die „Dinge, die Materie haben" 4 3 , von dieser Materie abtrennt, um sie von Denkgegenständen nur erst der Möglichkeit nach in verwirklichte Denkgegenstände zu überführen, eine legitime Sichtweise auf ein mehr als nur rezeptiv gefaßtes Verhältnis, das in der gadamerschen Interpretation allzu schnell in den Hintergrund gedrängt wird 4 4 . „Es gibt also Geist von solcher Art, daß alles wird, und wiederum einen von solcher, daß er alles bewirkt als ein besonderes Verhalten, wie etwa das Licht. Denn auf eine gewisse Weise macht auch das Licht die der Möglichkeit nach vorhandenen Farben zu wirklichen Farben. Dies ist der abgetrennte Geist, der leidenslos ist und unvermischt und seinem Wesen nach Wirklichkeit. Denn stets ist das Bewegende ranghöher als das Leidende und der Ursprung höher als die Materie." 4 5 Diese dunkle Stelle aus dem 5. Kapitel des 3. Buchs „Über die Seele", dem wohl umstrittensten Kapitel der antiken Philosophie überhaupt, liefert einen Beleg dafür, daß Aristoteles den Vorrang des bloß Rezeptiven, wie er durch die Parallelkonstruktion von Denk- und Wahrnehmungsprozessen maßgeblich befördert wird, partiell selbst zugunsten eines eigenständig tätigen Geistes aufbricht. Von einem dem verwirklichten Wahrnehmen entsprechenden Denken ist hier jedenfalls so wenig die Rede, wie von einem Geist nur der Möglichkeit nach 46 . Im 39

Vgl. Gadamer 1980: 27. Vgl. dazu Wiss. d. Logik: GW Bd. 12, 35ff. iVm WW XVIII, 332. 41 Vgl. dazu De an. I 4 408b 19ff. 42 Vgl. Met. X I I 1072b 26f. 43 Vgl. De an. 430 a 6. « Vgl. dazu Theiler 1983: 142 (59, 17), 142 f. 45 Vgl. De an. I I I 5 430 a 15 - 19. 46 Vgl. dazu Theiler 1983: 142f. 40

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Gegensatz zur Wahrnehmung, bei der, aristotelischer Erklärung zufolge, noch ein äußerlicher Gegenstand so wirkt, daß die Möglichkeit der Wahrnehmung sich realisiert 47 , entsteht mit dem Phänomen der ^Reflexion in sich", in dem das Denken mit seinem Denkgegenstand nicht mehr „nur der Möglichkeit nach" identisch ist 4 8 , denn auch das Problem des nous poietikos, der als höhere Instanz das Denken hervorbringt. Und schließlich gehen Äußerungen der aristotelischen Theologie, worin Gott als dem Ursprung und höchsten nous ununterbrochen fortdauerndes Leben zugeschrieben wird, da „die Verwirklichung der Vernunft Leben (sei)" 49 , in die gleiche Richtung. Die große Suggestionskraft, die diese Stellen auf Hegel ausgeübt und ihn zu einer Interpretation geführt haben, in der Struktur aristotelischer Selbstbezüglichkeit einen aktiven Prozeß der Selbstvermittlung schlechthin zu sehen, ist danach nur allzu verständlich. I m Ergebnis w i r d jedoch mit Gadamer einzuräumen sein, daß die allein von diesen Stellen her vorgenommene Ausdeutung des Reflexionsvorgangs insgesamt überzogen und letztendlich unzutreffend ist. Denn die Struktur der Selbstbezüglichkeit findet sich bei Aristoteles, in abgeleiteter Form (in Gestalt der unbewegten Seele, die sich zur vermeintlichen Seelenbewegung der Affekte Denk-, Wahrnehmungsund sonstiger Organe bedient, oder i n Gestalt des Guten, das sich als selbst Unbewegtes im Handeln verwirklicht), zwar auch in seiner Erkenntnislehre, Psychologie und Ethik; in originärer Form reiner, vollkommener Selbstreflexion jedoch nur ein einziges Mal: in Gestalt des nicht nach außen handelnden, in fortdauernder Kontemplation befangenen göttlichen Wesens. 6. Aus diesem charakteristischen Moment göttlicher Theoria, ihrer vollkommenen Selbstbezüglichkeit, leitet Aristoteles nun seine Freundschaftslehre her: Wie in der eidetischen Ewigkeit fortwährender Zeugung von Anderem, das dem Zeugenden ähnlich ist, eine fragmentarische Teilnahme der Lebewesen am Ewigen und Göttlichen stattfindet 50 , so verkörpert auch die Freundschaft eine annähernde Möglichkeit, die vollkommene Tätigkeit der Reflexion des Geistes auf sich hilfsweise im Spiegel des tugendhaften Freundes nachzuvollziehen. In einem zweiten wichtigen Aspekt der aristotelischen Freundschaftslehre verbindet sich dieses Moment der Selbstbezüglichkeit mit einem auf Sokrates zurückgehenden Bezug der Freundschaft auf das Gute als dem einheitsstiftenden Medium idealer Freundschaften. 47

Vgl. De an. 417 a 18, b 20. Vgl. De an. 430a 7 - 9 . « Vgl. dazu Met. X I I 1072b 25 - 30. 50 Vgl. dazu De an. 415a 14 - 416b 31, insbes. 415a 31ff.; Gigon (1950: 239) vermutet, daß hier Gedanken aus den drei Büchern seines verlorenen Hauptwerks „Über die Philosophie" resümiert werden. - In transformierter Weise w i r d das Moment eidetischer Ewigkeit in Hegels Familientheorie (§173 Rph) wiederkehren. 48

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Mit dieser sokratischen Verbindung beginnt denn auch erst eine w i r k l i che, über das zeitgenössische Interesse an Freundschaftsphänomenen 51 hinausgehende Theorie der Freundschaft: „Das Gute als die eigentliche Wahrheit, die der sittlichen Erkenntnis aufgegeben ist, ist das ÜberindividuellAllgemeine; also im Guten müßten die Menschen einander finden. Und die, welche sich dergestalt finden, nennt man Freunde." 52 Erhält sich dieser Zusammenhang zwischen der Freundschaft und dem Guten, als dem von wahren Freunden gemeinschaftlich Erstrebten, grundsätzlich auch bei Piaton, so weist das Erstrebte bei ihm jedoch über seine realen Möglichkeiten immer schon hinaus 53 . Mit der Abwendung von der platonischen Ideenlehre wird das platonische Streben nach dem Guten schließlich bei Aristoteles wieder aus der Transzendenz in den Handlungskontext der Menschen zurückgebogen: Das transzendente agathon wandelt sich zum agathon kai ariston, zum höchsten Guten, das seinen Ort in der Immanenz des menschlichen Logos hat. Die Vernunft ersetzt das bloße Streben nach der gemeinschaftlichen Idee des Guten durch die in ihr notwendig enthaltene Verallgemeinerung dessen, was der Mensch als vernünftiger w i l l und setzt sich damit zugleich einem nur erst egoistischen Wollen als Unvernünftigem entgegen 54 . Innerhalb dieses gedanklichen Rahmens wird die Freundschaftslehre dann im einzelnen ausgeführt. Ihren näheren Anknüpfungspunkt findet sie in der aristotelischen Lehre von den drei Seelenteilen, aus der sie in Verbindung mit der Tugendlehre abgeleitet wird, da die Freundschaft selbst als eine Tugend oder jedenfalls doch als der Tugend ähnlich angesehen werden müsse 55 . Eine Schlüsselrolle fällt dabei dem zwischen vernunftlosem und vernunftbegabtem Seelenteil angesiedelten dritten Teil der Seele zu. Dessen ambivalenter Charakter eines sowohl Vernunftwidrigen, der Vernunft Widerstrebenden, sich dann aber auch wieder freiwillig und gehorsam der Vernunft Unterordnenden, mithin denn gewissermaßen auch selbst Vernünftigen, stellt praktisch eine Widerspiegelung jener Dichotomie der beiden ersten Seelenteile innerhalb der Vernunft dar. Wird er aus der Sicht des Unvernünftigen als „das Begehrende ... Strebende" dem Pflanzlichen gegenübergestellt, so veranschaulicht ihn Aristoteles aus der Sicht des Vernünftigen durch ein „Verhältnis zum Vater und zu den Freunden", das ein aktives, ver51

Vgl. dazu Steinberger 1955: 3 - 8; Ziebis 1927; Dirlmeier 1931; Curtius 1863. Hoffmann 1972: 152; vgl. auch die in diesem Zusammenhang von H. erinnerte Antwort des xenophontischen Sokrates (Xenophon, Conv. 3) an Kallias, daß er am meisten stolz sei auf seine Kunst des Kuppeins, und bei seiner Begründung das Bild des vollendeten Kupplers malt, der Leute für eine ganze Stadt wohlfällig macht (aaO 153). 53 Vgl. Lysis 219a; Symposion 204c 7 - 206a 13. 54 Vgl. dazu auch Hoffmann 1972: 163ff. ss Vgl. NE V I I I (Anfang). 52

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nunftorientiertes Verhalten beider aufweist, auch wenn eine Seite sich dabei mehr passiv verhält 5 6 . Der dem gleichermaßen vernünftig wie unvernünftigen dritten Seelenteil innewohnende Vernunftbezug reduziert die Trichotomie der Seele so auf eine duale Struktur 5 7 , aus der dann die beiden Formen der ethischen und dianoethischen Tugenden abgeleitet werden: als sich maßgeblich der Gewohnheit verdankender Bezug des (Noch-)Unvernünftigen auf die Vernunft bzw. als eine Form der Selbstbezüglichkeit vernünftigen Verhaltens, das der Belehrung, Erfahrung und Zeit bedarf 58 . Das dem Vorbild göttlicher Theoria entlehnte Ideal ursprünglicher Selbstbezüglichkeit praktischer Vernunft bildet danach als die richtige Einsicht freiwilligen Verhaltens in das, was zu tun ist, das Zentrum der Tugendlehre: „Die Tugend ist also ein Verhalten der Entscheidung begründet in der Mitte im Bezug auf uns, einer Mitte, die durch Vernunft bestimmt w i r d und danach, wie sie der Verständige bestimmen würde", heißt es zu Beginn des 6. Kapitels im 2. Buch der NE. „Darum ist eine Willensentscheidung weder ohne Vernunft und Denken noch ohne ethisches Verhalten möglich. Denn ein rechtes Verhalten und das Gegenteil davon existiert nicht ohne Denken und Charakter." 59 Da sich derart tugendhaftes Verhalten jedoch „vorzugsweise auf den Einzelnen und die eigene Person zu beziehen scheint" und die Tugend als „Teil des Geistes" eine selbstbezügliche Verhaltensweise darstellt, fragt sich indessen, wie die Freundschaft überhaupt als eine Tugend oder zumindest „doch mit der Tugend verbunden" angesehen werden kann, wie es einleitend im 8. Buch der NE heißt 60 . Zwei Wege würden sich anbieten, diesen Zusammenhang in Übereinstimmung mit dem gewählten Ansatz zu erklären: entweder wird das Freundschaftsideal auf die gemeinhin recht ungewöhnliche Fassimg eines selbstbezüglichen Verhaltens vernünftiger Eigenliebe reduziert, um im Anschluß daran das interpersonale Moment der Freundschaft als eine demgegenüber nur derivative Form abzuleiten; oder sie w i r d quasi als Ausbildung der Binnenstruktur des Geistes auf zwei verschiedene Personen gefaßt und über56 Vgl. 1102 b 13; dieser Zusammenhang erlangt i n den Erziehungstheorien Fichtes und Hegels größte Bedeutung; darüber hinaus läßt sich eine gewisse Parallele zwischen der arist. Lehre von den drei Seelenteilen u. der hegel. Verhältnisbestimmung v. Notwendigkeit, notwendigem Zufall und bloßer Zufälligkeit feststellen; vgl. zu diesem Verhältnis bei Hegel: Hennch 1975: 157 - 186. 57 Nach Plutarch virt. mor. 442 a ging A. selbst von einer (plat.) Dreiteilung zu einer Zweiteilung der Seele über, auf der dann Ethik (vgl. etwa NE 11102 a 30) und Politik (vgl. Pol. 1333a 16, 1334b 17ff.) aufbauen. 58 Vgl. 1103a 15f. 59 NE V I 2 1139a 33 -35. 60 Vgl. 1144b 21 - 30; 1145b 3/4; 1141b 30 - 34.

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nimmt so eine darstellungsbedingende Leitfunktion für alle übrigen Freundschaftsformen. Aristoteles versucht beide Wege miteinander zu verbinden. Er bejaht das Ideal vernünftiger Eigenliebe, vorzugsweise diejenige, die das „Schönste und Beste" im Menschen schätzt, sein „eigentliches Selbst", den Geist, da gerade „das am meisten selbst und freiwillig getan" wird, „was mit Einsicht getan w i r d " 6 1 . Und er erklärt vor dem Hintergrund der durch das „Verhältnis zum Vater und zu den Freunden" illustrierten 62 Vernunftorientierung des dritten Seelenteils, daß es durchaus „keinen Unterschied machen wird, ob man die Tugenden selbst besitzt, oder ob man denen folgt, die sie besitzen" 63 . Auf diese Weise leitet er letztlich auch das interpersonale Moment der Freundschaft aus einem selbstbezüglichen Verhalten des Geistes ab, das in der tugendhaften Freundschaft seine vollkommene Einbildung finden und dadurch Vorbildcharakter für alle übrigen gewinnen soll. Mit dem interpersonalen Aspekt der Wechselwirkung, dem wechselseitigen Verhalten der Freunde zueinander, hat er dabei entsprechend wenig im Sinn. Garant dauerhaft bestandsfähiger Freundschaften bildet für ihn vielmehr allein die Vernunftorientierung tugendhafter Freunde. Das Moment der Gegenseitigkeit ist darin kaum mehr als die Widerspiegelung der eigenen vernünftigen Vollkommenheit des jeweiligen Gegenübers und die tugendhafte Freundschaft deshalb die Freundschaftsform par excellence, weil die Freunde in ihr zugleich „am meisten bei sich selbst" sind, weil ihnen hier (analog zum bios theoretikos als höchstem Ziel des Lebens 64 ) die Möglichkeit offen steht, im tugendhaften Alter ego des idealen Freundes „tugendhafte und (ihnen) vertraute Handlungen zu betrachten" 65 . Alle anderen Freundschaftsformen werden vor diesem Hintergrund als unvollkommene Vor- oder Verfallsformen abgewertet 66 : „ Z u behaupten, daß es Freundschaft überhaupt nur auf Grund der Tugend geben könne, heißt den Erscheinungen Gewalt antun und in Paradoxien geraten. Man kann auch nicht alle Arten der Freundschaft unter eine einzige Definition bringen. Es bleibt also nur die Lösung, daß in einem gewissen Sinne nur die Freundschaft aus Tugend wirklich Freundschaft ist, in einem anderen Sinn alle Arten, doch diese weder so, daß sie beliebig zusammengestellt werden kön61

Zur Kontroverse für und wider die Eigenliebe: NE I X 8. 1102b 32. 63 1143b 31/32. 64 Zur Lehre v. bios theoretikos: NE X 7. es Vgl. dazu 1169b 29ff. 66 Dieser Ableitungszusammenhang tritt besonders deutlich i n der Auseinandersetzung: Autarkie versus Freundschaft (NE I X 9) hervor. Damit in enger Verbindung stehend: der Gedanke einer das Gute wie Schöne gleichermaßen umschließenden Vollkommenheit (1158 a ff.): der Gedanke der (ursprünglich ein Adelsprädikat verkörpernden) kalokagathia - vgl. dazu Piatons Symposion 2 0 4 c 7 - 2 1 2 c 3 . 62

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nen, noch, weil sie einer einzigen Definition gehorchen, sondern so, daß sie auf eine einzige Definition in bestimmter Weise hingeordnet sind." 6 7 Wie sehr das Moment der Gegenseitigkeit praktisch jeder Eigenständigkeit entbehrt und die Freundschaft in dieser Hinsicht einen auf die menschliche Imperfektibilität abstellenden Handlungsrahmen für das selbstbezügliche Telos der Handlungen bildet, bringt die Übertragung der Analyse des Liebenswerten auf die Freundschaft deutlich zum Ausdruck - deren Einteilung in ein gutes, angenehmes und nützliches. Spricht Aristoteles danach schon homogenen Freundschaftsformen des Nutzens oder der Lust (vermittelst des selbstbezüglichen Dritten ihres gemeinsamen Ursprungs und Ziels) nur eine relative Beständigkeit zu, so bemißt er die Überlebenschancen freundschaftlicher Kreuz- und Querkonstellationen innerhalb dieser Trias der Tugend, Lust und Nützlichkeit noch weitaus geringer: Mit dem Nutzen geht regelmäßig auch die Freundschaft dahin, wenn sie nur seinetwegen bestand. Mit der Lust verhält es sich diesbezüglich 68 kaum anders. Und erst recht w i r d es Probleme geben, wenn der eine wegen der Lust, der andere aber nur des Nutzens wegen die Freundschaft eingegangen ist. Einzig die Befolgung des Grundsatzes, daß „man dem Freunde das Gute wünschen soll um des Freundes willen" 6 9 , also um des Guten an sich willen, gewährt über den selbstbezüglichen Telos des Guten auf Dauer auch eine interpersonale Beständigkeit in dem soeben dargestellten derivativen Sinn. Über das dazu nötige Wissen um dieses Ziel verknüpft Aristoteles dabei das Tugendideal der Freundschaft mit einem Handeln aus Einsicht, das sich seinerseits quasi naturgemäß mit Eigenliebe und persönlicher Freiheit in Einklang bringen lasse: Denn „was mit Einsicht getan ist", scheint man gerade „am meisten selbst und freiwillig getan zu haben" 7 0 . Und „so sieht es aus", wie Aristoteles im 7. Buch der NE schreibt, „als ob Sokrates recht hätte" mit seiner Behauptung, daß „keiner, der richtige Überzeugungen habe, gegen das Beste handeln würde, sondern nur aus Unwissenheit" 71 . Auf 67

Zit. n. Gigon 1961: 57. Anders verhält es sich dagegen im Hinblick auf die Freundschaft des Tugendhaften, für die sie eine wichtige Vorstufe darstellt, da sie die bloße Verdinglichung einer nur des Nutzens wegen geschlossenen Freundschaft aufhebt und das der Lust eigentümliche Moment des Angenehmen auch für die höchste Freundschaftsform erforderlich ist: „dauernd aber w i r d es (sc. das Unangenehme) keiner überstehen können, nicht einmal das Gute selbst, wenn es einem unangenehm wäre" (NE 1158 a 18 ff.). 69 Vgl. zum Ganzen: 1155b 27ff. 70 1168b 35 - 1165a 1. 71 Die aristotelische Erklärung, wie sich, bei grundsätzlicher Übereinstimmung mit Sokrates, der Umstand berücksichtigen läßt, daß „diese Behauptung offensichtlich den Phänomenen widerspricht", liefert einen geradezu umfassenden Einblick in das Grundkonzept praxisimmanenter Vernünftigkeit. Ihr Gedankengang ist folgender. Dem Einwand eines möglichen Handelns wider besseren Wissen ist zunächst einmal nicht dadurch beizukommen, daß versucht wird, Meinen und Wissen zu unterscheiden und zu sagen, der unvernünftig Handelnde habe noch gar kein rechtes Wissen, sondern meint nur etwas zu wissen. Ob jemand etwas nur meint oder es tatsächlich weiß, 68

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diese Weise konstituiert er einen Vorrang selbstbezüglicher Theorie auch innerhalb gemeinschaftsbezogener Praxis. 7. Durch eine Kombination der vernunftorientierten Teleologiestruktur mit Organismusvorstellungen, die auf politische und soziale Institutionen übertragen werden, w i r d das dem Leitbild göttlicher Theoria entlehnte Gedankengebäude tugendhafter Selbstbezüglichkeit schließlich zum Erklärungsmodell gemeinschaftsbildenden Verhaltens schlechthin. Spiegeiförmige oder mindestens doch Ähnlichkeit damit - dieses Motiv findet über den spielt für seine daraus resultierende Handlungsmotivation nämlich weiter überhaupt keine Holle, kann der eine doch so fest an seine Überzeugung glauben, wie der andere an sein Wissen. Statt dessen gilt es vielmehr diese äußerliche, aus besserwisserischer Beobachterperspektive vorgetragene Differenzierung zwischen einem vermeintlich nur abirrenden Meinen und einem zum notwendig richtigen Handeln führenden Wissen unter dem Gesichtspunkt seiner praktischen Anwendbarkeit schon in das Wissen selbst mitaufzunehmen. (Einen ganz ähnlichen Gedanken verfolgt im übrigen auch Hegel mit seiner frühen Schrift „Glauben und Wissen" aus dem Jahre 1802, die mit den Worten beginnt: „Über den alten Gegensatz der Vernunft und des Glaubens, von der Philosophie und positiver Religion hat die Kultur die letzte Zeit so erhoben, daß diese Entgegensetzung von Glaube und Wissen einen ganz anderen Sinn gewonnen hat, und nun innerhalb der Philosophie selbst verlegt worden ist.") Indem bei der praktischen Wissensanwendung nicht nur ein allgemeiner, sondern darüber hinaus auch ein partikularer Satz bezogen werden muß, der, wie alles Handeln auf einzelnes geht, kann das Wissen notwendig richtig, wie bei seiner Anwendung irrtumsfähig gleichermaßen sein. Der Irrtum des Wissenden bezieht sich unterdessen ausschließlich nur auf sein partikulares Urteil - so etwa, wenn der Rausch oder die Leidenschaften das Urteilsvermögen in einer konkreten Situation trüben. Ein weitergehenderer Einfluß der Empfindungen auch auf Urteile über ein Allgemeines ist ihnen hingegen versagt: „ . . . nicht, wenn das vorhanden ist, was im eigentlichen Sinne als Wissenschaft gilt, entsteht die Leidenschaft, und nicht diese w i r d durch die Leidenschaft hin und her gerissen, sondern die wahrnehmende Wissenschaft" (1147b 14 - 17). - Werden die Dinge aus umgekehrter Perspektive betrachtet, zeigt sich die irrtumsbehaftete Sphäre des Meinens indessen als die für das Handeln letztlich entscheidende, da sie über die Anwendbarkeit allgemein-theoretischen Wissens im Einzelfall entscheidet. So nützt es etwa dem Handelnden herzlich wenig, wenn er zwar „weiß, daß leichtes Fleisch gut verdaulich und gesund ist, nicht aber weiß, welches Fleisch leicht ist", wie Aristoteles dies am Beispiel fehlender Klugheit illustriert, der die Aufgabe zukommt, sich die nötige Erfahrung und Kenntnis im einzelnen zu beschaffen (1141b 14-20). Die Klugheit (phronesis), als „Gegenstück zum Geist", der sich „auf Prinzipien bezieht" (1142 a 25 iVm 1141a 7 - anders hingegen: 1143a 35, wo die Gegenüberstellung von Geist u. Klugheit mit Hilfe eines erweiterten Geistbegriffs aufgegeben wird, der jetzt auch das einzelne umfaßt) bringt danach im Bund mit der ihr zugehörigen Fähigkeit der Gewandtheit (vgl. dazu: 1144 a 23 ff.) und der die Zielorientierung vorgebenden ethischen Tugend richtiges Handeln maßgeblich zustande: „ . . . die Tugend macht, daß das Ziel richtig wird und die Klugheit, daß der Weg dazu richtig wird" und demnach keine Willensentscheidung möglich ist „ohne Klugheit und ohne Tugend" (1144a 7ff.; 1145a 4). - Wird der Geistbegriff über beide vernunftbegabte Seelenteile, den aufs Notwendig-Unbedingte und den aufs Veränderlich-Meinungsmäßige (zu dieser Unterscheidung: NE V I 2 1139 a 3 - 14) erstreckt, wird also die Zuständigkeit des Geistes über den Bereich wissenschaftlicher Prinzipien hinaus auch auf konkretes Wissen und die Erfahrung der Klugheit ausgedehnt, wie es Aristoteles, in freilich etwas widersprüchlicher Weise zum Vorhergehenden, im 12. Kapitel des 6. Buches schließlich tut (1143 a 35), verkörpert tugendhaftes Verhalten nunmehr ansatzweise eine Art Geiststruktur des Willens, die aus einer selbstbezüglichen Vernunft resultiert und dabei auf natürliche Verhaltensweisen zurückgreifen kann, die, „der Tugend ähnlich", bereits von Natur aus eine originäre Anlage zu ihrer vernünftigen Vervollkommnung in sich tragen (vgl. 1144b 4 - 1 3 iVm 1103a 24f.).

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Bereich tugendhafter Freundschaft 72 hinaus allenthalben seinen Platz: sei es bei der Geschlechtergemeinschaft und Fortpflanzimg der Lebewesen, die auf ein „naturgemäßes Streben" zurückgeführt werden, „ein anderes Wesen zu hinterlassen, das einem selbst gleich i s t " 7 3 ; sei es bei der auf eine natürliche Eigenliebe zurückbezogene Liebe der Eltern zu ihren Kindern: „Die Eltern lieben also die Kinder wie sich selbst (denn was von ihnen stammt, ist wie ein anderes sie selbst durch die Trennung), die Kinder die Eltern, weil sie von ihnen stammen, und Brüder untereinander, weil sie von denselben Eltern stammen. Denn die Gleichheit jenen gegenüber macht sie auch untereinander gleich. Und so spricht man von ,demselben Blut',,derselben Wurzel4 und dergleichen. Sie sind auch gewissermaßen dasselbe, nur in getrennten Wesen." 74 Die stoische Oikeiosis-Lehre wird auf diesem aristotelischen Gedankengut aufbauen, um die Gemeinschaftsbildung über die Grenzen der Polis hinaus auf die Menschheit insgesamt auszudehnen 75 . Aristoteles hingegen sperrt sich dieser „antizipatorischen Ausdehnung" des Gemeinschaftsgedankens, die bei den Stoikern dessen „Entpolitisierung und Entökonomisierung" bewirken wird 7 6 . Bei ihm bleibt er auf eine konkrete Lebenswelt, eine bestimmte „Gemeinschaft des Redens und Denkens" notwendigerweise bezogen, da das Handeln nur innerhalb dieser Grenzen die „Umgrenzung" 77 eines „an sich guten und angenehmen Lebens" finden könne. Handlungsziel und Handlungsbedingungen, in denen jenes Ziel schon von Natur aus als Möglichkeit angelegt ist, werden wechselseitig so aufeinander bezogen, daß den einzelnen Gemeinschaftsformen, trotz ihrer Einordnimg in einen teleologischen Handlungszusammenhang, eine Selbständigkeit mit festen Konturen zukommt, die sich einer bloß exemplifizierenden Abstraktion widersetzt. So heißt es von der „Freundschaft zwischen Mann und Frau" etwa, daß sie „nicht nur der Kindererzeugung willen, sondern wegen der Lebensgemeinschaft", also auch um ihrer selbst willen, besteht 78 . Dieser selbstbezügliche Verweisungszusammenhang zwischen Handlungsziel und Handlungsbedingungen, der den einzelnen Gemeinschaftsf or72

Vgl. dazu NE V I I I 4 1166a 30ff. Vgl. dazu Pol. I 2 1252 a 24 - 30; zum platonischen Ursprung dieses Gedankens vgl. Oehler 1963: 39f. 74 1161b 2 8 - 3 3 . 75 Vgl. dazu v. Arnim 1903: III, 83, 19f.: die natürliche Elternliebe w i r d hier als Ursprung der erstrebten Gemeinschaft des Menschengeschlechts begriffen - eines natürlichen Trieben folgenden Strebens, das auf Ausdehnung des Kreises dessen aus ist, was der Mensch als ihm zugehörig (oikeion) erkannt hat; dazu Ilting 1983: 47 f. 76 Dazu Ilting 1983: 47. 77 Vgl. dazu 1170 a 20 ff. ; zur Abgrenzung gegenüber dem „unumgrenzten, kummervollen" Leben und der damit verbundenen Zirkelargumentation des Umgrenzungsarguments: Gigon (1967): Anm. zu 1170a 20 - 22. 7 « 1162a 20/21. 73

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men durch Referenz auf die natürliche Umgrenzimg einer konkreten Handlungspraxis relative Selbständigkeit sichert, kommt in der aristotelischen Vorstellung eines naturgemäßen Strebens der Lebewesen zueinander besonders deutlich zum Ausdruck. Danach realisiert sich das Handlungsziel des einzelnen wie der Gemeinschaft gleichermaßen ansatzweise schon von Natur aus - über die dunkle Vernunft des dritten Seelenteils. Mit dem naturgemäß gegenseitigen Streben der Lebewesen, die erst durch ihr Tätigsein mit dem eins werden, was sie nicht sind und wonach sie streben, verhält es sich wie mit der Glückseligkeit, die ihrem Wesen nach verwirklichende Tätigkeit (energeia), Realisierung und Vollzug bereits angelegter Möglichkeiten ist 7 9 . Das aristotelische Modell naturgemäßen Zueinanderstrebens erfaßt dabei sowohl den auslösenden Impuls als auch Umfang und Reichweite der Strebetätigkeit. Dieser Zusammenhang findet dann in fortwährenden Vergleichen mit der Freundschaft seinen Niederschlag. So wird von der Freundschaft als einer gesprochen, die „nicht nur bei den Menschen", sondern bei allen Lebewesen gleicher Art, „dem Erzeuger gegenüber dem Erzeugten von Natur innezuwohnen scheint und umgekehrt." 80 So wird die Freundschaft sowohl mit der Eintracht und Gerechtigkeit verglichen, worin sie ihre vollkommene Form finde 81 , als auch mit dem Recht, das „seiner Natur nach gleichzeitig mit der Freundschaft (wachse), da es in demselben Bereich (stehe) und sich gleich weit (erstrecke)" 82 . Und so w i r d schließlich auch die Ungleichheit in der Freundschaft auf die organische Vorstellung naturgemäßen Zueinanderstrebens zurückgeführt: Es strebt danach quasi nur bis zu einem bestimmten Grad nach dem, was es entbehrt, sodann hört das Streben auf und gibt sich zufrieden - entsprechend der durch Einsicht nur „zu findenden und zu 79 Dieser Gedanke findet sich in konzentrierter Form in NE I X 7 dargestellt. Bei der dort behandelten Frage, warum die Wohltäter die Empfänger mehr zu lieben scheinen als umgekehrt, spielt die Abgrenzung zu dem auf seine Gegenleistung bedachten Gläubiger eine wichtige Rolle, zu der sich Aristoteles eines Vergleichs bedient: Der Uneigennützigkeit des Wohltäters entspricht gewissermaßen diejenige des Künstlers, der sein Werk wie ein K i n d liebe. Als Ursache dafür wird angegeben, „daß das Sein allen Wesen wünschbar und liebenswert ist und daß w i r insofern sind, als w i r tätig sind, nämlich im Leben und Handeln. Durch seine Tätigkeit ist also der Schöpfer gewissermaßen sein Werk, weil er auch das Sein liebt. Dies ist naturgegeben: denn was er als Möglichkeit ist, zeigt das Werk i n Wirklichkeit." (NE 1168a 5 - 9) - Die Realisierung der Möglichkeit im Tätigsein verweist damit immer auf den Handelnden zurück: selbst da noch, wo es um Vorbilder und Nachahmung geht, wie beim Kind in bezug auf seine Eltern. Dieses Tätigsein ist von Anfang an originär selbstbezüglicher Vollzug, Handeln (praxis), das seinen Sinn allein in sich selbst hat, nicht in einem äußerlichen Ziel oder Produkt wie das objektbezogene Tun der poiesis. - Zur Unterscheidung zwischen praxis und poiesis vgl. in der NE etwa: 1140b 7/8, 1140 a 1 - 6 , 1 1 3 9 b l - 3 ; z u dieser Differenzierung und ihrer Rückführung auf Piatons Sophistenkritik vgl. auch Bubner 1971: 31f., sowie ders. 1976: 67ff. 80 Vgl. 1155 a 16-20. 81 Vgl. NE V I I I 1 1155a 24ff.: „ . . . und bei Gerechten ist das Gerechteste dasjenige unter Freunden." 82 1160a 7/8; ausführlich wird dieser Zusammenhang i n NE V I I I 1 1 erörtert.

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1. Teil: Philosophiehistorische Vorerinnerung

wählenden" Mitte 8 3 , die auf ebenso natürliche Weise zustande gebracht vorgestellt wird: „Vielleicht strebt überhaupt das Entgegengesetzte nicht nach dem Entgegengesetzten, sondern nur zufällig und geht vielmehr auf das Mittlere" 8 4 - eine Vorstellung, die sich in der Bewegungslehre der aristotelischen Naturphilosophie wiederfindet, wonach die Erde in einer gradlinig zentripetalen Bewegung von der Peripherie zur Mitte hinstrebt, wo sie bleiben und nicht mehr weiter will, weil sie dort ihren „natürlichen Ort" habe 85 . 8. Das zirkuläre Umgrenzungsargument der eupraxia führt schließlich auf die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen solcher Lebensgemeinschaften, innerhalb derer die Phronesis - „vorzugsweise" im Dienste des Eigennutzes 86 - dem Einzelnen seinen Weg zu vernünftigen tugendhaften Handlungszielen aufzuzeigen vermag: denn keiner kann „wohl sein Eigenes ... gut verwalten ohne die Verwaltung des Hauses und des Staates" 87 . Im Ganzen des Staates erreicht das naturgemäße Streben die äußere Umgrenzung wie Grundlage individueller Handlungsmöglichkeiten - „gewissermaßen die Grenze der vollendeten Autarkie" 8 8 , die Lebendigkeit des einzelnen, der selbst „nicht autark für sich zu leben vermag" und sich darum „wie auch sonst als ein Teil zu einem Ganzen verhalten w i r d " 8 9 . Der einzelne findet sich hier in seinem natürlichen, d.h. naturgemäß angestrebten Zustand. Denn „den Zustand, welchen jedes Einzelne erreicht, wenn seine Entwicklung zum Abschluß gelangt ist, nennen w i r die Natur jedes Einzelnen". Folglich ist der Staat „denn auch von Natur aus ursprünglicher als das Haus oder jeder von uns" 9 0 . Vor diesem Hintergrund entwickelt Aristoteles die personale Seite seiner Theorie des Hauses. Mit Hilfe eines analytischen Zergliederungsverfahrens, es 1107a 5. 84 1159b 19/20. 85 Alles weitere wird gewissermaßen in das Grundgerüst eingebaut: angefangen von den Freundschaftsmotiven bis hin zur prinzipiellen Begründung der Notwendigkeit von Freunden überhaupt. Wie auch sonst, stellt sich dabei der Aufbau der Theorie als ein Schritt um Schritt erfolgender Rückgang von tradierten, bereits vorhandenen Begründungen i n deren innere Voraussetzungen dar. Zunächst w i r d auf umlaufende Meinungen eingegangen: man hört was Euripides, Heraklit, Empedokles aus einer naturphilosophischen Sicht zum Thema zu sagen haben und geht dann sodann, aufgrund der plausiblen Überlegung, daß „offenbar nicht alles geliebt wird, sondern nur das Liebenswerte" (1155 b 17), an die systematische Erörterung. Die Einteilung des Liebenswerten i n ein gutes, angenehmes und nützliches liefert dazu den Leitfaden. Sie wird der Unterteilung der PYeundschaft in eine der Tugendhaften, der Lust und des Nutzens wegen zugrunde gelegt, um die verschiedenartigen Schattierungen der Freundschaftstypen, ihre Vorzüge und Mängel, näher zu analysieren. 86 Vgl. 1141b 30. 87 1142 a 8/9. 88 Pol. 1253a 28f.; zum arist. Autarkiebegriff vgl. Willers 1931: 13f. 89 Pol. 1253 a 26ff. 90 1252b 33ff.; 1253a 19ff.; aus genetischer Sichtweise hingegen ist es „die Familie", die „ursprünglicher und notwendiger ist als der Staat" (NE V I I I 1 4 1162 a 17 f.) dieser Verschiedenheit der Perspektiven entspricht in der Rph Hegels die Gegenläufigkeit von Begriffs- u. Phänomenentwicklung (vgl. § 32 Rph).

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der Zerlegung des Zusammengesetzten (syntheton) institutioneller Lebenswelten bis zum „kleinsten Teil des Ganzen", dem nicht mehr Zusammengesetzten (asyntheton) und Grundelement der Gemeinschaft 91 rekurriert er dabei auf den Entstehungsprozeß der ihr zugrunde liegenden Differenzierimg. Dessen Ursprung, Maßstab und Ziel findet sich danach auch hier wieder in einem „naturgemäßen Streben" verankert, das als selbstbezüglicher Prozeß wieder auf sich selbst zurückverweist: „Die Natur ist, als ein Entstehen betrachtet, ein Weg zur Natur", die Aristoteles diese prinzipielle Identität von Ursprung, Prozeß und Ziel auf naturphilosophischem Gebiet beschreibt 92 . Und in Analogie zur Herrschaft der Seele über den Körper übernimmt auch hier wieder der Logos die Funktion des Wegweisers in diesem normativ transformierten Naturprozeß: sowohl innerhalb der staatlichen Gesetzgebung, wo die Gesetze einer Rede verglichen werden, „die von einem bestimmten Erkennen und Geist ausgehen93, wie auch im Rahmen der dazu ganz parallel entwickelten Erziehungsgewalt des Hausherrn und Vaters: „Wie nämlich in den Staaten die Gesetze und Gebräuche herrschen, so in den Familien die Worte und Gewohnheiten des Vaters, und diese noch mehr wegen der Verwandtschaft und der Dankbarkeit. Die Kinder lieben ihn von vornherein und sind von Natur gehorsam." 94 Dem völlig entsprechend werden auch die Teilgemeinschaften des Hauses (Herr - Sklave, Mann - Frau, Vater - Kind) als naturgemäße (kata physin) Herrschaftsverhältnisse entwickelt, deren Mittelpunkt die natürliche Herrschaft des oikonomos bildet. In ihm w i r d zugleich der despotische, politische und königliche Herrschertyp mitumfaßt, der jeweils in den einzelnen häuslichen Teilgemeinschaften seine Keimzelle findet 9 5 . Der die Herrschaft über das Haus Ausübende zeichnet sich dabei durch den Umstand aus, daß er kraft seines Logos die größte Fähigkeit besitzt, die bereits durch die Natur gegebenen Normen ausfindig zu machen und ihnen gemäß zu handeln. Dagegen hat der Sklave „nur insoweit an der Vernunft teil, daß er sie annimmt, sie aber nicht selbständig besitzt" 9 6 - noch jemals besitzen wird, wie etwa das Kind (des Freien). Aufgrund dieser eigenartigen Selbstblockade eines vernünftigen Strebens der Natur beim Sklaven gewinnt sein Fall einen geradezu paradigmatischen Status für alle übrigen Herrschaftsformen 97 . Der die beiden Extreme des 91

Pol. 1252 a 21. Physik Β 193b 13; zu dieser Zirkelargumentation vgl. Ritter 1977: 69ff.; Willers 1931: 13. 03 Vgl. NE 1180a 20ff. iVm NE 1168b 35 u. Pol. 1 13 1260a 18ff.: „und Werkleiter ist die Vernunft". 94 NE 1180b 4 - 6 . 95 Zu diesem Zusammenhang vgl. Willers 1931: 10, 25ff. 96 Pol. 1254b 22. 92

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selbständig vernünftigen Hausherrn und unselbständig abhängigen Sklaven miteinander verbindende, allen Herrschaftsformen gemeinschaftliche Gedanke ist dabei derjenige einer Konzeption praxisimmanenter Vernunft, die wie die Seele über den Körper hier über einen anderen als „abgetrennten Teil seines (sc. des Hausherrn) Leibes" 9 8 regiert. ,Sein eigener Herr' nämlich vermag nur der Geist selbst zu sein, „für den Körper" dagegen sei es „naturgemäß und zuträglich von der Seele beherrscht zu werden": „Gleichheit oder ein umgekehrtes Verhältnis wäre für alle Teile schädlich." 99 Im Gegensatz zum natürlichen Komplementärverhältnis zwischen Hausherr und Sklave verdanken sich alle anderen Gemeinschaftsformen nicht unmittelbar einer naturgemäßen Einheit, sondern einem über Erziehung verlaufenden Entwicklungsprozeß, der auf die natürlichen Unterschiede des Zu-Entwickelnden abstellt: „Ist der Sklave von Natur, was er ist", „bedarf er ... nur geringer Tugend, gerade genügend, damit er nicht aus Zuchtlosigkeit oder Trägheit den Dienst versäumt", gilt dies bereits für den Handwerker nicht mehr: „Schuster und sonstiger Handwerker ist aber keiner von Natur." Und Frauen und Kinder sind zwar zunächst von Natur aus, was sie sind, als „Hälfte der Freien" und „künftige Teilhaber an der Staatsverwaltimg" indessen schon nicht mehr. Für diese Rollen sind sie zu dem ihnen jeweils angemessenen, tugendhaften Verhalten erst noch zu erziehen „sofern es für die Tüchtigkeit des Staates etwas ausmacht, daß auch die Kinder und die Frauen tüchtig seien". Für die Ausgestaltung des auf ein jeweils angemessenes Verhalten abstellenden Erziehungsprozesses gewinnt so der differierende Charakter einzelner Gemeinschaftsformen gegenüber deren Gemeinsamkeiten vorrangige Bedeutung. Anstatt nur „eine Erkenntnis für dies alles" herauszubringen, „mag diese nun einer die königliche Kunst oder die Staatskunst oder die Wirtschaftskunst nennen", wie in Piatons „Politikos" 1 0 0 zu lesen ist, verlangt der nötige Realitätsbezug solch einer Erkenntnis, nach Aristoteles, gerade die umfassende Berücksichtigung all dieser Unterschiede. Ein entsprechendes Wissen soll demzufolge schon von Anfang an erst gar nicht losgelöst von jeglicher Praxisorientierung entwickelt werden: „Die beste Verfassung kann nicht entstehen, ohne entsprechende Mittel; darum müssen wir, gleich Wünschenden, Vieles voraussetzen, aber nichts davon darf unmöglich sein." 1 0 1 97 Vgl. Pol. 1254b 10ff.; unter diesem Gesichtspunkt dürfte die auffällig ungleiche Darstellung der häuslichen Teilgemeinschaften zugunsten des Herrn-Sldaven-Verhältnisses tatsächlich nicht nur entwicklungsgeschichtliche Gründe haben, wie sie von Jäger (1923: 285ff.) geltend gemacht werden, sondern auch systematische; vgl. dazu Willers 1931: 16-18. 98 Pol. 1255b 11. 99 Vgl. Pol. 1254b 6 - 9 . !oo 259c. ιοί Pol. V I I 4 1325 b 37 ff.

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Richtig macht es demnach der Gorgias, wenn er den einzelnen Tugenden ihre Unterschiede beläßt, indem er sie einfach nur aufzählt, anstatt sie alle mit dem Etikett „Rechthandeln", „gute Verfassimg der Seele" und ähnlichem versehen, wahllos über einen Leisten zu schlagen. Gut spricht demnach auch der Dichter, wenn er sagt: „Dem Weibe bringt Schweigen Zier" und damit meint, beim Manne hingegen gelte ganz anderes 102 . In jedem Fall helfe es wenig, sogleich in allem und jedem fortwährend dasselbe sehen zu wollen, um die Unterschiede sogleich auf eine vorgängige Einheit zu reduzieren: „Man muß vielmehr den Staat, der eine Vielheit ist, ... (erst) durch die Erziehung zu einer Gemeinschaft und Einheit machen." 10 3 Um genau diesen Punkt dreht sich dann auch die ganze Auseinandersetzung mit der platonischen Frauen-, Kinder- und Gütergemeinschaft, die in der ersten Hälfte des 2. Buchs der „Politik" eine weitläufige Behandlung erfährt. Mit spöttischer Akribie werden hier aus allen Ecken und Enden des perfekten Einheitsstaat bei Piaton die Imperfekte zusammengesucht, nach allen Seiten gedreht, gewendet, variiert und süffisant zu grotesken Phantastereien ausgemalt: Da soll im platonischen Staat zwar „die Gemeinschaft möglichst einheitlich" sein 1 0 4 , wie es dabei aber mit dem eigenartigen Verhältnis der Wächter zur „Menge der gewöhnlichen Bürger" bestellt ist, werde nicht gesagt. Sollen auch die letzteren Frauen, Kinder und Güter gemeinsam haben? Wenn ja, worin würden sie sich dann aber noch von jenen unterscheiden? Wenn nein, bilden die Wächter dann auf einmal einen Staat im Staate, der doch ein einheitlicher sein soll? Wenn die Erziehung, nach Aussage des platonischen Sokrates, die vielen Gesetze weitgehend überflüssig macht, warum ist sie dann nur für die Wächter vorgesehen? 105 Und da im Vergleich zu den Wächtern von den übrigen Bewohnern bei Piaton recht wenig gesagt wird, schafft dies zugleich noch eine gute Gelegenheit, die Lücken einmal eigenhändig mit allen denkbaren Variationen auszufüllen, um nicht nur das Gesagte, sondern auch noch das Nicht-Gesagte ins HöchstBedenkliche wenden zu können 1 0 6 . Auf den Punkt gebracht lautet der Vorwurf in all diesen Fällen immer wieder auf undifferenzierte, praxisblinde Universalisierung infolge sträflicher Vernachlässigung jeglicher Realitätsbezüge: „Man darf gewiß Voraussetzungen nach Wunsch machen aber keine unmöglichen." 107 Letztere werden bei Piaton indessen nicht erst aufgrund der zahlreichen Widersprüchlichkeiten und Lücken im perfektionistischen Idealstaatsgehäuse festgestellt, sondern bereits durch den unzweideutigen Hinweis, man möge doch !02 Zum Ganzen: Pol. 1 12 1260 a 25 - b 19. !03 Pol. I I 5 1263b 37. 104 Pol. I I 3 1262b 16 iVm Piatons Politela: 462c; dazu Deschamps 1933. 105 Vgl. dazu in Piatons Politela: 425 a - e. 106 Vgl. zum Ganzen: Pol. I I 5 1264a 11 - b6. 107 Pol. 1265a 17. 3 M.Weber

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„auch die lange Zeit und die vielen Jahre bedenken, in welchen es nicht verborgen geblieben wäre, wenn jene Einrichtung richtig wäre. Denn so ziemlich alles ist schon erfunden worden .. . " 1 0 8 Daß die praktische Vernunft nicht erst noch von Idealkonstrukteuren erfunden zu werden braucht und diese besser daran täten, sich mit dem Finden zu begnügen, um so auch wirklich fündig zu werden, daß die Stunde der Eulen nicht schon vor der einbrechenden Dämmerung schlägt, wie dann Hegel, dem ganz entsprechend, im Vorwort seiner Rechtsphilosophie von 1821 formulieren wird, diese Invektive eines praxisimmanenten Vernunftkonzepts, das Aristoteles gegen den platonischen Dualismus auszuspielen sucht, findet in den zahlreichen Einzelbetrachtungen platonischer Idealkonstrukte gewissermaßen nur ihre sich selbst bestätigende Illustration. Konkrete und damit differenzierte Lebenswelten, so der Tenor des Ganzen, verhalten sich keineswegs wie die Liebenden des Aristophanes in Piatons „Symposion", die „wegen der Heftigkeit ihrer Liebe zusammenzuwachsen begehren und aus zweien eins werden möchten", damit „notwendigerweise entweder alle beide oder der eine der beiden zugrunde gehen", wie Aristoteles spöttisch zitiert 1 0 9 . Vielmehr bestehe die Praxis regelmäßig auf ihren Unterschieden, die sich auch deren Theorie zum Vorbild zu nehmen habe, anstatt aus dem Staat ein Haus, aus dem Haus ein Mensch machen zu wollen, um auf diese Weise mit dem einzelnen zugleich das Ganze aufzuheben: „Es ist doch klar, daß ein Staat, der immer mehr eins wird, schließlich gar kein Staat mehr i s t . " 1 1 0 Klar ist allerdings auch, daß dieser Einwand samt dagegen vorgebrachter Alternativtheorie nun seinerseits nicht ganz unerhebliche Bedenken an den Tag fördert: Gilt es mehr qualitativ Differenziertes als quantitativ Einheitliches zu finden, ist die Form dieses Findens dann überhaupt noch etwas anderes als bloße Reproduktion immer schon vorgefundener Differenzen in der Weise: die Phronesis sucht, die bereits feststehenden Ziele rufen, ,hier sind wir'? - Bei prinzipieller Fortführung der aristotelischen Grundhaltung w i r d Hegel versuchen, diesem Mangel dadurch Abhilfe zu verschaffen, daß er in die aristotelische Konzeption praxisimmanenter Vernünftigkeit einen ihr zunächst einmal völlig konträr laufenden Dualismus einbaut, um der Gefahr schrankenloser Relativierung gegenzusteuern und dem Freiheitsspielraum des Einzelnen ein gegenüber antiken Willensvorstellungen 111 108 Pol. I I 5 1264a 1 - 3; dieses Argument ist Aristoteles bekanntlich auch ansonsten sehr geläufig: so heißt es etwa i n der „Metaphysik" von den vier Ursachentypen: „ i n einer gewissen Weise sind alle (sc. von den Früheren) schon genannt worden" (A 993 a 14). 109 Pol. I I 4 1262b 10 - 14 iVm Piatons Symposion: 191a - b. no Vgl. dazu Pol. I I 2 1261a 15 - 30. 111 Der Bereich des Wollens findet sich bei A. unter dem Begriff der Ortsbewegung zusammengefaßt und, wie in der Antike generell üblich, nur kurz und untergeordnet

2. Kants Gedanke einer ,auf dingliche Art persönlichen Rechts'

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weitaus stärkeres Gewicht zukommen zu lassen. Dieser Dualismus orientiert sich gleichermaßen an den Dualismen der platonischen Ideenlehre und des kantischen Reflexionsmodells und führt in Verbindung mit der aristotelischen Traditionslinie zum Aufbau eines unter dem Einfluß Fichtes entwikkelten geiststrukturierten Willenskonzepts. Mit welchen Konsequenzen dies für den Ansatz der hegelschen Familientheorie geschieht, läßt sich im einzelnen indessen erst zeigen, nachdem zuvor der Einfluß des reflexionstheoretischen Dualismus Kants und der maßgeblich mit Hilfe einer ausgearbeiteten Theorie des Willens entwickelten Wissenschaftslehre Fichtes auf den Aufbau ihrer jeweiligen Familientheorien etwas eingehender betrachtet worden ist. 2. Kants Gedanke eines ,auf dingliche Art persönlichen Rechts' 1. Wie in der aristotelisch-praktischen Philosophie fällt auch in der „Rechtslehre" Kants der Darstellung der Familienverhältnisse eine Schlüsselrolle zu. Von jener aristotelischen Methode, zu verfolgen, „wie sich (die Gegenstände) von Anfang an entwickeln" 1 , wie sich nach einem teleologischen Schema aus elementaren Personenverhältnissen heraus die staatliche Gemeinschaft konstituiert, kann hier zwar keine Rede mehr sein. Und auch der aristotelische Zusammenhang von Freundschafts- und Familienverhältnissen geht bei ihm völlig verloren, wie ein Blick i n die §§46 und 47 der „Tugendlehre" leicht zeigt, worin die Freundschaft ohne einen derartigen Bezug behandelt wird. Doch spätestens der umfangreiche, in die 2. Auflage der „Rechtslehre" hineingenommene Anhang erläuternder Bemerkungen 2 läßt den Stellenwert und die eigentliche Besonderheit deutlich werden, die Kant der Behandlung des Familienrechts innerhalb seiner Rechtstheorie zugedacht hat. Die „Rechtslehre" kann sich danach als Wissenschaft nicht mit einem bunt zusammengewürfelten Aggregat zufrieden geben, vielmehr muß sie sich als ein „Vernunftsystem" zunächst einmal der „Vollständigkeit ihrer Einteilung der Rechtsbegriffe" versichern: „Die Topik der Prinzipien muß der Form des Systems halber vollständig sein." 3 Unvollständig sei nun aber behandelt (vgl. De an. 433a 9 - b 12, dazu Gigon 1950: 254); eine konsistente Theorie des Willens fehlt selbst noch bei Kant, und es ist vor allem dieser Mangel, an dem sich die nachkantische K r i t i k dann maßgeblich entzündet, dazu Henrich 1975 a: 97 (Anm. 26); zu Willensvorstellungen i n der Antike vgl. jetzt auch Dihle 1985. 1 Pol. I I 1252 a 25. 2 Eine Reaktion auf die Bouterwek-Rezension in den „Göttinger Gelehrten Anzeigen", deren K r i t i k (wie im übrigen ebenso der Ausgangspunkt der kantischen Entgegnung) sich hauptsächlich auf die Behandlung des Familien- und insbes. des Eheverhältnisses konzentriert; vgl. dazu Vorländer 1966: XVII. 3 AA 6, 357. 3*

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gerade die aus dem römischen Recht überlieferte Einteilung i n dingliche und persönliche Rechte, „weil außer den zwei einfachen Gliedern der Einteilung noch zwei Verhältnisse, nämlich die das Recht einschränkenden Bedingungen hinzukommen, unter denen das eine Recht mit dem anderen in Verbindung t r i t t " 4 . Auf diese Weise erweitere sich die Dichotomie von dinglichem und persönlichem Recht zu einer um die Begriffe eines „auf persönliche Art dinglichen" und eines „auf dingliche Art persönlichen Rechts" vermehrten Tetrachotomie. Während das erste neuartige Begriffskonstrukt nun gleich wieder vergessen werden könne, da sich „kein Recht einer Sache gegen eine Person denken" lasse, soll dies im zweiten Fall dagegen um so weniger gelten. Kant gibt sich im folgenden vielmehr alle Mühe, sein neues Begriffskonstrukt, dieses „neue Phänomen am juristischen Himmel", wie in der Bouterwek-Rezension kritisch zu lesen war, gegen eine derartige K r i t i k und die mit ihr verbundenen Einwände gründlich zu verteidigen 5 . 2. Statt nun unmittelbar auf den Argumentationsgang dieser Verteidigung einzugehen, soll zuvor erst einmal der Frage nachgegangen werden, wie diese „Stella mirabilis", von der Kant selbst spricht 6 , überhaupt entstanden ist. Denn erst ihre Entstehungsgeschichte w i r d den sachlichen Hintergrund der gegen Bouterwek angeführten Argumentation hinlänglich transparent machen. Auch gibt es noch einen anderen Grund, der diese Vorgehensweise sehr angeraten sein läßt: Mit dem kantischen Ehe- und Familienrecht, insbesondere mit seinem berüchtigten Begriff des „commercium sexuale" 7 , verbinden sich zum Teil bis heute Vorstellungen, die, ähnlich den freilich weitaus wirkungsmächtiger gewordenen populären Darstellungsweisen der aristotelischen Oikos-Lehre, eher dazu angetan sein dürften, das damit verfolgte Anliegen Kants gründlich zu verdunkeln, statt nennenswertes Licht in die Sache zu bringen. Daß es zu diesen schiefen und halbwahren Vorstellungen allerdings überhaupt kommen konnte, ist nun nicht erst ein ausschließliches Verdienst der Interpreten. Kant selbst und seine rigoristische Entschiedenheit, mit der er seine Ansichten vortrug, ist daran alles andere als unschuldig. So äußert er sich bekanntermaßen in einem Brief an den in Jena lehrenden Gottfried Schütz 8 , „daß der Appetit eines Menschenfressers ... von dem eines Freiden4

AA 6, 358. Vgl. zum Ganzen: AA 6, 358ff. 6 aaO 358. 7 Rechtslehre § 24. 8 Christian Gottfried Schütz (1747 - 1832), seit 1779 Prof. f. Poesie u. Beredsamkeit in Jena; 1804 siedelt er nach Halle über; mit Stroth begründet er die 1785 erstmals erscheinende „Allgemeine Literatur Zeitung", die in Opposition zur tradierten Dog5

2. Kants Gedanke einer ,auf dingliche Art persönlichen Rechts'

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kers (libertin) in Ansehung der Benutzung des Geschlechts nur der Förmlichkeit nach unterschieden" sei9. Weniger bekannt, der Stelle in dem Brief an Schütz jedoch in keiner Weise nachstehend, die Bemerkung einer Reflexion aus den 70er Jahren: „Wir haben nur zweierlei Genuß eines Menschen von dem anderen: der kannibalische oder der wollüstige Genuß. Der letztere läßt die Person übrig." 1 0 Dergleichen w i r d man bei ihm, in mehr oder weniger drastischer Form, noch öfters finden können 11 ; in dazu freilich schon sehr gemäßigter Weise reichen solche Anschauungen bis in den publizierten Text der „Rechtslehre" von 1797 hinein, wie eine Lektüre der ersten beiden Paragraphen des Eherechts (§§ 24, 25) noch deutlich genug zeigt. Es ist daher kaum über die Maßen verwunderlich, daß dies so etlichen Gemütern nicht nur zu seiner Zeit schon recht hart angekommen sein muß. Tatsächlich scheint es bereits seit den frühesten Anfängen im kantischen Rechtsdenken einen Zug zu geben, der „bloß tierischen Natur" der Geschlechtsgemeinschaft jede Dignität eines Rechtsstatus als von Anfang an völlig indiskutabel zu verweigern. „Man hat das Gefühl", schreibt C. A. Emge in seiner Abhandlung über das kantische Eherecht aus dem Jahre 1924 12 , „daß er sich ihrer (sc. der Geschlechtsgemeinschaft) auch da schämt, wo er sie - wie in der Ehe - für »erlaubt' halten muß". Dabei verweist er auf eine Stelle in der „Metaphysik der Sitten", die diese „erlaubte (an sich freilich bloß tierisch körperliche)" 13 Seite auch ziemlich genau mit einem solchen Eindruck verbunden schildert 14 . 3. Wie ist es nun zu diesem seltsamen Konstrukt eines „auf dingliche Art persönlichen Rechts" gekommen? Warum erschien Kant die traditionelle Einteilung in dingliche und persönliche Rechte auf einmal nicht mehr ausreichend, um darin seine Darstellung des „Rechts der häuslichen Gesellschaft" unterbringen zu können? - Als Ausgangspunkt der Beantwortung dieser Fragen eignet sich vorzugsweise die Betrachtung seiner unterschiedlichen Einordnungsversuche des Eltern-Kind-Verhältnisses, insbesondere seiner verschiedenartigen Auffassung bei der Begründung des Elternrechts 15 . Denn viel spricht für die Vermutimg, daß sich gerade hier Kants

matik tritt u. erheblich zur Verbreitung und Popularisierung der kantischen Philosophie beiträgt. 9 Der Brief ist als Beilage in der Einl. v. Vorländer (1966) auf den Seiten X L I I X L V abgedruckt; das Zitat findet sich dort auf S. XLIV. 10 AA 19, 481, R 7662. 11 Vgl. etwa nur den Anhang erläuternder Bemerkungen, Pkt. 3: „Beispiel" oder in der Nachschrift Collins: AA 27,1, 384, 386. 12 Emge 1924: 252. 13 AA 6, 425. 14 Es ist allerdings nicht ganz unwichtig, darauf hinzuweisen, daß diese Stelle der Tugend- und nicht der Rechtslehre entnommen ist. 15 Vgl. dazu Busch 1979: 145.

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Abwendung von der Dichotomie: persönliches Recht - dingliches Recht erstmalig vollzogen hat. Am Anfang der Bestimmung dieses Verhältnisses scheint eine noch recht eindeutig römisch-rechtlichen Traditionen folgende Einordnung des Elternrechts 16 in den Bereich des dinglichen Rechts gestanden zu haben. In den Bemerkungen zu den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" aus dem Jahre 1763 (= Eintragungen im Handexemplar) spricht Kant, im Rahmen einer Begründung der kindlichen Gehorsamspflicht, von den Kindern noch als „eine(r) Sache der Eltern", weil „sie keinen eigenen kompletten Willen haben und es gut ist, durch den Willen anderer dirigiert zu werden" 1 7 . I m Laufe der Zeit und durch Erziehung bildet sich aber auch bei ihnen ein eigenständiger Wille heraus. Vor diesem Hintergrund wird der Vergleich zwischen einem unvollständigen Wesen (woraus das Argument, Kinder unterfallen einem Sachstatus, maßgeblich bezogen wird) und einer Sache als einem bloßen Verfügungsobjekt recht problematisch. Auch ein Tier läßt sich schließlich als unvollständiges Wesen fassen, wenn man dabei einen autonomen Willen als Maßstab zugrunde legt, wie Kant es tut 1 8 . Nun w i r d es aber, jedenfalls in dieser Hinsicht, auch durch Erziehung nicht vollständiger werden, so daß ihm am Ende etwa ein autonomer Wille zukommen würde: Es ist mithin noch eine Unterscheidung zwischen einem unvollständigen Wesen, das die Anlage in sich trägt, sich zu einem vollständigen zu entwikkeln, und einer insoweit unveränderlichen ,Sache' erforderlich. Eine naheliegende Lösung dieses Dilemmas wäre, dem Kind einen zeitlich auseinanderfallenden Doppelstatus zuzusprechen, um sodann einen allmählichen Übergang vom dinglichen zum persönlichen Recht anzunehmen: aus der untauglichen Alternative eines Weder-Noch würde so die taugliche Perspektive eines Sowohl-als-Auch. Solch einer Lösung schließt sich zunächst einmal auch Kant an - unter deutlicher Bezugnahme auf Achenwall 19 , der ein Elternrecht gegenüber den Kindern darin begründet sieht, daß diese von jenen produziert seien 20 . Daß man mit derartigen,Produkten' indessen nicht 16

Zur Entwicklungsgeschichte des Elternrechts vgl. Bingler 1960. ι? AA20, 67. 18 Vgl. AA 20, 93. 19 Gottfried Achenwall (1719 - 1772), seit 1748 a.o. Prof. f. Phil. i. Göttingen, ab April 1753 a.o. Prof. d. Rechtsgelehrsamkeit, Sept. d. J. o. Prof. f. Phil., 1761 Prof. d. Naturrechts u. d. Politik, 1765 königl. großbritann. u. kurbraunschweig.-lüneburg. Hofrath; 1750/53 gab er sein „Naturrecht" zunächst mit Püttner heraus, 1755/56 dann i n neuer Bearbeitung allein (Jus naturae, 2 Tie. 1755 - 56); A. gilt zudem als einer der maßgeblichen Begründer der Statistik als Wiss.; sein stat. Lehrbuch erschien zuerst 1749 unter dem Titel: „Abriß d. neuesten Staatswiss. d. vornehmsten Europäischen Reiche und Republiken" (die folgenden Auflagen tragen den Titel: „Staatsverf. d. Eur. Reiche im Grundrisse"); zu A. vgl. Stintzing / Landsberg III/1, 354. 20 Jus naturae, 5. Aufl., Göttingen 1763: 253.

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in schrankenlos beliebiger Weise verfahren, sich der Kindermord nicht bloß als nachträgliche Zerstörung zuvor hergestellter, eigener Sachen legitimieren könne und eine Verpflichtung der Eltern bzw. ein Rechtsschutz des Kindes bestehe, hatte Achenwall jedoch nur aus dem jedem Menschen, so auch dem Kind, zukommenden göttlichen Selbsterhaltungsrecht sowie aus dem Ehevertrag gefolgert, der Kindererzeugung als einen Vertragsinhalt vorsieht 21 . Bei dieser Argumentation wird die eigentliche Begründung sozusagen ,νοη außen' her bezogen: Es gibt da ein göttliches Recht, das sich durchsetzen muß. Es ist ein Vertragsinhalt vorgegeben, den es zu erfüllen gilt. Dafür unterdessen gibt es keine Begründung mehr. Dieser Schwierigkeit sieht sich zunächst auch noch die kantische Lösung ausgesetzt, wenn sie die Verbindlichkeit der Eltern daher rühren läßt, daß diese die Ursache des Daseins der Kinder sind 2 2 - ohne noch weiter begründen zu können, warum dieses Dasein der Kinder denn überhaupt sein soll. Dazu kann letztlich nur der traditionelle Rückgriff auf eine göttliche Ordnung verhelfen, die derartiges nun einmal verlange. Einen entscheidenden Einbruch in dieses Denken und eine dadurch bedingte grundlegende Infragestellung der übernommenen achenwallschen Lösung, Kinder als Elternprodukte anzusehen, die unter dem Schutz einer göttlichen Weltordnung eine eigenartige Zwischenstellung zwischen Sachen und Personen einnehmen 23 , bringt die völlige Lösung des Rechtsbegriffs von übergeordneten teleologisch-theologischen Vorstellungsgehalten 24 . Eine Verankerimg des Rechts findet von nun an nur noch in der menschlichen Vernunft statt. Rechte entspringen ab sofort nur noch der Freiheitsfähigkeit des Menschen selbst. Dem Rekurs auf andere, höhere Instanzen als diejenige menschlicher Vernunft w i r d künftig jeder Geltungsanspruch verweigert. Damit kann die Konstruktion eines Elternrechts und die Verwerfung eines Zwangsrechts des Kindes nun aber nicht mehr länger durch einen über die göttliche Weltordnung vermittelten Ausnahmestatus der Kinder zustande gebracht gedacht werden. Der neue Weg, auf dem das Problem einer Lösung entgegengeht, läßt sich schlagwortartig kurz so fassen: das Kind als Teil der Menschheit. Als Mensch wie jeder andere auch und nicht nur als ein nicht so recht einzuord21

Dazu Busch 1979: 134. Vgl. etwa AA 19, 470, R 7616. 23 Kant selbst spricht von einer „persona in potentia proxima" (AA 19, 468). 24 Busch (1979), der mit seiner Arbeit dieser Entwicklung nachgeht, setzt diesen Einbruch mit dem Jahr 1772 an und wendet sich gegen den Erik-Wolf-Schüler Chr. Ritter, der in seiner Dissertation „Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen" (1971) im Anschluß an Schmucker (Die Urspünge der Ethik Kants, 1961) eine kritische Rechtsphilosophie, die sich vom Überlieferten tatsächlich zu lösen vermag, bei Kant nicht sieht. 22

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nendes Übergangswesen ist es bereits vollwertiger Rechtsträger: mithin auch Inhaber eines Zwangsrechts auf Erhaltung und Erziehung als den konstitutiven Bedingungen menschlicher Freiheit schlechthin - ohne dieses Recht nun freilich ernstlich durchsetzen zu können. Ein Quasi-Kontrakt zwischen Eltern und Kindern, der schon Christian Wolff zur Begründung seines Elternrechts gedient hat, wird als inkonsequente Verlegenheitslösung dieses Problems mangelnder Durchsetzbarkeit bereits nach kurzer Zeit wieder verworfen. Die Einsicht, daß ein Vertragsverhältnis gar keine derartigen Rechte und Pflichten begründen, es solche vielmehr immer nur voraussetzen könne, führt schließlich für den Lösungsansatz der späteren Rechtslehre: „Lege non pacto obligantur, proies non acquirit ius." „Die Eltern sind dem Kinde nicht verbunden, sondern der Menschheit überhaupt in Ansehung des Kindes". 2 5 4. Eine ganz ähnliche Entwicklung läßt sich auf dem Gebiet des Eherechts verfolgen. Hier hat es zunächst einmal den Anschein, als schlage sich Kant in der zeitgenössischen Diskussion (mit deren unterschiedlichen Positionen er aus einem ausführlichen Referat des Wolff-Schülers Darjes 26 in dessen „Discours über Natur- und Völkerrecht" (Jena 1762/63) bestens vertraut gewesen sein dürfte 27 ), entgegen einer praktisch „geschlossenen Phalanx der Philosophen" 28 , ins theologische Lager, dessen Parteigänger mit Hilfe von Bibelzitaten so ziemlich als einzige noch unbeirrt die Notwendigkeit einer ausschließlichen Einehe vertraten. Diesem von der Theologie vereinnahmten Standpunkt wurde seitens der Philosophie schon seit geraumer Zeit, und nahezu einhellig, das Bedenken entgegengehalten, recht besehen ließen sich für eine derartige Notwendigkeit allenfalls Zweckmäßigkeitserwägungen, keinesfalls aber Rechtsgründe beibringen. In diesem Sinn hatte Thomasius sich bereits 1713 im Rahmen einer eigenständigen Dissertation geäußert 29 . In diesem Sinn erklärten sich schon Locke 30 , Wolff, Achenwall und Darjes selbst 31 . Und dahingehend ist natürlich erst recht Pierre Bayles (1647 - 1706) bekannter Einfall einzuord25 AA 19, 354: Erläuterung 7392 u. AA 19, 353: Erläuterung 7390; zum Ganzen u. den entspr. Nachweisen im einzelnen vgl. Busch 1979: 136 u. Ritter 1971: 208 - 210, 264 - 266. 26 Zu dem Wolffschüler Darjes (1714 - 1791), Verfechter einer utilitaristischen Staatsraison im Rahmen des späten Naturrechts, vgl. Stintzing / Landsberg III/l, 192f.; Thieme 1936: 226; Wieacker 1967: 321f. 27 Zur Begründung dieser anzunehmenden Kenntnis Kants vgl. Busch 1979: 63 (dort finden sich auch die entspr. Nachweise für das Referat selbst). 28 aaO 65. 29 De concubinate, Halle 1713; zu den Eherechtsvorstellungen v. Thomasius vgl. Erle 1952: 214 - 250. 30 Vgl. das 7. Kap. seiner 2. Amtshandlung über die Regierung, dort insbes. die §§ 80 - 82. 31 Nachweise bei Busch 1979: 66 (Anm. 31).

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nen, wolle man nur der Vernunft - „separée de la Grace, et la lumiere de la Foi" - folgen, „ i l est bien certain que l'on ne chercheroit pas plûtôt à satisfaire les désirs de la Nature avec une fille, qu'avec une femme de joye, toutes choses étant égales d'ailleur, et qu'on ne feroit pas plus de difficulté de prêter sa femme que de prêter un livre" 3 2 . Ließ Kant demnach auch nur biblische Autoritäten für sich streiten, oder wußte er, über die auch von philosophischer Seite natürlich immer zugestandenen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte 33 hinaus, Rechtsgründe beizubringen? - Aufschluß darüber liefert seine Argumentationsstrategie: Zunächst einmal werden diejenigen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte angegriffen, denen sich die Philosophie und Jurisprudenz seiner Zeit hilfsweise bediente, um aus ihrer Ansicht, daß sich im übrigen eigentlich gar keine rechten Gründe für die Notwendigkeit der Ehe vorbringen lassen, keine womöglich gar unliebsamen Konsequenzen ziehen zu müssen. So wird der Naturzweck des Zeugungsgebots mit der gegen Wolff gerichteten Feststellung verworfen, die Begründung allzu offenkundiger Ausnahmen lasse sich nicht einfach dadurch rechtfertigen, daß deren nichtsdestoweniger unbekümmert als die Regel behauptetes Gegenteil zum Naturzweck verklärt werde: Gäbe es nämlich ein absolutes Gebot Kinder zu haben, dann müßten beispielsweise alle Ledigen - um gegenüber diesem naturgemäßen Zweck einen Entschuldigungsgrund vorbringen zu können - Gelehrte sein, was aber offenbar wohl nicht so ganz zutreffend sein könne 34 . Kant spielt damit auf eine von Wolff für den Philosophen (also für sich selbst) gemachte Ausnahme von der allgemeinen Verbindlichkeit, Kinder zu zeugen und zu erziehen, an, da dieser dadurch nur bei seiner Arbeit gestört und die Menschheit sich im übrigen auch ohne ihn schon irgendwie fortpflanzen werde 35 . Fällt auf diese Weise das Gebot, Kinder haben zu müssen, als natürlicher Ehezweck und wesentliches Charakteristikum einer Ehe aus, so sieht Kant die Ehe nunmehr allein auf eine reine Geschlechtergemeinschaft beschränkt 36 und versucht von diesem reduzierten Ansatzpunkt aus, Monogamie und lebenslängliche Dauer der Ehe zu begründen. Dabei greift er indessen selbst wieder auf traditionelle Argumentationsstränge zurück, die sich leicht als keine eigenständige Begründungsleistung entlarven lassen: Zur Rechtfertigung der Monogamie gebraucht er das von Wolff bezogene 32 Nouvelles lettres de l'auteur de la Critique General de l'Histoire du Calvinisme: lettre 17, § 5, in: (Evres diverses de Pierre Bayle, Den Haag 1737, torn. 2. 33 Als solche führt Wolff etwa das Zahlenverhältnis zwischen Mann und Frau, sowie die Kindererziehung an; vgl. lus naturae (1740 - 48) 7, 300f. 34 Vgl. AA 19, 457, R 7567. 35 lus naturae 7, 524 Schol. 36 Vgl. AA 19, 456, R 7565: „Die Nominaldefinition des matrimonii ist: est societas légitima maris et feminae, per quam ipsis licet mutuo uti facilitatibus et visis sexualibus."

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„vornehmste Gesetz, daß der Vater gewiß sei", wonach „ebendasselbe Weib nicht einigen gemein sein" könne und „das Recht des Beischlafs ein eigentümliches Recht des Mannes" darstelle 37 . Die lebenslängliche Ehe sieht er mit Achenwall und einer Lehre des römischen Rechts in der gegenseitigen Hilfe (mutuum adiutorium) legitimiert 3 8 . Außer acht bleiben darüber hinausgehende Überlegungen, wie sie etwa bei Darjes angestellt werden, wenn dieser finanzielle Hilfeleistungen als Alternative gegenüber einer persönlichen gegenseitigen Hilfe in Erwägung zieht und zum Kindererwerb auch den außerehelichen Geschlechtsverkehr als rechtlich zulässig vorsieht. Weiter unbeachtet bleibt schließlich auch die Möglichkeit der Adoption 3 9 . Kant bewegt sich hier (was sich an dem so herausgestellten Moment der gegenseitigen Hilfe besonders gut ablesen läßt) noch vollständig in der alten Tradition des Hauses: ein äußerer Rahmen, der seine Gültigkeit bis in die „Rechtslehre" hinein behalten wird. Theoretisch bedeutsamer als dieser äußere Rahmen sind dagegen die heterogenen Voraussetzungen der gesamten Argumentationsstruktur selbst: Die angeführten Begründungen machen einen ähnlichen Rückgriff auf übergeordnete Wertebenen und eine teleologische Begründungsstruktur notwendig, wie dies schon im Fall der rechtlichen Einordnimg des Eltern-KindVerhältnisses zu beobachten war. Auch hier bahnt sich nun die entscheidende Wendung durch den radikalen Entzug der freien Rechtsperson aus einer teleologischen Naturordnimg an: Mit der Folge, daß die Konzeption einer Doppelnatur des Menschen, der dem Reich der Freiheit wie dem Reich der Natur gleichermaßen angehört, die Frage, inwieweit der Mensch ebenso verfügbares Naturobjekt oder Sache, gleichzeitig aber auch Persönlichkeit sein kann, in aller Schärfe ausbrechen lassen. Es muß demnach auch hier ein Weg gefunden werden, beide Gesichtspunkte miteinander in Einklang zu bringen. Es muß die Frage beantwortet werden, auf welche Weise bei der Begründimg der Geschlechtsgemeinschaft, als einer Personenverbindung, zu verhindern ist, daß darin mit dem anderen nur als einer bloßen Sache verfahren werden kann. Insbesondere muß jener, aus der ausschließlichen Zuordnung zum Reich der Naturzwecke sich ergebende Sachcharakter des Geschlechtsverkehrs bei Kant, vor dem Hintergrund einer strikten Wahrung der menschlichen Persönlichkeit (auch in einer bereits ans Tierische grenzenden ,Extremsitua37 AA 19, 457, R 7568: bei Chr. Wolff findet sich das Argument der gesicherten Vaterschaft in Bd. 7 seines lus naturae: 268. 38 Vgl. D 23, 2, 1: „Nupitae sunt coniunctio maris et feminae et consortium omnis vitae, divini et humani iuris communicatio"; zu Kant: AA 19, 467, R 7602; zu Achenwall: lus naturae (1763) 2, 46 - der 2. Teil ist in der Akad.-Ausg. Bd. 19 abgedruckt, dort: AA 19, 349. 39 Zur Entwicklungsgeschichte des Adaptionsrechts: Wackernagel 1965.

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tion 4 , wie im kantischen Sinne drastisch zu formulieren wäre) von einem frei disponierbaren Vertragsobjekt deutlich ausgrenzbar sein. In diesen Ausgrenzungsversuch verwickelt sich nun allerdings in einer davon nicht vollständig abzutrennenden Weise ein anderer Argumentationsstrang, der erst den eigentlichen Anlaß für alle Ereiferungen gegen die kantische Konstruktion des Eherechts geliefert hat. Dieser Argumentationsstrang greift auf eine geläufige Vorstellung seiner Zeit zurück, die besagt, daß der Geschlechtsverkehr letztlich einen Verbrauch des Menschen darstelle: Für die Frau mit der Gefahr gesundheitlicher Gefährdimg, Schwangerschaft und tödlicher Niederkunft verbunden, werde der Mann dabei durch „Erschöpfung aufgezehrt 4440 - eine Auffassung, wie sie Kant im einzelnen aus dem schon erwähnten Referat zur Eherechtsdiskussion in Darjes' Discours 41 wohlbekannt war. Dieses ,Verbrauchsargument 4 wird nun zwar von Kant übernommen 42 , liefert jedoch nicht das letztendlich begründende Argument für seine Konzeption der Ehe. Im Gegenteil: Wie sich aus der Nachschrift Collins ergibt 4 3 , wirft Kant seinen Vorgängern und Zeitgenossen gerade vor, zwar Erschöpfung und Verbrauch als unzweckmäßig, keineswegs aber als unrechtmäßig 44 herausgestellt zu haben. Kant bedient sich damit des gleichen Verfahrens, das er auch schon bei der Begründung des Elternrechts zur Anwendung brachte: Er zerstört zunächst den vordergründigen Argumentationsgang geläufiger Meinungen, um sich sodann an die Arbeit für eine prinzipielle Begründung zu machen. Dazu liefert die Überlegung, daß sich eine wirkliche Lösung des in Rede stehenden Problems nicht schon aus einer äußerlichen Beurteilung des Verhältnisses: Person - Körper/Sache ergeben kann, den zentralen Ansatzpunkt. Statt von einer derartigen Außenperspektive auszugehen, muß vielmehr der Aspekt der Anwesenheit der Person in diesem Verhältnis als einem Verhalten zu sich selbst - als Sache - in den Mittelpunkt der Erörterung treten. Dieser Ansatzpunkt der Selbstbeziehung stellt den Schlüssel zu allen weiteren Lösungsschritten dar. Das Verhältnis des Menschen zu seinem Körper, seine Willensäußerungen und Handlungsweisen, sind danach etwas prinzipiell anderes als nur ein Bezug auf ein verfügbares Objekt in dem Sinne, „der Leib ist mein, denn er ist ein Teil meines Ich und wird durch meine Willkür bewegt 44 , wie es anfänglich noch in den „Bemerkungen 4445 von 40

Vgl. im Anhang der „Rechtslehre": Pkt. 3: „Beispiele". Nachweise bei Busch 1979: 128 (Anm. 152). 42 Vgl. etwa nur AA 19, 540, R 7865: „Der Gebrauch seines Geschlechtsvermögens ist auch ein Verbrauch (abusus) desselben. Daher ist i n diesen Handlungen immer etwas, was die Menschheit herabwürdigt." 43 AA 27, 1 386. 44 „und glauben, daß i n der Handlung an sich nichts Verächtliches wäre", AA 27,1, 386. 41

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Kant selbst so notiert wurde. Jetzt heißt es dagegen: „Wären sie (sc. alle Gliedmaßen, alle Vermögen) durch uns selbst notwendig da, so würde unsere Freiheit mit ihrem geziehmenden Gebrauch jederzeit übereinstimmen. Nun sind sie akquiriert oder deriviert auf uns, und es muß also ein Titel sein, unter dem wir sie besitzen und eine Einschränkung der Befugnis, uns derselben zu bedienen." 46 Die notwendige Übereinstimmung von Freiheit und Wirklichkeit, im Sinne einer Anwesenheit der Freiheit im Dasein kann demnach nur dann eine notwendige sein, wenn Übereinstimmung nicht schon per se immer vorliegt und den Formen willkürlicher Übereinstimmung des Körpers mit mir, im Sinne eines meiner Willkür schlechterdings auf jede Weise verfügbaren Körpers, ihrerseits noch eine Unterscheidbarkeit der Willkür selbst vorangeht, damit die Notwendigkeit der Übereinstimmung nicht zu einer auf selbstwidersprüchliche Weise äußerlich bedingten wird. Diese Unterscheidimg der Willkür durch sich selbst erfaßt Kant in einem Selbstverhältnis des freien Willens, worin Freiheit und Wille analytisch zerlegt werden, um aus der so gewonnenen Verhältnisstruktur synthetisierend dessen Selbstverpflichtungscharakter zu demonstrieren: Das Verhalten des Willens als einem freien, nicht nur ununterscheidbar willkürlichen Verhalten setzt eine Instanz erlaubter und unerlaubter Willensäußerungen voraus, die allein in diesem Verhalten zu sich selbst begründet sein kann. Kant nennt die aus jener analytischen Verhältnisstruktur ermittelte Selbstverpflichtungsinstanz „ein(en) Titel ... unter dem wir sie (sc. unsere Gliedmaßen, unser Vermögen) besitzen und eine Einschränkung der Befugnis, uns derselben zu bedienen", und zieht daraus den Schluß: „Die Rechte zufälliger Wesen gründen sich auf seine Verbindlichkeit." 4 7 Dieser Selbstverpflichtungscharakter der jeder Willkür bei einem Freiheitsanspruch zugrunde liegt, ermöglicht danach überhaupt erst eine spezifische Form der Willkür, die sich nicht nur faktisch durchsetzen, sondern darüber hinaus auch für sich selbst Geltung beanspruchen kann. Faktischer Willkürgebrauch und Rechtsgründe sind damit in grundlegender Weise voneinander unterschieden: allein aus dem Vollzug (oder dessen Unterlassen) läßt sich weiter noch gar nichts begründen, was legitimerweise mit irgendeinem Geltungsanspruch verbunden auftreten könne. Damit ist zunächst der eigene Körper der Vorstellung eines freien Willkürzusammenhangs unterstellt. Dieses Selbstverpflichtungsverhältnis zum eigenen Körper läßt sich für Kant, infolge seiner Allgemeingültigkeit, nun aber auch auf das Verhältnis zum Körper anderer übertragen. Denn auch in « Vgl. AA 20,160. AA 19, 539f., R 7864 - Sperrung nicht bei Kant. 47 aaO. 46

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diesem Falle müsse „ein Titel sein, unter dem w i r (diese Körper) besitzen und eine Einschränkung der Befugnis, uns derselben zu bedienen". Und auch hier legitimiere sich die Ausübimg von Willkür erst über eine Struktur selbstbezüglicher Vernünftigkeit des freien Willens in einer Sphäre des für uns ansonsten nur erst Unvernünftigen. So w i r d die Beziehung auf den anderen über den vorrangigen Ansatz der Selbstbeziehung konstruiert und beides durch die Allgemeingültigkeit der Struktur der Selbstbezüglichkeit miteinander vermittelt: Eine der bedeutsamsten Konstruktionsvoraussetzungen für das „auf dingliche Art persönliche Recht", das Kant in der „Rechtslehre" (§ 22) darum auch ein „Recht der Menschheit in unserer eigenen Person" nennt. Dem entspricht dann auch seine Fassung des dinglichen oder genauer quasi-dinglichen Moments 48 der wechselseitigen Gemeinschaft: Damit die bloße Unterwerfung des anderen unter die Willkür seines Gegenüber aufgehoben werde, „muß ein jeder Teil mit seinen Geschlechtseigenschaften zur Proprietät des anderen gehören und umgekehrt, also zur Proprietät der Gemeinschaft" 49 . Wie sich das Verhältnis zur Person des anderen erst über den Gedanken der Menschheit vermittelt, so vermittelt sich auch die Beziehung zum anderen als einer Art von Besitzobjekt legitimerweise nur über den Gedanken einer ihr vorausgesetzten Gemeinschaft dieser Besitzobjekte. Dieser dualistische Begründungsansatz (der Entsprechungen zum Dualismus: „Einheit der transzendentalen Apperzeption" und „Ding an sich" im Bereich der theoretischen Philosophie aufweist) zeigt im übrigen erstaunliche Strukturähnlichkeiten 50 mit der Herleitung des Privateigentums aus einem „ursprünglichen oder gestifteten Gesamtbesitz" als der „einzige(n) Bedingimg", unter der es allein möglich ist, daß ich den anderen Besitzer vom Privatgebrauch der Sache ausschließe (ius contra quemlibet huius rei possessorem), weil, ohne einen solchen Gesamtbesitz vorauszusetzen, sich gar nicht denken läßt, wie ich, der ich doch nicht im Besitz der Sache bin, von anderen, die es sind und sie brauchen, lädiert werden könne" 5 1 . Eine Verbindlichkeit kann hier wie dort nicht durch einseitige Willkür, sondern „nur durch vereinigte Willkür in einem Gesamtbesitz" 52 zustande gebracht werden. Wie im Fall des „Mein" und „Dein" auf dem Gebiet des Sachenrechts letztlich die Sphären des dinglichen und persönlichen Rechts zusammengebracht werden müssen, um ein rechtliches Besitzverhältnis zu 48 Vgl. die Formulierung: „ . . . gleich einer Sache, aber nur der Form nach (einem auf dingliche Art persönlichen Rechte angemessen) . . . " , AA 6, 360 - Sperrung bei Kant. 49 A A 19, 543, R 7879. 50 Zu diesem Zusammenhang aus systemat. Sicht: Emge 1924: 265 - 272; aus einer mehr entwicklungsgesch. Perspektive u. deren Hintergründen: Busch 1979:150 - 160. 51 Rechtslehre § 11: „Was ist Sachenrecht?". 52 aaO.

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begründen, das von einem rein physischen prinzipiell unabhängig ist, so verlangt auch die Möglichkeit, „eine Person außer sich als das Seine" 53 zu haben, eine derartige Verbindung. Doch während diese Verbindung auf sachenrechtlichem Gebiet, über die konstruktiv notwendige Voraussetzung eines ursprünglichen, „angeborenen Gemeinbesitzes" 54 , letztlich durch Rückführung des dinglichen auf ein persönliches Rechtsverhältnis zustande gebracht wird: „es gibt also eigentlich und buchstäblich verstanden ... kein (direktes) Recht in einer Sache, sondern nur dasjenige w i r d so genannt, was jemandem gegen eine Person zukommt, die mit allen anderen (im bürgerlichen Zustand) im gemeinsamen Besitz ist" 5 5 , setzt das „über alles Sachen- und persönliche hinausliegende ... Recht der Menschheit in unserer eigenen Person" (§ 22), das Recht der „auf dingliche A r t " persönlichen Verhältnisse der häuslichen Gemeinschaft, eine derartige Verbindimg bereits ursprünglich voraus. I m Gegensatz zum Sachenrecht, wo „der Zustand der Gemeinschaft des Mein und Dein (communio) ... nie als ursprünglich gedacht" werden kann, sondern von der Voraussetzung eines gemeinsamen Besitzes an äußeren Gegenständen ausgehend erst „durch einen äußeren rechtlichen Akt erworben" werden muß (§ 10), geht die „Proprietät der Gemeinschaft" bei den Geschlechtern bereits von einer schon geleisteten Zuordnung menschlicher Freiheit und ihrer sinnlichen Konkretisierungssphäre im Bereich der eigenen Körperlichkeit aus. Damit verschiebt sich hier die Frage nach einer möglichen Verknüpfung von persönlichen und dinglichen Aspekten zu der Fragestellung, wie eine solche Verbindung in der persönlich-dinglichen Überkreuzkonstellation eines Zweipersonenverhältnisses verschiedenerlei Geschlechts wechselseitig möglich sein kann. I n die aus jener Transformation einer sachenrechtlichen Fragestellung entwickelte Problematik des gegenseitigen Personenerwerbs „gleich als Sache" (§ 25), bei der „der Erwerb eines Gliedmaßes am Menschen zugleich Erwerb der ganzen Person (ist) - weil diese eine absolute Einheit" darstellt 5 6 , verwickelt sich nun allerdings noch ein weiteres Konstrukt der Gegenseitigkeit: das „nach der Analogie der Möglichkeit freier Bewegungen der Körper unter dem Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung" konzipierte Moment des „wechselseitigen Zwangs" 5 7 : „Daß aber dieses persönliche Recht es doch zugleich auf dingliche Art sei, gründet sich darauf, weil, wenn eines der Eheleute sich verlaufen oder sich in eines ande53 Rechtslehre, Anhang erläuternder Bemerkungen, Pkt. 2: „Rechtfertigung des Begriffs von einem ,auf dingliche Art persönlichen Recht'". 54 Vgl. dazu § 6 Rechtslehre. 55 Rechtslehre § 11 (Schluß). 56 Vgl. § 25 der Rechtslehre. 57 Vgl.: Einleitung i n die Rechtslehre: § E (Anmerkung).

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ren Besitz gegeben hat, das andere es jederzeit und unweigerlich, gleich einer Sache, in seine Gestalt zurückzubringen berechtigt ist." 5 8 5. Aus diesen beiden ineinandergewobenen Konzeptionen, dem gegenseitigen Erwerb einer Person als Sache und der anhand eines physikalischen Modells der Wechselwirkung entwickelten Zwangsbefugnis gegenüber dem so Erworbenen, resultiert nun aber erst die eigentliche Problematik der dinglichen Seite der Familienrechtsverhältnisse, für die eine vordergründige, am Begriff des „commercium sexuale" angezettelte Polemik sich schon im Ansatz jeder Zugangsmöglichkeit beraubt. Mit Hilfe eines eher mechanisch gefaßten Modells der Gegenseitigkeit und Wechselwirkung wird hier nämlich letzten Endes nichts weniger versucht, als durch eine interpersonale Überkreuzkonstellation den reflexionstheoretischen Dualismus von Sinnlichkeit und Vernunft auch da noch aufrechtzuerhalten, wo er bereits als überwunden gedacht werden müßte: bei jener Voraussetzung der zu erwerbenden „ganzen Person" als einer „absoluten Einheit" (§ 25). Bei aller Strukturähnlichkeit mit dem Prozeß der Eigentumsableitung endet denn hier auch die Parallele äußerer Besitzgemeinschaft, die sich bei beiden Ableitungssträngen nicht nur dem quantitativem Umfang nach unterscheidet, sondern im Fall der „häuslichen Gemeinschaften" auch durch eine weitaus komplexere Grundlagenproblematik. Dies tritt besonders deutlich zutage anhand eines Vergleichs mit der Herleitung des Begriffs eines „auf dingliche Art persönlichen Rechts" aus einem ursprünglich juristischen Modell. Daß ein juristisches Modell, das in Anlehnung an Lauterbach 59 so hauptsächlich von Darjes entwickelt wurde, Kants Konstruktion seiner neuen Rechtsfigur Pate gestanden haben könnte, ist eine Überlegung, die auf K. Reich zurückgeht und dann zunächst ansatzweise von Chr. Ritter 6 0 , später eingehender von W. Busch 61 untersucht wurde. Danach empfing Kant seine Anregungen aus Darjes' Behauptung, es gäbe nicht nur an entlaufenen Sklaven und Leibeigenen ein Vindikationsrecht, sondern ebenso an Dienstboten „statu liber". Darjes begründete damit indirekt ein dingliches Recht auch an freien Personen, denen gegenüber nach bisherigem Recht - entsprechen dem römisch-rechtlichen Dualismus von dinglichen und persönlichen Rechten - nur die persönliche Klage zu Gebote stand. Zur Untermauerung seiner neuartigen, den Interessen der 58 Rechtslehre § 25 (Schluß); rechtshistorisch besteht hier eine Parallele zur hausväterlichen Zwangsbefugnis, entlaufenes Gesinde polizeilich zurückholen zu lassen, vgl. dazu Koselleck 1981: 109 - 124, 116. 59 Wolfgang Adam Lauterbach (1618 - 1678), seit 1648 f. 30 Jahre Pandekten-Prof. in Tübingen, seit 1678 Regierungsrath, Consistorialdirektor u. Mitgl. der Universitäts-Visitationsdeputation in Stuttgart; zu L. vgl. Stintzing / Landsberg II, 139 - 146. 80 Chr. Ritter 1971: 330 (Anm. 311b). 61 Busch 1979: 141 - 145.

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altständigen Repräsentanten in den ostelbischen Gebieten 62 opportunistisch entgegengeschriebenen Ansicht hatte er von seinen Schülern Scherer (1764) und Schoening (1767) entsprechende Dissertationen anfertigen lassen und zu seiner eigenen Verteidigung mit einem Cicero-Zitat verlauten lassen, daß „nicht aus dem Edikt des Prätors und auch nicht aus den 12 Tafeln, sondern aus dem Innersten der Philosophie die Rechtswissenschaft geschöpft" werde 63 . Diese Ausdehnung des Vindikationsrechts bei Darjes dürfte Kant sowohl aus dessen „Discours" als auch aus Berichten von Schülern bekannt gewesen sein, die von Frankfurt an der Oder nach Königsberg kamen 64 . Zwischen Darjes' Modell, das zwar eine einzigartige Durchbrechung eines geltenden römisch-rechtlichen Grundprinzips, aber an sich noch keine neue Rechtsform neben persönlichem Recht und Sachenrecht bringt, und der kantischen Konstruktion die erst das dualistische Einteilungsprinzip selbst sprengt besteht nun insofern ein gravierender Unterschied, als Darjes, im Bunde mit der allgemeinen Auffassimg zeitgenössischer Rechtsgelehrsamkeit, bereits von einem Vindikationsrecht an Sklaven und Leibeigenen ausgeht, das er dann auf Dienstboten (und desweiteren auch auf fahnenflüchtige Soldaten) ausdehnt 65 , während Kant gerade den umgekehrten Weg gehen muß, um die Voraussetzung, von denen Darjes schon ausgeht, erst einmal zu begründen. Insbesondere kann er dabei von keinem in der Vindikation verkörperten, dinglichen Zwangsrecht an Personen ausgehen - seien sie nun nach gewissen Rechtsansichten frei oder unfrei. Ein dinglicher Sklavenstatus kommt für Kant, gemäß seinem von einer prinzipiellen Freiheitsfähigkeit des Menschen ausgehenden Ansatz der Rechtsbegründung, in keiner Weise in Frage: „Frei geboren ist jeder Mensch." (§ 30) Danach hat ein Begründungsversuch des Zwangsmoments der Vindikation aber nur noch auf einer Ebene Aussicht auf Erfolg, die entsprechend dem „weder durch eigenmächtige Tat (facto)", wie beim originären Erwerb im Sachenrecht, „noch durch bloßen Vertrag (pacto)", wie im Personenrecht, „sondern durchs Gesetz (lege)" (§22) begründeten Erwerb einer Person „gleich als Sache", über das Sachen- wie Personenrecht gleichermaßen hinausgeht 66 . Denn wenn aufgrund der ursprünglichen Zusammengehörig62

Vgl. dazu Koselleck 1981: 118. Cicero, De leg. 1,17; Darjes' Rigorismus, mit dem er seine Ansicht vorträgt, erinnert i m übrigen schon sehr an Ulrich Zasius' berühmtes Diktum: „Veritas enim juris ex textibus, non ex Doctorum auctoritate eruitur", in seinem Methodenprogramm v. 1526, vgl. dazu Stintzing 1857: 114. 64 Zum Ganzen vgl. Busch (1979) u. Chr. Ritter (1971). 65 Mit der systematisierenden Begründung, nicht Sklave und Dienstbote, sondern Sklave und Dienstbote einerseits sowie Handwerker andererseits seien einander gegenüberzustellen - nach den Kriterien: Erwerb eines Zustands oder Erwerb einer Leistung: Die dahinterstehende, ganz pragmatische Überlegung: das Gesinde - im Rahmen einer Restriktion des Auswanderungsrechts und der Freizügigkeit - generell und ohne Ansehung des jeweiligen Rechtsstatus am Entlaufen hindern zu können, vgl. dazu Busch 1979: 142. 63

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keit menschlicher Freiheit und gemeinschaftlicher Konkretisierungssphäre, im Sinne der Vereinigung des nur erst intellektuellen Gedankens der Menschheit mit demjenigen sinnlicher Gemeinschaft, die postulierte Gleichheit der Eheleute 67 mehr als nur ein sich wechselseitig negierendes Unterwerfungsverhältnis 68 darstellen und angesichts der „absoluten Einheit" der Person als sowohl vernünftiger wie körperlich konstituierter 69 ein Rückgriff auf den universalen Dualismus von allgemeinem Menschheitsgedanken und ursprünglicher Besitzgemeinschaft (wie bei der Eigentumsableitung) verwehrt sein soll, dann bleibt als einziger Weg nur noch die Möglichkeit, das eigentümliche Rechtsverhältnis dinglich-persönlicher Art direkt aus der übergeordneten praktischen Vernunft selbst herzuleiten, worin Rechtsbegriff wie Zwangsbefugnis setzendes Erlaubnisgesetz ihre gemeinsame Wurzel haben. Ist das „natürliche Erlaubnisgesetz" 70 , von dem Kant i n § 22 anläßlich der dinglich-persönlichen Erwerbsart spricht, nun aber letztlich nichts anderes als jenes „Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft... was uns die Befugnis gibt, die w i r aus bloßen Begriffen vom Rechte überhaupt nicht herausbringen könnten: die Befugnis, allen anderen eine Verbindlichkeit aufzuerlegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten" (§2), dann muß es schon sehr merkwürdig anmuten, wenn hier plötzlich das aus bloßen Rechtsbegriffen angeblich gar nicht herauszubringende „Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft" auf einmal doch aus einem Rechtsbegriff, nämlich dem Begriff des „Rechts der Menschheit in unserer eigenen Person" herausgebracht wird 7 1 . Der Versuch, i n einer wohl einzig rettenden Interpretation, den Rechtsbegriff des „auf dingliche Art persönlichen Rechts" als „Recht der Menschheit in unserer eigenen Person" daraufhin zum unmittelbaren Ausdruck der 66 Vgl. dazu auch die Formulierung i n § 22 (2. Teil): „ein über alles Sachen- und persönliche hinausliegende Recht" ; demzufolge kann im Grunde gar keine Rede von einer Dreiteilung des Rechts i n persönliche, dingliche und „auf dingliche Art persönliche" Rechte sein: die letzte Rechtsart begründet ihren Sonderstatus vielmehr jenseits der beiden anderen - und bildet so i n gewisser Weise noch deren Voraussetzung. 67 Ausdrücklich heißt es bei Kant, daß „das Verhältnis der Verehelichten ein Verhältnis der Gleichheit des Besitzes, sowohl der Personen, die wechselseitig besitzen . . . als auch der Glücksgüter" darstellt, § 26 - Sperrung bei Kant. 68 So hingegen Emge 1924: 256. 69 Vgl. § 25 der Rechtslehre. 70 Die mit dem Erlaubnisgesetz verbundenen Schwierigkeiten beschäftigten Kant lange Jahre im Zusammenhang mit der Ableitung des Eigentums; sie sind letztlich für die fortwährende Verzögerung des Erscheinens der „Metaphysik der Sitten" verantwortlich, wie aus einem Brief Schillers an Erhard v. 28. Okt. 1794 bekannt ist; vgl. dazu Vorländer 1966: XII. 71 „ . . . ein natürliches Erlaubnisgesetz zur Folge hat, durch dessen Gunst eine solche Erwerbung" - und die Erhaltung des so Erworbenen, wie man ergänzend hinzufügen müßte - „möglich ist" (§ 22 - Schluß).

4 M. Weber

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1. Teil: Philosophiehistorische Vorerinnerung

praktischen Vernunft selbst zu erklären, führt nun aber zu der bei Kant einzigartigen Konstruktion, daß das allgemeine Gesetz der praktischen Vernunft (nach Kant die Voraussetzung allen Rechts schlechthin 72 ) sich hier paradoxerweise selbst noch einmal in einer Rechtsform als deren Realisierungsbedingung soll einholen lassen. Die rechtliche Geltungsvoraussetzung möglicher Übereinstimmung und Gemeinsamkeit sowie deren praktischer Vollzug würden so in einer weiter ganz unbegreiflichen und einzigartigen Weise und ganz im Gegensatz zu dem dualistischen Ansatz der kantischen „Rechtslehre" doch noch selbst miteinander vermittelt sein 73 . 3. Fichtes Versuch der Herleitung des Familienrechts aus einem ursprünglichen Anerkennungsverhältnis

1. Mit Fichtes bereits ein Jahr vor der kantischen Rechtslehre veröffentlichten „Grundlagen des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre" von 1796 liegt - gewissermaßen in einer Art Vorgriff - die erste fundamentale K r i t i k am rechtstheoretischen Ansatz Kants vor, die an der Problematik des „natürlichen Erlaubnisgesetzes" ansetzt, die besonders die kantische Eigentumsableitung und Begründung des „auf dingliche Art persönlichen Rechts" betrifft. Zum Abschluß der philosophiehistorischen Vorerinnerung des ersten Teils dieser Arbeit soll der Frage nachgegangen werden, welche Konsequenzen Fichtes K r i t i k und Neuansatz für die Verhältnisbestimmung von Recht und Familie mit sich bringt. Fichtes Familienrechtstheorie findet sich zusammen mit einer Darstellung des Völker- und Weltbürgerrechts in einen Anhang seines „Naturrechts" verwiesen, dessen Gründe später noch im einzelnen nachzugehen sein wird. Sie ist in vier Abschnitte unterteilt: Zunächst wird eine Deduktion der Ehe gegeben, „um für die Anwendung des Rechtsbegriffs einen Gegenstand zu haben" (§§ 1 - 9). Dann w i r d im zweiten Abschnitt der Anwendbarkeit des Rechtsbegriffs auf den im ersten Abschnitt deduzierten Gegenstand, die Ehe, nachgefragt (§§ 10 - 31). Im dritten Abschnitt steht die Frage an, wie es mit rechtlichen Unterschieden zwischen den Geschlechtern 72 Vgl. §§ B, C der Einl. 73 Auf eine Einbeziehung des Hausherrenrechts i n die Darstellung möchte ich verzichten, da sich hier lediglich nochmals die gleiche Begründungsstruktur durchgehen läßt. Indem Kant den i n dieser Form auf Chr. Thomasius zurückgehenden Rechtsbegriff der „häuslichen Gemeinschaft", der das Gesinderecht noch umfaßt, von Achenwall übernimmt, verbleibt er - im Gegensatz zu Wolff und den Gebrüdern Cocceji noch ganz i n der alten Tradition des Hauses mit ihrem Gedanken unmittelbarer gegenseitiger Hilfe und Vorsorge verhaftet, woraus sich denn auch die Zugehörigkeit von schon mündigen Kindern und dem Gesinde erklärt - wobei Kant das Gesinde allein als Ersatz für fehlende Kinder verstanden wissen w i l l (vgl. § 30). Ein finanzieller Ausgleich, wie er sich bei Darjes findet, w i r d von Kant noch nicht i n Betracht gezogen. - Vgl. zu diesem hier ausgesparten Komplex: Busch 1979: 137-140, Chr. Ritter 1971: 333 - 337 u. Schwab 1975: 253 - 301, 277ff.

3. Fichtes Ableitung des Familienrechts

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bestellt ist (§§ 32 - 38). Und der vierte Abschnitt beschließt den „Grundriß des Familienrechts" mit einer Untersuchung des Rechtsverhältnisses zwischen Eltern und Kindern (§§ 39 - 61). Der erste Abschnitt beginnt mit einer Anmerkimg, die imgrunde dem Familienrechtsanhang insgesamt vorausgeht und ihn methodisch an den Hauptteil des Buches zurückbindet. Erläutert w i r d darin ein die Anordnimg der vier Abschnitte bestimmendes Verfahren, das schon im Hauptteil Verwendung fand, um dort seinerseits die Anordnung der einzelnen Darstellungsschritte festzulegen: „So, wie oben die Notwendigkeit der Existenz mehrerer vernünftiger Wesen nebeneinander, und die Beziehung derselben auf eine Sinnenwelt erst abgeleitet werden mußte, um für die Anwendung des Rechtsbegriffs einen Gegenstand zu haben; ebenso müssen wir hier mit der Natur der Ehe uns erst bekanntmachen, und das zwar durch eine Deduction, um den Rechtsbegriff darauf mit Verstand anwenden zu können". 1 Die Ehe entsteht danach nicht erst als Rechtsverhältnis, vielmehr setzt das „juridische" Verhältnis die Ehe als „natürliche und moralische Gesellschaft" bereits ebenso voraus, wie „mehrere vernünftige Wesen nebeneinander schon vorhanden sein müssen, um deren normative Beziehungen zueinander durch Rechtsverhältnisse festlegen zu können. Nun beläßt es Fichte allerdings noch nicht mit dieser Voraussetzung des Ich und der Anderen außer mir. Im Unterschied zu Kant und der gesamten philosophischen Tradition sucht er vielmehr erstmalig nach einem Weg auch diese Voraussetzung noch begründen zu können: Die Beziehungen mehrerer vernünftig-sinnlicher Wesen zueinander sollen demzufolge mehr darstellen, als nur eine natürliche Handlungsvoraussetzung und selbstverständliche Möglichkeitsbedingung normativer Verhältnisse. Fichte w i l l diese Beziehung vielmehr ihrerseits noch auf einen Ausgangspunkt zurückführen, der Theorie und Praxis so grundlegend miteinander verknüpft, daß der dualistische Standpunkt Kants überwunden wird, der die Beziehungen vernünftiger Wesen zueinander von denjenigen vernünftiger Wesen als sinnlicher praktisch vollständig voneinander trennt. Dieser Weg, den in der Nachfolge Fichtes schon Hegel nicht mehr mit und schon gar nicht weitergeht 2 (eher vollzieht sich in diesem Punkt bereits wieder ein Weg zurück zu Kant) führt mitten ins Zentrum des fichteschen Systems, in die Grundlagen und Prinzipien der Wissenschaftslehre von 1794/95, nach denen das „Naturrecht" von 1796 entwickelt wurde. Um die Entwicklung der Begründungsstruktur des Familienrechtsanhangs aus diesen Grundlagen heraus im einzelnen darstellen zu können, wird zunächst einmal die in der Anmerkung thematisierte Parallele der 1 2

4*

NR 304. Vgl. dazu vor allem Henrich 1966: 188 - 232, 230ff.; Baumann 1972: 20ff., 48ff.

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1. Teil: Philosophiehistorische Vorerinnerung

jeweiligen Deduktionszusammenhänge im Hauptteil und Anhang präziser zu fassen sein. Von Interesse sind dabei insbesondere folgende Bezugsverhältnisse: (1) das Verhältnis zwischen der „Existenz mehrerer vernünftiger Wesen nebeneinander und der Beziehung derselben auf eine Sinnenwelt" einerseits und der „natürlichen und moralischen Gesellschaft" der Ehe andererseits, als den jeweiligen Anwendungsgegenständen des Rechtsbegriffs; (2) das Verhältnis der jeweiligen Bezüge zwischen Anwendungsgegenstand und entsprechender Deduktion seiner Anwendbarkeit auf den Rechtsbegriff untereinander. I m folgenden soll zunächst gezeigt werden, wie der Ansatz der Familientheorie mit demjenigen des Hauptteils überhaupt in Verbindung steht (Pkt. 2). I m Anschluß daran w i r d die Darstellung auf die Grundlagen dieses rechtstheoretischen Ansatzes eingehen (Pkt. 3), nachfolgend die Grundzüge der beiden Deduktionszusammenhänge des Familienrechtsanhangs, diejenigen des Eheverhältnisses (Pkt. 4) und des Eltern-Kind-Verhältnisses (Pkt. 5), untersuchen und dann mit einer rückblickenden Gesamtbewertung abschließen (Pkt. 6). 2. Zunächst zum allgemeinen Ausgangspunkt der fichteschen Familienrechtstheorie, wie er in den ersten drei Paragraphen des Anhangs gegeben wird. Die Begründung, „warum die Natur zwei verschiedene Geschlechter absondern mußte, durch deren Vereinigimg allein die Fortpflanzung der Gattung möglich sey" 3 , liefert hier mit einer den Zeugungsakt imitierenden Begründungsstruktur der Besonderheit des Geschlechterverhältnisses und dessen anschließende Verankerung i n unterschiedlichen Vernunftzwecken praktisch schon das vollständige Theoriefundament des nachfolgenden Familienrechtsgrundrisses 4 . Fichte argumentiert dabei i n etwa folgendermaßen. Immer wenn die Bedingungen der Wirksamkeit des Fortpflanzungstriebs erfüllt sind, w i r k t die auf „Bildung eines Wesens seiner A r t " 5 ausgerichtete Kraft notwendigerweise. Nun erfordere diese Möglichkeitsbedingung indessen eine ebenso notwendige Unterbrechung ihrer ständigen Wirksamkeit. Wäre sie nämlich ständig wirksam, wären die Entstehungsund Reproduktionsbedingungen immer gegeben, käme es zu einem selbstwidersprüchlichen ständigen Werden, einem fortwährenden Übergehen, das mit seinem Ausgangs- und Endpunkt zugleich auch sich selbst aufheben würde. Um derart Selbstwidersprüchliches zu verhindern, gibt es eine Aufteilung der Wirksamkeitsbedingungen des natürlichen Fortpflanzungstriebs auf zwei verschiedene Geschlechter, die dem Naturtrieb das Schicksal 3

NR 305. Vgl. Fichtes ausdrückliche Hinweise in dieser Richtung: „ . . . auf diesem Satze die ganze folgende Theorie beruht" (NR 307); „auf diese einzige Verschiedenheit gründet sich der ganze übrige Unterschied der Geschlechter" (NR 309). s NR 305. 4

3. Fichtes Ableitung des Familienrechts

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eines beständigen Werdens ohne Jemals-Gewordenes noch Je-Werdendes ersparen. In diesem Zusammenhang spielt nun ein indirekter Vergleich des „die ganze organische Natur" durchziehenden 6 „Gesetzes der Absonderung der bildenden Geschlechter" mit der „Wechselwirkung organischer, sich gegenseitig im Gleichgewicht erhaltender Kräfte... in der Staatsverbindimg" eine besondere Rolle, ohne die ein „ewiger Kampf des Seyns und Nichtseyns statthaben würde" 7 . Fichte bezieht sich darin auf frühere Ausführungen zum „bürgerlichen Verhältniß", das er in das „Bild ... eines organisierten Naturproductes" faßt und damit Natur und Vernunft in einen für die Gesamtkonzeption dieser Beziehung 8 recht eigentümlichen Analogiezusammenhang bringt: „Durch Vereinigung aller organischen Kräfte constituiert sich die Natur; durch Vereinigung der Willkür Aller die Menschheit." 9 Genauer betrachtet betrifft diese Analogie allerdings erst einmal nur ein gemeinsames Resultat: So wie ein beständiges Übergehen schließlich sich selbst aufhebt 10 , so hebt sich letztlich in einer organischen Verbindung eines Naturprodukts jeder Teil, der dies nur „ i n dieser Verbindung seyn kann", auf, falls er „außer dieser Verbindung" oder „ohne die Wechselwirkung" wäre. Insoweit kommt denn auch das gleiche negative Ergebnis zustande: der imgrunde gar nicht zu denkende, da sich selbst vernichtende „Streit des Seyns und Nichtseyns". Die Schlußfolgerungen, die zur Vermeidung dieses Resultats gezogen werden, sind indessen genau entgegengesetzter Natur: Während im Falle des „organisierten Naturprodukts" organischer Naturverbindungen bzw. bürgerlicher Verhältnisse im Staat 1 1 jene Trennung zugunsten einer Wechselwirkung aufgehoben werden muß, ist sie beim Geschlechterverhältnis zur Unterbrechung permanenter, sich selbst negierender Zeugung gerade unabdingbar erforderlich. Die Ausschaltung des selbstwidersprüchlichen „Streits des Seyns und Nichtseyns" w i r d demnach auf geradezu konträrem Weg erreicht: einmal über die Herstellung, das andere Mal über die Aufhebung von Getrenntem. 6

NR 306. NR 208. 8 Zum Verhältnis v. Vernunft u. Natur i. NR vgl. insbes. NR 114: Natur ist danach vollständig verfügbares Material, ohne Eigenständigkeit gegen die Vernunft, und zeigt sie eine solche doch, geht dies einzig und allein auf das Konto der Unvorsichtigkeit des menschlichen Geistes: „Denn wenn jemand die Natur der Dinge wohl gekannt, seine thätige Kraft gegen ihr Vermögen der Trägheit nicht genug berechnet hat, und darum etwas gegen seine Absicht erfolgt, so ist die Schuld sein eigen, und er hat über keinen ausser sich zu klagen." - „Die Natur an sich, die unter mechanischen Gesetzen steht, (kann) sich nicht eigentlich verändern. Alle Veränderung widerstreitet ihrem Begriffe." (NR 115) 9 NR 203. 10 NR 305. 11 Vgl. NR 208. 7

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1. Teil: Philosophiehistorische Vorerinnerung

Doch bedarf dieses Bild eines bipolaren Schematismus insoweit der Korrektur, als die durch Wechselwirkung erzielte Aufhebung und Herstellung von Getrenntem einander nicht völlig entgegengesetzt gedacht werden müssen. Ihr Verhältnis der Gegenseitigkeit scheint sich vielmehr auf der Ebene eines Voraussetzungszusammenhangs zu bewegen, der die Beziehung von Werden und Sein, Genesis und Geltung ebenso tangiert wie den Bezug von Natur und Vernunft. - Was hat es danach mit der Begründung der Wechselwirkung auf sich, die in § 1 des Familienrechtsanhangs indirekt mit der Begründimg der Geschlechtertrennung in Verbindung gebracht wurde? 3. Fichte entwickelt den Gedanken der Wechselwirkung vor folgendem Hintergrund: I m Gegenzug zu Kant soll ein Weg gesucht werden, die im Rechtsverhältnis wie Miteinanderleben implizierte Beschränkung der eigenen Freiheitsausübung zugunsten anderer nicht mehr nur formal-abstrakt über den Gedanken der „Menschheit in meiner Person" 12 vermittelt, sondern in einer auf bestimmte Gesellschaften, auf konkrete Situationen des Miteinanderlebens anwendungsfähigen Weise denken zu können. Dabei w i r d dieser Versuch maßgeblich von der Überlegung getragen, eine Herleitung der Notwendigkeit eigener Freiheitsbeschränkung aus dem im Sittengesetz zum Ausdruck kommenden Gedanken der „Menschheit in meiner Person" unterschlage in bedenklicher Weise Entgegensetzung wie Aufeinanderbezogensein von Theorie und Praxis. Weder sei hinreichend durchdacht, wie Willensentschluß und -einigung als notwendige Vermittlungsinstanz in diesem Verhältnis verankert sind 13 , noch geklärt, ob Theorie und unbedingte Geltung des Sittengesetzes sowie Praxis und sittliches Verhalten hier nicht so unwiderruflich weit auseinander dividiert werden, daß die theoretische Einsicht letzten Endes als eine praktisch gänzlich wertlose sich erweist 14 . Mit dem Versuch der Behebung dieser Schwierigkeit zielt Fichte demnach auf nichts weniger als auf eine prinzipielle Überwindung dieses ganzen Dualismus. Als Alternative entsteht, im Anschluß an Reinhold 15 , die Entwicklung der Wissenschaft aus einem Grund: der Anspruch, das dem kanti12

Vgl. dazu oben Kap. 1.2 bei F N 25, 46, 55 u. 71. Zur defizitären Theorie des Willens bei Kant vgl. Henrich 1975: 55 - 112, 97f. (insbes. Anm. 26). 14 Der von F. im 3. Abschnitt seiner Einl. zum NR in diesem Sinne gegen das kantische Ermächtigungsgesetz geltend gemachte Einwand, daß es sich „schlechterdings nicht einsehen lasse, wie aus einem unbedingt gebietenden, und dadurch über alles sich erstreckende Sittengesetze ein Erlaubnisgesetz sollte abgeleitet werden können" (NR 13), das die Unbedingtheit kategorischer Geltung durch eine mögliche Nichtausübung einschränkt und damit zu einem durch Willensentschluß bedingten werden läßt, ist quasi nur eine besondere, für den dafür typischen Bereich des Rechts allerdings besonders augenfällige Schwierigkeit, die das Theorie-Praxis-Verhältnis und das damit in enger Verbindung stehende, auf strikter Trennung zwischen Natur und Vernunft basierende Weltbürgermodell Kants grundsätzlicher noch tangiert. is Vgl. dazu Fichte-GA Bd. 1.2: 96 ff. 13

3. Fichtes Ableitung des Familienrechts

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sehen Verfahren der K r i t i k zugrunde liegende, selbst nicht mehr thematisierte Theorie-Praxis-Verhältnis selbst noch begründen zu wollen. Angestrebt w i r d dabei, den Gegensatz wie Bezug von Theorie und Praxis in einem obersten, selbst nicht mehr hintergehbaren ersten Ausgangspunkt, im Sinne eines ursprünglichen Selbstverhältnisses, zu verankern und dieses über eine Herleitung aus sich selbst heraus noch einmal seinerseits begründen zu können: Die Hervorbringung eines Modells selbstreflexiver Begründung der Wissenschaft also als Wissenschaftswissenschaft oder Wissenschaftslehre. „Soll der Widerstreit zwischen Subjekt und Objekt aufhören, ... müssen (beide) absolut=identisch werden, d.h. das Subjekt muß entweder im Objekt, oder das Objekt muß sich im Subjekt verlieren". Beide Alternativen führen dazu, den Boden reiner Theorie notwendigerweise hinter sich zu lassen: Verliert sich das Subjekt im Objekt, verliert das so zustande kommende absolute Ding an sich auch seine Erkennbarkeit, da das Subjekt, „als das Erkennende schlechthin aufgehoben" ist. Umgekehrt entfällt i n einem absoluten Subjekt „das Erkennbare, d.h. (das Objekt) als Gegenstand überhaupt, (ist) schlechthin aufgehoben". - Diese Überlegungen von Schelling in den 1795 veröffentlichten „Philosophischen Briefen über Dogmatismus und K r i ticismus" 1 6 verdeutlichen recht gut Fichtes Vorstellung von dem Weg, auf dem die theoretische Vernunft über ihren Unbedingtheitsanspruch zur praktischen und damit zum Handeln fortgetrieben wird. Während Schelling in der Folgezeit theoretische und praktische, endliche und unendliche, bedingte und unbedingte Vernunft jedoch weiter gegeneinander ausspielt 17 , beabsichtigt Fichte, die Erkenntnis des für sich noch ungenügenden theoretischen Standpunkts auch als theoretische fruchtbar zu machen und zugleich ihren Charakter als ein der Praxis nur gegenüberstehender Bereich aufzuheben. Der „Charakter der Vernünftigkeit" besteht darin, „daß das Handeln und Behandelte Eins sey und ebendasselbe", heißt es mit Blick auf die „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" von 1794/95 im ersten Satz der Einleitung zum „Naturrecht". Und so ist dann auch der Fluchtpunkt dieser Identität, die Ichheit, weder das eine noch das andere: weder Handelndes noch Behandeltes als ein Eins ins Andere bereits Übergegangenes, sondern der Prozeß des Übergehens selbst, der die vermeintliche Voraussetzung eines Schon-Übergegangenen überhaupt erst begründet 18 . 16 Philosophisches Journal (ed. Niethammer): Heft 7, 177 - 203 u. Heft 11, 173 239, hier bes. Heft 7, 200. - zum Ganzen vgl. das Vorwort zur „Grundlage der ges. Wissenschaftslehre" i.d. Fichte-GA: 1.2,175 - 247. 17 Vgl. Phil. Journal 11. Heft, 183ff.; zur Auseinandersetzung Schellings mit F. vgl. Lauth 1975 u. d. Briefe Schellings v. Dreikönigsabend 1795 u. v. 4. Febr. 1795 an Hegel (Briefwechsel I, 13ff., 20ff.), vgl. desweiteren: Heidegger 1971: 51 - 58, Cesa 1969: 61 - 64. 18 Vgl. i n diesem Zusammenhang bes. die Anm. auf S. 1 NR: „ . . . Man hat unter anderem die Wissenschaftslehre so argumentiert, als ob sie ein Ich, als ohne Zuthun

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1. Teil: Philosophiehistorische Vorerinnerung

Diese in der Wissenschaftslehre eingehend erörterte Tathandlung des Ich als ursprüngliches Handeln auf sich selbst" im Sinne einer originären Selbstsetzung 19 begründet nun auch den in Frage stehenden Gedanken der Wechselwirkung: Über die synthetische Vereinigung der „Wirksamkeit des Subjekts" mit dem „wahrgenommenen und begriffenen Objekt" 2 0 entsteht, nach Fichte, die Vorstellung eines Objekts, das nicht mehr gegenständlich, sondern als Prozeß, „als eine bloße Aufforderung des Subjekts zum Handeln", zu begreifen ist. Über dieses prozessierende Objekt erst erlangt das Subjekt „den Begriff seiner eigenen Freiheit und Selbstthätigkeit, und zwar als einer von außen gegebenen. Es bekommt den Begriff seiner freien Wirksamkeit, nicht als etwas, das im gegenwärtigen Momente ist, denn das wäre ein wahrer Widerspruch, sondern als etwas, das im künftigen seyn soll." 21 Auf diese Weise verbinden sich die in den beiden ersten Paragraphen des Naturrechts gesondert vorgetragenen, äußerlich noch an Subjekt-Objekt-Dualismen von Reflexionsverhältnissen orientierten Handlungsaspekte eines Selbst- und Weltbezugs, Sichdenkens und Etwas-Denkens. Gleichzeitig verlagert sich so der Selbstreflexionsprozeß gewissermaßen nach außen 22 , verkehrt sich das Modell einer Subjekt-Objekt-Relation der Vernunftstruktur quasi in ihr Gegenteil: Die auffordernde Vernunftinstanz des vormalig bloßen Objekts erscheint nun selbst als Subjekt, während sich das ehemalige Subjekt jetzt als dessen Objekt präsentiert. Das sich hier, seinem Ursprung nach, entwickelnde Interpersonalitätsverhältnis geht demzufolge von der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen eines selbstbezüglichen Subjekts aus: „Die Frage war: wie vermag das Subjekt sich selbst zu finden als ein Objekt?" 23 Die Antwort darauf vollzieht sich über die Analyse 24 jener „Synthese" der „Wirksamkeit des Subjekts" mit seinem „wahrgenommenen und begriffenen Objekt" - aus der Perspektive, „wie sie dem zu untersuchenden Subjekt vorkommen müsse" 25 . Es ist danach nicht mehr ein Subjekt und ein Objekt und das erste findet das des Ich vorhandenes Substrat (ein Ich, als Ding an sich), der Philosophie zum Grunde legte. Wie konnte man doch das, da die Ableitung alles Substrats, aus der n o t w e n d i gen Handlungsweise des Ich, etwas derselben Eigentümliches und ihr vorzüglich Angelegenes ist?" 19 Vgl. dazu NR 1 iVm § 1 der „Grundlage der ges. Wissenschaftslehre" (GA 1.2, 255ff., insbes. 261. 20 NR 32. 21 NR 33. 22 Vgl. dazu Zaczyk 1981: 24, 26. 23 NR 33. 24 Vgl. NR 35 - explizit w i r d hier der analytische Charakter der im Vorangegangenen nur erst „erläuternd" dargestellten Synthesis betont; vgl dazu auch NR 32 (II, Schluß). 25 NR 33.

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letztere. Das Sein des Subjekts ist vielmehr mit dem Prozeß dieses Findens völlig identisch. Erst dadurch wird dem Subjekt Selbstbezüglichkeit, Selbstbewußtsein und Subjekt-Sein möglich: „Es konnte, um sich zu finden, sich nur als selbstthätig finden; außerdem findet es nicht sich; und, da es überhaupt nicht findet, es sey denn, und nicht ist, es finde sich denn, findet überhaupt gar nichts." 2 6 Das Ich kann als Voraussetzimg des Findens demnach nicht seinerseits wieder gefunden werden, die Bedingung der Möglichkeit des Findens folglich nicht selbst gesetzt, vielmehr, dieser Konzeption nach, gewissermaßen nur von außen bezogen werden: „Es konnte, um sich als Objekt (seiner Reflexion) zu finden, sich nicht finden, als sich bestimmend zur Selbstthätigkeit... sondern als bestimmte dazu durch einen äußeren Anstoß, der ihm jedoch seine völlige Freiheit zur Selbstbestimmung lassen muß: denn außerdem geht der erstere Punkt verloren, und das Subjekt findet sich nicht als Ich." 2 7 Auf der Grundlage dieser „notwendigen Bedingung alles Selbstbewußtseins" 28 , in Gestalt einer von außen kommenden Aufforderung zur freien Selbstbestimmung, entwickelt Fichte den Begriff der freien Wechselwirksamkeit. Daß das Subjekt nicht selbstbestimmend zur Selbsttätigkeit finden kann, sondern dazu bestimmt wird, heißt danach nur, daß es „bestimmt (wird) ... als etwas, das hier wirken könnte, zum Wirken aufgefordert ist, aber es ebenso auch unterlassen kann" 2 9 . Die „Aufforderung an das (Vernunftwesen)" 30 zielt nicht auf eine unmittelbare Einwirkung, sondern lediglich, in Form eines „äußeren Anstoßes" auf die Aufdeckung und Anregung bereits vorhandener Möglichkeiten freier Wirksamkeit: Faßt das Vernunftwesen „den beabsichtigten Begriff (sc. freier Wirksamkeit), so realisiert es dieselbe" 31 . Da gleichwohl der Andere als auslösende Bedingung der Möglichkeit freier Wirksamkeit 3 2 ebenso erforderlich ist, ist „der aufgestellte Begriff ... der einer freien Wechselwirksamkeit" 33 . Wie „die Wirksamkeit des Subjekts ... mit dem Objekte in einem und demselben Momente synthetisch vereinigt" 3 4 die Subjekt-Objekt-Relation aufhebt, w i r d hier die Vor26

aaO. aaO - wie an kaum einer Stelle sonst, läßt sich hier im übrigen deutlich zeigen, daß das Ich mit dem Subjekt als Selbstbewußtsein gar nicht identisch sein kann, dessen gegenteilige Annahme zu so vielen Fehlinterpretationen dieses für Fichtes System so zentralen Gedankens geführt hat; dazu Zaczyk 1981; vgl. i n diesem Zusammenhang auch die Briefe Fichtes an Jacobi (Aug. 1795) u. an Schelling (31. Mai/ 7. Aug. 1801, in: Briefwechsel I, 501 - 503 (Nr. 251) u. II, 322 - 329 (Nr. 476). 28 NR 35. 29 NR 34. 30 aaO. 31 aaO. 32 Vgl. dazu NR 33. 33 NR 34. 34 NR 32. 27

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Stellung eines Kausalitätsverhältnisses zwischen Wirkung und Gegenwirkung aufgehoben. „Wirkung und Gegenwirkung (muß) sich gar nicht abgesondert denken lassen. Es muß so seyn, daß beide die partes intégrantes einer ganzen Begebenheit ausmachen" 35 : Statt Wirkung und Gegenwirkung nur eine Wirkung - als Wechselwirkung. Nun umgibt die Ableitung des konstitutiv notwendigen Anderen im zweiten Lehrsatz des § 3 allerdings eine immer wieder empfundene Dunkelheit 3 6 , die aus der Frage herrührt, was es denn mit der Aufforderung zur freien Wirksamkeit und dem Problem der potentiellen Vernünftigkeit des Aufgeforderten 37 im einzelnen auf sich hat. Mehr in vagen Andeutungen hat sich Fichte in den Corollaria zu dieser Frage verbreitet und dort einen inhaltlichen Zusammenhang mit Erörterungen des vierten und letzten Abschnitts des Familienrechtsanhangs hergestellt: „Die Aufforderung zur freien Selbstthätigkeit ist das, was man Erziehung nennt." 3 8 Die Notwendigkeit der Aufforderung sowie die Verhinderimg eines unendlichen Hegresses sucht er dabei durch eine Rückführung der Erziehung auf Gott, als den „Geist", der sich der Erziehung des „ersten Menschenpaares" annahm, zu garantieren 39 . Von noch größerer Bedeutung für den Erziehungsgedanken scheint indessen der erste Satz der Corollaria zu sein: „Der Mensch (so alle endlichen Wesen überhaupt) wird nur unter Menschen ein Mensch." 40 Sozialbezug und göttlich garantierte Notwendigkeit bilden genauer betrachtet jedoch keine eigentlichen Gegensätze, insofern die Aufforderung zur freien Wirksamkeit in einem „beabsichtigten Begriff" verankert ist, demgegenüber der Erziehungsvorgang im engeren Sinn, als Einwirkung auf „etwas, das hier wirken könnte, zum Wirken aufgefordert ist, aber es ebensowohl auch unterlassen kann", nur ein, wenn auch notwendiges Moment darstellt 41 . Der Sache nach entspricht dieser Entwurf einem geiststrukturierten Bildungskonzept: „Nur freie Wechselwirksamkeit durch Begriffe und nach Begriffen, nur Geben und Empfangen von Erkenntnissen, ist der eigentümliche Charakter der Menschheit, durch welchen allein jede Person sich als Menschen unwidersprechlich erhärtet." 42 Daher liegt die Notwendigkeit der Aufforderung auch nicht in äußeren Erziehungshandlungen begründet, sondern in einer Begriffsnotwendigkeit, für die der göttliche Garant deshalb einzustehen hat, als er diese geradezu spinozistische Notwendigkeit des 35

NR 34. Vgl. Verweyen 1975: § 9 (87 ff.). 37 Vgl. dazu Henrich 1966: 201 ff. 38 NR 39. 39 Vgl. NR 39 f. 40 aaO. « Vgl. NR 34. 42 NR 40. 36

3. Fichtes Ableitung des Familienrechts

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Begriffsprozesses imgrunde verkörpert: „Ein Geist nahm sich ihrer (sc. der ersten Menschen) an", um sie zu erziehen 43 . Nicht von ungefähr greift die bei Fichte erstmals im Modell einer genetischen Geiststruktur verankerte Bildungskonzeption denn auch auf den mystischen Begriffsursprung der Bildung (wohl eine Begriffsneuschöpfung Meister Eckarts) in der Imago-Dei-Vorstellung des ,Wieder-eingebildetWerdens-in-die-Gottheit' zurück, die in Fichtes Lehre vom ,Bild-Werden' eines sich in mir produzierenden Absoluten noch deutlich nachklingt 4 4 . Entsprechend polemisch gebraucht er dann auch den tradierten Bildungsbegriff, wie ihn sich das Bildungsbürgertum in kritischer Manier zu eigen macht: so etwa, wenn er in einer Fußnote gegen Ende des § 5 seiner „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre" von 1794/95 die „den ganzen Menschen", als eine Totalität, erschöpfende Wissenschaftslehre den andere menschliche Fähigkeiten blockierenden Beschränktheiten der Bildung gegenüberstellt. Da dieser Zusammenhang, der bei Hegel kaum zu überschätzende Bedeutung erlangt, mit Blick auf die Entwicklungsgeschichte der hegelschen Rechtsidee jedoch im folgenden Kapitel noch ausführlich darzustellen sein wird, soll er hier nicht weiter vertieft werden. Anhand der fichteschen Familienrechtstheorie ist jetzt vielmehr zu zeigen, wie die genetische Begriffsstruktur der Wechselwirkung in den familiären Verhältnissen von Mann und Frau, Eltern und Kindern ihre Ausprägung erfährt. 4. Nach der in § 1 des Familienrechtsanhangs komplementär zur Theorie der Wechselwirkung gegebenen Darstellung der Geschlechtertrennung erläutert Fichte in § 2 die Besonderheit dieser Natureinrichtimg mit Blick auf den Zeugimgsakt. Danach ergebe sich ein nur tätiges Verhalten des männlichen, ein nur leidendes Verhalten des weiblichen Geschlechts. Die Begründung dieser folgenreichen geschlechtsspezifischen Verhaltensdifferenzen w i r d dabei allein einer eigentümlichen Interpretation des Zeugungsaktes entnommen, derzufolge das männliche Geschlecht, in dem „das erste bewegende Prinzip . . . von dem zu bildenden Stoffe abgesondert sich erzeugt", durch sein tätiges Verhalten die Absonderung gewissermaßen wieder rückgängig macht, um so das im weiblichen Geschlecht „vollständig vereinigt(e)" „System der gesamten Bedingungen zur Erzeugung eines Körpers der gleichen A r t . . . in Bewegung" versetzt 45 . Die Rolle der Frau als bloßes Objekt des Mannes, wie schon der nächste Paragraph ausdrücklich formulieren wird, ist damit bereits umfassend vorgezeichnet 46 .

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NR 39. Vgl. dazu Drechsler 1955 u. Lichtenstein 1971: 925. « NR 306. 46 Vgl. die Formulierung auf S. 308 unten: „das zweite Geschlecht . . . ist Objekt einer Kraft des ersteren, und so muß es seyn, wenn beide verbunden sein sollten." 44

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Der entscheidende Schritt zu dieser Deutung vollzieht sich indessen erst in § 3, der diese Geschlechterdifferenzierung in geschlechtsspezifisch unterschiedene Zielsetzungen der Vernunft übersetzt. Das Ausgangsproblem hier ist folgendes. Aufgrund des gesamten Ansatzes der „Wissenschaftslehre", aus dem das „Naturrecht" schließlich entwickelt werden soll, kann es „ein bloßes Leiden um des Leidens willen" 4 7 , als ein ganz und gar vernunftwidriges Verhalten, nicht geben. Denn die nur im Vollzug erfahrbare Tathandlung der ursprünglichen Selbstsetzung des Ich kann als letzter Grund alles menschlichen Wissens nie selbst Objekt sein, lieferte die Lösung des Dilemmas, wie ein Ich als Subjekt gefunden werden könne, da nicht selbst wieder, in unendlichem Regreß, als Objekt eines weiteren Ich i n Betracht kommt, doch gerade das Fundament der „Wissenschaftslehre" von >794, auf dem dann alles andere aufbaut 48 : so auch die „Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre" von 1796, wie schon der Titel hinlänglich zum Ausdruck bringt 4 9 . Besteht die Besonderheit der Vernunft aber darin, „absolute Selbstthätigk e i t " 5 0 zu sein, verträgt sich das schwerlich mit einem bloßen Leiden des weiblichen Geschlechts. - Um dennoch zur scheinbar naturgemäßen Konsequenz des Gegenteils zu kommen, spielt Fichte drei denkbare Alternativen durch, die die Behauptung rechtfertigen könnten, daß es „schlechthin gegen die Vernunft" sei, daß die Frau sich die Befriedigung ihres eigenen Geschlechtstriebs zum Ziel setze: Zum ersten könnte man den Frauen die Vernunft glatt absprechen. Zum zweiten sagen, daß ihre besondere Natur die Entfaltung ihrer Vernünftigkeit verhindere. Und zum dritten schließlich einen Widerspruch zwischen ihrer Vernünftigkeit und der Zwecksetzimg, den eigenen Geschlechtstrieb zu befriedigen, konstruieren. Die beiden ersten Wege werden aufgrund des Widerspruchs gegen die „Voraussetzung", daß auch Frauen „Menschen seyn sollen" bzw. der Annahme einer vernunfthindernden Natur verworfen. Bei der dritten Argumentation, für die sich Fichte schließlich entscheidet, soll ein Widerspruch zwischen Vernunft und Geschlechtstrieb hingegen ohne Selbstwiderspruch des Grundkonzepts der Selbsttätigkeit möglich sein, da der Trieb hier nicht vollständig negiert werde, sondern lediglich eine andere Zielrichtung als den der eigenen Befriedigung erhalte.

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NR 307. Vgl. dazu die Erläuterung zu Pkt. 7 der „Grundsätze der ges. Wissenschaftslehre" (1794/95): GA 1.2, 260, 3 - 19; einen guten Zugang zu diesem Problem gibt neben der in F N 2 genannten Arbeit v. Henrich - ein Abschnitt i n der Diss. ν. Benjamin 1978: 14 - 21 („Reflexion und Setzung bei F."). 49 Zum Verhältnis von Wissenschaftslehre u. Naturrecht vgl. Lauth 1962, Hunter 1973: 93ff., Willms 1967: 64ff. so NR 306. 48

3. Fichtes Ableitung des Familienrechts

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Diese andere Zielrichtung der Vernunft, die bei der Frau nicht auf die eigene Befriedigung, sondern diejenige des Mannes ausgerichtet sei, wird als angeborene weibliche Liebe gefaßt, die jene Stelle einnimmt, die der Geschlechtstrieb bei dem „ursprünglich" lieblosen Mann innehat. Eine der Vorrangstellung des Mannes geradezu komplementär entgegenlaufende Entwicklung fichtescher Schlußfolgerungen zerbröselt der Frau von diesem Ausgangspunkt her sodann Zug um Zug jegliche Selbständigkeit. Hat sie sich einmal „zum Mittel der Befriedigung des Mannes" gemacht und auf diese Weise ihre Persönlichkeit nicht nur hingegeben, sondern sogleich auch verloren, besteht ihre einzige Chancé, der daraus an sich resultierenden Verächtlichkeit doch noch zu entgehen, allein darin, sich „auf immer" zu geben (§ 5): „Das Geringste was daraus folgt, ist, daß sie ihr Vermögen und alle ihre Rechte abtrete, und mit ihm ziehe" (§ 6). Im zweiten Abschnitt, der aus der so ermittelten Natur der Ehe ein entsprechendes Eherecht herleitet, w i r d diese Konsequenz dann unzweideutig festgeschrieben: grenzenlose Unterwerfung und Rechtlosigkeit der Frau, Verlust aller Güter und Rechte an den Herrn Gemahl (§§ 16,17). Und auch der dritte Abschnitt verläuft vor dem Hintergrund, daß die Frage nach der Gleichberechtigung der Frau bereits in den ersten drei Paragraphen längst abschlägig beschieden wurde, ebenso zielstrebig i n gleicher Richtimg weiter: Da sie ihre Rechte vernünftigerweise erst gar nicht ausüben will, bekommt sie auch keine. Das Wahlrecht übernimmt für sie der Mann (§ 34). Infolge ihrer völligen Abhängigkeit von diesem kommt für sie ein persönliche Verantwortung und deshalb Unabhängigkeit voraussetzendes öffentliches Amt nicht in Betracht (§ 37). Und da Frauen „natürlich nicht zur Verwaltung dessen erzogen (werden), was sie nie verwalten sollen, ... werden (sie) nicht auf Schulen und Universitäten geschickt" (§38), womit ihnen gleichzeitig der Weg in die Gelehrtenzunft versperrt ist, wozu sie ohnehin nicht taugen (§ 38) - ganz so wie es auch mit ihrer „Begierde ... Schriftstellerei zu treiben" 5 1 immer nur ungünstig bestellt sein kann: Denn entweder erntet die Frau „schriftstellerischen Ruhm (und dadurch) eine von ihrem Gatten unabhängige Selbstständigkeit, die das eheliche Verhältnis notwendig entkräftet und zu lösen droht. Oder w i r d sie getadelt, so empfindet sie den Tadel als eine ihrem Geschlecht zugefügte Beleidigung, und ihre und ihres unschuldigen Gatten Tage werden verbittert." 5 2 Die eins aus dem anderen stringent schlußfolgernden Spitzfindigkeiten, mit der die von Anfang an planmäßig angelegte Verfallslinie durch alle Ecken und Winkel des weiblichen Daseins geführt wird, ist schon recht unglaublich. Demgegenüber hilft es auch wenig, alle zur Relativierung si NR 352. 52 NR 353.

62

1. Teil: Philosophiehistorische Vorerinnerung

dieses negativen Gesamteindrucks geeigneten Einschränkungen - wie etwa die geforderte Beratung der Eheleute vor der Stimmabgabe des Mannes 53 im einzelnen aufrechnen zu wollen. Dennoch bleibt die Frage, ob es damit im großen und ganzen schon sein Bewenden hat oder ob sich nicht gravierendere Gründe finden lassen, an dem bisherigen Negativurteil deutliche Abstriche zu machen. Solchen Gründen nachzugehen, soll jedoch einem abschließenden Rückblick auf die fichtesche Familienrechtstheorie insgesamt vorbehalten bleiben. Zuvor ist noch kurz die zweite Hälfte dieser Konzeption, das „gegenseitige Rechtsverhältnis zwischen Eltern und Kindern", darzustellen, das der vierte Abschnitt (§§ 39 - 61) behandelt. 5. Dieser vierte und letzte Teil folgt dem gleichen Aufbauprinzip, das in der Anmerkung zu Beginn des ersten Abschnitts beschrieben wurde: Erst muß ein Gegenstand für die Anwendung des Rechtsbegriffs deduziert, dann erst kann nach seiner juristischen Anwendbarkeit gefragt werden. Sind diese zwei Schritte bei der Darstellung des Eheverhältnisses auf zwei verschiedene Abschnitte - den ersten und zweiten - verteilt, finden sie sich für das Eltern-Kind-Verhältnis in einem einzigen Abschnitt vereinigt: Die §§ 39 - 45 beschäftigen sich mit dem Gegenstand der Anwendbarkeit, dem „durch Natur und Sittlichkeit bestimmt(en) ursprünglichen Verhältnis zwischen Eltern und Kindern, ... (das) von Prinzipien ausgeh(t), die höher liegen als der Rechtsbegriff" (§ 39). Im Anschluß daran behandeln die §§ 46 - 61 den „juridischen" Teil, die Frage nach der „Anwendbarkeit des Rechtsbegriffs darauf". Unter Verwerfung der schon aus dem Kant-Kapitel bekannten 54 „abenteuerlichen Behauptungen", Kinder seien Fabrikationsprodukte der Eltern, deren Rechte daher eine Art Eigentumsrecht, (§ 39), w i r d das Eltern-KindVerhältnis aus dem „organischen Band" (§ 40) einer natürlichen MutterKind-Bindung bzw. genauer - „worauf alles ankommt" 5 5 - aus dem Bewußtsein der Mutter davon entwickelt: aus dem Wissen der „notwendigen Verknüpfung der Erhaltung der Frucht und ihrer eigenen Erhaltung" ergibt sich danach die Sorge für die Erhaltung des Kindes. Diese exponierte Rolle des Bewußtseinsmoments bei der Herleitung des durch „Natur und Sittlichkeit bestimmten" Eltern-Kind-Verhältnisses (§ 39), bringt vor allem der 41. Paragraph deutlich zum Ausdruck, wonach der entscheidende Gesichtspunkt dieser Herleitung in einer Art Übersetzung der natürlichen Verfassung des „organischen Bandes" in das Bewußtsein und deren Konditionierung „durch eine Anwendbarkeit der Freiheit" besteht. Die methodische Entfaltung dieses Moments weist dabei Parallelen zur Begründung der Geschlechtertrennung im ersten Paragraphen auf. Ihr 53

NR 346. Siehe oben Kap. 1.2, Pkt. 3 (bei F N 20). ss NR 39. 54

3. Fichtes Ableitung des Familienrechts

63

leitender Gedankengang ist in etwa folgender: Würde das organische Band lediglich auf einem Naturtrieb basieren, kämen die zur Begründung dieses Bandes erforderlichen Handlungen quasi automatisch, bereits durch diesen Trieb selbst hervorgetrieben, zustande. Nun w i r d solch ein selbstreferentielles Notwendigkeitsverhältnis zwischen Naturtrieb und Handlung jedoch durch ein Drittes unterbrochen: das „ i n der Intelligenz" eintretende Bewußtsein. Die Handlung folgt nicht unmittelbar oder automatisch, „sondern ist durch eine Anwendung der Freiheit bedingt". Entscheidende Transformationsstelle dieses „Mechanismus der Natur und Vernunft in ihrer Vereinigung" 56 ist das Mitleid „als Empfindung des Bedürfnisses eines anderen ... die Gestalt, unter welcher der Naturinstinkt der menschlichen Mutter für ihr Kind erscheint". Diese Empfindung w i r d begriffen als ein „notwendiges Produkt des Naturtriebes" - eines Triebes, dessen sich die Intelligenz in der Empfindung bewußt w i r d und der auf diese Weise eine Synthese von Natur und Vernunft herbeiführt: Die „Empfindimg ... ist selbst der Naturtrieb in der Intelligenz" 5 7 . Während bei der als vernunftlos gedachten Natur notwendiges Auseinanderstreben (Geschlechtertrennung) und ebenso notwendiges Zueinanderstreben (organisches Band) zunächst nur unverbunden nebeneinander stehend erscheinen, hebt ein diese Notwendigkeit reflektierendes Denken sowohl diese Trennung als auch diejenige zu seinem Gegenstand auf: in dem Wissen der diesen letzteren Gegensatz zwischen Denken und Gedachtem hintergehenden Möglichkeitsbedingung seiner selbst - der Vereinigung von Trennung und notwendiger organischer Verbindung in einer freien Wechselwirkung. 6. Rückblickend läßt sich nun auch der Weg nachzeichnen, den Fichtes Familienrechtstheorie im ganzen verfolgt: Die Familie mit ihren beiden Kernbeziehungen, dem Ehe- und Eltern-Kind-Verhältnis, fällt die Aufgabe zu, konstitutives Moment jener Möglichkeitsbedingung des Lebens als einem notwendigen Miteinander-Leben zu sein - die Funktion eines realen Ausgangspunkts „freier Wechselwirksamkeit durch und nach Begriffen" (NR 40). Vor diesem Hintergrund aber relativiert sich nun auch Fichtes vollständiges Unterordnungsverhältnis der Frau in der Ehe ein wenig: Infolge des Vorrangs der freien Wechselwirkung, wie ihn der rechtstheoretische Ansatz konstituiert, kann auch das Eheverhältnis letztlich nicht aus einer natürlichen Verschiedenheit der Geschlechter abgeleitet werden, sondern nur aus einem ursprünglichen Anerkennungsverhältnis 58 . 56 57 58

NR 356. NR 355. Dieser Vorrang w i r d besonders i n § 3 FamRAnh. deutlich.

64

1. Teil: Philosophiehistorische Vorerinnerung

Sowohl im Ehe- als auch im Eltern-Kind-Verhältnis erfährt dieser ursprüngliche Anerkennungsprozeß jedoch einen, durch die in § 2 entworfene Theorie der Folgen der Geschlechtertrennung 59 bedingten Umweg über eine angeblich besondere Geistesverfassung der Frau 6 0 : Durch sie erst vermittelt sich das gegenseitige Anerkennungsverhältnis der Ehe. Denn erst durch sie gelangt der Mann zur Liebe, welche die Frau als natürlich-sittliche Anlage schon mitbringt - während der Mann durch Unterordnung seiner Triebe unter die Vernunft ein vernünftiges Gefühlssystem erst noch herstellen muß 61 . Und erst durch sie vermittelt sich auch eine Vater-Kind59 Die sich i m übrigen aus dieser Trennung und ihrer i n § 1 FamRAnh. entworfenen Theorie so noch i n keiner Weise ergibt. 60 Eine aufällige Entsprechung findet dieser, vom Theorieansatz nicht gerechtfertigte Umweg über eine spezielle Theorie der Folgen der Geschlechtertrennung im übrigen durch den Einbau eines desweiteren ebenfalls nicht mehr abgeleiteten Konsequenz-Arguments, das sich sowohl bei der Strafbegründung als auch bei der damit eng verbundenen zweiten Ableitung des Staates als übermächtiger Zwangsgewalt (neben der ersten Ableitung des Staates als Eigentumsgarant - zu diesen beiden Ableitungssträngen vgl. im Anschluß an Schottky 1962, 149: Zaczyk 1981, 51 - 78) findet: Wie Fichte hier aus einer „Inkonsequenz" des Unrechthandelnden, der gegen das aus Fichtes Bestimmung des Rechtsverhältnisses (§ 4 NR) sich ergebende Gebot verstößt, einen anderen, mit dem er in Gemeinschaft steht, im Wege der Gegenseitigkeit konsequent als zu achtende Person weiterzubehandeln wie bisher (vgl. NR 47 ff.), die „Konsequenz" herleitet, diesen Unrechthandelnden darum von Rechts wegen ebenfalls als eine Art Objekt behandeln zu dürfen (vgl. NR 49 ff.), so formt er auch dort aus dem komplementär gefaßten Gegensatzpaar männlicher Aktivität und weiblicher Passivität ein zu subtilen Spitzfindigkeiten sich versteigendes Konsequenzargument (vgl. dazu oben i m Text bei F N 51/52, wo das natürliche Schema der Geschlechtertrennung als ein solches dargestellt wird, das i n dasjenige ihrer angeblich rechtmäßigen Folgen zu übersetzen ist). - In beiden Fällen bedient sich Fichte somit eines bloßen Formalismus in Gestalt der Gegensätze: konsequent-inkonsequent, aktiv-passiv sowie entsprechender Gesetzmäßigkeiten der Folgerichtigkeit und Komplementarität, denen es am Nachweis eigener materieller Berechtigung gebricht und die sich i n den Argumentationsgang gewissermaßen stillschweigend einschleichen, ohne selbst noch i n der ursprünglichen Begründung des Rechtsverhältnisses verankert zu sein. - Entsprechend weist dann auch die Ableitung der Familienverhältnisse eine ganz ähnliche Zwiespältigkeit des Begründungsgangs auf, wie diejenigen des Staates: Hier wie dort kreuzen sich zwei imgrunde völlig verschieden strukturierte Argumentationsstränge, bei denen einmal das Moment der objekthaften Unterwerfung und das andere Mal (dem ursprünglichen Ansatz gemäß) das Moment der gegenseitigen Anerkennung dominiert, ohne daß deren Verhältnis zueinander auch nur annähernd geklärt würde. - Fragt man den tieferen Gründen dieses Zwiespalts nach, wird sich kaum der Schlußfolgerung zu entziehen sein, daß die anstehenden Schwierigkeiten bereits beim Theorieansatz selbst, bei der Herleitung des Rechtsverhältnisses, einer Lösung zugeführt werden müßten und nicht erst bei der Herleitung der beiden Rechtsinstitute (Familie / Staat). Die Behandlung des in der Sache hier wie dort ganz richtig gesehenen Moments einer Objektbezüglichkeit auch innerhalb von Interpersonalitätsverhältnissen selbst (wie es eingehend etwa im 3. Teil v. Sartres „L'être et néant" studiert werden kann) hätte ihren adäquaten Platz, recht besehen, nämlich bereits schon bei der Begründung des Selbstbewußtseins, im Rahmen einer gleichzeitig synthetischen Vereinigung von Subjekt und Objekt in der Aufforderung zur freien Wirksamkeit, also beim zweiten Lehrsatz des dritten Paragraphen, gehabt: Hier wäre demnach bereits eine weitaus subtilere, das Moment interpersonaler Objektbezüglichkeit gegenüber dem an dieser Stelle gemeinten Subjektbezug des Anderen sorgfältig gegeneinander abgrenzende Ausdifferenzierung des gesamten Ansatzes des „Naturrechts" erforderlich gewesen.

3. Fichtes Ableitung des Familienrechts

65

Bindung: „Die besondere Liebe des Vaters zu seinem Kinde geht ursprünglich ... aus seiner Zärtlichkeit zur Mutter hervor." 6 2 Hingegen leitet sich die in § 43 thematisierte Aufforderung des Kindes zur freien Tätigkeit direkt aus dem in § 3 des „Naturrechts" entwickelten Ansatz der freien Wechselwirkung her und zeigt in keiner Weise mehr geschlechtsspezifische Färbungen: „Es liegt ein natürlicher Trieb im Menschen, so weit als es nur irgend wahrscheinlich ist, außer sich Vernunft zu vermuten, und Gegenstände, z.B. Thiere, so zu behandeln, als ob sie welche hätten. Die Eltern werden ihr K i n d gleichfalls so behandeln, es auffordern zur freien Thätigkeit... . " 6 3 Aber auch schon die eigentliche Begründung des Eheverhältnisses als juristisches zeigt sich letztlich in einer Gestalt, die nicht immittelbar auf ein Unterordnungsverhältnis zurückgeführt werden kann. Da die Ehe „ihr eigener Zweck" (§ 8) ist, hat sie nicht dem Zweck einer Seite, wie der des Mannes 64 , und auch nicht der Zwecksetzung eines Dritten 6 5 , wie der des Staates oder der Kirche, unterworfen zu sein: „Die Ehe hat keinen Zweck außer ihr selbst; sie ist ihr eigener Zweck" (§ 8). „Sie ist ein durch Natur und Vernunft in ihrer Verbindung nothwendig und vollkommen bestimmtes Verhältnis" (§ 9) und danach jeder teleologischen Einordnung entzogen 66 .

61

Vgl. NR 355. NR 357 (§ 42). 63 NR 358; vgl. i n diesem Zusammenhang insbes. NR 359 (§ 47): „Wir lehren hier nicht Moral; w i r haben sonach nicht zu sagen: sie sollen es thun, sondern nur: sie werden es thun. Wir stellen natürliche und moralische Dispositionen hier nur auf als Thatsachen...". 64 Daraus resultiert i n § 10 die Vorstellung der Ehe als Schutz der Frau, in § 14 die Interpretation des Ja-Worts der Frau bei der Trauung als eine Bestätigung, nicht zur Ehe gezwungen zu sein, während das Ja-Wort des Mannes, nach § 16, die Zusicherung einer Garantie darstellt, sich zugunsten seiner - selbst rechtlosen - Frau zu verwenden. 65 In merkwürdigem Kontrast dazu steht allerdings seine Erziehungstheorie. Erziehung w i r d nicht, wie die Ehe, als seinem Wesen nach rechtsfreier Raum gedeutet, sondern dem Zweck eines Dritten, dem Staatszweck der Bevölkerungspolitik, unterworfen (§ 46): Es ist ein Recht des Staates, die Kindererziehung zum Inhalt des Staatsvertrags zu machen (rechtsbegründender Zweck dabei: die bestmögliche Erziehung, §61). Folglich gibt es hier auch kein Erziehungsrecht der Kinder gegen die Eltern (vgl. dazu die in Kap. 1.2, Pkt. 3 angeführte Diskussion zu diesem Thema), sondern eine Zwangspflicht gegen den Staat. - Die Erziehungstheorie Fichtes ist im Laufe der Zeit indessen starken Veränderungen unterworfen: vgl. dazu Verweyen 1975: § 25 (224ff.). - Vgl. auch den Zusammenhang mit den beiden unterschiedlichen Ableitungswegen des Staates: dazu Zaczyk 1981: 51 ff. - Und vgl. hierzu schließlich auch den strukturellen Zusammenhang mit Hegels Sprung von ,dem anderen' i n ,das andere' (als Weltbezug schlechthin) i n der „Phänomenologie": dazu Elsigan 1972: 136ff., insbes.: 148; zu dieser Thematik in Hegels Rph.: Theunissen 1982: 317 - 381, 333. 66 Vgl. § 14: Der Staat hat die Ehen nur anzuerkennen. 62

5 M. Weber

Zweiter Teil

Grundlagen und Herleitung der Familientheorie Hegels 1. D i e Entwicklung der hegelschen Rechtsidee i m Anschluß an K a n t und Fichte

1. Den unvollendeten kantischen Gedankengang zu Ende führen und für die Neuzeit etwas liefern, was Piaton einst für die Welt der Griechen geboten habe: „aus jener Diremtion und Entzweiimg die vollere Einheit heraufzuführen und wie Piaton nichts als das sittliche Universum der Griechen in seinem Staate gegeben hat, so das Ganze des europäischen Staatsuniversums, im Begriffe gefaßt, mit wahrhaft plastischer Kunst aufzuführen" 1 : so bestimmt Hegels Schüler Eduard Gans das rechtsphilosophische Anliegen seines Lehrers. Und ganz in diesem Sinne bestimmt auch der erste Satz der »Rechtsphilosophie4 von 1821 die „Idee des Rechts", als „Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung 44 , programmatisch zu ihrem Gegenstand. Doch wie der dabei anklingende Bezug zur platonischen Ideenlehre augenblicklich in eine ganz andere, mehr Aristoteles nahestehende Richtung gewendet und der Idee selbst die Fähigkeit ihrer eigenen Verwirklichung zugesprochen wird, so nimmt auch die Gleichsetzung von Idee und Begriff auf den neuzeitlichen Dualismus der Transzendentalphilosophie Kants und dessen Definition des Rechts als „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit vereinigt werden kann 4 4 2 , nur Bezug, um ihn auf dem teils schon durch Fichte vorgezeichneten Weg einer geiststrukturierten Willenstheorie zugunsten einer Einheitskonzeption zu überwinden. Anknüpfend an den philosophiehistorischen Teil der vorangegangenen drei Kapitel w i r d sich die Untersuchung im folgenden zunächst den Grundlagen der bei Gans angedeuteten weiträumigen Synthese zuwenden: dem Fundament jenes rechtstheoretischen Zusammenhangs, in den die Darstellung der Familie bei Hegel integriert ist. Einige paradigmatische Anmerkungen zur Entstehungsgeschichte dieser programmatisch angelegten Synthese seien dazu an den Anfang gestellt, da in ihr Motivation und Entwicklung des hegelschen Theorieansatzes offener zutage treten, als in der später systematisch ausgearbeiteten Konzeption der Rechtsphilosophie. 1 2

Vgl. Metaphysik der Sitten, Einl. i. d. Rechtsl., § B. Gans 1963:1, 51 f.

1. Die Entwicklung der hegelschen Rechtsidee

67

Der Ursprung des hegelschen Rechtsdenkens, wie er in seinen frühen religionsgeschichtlichen Arbeiten zu finden ist, entwickelt sich bekanntermaßen vor einem zunächst einmal keineswegs sonderlich originellen Hintergrund. Nahezu alles, was diesen unveröffentlichten frühen Schriften äußerlicher Anl^ß gewesen ist, verdankt sich mitnichten besonderen Eigentümlichkeiten ihres Autors: Sei es nun der Unmut an der Tübinger Kathedertheologie, die sich rechtfertigenderweise ausgerechnet auch noch auf den so bewunderten Königsberger „Alleszermalmer" berief, seien es die schließlich aufkommenden Zweifel an der Fortschrittlichkeit der praktischen Philosophie Kants selbst oder die Sehnsucht nach dem schönen Land der Griechen, dem Winckelmann bereits 1755 einen schon im Titel seiner berühmten Abhandlung „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Malerei und Bildhauerkunst" angedeuteten Vorbildcharakter zugeschrieben hatte, der sich mit einer K r i t i k an der Moderne verband, wie sie - gerade auch in Anbetracht der beiden rousseauistischen Discours der Jahre 1750 und 17553 - späterhin ebenfalls keine große Orginalität mehr beanspruchen konnte. So entspricht auch Hegels erste Zuflucht in eine „subjektive Religion", sein Plädoyer zugunsten einer den rechtgläubigen Kirchenlehren opponierenden freien Moralität und sein Entschluß, sich das Predigtamt endgültig aus dem Kopf zu schlagen, einer Haltung, die sich weitgehend jener ,pantheistischen' Opposition gegen die offizielle Theologie vergleichen läßt, wie sie in dem seit 1785 schwellenden Spinoza-Streit zu verzeichnen ist 4 . Aus diesem Geist heraus artikulieren sich dann auch noch zwei weitere Phasen früher Kritik. Nach dem sich im „Leben Jesu" (1795) niederschlagenden Versuch, der Vereinnahmung der Transzendentalphilosophie durch die traditionelle Dogmatik durch eine K r i t i k am Pseudokantianismus zu begegnen, folgt eine historische Kritik, die den kirchlichen Institutionalisierungsvorgang als Umwandlung der freien Moralität in ein „System der Verachtung des Menschen" zu rekonstruieren unternimmt: „Die Positivität der christlichen Religion" (1795/96) entsteht. Ihrer Idee nach deutet sie bereits das spätere Verfahren der doppelten Negation an: Durch historische Aufklärung über die traditionelle Dogmatik soll auch den Entzauberern der Moderne der Zauberstab gebrochen werden. - Daraufhin jedoch wird das kritische Verfahren selbst von Grund auf fragwürdig, wird das „Leben Jesu" schließlich völlig neugeschrieben 5. 3 Discours sur les Sciences et les Arts (1750) u. Discours sur l'Origine de l'Inégalité parmi les Hommes (1755), beide in: Rousseau 1978. 4 Zum Spinoza-Streit vgl. Altwicker 1971: 37ff. sowie Timm 1974. 5 Während Hegel, noch kurz vor Niederschrift dieser Arbeit, am 13. April 1795 die berühmten Zeilen an Schelling schrieb, daß er „vom Kantischen System in dessen höchster Vollendung . . . eine Revolution i n Deutschland (erwarte), die von Prinzipien ausgehen wird, die vorhanden sind und nur nötig haben, allgemein bearbeitet, auf

5*

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2. Teil: Grundlagen und Herleitung der Familientheorie Hegels

Was mit der zweiten Fassung des „Leben Jesu", dem „Geist des Christentums und sein Schicksal" (1798 - 1800), und in späteren Schriften folgt, ist der Versuch einer dezidierten Ablösimg vom dualistischen Modell der K r i t i k überhaupt. Damit zeigt sich ein Weg von der anfänglichen K r i t i k am Pseudokantianismus der Dogmatiker, über eine historische K r i t i k zur Aufdekkung genetischer Voraussetzungen dieser Dogmatik, bis hin zur K r i t i k des dabei zugrunde gelegten Kritikmodells selbst - einer transformierten Form der Kritik, die eine erste gründliche Auseinandersetzung mit der Fragwürdigkeit fixer Maßstäbe und ihrer vermeintlichen Unabhängigkeit von dem, woran sie angelegt werden, impliziert. Parallel dazu verläuft eine wachsende Einsicht in die mangelnde Orginalität dieses intellektuellen Ablösungsprozesses, die gewissermaßen eine ,Entpersönlichung' der Denkentwicklung, eine Loslösimg von dem persönlichen Erfahrungshintergrund zur Folge hat. Da jedoch ein Anteil individuellen Bewußtseins bei dieser Entwicklung kaum zu leugnen ist, obliegt dem „Hervortreiben der Allgemeinheit des Denkens" (als welches § 20 der Einleitung der Rechtsphilosophie von 1821 später den „absoluten Wert der Bildung" veranschlagen wird) von jetzt ab maßgeblich die Aufgabe, sich gerade diesen Zusammenhang zwischen dem Denken des Allgemeinen, des persönlich Erfahrenen und dessen geschichtlichen Voraussetzungen grundlegend begreiflich zu machen. Dazu w i r d eine Auseinandersetzung mit den im dualistischen Modell der K r i t i k verfangenen Bildungsvorstellungen erste Voraussetzung. Der „vorderhand bloß in der Büchersprache" anzutreffende „neue Ankömmling in unserer Sprache", wie Moses Mendelsohn 1784 über den Bildungsbegriff schrieb 6 , soll zu diesem Zweck eine wirkliche Autonomie erhalten, den er in seiner akademischen Oppositionshaltung gegenüber der so sehr beklagten Zerrissenheit der Lebenswelt bislang nur erst zum Schein habe. Auch letzteres erweist sich indessen erst einmal nur als ein Gedanke, der, wie ein Blick in die Frühromantik zeigt, bereits in der geistigen Zeitgeschichte aufzufinden war. alles bisherige Wissen angewendet zu werden" (Briefwechsel I, 23/24), unterzieht die zweite Fassung des „Leben Jesu": „Der Geist des Christentums und sein Schicksal" (1798-1800), die praktische Philosophie Kants selbst der Kritik. Nun macht es keinen großen Unterschied mehr, ob die Knechtschaft des Menschen durch einen äußeren oder inneren Gehorsam begründet wird, ob die „Staat und Kirche regierenden europäischen Prälaten" (wie die „tungusischen Schamanen" bei Kant) dem Menschen die Fesseln von außen anlegen, oder er es in seinem vom Leben abstrahierenden Glauben an eine bloße Pflichtenethik schließlich schon ganz alleine tut: die ganze Befehlsstruktur moralischen Verhaltens selbst steht ihm danach vielmehr bereits übel an (vgl. Nohl 165 iVm Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 4. Stück, 2. Teil, § 3: A 254/B 270). 6 Vgl. Mendelsohn 1968: II, 246: „Die Worte Aufklärung, Cultur, Bildung sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe versteht sie kaum."

1. Die Entwicklung der hegelschen Rechtsidee

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Mustergültig und nicht ohne die beabsichtigte Wirkung auf die Zeitgenossen gelangte er in Schleiermachers rhetorischem Dialog „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern" (1. Aufl., anonym, 1799) zur kunstgerechten Aufführung. Wird hier vor der schon im Titel einschmeichelnd begrüßten Leserschaft der Bildungselite auch zunächst einmal enthusiastisch der Hut gezogen, so müssen deren Vertreter indessen schon recht bald feststellen, daß es sich dabei um ihren eigenen handelt: Abgenommen allein zu dem Zweck, ihnen, ob ihrer selbstgefällig vorgebrachten Polemik gegen das ewig-gestrige Pfaffentum, in gut sokratischer Manier, um so wirkungsvoller eins auf den Kopf zu geben: Aus dem lebensfremden Schulgemäuer, dieser „Pflanzstätte des toten Buchstabens", gehe schließlich noch allemal keine Wendung des Lebens zum Besseren hervor: „Der Geist läßt sich weder in Akademien festhalten, noch der Reihe nach in bereitwillige Köpfe ausgießen". Der Versuch, es dennoch zu tun, sei nicht nur „mager und dünn", „dürftig und armselig", sondern auch „Polemik gegen das Leben" 7 . Doch läßt sich dieser Haltung der Frühromantik wiederum vorwerfen, auch sie potenziere letztlich nur jene Kritik, die sie zwar entlarve und der Lächerlichkeit preisgebe, nicht aber überwinde. Bildung wie Bildimgskritik gleichermaßen verfallen danach beide einer frühen ,Dialektik der Aufklärung', die sich in kritischer Opposition gegen die Produzenten jener zerrissenen Lebenswelt ungewollt noch einmal selbst zum integralen Bestandteil ihrer Reproduktion machen. In reflektiertester Weise versucht erstmals Fichte der Tendenz einer solch uferlosen Metakritik Einhalt zu gebieten und ihre im Kern als richtig erkannten Einsichten für die Theorie selbst fruchtbar zu machen. „Die Wissenschaftslehre", heißt es dementsprechend in einer Anmerkung gegen Ende des § 5 der „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre" von 1794/95, „soll den ganzen Menschen erschöpfen; sie läßt daher sich nur mit der Totalität seines ganzen Vermögens auffassen. Sie kann nicht allgemçingeltende Philosophie werden, so lange in so vielen Menschen die Bildung eine Gemüthskraft zum Vorteil der andern, die Einbildungskraft zum Vorteil des Verstandes, den Verstand zum Vortheil der Einbildungskraft, oder wohl beide zum Vorteil des Gedächtnisses tödtet...". Vor dem Problem, einer uferlosen Metakritik zu entgehen und, wie Fichte, einen festen Angelpunkt im Unbedingten zu finden, steht auch Hegel: „Die Kritik, in welchem Teil der Kunst oder Wissenschaft sie ausgeübt werde, fordert einen Maßstab, der von einem Beurteilenden ebenso unabhängig als von dem Beurteilten, nicht von der einzelnen Erscheinung, noch der Besonderheit des Subjekts, sondern von dem ewigen unwandelbaren Urbild der Saçjie selbst hergenommen sei". So beginnt sein erster Aufsatz im „ K r i t i 7

Vgl. Schleiermacher 1958: 15f., 153, 138, 155.

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2. Teil: Grundlagen und Herleitung der Familientheorie Hegels

sehen Journal" : „Über das Wesen der philosophischen K r i t i k überhaupt und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere" (1802). Hegels Orientierungspunkt ist danach vor allem die Ideenlehre Piatons - und damit ein erneuter Dualismus, der demjenigen des Kritizismus so erst noch recht hilflos gegenübersteht. Zur Realisierung jenes weitläufigen Programms, aus der „Diremtion und Entzweiung ... das sittliche Universum ... im Begriff erfaßt ... aufzuführen", wie Gans formuliert 8 , wird demnach eine neue Vermittlungsinstanz erforderlich, die für das inzwischen als untauglich verworfene Modell einer Liebeskonzeption, wie es die späten Jugendschriften entwickeln, adäquaten Ersatz leistet. Dazu muß der bereits im Vermittlungsmodell der späten Jugendschriften angelegte Weg der Überwindung einer Kritik, die den Referenten außerhalb des von ihm Kritisierten wähnt, auf das Verhältnis von Idee und Reflexion erstreckt werden. Gleiches gilt für die Überwindung der Vorstellung von einem bloß imperativen Befehlsstrukturen der Vernunft unterworfenen Willensmodell: Auch zwischen Idee und Vernunft ist die Wiederkehr eines Imperativdualismus in Form abstrakter Postulatenlehren zu vermeiden. Welche Möglichkeiten dafür offenstehen, zeigt eine Bemerkimg aus dem „Grundkonzept zum Geist des Christentums", worin die Vorstellung vom Menschen als einem willenlosen Vernunftobjekt negiert und sein Wille als aus den vermeintlich auch kantischen Krallen objektiver Gesetzmäßigkeit befreit dargestellt wird: „Hat der Mensch selbst Willen, so steht er i n ganz anderem Verhältnis zu Gott, als der passive; zwei unabhängige Willen, zwei Substanzen gibt es nicht; Gott und der Mensch müssen also eins sein - aber der Mensch der Sohn, und Gott der Vater." 9 Dieses Verhältnis kehrt abgelöst von seinem theologischen Bezug bei der Überwindung des Gegensatzes zwischen kantischem Reflexionsmodell und platonischer Ideenlehre, die zur einheitsbezogenen „Idee der Philosophie" transformiert wird, wieder. Ausgehend von der Vorstellung, daß mit der Reflexion der Idee keine völlig fremden Gestalten, sondern nur Zerrbilder 8

Vgl. oben bei F N 1. Nohl 391 - Anstelle des Verhältnisses prinzipiell unversöhnlicher Rechts- u. Moralgesetze tritt in den späten Jugendschriften eine völlig anders geartete Beziehung zwischen Vater und Sohn, die ein gemeinsam verbindendes Mittleres kennt: Ein triadisches, der christlichen Dreieinigkeit von Gott-Vater, -Sohn u. hl. Geist ähnliches Strukturmodell beginnt seine Wirkung zu entfalten - und scheitert fürs erste an der, den darin geforderten Schwebezustand der Mitte eines dreieinigen Geistes nicht aushaltenden Erdenschwere: „ . . . es ist gegen ihren (sc. der christl. Kirche) wesentlichen Charakter, i n einer unpersönlichen lebendigen Schönheit Ruhe zu finden; und es ist ihr Schicksal, daß Kirche und Staat, Gottesdienst und Leben, Frömmigkeit und Tugend, geistliches und weltliches Tun nie in Eins zusammenschmelzen können": mit diesen Worten endet das Manuskript über den „Geist des Christentums und sein Schicksal" (zu dieser Konzeption einer schwebenden Geistform vgl. Timm 1979:153 157). 9

1. Die Entwicklung der hegelschen Rechtsidee

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ihres eigenen Geistes entgegentreten, formiert sich das phänomenologische Programm eines „sich selbst vollbringenden Skeptizismus" 10 . Den Reflexionsgestalten des Geistes ist danach nicht mehr in kritischer Manier mit dem Bildungstrichter hinterherzulaufen, vielmehr ist ihnen, am Schöpf ihrer eigenen Ansprüche gefaßt, nur der eigene Kopf zurechtzurücken solange bis es nichts mehr zu rücken gibt, und mit dem Stadium des „absoluten Wissens" die Ausgangsbasis für die „Logik der Wissenschaft" erreicht ist". Auf diese Weise gelangt Zug um Zug die Idee einer immanenten Vernünftigkeit der Lebenswelt zur Darstellung, der Entwurf einer prozessierenden Idee', die deutlich Züge der aristotelischen Piatonkritik 1 2 erkennen läßt. Auf dem Gebiet des Rechts verkörpert sie den Zusammenhalt vernünftiger Abhängigkeiten individueller Willen untereinander, der sich schon innerhalb des Wollens selbst der Vorstellung eines unabhängigen Willens als bloßer Willkür widersetzt. Dem dabei aufbrechenden Gegensatz zwischen einem Einheits- und Differenzmodell des Willens versucht dieser Entwurf auf ähnliche Weise zu begegnen, wie dem Reflexionsmodell auf theoretischem Gebiet 13 . Wie die Integration und Selbstwiderlegung des Reflexionsmodells an dessen defizitärer Synthesisleistung ansetzt, so beginnt auch die Integration und Selbstwiderlegung der Willkür mit der Desillusionierung ihres Anspruchs, den Gegensatz zwischen Wille und Gewolltem bereits überwunden und beides zur Übereinstimmung gebracht zu haben. Anhand der Entwicklung des Rechtsbegriffs wird dieser Prozeß eingehend in der Einleitung der Rechtsphilosophie von 1821 dargestellt. Dieser Entwicklung des Rechtsbegriffs und der ihr vorausgehenden Frage, in welchem - als „Idee" charakterisierten 14 - Verhältnis dieser Begriff zu seiner Verwirklichung ursprünglich steht, w i r d sich die Untersuchung nun zuwenden. 3. Einen Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage wie zur Rechtskonzeption Hegels insgesamt liefert § 3 der Einleitung, dessen Struktur eine im übrigen recht auffällige Entsprechung zu derjenigen der § § 6 - 1 2 untereinander 15 aufweist, auf die im folgenden noch ausführlich zurückzukommen sein wird. Nachdem § 1, gegen Kant gewendet, die aus „Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung" 1 6 bestehende „Idee des Rechts" programma10

Phänomenologie des Geistes, WW: II, 67 f. Vgl. dazu Bubner 1973: 9 - 43, dort insbes. 21 ff. (mwN). 12 Vgl. dazu oben Kap. 1.1 bei F N 104ff. 13 Unter diesem Aspekt fällt der Stufe der „Moralität" geradezu eine Schlüsselrolle für das Werkganze zu. 14 Vgl. § 1 Rph. 15 Vgl. dazu auch die Übersicht im Anhang. 16 Sperrung durch d. Vf. 11

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2. Teil: Grundlagen und Herleitung der Familientheorie Hegels

tisch zum Gegenstand der „philosophischen Rechtswissenschaft" erhoben hatte, § 2 sich daraufhin mit der ersten Seite dieser Rechtsidee, ihrem Begriff, beschäftigte, der, als „Anfangspunkt" und „Resultat" eines Vorhergehenden, „seinem Werden nach" außer die „Wissenschaft des Rechts" falle, wendet sich § 3 der zweiten Seite der Rechtsidee zu: dem Verwirklichungsaspekt oder dem Umstand, daß der „Begriff des Rechts ein auf die Anwendung gestellter Begriff sei", wie bereits Kant in der Vorrede seiner Rechtslehre nachdrücklich betont hatte 17 , um diese Erkenntnis doch gleich darauf völlig beiseite zu setzen 18 . Der bereits im programmatischen Entwurf des § 1 enthaltene Gedanke einer notwendigen Positivität des Rechts wird in § 3 zu einer Struktur ausgeformt, die dem Folgenden (der mit § 4 einsetzenden Darstellung einer „Willensidee") zugrunde gelegt wird. Ein Vergleich mit der nur 1 - 2 Jahre vor den „Grundlinien der Philosophie des Rechts" entstandenen „Urfassung" 1 9 der 1821er Rechtsphilosophie, der Vorlesungsnachschrift von Homeyer, wird dies noch im einzelnen zeigen. Zuvor jedoch soll die in § 3 entwickelte Struktur und ihr Zusammenhang mit dem Nachfolgenden erst einmal genauer betrachtet werden. Hegel unterscheidet zur Bestimmung der Positivität des Rechts einen formalen und einen inhaltlichen Aspekt. Was kann vom Recht noch gesagt werden, wenn alle inhaltlichen Bestimmungen einmal außer gelassen werden? Daß es gilt. Dieser Geltungsaspekt markiert die formale Seite dieser Positivität - formal indessen nicht in einem abstrakt-kantischen Sinne verstanden, wie dies ein entsprechend gefaßter Legitimationsbegriff heute leicht nahelegt, sondern bezogen auf den Gedanken einer notwendigerweise konkreten Verwirklichung, der im Gegensatz zur Bestimmung der Positivität in den §§211-214, hier jedoch im quasi noch unentschiedenen Stadium der Möglichkeit gefaßt und damit der Sache nach mehr auf den aristotelischen Dynamis-Begriff in seiner ontologischen Färbimg, wie ihn die Bücher Eta und Theta der „Metaphysik" entwickeln 20 , als Kants Begriff der „objektiven Gültigkeit" ausgerichtet ist 2 1 . 17

Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, AB III. „ . . . metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre; weil, i n Rücksicht auf jene Fälle der Anwendung, nur Annäherung zum System, nicht dieses selbst erwartet werden kann": M.d.S., Rechtslehre AB IV. 19 So Ilting, Vorwort in: Hegel, V-Rph I, 219. 20 Vgl. insbes. Met. IX, 3. 21 Die Unterscheidung: formal - inhaltlich entspringt denn auch eher einem methodologischen Darstellungsbedürfnis, als daß hier unmittelbar ein der kantischen Rechtslehre zu Grunde liegender Dualismus bezogen würde, der auf dem Gedanken der Rechtsanwendung aufbaut: Dies ist m.E. erst in zweiter Linie der Fall - und auch da gleichsam aus der Brille des aristotelischen dynamis-energeia-Gegensatzes heraus gesehen. Indirekt bestätigt werden dürfte diese Deutung durch den Umstand, daß Hegel den Anwendungsaspekt des Rechts ausdrücklich der inhaltlichen Seite seiner Positivitätsbestimmung zuweist, deren nähere Entwicklung den §§211-214 vor18

1. Die Entwicklung der hegelschen Rechtsidee

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„Dem Inhalte nach" unterscheidet Hegel drei Momente: (1) die Besonderheit der Entstehungsbedingungen des Rechts (in recht vagen, offenbar auf Herders „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" 22 zurückgehenden Andeutungen werden genannt: „Nationalcharakter", „geschichtliche Entwicklung" und „Naturnotwendigkeit"), (2) den Umstand, daß das Recht auf „besondere von außen sich gebende ... Fälle" angewendet werden muß, und (3) die „ i n der Wirklichkeit erforderlichen letzten Bestimmung" des Rechts, durch welche die Lücke zwischen der notwendigen Allgemeinheit von Normen, Subsumtions-, Argumentations- und sonstigen Anwendungsregeln oder Topoikatalogen und dem konkreten Einzelfall in der „Entscheidung" gefüllt werden muß. - Soweit die von Hegel in § 3 entworfenen Strukturelemente einer Positivität des Rechts. Geht man nun daran, diese Struktur näher zu analysieren, ist zunächst zweierlei bemerkenswert. Einmal, daß formale und inhaltliche Seite von Anfang an notwendigerweise aufeinander verweisen. Tatsächlich gilt kein Recht an sich, kein ,Es-gilt', sondern immer schon verbindet sich die Rechtsgeltung mit einem näher bestimmten Rechtsinhalt. Bei der Hervorhebung des Gesichtspunkts der Rechtsgeltung an sich kann es sich mithin nur um eine analytische Trennung handeln. Zweitens fällt auf, daß unter den drei inhaltlichen Merkmalen der Positivität des Rechts das mittlere, dasjenige der Rechtsanwendung, eine besondere, über seinen inhaltlichen Aspekt hinausgehende Stellung einnimmt. Der Gesichtspunkt der Rechtsanwendung ist nämlich für das Recht von ebenso grundlegender Bedeutung, wie der „formale" Aspekt der Rechtsgeltung. Ja, es scheint sogar fraglich, ob er sich davon überhaupt grundlegend unterscheidet. Zwar läßt sich nicht im Ernst sagen, daß jede Nichtanwendung einer Norm bereits deren Geltung beseitige oder umgekehrt eine Norm nur dann gelte, wenn sie angewendet wird. Indessen ist hier nicht von konkreter Normanwendung, sondern von der Rechtsgeltung und Rechtsanwendung als solcher, als essentiellen, analytisch gefundenen und gattungsbildenden Merkmalen des Rechts die Rede. Daß beides auch so noch grundsätzlich verschiedene Dinge sein sollen 23 , die sich völlig voneinander trennen lassen, w i r d sich hingegen schwerlich sagen lassen. Dies hat einer vielleicht am besten erkannt, der diesen Versuch bislang am weitesten vorangetrieben behalten bleibt, während im Rahmen des § 3 lediglich „die Grenze des philosophischen Rechts" bezeichnet werden soll, wie eine Anmerkung zu § 3 klarstellt. 22 Vgl. dazu die Bücher 7 - 9 im 2. Teil u. das Abschlußkapitel des 13. Buchs: „ A l l gemeine Betrachtungen über die Geschichte Griechenlands" sowie in der Ausgabe Riga/Leipzig, 3. Teil (1787) 211, 216; vgl. auch Herder 1967: 40, 142 („Auch e. Phil, zur Gesch. zur Bildung d. Menschheit" - erstmals 1774 anonym erschienen). 23 Es; ist von einer „philosophischen Rechtswissenschaft" (§ 1) nun iSe Phil. d. pos. Rechts die Rede - nicht mehr von krit. Naturrechtsvorstellungen der aufklärerischen Frühphase, an die etwa Hugo anschließen möchte, vgl. zu letzterem: Viehweg 1971: III* - X I I I * , X I I I * (1969: 90).

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hat: Hans Kelsen. Selbst die ansonsten auf strikte Trennung beider Aspekte bedachte „Reine Rechtslehre" spricht dauerhaft nicht angewendeten Rechtsnormen ihre Geltung ab und bringt so auch in den letzteren Gesichtspunkt ein ihm eigentlich ganz fremdes zeitliches Moment ein 24 . Wie im Fall der Rechtsgeltung läßt sich imgrunde also auch bei der Rechtsanwendung eine Aufspaltung in einen formalen und einen inhaltlichen Gesichtspunkt vornehmen 25 . Für das entsprechende Moment in der anschließenden Darstellung des Willens, für das Moment der Besonderung des Willens, seiner Notwendigkeit, immer etwas zu wollen (§ 6), w i r d diese Konsequenz mit den §§ 8 u. 9 dann auch ausdrücklich gezogen26. Damit entwickelt sich über den in § 3 erörterten Anwendungsaspekt sowie den in § 6 thematisierten Gesichtspunkt der Besonderheit des Willens 27 schrittweise jenes Vermittlungsglied, das die Aufhebung der von Kant so eisern festgeschriebenen Trennung zwischen Subjekt und Objekt maßgeblich bewirken soll. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, daß sich diese Funktion - über ihren formalen und inhaltlichen Aspekt - in eine Relation auflösen läßt, aus der die weitere Entwicklung dann geradezu planmäßig vorangetrieben wird. Zeigt sich diese Möglichkeit mit den §§ 8 u. 9 auch erstmals deutlich bei der Entfaltung der Willensstruktur in den §§ 4 - 12, so ist sie doch bereits in § 3 implizit angelegt. Dieser § 3 verkörpert damit praktisch die Keimzelle der gesamten hegelschen Rechtsphilosophie. In den folgenden neim Paragraphen wird aus ihm die Grundstruktur des Willens geradezu herauskopiert, die dann die Grundlage der gesamten weiteren Entwicklung bildet. Mit dem, an das Begriffsmoment der Rechtsidee anschließenden28 § 4 beginnt erst der eigentliche Einleitungsteil: die Entwicklung des Rechtsbegriffs im engeren Sinne. § 4 übernimmt dabei eine ähnlich programmatische Funktion, wie § 1 für das Gesamtwerk: Wie § 1 die Rechtsidee zum Gegenstand der Darstellung erklärt, so § 4 die Idee des Willens 29 . Und entsprechend der in § 1 erklärten Absicht, es nicht mit einem Begriff des Rechts bewenden zu lassen, der seinem Objekt nur gegenübersteht, verfolgt auch 24

Vgl. Kelsen 1960: 6/7. Daß es sich so verhält und der Gesichtspunkt der Rechtsgeltung nicht doch ausschließlich nur auf eine (die formelle Seite) geschlagen wird, zeigt sich bis in die Formulierung hinein: „dem Inhalte nach enthält dies(!) Recht.. "; vgl. dazu auch § 2 der Homeyer-Nachschr. (in H., V-Rph I). 26 Vgl. dazu hilfsweise die Übersicht im Anhang. 27 Diese Kette läßt sich entsprechend durch das ganze Werk fortsetzen; vgl. für die „Einleitung" dazu hilfsweise auch die im Anhang beigefügte Übersicht. 28 Dieser Zusammenhang wird in den §§3 u. 4 der Homey er-Nachschr. (die den §§ 4, 5 bzw. 2 Rph v. 1821 entsprechen) besonders deutlich; beachtenswert dabei: die gegenüber der 1821er Fassung vertauschte Reihenfolge der Paragraphen. 29 Ausdrücklich w i r d diese Bezeichnung i n § 7 der Homeyer-Nachschr. gewählt; im entspr. § 10 der Rph v. 1821 wird sie hingegen nicht mehr verwendet. 25

1. Die Entwicklung der hegelschen Rechtsidee

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das in § 4 dargelegte Programm einer Willensidee das Ziel, einen Willensbegriff zu entwickeln, der die Trennung von Wille und Gewolltem überwindet. Die Ausführung dieses Programms beginnt mit einer Analyse der am Subjekt-Objekt-Schema orientierten Willens Vorstellung: Ein von seinem Gewollten separat gedachter selbstbezüglich Wollender ,übersetzt' danach einen „subjektiven Zweck durch die Vermittlung der Tätigkeit und eines Mittels in die Objektivität" (§ 8). In dem Gewollten tritt der subjektive Zweck dann in seine Erscheinung. Wille und Gewolltes, Selbstbezüglichkeit des Willens und in der Zwecksetzung verkörperter Bezug des Willens auf etwas bilden darin eine Einheit. Indessen, Zwecksetzungen lassen sich ändern. Die Einheit von Selbstund Weltbezug bleibt labil, zufällig und willkürlich. Eine Überwindung des Subjekt-Objekt-Gegensatzes, den die §§ 5 - 7 in eine dreigliedrige Willensstruktur - Selbstbezug (§ 5), Weltbezug (§ 6) und Synthese von beidem im Gewollten (§ 7) - ausformen, ist so nicht zu erreichen. K r i t i k an dieser Vorstellung formulieren die §§ 10 - 16, indem sie den Störfaktor benennen, der dafür verantwortlich ist, daß die Einheit letztlich immer wieder zerfällt: die subjektive Willkür. Mit ihr ist in Sachen Aufhebung des Subjekt-ObjektGegensatzes scheinbar gar nichts zu erreichen. Ein Gegenmodell w i r d entworfen: Der „an und für sich seyende Wille", die von der wählerischen Subjektivität losgelöste „sich selbst bestimmende Allgemeinheit" (§ 21), die mit ihrem Gegenüber nicht nur vorübergehende Verbindungen eingeht, sondern sich in ihm vollständig wiederfindet. Es gilt nun einen Weg zu finden, die beiden konträren Willenskonzepte miteinander zu vereinbaren: Soll das beständige Bestimmtwerden des w i l l kürlichen Willens durch ein immer wieder anders Gewolltes aufhören, muß einer der beiden dafür verantwortlichen Bestimmungsfaktoren ausgeschaltet werden: das inhaltlich bestimmende Etwas oder die zwecksetzende Subjektivität. Drehscheibe dieser Überlegung bildet § 19, der gegen den ersten, zugunsten des zweiten Faktors entscheidet: Die Subjektivität soll erhalten, jedoch „von dem Subjektiven und Zufälligen des Inhalts befreit" und dadurch „auf ihr substantielles Wesen zurückgeführt" werden: auf das Gegenmodell des „an und für sich freien Willens" (§ 21). Die in § 4 programmatisch aufgestellte Idee des überwundenen Gegensatzes von Subjekt und Objekt ist damit als Begriff entwickelt - als ein Entwurf 3 0 jedoch nur, dessen Realisierung noch aussteht 31 . Daß 32 dieser Entwurf indessen grundsätzlich realisier30 § 13 der Homeyer-Nachschr. bezeichnet diese Begriffsform der Idee als „das Sollen(,) daß solche subjektiven Bestimmungen ihre Einseitigkeit verliere und objektiv werde . . . Diese (sc. Einheit) ist insofern ein Zweck des Willens." 31 So ausdrücklich § 13 Homeyer-Nachschr. (H., V-Rph I, 248, 4 - 5).

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bar ist, es tatsächlich Formen des Daseins gibt, in denen sich der Begriff des „an und für sich freien Willens" realisieren und als Selbstbezüglichkeit eines nicht mehr nur äußerlichen Objekts erfahren läßt, dieser Umstand definiert Hegel als das Recht: „Dies, daß ein Dasein überhaupt Dasein des freien Willens ist, ist das Recht." (§ 29) Damit sind bislang allerdings nur die Umrisse des hegelschen Rechtsgedankens gezeichnet. Noch völlig ungeklärt ist der Ursprung dieses Entwurfs eines freien Willens und der Anteil, der dem Wollen selbst dabei zukommt. Die Frage, warum der Wille seine vergänglichen Triebe und flüchtige Launen überwinden will, ist aber gerade die Kernfrage des Übergangs vom Konzept des willkürlichen zu demjenigen des „an und für sich freien" Willens. Einen ersten Schritt zur Beantwortung dieser Frage liefert der in § 20 gegebene Hinweis auf einen Bildungsprozeß des Willens, der die aus der gegenseitigen Störung einer „Dialektik der Triebe und Neigungen" (§ 17) erwachsende, zunächst noch ganz „unbestimmte Forderung" einer „Reinigimg der Triebe" einlöst: „daß die Triebe als das vernünftige System der Willensbestimmungen seien" (§ 19). Ausgangspunkt der Abkehr vom Konzept des willkürlichen Willens ist demnach ein Eindringen der Reflexion in die Willensstruktur. Ein Reflexionsprozeß ist auch der Motor der gesamten weiteren Entwicklung 3 3 . Am Anfang dieser Entwicklung steht die Einsicht des Willens in seine prinzipielle Abhängigkeit von einem inhaltlich Gewollten und die damit verbundene Aufgabe der Selbsttäuschung einer völligen Bindungslosigkeit willkürlichen Verhaltens. Schrittweise vollzieht sich von hier aus eine Ablösung vom unmittelbaren Gegebensein eines Gewollten. An dessen Stelle tritt ein reflektierendes, Triebe und Neigungen beurteilendes Verhalten. Eine Notiz Hegels zu § 18 aus dem WS 1822/23: „beurteilen - unter allgemeine Bestimmungen subsumieren" 34 markiert deutlich die ersten Ansätze einer solchen Einsicht, in der sich die festen Konturen eines unmittelbaren Gegebenseins des Gewollten allmählich aufzulösen beginnen, um im Gegenzug gewissermaßen auf den Willen selbst überzugehen. Der diesen Prozeß einleitende „berechnende Verstand" (§ 17) kennt für sich selbst jedoch ebenfalls noch kein rechtes Maß: Wie die Willkür ist auch 32 Vgl. dazu auch Aristoteles NE 1095b 6ff.: „denn der Ausgangspunkt ist das Daß, und wenn dieses hinreichend sichtbar geworden ist, dann w i r d es rücht mehr des Warum bedürfen"; mit Blick auf Hegel ist auch die vorangehende Äußerung recht bemerkenswert: „Man muß nämlich vom Bekannten beginnen. Dies ist aber ein Doppeltes: ein Bekanntes für uns und ein Bekanntes an sich. Wir werden wohl mit dem für uns Bekannten anfangen müssen." (NE I 2 1095b 2 - 4) - das 2. Kap. d. 1. Buchs der NE scheint überhaupt einen der besten Zugänge zum Ansatz der hegel. Rph zu liefern (vgl. neben § 29 vor allem auch §§ 2 u. 32). 33 Vgl. dazu Bubner 1980: 26 - 28. 34 Hegel, V-Rph: II, 145, 8.

1. Die Entwicklung der hegelschen Rechtsidee

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er seinem Wesen nach maßlos. Daß „das Umgrenzte zur Natur des Guten", zu einem gelingenden Lebensentwurf, aber notwendig dazugehören muß, verteidigt Hegel mit Aristoteles 35 gegen den als „schlechte Unendlichkeit" denunzierten Rigorismus Kants, der sich mit seinem dualistischen System den gegebenen Lebensumständen nur schroff und unversöhnlich entgegensetze 36 . Die Paradoxie einer immer nur von außen verordneten Negation des Willkür und das Unbefriedigende eines ihr eng verwandten, ausschließlich am Nützlichkeitskalkül orientierten Selbstbeschränkungsgedankens führen schließlich auf ein systematisch entwickeltes Bedenken Hegels gegen die Einseitigkeit instrumentell reduzierter Konzepte vernünftigen Wollens überhaupt. Ein notwendiges Komplementärmoment wird der angekündigte Vergleich zwischen § 3 der Einleitung und § 2 der Homeyer-Nachschrift aufzeigen. Im Gegensatz zur publizierten Rechtsphilosophie von 1821 ist die inhaltliche Seite der Positivität des Rechts in dieser Nachschrift noch nicht ausdrücklich zu einer dreigliedrigen Struktur (Entstehungsbedingungen, Anwendungsaspekt und Entscheidung als letzte Bestimmung) ausgeformt. Stattdessen wird nur eine Aufzählung von Merkmalen gegeben. Außer den drei Gesichtspunkten, die § 3 der Einleitung enthält, finden sich dort noch zwei weitere Punkte, die dann i n der publizierten Fassimg ersatzlos gestrichen werden: der Hinweis, daß der Inhalt des positiven Rechts auch „vernunftwidrig und unrechtlich seyn" kann 3 7 und die Feststellung, daß „auch 35 Vgl. Arist. NE 1170a 19 - 21. 36 Ein Vorwurf, der sich so kaum aufrechterhalten läßt: Dies läßt sich besonders gut anhand der beiden Abschnitte: „die gesetzgebende Vernunft" u. „die gesetzprüfende Vernunft" in der „Phänomenologie des Geistes" zeigen, denen eine Ubergangsfunktion der „Vernunft"-Stufe zur Stufe des „Geistes" zufällt. Am Beispiel der Wahrheit und des Eigentums argumentiert Hegel hier gegen die angeblich nur formale Tautologie einer Notwendigkeit des Sittengesetzes und thematisiert dabei eine Theorieebene (Eigentum, Wahrheit), die Kant so gar nicht ins Auge faßt. Kant geht in seinen Beispielen (Selbstmord, lügenhaftes Versprechen, Talentverkümmerung, verweigerte Hilfeleistung - vgl. dazu in der „Grundlegung zur Methaphysik der Sitten": A 52ff.) vielmehr ausdrücklich - vgl. etwa die Formulierung: „denen er auch wohl helfen könnte" (A 54) - von ganz konkreten Elementarsituationen aus (jemand braucht Hilfe; ich kann ihm helfen; muß ihm nicht helfen?), nicht von bereits darüber hinausgehenden theoretischen Gebilden, wie Eigentum oder Wahrheit. Es handelt sich mithin um zwei völlig unterschiedliche Ebenen und Ansätze. Von einer immanenten Widerlegung Kants, wie sie Hegel vorschwebt, kann daher imgrunde gar keine Rede sein. Folglich greift auch nicht so recht sein Kant gegenüber i n diesem Zusammenhang weit übersteigertes Prinzip des formalen Widerspruchs und der daran unmittelbar gebundene Einwand, notwendiges Eigentum oder keines, notwendiges Depositum oder überhaupt kein Depositum seien keine Widersprüche in sich - das sind sie fraglos so wenig, wie, beim Diebstahl von Eßbarem, das Hungerhaben oder Nichthungerhaben für sich allein auch noch keinen Widerspruch darstellt. Es wäre aber gewiß schon sehr befremdlich, würde jemand, vor die Frage gestellt, ob er, zur Stillung seines Hungers, etwas zu essen stehlen soll oder nicht, plötzlich ins Räsonnieren darüber verfällt, ob er denn überhaupt Hunger habe. 37

Vgl. dazu auch Ilting, in: Hegel, V-Rph I, 116.

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2. Teil: Grundlagen und Herleitung der Familientheorie Hegels

rechtliche Bestimmungen als positiv (erscheinen), welche Verhältnisse betreffen, die wesentlich sittlicher Natur sind und auf dem Gemüth und Zutrauen beruhen". In der darauffolgenden Anmerkung, welche die aufgezählten Merkmale in vier Punkte untergliedert 38 , kommt es dann zu einer Unterscheidung zwischen vernunftgemäßem und nicht bzw. nicht vollständig vernunftgemäßem Rechtsinhalt. Welches Verhältnis zwischen diesen beiden Seiten herrscht, wie sich vernünftiger und unvernünftiger Teil des Rechts zueinander verhalten, bleibt indessen unklar. So bleibt auch die Frage offen, wie sich neben dem Bereich der konkreten Entscheidung, der als Sphäre „letzter Bestimmtheit" hier ebenfalls dem nicht vernunftgemäßen Teil zugeschlagen wird, „Zutrauen und Gemüth", die „besonders Einfluß bei den Familienverhältnissen" haben, wie Pkt. 4 der Anmerkung feststellt, in eine vernunftorientierte Rechtskonzeption einfügen lassen. In der publizierten Fassung enthält dieses Moment nur noch einen untergeordneten Platz im Rahmen des Gesichtspunkts der Rechtsanwendung, wie § 213 (der § 6 der Einleitung entspricht 39 ) iVm § 159 zeigt. Ansonsten aber bleiben „Zutrauen und Gemüth" aus der Sphäre des positiven Rechts grundsätzlich verbannt und treten dort erst in Erscheinung, nachdem sie quasi nicht mehr ,νοη selbst' ausreichende Wirkimg entfalten 40 : Ganz so, wie die „Moralität" gewissermaßen erst infolge eines verlorenen Vertrauens auf den Plan gerufen wird. Die Überlegung, daß Vertrauensverhältnissen selbst schon ein gewisses Maß an Vernünftigkeit zukommt und mit der Unterscheidung: rational irrational womöglich noch längst nicht das letzte Wort gesprochen ist, dürfte wohl der Grund für die Strukturänderung in § 3 der Einleitung gewesen sein. Plausibel erscheint sie jedenfalls: Die Vernünftigkeit von Gefühlen, Zutrauen und Vertrauen läßt sich sicher nicht als isolierter Gesichtspunkt an die Strukturmerkmale eines Objektbezugs des Willens einfach anheften, vielmehr w i r d sie bereits in diesem Bezug selbst enthalten sein. Das aber vermag kein bloßes Strukturschema zu zeigen, sondern allein die systematische Darstellung des sich vollziehenden Willens, wie sie der Hauptteil, als konkrete Entfaltung des in den §§ 19, 20 konzipierten Willensprozesses und als zweiter Schritt zur Beantwortung der Frage nach dem Übergang vom Konzept des willkürlichen zu demjenigen des „an und für sich freien" Willens, entwickelt. 38 Hier scheint es offenkundig zu einer Verwirrung bei den Gliederungspunkten gekommen zu sein, die allerdings auch die Frage nach sich zieht, ob die nachträgliche Korrektur richtig erfolgt ist. 39 Zu dieser Entsprechung der §§ 211 - 214 mit den § § 4 - 7 vgl. den 3. Satz der Anm. zu § 3. 40 Vgl. §§ 158 u. 213.

2. Hegels Theorie der Familie

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2. Hegels Theorie der Familie als Begründung sozialer Individualität?

1. Eingebunden in das Konzept einer vernunftorientierten Theorie der Willenspraxis bestimmt sich der Stellenwert der Familiendarstellung vor allem durch seine Funktion für die Theorieentwicklung im ganzen. Doch wozu ist der Abschnitt über die Familie überhaupt erforderlich? Warum verläuft der Weg des Stufenübergangs von der „Moralität" zur „Sittlichkeit" zuerst über die „Familie" und nicht sogleich hinein in die „bürgerliche Gesellschaft"? Den Ausgangspunkt zur Beantwortung dieser Frage liefert die Beschreibung einer Methode im vorletzten Paragraphen der Einleitung (§32), mittels derer die dort entworfene Geiststruktur des Willens zur prozessualen Darstellung der Willenspraxis selbst entfaltet wird. Am Beispiel der Familie wird diese Methode einer Gegenläufigkeit der Begriffs- und Phänomenentwicklung kurz erläutert: „ I n spekulativerem Sinn ist die Weise des Daseins eines Begriffs und seine Bestimmtheit eins und dasselbe. Es ist aber zu bemerken, daß die Momente, deren Resultat eine weiter bestimmte Form ist, ihm als Begriffsbestimmung in der wissenschaftlichen Entwicklung der Idee vorangehen, nicht aber in der zeitlichen Entwicklung als Gestalten ihm vorausgehen. So hat die Idee, wie sie als Familie bestimmt ist, die Begriffsbestimmungen zur Voraussetzung, als deren Resultat sie im folgenden dargestellt wird. Aber daß diese inneren Voraussetzungen auch für sich schon als Gestaltungen, als Eigentumsrecht, Vertrag, Moralität usf. vorhanden seien, dies ist die andere Seite der Entwicklung ...". Sie wäre demzufolge ihrem Wesen nach erst zu begreifen, wenn die in der Darstellung vorangehenden Verhältnisse des „abstrakten Rechts" und der „Moralität" bereits bekannt sind. Umgekehrt würde das erst bei der „Familie" Begriffene auch schon für die vorangehenden Verhältnisse eine tatsächliche Voraussetzung darstellen. Damit aber hätte sich die Frage nach der Existenzberechtigung und Funktion des Familienabschnitts praktisch verdreifacht. Sie wäre nun sowohl für die Phänomenentwicklung als auch für den Reflexionsprozeß der Begriffsentwicklung zu stellen - und schließlich auch für das im Gedanken der Identität von später Begriffenem und früherer tatsächlicher Voraussetzung anklingende Verhältnis zwischen beidem. Letzteres deutet hingegen auf einen ursprünglichen Zusammenhang, der auch die drei Fragen wieder miteinander verbinden würde. Was hat es mit ihm auf sich? In gewissermaßen statischem Sinne wurde das Verhältnis von Begriffsund Phänomenentwicklung bereits am Strukturmodell des Willens der Einleitung erörtert: anhand der Gegenüberstellung von Wille und Gewolltem. Wie es dort galt die Entgegensetzung von Wille und Gewolltem in einen relationalen Bezug des Wollens als reflektierten Prozeß aufzulösen, so gilt es

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2. Teil: Grundlagen und Herleitung der Familientheorie Hegels

nun die Entgegensetzung von Begriffs- und Phänomenentwicklung in einen quasi selbstreflexiven, selbstreferentiellen Prozeß des Willensvollzugs innerhalb der Handlungspraxis zu überführen. Die Strukturüberlegungen der Einleitung verlagern sich damit in die Darstellung des Willensvollzugs als dynamischem Prozeß der Praxis selbst. Der Aufweis einer solchen Selbstreflexion der Handlungspraxis vollzieht sich über zwei gegenläufige Entwicklungslinien 1 , die von Anfang an aufeinander verweisen und wie Wille und Gewolltes praktisch zwei unterschiedliche Aspekte in einem einheitlichen Prozeß darstellen. Bildet der Reflexionsprozeß eine der beiden Linien, so die Phänomenentwicklung, anhand derer sich die Reflexion vollzieht, die andere: Die tatsächliche Entwicklung der Verhältnisse geht voran. Der Prozeß, diese zu verstehen, folgt ihr in umgekehrter Richtimg nach. Als ein begreifender geht er von dem Resultat einer tatsächlichen Entwicklung aus, um in die Voraussetzungen dieses Resultats zurückzugehen 2 . Er begreift so das i n der tatsächlichen Entwicklung letzte als erstes und umgekehrt 3 . Ziel dieser Darstellung ist der Aufweis einer Entsprechung zwischen der ursprünglichen Selbstbezüglichkeit eines vernünftigen Einzelwillens und dem selbstbezüglichen Prozeß vernünftiger Willensverhältnisse in einer überindividuellen Handlungspraxis. Ihr Ausgangspunkt bildet das Phänomen eines Gewollten, das in der gemeinschaftlichen Handlungspraxis in Erscheinung tritt. Die Darstellung tritt damit quasi von außen an eine vom Willen bereits bestimmte Phänomenentwicklung heran, um von dort aus auf den Bestimmungsgrund eines Wollens zu stoßen. Sie hat demnach als erstes zu zeigen, auf welche Weise der Gestaltentwicklung überhaupt eine Begriffsentwicklung immanent ist. Dazu muß ein Prozeß von der Gestaltentwicklung hin zur Begriffsentwicklung ausgewiesen werden, der schließlich wieder in die umgekehrte Richtung führt, insofern die innerhalb der Gestaltentwicklung aufgezeigte Begriffsentwicklung ihrerseits an einer vorgängigen Phänomenentwicklung orientiert ist usf. letztlich also ein unendlicher Prozeß, als welchen ihn ein Paragraph des Familienabschnitts (§ 173) auch der Sache nach ausweist. 1 Der Sache nach finden sich diese beiden Reihen der Begriffs- und Gestalt- bzw. Phänomenentwicklung, wie sie Hegel in § 32 beschreibt, schon ausführlich i n Fichtes erster und zweiter Einleitung in die Wissenschaftslehre (1797) beschrieben, vgl. dazu Fichte, S W I , 445ff. (= Erste Einl., 7. Kap.) u. 459ff. (= Zweite Einl., 4. Kap.). 2 Vgl. § 141 („Übergang von der Moralität in Sittlichkeit") Anm.: „Das Sittliche ist subjektive Gesinnung, aber des an sich seienden Rechts; - daß diese Idee die Wahrheit des Freiheitsbegriffs ist, dies kann nicht ein Vorausgesetztes, aus dem Gefühl oder woher sonst Genommenes, sondern - in der Philosophie - nur ein Bewiesenes sein. Diese Deduktion desselben ist allein darin enthalten, daß das Recht und das moralische Selbstbewußtsein an ihnen selbst sich zeigen, darein als in ihr Resultat zurückgehen." 3 Vgl. in diesem Zusammehang: Arist. Met. I X 8.

2. Hegels Theorie der Familie

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Die dualistische Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt, Begriff und Phänomen w i r d so gewissermaßen in eine prozessierende Relation der Mitte aufgelöst: eine beide Seiten umgreifende Geiststruktur des sich vollziehenden Willens. Das dazu angewandte dialektische Verfahren läßt sich, kurzgefaßt, als ein Übergehen der Relation in ihre Relata beschreiben. Bedingt durch die (mit dem Willkür- und Reflexionsverhältnis) vorgegebene Grundstruktur der Relation gelingt es nicht auf einmal alle drei in Frage kommenden Willensbezüge: den Bezug auf sich und die beiden Weltbezüge, den Bezug auf ein Objekt und den Bezug auf den oder die anderen, gleichzeitig zur Darstellung zu bringen. Vielmehr können jeweils immer nur zwei dieser Bezüge miteinander relationiert und i n den Reflexionsprozeß der Darstellung eingebracht werden: Selbstbezüglichkeit und Objektbezug auf der Stufe des „abstrakten Rechts", Selbstbezüglichkeit und Sozialbezug auf der Stufe der „Moralität" und Sozialbezug und Objektbezug auf der Stufe der „Sittlichkeit". In der Darstellung des „abstrakten Rechts" vollzieht sich zunächst einmal eine Eliminierung des äußeren Objektbezugs zugunsten der Selbstbezüglichkeit. In der Darstellung der „Moralität" w i r d das Verhältnis von Selbstund Sozialbezug sodann abstrahiert von der äußeren Objektebene behandelt. Und die Darstellung der „Sittlichkeit" entwickelt im Anschluß daran den Sozialbezug, in den sich die Selbstbezüglichkeit des Willens handelnd einbringt, auf der vormalig nur erst abstrakt erörterten Objektebene. Auf diese Weise wäre schließlich die Differenz des kantischen Zwei-WeltenModells sukzessiv mit dessen eigenen Mitteln überwunden und der schon von Anfang an konzipierte Kreis geschlossen: Schrittweise würden dergestalt der Selbstbezug des Willens aus seinem Objektbezug, der Sozialbezug aus dem Selbstbezug des Willens heraus entwickelt, um den Sozialbezug abschließend als bereits im anfänglichen Objektbezug des Willens enthalten aufzuzeigen - in Gestalt einer dem einzelnen weitgehend unverfügbar institutionalisierten Möglichkeitsbedingung der Rechtspraxis selbst. Der Stufe der „Moralität" kommt in diesem Darstellungskreislauf eine Schlüsselrolle zu. Sie ist es, der die Aufgabe zufällt, die Differenz zwischen dem darstellenden Beobachter der Handlungspraxis und dem dargestellten Handelnden, wie sie der Stufe des „abstrakten Rechts" zugrunde liegt, in eine selbst schon praxisbezogene Beobachtungsform des Erwartens aufzuheben, indem sie den Beobachter über einen entsprechenden Reflexionsprozeß gleichsam auf die Ebene der Handlungspraxis ,hinüberspielt' 4 . Die Darstellung der „Sittlichkeit" hat im Anschluß daran zu zeigen, wie es zur Aufhebung dieser Differenz auch im Handeln selbst kommt bzw. im Prinzip schon gekommen ist, insofern die ganze Konzeption dieser Theorie einer 4 Zur Bedeutung der „Einspielung", inlusio, Illusion für die Welt des Spiels und die Beachtung seiner Regeln vgl. Huizinga 1972: 20.

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vernunftorientierten Willenspraxis bereits von einer praxisimmanenten Vernünftigkeit ausgeht, und die Darstellung, schrittweise ihre eigenen Voraussetzungen aufdeckend, zu diesem Ausgangspunkt nur zurückführt. Sie stellt danach auch weniger einen historischen Entfaltungsprozeß der Freiheit dar, wie oft behauptet wird, als vielmehr eine analytische Erkenntnis dessen, was innerhalb einer vernünftigen Rechtspraxis immer schon vorgeht. Denn schwerlich dürfte etwa der hier besonders interessierende Übergang von der „Moralität" zur „Sittlichkeit" so zu deuten sein, daß gerade der reflektierteste Moralist, der Ironiker, aus der ihm zugefallenen Einsicht in das perspektivisch verzerrte Wesen abstrahierender Moralbegründung heraus, nun gar plötzlich eine Familie gründet. Was es mit diesem Übergang und der aus ihr entwickelten Darstellung der Familie für eine Bewandtnis hat, soll nun ein Vergleich mit dem ersten Stufenübergang vom „abstrakten Recht" zur „Moralität" genauer zeigen. 2. Mit der schrittweisen Zerbröselung eines äußeren Objekts: Sache Wert - Gewolltes als Wille selbst, wie es die Stufe des „abstrakten Rechts" im einzelnen vorführt, entwickelt die Darstellung im ersten Teil den „abstrakten Begriff der Idee des Willens" und sein charakteristisches Moment der Selbstbezüglichkeit: „der freie Wille, der den freien Willen w i l l " (§ 27), vor dem Hintergrund einer gemeinschaftlichen Handlungspraxis. Dabei vollzieht der dargestellte Wille schließlich in manifester Negation eines externen Objekts für sich, was mit der strukturellen Begriffsentwicklung, wie sie die Einleitung gab, bereits erreicht ist: die Aufhebung des äußeren Subjekt-Objekt-Gegensatzes. Der Verbrecher demonstriert mit der Vernichtung seines Gegenübers, daß sich sein Wille rücksichtslos nur noch auf sich selbst bezieht und nicht mehr von einem eigenständigen Gewollten unterschieden werden kann. Daß diesem äußerlichen Extrem der Selbstbezüglichkeit nun jedoch eine ebenso extreme Selbstnegation: die Vernichtung seiner selbst für die Vernichtung seines Gegenübers folgt, erklärt sich erst durch einen Rekurs auf die in der Einleitung durchgespielte K r i t i k am Reflexionsmodell. Wie danach die Wahlfreiheit des willkürlichen Willens nur erst zum Schein eine Identität zwischen Wille und Gewolltem ermöglichte, so tritt auch mit dem Mord eine nur erst trügerische Identität des Willens mit sich selbst in Erscheinimg. Wille und Gewolltes bleibt in Wahrheit auch hier getrennt. Denn der vermeintlich negierte fremde Wille verkörpert als auch seinerseits prinzipiell freier selbstbezüglicher Wille grundsätzlich kein Objekt einseitiger Verfügungsmacht eines solitären Einzelwillens, vielmehr einen integralen Bestandteil eines gemeinschaftlichen Willensverhältnisses, dem der Wille des Verbrechers ebenfalls angehört. Folglich beschränkt sich die Verletzung auch nicht auf den Willen des Verletzten. Sie widerfährt vielmehr dem „an sich seienden Willen", der „ebenso ... Wille des Verletzers als des

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Verletzten und aller" ist 5 . Aufgrund dieser Selbstbezüglichkeit subjektübergreifender Willensverhältnisse, die hier desweiteren noch unerklärt bleibt, kehrt sich die Tat dann auch gegen den Verbrecher selbst. Hinter dieser Konstruktion verbirgt sich eine aus der Geiststruktur des Willens bezogene Auffassung, daß der Bezugsrahmen des subjektiv Gewollten stets ein objektiv Gemeinschaftliches bildet. Allein subjektiv isoliert läßt sich danach der Gegensatz zum Gewollten und die dadurch begründete Abhängigkeit des Willens noch nicht aufheben, vielmehr nur vertiefen. Gerade in dem Moment, in dem sich das Subjekt am meisten mit seinem Gewollten identisch und von einem Äußeren unabhängig glaubt, in der Vernichtung seines Gegenübers, tritt dieses Äußere wieder hervor, stellt sich die Differenz gegen ihn wieder her, die ihn nun als innere Trennung zerreißen und vernichten wird: „Die Täuschung des Verbrechers, das fremdes Leben zu zerstören und sich damit erweitert glaubt, löst sich dahin auf, daß der abgeschiedene Geist des verletzten Lebens gegen es auftritt, wie Banquo, der als Freund zu Macbeth kam, in seinem Morde nicht vertilgt war, sondern im Augenblick darauf doch seinen Stuhl einnahm; nicht als Genösse des Mahls, sondern als böser Geist. Der Verbrecher meint es mit fremdem Leben zu tun zu haben; aber er hat nur sein eigenes Leben zerstört; denn Leben ist vom Leben nicht geschieden, weil das Leben in der einigen Gottheit ist; und in seinem Übermut hat er zwar zerstört, aber nur die Freundlichkeit des Lebens: er hat es in einen Feind verkehrt. Erst die Tat hat ein Gesetz erschaffen, dessen Herrschaft nun eintritt." 6 Diese Ausführungen des jungen Hegel zur „Strafe als Schicksal" 7 können geradezu als Erläuterung des Übergangs vom „abstrakten Recht" zur „Moralität" verstanden werden. Der vormals zentrale Begriff des Lebens, der dem abstrakten Menschheitsgedanken des kantischen Sittengesetzes entgegengesetzt wird, ist in den „Grundlinien" zwar verschwunden, doch ersetzt man den Begriff des Lebens durch die Idee des freien Willens, ist beides so verschieden nicht mehr: Kants „Menschheit in meiner Person" tritt danach durch das Verbrechen in die Person des Anderen, die in der „Moralität" in das andere der „(abstrakten) Idee des Guten" transformiert wird, um schließlich mit der Stufe der „Sittlichkeit" gewissermaßen in Fleisch und Blut überzugehen. Ein Glied dieser Kette aber läßt die spätere Fassung der Rechtsphilosophie' noch unberücksichtigt. Wie die Formulierung in Paragraph 99: „die Verletzimg aber, welche dem an sich seienden Willen (und zwar hiermit ebenso diesem Willen des Verletzers als des Verletzten und aller) widerfah5 § 99; vgl. auch die entspr. Formulierung im selben Paragraphen: „ . . . die Verletzung für den besonderen Willen des Verletzten und der übrigen . . .". 6 Ν ohi 280 (Der Geist des Christentums und sein Schicksal). 7 aaO 281.

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r e n . . . " , zeigt, k e n n t der Ü b e r g a n g z u r „ M o r a l i t ä t " n u n k e i n Durchgangss t a d i u m i n Gestalt des Anderen

mehr. Stattdessen f ü h r t dieser S c h r i t t v o n

A n f a n g an bereits i n das andere des a b s t r a k t e n Menschheitsgedankens der „ M o r a l i t ä t " . Banquos böser Geist 8 , der Geist eines Anderen, w i r d hier sogleich als der Geist aller, einschließlich desjenigen des Verbrechers selbst, gefaßt. Das ist eine Konsequenz, auf die l e t z t l i c h auch schon die Jugendschriften aus s i n d ( „ L e b e n ist v o m L e b e n n i c h t geschieden"). D o c h steuern sie dieses Z i e l erst v o r d e m H i n t e r g r u n d einer einseitigen Gegenüberstellung v o n E i n h e i t u n d Differenz an, die es n u r aufzuheben, anstatt auch z u begründen gilt. D i e spätere K o n z e p t i o n einer Differenz (der Reflexion u n d W i l l k ü r ) i n n e r h a l b der E i n h e i t liefert den G r u n d dieser A b w e i c h u n g : L e b e n ist v o m L e b e n z w a r n i c h t p r i n z i p i e l l geschieden, d o c h ist alles L e b e n auch n i c h t geradewegs ein u n d dasselbe. D e r D i f f e r e n z i e r u n g der Lebenswelt ist daher ebenso nachzugehen, w i e i h r e r E i n h e i t . D e n z u r D a r s t e l l u n g dieser ausdifferenzierten E i n h e i t nötige A u f w e i s der sich herstellenden Differenz

i n n e r h a l b einer gemeinschaftlichen

Hand-

8 Außer christlichen Trinitätsvorstellungen haben offenbar auch literarische Vorlagen auf Hegels frühe Geistkonzeption, sein Konzept der realen Mitte, anregend gewirkt. Neben Shakespeare ist Homer und die „Ilias" zu nennen, in der Hegel (in bezug auf das „Kind") das Konstrukt einer realen Mitte finden konnte und wahrscheinlich auch gefunden hat. (Vgl. dazu auch Schadewaldt 1978: 63ff., insbes. 65) Daß Hegel die „Ilias" bei Vorarbeiten zum „Geist des Christentums" herangezogen hat, bezeugt ein Zettel mit Exzerpten aus der „Ilias" über fatum, welcher im Manuskript des sog. „Grundkonzepts zum Geist des Christentums" gefunden wurde (vgl. Nohl 393, Anm. 1). - Die anhaltende Wirkung Shakespeares auf Hegel ist i n zahlreichen direkten und indirekten Anspielungen abzulesen (bzgl. der allgem. verbreiteten, zeitgenössischen Shakespearebegeisterung ist nur an die zahlreichen Äußerungen Goethes u. Herders zu erinnern). So wird im „Geist des Christentums" das Schicksal des jüdischen Volkes mit dem Schicksal Macbeths" verglichen, „der aus der Natur selbst trat, sich an fremde Wesen hing, und so in ihrem Dienste alles Heilige der menschlichen Natur zertreten und ermorden, von seinen Göttern verlassen, und an seinem Glauben selbst zerschmettert werden mußte" (Nohl 260). I n der „Jenaer Realphilosophie" (1805/06) ist (unter der am Rand vermerkten Überschrift „Nacht der Aufbewahrung") zu lesen: „Der Mensch ist diese Macht, dies leere Nichts, das alles i n ihrer Einfachheit enthält, ein Reichtum unendlicher Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt oder die nicht als gegenwärtig sind. Dies die Nacht, das innere der Natur, das existiert - reines Selbst. In phantasmagorischen Vorstellungen ist ringsum Nacht; hier schießt ein blutig(!) Kopf (so das Manuskript - vgl. dazu Shakespeares „bloody head" in Macbeth I I I 4) dort ein(e) andere weiße Gestalt plötzlich hervor und verschwindet ebenso. Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt - i n eine Nacht hinein, die furchtbar wird, es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen." (GW Bd. 8 (= Jenaer Systementwürfe III) 187, 1 - 9) - Der „abgeschiedene Geist des verletzten Lebens" (Nohl 280), wie er Macbeth als Geist Banquos während des Banketts der 4. Szene im 3. Akt erscheint, hat im übrigen eine bewerkenswerte Variante und Fortsetzung: Das Hexenszenario zu Beginn des 4. Aktes läßt unter Donner drei Erscheinungen dem brodelnden Zauberkessel entsteigen: an armed Head, a bloody Child, a Child crowned - Strafe, K i n d und König in der „Rechtsphilosophie " ?

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lungspraxis, die Begründung des Unterschieds zwischen einem allgemeinen und „für sich seienden" Willen, liefert nun der Übergang vom „abstrakten Recht in Moralität" (§ 104): „Das Verbrechen und die rächende Gerechtigkeit stellt nämlich die Gestalt der Entwicklung des Willens als in die Unterscheidung des allgemeinen an sich (seienden) und des einzelnen, für sich gegen jenen seienden (Willens) hinausgegangenen dar ...". Was der Übergang „ferner" noch darstellt: „daß der an sich seiende Wille durch Aufheben dieses Gegensatzes (sc. in der Strafe) in sich zurückgekehrt und damit selbst für sich und wirklich geworden ist", dieser zweite Schritt einer die Divergenz überdauernden Einheit bleibt als Aufhebung des Verbrechens in der Strafe weitgehend ein negativer. Dessen positive Kehrseite, der indirekt schon mitthematisierte Sozialbezug des Willens 9 , bleibt aus der Darstellung ausgeklammert. Mit dem manifest gewordenen Bruch sozialen Verhaltens tritt stattdessen ein sich davon ausgrenzendes Reflexionsbewußtsein in Erscheinung und damit eine Potenzierung der Differenz über ein das Verbrechen reflektierendes Bewußtsein: Die „Moralität" tritt auf den Plan. Soziales Verhalten erscheint dem Bewußtsein als eine ebenso individuell zu erbringende Leistimg, wie dem Verbrecher seine Tat. Es wird noch nicht als ein auch konstitutiver Bestandteil der subjektübergreifenden Selbstreflexion der Handlungspraxis gesehen, die sich im individuellen Bewußtsein widerspiegelt, reflektiert und verhaltenssteuernd reproduziert - also sehr starke institutionalisierende Tendenzen aufweist, die es auf der Stufe der „Sittlichkeit" mit dem abstrakten Autonomiegedanken des „moralischen" Bewußtseins zu verknüpfen gilt. Der konkrete Geist des Anderen, die Realisierung der schon früh erkannten Notwendigkeit einer Vermittlungsebene zwischen Subjekt und Objekt (als dem anderen), bleibt einer späteren Stufe der Darstellung vorbehalten, denn sie setzt die Darstellung subjektorientierter Reflexions9 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch § 18 und § 31 der Vorlesungsschrift Wannemann (Hegel 1983a/1983b) sowie die diesbezüglichen Kommentierungen Nr. 42, 72 74 von Ilting (in: Hegel 1983a) iVm Ilting 1982: 234 - 236 u. Hegel 1983a: 33/34 (Einl.). Auf der Stufe des „abstrakten Rechts" wird hier i n rudimentären Ansätzen ein bereits mit der Besitzergreifung herrenloser Sachen „antizipiertes Verhältnis zu anderen" entwickelt, ein über das „Bewußtsein ihrer (sc. der im Eigentum eine Freiheitssphäre besitzenden Personen) Identität mit sich als identisch mit den anderen" (durch das äußerliche Dasein des Eigentums) vermittelter Anerkennungsprozeß. Läßt sich der hinter jener Antizipationsformulierung des § 18 der Wannemann-Nachschrift von Ilting entdeckte Mangel, „ein als verbindlich geltendes Rechtssystem" unentwickelt voraussetzen zu müssen (vgl. aaO Anm. 42), m.E. durch eine Interpretation der „Rph" als analytisches Rekonstruktionsverfahren im dargestellten Sinn methodologisch beheben, so stimme ich demgegenüber Iltings Diagnose völlig zu, daß sich i n der dahinterstehenden Fassung des negativen Verhältnisses „unmittelbarer Einse" als einem nur potentiell positiven Anerkennungsverhalten eine gravierende Beweislücke verbirgt (vgl. dazu aaO Anm. 74 iVm Anm. 72), die tatsächlich kaum mehr durch einen veränderten Interpretationssatz, sondern allein vermittels einer grundlegenden Veränderung des gesamten Konstruktionsansatzes der „Rph" zu beheben sein dürfte.

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Verhältnisse voraus, über die sich die angestrebte Vermittlung maßgeblich vollziehen wird. Daß sich die ganze Konstruktion dieses ersten Übergangs im übrigen allerlei Anfechtungen ausgesetzt sieht, die in der Strafe erfolgende Ehrung des Verbrechers, dem „darin ... sein eigenes Recht" widerfahre 10 , spätestens im äußersten Fall seiner Hinrichtung auf weitgehendes Unverständnis stoßen dürfte (das E. Bloch mit seiner Formulierung vom Verbrecher, der unterm Schafott wieder Mensch werden soll 11 , einmal treffend zum Ausdruck gebracht hat), ist wiederholt bemerkt worden. Auch ist hier nicht der Ort, den Problemen des Übergangs vom „abstrakten Recht" zur „Moralit ä t " 1 2 im einzelnen nachzugehen. Was an dieser Theorie des Verbrechens und der Strafe im Kontrast zur Konzeption der Familientheorie und dem damit verbundenen Übergang der „Moralität in Sittlichkeit" einzig und allein interessiert, ist vielmehr die ihr zukommende Funktion, den Reflexionsprozeß des Beobachters auf spekulativem Weg dialektischer Selbstreflexion in die Sphäre des Beobachteten hinüberzuspielen, wo sie dann in Gestalt der Moralität zum Vorschein kommt: Die Erfahrung einer aus dem Verbrechen sichtbar erwachsenden Differenz zwischen einem gemeinschaftlichen Wollen und dem Wollen des einzelnen, an der sich das Bewußtsein bricht, um die so praktisch aufgebrochene Differenz nunmehr als Reflexion in sich widerzuspiegeln, vermittelt sich damit den Betroffenen auf der Handlungsebene in gleicher Weise wie einem außenstehenden Beobachter. Insofern tritt dieser zunächst nur außenstehende Beobachter jetzt quasi als beobachtender Moralist in der Handlungspraxis selbst auf. Der Reflexionsprozeß der Darstellung potenziert sich dadurch zu einer auf den (moralischen) Reflexionsvorgang selbst bezogenen Reflexion. Diese gilt es nun ebenfalls in die Sphäre des Dargestellten einzuspielen 13 , um so auch den letzten Gegensatz, die den Ebenen der Darstellung und des Dargestellten zugrunde liegende Differenz, aufheben und in eine Selbstdarstellung vernünftiger Willenspraxis überführen zu können. 3. Damit zum zweiten Stufenübergang: dem Übergehen der „Moralität in Sittlichkeit" 1 4 und der damit verbundenen Entwicklung einer Theorie der Familie. Wird der Hauptteil der „Grundlinien", wie gezeigt, als eine aus verschiedenen Perspektiven (Objekt-, Subjekt- und Sozialbezug des Willens) vorge10

Vgl. § 100 (Anm.). Bloch 1961: 146: „enthauptet wird der Verbrecher wieder Mensch". 12 Zum Übergang vom „abstrakten Recht in Moralität" sowie der damit verbundenen Strafrechtstheorie Hegels vgl. Flechtheim 1975: 70ff.; ders. 1963: 9 - 20; Baermann 1980: 32ff., 49ff.; Siep 1982: 268ff. (zum Problem des Übergangs: Vertrag Unrecht). 13 Vgl. dazu F N 4 oben. 14 Vgl. dazu auch Siep 1982a; Rameil 1981; Peperzak 1982; Cesa 1981; Baum 1978. 11

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tragene analytische Rekonstruktion der Rechtspraxis und ihrer Voraussetzungen aufgefaßt und nicht als Darstellung eines historischen Entwicklungsprozesses, so ist zu erwarten, daß der zweite Stufenübergang auf ähnliche Weise Voraussetzungen ins Blickfeld bringt, wie die „Moralität" Zug um Zug jene Gesetzmäßigkeiten, die das Funktionieren des „abstrakten Rechts" (seiner Sachen- und schuldrechtlichen Formen des Eigentums und Vertrags) garantieren. In negativer Weise machen bereits die drei Stufen des „Unrechts" am Ende des ersten Teils auf diese Voraussetzungen aufmerksam. I n umgekehrter Reihenfolge werden sie dann im zweiten Teil der „Moralität" als subjektive Leistungen thematisiert: So entsprechen sich (1) der erste Abschnitt der „Moralität" über den „Vorsatz und die Schuld" und die letzte Form des Unrechts „Zwang und Verbrechen" (der Handelnde hat sein äußeres Handeln so einzurichten, daß er andere nicht beeinträchtigt), sodann (2) der zweite Moralitätsabschnitt über die „Absicht und das Wohl" und der „Betrug" als zweiter Unrechtsform (der Handelnde hat auch sein ,inneres Handeln 4 , seine Absichten, so auszurichten, daß andere dadurch nicht geschädigt werden) und schließlich (3) der dritte Abschnitt der „Moralität" über „das Gute und das Gewissen" und die erste Unrechtsform des „imbefangenen Unrechts" (über die strafrechtlich erfaßte Notwendigkeit, inneres und äußeres Handeln auf eine Nichtschädigung anderer einzustellen, hinaus, ist zur Aufrechterhaltung der Rechtsformen des Eigentums und Vertrags grundsätzlich noch ein weitergehenderes, nicht mehr strafrechtlich sanktionierbares Moment der Rücksichtnahme anderen gegenüber erforderlich, das seinem Wesen nach auf einen ursprünglichen Sozialbezug des Handelns aus ist 1 5 : Dieses für die Rechtspraxis insgesamt grundlegende Vertrauensmoment ist umgekehrt dann auch die Voraussetzung dafür, daß sich bei den beiden anderen Unrechtsformen dieses Vertrauen gewissermaßen strafrechtlich ersetzen läßt 16 .) Dabei zeigt sich deutlich die in § 32 (Anm.) beschriebene Gegenläufigkeit der Begriffs- und Gestaltentwicklung: Die erste Voraussetzung zur Sicherung der Eigentumssphäre w i r d zuletzt erörtert, der für das nur erst subjektive Eigentümerinteresse relativ uninteressante Sozialbezug der Rechtsform des Eigentums und Vertrags zuerst. Genau umgekehrt verhält es sich dagegen, wenn das Vertrauensmoment als „innere Voraussetzung" der beiden Rechtsformen als letztes entwickelt wird. So führt das Ende des zweiten Teils begrifflich wieder ganz an den Anfang des Werks: Die Entwicklung geht „ i n ihr Resultat zurück" (§ 141), um im dritten Teil schließlich „die subjektive Gesinnung ... des an sich seienden Rechts" („das Sittliche") als ein in der Praxis schon ursprünglich 15 Vgl. § 86 Zusatz: „jede Person w i l l das Rechte, und ihr soll nur werden, was das Rechte; ihr Unrecht besteht nur darin, daß sie das, was sie will, für das Recht hält". 16 Vgl. dazu E. A. Wolff 1965: 72ff.

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Resultierendes aufzuzeigen. Ziel dieses dritten Teils w i r d es demnach sein, einen ursprünglichen Sozialbezug des Willens innerhalb seiner praktischen Objekt- und Selbstbezüglichkeit darzustellen. Auf welche Weise der dualistische Reflexionsprozeß der „Moralität" nun aus seinem Abstraktionsdenken herausgeführt und wieder in die Praxis zurückverwiesen wird, demonstriert Hegel anhand der reflektiertesten Gestalt moralischen Bewußtseins: der dieses Denken bereits zersetzenden Ironie. Der chamäleonartige Moral zur Schau tragende Ironiker schlägt sein Kapital aus der raffiniertesten Einsicht, deren sich subjektivistisches Reflexionsdenken als fähig erweist: der Einsicht in dessen Grenzen, die man am zuverlässigsten dann gewahr wird, wenn man sie erst einmal bewußt überschreitet. Spätestens, wenn es um mehr geht, als nur das Gesetz einzuhalten, wenn es auf die Existenz darüber hinausgehender Vertrauenstatbestände ankommt, macht sich unter dem Deckmantel der Moral wieder schnell die allgemeinen Willkür breit und demonstriert damit recht anschaulich das Ende des „moralischen" Leistungsanspruchs, die dem „abstrakten Recht" zugrunde liegenden Vertrauenstatbestände aus rein subjektiver Gesinnung hervorbringen zu können. Über die Möglichkeit, aus diesem Anschauungsunterricht defizitärer Sitten indessen noch einen ganz anderen Schluß ziehen zu können, als denjenigen eigentlich ganz und gar fehlender Moralität, und demgegenüber vielleicht gar auch auf die Idee verfallen zu können, daß es am Ende nicht etwa noch nicht moralisch genug zugehe, vielmehr eher zu moralisch, darüber schweigt sich der Ironiker jedoch wohlweislich aus und läßt es sich mit seiner Einsicht unter uneinsichtigem Publikum gut leben. Mit dem Problem ironischer Subjektivität als der weitreichendsten Form subjektiver Selbstbezüglichkeit, die ihren Aktionsradius über die Grenzen moralischer Bedenklichkeiten in geschickterer Weise als der Verbrecher, der offen dagegen verstößt, und geschickter auch als der Betrüger (der wenngleich verspätet, sich letztlich doch zu erkennen gibt) dadurch ausdehnt, daß er sie zum Schein ebenso virtuos wie eigennützig handhabt, entsteht nun allerdings die Frage, welcher Weg jetzt noch bleibt, die K r i t i k am w i l l kürlichen Willen, der angeblich doch niemals zu einer wirklichen Selbstbestimmung kommen könne, weiterhin aufrecht zu erhalten: Verfügt der perfekte Ironiker nicht in jeder Weise über sein Dasein?17 Angesichts dieser Demonstration subjektiver Verfügbarkeit abstrakter Moralität 1 8 hat eine aus dem Ansatz konsequent entwickelte Konzeption des Sittlichen nur dann eine Chance, wenn es ihr gelingt, die ironisch verdeckte 17 Das gleiche Problem stellt sich i n anderer Form mit der aristotelischen Diskussion: Autarkie versus Freundschaft i n NE I X 9. 18 Vgl. zu dieser Frage auch Pöggeler 1956: 66ff.; zur hist.-polit. Dimension dieses Problems und der im 16./17. Jahrhundert intensiv einsetzenden Betrachtung polit. Verfügbarkeit der Moral (innerkirchlich kann diese Betrachtung bereits ins 11. Jhdt. zurückdatiert werden) vgl. Stolleis 1980.

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K r i t i k an der Moralität noch ebenso zu berücksichtigen, wie das von ihr Kritisierte, wenn auch zum Schein Weiterpraktizierte. Der Umstand, daß Ironie aber gerade auch selbst an diesen Schein gebunden und von ihm in ähnlicher Weise abhängig ist, wie die abstrakte Moral nicht zuletzt vom Verbrechen lebt, markiert die Einbruchsstelle der Theorie des Sittlichen in diese höchste Form reflexiver Subjektivität. Auch der Ironiker ist letztlich nicht der Meister des Scheins, der er sein möchte, vielmehr w i r d auch er von diesem Schein in einer Weise beherrscht, die auf ein grundsätzliches Abhängigkeitsverhältnis des Handelns von unverfügbaren Handlungsvoraussetzungen verweist. Da sich diese Einsicht allerdings nicht noch einmal auf nur subjektive Weise ins Praktische wenden läßt, bleibt ihrer Realisierimg im Wollen nur der rückbezügliche Weg über einen reflektierten Willen, der sich auf seine praktische Abhängigkeit von unverfügbar vorgegebenen Handlungsvoraussetzungen tatsächlich einläßt und seine Subjektbezogenheit zugunsten einer Wechselbezüglichkeit zwischen Subjekt- und Objektebene aufgibt: der Weg der Bildung eines vernünftig handelnden Selbstbewußtseins innerhalb der Handlungspraxis, nicht in einem ausschließlich subjektbezogenen Gegensatz zu ihr. Schließlich ist auch nur in der Handlungspraxis selbst das vom Moralisten gesuchte Gute tatsächlich zu finden, eine moralische Gesinnung wirklich zu realisieren. Daß eine praktische Synthese zwischen den beiden Seiten dualistischer Moralreflexion, dem nur seinsollende(n) Gute(n)" und der „nur gut sein sollende^) Subjektivität", indessen überhaupt möglich ist, daß diese zwei Seiten, die wechselseitig ihre Wirklichkeit jeweils auf der anderen Seite suchen, in der Praxis „an sich" bereits in der „konkrete(n) Identität des Guten und des subjektiven Willens" 1 9 vereinigt sind, ihre Vereinigungsmöglichkeit in der Handlungspraxis also immer schon angelegt ist, setzt Hegel infolge seines Konzepts praxisimmanenter Vernünftigkeit und dem darin verankerten Rechtsbegriff prinzipiell voraus (vgl. §§ 29, 141). Die begriffliche Genese dieser Synthesis ist von daher bereits immer abgeschlossen. Synthetisieren heißt hier allein, eine in der Einheit aufbrechende Differenz zu diesem Ausgangspunkt zurückzuführen, einen begrifflichen Entstehungsprozeß für das erst vernünftig werdende Subjekt zu liefern. Ist die Idee einer praxisimmanenten Vernünftigkeit danach als latente Voraussetzung eines vernünftigen Bezugs zwischen den Subjekten „an sich" bereits realisiert, muß sie „für sich" indessen im Bewußtsein des Subjekts erst noch als eigene 20 Identität hervorgebracht werden. Und insofern kennt sie nun aller19

§ 141; entfaltet wird dieser Gedanke dann vor allem i n den §§146 und 147. Vgl. im Hinblick auf die dahinterstehende Grundkonzeption auch Beierwaltes 1980: 242; Peperzak 1982: 98f. u. Cramer 1979 (zu § 424 der Berliner „Enzyklopädie"). 20

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dings auch eine tatsächliche Entstehung: als Ausbildung eines entsprechenden Bewußtseins in der Erziehung. Ihre Darstellung ist gewissermaßen das Kernstück des ersten Abschnitts über die „Sittlichkeit", der Fluchtpunkt der Theorie der Familie. 4. Der Weg zu dieser Erziehungs- und Bildungstheorie führt über eine Darstellung ihrer natürlichen Voraussetzungen: des Verhältnisses der Eltern und des Vermögens der Familie als der materiellen Voraussetzungsbasis ihrer Existenz. Den Anfang dieser Darstellung macht die Herleitung des Eheverhältnisses aus der vernünftigen Selbstbezüglichkeit eines Willensverhältnisses, das den Selbst- und Weltbezug des Wollens wechselseitig miteinander verklammert. Was in negativer Weise am Beispiel des Verbrechers dargestellt wurde, der mit seinem Gegenüber zugleich sich selbst vernichtet, kehrt hier quasi in positiver Weise wieder: die Identität von Selbstbezüglichkeit und außengeleitetem Bezug auf den Anderen - jetzt allerdings in Form eines Wechselverhältnisses gefaßt, das als lebendige Beziehimg zwischen zwei selbständigen Subjekten auch nach außen hin in Erscheinung tritt und nicht mehr nur ein inneres Verhältnis der verbrecherischen oder moralischen Willens zu dem „abgeschiedenen Geist des Lebens" 21 bildet, der als rächender Geist gegen den Willen bzw. für ihn als ein Mangel 22 auftritt. Anstelle der „Macht des Toten" 2 3 und der Ohnmacht abstrahierender Gedanken tritt die Lebendigkeit interpersonaler Verhältnisse in die Darstellung ein, in denen der Wille als Beziehung zu sich zugleich als unmittelbare Erfahrung der Wechselbezüglichkeit mit einem anderen selbstbezüglichen Willen erlebt wird: Ein „Zeugnis des Geistes ... als von seinem eigenen Wesen, in welchem er sein Selbstgefühl hat, und darin als seinem von sich ununterschiedenen Elemente lebt, - ein Verhältnis, das unmittelbar noch identischer als selbst Glaube und Zutrauen ist" (§ 147) 24 . Die Willkür des einzelnen Willens wird darin stufenweise zugunsten einer auf Beständigkeit hin angelegten wechselseitigen Willensbeziehung zurückgenommen. Als ein zunächst scheinbar nur auf Empfindungen basierendes Willensverhältnis geht dieser Prozeß von der Subjektseite der beteiligten Personen aus. Doch steht bereits hier neben der Neigung, die sie von sich aus einander entgegenbringen, oder zu der sie von anderen gebracht werden 25 , 21 Nohl 280 (vgl. oben bei F N 6). 22 Vgl. dazu § 219 Enzykl. (3. Aufl.). 23 Vgl. Nohl 392 (Der Geist des Christentums und sein Schicksal). 24 „Noch identischer als selbst Glaube und Zutrauen", da letztere noch einen Unterschied zwischen ihrem Sein und einem davon abgehobenen Bezugsobjekt kennen, mit dessen Hilfe es dann etwa gelingt, der Möglichkeit, zwischen einem Leben als Christ und dem Glauben an eine christliche Religion zu trennen, immer gut die Tür offenzuhalten, wie Hegel dies verdeckt am Beispiel der Heiden illustriert (vgl. § 147). 25 Vgl. Hegels Option zugunsten einer „Veranstaltung der wohlgesinnten Eltern" als dem sittlicheren der beiden Wege: § 162 (Anm.).

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die freie Einwilligung als objektives, über die bloß natürliche Seite der Empfindungen schon hinausgehendes und für die weitere Entwicklung entscheidenderes Moment im Vordergrund 26 . Vom Standpunkt der Subjektseite ist für Hegel damit der erste Schritt zur Begründung des Eheverhältnisses aufgezeigt: „die freye Einwilligung der Personen ... Eine Person auszumachen" (§ 162), das Versprechen, ihre Willkür einem wechselseitigen Willensverhältnis unterzuordnen, um darin ein ihnen wesentliches Dasein zu finden 27 . In einer zweiten Perspektive zeigt sich dieses wechselseitige Willensverhältnis in der ideellen Gestalt, die es für die beteiligten Willen hat: Ihrem Bewußtsein erscheint die beabsichtigte Willensvereinigung als der „substantielle Zweck", dem alle Momente einseitiger Willkür unterzuordnen sind. Diese Sichtweise entspricht zum Teil der Anschauung der „Moralität", nach der sich die Willensbeziehung subjektiv zur „abstrakten Idee des Guten" vergegenständlicht 28 . Doch w i r d die Abstraktion hier von Anfang an zugunsten des konkreten Entwurfs einer Idee zurückgenommen, die sich in Ansätzen bereits verwirklicht. Anstatt das Gewollte nur außerhalb ihrer selbst zu suchen, läßt sich die „innere Handlung" der Moralität nun auf die kontingente Situation interpersonaler Verhältnisse direkt ein. Ein dritter Schritt bildet schließlich diesen Übergang der „Moralität in Sittlichkeit" vor seinem gesellschaftlichen Hintergrund ab: Wie die interne Beziehung des Subjekts zur „abstrakten Idee des Guten" als lebendige Wechselbeziehung in ein gemeinsames Willensverhältnis heraustritt, so soll dieses Verhältnis nun auch seinerseits nach außen dringen: Das Versprechen ist daher öffentlich zu vollziehen (§ 164). Für das gemeinsame ,äußere' Willensverhältnis w i r d damit noch einmal in potenzierter Form durchgespielt, was zuvor schon am Heraustreten des inneren Willensverhältnisses eines einzelnen Subjekts demonstriert wurde. Dieser dritte Schritt erweckt zunächst den Anschein, als sei er der für die Begründung des sittlichen Charakters der Ehe wichtigste. Erst die „feierliche Erklärung der Einwilligung" führt danach offenbar „zum sittlichen Band der Ehe". Unterdessen ist Hegel zwar, im Gegenzug zu Fichte, bemüht, die Ehe wieder aus einer bloßen Privatsphäre herauszuholen und ihren 26 Deutlich wird dieser Vorrang der objektiven Seite in der Anm. zu § 162, wo es heißt, daß die Neigung auch erst der Verehelichung folgen könne - ja, dies sogar der sittlichere Weg sei (vgl. die vorangehende FN); vor diesem Hintergrund scheint mir denn Elsigans Feststellung, Hegel räume der Liebe gegenüber der „Phänomenologie" in der „Rph" wieder mehr Recht ein, keineswegs so eindeutig: konstruktiv gedenkt er jedenfalls wohl auch hier noch weitgehend ohne sinnliches ,Beiwerk' auszukommen (vgl. Elsigan 1972: 153); übertrieben ist andererseits wohl aber auch die Behauptung v. Müller-Freienfels (1974: 561), daß „Hegel kein Recht der Liebe anerkannte". 27 In diesem Sinn schon Henrich 1975: 173: „So ist es z.B. das Wesen der Ehe, sich die Freiheit von der Zufälligkeit der Neigung zu versprechen. M i t diesem Versprechen tritt sie i n ihre eigene Notwendigkeit ein, in der sie aber ohne Entgegensetzung gegen Neigungen lebt. 2 ® Vgl. dazu §§ 125ff., 136, 140, 141.

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Öffentlichkeitscharakter mit Nachdrück zu verteidigen, doch die eigentliche Begründimg des „sittlichen Bandes der Ehe" ist bereits im zweiten Schritt des § 163 zu finden: in dem konkreten Entwurf der Idee eines gemeinsamen „substantiellen Zwecks". „Das Sittliche der Ehe besteht in dem Bewußtsein dieser Einheit als substantiellen Zweckes" (§ 163) 29 . Über dieses Bewußtseinsmoment des Sittlichen verläuft dann auch die gesamte weitere Entwicklung. Die bisherige Entwicklung in den §§ 162 - 164 läßt sich rückblickend anhand der Gliederung des Hauptteils noch einmal regelrecht durchbuchstabieren: Sie entspricht nämlich in ihrem Aufbau ganz der Stufenabfolge von „abstraktem Recht", „Moralität" und „Sittlichkeit". Zunächst kommt es zu einer (hier jedoch nicht vollständigen) Loslösung von der ,Außensphäre' bloßer Neigung und Empfindung. Sodann wird eine Art inneres Objekt (der substantielle Ehezweck) entwickelt. Und schließlich w i r d dieses in sich schon relationale (in der „Moralität" auf den abstrakten, hier jedoch auf den konkreten Anderen bezogene) Vorstellungsobjekt auch in seiner Lebendigkeit ,nach außen' hin dargestellt. Der den §§ 162 - 164 vorgeschaltete programmatische Einleitungsparagraph zum Eheabschnitt (§ 161) verdeutlicht diese Entsprechung durch einen Hinweis auf das Ende der „subjektiven Logik". Danach wird zur näheren Erläuterung des „als Wirklichkeit der Gattung und deren Prozeß" vorgestellten Moments der „natürlichen Lebendigkeit" des Eheverhältnisses auf Ausführungen der Ideenlehre am Ende der Begriffslogik in der „Enzyklopädie" verwiesen. § 217 der „Enzyklopädie" 3 0 stellt das Lebendige als „Prozeß seines Zusammenschließens mit sich selbst" dar, „das durch drei Prozesse verläuft". Die nachfolgenden drei Paragraphen (§§ 218 - 220) entwickeln anschließend diese drei Prozesse. Der letzte von ihnen faßt die Entwicklung kurz zusammen: „ I n seinem ersten Prozeß (verhält sich) das lebendige Individuum ... als Subjekt und Begriff in sich". „Durch seinen zweiten (assimiliert es sich) seine äußerliche Objektivität und (setzt) so die reelle Bestimmtheit in sich ... so (daß) es nun an sich Gattung, substantielle Allgemeinheit" ist. Der dritte Prozeß schließlich stellt die „Besonderung" dieser „Gattung an sich" oder „substantiellen Allgemeinheit" als „die Beziehung des Subjekts auf ein anderes Subjekt seiner Gattung" dar. In den §§ 162 - 164 wird dieser dreistufige Prozeß auf die lebendige „Person" (§ 162) des Eheverhältnisses übertragen: ein Prozeß, von dem § 221 der „Enzyklopädie" schreibt, er bringe die Gattung zum „Fürsichsein". „Das Verhältnis der Gattung zu diesen so gegeneinander bestimmten Individuen" 29 Entsprechend rechtfertigt Hegel die Erforderlichkeit einer Zeremonie auch erst aufgrund ihres Zeichencharakters: die „Zeremonie als die Vollbringung des Substantiellen durch das Zeichen" (§ 164). 30 3. Aufl. (1830).

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bildet, dem vorangehenden Paragraph der „Enzyklopädie" zufolge, „das U r t e i l . . . - die Geschlechtsdifferenz". 5. Aus der Ur-teilung 3 1 der „sittlichen Substantialität als Begriff an sich", die in der Geschlechterdifferenz selbstbezüglich oder lebendig werde 32 , leitet § 166 dann eine Sphäre des Mannes und der Frau ab. Der natürlichen Geschlechtertrennung w i r d danach eine „Vernünftigkeit" zugesprochen, derzufolge ihr „intellektuelle und sittliche Bedeutung" zukommt. Erinnert diese Konstruktion auch sehr an Fichte 33 , so ist Hegel, im Gegensatz zu ihm, doch bemüht, dem Verhältnis von Mann und Frau als Geschlechterverhältnis direkt kein konstitutives Moment für die Begründung der Sittlichkeit des Eheverhältnisses beizumessen. Das zeigt schon die äußerliche Anordnimg der §§165 und 166 erst im Anschluß an die Ehebegründung der §§ 162 - 164, vor allem aber der Umstand, daß daraus keine weitergehenderen Konsequenzen gezogen werden, als die i n § 166 enthaltenen. Obwohl demnach auch hier das Verhältnis von Mann und Frau als natürliche Voraussetzung der Ehebegründung in die Darstellung eingeht, wird der natürliche Unterschied der Geschlechter, anders als bei Fichte, schon von Anfang an als ein bereits begrifflicher behandelt, der nicht erst noch in eine Vernunftstruktur, als nachfolgende Vergeistigung natürlicher Verhältnisse, ,übersetzt 4 werden muß 34 . Die sittliche Bedeutung der natürlichen Geschlechtsdifferenz bestimmt sich hier vielmehr unmittelbar „durch den Unterschied ... in welchen sich die sittliche Substantialität als Begriff an sich selbst dirimiert, um aus ihm ihre Lebendigkeit als konkrete Einheit zu gewinnen" (§ 165). Danach folgt der Unterschied von Mann und Frau bereits aus einem in sich differenten Begriff sittlicher Substanz, in dem eine Entwicklung zur „Lebendigkeit als konkrete Einheit" geradezu vorprogrammiert ist. Da die natürliche Voraussetzung der Entstehung dieses Unterschieds selbst wiederum auf Vereinigung und Unterschied der Geschlechter zurückgeht usf., kann so am Ende immer nur auf einen selbstbezüglichen Prozeß fortwährenden begrifflichen Dirimierens zurückverwiesen werden. Dadurch entsteht ein Zirkelschluß, der letztlich kein wirklich 31 Das Urteil begreift Hegel als Verhältnis von Allgemeinem und Einzelnem, das logisch beides umfaßt und nicht auf eine bloße Form oder Operation reduziert werden darf: vgl. dazu § 167 Rph iVm § 220 Enzykl. (3. Aufl.). 32 Vgl. § 165 Rph. 33 Deutlich tritt diese Parallele in einer Formulierung der Hotho-Nachschrift (WS 1822/23) zu § 165 zutage: „Der natürliche Unterschied ist also das Eine. Was aber dem Menschen natürlich ist, verwandelt er i n Geistiges und so ist der Unterschied in der Ehe auch geistiger." (Hegel, V-Rph III, 523); vgl. dazu Fichte, NR: §§ 2, 3, 4 (FamRAnh.). 34 Allerdings ist zu bedenken, daß auch bei Fichte dieser ,Übersetzungsprozeß' eher analytischer Natur ist. Beide Konstruktionen sind insofern keineswegs so verschieden, wie es zunächst den Anschein hat.

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erstes mehr kennt, ein „unendliche(r) Prozeß der sich erzeugenden und voraussetzenden Geschlechter" (§ 173). Gewissermaßen liegt darin schon ein Vorgriff 3 5 auf den selbstbezüglichen Prozeß der Begründung des vernünftigen Willens durch sich selbst, wie er mit der Darstellung des Kindes und seiner Erziehung im dritten Abschnitt des Familienkapitels entwickelt wird. Der auf eine Entwicklung zur „Lebendigkeit als konkrete Einheit" hin angelegte, dirimierende „Prozeß der sich erzeugenden und voraussetzenden Geschlechter" wird hier quasi in eine Person gebündelt, auf einen sich individuell entwickelnden Willensprozeß abgebildet. 6. Auf diesen Abschnitt soll hier sogleich näher eingegangen werden, da die noch folgenden Paragraphen des ersten Abschnitts über die Ehe für die weitere Entwicklung kaum mehr neues erbringen. Dies gilt in gewisser Weise auch für den recht knappen zweiten Abschnitt über das Vermögen. Die Darstellung dieser ökonomischen Seite der Familie konzentriert sich ganz auf die bloß interne Sicht ihrer materiellen Existenzsicherung (vgl. § 238). Externe, gesellschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse kommen erst (nach eingehender Entwicklung der gesamten ökonomischen Sphäre in der „bürgerlichen Gesellschaft") im Zusammenhang mit einer Darstellung der Korporation (§§ 250 - 256) - als einer „zweiten Familie", einer „zweiten sittlichen Wurzel des Staates" 36 - ausführlich zur Sprache. Kurz hingewiesen sei lediglich auf den immer stärker in den Vordergrund tretenden Sozialbezug der entwickelten Willensverhältnisse. Besonders deutlich tritt er in der Begründung des Inzestverbots (§ 168) zutage 37 . Aber auch die Erörterung des durch die „Sorge ... für ein Gemeinsames" (§ 170) bestimmten Familienvermögens und die Darstellung der Monogamie (als ungeteilter, vorbehaltsloser Hingabe) werden von ihm maßgeblich beherrscht 38 . Mit dem dritten Abschnitt beginnt dann die Darstellung einer selbstbezüglichen Reproduktion vernünftiger Willensverhältnisse. Die nur erst als „Innigkeit und Gesinnung" vorhandene „Einheit" des Elternverhältnisses, der selbst noch keine Gegenständlichkeit zukommt, durch die sie nach außen hin auch eigenständig i n Erscheinung treten könnte, tritt nun aus ihrer getrennten Existenz in zwei verschiedenen Personen heraus und wird im Kind als „Gegenstand" veranschaulicht (§ 173). Der zweite Teil des § 173 35

Vgl. insb. § 173. Vgl. §§ 252, 255; wie schon Grotius behandelt auch das pr. ALR die Familie quasi noch als Korporation, vgl. Wieacker 1967: 297. 37 Das Inzestverbot sprengt danach ein Identisches zugunsten seiner Ausdifferenzierung; als identisch galten i n den ältesten Formen des german. Rechts i m übrigen Kinder, Eltern und Geschwister - noch nicht als verwandt, dazu Mitteis / Lieberich 1981: 55 (mwN). 38 Vgl. § 167; Monogamie und Inzestverbot bilden auf diese Weise ein entsprechendes Komplementärverhältnis wie Selbst- und Sozialbezug des Willens. 36

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macht deutlich, was mit dieser Darstellung beabsichtigt ist: Das Elternverhältnis, das sich im Kind gegenständlich abbildet 39 , setzt seinerseits die Gegenständlichkeit zweier Personen voraus, die dieses Elternverhältnis bilden. Diese Voraussetzung soll jetzt als Selbstbegründung des „an und für sich freien Willens" thematisch werden: „Die Voraussetzung unmittelbar vorhandener Personen - als Eltern - (wird) hier zum Resultate, ein Fortgang, der sich in den unendlichen Progreß der sich erzeugenden und voraussetzenden Geschlechter verläuft" (§ 173) 40 . Im ersten Teil des dritten Abschnitts (§§ 173- 175) entwickelt Hegel vor diesem Hintergrund eine Erziehungs- und Bildungstheorie, die den skizzierten Rückgang ins Resultat 41 in ihren begrifflichen Voraussetzungen fassen soll 42 . Die Darstellung dieser Entwicklung folgt dabei wieder der Stufenabfolge des Gesamtaufbaus. Wie im „abstrakten Recht" steht am Anfang ein Bezug auf ein Objekt: auf das Kind als „Gegenstand". In ihm spiegelt die Selbstbezüglichkeit eines eigenständigen Willens quasi die „eine" sittliche „Person" (§ 162) des Verhältnisses der Eltern untereinander wider - eines Verhältnisses, das sich jedem Elternteil als die Differenz eines selbständigen Dritten (in Gestalt der von ihnen erstrebten „einen Person") darstellt, die im Kind „an sich" bereits in eine eigenständige Identität übergangen, „für sich" hingegen noch als selbstbestimmte Identität des Kindes zu entwickeln ist. Aufgrund dieser Konzeption bildet die Erziehung für Hegel - anders als bei Fichte - keinen erst „von außen" - über eine „Aufforderung" (NR 33) an das K i n d herangetragenen Prozeß. Die reflexionsbegründende Relationierung des „Gegenstandes" Kind wird vielmehr aus einem bereits von Anfang an selbstbezüglichen „Gegenstand" hergeleitet, nicht aus der Leistung eines anderen. Folglich haben die Kinder auch ein eigenes „Recht... ernährt und erzogen zu werden" (§ 174) 43 . Durch die Erziehimg wird somit nur ein ursprünglicher Selbstbezug der Vernunft zur Ausbildung gebracht, der dem Kind zwar zunächst noch unbe39 Als „die Weise, wie in der endlichen Natürlichkeit der einfache Geist der Penaten seine Existenz als Gattung darstellt" (§ 173). 40 Anders Fichte, der den Geschlechtsprozeß (aufgrund der Annahme einer notwendigen „Aufforderung zur freien Selbstthätigkeit") als endlichen konzipiert und ihn bei Gott als dem Erzieher des ersten Menschenpaares abbrechen läßt: NR 39. 41 Vgl. dazu auch § 141 Anm. 42 Vgl. zu dieser Thematik Pöggeler 1980; D'Hondt 1981; Eckstein 1980; Krautkrämer 1979: 182 - 249 sowie Siep 1979, der Anerkennung im Sinne eines Grundprinzips praktischer Philosophie als Struktur eines Bildungsprozesses von einzelnem und allgemeinem Bewußtsein faßt (aaO 17 f.), das sich sodann in einem System von Institutionen verkörpere (vgl. zu dieser Interpretation Göhler 1981). 43 So auch ausdrücklich §§ 85, 86 der Wannenmann-Nachschr. (Hegel 1983 a/ 1983b). - Dagegen wird dieses Recht bei Kant erst über den Gedanken der „Menschheit in meiner Person" vermittelt und von der Elternseite her begründet; vgl. zur kantischen Auseinandersetzung mit diesem Problem oben Kap. 1.2, Pkt. 3; zu den vorangegangenen Diskussionen um ein Recht des Kindes auf Erziehung vgl. Bingler 1960.

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wußt bleibt, jedoch in Gestalt der „Empfindung" bereits selbst darauf aus ist, einen empfundenen Mangel überwinden zu wollen 4 4 . In der „Notwendigkeit, erzogen zu werden", die „ i n den Kindern als das eigene Gefühl, in sich wie sie sind, unbefriedigt zu sein, als der Trieb, der Welt der Erwachsenen, die sie als ein Höheres ahnen, anzugehören, der Wunsch groß zu werden" (§ 175 Anm.), vorhanden ist, zeigt sich demnach das An-sich-Sein kindlichselbstbezüglicher Vernunft schon im Ansatz als in ein Für-sich-Sein übergegangenes. Die angestrebte vernunftorientierte Synthese eines subjektiven und gleichwohl nicht willkürlichen Willens, die konkrete Einheit von Selbst- und Weltbezug in einem schon triebhaft auf ,das Andere 4 der „Welt der Erwachsenen" gerichteten Willen, scheint damit erreicht. Fragwürdig bleibt jedoch eine recht ambivalente Mittlerrolle, welche die Sphäre der Empfindung in diesem synthetisierenden Prozeß einnimmt. Trat sie in Gestalt der Willkür beim „subjektiven Ausgangspunkt der Ehe44 in §162 noch als bloßer Zufall in Erscheinimg, der neben einer deutlichen Option für „elterliche Veranstaltungen 4445 gerade toleriert wurde, so hat sie als kindliches Gefühl des Mangels offenbar wieder alle Spuren der Zufälligkeit abgestreift und kann nun ganz als begriffene Naturnotwendigkeit dargestellt werden. Eine Auflösung dieses Widerspruchs könnte sich allerdings dadurch ergeben, daß auch hier, analog zu § 3 der Einleitung, in einen formalen und inhaltlichen Aspekt unterschieden wird. Wie die Positivität des Rechts dort formal durch seine notwendige Geltung schlechthin, den Umstand, daß Recht gilt, gekennzeichnet ist, während die inhaltliche Seite als zunächst noch relativ zufällig gefaßt wird, die es erst im einzelnen zu entwickeln gilt, so läßt sich auch die Mangelempfindung des Kindes allein auf den Umstand beziehen, daß es sich als ein Noch-nicht-Realisiertes, Unvollkommenes empfindet, während die mit dem Streben nach der „Welt der Erwachsenen 44 verbundene Frage, wie diesem Mangel nunmehr abzuhelfen sei, eine inhaltliche Seite und damit ein Moment des Zufalls miteinbringt. Da dieses Zufallsmoment nun aber gerade den Motor einer konkreten Mangelbeseitigung darstellt, steht es der Notwendigkeit nicht etwa schroff gegenüber, sondern bildet selbst einen integralen Bestandteil jener Vernunftstruktur des Willens, die sich über den Weg der Willkür und einer ihn reflektierenden Selbsterfahrung überhaupt erst herausbilden kann. Auf diesem Weg verliert der Zufall zugleich den Charakter einer vom Notwendigen nur erst abstrahierenden Zufälligkeit. 44 Vgl. § 175 (insbes. den 2. Teil der Anm.); i n der Geistphil. v. 1803/04, einer Vorarbeit zur Jenaer Realphil. v. 1805/06, wird zu diesem Thema notiert: „ I n der Erziehung hebt sich die bewußtlose Einheit des Kindes auf; sie gliedert sich in sich, sie wird zum gebildeten Bewußtsein" (GW Bd. 6: Jenaer Systementwürfe I, 304,13 - 14). 45 Vgl. § 162 Anm. (1. Teil).

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Die Seite abstrahierter, noch unentwickelter, beziehungsloser Zufälligkeit, wie sie der Empfindung gleichfalls zukommt, bildet neben der Abhängigkeit von gesellschaftlichen Verhältnissen (die aus der hier noch isolierten Sichtweise der Familie zunächst einmal noch ebenso kontingent erscheinen) allerdings nun auch den wesentlichen Faktor für die latente Instabilität familiärer Verhältnisse. Sie werden i n dieser Beziehung mehr bestimmt, als sie sich selbst zu bestimmen in der Lage sind. Entsprechend vermögen sie das Dasein des einzelnen, mit zunehmender Differenzierung der Lebenswelt, immer weniger in seiner Totalität zu erfassen: In seiner ganzen Existenz erreichen sie den einzelnen schon nicht mehr als einen Lebenden, sondern erst als einen Toten, wie Hegel zum Begräbnis in der „Phänomenologie des Geistes" schreibt 46 . Eine vernünftige Vermittlung von Willkür und sozialbezüglichem Willen ist so innerhalb der Familienverhältnisse von vornherein nur noch begrenzt möglich. Die umfassende Ausbildung eines vernünftigen Willens in seiner Totalität verlangt jedoch gerade die Einbeziehung der gesamten Existenz des einzelnen schon als einem Lebendigen und nicht erst Toten. Die „bürgerliche Gesellschaft" ist diese Lebendigkeit nur erst zum Schein. Daß sie an diesem Schein nicht zerbricht, sich dieser Schein nicht zum Wesen der Gesellschaft schlechthin erhebt, ist eine prinzipielle Annahme Hegels, die er, hergeleitet aus dem Grundkonzept praxisimmanenter Vernünftigkeit, mit dem Gedanken der „sittlichen Auflösung der Familie" verknüpft, wie sie durch die Volljährigkeit des „zur freien Persönlichkeit erzogen(en)" Kindes herbeigeführt werde 47 . In ihm, als vernünftig ausgebildetem Individuum, soll die Idee einer sozialen Gesellschaft gegebenenfalls auch noch in ihrer Verkehrung weiterleben können. Mit der Korporation, „darin das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurückkehrt" (§ 249), tritt diese Idee schließlich auch als eine materiell zu realisierende in Erscheinung. Ihr fällt die Aufgabe zu, der Familie eine ökonomische Existenzgrundlage zu sichern 48 - eine Möglichkeit, die der zweite Abschnitt über die Familie (§§ 170 - 172) erst stillschweigend voraussetzte 49 . 46 WW Π, 343; vgl. dazu auch Horkheimer 1972:1, 346 ff. 47 Vgl. § 177. - Ein anderes gilt allein für die fürstlichen Familienverhältnisse: „Die Familie des Fürsten ist die einzige positive, die anderen sind zu verlassende. Das anderé Individuum gilt nur als entäußertes, gebildetes, als das, zu was es sich gemacht hat", so Jenaer Realphil. v. 1805/06 (GW Bd. 8: 264,11 - 13). 48 Vgl. § 253 iVm § 247; zu § 247 vgl. auch C. Schmitt (1981), der die Geschichte als eine Auseinandersetzung zwischen „Landtretern" und „Seeschäumern" zur Darstellung bringt: als „Anfang eines Versuchs . . . diesen § 247 in ähnlicher Weise zur Entfaltung zu bringen, wie die §§ 243 - 246 im Marxismus zur Entfaltung gebracht worden sind" (aaO 109); zum hier bezogenen Dualismus von Land und Meer vgl. im übrigen schon Aristoteles: Pol. 1 11 1258b 22 - 25. 49 Diese Perspektive w i r d nicht zuletzt durch die Einordnung des Erbrechts am Ende des Familienabschnitts hervorgehoben, das nicht als vermögensrechtliche Disposition, sondern ausschließlich als Mittel, den Fortbestand der Familie ökonomisch zu sichern, begriffen w i r d (vgl. § 178), was die K r i t i k an Fichtes „Einfall", das

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So bildet die Darstellung des Kindes und seiner Erziehung rückblickend den entscheidenden Schritt zur Grundlegung eines konkreten Vermittlungszusammenhangs zwischen Selbst- und Weltbezüglichkeit des Willens. Anstelle einer Begründung sozialer Individualität durch außengeleitete Sozialisation oder moralisch motivierter Handlungseinschränkung tritt hier der Entwurf eines ursprünglich selbstbezüglichen Willensverhältnisses, das über seinen praxisorientierten Weltbezug von Anfang an bereits einen Bezug auf den Willen anderer miteinschließt. Erst aus diesem Entwurf ursprünglicher Selbstbezüglichkeit werden nachfolgend Sozialisationsleistungen und moralische Handlungsmotivationen des Willens hergeleitet. Die in diesem Zusammenhang entwickelte Konzeption der im Kind anschaulich gewordenen Mitte gegenseitiger Willensverhältnisse - eine Konzeption, die sich bis in die späten Jugendschriften zurückverfolgen läßt und anhand der Geiststruktur des Willens erstmals in der Jenaer Realphilosophie (1805/06) desnäheren herausgearbeitet w i r d 5 0 - kehrt im übrigen später in der Figur des Monarchen wieder. Da jedoch nicht mehr nur als Mitte zweier aufeinander bezogener Willen, wie beim Kind, worin sich das Willensverhältnis der Eltern in eine Person bündelt, sondern als Mitte der Totalität aller wechselseitigen Willensverhältnisse: als das „Individuelle des Staats als solches" (§ 279), in dem sich alle Untertanen anschaulich werden. „Ich bin Regent", heißt es dazu in der Jenaer Realphilosophie von 1805/06, den Gedanken eines personifizierten Willensverhältnisses auf die Spitze treibend, gar 5 1 . Und ebenso wie das kindliche Erziehungsrecht aus dem naturnotwendigen Trieb einer ursprünglich vernünftigen Selbstbeziehung des Willens abgeleitet wurde 5 2 , so resultiert auch dies „letzte Selbst des Staatswillens" (§ 280) aus einer bereits naturnotwendig vernünftigen Bestimmtheit. Die ganze Lehre der Erbmonarchie findet danach in der Kind-Konzeption des Familienabschnitts gewissermaßen ihre Keimzelle. Anders als Kant, der, im Anschluß an Achenwall, für kurze Zeit zwar auch einmal genetische Aspekte in seine Erziehungstheorie miteinbringt 5 3 , sie dann aber aus prinzipiellen Erwägungen (infolge der mittlerweile konzipierten Zwei-Welten-Lehre) vollständig verwirft und das K i n d sogleich abstrakt als Teil der Menschheit faßt; anders auch als Fichte, der die Wiederberücksichtigung des genetischen Moments mit einer weitgehenden Objekthaftigkeit des Kindes erkauft, dessen Verfügbarkeit im nachdrückErbrecht lediglich auf Zufall und Gewohnheit zu begründen (§178 Anm. - mit indirektem Bezug auf Fichtes NR, § 60 FamRAnh.), ebenso deutlich macht, wie sein Votum zugunsten einer Intestaterbfolge in § 180. 50 Vgl. dazu Nohl 380f. (JugSchr.); Hegel 1967:19 (Syst. d. Sittl.); GW Bd. 8: 208ff., 212, 213 (Jenaer Realphil. v. 1805/06). si Vgl. GW Bd. 8:256, 8. 52 Vgl. § 175 Anm. und oben F N 43. 53 Vgl. dazu oben Kap. 1.2 bei F N 19.

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lieh propagierten Dienst staatlicher Erziehungszwecke die bedenklichsten Folgen zeitigt 5 4 , vertritt Hegels Konzeption der vernünftigen Mitte, jedenfalls ihrem Ansatz nach, entschieden einen gleichermaßen autonomen wie praxisimmanenten Entwicklungsprozeß kindlicher Vernunft, den sie (über den Gedanken einer selbstbezüglichen Genese praxisorientierter Vernünftigkeit) jedweder nur objektivierenden Verfügungsgewalt entzieht. Indessen führt die Vorstellung einer „an sich" immer schon übergegangenen, das kindlich Unbewußte zunächst triebhaft affizierenden, dann durch Reflexion in individuelles Bewußtsein konkretisierenden Vernunft, zu einem Dilemma, das schon dem aristotelischen Konzept praxisimmanenter Vernünftigkeit eigentümlich ist. Hier wie dort bedarf es offenbar erst noch einer grundsätzlichen Vorentscheidung darüber, ob und wo Grenzen zwischen einer vernünftigen Lebensführung und einem bloß umweltbedingten Adaptionsverhalten verlaufen, was ein dem „Guten und Angenehmen" angehöriges, umgrenztes, vernünftiges Leben von einem kummervollen, unumgrenzten, unvernünftigen unterscheidet 55 . Doch scheint bereits die ganze Konzeption gegen die Möglichkeit einer solchen Trennung zu sprechen. Wie aus der kindlichen Welt der Erwachsenen schließlich einmal die Welt des erwachsenen Kindes wird, bestimmt sich dem Reflexionsprozeß zudem auf ganz verschiedene Weise - und dem abstrakter K r i t i k gegensteuernden Ansatz nach auch einzig und allein in dieser Weise. Ist eine feste Unterscheidung danach aber kaum mehr möglich, muß dies doch nicht unweigerlich auch schon bedeuten, daß an eine solche überhaupt nicht mehr zu denken wäre. Die subjektiver Übersichtlichkeit entschwindende Autonomie praxisimmanenter Vernunft - die in der Konstruktion des Monarchen, wenn auch schon völlig unbegreiflicherweise 56 , so doch mindestens der (etwa gar ironisch gemeinten) Anschauimg (eines „Ich bin Regent") halber (?), noch ein letztes Mal in die Einheit eines einzelnen Subjekts gebannt w i r d - könnte vielmehr in Form einer Autonomie interpersonaler Praxis Handlungsmöglichkeiten freisetzen, in denen sich eigene Vernunftkriterien (für die ihre Theorie, wie es gegen Ende der „Vorrede" heißt, „ohnehin immer zu spät kommt") allererst noch schafft. Hegels Konzept praxisimmanenter Vernünftigkeit, das die fest vorgegebenen Umgrenzungen seiner aristotelischen Variante mit Hilfe des kantischen Reflexionsmodells ersatzlos aufbricht, dessen Plädoyer zugunsten autonom reflexionsgesteuerter Vernunftprozesse und die damit einhergehende Selbstbeschränkung theoretischer Ansprüche legen eine solche Deutung durchaus näher, als sie es auf den ersten Blick vielleicht zu sein scheint. 54

Vgl. dazu Kap. 1.3: F N 65. Vgl. dazu Aristoteles: NE I X 1170 a 19 - 24. 56 Vgl. die Formulierungen in § 279: „der schwerste Begriff für das Räsonnement", „das schlechthin aus sich Anfangende", „grundlose Selbstbestimmung des Willens" usw. 55

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2. Teil: Grundlagen und Herleitung der Familientheorie Hegels 3. Z u m Verhältnis von Theorie und Geschichte des Familienrechts bei Hegel

1. Als analytische Rekonstruktion praxisimmanenter Vernunftformen in Gestalt vernünftiger Willensverhältnisse geht die Rechtsphilosophie Hegels methodisch von einer Handlungspraxis aus, die ihr gewissermaßen historisch vorgegeben ist. Daß jedoch auch das von ihr Rekonstruierte nur ein historisch Vorgegebenes sein könnte, ist ein Verdacht, den das Werk seit jeher auf sich gezogen hat. Wie Aristoteles die notwendige Umgrenzimg guten Lebens an den vorhandenen Einrichtungen der antiken Polis orientierte, hat danach auch Hegel die Umgrenzungen eines vernünftig Gewollten ausschließlich an zeitgenössischen Zielvorgaben ausgerichtet. Ist die entwickelte Theorie demnach lediglich ein Reflex historischer Zustände, der Bildungsprozeß nur eine Formierung entsprechenden Bewußtseins - ein bloßer In-formationsprozeß? Bekanntermaßen ist diese Frage der zentrale Streitpunkt zwischen Linksund Rechtshegelianern 1. Doch ob dieser Streit, so interessant er im einzelnen auch sein mag, ein für die Theorie selbst fruchtbarer ist, kann aus grundsätzlichen Erwägungen heraus eher bezweifelt werden. Denn nicht der Inhalt selbst ist hier letzten Endes von Interesse, sondern die Form seiner Rechtfertigung. Darüber ist mit inhaltlichen Vorgaben aber gerade nicht zu entscheiden. Eine gewisse Aufklärung des Verhältnisses von Theorie und Geschichte des Familienrechts bei Hegel könnte sich demgegenüber aus einem Vergleich mit Legitimationsverfahren ergeben, wie sie in der (historischen) Praxis zur Rechtfertigung eines inhaltlich Gewollten angewandt werden. Dazu bietet sich vor allem ein Vergleich mit zeitgenössischen juristischen Theorien an, mit dessen Hilfe sich mögliche historische Bezüge in Form von Einflüssen juristischer Konstruktionen auf Hegels Theoriebildung feststellen ließen, oder umgekehrt ein über juristische Theorien vermittelter Einfluß Hegels auf die Praxis. Eine direkte Beeinflussung hegelscher Familienrechtskonstrukte seitens der Rechtswissenschaft ist jedoch nicht festzustellen. Nichts deutet auf einen ähnlich gravierenden Fund, wie Darjes' einzigartige Durchbrechung des römisch-rechtlichen Dualismus persönlich-dinglicher Rechte im Fall Kants 2 . Zwar lassen sich auch bei Hegel einzelne Übereinstimmungen mit zeitgenössischen Rechtsansichten finden. Das Dispositionsrecht des Vaters als patriarchalischem Familienoberhaupt etwa, von dem in § 171 die Rede ist, findet sich natürlich auch im preußischen Allgemeinen Landrecht von 17943. Und gewisse äußere Übereinstimmungen lassen sich auch über Ein1 Einen guten Überblick gibt Ottmann 1977. 2 Vgl. dazu oben Kap. 1.1, Pkt. 6 (nach F N 50).

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zelfragen hinaus noch ausmachen. Der geradezu programmatisch gefaßte § 1 im 2. Teil des pr. ALR v. 1794 liefert dazu das beste Beispiel: „Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung der Kinder." 4 Im ganzen gesehen sind die entscheidenden Einflußfaktoren jedoch allein auf philosophischer und nicht auf juristischer Seite zu suchen, was sich vor allem entwicklungsgeschichtlich recht eindeutig nachweisen läßt 5 . Auch in der entgegengesetzten Richtimg ergeben sich für eine mögliche Beeinflussimg der Rechtswissenschaft durch Hegel kaum Anhaltspunkte. Während sich ein Einfluß Kants auf die Rechtswissenschaft im Bereich des Familienrechts recht deutlich aufzeigen läßt, - Arnold Heise beispielsweise nimmt schon in der 1. Auflage seines „Grundrisses eines Systems des gemeinen Civilrechts" (1807) ausdrücklich auf § 22 der kantischen „Rechtslehre" Bezug und behandelt in späteren Auflagen das Familienrecht unter dem Titel „dinglich-persönliche" Rechte, eine Bezeichnung, die auch Schweppes „Römisches Privatrecht" 6 (ebenfalls unter ausdrücklicher Berufung auf Kant) für die Materie des Familienrechts nachdrücklich gutheißt, wie sich schließlich auch Puchta zur Rechtfertigung seiner familienrechtlichen Rubrik „Rechte an anderen Personen" (worin „Rechte an Sachen" und „Rechte an Handlungen" zu einer Einheit verbunden sein sollen) explizit auf Kant bezieht 7 - scheint die Suche nach einem Einfluß Hegels auf die Familienrechtswissenschaft recht wenig Aussicht auf Erfolg zu versprechen. Nach Verweisen auf Hegel blättert man in den Lehrbüchern der Zeit jedenfalls nahezu vergeblich. Schon gar nichts scheint für eine nachhaltige Beeinflussung, insbesondere der Gesetzgebung, zu sprechen, mögen sich auch bei Savigny 8 , bei dem „philosophischen Hofpropheten" 9 Stahl 1 0 oder den romantisch-restaurativen Staatslehren von Haller und Adam Müller direkte oder indirekte Sympathieerklärungen i n Richtung auf Hegels Familienrechtskonstruktion finden. Insgesamt resultieren diese Äußerungen jedoch mehr aus allgemeinen Zeitströmungen, als daß hier von einem Einfluß Hegels die Rede sein könnte. 3 Wie weit diese Vorstellung geht, zeigt § 68 (2. Teil, 2. Titel): „Wie lange sie (sc. die gesunde Mutter, die im vorangehenden Paragraphen verpflichtet wird, ihr K i n d selbst zu säugen) dem K i n d die Brust reichen soll, hängt von der Bestimmung des Vaters ab." - Unterdessen empfanden schon die Zeitgenossen derartige Reglementierungen als i n höchstem Maße lächerlich: vgl. dazu Koselleck 1981: 113. 4 Erst an zweiter Stelle - wie nicht nur an der Paragraphenabfolge, sondern bereits an der Formulierung zu ersehen ist - w i r d auch die kinderlose Ehe anerkannt: „Auch zu wechselseitiger Unterstützung allein kann eine gültige Ehe geschlossen werden."

(§ 2).

5 Vgl. dazu Göhler 1974: 534f. 6 Vgl. Bd. 4, 4. Aufl. (1832) l f . 7 Vgl. dazu Müller-Freienfels 1973: 647 f. β Vgl. etwa Savigny 1840:1, 347, 351; III, 319ff. 9 So Hattenhauer 1971: 172. Vgl. etwa Stahl 1833: I I / l , 162.

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Eine Ausnahme gilt lediglich für das bei Hegel dem Familienrecht zugeordnete Erbrecht. Dieser Zusammenhang von Erb- und Familienrecht, der über das Familienvermögen „als gemeinsames Eigentum" (§ 171) begründet ist, wird relativ schnell rezipiert und erweist sich für die Ableitung des Ehegattenerbrechts und die Forderung, das Erbrecht bei einem bestimmten Verwandtschaftsgrad abzubrechen, von einiger Bedeutung. Jedoch zeigt sich auch hier recht bald ein nur oberflächlich instrumenteller Gebrauch der hegelschen Theorie. So w i r d sie mit dem Argument, durch Erbteilungen werde die Sitte des Hauses „ i n Fetzen gerissen wie das Vermögen" (Riehl), zur Begründung von Fideikommissen eingesetzt, die Hegel ausdrücklich als unsittlich verwirft (vgl. § 180 Anm.). Oder sie wird, entgegen Hegels Option für eine Intestaterbfolge (vgl. §§ 179 - 180), - unter Berufung auf die Theorie der sittlichen Auflösimg der Familie (§§ 177 - 180), - ausgerechnet zur Begründung der Testierfreiheit herangezogen 11. Ein direkter Vergleich der Familientheorie Hegels mit Herleitungen des Familienrechts in der zeitgenössischen Rechtswissenschaft verläuft damit im ganzen recht erfolglos. Auf dem Umweg einer weiträumigeren Vergleichsgrundlage, die auch die Entwicklungsgeschichte des familienrechtlichen Begründungszusammenhangs berücksichtigt, könnte er in Ansätzen allerdings doch noch gelingen. Denn mit der Entstehungsgeschichte familienrechtlicher Institute und der ihnen zugeordneten Legitimationsformen würde zugleich auch jenes Spannungsverhältnis zwischen individuell Gewolltem und historisch vorgegebener Institution deutlicher zum Vorschein kommen, das letztlich hinter der K r i t i k steht, Hegel fixiere das vernünftig Gewollte einseitig auf den Bereich vorfindlicher Institutionen und liefere damit nicht mehr als eine spiegelbildliche Theorie der bürgerlichen Gesellschaft. Zum Abschluß der vorliegenden Arbeit soll ein solcher Vergleich ansatzweise versucht werden. Dazu wird zunächst, im Rahmen eines etwas längeren rechtshistorischen Exkurses, die neuzeitliche Entwicklungsgeschichte des familienrechtlichen Zentralinstituts der Ehe betrachtet (Pkt. 2), die durch den Gegensatz von Vertragsverhältnis und Institution geradezu charakterisiert ist. Anschließend werden die dort gefundenen Begründungsstrukturen mit denjenigen im Vermittlungszusammenhang von Selbst- und Weltbezug des Willens bei Hegel verglichen (Pkt. 3). 2. Rechtshistorischer Exkurs 2.1 Als Ausgangspunkt der rechtshistorischen Betrachtung soll eine Kontroverse dienen, die das Problem der Rechtfertigung historisch gewachsener Institute ausdrücklich zu ihrer zentralen Streitfrage erhob: Lassen sich 11

Vgl. dazu Klippel 1984: 160 - 164 (mwN).

3. Theorie und Geschichte des Familienrechts bei Hegel

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bestimmte juristisch-gesellschaftliche Strukturen schon ausreichend mit dem Faktum ihrer geschichtlichen Entstehung rechtfertigen oder bedarf es dazu noch einer ganz anders gearteten Legitimationsbasis? Von letzterem ausgehend eröffnete Eduard Gans einen aufsehenerregenden Streit um die Rechtsnatur des Besitzes 12 , der die juristische Fachwelt in zwei Lager spaltete, die sogenannten „Besitzlinge" wie Pilze aus dem Boden sprießen ließ und auf das nicht-juristische Publikum eine bis heute einzigartig gebliebene Faszinationskraft ausübte, die sich dem sicheren Bewußtsein verdankte, daß hier weit mehr verhandelt wurde, als nur ein fachwissenschaftliches Stekkenpferd. Ob der Besitz nun ein Recht sei oder keines, war als ein desweiteren denn doch eher belangloser Streitgegenstand im engeren Sinne nicht die eigentliche Frage dabei. Mit welchen Konstruktionen auch immer hätten sich die gewünschten Rechtsfolgen auf die eine oder andere Weise auch lautloser bewerkstelligen lassen. Darin haben Juristen schließlich seit Jahrhunderten Übung genug. Der eigentliche Streitpunkt bei der Frage, was der Besitz rechtlich darstellt, welche Stellung ihm im Rechtssystem zufällt und wie sich bereits aus ihm, und nicht erst aus dem Eigentum, Rechtsfolgen in Gestalt der Ersitzung (Usucaption) sowie der Besitzschutzklagen (Interdicte) herleiten lassen, war vielmehr das Problem, wie, im Falle eines NichtRechts, bereits aus einem bloßen Faktum Rechtsansprüche erwachsen können: Ein Problem bei dem der Figur des Besitzes in der Tat eine geradezu paradigmatische Schlüsselstellung zufällt, was von den zahlreichen aktiven und passiven Teilnehmern an dieser Auseinandersetzung auch rasch wahrgenommen wurde. Eine dem Besitzrechtsstreit nicht unähnliche Problematik bildet in der Sache nun aber auch die Herleitung des Familienrechts, insbesondere die Herleitung der familienrechtlichen Zentralfigur der Ehe. Bevor Eduard Gans 1827 in seinem „System des römischen Civilrechts im Grundrisse" 13 auf breiter Front den Angriff gegen vermeintliche Ungereimtheiten der savignyschen Besitzlehre 14 eröffnete und damit jene weitläufige Auseinandersetzung mit der historischen Rechtsschule15 auslöste, hatte er mit dem 2. Band seines „Erbrechts in weltgeschichtlicher Entwicklung" (1825) bereits eine Polemik gegen die von ihm als „Phrase" titulierte These Hasses hinter sich gebracht, die Ehe sei lediglich „bloßes Faktum", „Naturverhältnis", aber „an und für sich gar kein Recht und Rechtsverhältnis": Für Gans indessen nur ein Vorwand, um den vermeintlichen Urheber dieser Theorie des „brutum factum" namhaft machen zu können, aus dem im Zuge der 12 Vgl. dazu Braun 1980; zu Hegels Auseinandersetzung mit Savignys „Recht des Besitzes" vgl. Pöggeler, in: Hegel 1983b: X X X I V f . 3 ι Berlin 1827 - vgl. dort insbes.: 28ff., 202ff. 14 Gans bezieht sich dabei auf die 4. Aufl. von Savignys „Recht des Besitzes" (Gießen 1822). is Vgl. dazu Schild 1978/79.

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Restauration dann ganz unversehens Rechtsansprüche hergeleitet werden sollten: Savigny mit seinem Buch über das „Recht des Besitzes" 16 . Standort und Argumentation der Seite, gegen die sich solch vehemente K r i t i k letztlich richtete, lassen sich auf dem hier interessierenden Gebiet des Eherechts gut in Savignys „Darstellung der in den Preußischen Gesetzen über die Ehescheidung unternommenen Reform" (1844) studieren: eine im Anschluß an die weitgehend gescheiterte preußische Ehegesetzgebungsreform (an der Savigny als preußischer Gesetzgebungsminister bekanntlich federführend, wenngleich tatsächlich mehr nur von Amts wegen beteiligt war) verfaßte Schrift, die sich i n erster Linie wohl einem Rechtfertigungsbedürfnis verdankt 17 . Im Mittelpunkt dieser Darstellung steht das Plädoyer zugunsten einer (dem Reformvorhaben ausdrücklich aufgegebenen) Erschwerimg der Ehescheidung, die zur Stabilisierung der Eheinstitution als einem sittlichen Verhältnis beitragen soll. Dieses Plädoyer wird über eine systematische Analyse der nach Savigny für das Rechtsverhältnis der Ehe relevanten drei Gesichtspunkte: Rechtsschutz, individuelle Freiheit und Würde der Ehe als Institution vorgetragen. Nachdem das Rechtsverhältnis der Ehe durch seine „grundlegenden Verschiedenheiten" von den „übrigen Verhältnissen des Privatrechts", insbesondere vom Sachen- und Schuldrecht, abgegrenzt und die „doppelte Natur der Ehe" (deren „Wesen ... zum großen, ja wichtigsten Teil nicht auf einem rechtlichen, sondern auf einem sittlichen Verhältniß" basiere) 18 als deren charakteristisches Merkmal herausgestellt wurde, geht der Verfasser daran, den weitläufigen Streit um die einzuschlagende Richtung der Ehegesetzgebung mittels einer systematischen Durchleuchtung der „inneren Schwierigkeiten der Sache selbst" 19 zu entscheiden. Dazu werden die gegensätzlichen Meinungen in drei einander widersprechende Gesichtspunkte aufgeteilt, dem drei unterschiedliche Perspektiven auf das Rechtsverhältnis der Ehe entsprechen: das Recht kann sich danach (1) auf den Schutz der Ehepartner gegeneinander, (2) auf die individuelle Freiheit des einzelnen Ehepartners und schließlich (3) auf die Ehe als Institution selbst beziehen. Letzteres stellt, wie schon sehr bald deutlich wird, nicht nur den 16 Vgl. zu dieser »Vorgeschichte' des Besitzrechtsstreits: Gans 1963: II, Xlf., 267ff., 291 ff.; auf Seite 269 spielt er im Zusammenhang mit der „Phrase" Hasses auf das „berühmte Buch des Herrn Savigny über den Besitz" an, „das auch so beginnt: der Besitz sei eigentlich ein Faktum und kein Recht" ; zur Darstellung des Ehekonsens als „faktische Lebensvereinigung" bei Hasse vgl.: Hasse 1824: § 31; zum Ganzen: Braun 1980: insbes. 464, 500. 17 Die Schrift findet sich auch im 5. Bd. der „Vermischten Schriften" (Bln. 1850) abgedruckt und ist auszugsweise - mit den hier interessierenden Passagen (= S. 5 - 19 der Ausg. v. 1844) - i n der „Ztschr. f. d. ges. Familienrecht" (FamRZ) 1969: 1 - 4 wiedergegeben; zu den Hintergründen der Eherechtsreform vgl. Buchholz 1981a, dort insbes.: 173ff. (Berufung Savignys); vgl. auch ders. 1979: 165ff. 18 Entsprechend Fichte: siehe oben Kap. 1.2. 19 Savigny 1969: 2 (1. Sp.).

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„wichtigsten und eigentümlichsten Gesichtspunkt" dar, sondern zugleich auch den einzig entscheidenden. Die sich bei den ersten beiden Gesichtspunkten ergebenden Schwierigkeiten, einen gegenseitigen Rechtsschutz de facto angeblich kaum durchsetzen und die individuelle Freiheit, „als Thatsache (die w i r uns oft) nothgedrungen gefallen lassen müssen", auch nicht ganz unterschlagen zu können 20 , führen danach in bezug auf die Scheidungsfrage zu folgendem Dilemma: Während nach dem ersten Gesichtspunkt (gegenseitiger Rechtsschutz der Ehepartner) die Scheidung nur im gegenseitigen Einvernehmen zulässig ist, da ansonsten die ehelichen Rechte des Partners verletzt würden, führt eine alleinige Berücksichtigimg des zweiten Gesichtspunkts (individuelle Freiheit) zu dem Ergebnis, daß auch eine einseitige, willkürliche Ehescheidung möglich sein kann. Savignys Lösung: eine ausschließliche Option für den dritten, institutionellen Gesichtspunkt, der den ersten, den Gedanken des gegenseitigen Rechtsschutzes, in sich aufnehmen soll. Aus drei Perspektiven werden so zwei - und zum Schluß nur eine einzige: die Betrachtung der Ehe als Institution. Der interessanteste Zwischenschritt dabei: die im Rahmen der Ausklammerung individueller Freiheit als einem eigenständigen Gesichtspunkt behandelte Ambivalenz der Ehe als Personenverbindung und Institution. Als Institution ziele die Ehe grundsätzlich auf Beständigkeit, als bloßes Personenverhältnis dagegen nicht notwendigerweise ebenfalls. Letzteres soll aufhören, wären doch dann institutioneller und interpersonaler Aspekt ebenso zur Übereinstimmung gebracht, wie derjenige noch verbleibender individueller Freiheit. Daß dazu gleichsam das Pferd von hinten aufgezäumt wird, die Übereinstimmung durch eine strengere Scheidungsregelung erreicht werden soll, ist, weiträumiger betrachtet, nur eine historisch bedingte Variante, institutionelle Aspekte ins Spiel zu bringen, nachdem einer Verfügbarkeit über individuelle Freiheiten schon bei der Eheschließung selbst mit einem sich ausbreitenden subjektiven Freiheitsbewußtsein die gesellschaftlich sanktionierten Zugriffsmöglichkeiten 21 größtenteils entzogen sind. Die dahinterstehende Begründungsstruktur jedoch dürfte völlig ahistorischer Natur sein und findet sich der Sache nach schon in der aristotelischen Mesotes-Lehre: Abgestellt wird darin auf eine tradierte und in dieser Tradition als „richtig und wünschenswert", „gesund und normal" anerkannte Form einer Personenverbindung, der normwidrige - „krankhafte" - Verfallsformen gegenübergestellt werden 22 .

20

Vgl. aaO. Nicht zuletzt auch aufgrund ökonomischer Interessen an einem atomisierenden Individualismus und einer damit verbundenen sozialen Mobilität. 22 Savigny 1969: 3 (1. Sp.). 21

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In zirkulärer Weise ist danach immer schon begründet, was begründet werden soll. Das Schlüsselwort dazu heißt Rechtschaffenheit: „Der gesunde oder normale Zustand der Ehe läßt sich am treffendsten als rechtschaffende Führung des ehelichen Lebens bezeichnen 23 - wobei die Recht-schaffende Tugend der Rechtschaffenheit praktisch nur noch als reproduzierende gedacht wird 2 4 . Desto größer der Anteil des in diesem Sinne kodifizierten und dadurch freier Verfügbarkeit entzogenen Rechts, so der daraus gefolgerte Gedankengang Savignys, desto weniger Irrwege bleiben der Moral. Der Staat als moralische Anstalt 2 5 tritt auf diese Weise, über ein gesetzliches Erziehungsprogramm, in die Fußstapfen der Kirche 2 6 , die es in dieser Form einmal aus der Taufe gehoben und damit bereits selbst den sog. Prozeß der Säkularisierimg eingeleitet hat. 2.2 Die Suche nach dem Ursprung dieser Entwicklung führt ins 16. Jahrhundert, in die Zeit der Reformation und Gegenreformation. Nachdem die maßlose Verschwendungssucht der Borgia-Päpste und ihre skrupellosen Finanzierungspraktiken die weitgehende Verselbständigung eines von öffentlicher Moral losgelösten politischen Bereichs allseits deutlich vor Augen geführt und Luther das auf diese Weise entstandene Legitimationsdefizit kirchlicher Gewalt wirkungsmächtig proklamiert hatte, galt es für beide Seiten, für Reformation wie Gegenreformation gleichermaßen, Mittel und Wege zu finden, sich aus einer Krise zu retten, die mit der grundlegenden Fragwürdigkeit institutionell verfügbarer Moral durchaus zugleich auch die eigene Existenzberechtigung bedrohen konnte. Während der Protestantismus erst einmal Zuflucht bei altbewährten Traditionen und Autoritäten nahm, die sich in einem rückwärtsgewandten, an spätgotischen Vorbildern orientierten protestantischen Kirchenbau 27 ebenso widerspiegelten, wie in dem kräftig betriebenen Aristoteles-Kult der protestantischen Lehre und Wissenschaft 28 , trat der Katholizismus gleichsam die Flucht nach vorn an. Statt sich auch weiterhin allein auf vorgegebene Autoritäten zu verlassen, was nach den vergangenen Ereignissen kaum mehr zu großen Hoffnungen berechtigen konnte, suchte die Kirche nach einer Möglichkeit, verstärkt sich selbst als Institution 2 9 mit originären Autoritätsbefugnissen auszustat23

Vgl. aaO.; zu Hegel vgl. § 150 Rph. Vgl. Savigny aaO 4 (r. Sp.): Den Maßstab liefert dabei die Sitte der höheren Stände: „ I n den höheren Ständen nun findet die bessere Sitte eine kräftige Unterstützung an dem durch die gesellschaftlichen Verhältnisse wirkenden Ehrgefühl. Diese Unterstützung w i r d man um so schwächer finden, je mehr man i n der Betrachtung zu den unteren herabsteigt. Dagegen ist in diesen oft ein höherer Grad von Glauben und Gehorsam gegen dasselbe wahrzunehmen." - Vgl. in diesem Zusammenhang Arist. NE X 10 1180a 4ff. u. 1179b lOff., wo exakt genauso argumentiert wird. 2 * aaO 3 (1. Sp.). 26 Vgl. dazu Schwab 1967: 70f.; Stolleis 1980: 12. 27 Vgl. dazu etwa Wiesenhütter 1936 (mwN) u. 1954: 11, 13ff. 28 Vgl. Kap. 1.1: F N 2. 24

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ten, die nun nicht erst noch weitläufig von übergeordneten Legitimationsinstanzen bezogen zu werden brauchten (in deren Namen ihr die Legitimität schließlich gerade abgesprochen wurde). Auf diese Weise entstand mittels einer sich quasi selbstbezüglich begründenden Festigung päpstlicher Gewalt ein weitgehend säkularisiertes innerkirchliches Machtmonopol, das in der Folgezeit, soweit es nur die Umstände erlaubten, offen ausgespielt werden sollte. War auf die öffentliche Moral allein kein Verlaß mehr, mußte ein übermäßiger Ausbruch aus dem institutionellen Rahmen nunmehr von Rechts wegen gestoppt werden. Die in der Abschlußphase des Konzils von Trient geführte Diskussion über das matrimonium clandestinum, das Problem der heimlichen, Beweisschwierigkeiten unterworfenen Eheschließungen 30 , aus dem heraus sich die gesamte neuzeitliche Ehegesetzgebungspraxis imgrunde entwickelt hat, ist für diesen Prozeß geradezu symptomatisch. Mit den heimlich geschlossenen Ehen, die bei zunehmender Anonymität, infolge der sich im 16. Jahrhundert verstärkt ausbreitenden Handels- und Wirtschaftsverflechtungen, die eindeutige Zuordnungen wirtschaftlicher Verantwortlichkeit der Familienmitglieder ebenso fragwürdig werden ließen, wie sie die daran gebundene Hierarchie moralischer Befehlsinstanzen durcheinanderbrachte, trat eine Problematik auf den Plan, die kirchlicher- wie staatlicherseits 31 eine baldige Lösimg erfahren mußte. Infolge tradierten Rechts durfte dem matrimonium clandestinum unterdessen die Anerkennung als vollgültige Ehe nicht versagt werden. Das von Papst Nikolaus I. in der „Reponsa Nicolai ad consulta Bulgarorum" (866) übernommene und seitdem ausdrücklich in kirchenrechtlicher Geltung verbliebene römisch-rechtliche Konsensprinzip: „nuptias non concubitus, sed consensus facit" 3 2 , erklärte einzig den Konsens der Ehepartner für ehebegründend. Alle Förmlichkeiten wurden daneben als unwesentlich angesehen - jedenfalls soweit dabei die konstitutive Wirksamkeit der Eheschließung in Frage stand. Umstritten blieb in der Folgezeit zwar die konstitutive Rolle des Vollzugs der copula carnalis 33 ; das Konsensprinzip als einzig relevante 29 Bischofskirche (ecclesia) und Kloster stellen die frühesten Annäherungen zum Rechtsgebilde der jur. Person dar: vgl. dazu Käser 1981: 78/79. 30 Ein guter Überblick dazu findet sich bei Koch 1981: 32 - 43. 31 Schon 1552 kommt es zu einem Drängen Karl V. auf baldige Verhandlung dieser Frage; zu Ehebehinderungen durch weltliches Recht vgl. in diesem Zusammenhang Schwab 1967: 28ff. 32 Ulpian D 50, 17, 30; 35, 1,15. 33 Der Vollzug der copula carnalis wurde von Petrus Lombardus (f 1164) und der Eherechtslehre der frz. Kirche - im Gegensatz zu Gratian (dem Verfasser des sog. Decretum Gratiani, einer gelehrten Privatarbeit, die den ältesten und umfangreichsten Teil des „Corpus Iuris Canonici" bildet) - als unwesentlich erachtet. Mit der Übernahme der frz. Sponsaliendistinktion - der Unterscheidung zwischen consensus de praesenti (ehebegründend) und consensus de futuro (noeh nicht ehebegründend, bloßes Verlöbnis) - erlangte sie insofern Bedeutung, als abweichend von der frz. Lehre

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Begründungsform der Ehe, wurde dadurch aber so wenig in Frage gestellt, wie durch die verschärften Anforderungen der Dekretistik an die Beweisbarkeit des Konsenses34. Wie unerschütterlich dieses Prinzip in Geltung stand, zeigt eine eigentümliche Interpretation des von Papst Evaristus herrührenden, recht widersprüchlichen Caput „Aliter legitimum" durch Alexander III., der den darin enthaltenen Widerspruch, anfänglich eine bestimmte Förmlichkeit für die Eheschließung zwingend zu fordern, um am Schluß, geradezu beiläufig, festzustellen, daß der Konsens aber durchaus schon ausreichend sei, dadurch auszuräumen bemüht ist, daß er die formlosen, clandestinen Ehen als zwar unerwünschte, aber nicht ungültige Ehen ansieht, die man durch Strafen und Sanktionen lediglich verhindern müsse 35 . Wenngleich noch verdeckt, ist hier jedoch schon ein Prozeß im Gange, der mit der tridentinischen Diskussion über das matrimonium clandestinum seinen Höhepunkt und vorläufigen Abschluß erfahren wird. Bereits das 4. Laterankonzil (1215) versucht mit deutlicher werdenden Büß- und Strafandrohungen, wie dem an Priester und Mönche gerichteten Verbot Papst Innozenz' III., sich an heimlichen Eheschließungen in irgendeiner Form zu beteiligen 3 6 , eine mit der Ausbreitung des Konkubinats langsam aus den Händen gleitende soziale Kontrolle zurückzuerobern. Als unerwünschte klandestine Ehen werden nun alle Verbindungen angesehen, die kein zur präventiven Feststellung etwaiger Ehehindernisse etabliertes kirchliches Aufgebotsverfahren durchlaufen haben. Gewissermaßen als Gegenleistung für diese Beschränkung w i r d das Eheverbot der Verwandtschaft für den 5 . - 7 . Grad (bis zu dem es nicht zuletzt deshalb erstreckt worden war, um politisch unliebsame Eheschließungen des Hochadels wieder auflösen zu können 37 ) mit der Überlegung aufgehoben, so wenigstens die Durchsetzbarkeit eines Eheverbots für den 1 . - 4 . Grad wirksam sichern zu können 38 . noch nicht vollzogene, nicht konsumierte Konsensehen durch den rechtsgelehrten Papst Alexander III. (1159-1181) für wieder auflösbar erklärt wurden, während sich sponsalia de futura durch die copula i n Ehen verwandelten (die grundsätzliche Übernahme der frz. Sponsaliendistinktion stellt mit diesen Abweichungen praktisch eine Synthese mit dem Decretum Gratiani dar). 34 Im Unterschied zum Decretum Gratiani (1140) war nun das Zeugnis der Partner allein nicht mehr ausreichend: „matrimonia enim clam contracta saepe altero eorum mutante propositum, cum testes inveniri non valeant, separantur", heißt es in einer vor 1148 von Alexander III. über das Decretum Gratiani verfaßten Arbeit; zit. n. Koch 1981: 36 (mwN). 35 „Aliter legitinum non fit coniugium, nisi ab his, qui super ipsam feminam dominationem habere videntur, et a quibus custoditur uxor petatur, et e parentibus propinquioribus sponsetur, . . . Ita peracta légitima scitote esse conubia; aliter vero presumpta non coniugia, sed adulteria, vel contubernia, vel stupra aut fornicationes potius, quam légitima coniugia esse non dubitate, nisi voluntas propria suffragaverit, et vota succurerint légitima"; zit. η. Koch 1981: 36 (Anm. 18 - mwN). 36 „ . . . clandestina coniugia penitus inhibemus, prohibentes etiam, ne quis sacerdos talibus interesse praesumat" (X 4, 3, 3). 37 Vgl. Mitteis-Lieberich 1981: 60; Duby / Lardreau 1982: 138f.; Schwab 1967: 26ff.

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Mit dem Tridentinum stand nun endgültig die Frage an, wie in einer, bei zunehmender Anonymität und abnehmender sozialen Kontrolle sich mehr und mehr verschärfenden Situation mit jenen Verbindungen zu verfahren sei, die nicht von der auf dem 4. Laterankonzil von 1215 eingeführten kirchenöffentlichen Vermählungszeremonie erfaßt, infolge des übernommenen römisch-rechtlichen Konsensprinzips jedoch auch weiterhin als vollgültige Ehen nach geltendem kanonischem Recht angesehen wurden. Dabei bestand imgrund völlige Einigkeit darüber, daß es eigentlich nur einen einzigen Weg gab, dieser Problematik ein für allemal Herr zu werden: Die Tradition des Konsensprinzips mußte beendet werden. Bei einer näheren Betrachtung der weitläufigen Diskussion über das matrimonium clandestinum auf dem Trienter Konzil ist der Gesamteindruck jedenfalls recht unverkennbar der: Das Ergebnis steht fest, man muß es nur noch begründen. Aber wie? Wie konnte die in der 24. Sitzung vom 11. November 1563 noch einmal nachdrücklich bekräftigte Sakramentalität der Ehe unangetastet bleiben und doch zugleich durchbrochen werden? Wie konnte man sich ein von Christus selbst eingesetztes Sakrament verfügbar machen, das sich die Ehegatten nach überkommenem Verständnis gerade gegenseitig spendeten? Daß dies keine bloß dogmatische, sondern auch und vor allem anderen eine machtpolitische Frage ersten Ranges war, die noch ein weiteres Mal die Lehrgewalt und Autorität der Kirche gründlich untergraben konnte, daß man sich hier letztlich auf ein Spiel mit dem Feuer einließ, statt kompromißbereit einen lautlosen Rückzug anzutreten, war den Konzilteilnehmern selbst nur allzu gut bewußt. Deutlich bringen ihre Äußerungen die Angst vor der drohenden Unglaubwürdigkeit zum Ausdruck, die der Kirche bevorstehen könnte, wenn sie selbst den Pfad der Zeit, die Säkularisierung, betritt, indem sie ein göttliches Sakrament antastet: „Nam ex huiusmodi decreto fiet magna mutatio et pertubatio iuris canonici. Novitates enim semper sunt periculosae et suspectae" (Nemausiensis). Deutlicher noch: „Nam, si matrimonia clandestina ab Ecclesia nunc irritentur, statim dicent: Videte qualia sint sacramenta Papistorum; quod per 1563 annos fuit apud ipsos sacramentum nunc non est amplius sacramentum" (Archiepiscopus Rossanensis)39. Betrachtet man die Diskussion nun im einzelnen, so lassen sich im wesentlichen drei Strategien zurückverfolgen, die zur Erreichung des gewünschten Ziels, der Ausschaltung des matrimonium clandestinum als vollgültige Ehe (und der damit einhergehenden vollständigen Kontrolle über die für den 38 „Prohibitio quoque copulae conjugalis quatrum consanguinitatis & affinitatis gradum de certo non excedat: quoniam in ulterioribus gradibus jam non potest absque gravi dispendio hujusmodi prohibitio generaliter observari(!) . . . Cum ergo jam usque ad quatrum prohibitio conjugalis copulae sit restrict a: earn ita esse volumus perpetuam . . .", Consilium Lateranense IV, c.L., A D 1215, abgedr. in: Mansi 1961: Voi. 22, Sp. 1035ff. ss CT I X 726 u. 651.

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Erziehungsprozeß so wichtigen familiären Personenverbindungen), eingeschlagen werden. Zunächst einmal denkt man gar daran, das matrimonium clandestinum, quasi im Handstreich, qua Definition als offiziell anerkannte Ehe zu beseitigen. Dieser anfängliche Vorschlag von Venusius, Aciensis de nobilibus und Bellicastrensis wird indessen wegen seiner allzu offensichtlichen Unvereinbarkeit mit dem überlieferten kanonischen Eheschließungsrecht schon bald wieder aufgegeben: „sufficiat solus secundum leges consensus eorum de quorum quarumque coniunctionibus agitur". Man verfällt auf einen zweiten Weg, der anstatt am Ehebestand die gewünschte Verwerfung der heimlichen Eheschließungen gewissermaßen an Partnereigenschaften festmachen soll: fehle die kirchlicherseits (mit dem 4. Laterankonzil) vorgeschriebene Form, so führe dies zur Unfähigkeit der betreffenden Personen eine gültige Ehe abzuschließen. Aber auch dem setzen sich noch unüberwindliche Bedenken entgegen, ist das Spiel, dem ersten Argument nur die Tarnkappe aufzusetzen, doch allzu durchsichtig. So kommt es zu einem dritten, dann schließlich auch in die Tat umgesetzten Vorschlag, forma oder modus und materia sacramenti zu differenzieren: Die Einführung einer ausnahmslos verbindlichen Eheschließungsform tangiere nur die äußerliche Ausgestaltung als vertragliche Gestaltungsseite, währenddessen sie die von Christus gestiftete Substanz des Sakraments gänzlich unangetastet lasse. „Non enim tangimus sacramentum, sed pactum", bringt Bracarensis den gelungenen Streich auf die offizielle Formel 40 . Dennoch verbleibt allen ein gewisses Unbehagen 41 und wie schwer es wird, die noch sehr zweifelhaften Überlegungen hinter einer offiziellen Lesart zurücktreten zu lassen, zeigt das zum Abschluß der tridentinischen Diskussion über das matrimonium clandestinum erstellte „Caput Tametsi", die eigentliche Begründung des neuzeitlichen Eherechts, dessen sich windende Formulierungen noch einmal alle verbliebenen Bedenklichkeiten in einem rhetorischen Kugeltanz trefflich widerspiegeln: „Tametsi dubitandum non est, clandestina matrimonia, libero contrahentium consensu facta, rata et vera esse matrimonia, quamdiu ecclesia ea irrita non fecit, et proinde iure damnandi sint illi, et eos sancta synodus anathemate damnat, qui ea vera et rata esse negant quique falso affirmant, matrimonia, a filiis familias sine consensu parentum contracta, irrita esse, et parentes ea rata vel irrita facere posse: nihilominus (!) sancta Dei ecclesia ex iustissimis causis ilia semper detestata est atque prohibuit ... Qui aliter, quam praesente parocho vel alio sacerdote, de ipsius parochi seu ordinarli licentia, et duobus vel tribus testibus matrimonium contrahere attentabunt: eos sancta synodus ad sic contra40 „ecclesiam irritando materiam matrimonii, non irritare materiam quatenus materiam Sacramenti, sed ut materiam contractus", Lacianensis, CT IX, 651. 41 Noch 55 Konzilsväter stimmten in der Schlußabstimmung gegen den Entwurf, vgl. Schwab 1967: 64 (Anm. 38).

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hendum omnio inhabiles reddit, et huiusmodi contractus irritos facit et annullat Von nun an tritt die Kirche nicht nur unter ausdrücklicher Berufung auf ihre Funktion als Hüterin und Lenkerin des christlichen Gemeinwesens43 in Konkurrenz zu weltlichen Gesetzgebungsansprüchen 44, sondern liefert zugleich auch das maßgebende Modell für eine künftige staatliche Gesetzgebungsregelung, das den Gesichtspunkt der objektiv verfügbaren Institution im Familienrecht zum beherrschenden machen wird. 2.3 Ein Sprung ins 19. Jahrhundert, das den im 16. Jahrhundert angelegten Konkurrenzkampf zwischen Kirche und Staat offen zum Ausbruch und schließlich zur Entscheidung bringen wird. Der Streit entzündet sich vordergründig am Problem der Mischehen, denen gegenüber sich die kath. K i r che bislang verhältnismäßig liberal verhalten hatte: Mit der sog. Benedictina 4 5 hatte Papst Benedikt XIV. (1740 - 1758) zunächst für Holland und Belgien, die Eingehimg von Mischehen auch ohne Wahrung der tridentinischen Form zugelassen. Spätere Instruktionen erstreckten diese Ausnahmeregelung sodann auf eine Anzahl weiterer Gebiete 46 . Diese Taktik des Lavierens, das Bemühen, politische Durchsetzbarkeit und kirchliche Lehre nie in ein übermäßiges Mißverhältnis treten zu lassen, findet unterdessen in ihrer liberalen Variante nach dem Wiener Kongreß (1814/15), der die Wiederherstellung des Kirchenstaats erbringt, schon bald ihr Ende. Und bereits 1819 ergeht aus Rom eine Mahnung an den Trierer Generalvikar Hommer, künftig dem strengen kanonischen Recht zu folgen 47 . Die Lage verschärft sich zusehends mit der Wahl Papst Leo XII. (1823 - 1829), einem Kandidaten der dogmenstrengen Kardinalspartei: Die Kurie probt offensichtlich eine Art vorgezogenen Kulturkampf, der im hier beginnenden Kölner Kirchenstreit und einem ähnlichen Eklat in der Erzdiözese von Posen-Gnesen seinen ersten Höhepunkt erfährt 48 . 42

CT IX, 968 f. „quia cum homo sit animal politicum et rei publicae pars, omnes illius actiones . . . possunt dirigi i n publicum bonum ab iis, qui curam gerunt rerum publicarum,. . . matrimonium igitur, ut est contractus civilis, subiacet civili potestati, ut vero est contractus christianorum . . . subiacet ecclesiasticae potestati" (Mendoza), zit. n. Koch 1981: 51. 44 Zur Vorgeschichte vgl. Schwab 1967: 60 ff. 45 Declaratio super dubiis respicientibus matrimonia in Hollandia et Belgio contracta et contrahendo v. 4. Nov. 1741. 46 Ein Breve Papst Klemens XIII. (1758 - 1769) vom 21. Febr. 1765 dehnt die Anordnung auf Breslau, die sog. Silesiaca, eine Instruktion Pius' VI. (1775 - 1799) vom 11. Sept. 1777, auf Schlesien, und eine weitere Instruktion desselben Papstes v. 19. Juni 1793 auch auf Kleve aus. Für die österreichischen Gebiete wird in einem Reskript Pius' VI. v. 13. Juli die sog. passive Assistenz (keine Einsegnung durch den Priester - aber auch keine grds. Verweigerung der Eheschließung) bestimmt. 47 Entsprechende Weisungen werden in der Folgezeit auch den rheinischen und westfälischen Bistümern erteilt. 48 Vgl. zum Ganzen Huber 1960: 185ff. 43

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Streitgegenstand im engeren Sinn ist dabei zwar erst einmal nur der Wunsch Preußens, die katholische Kirche möge zu ihrer alten liberalen Mischehenpraxis zurückkehren. Alle entscheidenden Momente, die in der diesbezüglichen Auseinandersetzung zwischen Kirche und Staat eine zentrale Rolle spielen, konzentrieren sich indessen letzten Endes ganz in dem Bemühen der Kurie, um keinen Preis das alleinige Verfügungsrecht über eine moralische Reproduktionssphäre: den Bereich der Kindererziehung aufzugeben, wozu sie am Ende selbst die Einführimg der Zivilehe in Kauf nehmen wird 4 9 . Die mit dem Thronwechsel am 7. Juni 1840 einsetzende Beruhigung der Lage bildet dabei imgrunde nur ein Intermezzo zwischen Kölner Kirchenstreit und aufkommendem Kulturkampf: Die Auseinandersetzung geht auf Dauer weiter. Friedrich Wilhelm IV., der noch einmal von einem Bündnis zwischen Thron und Altar träumt 5 0 , von einer „Idee eines christlichen Staates", die im Kölner Dom (der am 4. September 1842 feierlich aus seinem mittelalterlichen Ruinenschlaf gerissen wird) anschaulich werden soll, bildet nur eine vorübergehende Episode. Und mit dem nach der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm IV. verfaßten Hirtenbrief 5 1 des Erzbischofs von PosenGnesen, von Dunin (dem mit seiner Absetzung und Verhaftung zuvor ein ähnliches, wenngleich am Ende weitaus günstigeres Schicksal als dem Kölner Erzbischof Droste-Vischering widerfahren ist 5 2 ), dem Versprechen, die katholische Kindererziehung bei gemischten Ehen nicht mehr zu fordern und die Verweigerung der Einsegnung (die sog. passive Assistenz) in das Ermessen der zuständigen Geistlichen zu stellen, ist das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch längst nicht gesprochen. Mit dem Kulturkampf entbrennt noch einmal ein heftiger Streit um die Definitionsgewalt der moralischen Grundlagen des Rechts, die spätestens seit dem 16. Jahrhundert ihren unverfügbaren Voraussetzungscharakter endgültig verloren haben, mag auch ein säkularisierter Institutionsgedanke, wie er sich in der Restaurationszeit der nachnapoleonischen Ära verstärkt ausbreitet, noch weiterhin eifrig das Gegenteil behaupten. Um noch einmal einen letzten Versuch zu machen, sich dieses Definitionsmonopol zumindest für die eigenen Untertanen endgültig und definitiv' zu sichern, greift die Kurie zu einem kaum mehr überbietbaren politischen Geniestreich: Auf dem ersten Vatikanum (1870) erklärt sie das Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes bei Äußerungen „ex cathedra": Damit werden 49

In einer Note v. 15. April 1836 bietet Preußen der Kurie die Abschaffung der Zivilehe i n den Rheinprovinzen an, falls dafür, als Gegenleistung, einer liberalen Mischehenpraxis zugestimmt wird. 50 Vgl. dazu Buchholz 1981a: 308. si v. 27. August 1840. 52 Am 29. Juli 1840 w i r d er durch einen königlichen Erlaß begnadigt und kann im Triumphzug von der Festung Kolberg wieder in seine Residenz einziehen.

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auf einen Schlag alle Geistlichen unmittelbar Rom unterstellt, das ,Landeskirchenunwesen' kraft Lehrgewalt beseitigt und Eigenwilligkeiten, wie die unbekümmerte Fortsetzung einer milden Mischehenpraxis durch den Breslauer Fürstbischof, Graf Sedlnitzky etwa, der im Verlauf des Kölner K i r chenstreits eher bereit war, sein Amt aufzugeben, als sich Rom zu unterwerfen und letztlich selbst noch seine Abdankung von einer Erlaubnis des preußischen Königs abhängig machte 53 , ein für allemal unterbunden. 2.4 Damit ist freilich erst eine Entwicklungslinie in ihren Grundzügen aufgezeigt: die katholische. Eine Betrachtung der Entwicklung innerhalb der evangelischen Kirche erbringt der Sache nach jedoch wenig Neues. Nemausiensis' Befürchtung auf dem Tridentinum: „novitates enim semper sunt periculosae et suspectae" 54 schien ihr gerade auf diesem Gebiet ganz besonders beherzigenswert. Mit Ausnahme des Sakramentsstatus lehnte sie sich, trotz Reformation, nahezu vollständig ans kanonische Recht der katholischen Lehre an 5 5 . Und dies nicht nur im Hinblick auf das grundlegende Konsensprinzip (als ja auch das Tridentinum ,als solches' nicht aufgeben wollte und konnte), sondern ebenso hinsichtlich seiner Handhabe und öffentlichen Kontrolle. Gerade ihr wurde vor dem Hintergrund der lutherischen Autoritätslehre erhebliche Bedeutung zugemessen: „Weil die Ehe ein öffentlicher Stand ist, ... ist's billich das er auch öffentlicher weise gestifft und angefangen werde mit zeugen, die solchs beweisen können" 5 6 . Die solches beweisen können, sind vor allem die Eltern: „Denn ob gleich tausent zeugen bei eim heimlich Verlöbnis waren, so es doch hinder wissen und w i l len der Eltern geschehe, sollen sie alle tausent nur für einen mund gerechnet sein." 57 Die Kontrollfunktion w i r d so schließlich auch hier von oben institutionalisiert: Erst sind es die Eltern, und dabei vornehmlich der Vater als Familienoberhaupt, der diese Funktion zu übernehmen hat. Sodann kommt es im 18. Jahrhundert aber auch in der evangelischen Kirche zu einer reglementierten Eheschließungsform, wonach die Trauung nicht einmal nur vor dem Geistlichen (so nach der katholischen Lehre), sondern sogar durch ihn zustande gebracht wird. Diesem Modell w i r d schließlich, 1875, das unter dem Einfluß des Kulturkampfs entstandene Reichspersonenstandsgesetz folgen, das für das Reich, die damals schon seit einem Jahr in Preußen gel53 Die nach dem preußischen Thronwechsel im Juni 1840 gewährt wird. 54 CT IX, 726. 55 Abgelehnt wurde im wesentlichen, nach Luthers Schiedsspruch des EntwederOder i n dieser Frage, nur die Unterscheidung zwischen sponsalia de praesenti und de futuro: letzteres seie schon der Sache nach ein Unding - nicht so allerdings bei gleichzeitigem Vorliegen der copula carnalis. - Eine insgesamt recht eigenartige Anpassung, bedenkt man, daß Luther ja nicht nur seine Bannbulle, sondern ebenso den Codex Iuris Canonici verbrannt hat. 56 Luther 1530: 207. 57 aaO.

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tende obligatorische Zivilehe einführt. Danach erfolgt die Trauung ebenfalls durch den Standesbeamten 58 . 2.5 Die Entwicklung dieser Zivilehe führt ihrem äußerlichen Ursprung nach zwar zunächst wiederum auf das Problem der Mischehen und Dissidenten, das in größerem Ausmaß bereits im 16. Jahrhundert in den Niederlanden akut wurde. Ihre wirkungsmächtige Geburtsstätte aber ist Frankreich und die französische Revolution. Vorbereitet vom Gallikanismus des 17. Jahrhunderts 59 , der in ein Sakrament der Ehe und einen weltlichen Kontrakt unterschied, vorbereitet nicht zuletzt auch vom naturrechtlichen Vertragsdenken 60 , gelangt die obligatorische Zivilehe von Frankreich aus auf deutsches Gebiet: erstmals auf das linke Rheinufer, die Rheinprovinzen, die mit dem Frieden von Lunéville an Frankreich gefallen waren und auf dem Wiener Kongreß (1814/15) Preußen zugesprochen wurden 6 1 . Hier galt in der Folgezeit das französische Recht der obligatorischen Zivilehe auch weiterhin. Und da dem preußischen Allgemeinen Landrecht auch ansonsten nicht in allen preußischen Besitzungen Geltung zukam 62 , galt in Preußen zunächst einmal dreierlei Recht. Zu einer ersten Vereinheitlichung kam es im Bereich der Mischehenfrage. Sie vollzog sich in zwei Etappen. In einer Deklaration vom 21. Nov. 1803 änderte der König zunächst die Regelung des pr. ALR (2. Teil, 2. Titel, §§ 76 - 78) über die Erziehung der Kinder in Mischehen ab, wonach die Söhne nach der Konfession des Vaters, die Töchter nach der Konfession der Mutter zu erziehen waren: Nunmehr sind alle Kinder nach der Konfession des Vaters zu erziehen - eine Regelung, die derjenigen des Code civile entsprach, wie sie in den Rheinprovinzen bereits galt 6 3 . Am 17. August wurde diese Deklaration dann per Kabinettsordre auch für die linkselbischen preußischen Gebietsteile eingeführt. Auf diese Weise entstand schrittweise ein einheitliches Mischehenrecht im preußischen Gesamtstaat. Dieser Vereinheitlichungsgedanke w i r d schließlich auch die Rechtsentwicklung zur obligatorischen Zivilehe maßgeblich vorantreiben. 1874 wird sie endgültig in Preußen eingeführt. Zwar wurde sie bereits im Gefolge der 48er Paulskirchenverfassung in Frankfurt (1850), in Oldenburg (1855 - als fakultative Zivilehe) und in Baden (1869) eingeführt. Auch war sie schon einmal in Artikel 16 der preußischen Verfassungsurkunde von 1848 enthal58 Dagegen kennt § 1317 BGB dann wieder die Konsenserklärung vor dem Standesbeamten. 59 Vgl. dazu Erle 1952: 55 - 89. 60 Dazu Schwab 1972: 357ff. 81 Zum frz. Einfluß auf die Verbreitung der obligatorischen Zivilehe vgl. vor allem Conrad 1950: 336 - 372. 62 So nicht in den linkselbischen Besitzungen. 63 Nach der alten wie nach der neuen Regelung ist allerdings eine Intervention bei einverständlich abweichender Praxis der Eheleute unzulässig.

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ten. Ihre definitive Einführung hat man hier jedoch schon drei Jahre später (mit der revidierten 51er Verfassung) auf ein noch zu schaffendes besonderes Gesetz und damit auf unbestimmte Zeit vertagt. Doch blieb der 48er Ansatz der preußischen Verfassungsurkunde ein wesentlicher Impuls, wie Emil Friedbergs 1870 erschienene „Geschichte der Civilehe" belegt 64 : eine einschlägige Kurzfassung seines ebenfalls schon für eine staatliche Gesetzgebungskompetenz engagierten Monumentalwerks „Das Recht der Eheschließung in seiner geschichtlichen Entwicklung" 6 5 , welches ihn zu einem derart einflußreichen Wortführer i n Sachen Zivilehe werden ließ, daß 1873 den Reichstagsabgeordneten die Ergebnisse dieser Untersuchung gar amtlicherseits als Anlage zum Gesetzentwurf vorgelegt wurde 6 6 . Eifrig w i r d in dieser Schrift alles darangesetzt, die Diskussion von dem schädlichen Vorwurf zu befreien, mit der Zivilehe werde sich in Preußen ein französisches Revolutionsprodukt einnisten. Dagegen, so Friedberg, lasse sich unzweideutig zeigen, daß sie das „Ergebnis rein kirchlicher Spekulationen" sei, „welche die Sacramentsauffassung der Ehe zur Unterlage haben, als unmittelbarste Consequenz einer Bewegimg, welche von der Kirche selbst angeregt worden ist: ihrer Emancipation vom Staate" 67 . 2.6 So richtig und falsch Friedbergs Auffassung auch ist, was Begründung und Durchsetzung der Zivilehe anbetrifft: im Kern zeigt sie doch treffend den Nerv der gesamten Entwicklungsgeschichte: Mit der „Emancipation" tritt nun der Staat, wie vormals die Kirche, in die Sphäre der anderen Seite ein. So spiegelt sich denn auch in der Auseinandersetzung um die eherechtliche Gesetzgebungskompetenz während der preußischen Vorgeschichte der Zivilehe vom Allgemeinen Landrecht, das noch die kirchliche Trauung als einzig legitime Eheform festschreibt 68 , bis zu ihrer endgültigen Einführung, - eine Übergangszeit, in die auch die Entstehung der hegelschen Rechtsphilosophie fällt, - eine Diskussion wider, die als innerkirchliche bereits im 16. Jahrhundert geführt wurde 69 . Was sich im 19. Jahrhundert vorrangig als Problem der Rechtsvereinheitlichung darstellt, als Abbruch eines möglichen Wegs in die „Anarchie" 7 0 konfessioneller (und damit letzten 64

Vgl. aaO 34/35. Leipzig 1865. 66 Vgl. Buchholz 1981a: 309. 67 aaO 4. 68 Pr. ALR: 2. Teil, 1. Titel, §§ 136ff.; 11. Titel, §§ 435ff. 69 Deren Wurzeln reichen darüber hinaus bis ins 12. - 14. Jhdt. zurück, als sich die Kirche i n der Zeit des Avignonesischen Papsttums (1309 - 1377) und dem darauf folgenden Schisma (1378- 1417) auf breiter Front einem Verrechtlichungsprozeß unterzog: ein Prozeß dessen intensivere Vorbereitung bereits im 12. u. 13. Jhdt. mit den beiden rechtsgelehrten Päpsten Alexander III. (1159-1181) und Innozenz III. (11891216) einsetzte, von denen die Kirche mit Dekretalen geradezu überflutet wurde (vgl. dazu Gagner 1960: 307 - 366, Feine 1964, hiermann 1957/58: 37 - 51. 70 Vgl. Schwab 1967: 248. 65

8'

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Endes auch individueller) Formenvielfalt, stellte sich im 16. Jahrhundert jedoch anfänglich auch noch als Frage nach der Legitimation des Verrechtlichungsvorgangs überhaupt. Zwar hat sich nicht erst im 16. Jahrhundert eine christliche Eherechtsvorstellung ausgebildet, gingen doch schon die frühmittelalterlichen Bemühungen der Kirche darauf aus, eine solche Vorstellung im profanen Umfeld durchzusetzen. Auch ist schwerlich zu bestreiten, daß die Frage der Legitimität, des ,Warum-Überhaupt', bereits damals hinter der Alternative: kirchliche oder staatliche Gesetzgebungskompetenz und einem somit bereits latent vorhandenen Hechtsvereinheitlichungsgedanken deutlich zurückstand. Doch in der Frage, wie angesichts der völlig andersgearteten Leitvorstellimg einer kirchenöffentlichen Eheschließung mit dem matrimonium clandestinum zu verfahren sei, welche Haltung künftig zur Sakramentalität der Ehe (dem Zeichen einer unio mystica als Widerspiegelung eines Bandes zwischen der Kirche und Gott 7 1 ) eingenommen werden sollte, darin war jene Legitimationsfrage der Sache nach implizit noch enthalten. Die theoretische Vorgeschichte ihrer tridentinischen Eliminierung beginnt gewissermaßen in der Dominikanerschule von Salamanca und der spanischen Spätscholastik zu Beginn des 16. Jahrhunderts 72 . Francisco de Vitoria (ca. 1483 - 1546) entwickelt hier ein nach aristotelischem Vorbild gefertigtes Teleologiemodell, aus dem er eine kirchliche Vorrangstellung in der Gesetzgebungsbefugnis vor derjenigen des Staates herleite, indem er argumentiert: Das höchste Glück, nach dem alles strebt, die ewige Glückseligkeit, ist als kirchlicher Zweck dem bonum rei publicae, dem Ziel weltlicher Gewalt, eindeutig übergeordnet. Dabei konstruiert er diesen aristotelischen ,Überbau' interessanterweise jedoch nicht etwa, wie Aristoteles, von der dafür eigentlich zuständigen Frage nach dem höchsten Gut bzw. Ziel ausgehend. Sein eigentliches Argument bezieht er stattdessen vielmehr aus einer Verlängerung eines Unterziels - des weltlichen Ziels des bonum rei publicae - ,nach oben': Was weltliche Gewalt kann, so die Pointe, kann kirchliche darum allemal 73 . Daß sie dies nur kann, darum aber noch lange nicht notwendigerweise auch so tun muß, ist eine Lücke in der Argumentation, auf die erstmals der spanische Dominikaner Pedro de Soto (ca. 1500 - 1563) aufmerksam machte 74 und damit den (dann von den Regalisten75 beschrittenen) Weg wies, die ganze Argumentation rundweg auf den Kopf zu stellen, um für eine weltliche Gesetzgebungskompetenz einzutreten. Über den so entstehenden 71

Vgl. aaO 20, 34f. Zum Folgenden: aaO 60 ff. 73 Bemerkenswert ist dabei, daß hier bereits ausdrücklich der Gedanke der Staatsraison (prudentia politica) Verwendung findet: vgl. aaO 61 (Anm. 26). 74 Vgl. aaO 68 f. 75 Vgl. aaO 70 - 103. 72

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französischen Gallikanismus des 17. Jahrhunderts, der die tridentinische Aufspaltung des Ehemodells in eine sakramentale und formal-säkularisierte Hälfte aus dem theoretischen Fiktionsmodell heraus ins Profan-Praktische wendet, führt schließlich, in Gemeinschaft mit dem bald darauf einsetzenden Vertragsdenken der französischen Frühaufklärung, wenn auch keine gerade, so doch in der Sache recht eindeutig nachzuzeichnende Linie bis hin nach Preußen. Der sich in diesem Prozeß der Verrechtlichung allmählich durchsetzende universale Institutionsgedanke schiebt so Zug um Zug ein eigenständig Drittes in den Bereich interpersonaler Handlungszusammenhänge hinein, das, ganz im Sinne des de-sotoschen Hinweises und ganz ähnlich dem Vertrag, seinen inhaltlichen Geltungsanspruch nur noch formal aus sich selbst heraus beziehen kann: Wie der Geltungsgrund im Vertrag selbst und nicht mehr unmittelbar in dem mit seiner Hilfe Gewollten liegt, so soll auch die Institution qua Institution Anspruchsgrundlage wie -grenze ihrer Mitglieder liefern. Vertrag und Institution verlieren damit zugleich ihre gegenseitige Oppositionsstellung und rücken dadurch gleichermaßen aus dem Bereich individuell frei disponibler Rechtsformen heraus. Die mit Hilfe eines Vertragsdenkens zustande gebrachte Liberalisierung des Scheidungsrechts aus Gründen staatlicher Populationsinteressen etwa („Ehen zum Bürgeranbau" 76 ) hatte mit dem Gedanken individueller Freiheit nachweislich recht wenig im Sinn 7 7 . Und auch die tridentinische Überkreuzkonstellation zeigt geradezu schon paradigmatisch, wie sehr scheinbar feste Konturen hier ins Schwimmen geraten können: Während das Konsensprinzip nun institutionell eingefaßt wird, wandelt sich (wenn auch unter ganz entgegengesetzten Beteuerungen) die damit vormals in eins gesetzte sakramentale Institution der Ehe zum disponiblen, einer abstrakten Vertragsstruktur unterstellten Verfügungsobjekt - über dessen Ausgestaltung freilich vorerst nur monopolistisch entschieden wird: Eine Legitimationsdefizite ersetzende fungible Zweckrationalität, die schließlich durch Wegfall ihrer nur erst auf bevölkerungspolitische Zielsetzungen fixierten Beschränkung zugunsten kontingenter Zielsetzungen, auch noch zur Selbsterhaltung der Rechtsform der Ehe als solcher beiträgt 78 , beginnt in Ansätzen bereits hier ihren folgenreichen Weg. Dieser Ablösungsprozeß von einer unmittelbaren Geltungsgrundlage im inhaltlich Gewollten verlangt im Gegenzug dann auch eine neue Begründungsstruktur für die Verfügungsgewalt über die rechtliche Ausgestaltung 76

So Volkmar 1794: 188. Vgl. dazu etwa Buchholz 1981: 8 - 18. 78 In diesem Sinne etwa ließe sich, gegenüber der bevölkerungspolitisch motivierten Ausgestaltung der Ehe als Vertragsgesellschaft, der qualitativ ganz anders gelagerte Wegfall des Schuldprinzips im Scheidungsrecht deuten. 77

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der Institution Ehe. Und tatsächlich wird seitens der Kirche schon im 16. Jahrhundert diese Kompetenz „nicht mehr mit der Gewalt der Apostelnachfolge über die Sakramente, sondern mit der körperschaftlichen Struktur der Kirche begründet" 79 , - die von hier aus quasi auf das Ehemodell übertragen wird. Zu dem im Ehesakrament sich widerspiegelnden Band zwischen Gott und der Kirche, zur unio mystica, tritt jetzt ein rechtlich institutionalisierter Rahmen, aus dem die Legitimität eines inhaltlich Gewollten erst abgeleitet werden muß. Diese formalrechtliche Ausgestaltung von Legitimationsansprüchen ist denn auch das eigentlich Neue der Entwicklung, die sich in ersten Umrissen bereits in der frühmittelalterlichen Kirchengeschichte abzeichnet. Auf einer symbolisch-abstrahierenden Ebene ist hier „die Einbruchstelle der K i r che" 8 0 in frühe Formen germanischer Sippenvertragsehen zu finden: Sie setzte allmählich durch, daß die ursprünglich freie Wahl des Fürsprechers der Braut bei der Trauimg, des Trauungsvormunds (der, im Zuge zunehmender Symbolisierung sozialer Funktionen, aus einer ursprünglichen Garantenstellung der gesamten Sippe noch übrig geblieben war), einzig auf den Geistlichen, als Fürsprecher der Kirche, fiel. Der formalrechtlich institutionalisierte Instanzenzug zwischen Kirche, Gesellschaft und Familie übernimmt mit dem einsetzenden Zerfall ihrer übergreifenden Einheit, schließlich auch seine soziale Integrationsfunktion fast nur noch auf einer Ebene der Abstraktion. Infolge der so rapide wachsenden Diskrepanz zwischen abstrakter, nicht mehr über Glaubensinhalte unmittelbar in die Handlungspraxis zu vermittelnde Theorie und dieser Praxis selbst, w i r d damit eine neue institutionelle Vermittlung zwischen beidem immer notwendiger: eine Aufgabe, die vor allem der Erziehung zufällt, auf die sich die Gesetzgebungspraxis denn auch mehr und mehr fixiert: Das geforderte Versprechen der katholischen Kindererziehung und der auf die kinderlose Ehe beschränkte Scheidungsgrund der gegenseitigen Einwilligung, der in Preußen aus dem Corpus Iuris Fidericianum (1749) in das preußische Ehescheidungsedikt von 1782 und schließlich in das Allgemeine Landrecht 8 1 übernommen wurde, sind dafür nur zwei Beispiele von vielen. 3. Daß nun offenbar auch Hegel den Erziehungsgedanken und das mit ihm verbundene Konzept einer Reproduzierbarkeit sozialer Ordnung ins Zentrum seiner familientheoretischen Überlegungen stellt, begründet demgegenüber jedoch nur erst einen äußeren Zusammenhang mit der dargestellten Entwicklung auf dem Gebiet des Familienrechts. Tiefergehende Gemein79

Vgl. Schwab 1967: 66. Vgl. Mitteis-Lieberich 1981: 59. 81 2. Teil, 1. Titel: § 716. 80

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samkeiten und Unterschiede treten dagegen anhand der für beide Seiten charakteristischen Struktur der Selbstbezüglichkeit zutage. Während sie dem Institutionalismus auf formal-abstrakter Ebene zur Legitimationsinstanz für die verdeckte Aneignung inhaltlicher Dispositionsbefugnisse dient, w i r d sie bei Hegel zum zentralen Instrumentarium, den zweckrationalen Dispositionscharakter interpersonaler Handlungsformen gerade aufzuheben. Anstelle objektiver Rechte der Institutionen ,an sich selbst' tritt hier ein subjektorientiertes Eigenrecht der Handlungspraxis als reflexionsgesteuertem Willensprozeß. Der selbstbezügliche Bildungsprozeß des Kindes, konstruktiver Fluchtpunkt der gesamten Familiendarstellung, wie auch die rückbezügliche Verankerung der Sittlichkeit im „Bewußtsein dieser Einheit als substantiellen Zwecks" (§ 173) liefern dafür eindeutige Belege. Der beiderseitige Rückzug auf die formale Legitimationsstruktur der Selbstbezüglichkeit (hier des Willens, dort der Institution) entläßt deren inhaltliches Moment demnach aus ganz unterschiedlichen Motiven: Während der Institutionalismus den konkreten Inhalt theoretisch ausklammert, um ihn sich praktisch als Monopolist desto besser aneignen zu können, kommt die inhaltliche Selbstbeschränkung der Theorie bei Hegel in erster Linie einem Plädoyer zugunsten eines vorbehaltslosen, nicht selbst wieder nur interessenorientierten Stoppregeln unterworfenen Positivismus 82 gleich - einem Plädoyer, das als darstellungsimmanente K r i t i k über den Aufweis des Widerspruchs vorgetragen wird, von Rechts wegen „unabhängig von dem Recht und dem Willen der Individuen" (so Savigny) 83 vermeintliche Eigenrechte von Institutionen gelten machen zu wollen. Gans' Polemik gegen die „Phrase" vom Faktum der Ehe, vom Faktum des Besitzes als natürlichen Legitimationsinstanzen markiert dabei exakt den Punkt, um den sich diese allenthalben zum Ausdruck bringende Differenz zwischen vernünftiger Selbstbezüglichkeit und objektstrukturiertem, zweckrationalem Verfügungsprozeß, der sein Subjekt vorgegeben außer sich hat, schließlich zentriert: um ein potentielles Eigenrecht des Noch-nichtEntstandenen gegenüber einem inhaltlich tradierten Bestand, dem konkreten Faktum eines bereits Entstandenseins. Als gemeinschaftlichem Realisationsmedium des Willens legitimieren sich Form und Struktur der Handlungspraxis, nach Hegel, allein in Gestalt identitätsstiftender Umgrenzungen eines frei Gewollten, das aus der selbstbe82 „Dies aber ist das Entscheidende: nicht um eine naturrechtliche Reaktion gegen den Historismus handelt es sich, wenn Hegel Einfluß auf das Privatrecht gewinnt, wie man nach der Analogie des Strafrechts fast vermuten könnte, sondern umgekehrt darum, daß die i n der historischen Schultheorie noch steckenden naturrechtlichen Reste aufgestöbert und beseitigt werden, daß ihnen gegenüber der strengste Positivismus i n spekulativer Begründung, i n wissenschaftlicher Reinkultur aufgestellt w i r d " (Stintzing / Landsberg III/2, 589). 83 Savigny 1844: 6.

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2. Teil: Grundlagen und Herleitung der Familientheorie Hegels

züglichen Vermittlung von Selbst- und Weltbezug des Willens innerhalb eines subjektübergreifenden, interpersonalen Willensprozesses hervorgeht. Orientierungspunkt (und letzte Legitimationsinstanz) dieses reflexionsgesteuerten Vermittlungsprozesses bildet dabei das „Selbstgefühl" (§ 147) als Ausdruck einer der Willkür und Empfindung vorgelagerten, geiststrukturierten Willenseinheit. In ihr verknüpfen sich auf ursprüngliche Weise das Selbstgefühl mit seiner Vorfindlichkeit in einer gemeinschaftlichen Handlungspraxis. Von ihr nimmt der die Selbst- und Weltbezüglichkeit synthetisierende Willensprozeß seinen Ausgang. Und zu ihr soll er mit Hilfe der Reflexion schließlich auch wieder zurückführen, indem ein ihm entspringendes handlungsleitendes Interesse an Identitätsstiftung und -Sicherung den vernünftigen Zusammenhang solcher Verhältnisse mitkonstituiert, der diese Identität erst auf Dauer ermöglicht - die aus dem selbstbezüglichen „Interesse derer, welche durch ihre Thätigkeit mitwirken" hervorzubringende Sphäre des Sittlichen als „Lebendigkeit des Staates (bzw. aller übrigen subjektübergreifenden Gemeinschaftsformen - d.Vf.) in den Individuen": „Wenn die Menschen sich für etwas interessieren sollen, so müssen sie sich selbst darin haben, und ihr eigenes Selbstgefühl darin befriedigen." „Ein Zweck, für welchen ich tätig sein soll, muß auf irgendeine Weise auch mein Zweck sein." 8 4 Das „Selbstgefühl" bildet so gewissermaßen einen individuellen Indikator der „Substanz und Bestimmimg" (§ 4) des freien Willens, als einer jeder Willküräußerung zu Grunde liegenden prozessualen Willenseinheit, - einer ins Praktische transponierten „Einheit der transzendentalen Apperzeption". Mit dieser Transposition wird zugleich die Strukturanalogie von Selbstbewußtsein und Welterfahrung in der theoretischen Philosophie Kants 8 5 , die erkenntnistheoretische Parallelkonstruktion der einheitsstiftenden Gegenstands· und Bewußtseinskonstitution, auf das Gebiet praktischer Philosophie übertragen. Hegels Theorie der Sittlichkeit verbindet über den subjektiven Anknüpfungspunkt des „Selbstgefühls" (und der dabei immer im Hintergrund stehenden aristotelischen Struktur des Im-anderen-bei-sichselbst-Seins 86 ) die Bedingung der Möglichkeit freien Wollens mit der jeniger 84

WW XI, 87 (kurs. Vf.); WW XI, 51, 50. Vgl. K. d. r. V. A 111 : „Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung." 88 Vgl. dazu i n der Einl. zur Phil. d. Gesch. (WW XI, 44f.): „Der G e i s t . . . hat nicht die Einheit außer sich, sondern er hat sie gefunden; er ist in sich selbst und bei sich selbst. Die Materie hat ihre Substanz außer ihr, der Geist ist das Beisich-selbst-Sein. Dies eben ist die Freiheit, denn wenn ich abhängig bin, so beziehe ich mich auf ein Anderes, das ich nicht bin; ich kann nicht sein ohne ein Äußeres; frei bin ich, wenn ich mir selbst bewußt bin. Dieses Bewußtsein des Geistes ist Selbstbewußtsein von sich selbst. Zweierlei ist zu unterscheiden im Bewußtsein, erstens, daß ich weiß, und zweitens, was ich weiß. Beim Selbstbewußtsein fällt beides zusammen, denn der Geist weiß sich selbst, er ist das Beurteilen seiner eigenen Natur, und er ist zugleich die Tätigkeit, zu sich zu kommen und so sich hervorzubringen, sich zu dem zu machen, was er an sich ist." - Vgl. dazu auch V-Rph IV, 407ff., 409. 85

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sittlicher Erfahrung und sittlicher Handlungsformen: Der Auf weis des praxisimmanenten Ursprungs sittlicher Prinzipien und die Rekonstruktion sittlicher Bewußtseinsgenese fallen damit grundsätzlich ineins. Und wie Kants transzendentale Deduktion den objektiven Erkenntnisanspruch der Erfahrimg, unter Rückgriff auf eine juristische Argumentationsform des Zivilprozesses 87 , dadurch rechtfertigt, daß er ihn auf einen weiter nicht mehr ableitbaren, jedermann imbestreitbaren (da von ihm auch im Bestreitensfall widersprüchlicherweise noch in Anspruch genommenen) Ursprung in der „Einheit der transzendentalen Apperzeption", dem „,Ich denke', das alle meine Vorstellungen muß begleiten können" 8 8 , zurückführt, so leitet auch Hegel den objektiven Geltungsanspruch sittlicher Erfahrung regressiv aus einer ursprünglichen, der Reflexion und Empfindung gleichermaßen vorgängigen Willenseinheit her, die jeder Willensäußerung (und damit auch jedem Nicht-Wollen von etwas) ebenso unbestreitbar wie unableitbar zu Grunde liegt. Er kopiert damit quasi ein Rechtfertigungsverfahren der theoretischen Philosophie Kants, das er vom Erkenntnisprozeß auf den Willensprozeß überträgt. Diese Herleitung nur dem Grunde nach eröffnet ihm dann auch die Möglichkeit, unter begründeter Selbstbeschränkung der Theorie, die inhaltliche Ausgestaltung weitgehend dem historischen Prozeß zu überlassen. Wie im Laufe der Untersuchung im einzelnen gezeigt, operiert das regressive Rechtfertigungsverfahren Hegels dabei mit einer Unterscheidung in einen formalen und inhaltlichen Aspekt der Möglichkeit des („Daß" und „Wie") ,1manderen-bei-sich-selbst-Seins' 89 . Dies gilt auch für die legitimierende Ableitung sittlicher Handlungsformen wie der Institution der Familie. Mit Hilfe der Herleitung aus einem elementaren Identitätsbedürfnis, lassen sich solche Formen zunächst einmal nur dadurch rechtfertigen, daß sie ihrem Ursprung nach auf eine vorauszusetzende Willenseinheit zurückgeführt werden können, die als „Selbstgefühl" individuell erfahrbar ist und die selbstbezügliche Struktur des ,Im-anderen-bei-sich-selbst-Seins' aufweist. Insofern sie diese Voraussetzung erfüllen, gelten sie als sittlich gerechtfertigt. Sie erweisen sich dann nämlich imstande, dem einzelnen Willen die praktische Verankerung und Ausbildung seines „Selbstgefühls" in einer subjektübergreifenden Willenseinheit zu demonstrieren, die ihr Dasein keiner bloß äußeren Verknüpfung willkürlicher Einzelwillen verdankt, sondern einem ihnen gemeinschaftlich zugrunde liegenden Willen, der (ähnlich wie beim Vertrag) die Gültigkeit des Zusammenhangs selbst w i l l (der, im Gegensatz zum Vertrag, hier jedoch keiner Beschränkung auf partielle Interessen mehr unterworfen ist). Eine inhaltliche Bestimmung erfolgt 87

Vgl. dazu Henrich 1975a: 77ff. (mwN); Bubner 1982: 306ff. 88 K.d.r. V. Β 131 f. 89 Vgl. F N 86 oben.

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2. Teil: Grundlagen und Herleitung der Familientheorie Hegels

sodann entweder nur noch negativ, durch den Aufweis, daß bestimmte Handlungsformen diese Funktion nicht (bzw. nicht vollständig) zu erfüllen imstande sind (wie im Fall der „bürgerlichen Gesellschaft") oder positiv, allein durch die Ableitung notwendiger Voraussetzungen, um diese Funktion überhaupt erfüllen zu können (wie materielle Existenzsicherung, Erziehung, Selbständigkeit der Mitglieder etc. im Fall der „Familie"). Ungelöst dabei bleibt letztlich jedoch die mit Blick auf die historische Entfaltung interpersonaler Willensprozesse zu stellende Frage der gegenseitigen Vermittlung zwischen identitätsstiftender Willenseinheit, Reflexion und Empfindung. Letzteren fällt in der gesamten praktischen Philosophie Hegels ein merkwürdig durcheinanderschwebender Status zu, dessen Gründe bis in den Ansatz zurückreichen. Recht unvermittelt werden die Sphären der Reflexion und Empfindung bereits von Anfang an als eine Art Werkzeug und Material der spekulativen Instrumentalisierung unterworfen, ohne in ihrem gegenseitigen Verhältnis jemals näher analysiert zu werden. So verfolgt eine alle Unmittelbarkeit der Empfindung hinwegarbeitende Reflexion, im Rahmen der Bildung, Ziele, die, im Bereich der Weltgeschichte, über die Unmittelbarkeit der Empfindung angeblich ebenso vernünftig auch unbewußt verfolgt werden können: Was weniger ein dialektischer denn konstruktiver Widerspruch des gesamten Ansatzes darstellt, der eine Antwort auf die Frage vermissen läßt, wie Reflexion und Empfindung an die präreflexive Bewußtseinsebene einer ursprünglichen Willenseinheit gebunden sind. Dementsprechend unklar bleibt dann auch der Weg, auf dem die Darstellung einfacher, stark emotionalorientierter Handlungseinheiten, wie der Familie in der Moderne, in die Darstellung komplexerer Handlungszusammenhänge weitergeführt werden kann - in Handlungszusammenhänge, die hier plötzlich recht unvermittelt als theoretische Gleichgewichtsprodukte einer Liste der Vernunft gefaßt werden, wodurch sie ihren konkreten Entstehungsprozeß wie eigentümlichen Praxischarakter gleichermaßen unterschlagen. Zu abrupt vollzieht sich danach die Ausklammerung interpersonaler Verhältnisse 90 , der Übergang von dem Anderen in das Andere allgemeingültiger Vernunft, die die eigene sein und damit den Status des Andersseins aufheben soll. Dem entspricht eine weitgehende Unterschlagung eines eigengesetzlich strukturierten 91 Empfindungsbereichs, dem zwar noch zu Anfang des Willensprozesses, kaum mehr aber in dessen weiterem Verlauf ein Recht als kontingentes Realisierungsmedium des Geistes zugestanden w i r d 9 2 - ganz im Gegensatz zu dem wirtschaftsliberalen Modell der List der Vernunft auf ökonomischem Gebiet (vgl. dazu §§ 189,205,206). Der 90

Vgl. dazu Theunissen 1982. und damit auch grundsätzlich reflexiver Vermittlung zugänglichen! 92 Vgl. etwa nur die Herabsetzung des Empfindungsmoments und desjenigen damit verbundener Zufälligkeit zur bloßen „Akzidentialität" in den §§ 162, 164 Rph; vgl. auch Luhmann 1982: 181 f. 91

3. Theorie und Geschichte des Familienrechts bei Hegel

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Versuch Hegels, das in § 2 der Homeyer-Nachschrift noch als eigenständigen Aspekt der Positivität des Rechts ausgewiesene Empfindungsmoment systematisch in eine praxisimmanente Vernunftstruktur des Willens hinein zu vermitteln, gelingt damit nur sehr unvollkommen. Die Aufklärung eines solchen Vermittlungszusammenhangs ist aber gerade für eine genauere handlungstheoretische Analyse der „bestimmten Reflexion", der Bestimmung jener Tätigkeit, „einen Zweck für welchen ich tätig sein soll, ... in irgendeiner Weise" 93 zu „meinem Zweck" zu machen, und damit für jede weiterführende Strukturanalyse des identitätsbildenden Selbstregulationsmechanismus subjektiver wie subjektübergreifender Reflexionsprozesse unerläßlich.

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Struktur und Entwicklung des hegelschen Rechtsbegriffs in der „Einleitung" (§§ 1 - 29)

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2 Begriff 4 Form des freien Willens 1 Idee 5 Allgemeinheit 3 Verwirklichung 6 Besonderheit 7 Einzelheit Form 8 formal Inhalt 9 inhaltlich a Gesch./Naturnotw. 10 Wille an sich (als Begriff) 27 Abs. Bestimmung b Anwendimg 11 in sich endl. Wille 28 Tätigkeit des c Entscheidung 12 beschließender/wirkl. Wille Willens als 13 Abstr. Beschließen Aufhebung von (Wille als best. Individuum) Subjektivität 14 Möglichkeit zu wählen und Objektivität 15 Willkür/Wille als Zufälligkeit 29 Rechts16 Unendlichkeit des Gewählten begriff 17 Dialektik der Triebe (Recht als 18 subj. Beurteilung der Triebe „Daß" des 19 Forderung der Reinigung der Triebe Daseins des 20 Reflexion bzgl. der Triebe freien 21 Sich selbst bestimmende Allgem. Wlllen s) 22 Wahrh. unendl. des Willens (Dasein des Begriffs) 23 Unabhängiger Wille 24 Allgem. Wille 25 Subjektivität a Abs. Einheit des Selbstbew. b Besonderheit als Willkür c Einseitige Form 26 Objektivität a schlechthin obj. Wille b ohne unendl. Form d. Selbstbew. c als äußere Existenz

Struktur und Entwicklung des hegelschen Rechtsbegriffs (Übersicht) 125

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