Zur Freiheit verurteilt: Ein Grundriss der Philosophie Jean Paul Sartres 9783787339068, 9783787338528

In 38 kurzen Abschnitten („Der Mensch“, „Die Freiheit“, „Die Liebe“ …) gibt der Sartre- und Camus-Übersetzer Justus Stre

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German Pages 126 Year 1952

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Zur Freiheit verurteilt: Ein Grundriss der Philosophie Jean Paul Sartres
 9783787339068, 9783787338528

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ZUR

JUSTUS STRELLER

FREIHEIT VERURTEI LT EIN GRUNDRISS DER PHILOSOPHIE JEAN PAUL

SARTRE S

JUSTUS STRELLER

Zur Freiheit verurteilt Ein Grundriss der Philosophie Jean Paul Sartres

FELIX MEINER VERLAG HA MBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ur­ sprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Ver­ ständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bi­­­blio­gra­phi­ sche Daten sind im Internet ­abrufbar über ‹http://portal.dnb.de›. ISBN 978-3-7873-3852-8 ISBN eBook 978-3-7873-3906-8

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1952. Alle Rechte vor­ behalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG aus­ drücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Ge­ druckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­f rei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.

VoRwORT

Jean-Paul Sartre ist in Deutschland vor allem durch seine Dramen bekannt geworden. Das Anliegen Sartres mußte aus seinen Dramen erschlossen werden. Die Ansichten darüber, was er eigentlich meint, gingen ziemlich weit auseinander, weil die Dramen auf die Menschen verschieden wirkten und verschieden gedeutet wurden. Etwas leichter hatten es diejenigen, die den Romanzyklus »Les ehernins de la liberte« (»Die Wege der Frei­ heit« ) lasen. Sie kamen an den Kern des Sartreschen Anlie­ gens erheblich näher heran. Um genau und sicher zu erfahren, was Sartre zu sagen hat, muß aber sein philosophisches Haupt­ werk » L'l:tre et le Neant« (»Das Sein und das Nichts« ) befragt werden, das seit Frühj ahr 1 95 2 in deutscher Üb ersetzung vor­ liegt, allerdings mit einigen Auslassungen. Die vorliegende Schrift bietet einen Grundriß der Philoso­ phie Sartres und ist für weitere Kreise bestimmt. Das Ver­ ständnis soll durch die beigegebenen »Worterklärungen« , eine Vertiefung in das Schaffen Sartres durch das »Fundstellen­ Verzeichnis« erleichtert werden. Da die Dramen und Romane als Anwendungs- oder Demonstrationsbeispiele der Sartre­ schen Philosophie aufgeiaßt werden müssen, wurde darauf verzichtet, Zitate aus den Dramen und Romanen aufzunehmen. Die vorliegende Schrift beruht also ausschließlich auf dem Werke »L'l:tre et le Neant«, das 1 943 erschien und die Grund­ lage aller späteren Werke Sartres bildet. Sartres große Entdeckung ist der »Blick des Anderen«. So wie die Menschen unter dem Blick der Medusa zu Stein wur­ den, so wird unter dem Blick des Anderen der Mensch zu einem Gegenstand für den Anderen, er wird sich selbst >>entfremdet«. In diesen Partien seines Werkes ist Sartre ganz er selber, völ­ lig unabhängig von Hegel, Husserl und Heidegger, die man im übrigen seine geistigen Väter nennen kann, auch wenn er ihren Lehrmeinungen bisweilen energisch entgegentritt. Eine ähn­ liche Rolle spielt für ihn Siegmund Freud, dessen Verdienste

er anerkennt, von dem er sich aber durch seine »Existentielle Psychoanalyse« losmacht, indem er die Lehren Freuds teils widerlegt, teils weiterbildet. Zum ersten Male in der Geschichte der Philosophie wird von Sartre eine Metaphysik der sexuellen Zärtlichkeiten ver­ sucht. Seine Aussagen über die Liebe, die Begierde, den Maso­ cbismus und den Sadismus werden zu weitreichenden Enthül­ lungen über das Wesen des Menschen und sein Für-Andere­ sein, d. h. seine Beziehungen zu den Mitmenschen gemacht. Die Zitate aus diesen Stellen seines Werkes sind geeignet, den deutschen Leser wegen ihrer Realistik zu befremden. Die Sache selbst ist aber so wichtig - wichtig für das Verständnis der Sartreschen Philosophie und für das Bild des Menschen über­ haupt -, daß j ene Zitate trotz mancher Bedenken nicht um­ geschrieben wurden. Sartre, der sich selbst als einen kritischen Positivisten be­ zeichnet, ist ein starker und kühner Denker, der die Freiheit des Menschen so ernst nimmt, wie kaum einer vor ihm. Er scheut sich nicht, einen Gedanken bis zu seiner äußersten Grenze zu verfolgen und dabei in den Bereich der Paradoxien zu geraten. Er konstatiert das Paradoxe und Absurde im menschlichen Dasein. Er billigt dem Menschen nicht die Frei­ heit zu, um sie ihm mit derselben Geste wieder zu nehmen, in­ dem er eine »Freiheit für etwas« postuliert und aus der Frei­ heit eine Verpflichtung macht. Vielmehr ist bei Sartre der Mensch wirklich und tatsächlich frei. Die Freiheit ist keine menschliche Eigenschaft und gehört nicht zum Wesen des Men­ schen, sondern sie bildet seine Substanz : der Mensch ist Frei­ heit. So gelangt Sartre zu einer grenzenlosen Verantwortlich- . keit des Menschen, aber auch zu seiner eigentlichen Würde. Biberach a. d. Riß, im Juli 1952 Dr. Justus Streller

INHALT DIE DINGE 1

ANSICH UNO FüRSICH 2

DER MENSCH 4

DAS BEWUSSTSEIN 16

DIE FREIHEIT 19

DER ANDERE UNO SEIN BLIC� 27

WIR 87

DIE SPRACHE 40

DIE ANGST n

DIE UNWAHRHAFTIGKEIT {8

DIE LüGE 46

EXISTENTIELLE PsYCHOANALYSE 46

DIE LIEBE 50

DIE BEGIERDE 54

DER MASOCHISMUS 59

DER SADISMUS 60

DER HASS 62

DIE MINDERWERTIGKEIT 64

DIE FAKTIZITÄT 65

DIE ERSCHEINUNG 66

DER LEIB 67

DIE ANMUT 68

DAS ÜBSZÖNE 69

DAs LocH 69

DIE SrTUATION 70

WILLE UND AFFEKT 73

ANLASS UND ANTRIEB 75

KoNKRET 76

DIE FRAGE 77

DER WERT 78

DER GLAUBE 79

DIE EcHTHEIT 79

DAs SEIN 81

DAs NICHTs

83

DIE TRANSZENDENZ 85

GoTT 86

DER ToD 88

ZusAMMENFAssuNG: SARTRES WELT 92

KuRZE SARTRE-BroGRAPHIE uo

FUNDSTELLEN-VERZEICHNIS 112

WORTERKLÄRUNGEN 114

DIE DINGE

Die Dinge sind genau das, was sie sind, und so, wie sie sind, das heißt, sie haben Ansichsein, sie sind ansieh. Sie existieren in reiner Positivität, aber sie sind auch rein kontingent, näm­ lich in ihrem Dasein unbegründet und unbegründbar. Sie sind einfach. Ihr Sein ist paradiesisch. Ein Ding, dem dieser Zustand nicht genügt, ein Ding, das nach einer Begründung seiner Existenz verlangt, wäre genötigt, über sich nachzudenken, sich in den Blick zu bekommen, also: Abstand von sich zu gewinnen. Aber es ist klar, daß es einen solchen Abstand nur gewinnen kann, wenn es sich in zwei Teile teilt und wenn der Abstand zwischen die Teile zu liegen kommt. Dieses Entferntsein der beiden Teile voneinander wird durch das »Nichts« bewirkt, das sie voneinander entfernt hält. Das Ding muß also das Nichts in sich aufnehmen, um über sich nachdenken und eine Begründung seiner selbst finden zu kön­ nen. Es verwandelt sich aus reiner Positivität in eine »Negiert­ heitKoinzidenz mit>zurückgebogene« Bewußt­ sein. Aber das nichtreflexive Bewußtsein ist allemal das pri­ märe und macht das reflexive überhaupt erst möglich. Es gibt ein vor-reflexives >>Denken«, das die Voraussetzung des Den­ kens (im Sinne Descartes) ist. Jedes bewußte D asein existiert als Existenzbewußtsein. Das Urbewußtsein von Bewußtsein ist nichtsetzend und bildet eine Einheit mit demj enigen Bewußtsein, dessen Bewußtsein es ist : es bestimmt sich gleichzei tig als Wahrnehmungsbewußt­ sein und als Wahrnehmung. Die Lust z. B. >>kann von dem Bewußtsein von Lust nicht unterschieden werden, auch logisch nicht«2• Das Bewußtsein von Lust konstitui ert die Lust (aber definiert sie nicht ! ) . Die Lust kann nicht >>vor« dem Bewußt­ sein von Lust existieren, auch nicht als Fähigsein zur Lust, denn ein solches Fähigsein könnte aurh nur als Bewußtsein von Fähigsein bestehen. Es gibt kein Bewußtsein, das zunächst da wäre und hinterher den Affekt »Lust« erhielte, so wie Wasser, das man färbt. Es gibt auch keine Lust, die zunächst da wäre, und >>hinterher die Qualität der Bewußtheit empfinge, wie ein Bündel Lichtstrahlen«3• Vielmehr handelt es sich um etwas Unteilbares, Unauflösbares, um ein Sein, das durch und durch Existenz ist. »Das Bewußtsein existiert durch sich selbst. «4 >>Nichts ist die Ursache des Bewußtseins. Es ist die Ursache seiner eige­ nen Seinsweise.«" >>Das Bewußtsein ist nicht >möglich < , bevor es ist, vielmehr ist sein Sein der Ursprung und die Bedingung j eder Möglich­ keit. Seine Existenz enthält sein Wesen.«6 Das Bewußtsein ist das Sein des erkennenden Subjektes und ist das Absolute. Es ist nicht relativ zur Erfahrung, son­ dern es >>ist« diese Erfahrung. Das Bewuß tsein hat nichts Sub­ stantielles an sirh, vielmehr ist es reine Erscheinung und exi17

stiert nur, insoweit es erscheint. Es ist das Absolute gerade wegen der in ihm liegenden Identität von Erscheinung und Existenz. Ihm erscheinen alle Erscheinungen. Es ist die Sub­ jektivität selbst, die Immanenz des Selbst. Für das Bewußtsein gibt es kein Gesetz. »Weil das B ewußt­ sein reine Spontaneität ist, weil auf ihm nichts haften kann, kann es auf nichts wirken.«7 Das Bewuß tsein hat die Pflicht, intuitive Erkenntnis von etwas zu sein. In dieser Pflicht besteht sein Sein, welches ein transzendentes Sein ist, ständig sich selbst überschreitend. »Es gibt kein Sein für das Bewußtsein außerhalb der deutlichen Verpflichtung, unmittelbare enthüllende Erkenntnis von etwas zu sein.«8 »Das Bewußtsein ist ein Seiendes, dem es in seinem Sein um dieses selbst geht, insofern dieses Sein ein Sein in sich einbezieht, das ein anderes als es selbst ist.«9 Dieses andere Sein ist das transphänomenale Sein der Phänomene. Das Bewußtsein, tätig zu sein, ist unreflektiert. Das Tran­ szendente, was sich ihm entdeckt, ist >>eine Forderungsstruktur der Welt>Unbesteigbar«, weil wir ihn vorher als ersteigbar aufgeiaßt (»gesetzt«) haben : »Dort müßte man eigentlich hinauf können. schmecken< begann, ver­ geht unter meinen Augen«25• Mit der Gegenseitigkeit der Fleischwerdung ist es zu Ende. Ich »nehme«26, aber was ich bekomme, ist etwas anderes als das, was ich nehmen wollte. Aus dieser Situation kann der Sadismus hervorgehen. Da also die Begierde an der Klippe des Masochismus oder an der des Sadismus zu scheitern pflegt, bezeichnet man die »normale« Sexualität gern als »sadiko-masochistisch«27•

DER MASO CHISMUS

Wenn es mir in der Liebe nicht gelingt, mein Dasein vom Anderen begründen und rechtfertigen zu lassen, indem ich ihn in mich einsauge und dabei trotzdem seine Freiheit unange­ tastet lasse (so daß ich zu dem von mir ewig erstrebten Anund­ fürsichsein gelange) , so kann ich es mit dem Masochismus ver­ suchen und mir vornehmen, mich vom Anderen aufsaugen zu lassen, mich in seiner Subjektivität zu verlieren und so die meine loszuwerden. Ich würde dann zwar kein Anundfürsich, aber doch wenigstens ein durch eine fremde Freiheit begründe­ tes Ansich ; ich könnte mich im Anderen ausruhen. Und da ich mein Objekt-sein dadurch erfahre, daß ich mich vor Anderen schäme, Objekt für die Anderen zu sein, liebe ich im Maso­ chismus meine Scham als das zuverlässige Zeichen dafür, daß ich Objekt geworden bin. Der Andere soll mich als ein be­ gehrenswertes Objekt begehren, und so mache ich mich in meiner Scham zu einem begehrten Gegenstand. Im Masochismus belade ich mich selbst mit Schuld, da ich mich mir selbst entfremden lasse (ohne mich zu wehren) , und ich belade den Anderen mit Schuld, weil ich die Ursache dafür bin, daß er meine Freiheit außer acht läßt. Ich versuche nicht, 59

»den Anderen mit meiner Gegenständlichkeit zu bezaubern, sondern mich selbst von meiner Für-Andere-G egenständlich­ keit bezaubern zu lassen«1• Aber es ist für mich unmöglich, mein Obj ekt-Ich so, wie es für den Anderen ist, zu erfassen, geschweige denn, daß ich mich von ihm bezaubern lassen könnte. Je mehr ich versuche, mein Obj ekt-sein zu genießen, um so intensiver werde ich mir meiner Subj ektivität bewußt. Die masochistische Verhaltensweise läuft darauf hinaus, den Anderen als das Obj ekt zu benutzen, das mich als sein Obj ekt benutzt (so wenn man z. B. eine Frau bezahlt, um sich von ihr peitschen zu »lassen« ) . Gerade dadurch wird aber meine Sub­ j ektivität, wenn auch gegen meinen Willen, freigesetzt. Der Masochist scheitert von vornherein. Er scheitert schon deshalb, weil der Masochismus ein » Laster« ist und weil j edes Laster grundsätzlich Liebe zum Mißerfolg ist. DER SADISMUS

Der Sadismus ist bewußt gewordene, deshalb gescheiterte und daher enttäuschte Begierde. Ein Fürsich hat sich einge­ setzt und besteht auf seinem Eingesetztsein, hat aber vergessen, wieso und wofür. Der Sadist verabscheut das »Trübsein« seines Bewußtseins in der Begierde, er hat sein Fleisch in Leib zurückverwandelt, er befindet sich wieder in ständiger Flucht vor seiner eigenen Faktizität. Vielleicht konnte er den Zustand echten Begehrens bloß nicht realisieren. Wie der Begehrende will der Sadist den Anderen sich unter­ werfen, insofern der Andere fleischgewordene Transzendenz ist. Aber er will nicht selbst Fleisch werden. D aher ist es ihm nicht möglich, den Anderen mittels seiner eigenen Fleischwer­ dung und mittels der Liebkosungen, die sich daraus ergeben, zu Fleisch werden zu lassen. Er muß daher den fremden Leib wie ein Werkzeug benutzen, um den Anderen zu veranlassen, »sein Fleischsein zu realisieren . . . Der Sadismus ist ein Be60

mühen, durch Vergewaltigung den Anderen zu Fleisch werden zu lassen, und eine solche Herbeiführung einer Fleischwerdung >mit Gewalt< ist schon Aneignnng und Benutzung des Ande­ ren«1. Zugleich genießt der Sadist sein eigenes Nicht-Fleisch­ sein. Er genießt es, daß die Freiheit des Anderen in dessen Fleisch in Fesseln liegt, während seine eigene Freiheit frei ist. Zu diesem Zweck fügt der Sadist dem Anderen Schmerz zu, denn beim Schmerz »Überschwemmt die Faktizität das Be­ wußtsein, und am Ende ist das reflexive Bewußtsein bezaubert von der Faktizität des unreflektierten Bewußtseins«2• Tatsäch­ lich gibt es eine Fleischwerdung durch d en Schmerz. Der Sadist raubt durch den Schmerz, den er zufügt, dem Fleisch die Anmut, die es verhüllte. Das Fleisch als solches erscheint, und seine Faktizität saugt die Freiheit des Anderen in sich ein. So will es der Sadist haben : der freie Andere soll sich in seinem Fleische offenbaren, die Freiheit des Anderen will er mit Händen greifen können. Der Sadist handhabt den Leib des Anderen, er benutzt ihn wie ein Werkzeug, um das Fleisch des Andere� sichtbar werden zu lassen. »Das Ideal des Sadisten ist es, den Augenblick herbeizuführen, wo der Andere schon Fleisch ist, ohne aufzuhören Werkzeug zu sein . . . , wo z. B. die Oberschenkel sich bereits in obszöner und blühender Passivität darbieten und doch noch Werkzeuge sind, die man handhabt, die man auseinanderspreizt und beugt, um die Hin­ terbacken mehr hervortreten und sie dadurch zu Fleisch werden zu lassen.«3 Da der Sadist die Freiheit d es Anderen nicht unterdrücken, sondern sich aneignen will, zwingt er den Anderen durch Folte­ rung oder Drohung, um Gnade zu bitten, sich zu demütig�n, auf den Gebrauch seiner Freiheit zu verzichten. Die Freiheit des Anderen soll sich freiwillig mit dem gepeinigten Fleisch identifizieren. Dieses Ziel wird früher oder später erreicht : »Der Leib ist ganz und gar zuckendes und obszönes Fleisch . . . Der entstellte und keuchende Leib ist das Bild der zerbrodte­ nen und unterworfenen Freiheit. «4 61

In diesem Augenblick ist aber das eigentliche Vorhaben des Sadismus auch schon gescheitert. Der Sadist weiß nicht, was er mit diesem zuckenden Leih machen soll. Er hat dessen abso­ lute Kontingenz zur Erscheinung gebracht und kann ihm nun keinen Zweck mehr beilegen. Höchstens kann er sich selbst zu Fleisch werden lassen und sich »in das Gelände begeben, wo das Fleisch sich in seinem vollen Fleischton [der verloren geht, wenn ich es als Werkzeug benutze] dem Fleische entdeckt«5• So wird der scheiternde Sadismus wieder zur Begierde, wie die scheiternde Begierde zum Sadismus wurde. Eine Synthese aus Begierde und Sadismus ist im »physischen Besitz«8 ge­ geben : »Das Anschwellen der Geschlechtsorgane offenbart die Fleischwerdung, die Tatsache des > Eindringens in< oder des > ihn drin Habens < verwirklicht symbolisch den Versuch sadisti­ scher bzw. masochistischer Aneignung.«7 Aber auch dieser Ver­ such mißlingt letzten Endes, wenn er auch seinem Ziele relativ nahe kommt, d enn die Wollust tötet Begierde und Sadismus zugleich, ohne beides zu befriedigen . Ü brigens scheitert der Sadist auch um deswillen, weil die Freiheit des Anderen grundsätzlich unerreichbar ist. Der Sa­ dist kann auf sie nur einwirken, insoweit sie eine bloße Eigen­ schaft des Anderen ist, nicht aber insoweit sie der Andere selber »ist«. DER HASS

Der Haß will den Tod des Anderen. Der Haß entspringt aus der Erkenntnis, daß meine Kräfte nicht ausreichen, die Frei­ heit des Anderen zu vermindern, zu lenken oder mich ihrer zu bemächtigen. Denn sobald ich auf den Anderen einzuwirken versuche, verwandelt sich seine Freiheit aus einem lebendigen Ausdruck seines Wesens in eine bloße, objektive Eigenschaft seines Wesens, aus etwas Essentiellem in etwas Akzidentielles. Ja, ich belade mich sogar dem Anderen gegenüber mit Schuld, weil mein Auftauchen in seiner Welt ihn, ohne daß ich es will, 62

mit einer neuen Seinsdimension ausstattet, nämlich dem Für­ Andere-sein (der Andere bin in diesem Falle ich) . Der Hassende gibt es also auf, den Anderen als das Werk· zeug zu benutzen, mit dessen Hilfe er seine eigene Objektivi­ tät, sein Ansich-sein zu fassen bekäme. Denn diese Hilfe könnte nur eine lebendige Freiheit leisten, und ein Werkzeug hat keine Freiheit. Statt dessen verlangt der Hassende nach unbe­ grenzter Freiheit, er will sich seines Objekt-für-Andere-seins (das für ihn immer unfaßlich sein wird) entledigen und seine Dimension des Entfremdetseins (d. h. des Zustandes, »fÜr« einen Fremden etwas zu sein, was er nicht kennt) radikal ab· schaffen. »Er will eine Welt realisieren, in der es den Ande­ ren nicht gibt. «1 Der Hassende haßt also nicht eine Eigenschaft des Anderen, sondern dessen Existenz als solche. Er läßt die Freiheit des Anderen unangetastet und will sie so, wie sie ist, vernichten. Denn er haßt es, in einen Zustand zu geraten, in dem er die Freiheit des Anderen »erleidet«, was z. B. auch dann der Fall ist, wenn er vom Anderen ein Almosen annimmt bzw. annehmen muß. Ein arabisches Sprichwort sagt : »Der Beschenkte trachtet dem Wohltäter nach dem Leben.« Daher ist der Haß gegen einen b estimmten Menschen im Grunde genommen Haß gegen alle anderen Menschen. Wenn ich den Tod eines Anderen betreibe, will ich das Prinzip der Fremdexistenz vernichten. Im Haß will ich die Knechtsmaft beseitigen, die im Anderen zu verdanken habe, will im meine beding�ngslose Freiheit zurückerobern. Aber der Haß muß scheitern, d enn wenn ich auch den An­ deren vernichte, kann ich doch nicht die Tatsache aus der Welt smaffen, daß er gewesen ist. »Dadurm wird aber mein Für­ Andere-sein, indem es in die Vergangenheit gleitet, zu einer nunmehr unabänderlichen Dimension meiner selbst«2, und im bin schlimmer dran als vorher. Ich kann mich vom Anderen überhaupt nicht mehr befreien, während ich das vorher, wenig· stens zeitweilig konnte (indem ich ihn anblickte und zu mei­ nem Objekt mamte) . »Was ich für den Anderen war, ist durch 63

den Tod des Anderen zu etwas Festem geworden, und ich werde es auch für die Zukunft unabänderlich sein . . . Der Tod des Anderen konstituiert mich, genau wie mein eigener Tod, als unabänderliches Objekt.«3

DIE MINDERWERTIGKEIT

»Der Minderwertigkeitskomplex ist freies und umfassendes Sichentwerfen meiner selbst als eines, der dem Anderen unter­ legen ist, er ist die Art, in der ich es erwähle, mein Für-Andere­ sein auf mich zu nehmen, er ist die frei gewählte Lösung, die ich dem Problem der Existenz des Anderen, diesem unüber­ bietbaren Skandal, gebe.«1 Auch wenn ich feststelle, daß ich häßlich oder dumm bin, liegt eine Bestimmung meiner selbst von meinen Möglichkeiten aus vor. Bei der Häßlichkeit handelt es sich z. B. um »die Erfassung des Feindseligkeitskoeffizien­ ten, den die Frauen darstellen«2 und den ich nur erfassen kann, wenn ich die Frauen durch freie Wahl zu meinen Mög­ lichkeiten mache. Die eigene Minderwertigkeit wird nicht erkannt, sondern sie wird gefühlt und erlebt. Sie ist nichtsetzendes Bewußtsein. Sie ist zwar nur ein Mittel, um uns einer Sache ähnlich zu machen, und ist insoweit dem Masochismus verwandt. Ist sie aber einmal gewählt worden, so muß sie gewissermaßen »stil­ gerecht« gelebt werden, also »in Scham, Wut und Bitterkeit«3• Ein Gebiet, auf dem wir im Vergleich mit Anderen minder­ wertig sind, können wir nur wählen, »wenn diese Wahl den reflektierten Willen in sich schließt, dort überlegen zu sein«\ andernfalls würde die Minderwertigkeit weder erlitten noch anerkannt werden können. Ein solcher Wille ist also unwahr­ h aftig, denn er verleugnet seine wirklichen Ziele und kon­ struiert psychische Scheingebilde als Antriebe. Befreien kann ich mich von meinem Minderwertigkeitskom­ plex nur durch eine radikale Umgestaltung meines Ur-Ent64

wurfes. Eine solche Umgestaltung kann nicht die Folge des Leides und der Scham sein, die von der Minderwertigkeit ver­ ursacht werden, d enn die Bestimmung dieser Gefühle ist es ja gerade, meinen Minderwertigkeitsentwurf zu realisieren. Daher kann eine solche Umgestaltung wiederum nur frei ent­ worfen werden. DIE FAKTIZITÄT

Der Mensch existiert niemals ganz » für sich« allein, son­ dern immer in einer Situation, die er sich nicht ausgesucht hat und die trotzdem sein e Situation ist. Der Mensch ist so, wie er ist, er »ereignet sich« (lat. contigit, daher : der Mensch ist »Kontingenz« ) , und in Bezug auf ihn, wi e in Bezug auf ein Haus, einen Baum, auf eine Kaffeetasse kann man fragen : »Warum ist dieses Seiende-hier so beschaffen und nicht an­ ders ? « Wir tauchen i n der Welt auf, ohne daß unser Auftauchen irgendwie gerechtfertigt wäre, geschweige denn, daß wir unser ln-der-Welt·sein selbst begründen könnten. Diese Tatsache nennen wir die Urkontingenz des Fürsich. Wir nehmen diese Kontingenz auf uns, sie ist ein Charakteristikum unserer Exi­ stenz. Sie stammt aus dem rein kontingenten Sein des (ansieh­ seienden) Dinges, das wir auch sind, und aus der Nichtung des Ansich zum Fürsich. >>Diese fortwährend verschwindende Kontingenz des Ansieh, von d er das Fürsich heimgesucht und durch die es an das Ansichsein gebunden wird, aber ohne j e­ mals erfaßt werden zu können, nennen wir die Faktizität des Fürsich.«1 Ein besonderer Aspekt meiner Faktizität ist der Platz, den ich auf der Erde einnehme und von dem aus ich wirke. Die Faktizität ermöglicht die Aussage, daß einer ist, daß er existiert, abgesehen von seinem Sosein, seinen Eigenschaften. Erfaßt werden kann sie nicht, weil bei j edem Erfassen das setzende Bewußtsein ins Spiel kommt und weil alles, was be65

wußt wird, gemäß den Strukturen des Bewußtseins verändernd gestaltet wird. Daher kann ich selbst nie sehen, wer ich »fak· tisch« bin. Faktisch besitze ich die Kontingenz eines Faktums. D abei bin ich mir aber meiner Faktizität, meiner Grundlosig· keit, nichtsetzend bewußt. Ich fühle, daß ich für nichts da bin, als etwas Vberzähliges. >>Das Fürsich existiert faktisch, d. h. seine Existenz kann weder mit einer gesetzmäßig entstandenen Realität, noch mit einer freien Wahl gleichgesetzt werden ; und unter den fakti· -sehen Kennzeichen dieser Faktizität, d. h. unter denen, die weder abgeleitet noch bewiesen werden können, die sich viel· mehr bloß > sehen lassen< , gibt es eins, das wir die Existenz· in-der-Welt-in-Gegenwart-von-Anderen nennen.«2 Es gibt auch eine Faktizität der Freiheit, nämlich das Fak· tum, daß die Freiheit ein dem Faktum Entrinnen ist. >>Für die Entdeckung meiner Faktizität ist die Freiheit unentbehrlich. Ich erfahre diese Faktizität von allen Punkten der Zukunft her, die ich mir [in Freiheit] entwerfe. Von dieser [frei] erwählten Zukunft her tritt vor mir die Faktizität in Erscheinung mit ihren Merkmalen von Machtlosigkeit, Kontingenz, Schwäche, Absurdheit.«3 Ohne Faktizität gäbe es aber auch keine' Freiheit, denn es gäbe nichts, was die Freiheit nichten und wählen könnte, und ohne Freiheit würde die Faktizität nicht entdeckt >>und hätte nicht einmal einen Sinn«4•

DIE ERSCHEINUNG

Die Erscheinung eines Dinges weist hin auf die vollständige Reihe aller möglichen Erscheinungen (eine allerdings unend· liehe Reihe) dieses - endlichen - Dinges, sie verweist nicht auf eine unter der Oberfläche des Dinges verborgene Realität. >>Das Sein eines Seienden ist genau das, was es zu sein -scheint. «1 .66

Die Erscheinung oder das Phänomen ist »absolut das, was es ist, denn es enthüllt sich, wie es ist«2• »Es ist absolut sich selbst anzeigend.«3 Die Kraft z. B. ist das Insgesamt ihrer Wir· kungen, die Elektrizität ist das Insgesamt der von ihr hervor· gebrachten physikalisch-chemischen Vorgänge, nichts sonst. Eine physikalische Tatsache ist die synthetische Einheit ihrer Bekundungen. Sofern wir die Werke eines Dichters als die Ge· samtheit aller Bekundungen seiner Person betrachten können, »sind« diese Werke das Genie des Dichters, denn sie sind die vollständige Reihe der Erscheinungen dieses Genies. Die Ers cheinung eines Dinges »ist« das Wesen eines Dinges, sie ist sein Sosein, und das Wesen eines Dinges ist das Gesetz, nach welchem die Erscheinungen des Dinges der Reihe nach auftauchen. Das Wesen ist das Verbindende der Erscheinun· gen, und darum ist es selbst eine Erscheinung. »Die Erscheinung [aber] wird von keinem von ihr unter· schierlenen Seienden getragen : sie hat ihr eigenes Sein. «4

DER LEIB

Der Leib ist das, was am Menschen Ding geblieben ist, als das Ding zu Bewußtsein kam. Der Leib ist der Aussichtspunkt, von dem aus der Mensch die Welt betrachtet, - ein übrigens ganz zufällig gewonnener Aussichtspunkt. Außerdem hat der Mensch Bewußtsein von seinem Leibe, so zwar, daß der Leib eine der Strukturen seines Bewußtseins bildet : der Leib ist das, was Leibbewußtsein »ist«. Mein Leib ist ein Kennzeichen meiner Faktizität : mein Da· sein ist zunächst Leib inmitten der Welt, inmitten der Dinge. Mein Leib ist zwar nicht das Instrument und auch nicht die Ursache meiner Verbindung mit Anderen (das ist vielmehr der »Blick« ) , aber er schafft die Bedeutung dieser Verbindung und gibt ihre Grenzen an : »Ich ergreife die transzendierte Tran· szendenz des Anderen als Leib-in-Situation und ich erfahre 67

mich in meiner Entfremdung zu Gunsten des Anderen auch als Leib-in -Situation.« 1 Der physische Schmerz ist das beste Mittel, der Kontingenz des Menschen inne zu werden, obwohl das Leibbewußtsein als solches nie erlischt, sondern ständig, wenn auch gewisser­ maßen unausdrücklich vorhanden ist. Dieses uns immer begleitende Leibbewußtsein schmeckt uns fade, ist aber der Geschmack, den ich »habe«. Immer enthüllt mein Leib meinem Bewußtsein einen leisen, aber unüberwind­ l ichen Ekel, der die Grundlage für alle die Fälle bildet, wo ich mich bewußt vor etwas ekele. Es handelt sich hier um den metaphysischen Ekel vor j edem Ding : die Dinge sind so ekel­ haft selbstsicher, so selbständig, so komplett, so vielfältig und sich fortwährend vervielfältigend.

DrE ANMUT

Der anmutige Leib offenbart die Freiheit. Das anmutige Tun besitzt die Genauigkeit und Zweckmäßigkeit einer Ma­ schine, zugleich aber die Unberechenbarkeit alles Psychischen. Denn der anmutige Leib erscheint als etwas Psychisches in Situation, und das Psychische ist für den Beobachter immer das Unberechenbare. Die vom anmutigen Leib ausgeführten Bewegungen scheinen von einer ästhetischen Notwendigkeit getragen zu sein, die sich aus ihrer vollkommenen Angepaßt­ heit an den Zweck ergibt. Jede Bewegung des anmutigen Lei­ bes wird von der nachfolgenden, noch nicht vollzogenen Be­ wegung aus erfaßt. Die noch nicht ausgeführten Bewegungen sind zwar nicht vorhersehbar, aber wir sind überzeugt, daß auch sie als notwendig und angepaßt in Erscheinung treten werden. »Aus diesem beweglichen Bild von Notwendigkeit und Freiheit besteht die Anmut im eigentlichen Sinne.« 1 Die an­ mutige Bewegung erscheint wie gerufen und scheint sich unter dem sie rechtfertigenden Anruf selbst hervorzubringen. 68

Die Anmut hat die Kraft, die Faktizität des Leibes zu ver­ hüllen. Dann ist z. B. die Nacktheit des Fleisches da, wird aber nicht gesehen. »Der anmutigste Leib ist ein nackter Leib, den seine Bewegungen mit einem unsichtbaren Kleid umhüllen, die sein Fleisch gänzlich den Blicken entziehen, obwohl es für die Augen der Zuschauer vollkommen gegenwärtig ist.«2 Der Gegensatz zum Anmutigen ist das Obszöne.

DAs OBsZöNE

Das Obszöne ist der Gegensatz zum Anmutigen. Obszön wirkt ein Leib, wenn er Stellungen einnimmt, »die ihn seiner Bewegungen entkleiden und die Trägheit seines Fleisches ent­ hüllen«1. Obszön wirkt z. B. ein fettes, hin und her wackelndes Hinterteil, weil es eine Faktizität des Leibes sehen läßt, »die überreichlich ist im Vergleich mit der realen, von der Situation [z. B. dem Gehen] geforderten Anwesenheit von Faktizität . . . Wird ein solches Fleisch obendrein enthüllt, dann ist es in be­ sonderer Weise obszön, denn es entdeckt sich einem, der nicht imstande ist, zu begehren, und ohne seine Begierde zu reizen«2•

DAs LocH

Das Loch ist etwas, das danach verlangt, ausgefüllt zu wer­ d en. Kleine Kinder fühlen sich von Löchern magisch ange­ zogen. Sie verspüren j enes Verlangen und stecken den Finger oder den ganzen Arm hinein. Sie opfern symbolisch ihren Leib, damit das Leere verschwindet, damit überall »etwas« ist und die Welt in Ordnung kommt. Die Urtendenz des Men­ schen, Löcher zu verstopfen, bleibt das ganze Leben lang bildlich und tatsächlich genommen - bestehen. Und erst von dieser Ebene aus wird verständlich, warum das weibliche Ge­ schlechtsorgan obszön wirkt : es kommt daher, daß es ein Loch 69

ist und daß der Ruf nach Fleisch, das es ausfüllen soll, von ihm ausgeht. Auch die Frau empfindet ihre Seinsstellung wie einen solchen Ruf, wie eine solche Anlockung von Fleisch. So wird dann j edes Loch zu etwas Obszönem, weil es die Erwar· tung des Obszönen ist.

DIE SITUATION

Mein Sein erkenne ich zunächst nur insoweit, als es von meinen Unternehmungen auf mich zurückgestrahlt wird : mein Sein ist stets und unmittelbar » in Situation«, inmitten von Plänen, die zu verwirklichen ich gerade im Begriffe bin. Alle diese Pläne lassen sich auf einen Grundplan zurückführen, auf einen Ur-Entwurf meiner selbst, mit dem ich mich auf meine grundlegenden Möglichkeiten hin entwerfe. Diesem Ur-Ent­ wurf ist es zuzuschreiben, daß es Werte, Forderungen, Erwar­ tungen, und daß es überhaupt für mich eine Welt gibt. Die Strukturen der Situation sind : mein Platz, mein Leib, meine Vergangenheit, meine Position, meine grundlegenden Beziehungen zu Anderen. Diese Strukturen sind stets gemein­ sam gegeben. In der Situation ordne ich die Naturdinge in einer meinem Entwurf angemessenen Weise zusammen. Ich lege ihnen Sinn und Bedeutung bei. Ein von anderen Men­ schen erlassenes Verbot erhält erst in meiner Situation das Merkmal des Verbindlichen oder des Unverbindlichen, je nach meinem Entwurf. Entsprechendes gilt für einen Befehl. »Die Situation ist das gemeinsame Produkt der Kontingenz des An­ sich und der Freiheit, ein zweiseitiges Phänomen, in welchem das Fürsich den Beitrag der Freiheit und den des Naturdinges nicht zu unterscheiden vermag.«1 Allerdings hängt der Feindseligkeits- oder Werkzeugkoeffi­ zient der Dingkomplexe nicht einzig und allein von dem Platze ab, von dem aus ich die Dinge entdecke, sondern auch von der eigenen Wirkfähigkeit der Dinge und der Dingzusammen70

hänge. »Die plötzliche Verwandlung oder das plötzli che Er­ scheinen eines Werkzeugs können zu einer radikalen Verände­ rung der Situation beitragen«2 (ein Pneu platzt, z. B.) und in­ folgedessen auch zur Umwandlung meiner Pläne, - freilich nicht zu der meines grundlegenden Entwurfes, durch den j a d erartige Veränderungen erst z u Anlässen, etwas umzuwan· dein, werden können. Ü berhaupt gilt der Satz : »Situation und Veranlassung sind eins.«3 Drei Wirklichkeitsschichten machen meine konkrete Situa­ tion aus : die bereits mit Bedeutung versehenen Dinge (der B ahnhof, das Telefon, das Kunstwerk, die Bekanntmachung) , die Bedeutung, die ich selbst bereits habe (meine Staatsbürger­ schaft, meine Rasse, mein Aussehen) und endlich der Andere, der der Urheber und der Beziehungsmittelpunkt dieser von mir bereits vorgefundenen Bedeutungen ist. Daraus ergibt sich eine paradoxe Situation : »Ich, durch den die Bedeutungen den Dingen zukommen, befinde mich eingesetzt in eine schon mit Bedeutungen versehene Welt.«4 Ü berhaupt hat alles, was die Freiheit unternimmt, eine Seite, >>die sie nicht gewählt hat, di!� ihr entgeht und die für den Anderen reines Vorhandensein ist«5• Es handelt sich hier um eine konstitutionelle Schwäche der Freiheit. Da wir nur in Situation existieren und da die Fremdexistenz ein Faktum ist, erzeugen wir durch unsere freie Selbstwahl eine Situation, die immer den Anderen mit zum Ausdrucll: bringt und die außerdem immer auch dadurch gekennzeichnet ist, daß sie als Gestalt-ansieh (d. h. als ein mir entfremdetes Obj ekt) »für den Anderen« da ist. Die Situation kann nicht subjektiv genannt werden, denn >>sie ist weder die Summe noch die Einheit der Eindrücll: e , die die Dinge uns machen : sie ist die Dinge selbst und ich selbst unter den Dingen . . . Sie verrät meine Faktizität, d. h. die Tat­ sache, daß die Dinge einfach da sind, wie sie sind, ohne Not­ wendigkeit und ohne die Möglichkeit, anders zu sein, und daß ich unter ihnen da bin«6• Aber die Situation kann auch nicht 71

obj ektiv genannt werden, denn sie spiegelt dem Fürsich dessen Freiheit wider, durch die die Dinge ihre Bedeutung erhalten. Daß die Situation weder subjektiv noch obj ektiv sein kann, kommt daher, daß sie kein Gegenstand der Erkenntnis ist, son­ dern »eine Seinsbeziehung zwischen einem Fürsieh und dem Ansieh, das vom Fürsich gerrichtet wird«7• Dabei ist das Sub­ j ekt nichts anderes, als seine Situation. Aber auch das Insge­ samt der D inge, die es innerhalb der Situation gibt (und es ßibt für alle Zeiten weiter nichts, als die Dinge) , ist nichts anderes, als diese Situation. Die Situation ist »die gegliederte Ganzheit des Da-Seins, die innerhalb und mittels des Darüber­ hinaus-seins gedeutet und erlebt wird«8• Dieses Darüber-hin­ aus-sein, durch das die Situation also »geniehtet« wird, ist das­ selbe wie mein die Situation überschreitender (transzendieren­ der) Selbstentwmf. Und da ich mich stets von einer konkreten Situation aus entwerfe, wird dieser Entwurf, je nach der Situa· tion, einfach oder verwickelt ausfallen. Das heißt aber, daß ich eelbst einfach oder verwickelt bin, je nachdem ob ich »zur Be­ wältigung« der Situation einen einfachen oder einen verwickel­ ten Entwurf benötige. Da die Situation nur vorhanden ist, soweit sie erlebt wird, kann man die Situationen verschiedener Menschen nicht mit­ einander vergleichen. »Jede Person realisiert nur eine Situa­ tion : die ihre.« 9 »Weil die Freiheit dazu verurteilt ist, frei zu sein, d. h. weil sie sieh nicht als Freiheit erwählen kann, gibt es Dinge, d. h. eine Fülle von Kontingenz, in deren Innerem sie selbst Kon­ tingenz ist. Durch Übernahme dieser Kontingenz und durch das sie Überschreiten kann es gleichzeitig eine Wahl und eine Zusammenordnung von D ingen zur Situation geben. Und die Kontingenz der Freiheit sowie die des Ansich [d. h. der Dinge] drücken sich in Situation durch die Unberechenbarkeit und die Feindseligkeit der Umgebung aus. So bin ich völlig frei und für meine Situation verantwortlich. Aber ich bin auch niemals frei, außer in Situation.«10 72

»Die Situation ist das eigentümliche Gesicht, das die Welt uns zukehrt, sie ist unsere einmalige und persönliche Chance. «1 1

WILLE UND AFFEKT

Der Wille ist frei, und folglich besitzt er »Negativität und nichtende Kraft»1• Er besitzt die Autonomie der Freiheit. Er ist nicht die einzige oder die bevorzugte Bekundung der Freiheit, sondern j edes Ereignis im Dasein des Fürsich ist eine solche Bekundung. »Der Wille setzt sich als reflektierten Entschluß in Bezug auf bestimmte Ziele. Aber diese Ziele erschafft er nicht. Er ist vielmehr eine Seinsart in Bezug auf sie : er ordnet an, daß die Verfolgung dieser Ziele reflektiert und überlegt sein muß.«2 Der Affekt kann die gleichen Ziele verfolgen, nur wird er bei Auswahl und Benutzung der Mittel unüberlegter verfahren, als der Wille. Gewählt werden die Ziele in jedem Falle von meiner Freiheit, und mein Wesen wird durch meine letzten Ziele definiert »und identifiziert sich mit dem ursprünglichen Hervorbrechen der Freiheit, die die meine ist. Und dieses Her­ vorbrechen ist eine Existenz«3, es hat nichts von einer Essenz oder einer Eigenschaft an sich. »Die Freiheit ist nichts anderes als die Existenz unseres Willens oder unserer Affekte, inso­ fern diese Existenz die Nichtung der Faktizität ist.«' Da die Ziele von der Freiheit gesetzt werden, handelt es sich nur noch darum, eine Haltung ihnen gegenüber zu wählen und zu entscheiden, ob »freiwillig« oder affektiv gehandelt wer­ den soll. Diese Entscheidung kann nur ich selbst treffen ; die äußeren Umstände können mir die Entscheidung nicht abneh­ men, denn sie sind ja meine Situation, d. h. ein Ausdruck mei­ ner Freiheit. Eigentlich gibt es aber für den Willen gar nichts zu entscheiden, denn die Antriebe und Anlässe für mein Tun haben genau das Gewicht, das meine freie Hervorbringung des Zieles sowie des Aktes, der das Ziel realisieren soll, ihnen bei6 StreUer, Sartre

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legt. Bevor der Wille sich betätigen kann, ist alles schon ent­ schieden (»Les j eux sont faits«5) . Wenn ich den Willen über­ haupt noch ins Spiel bringe, so deshalb, weil es zu meinem Ur­ Entwurf gehört, weil ich die grundlegende »Intention« habe (die selbst Freiheit ist, aber tiefer liegt, als die Willensfrei­ heit) , mir über meine Antriebe des Handeins lieber durch Überlegung klar zu werden, als durch den Affekt oder einfach durch das Handeln selbst. Einen »Kampf zwischen Wille und Affekt« kann es nicht geben. »Es genügt nicht, zu wollen : man muß den Willen haben, zu wollen.«6 Im Gegensatz zu diesem Willen gibt es eine In­ tention, »das Bewußtsein zu verlieren, um die furchtbare Welt zum Verschwinden zu bringen«7, also durch gewissermaßen magische Mittel. Der Wille sucht dagegen das Problem, die Welt zu meinem Vorteil zu verändern, auf rationalem bzw­ technischem Wege zu lösen. Bei Beschreitung des magischen oder des technischen Weges entdecke ich eine magische oder eine technische Welt. Weichen Weg ich einschlage, hängt von meinem Ur-Entwurf ab, also davon, ob ich mir das magische oder das technische, das emotionale oder das rationale Dasein zulege. Je nachdem, ob ich meine Freiheit in meine Furcht oder in meinen Mut verlege, existiere ich als Furchtsamer oder als Mutiger. Für beides bin ich verantwortlich, denn beides kann ich nur sein, wenn ich es frei gewählt habe. »Alle meine >Seinsarten< geben von meiner Freiheit in gleicher Weise Kunde, da sie sämtlich Art und Weisen sind, mein eigenes Nichts zu sein«8, d. h. das zu sein, was ich (noch) nicht bin, sondern zu sein habe. Der Wille kann Entschlüsse fassen, die den grundlegenden Zielen entgegengesetzt sind. Denn diese Entschlüsse sind refle­ xiv und daher d em Irrtum unterworfen. Das reflexive Bewußt­ sein zielt darauf ab, richtige psychische Objekte zu bilden, nach denen der Wille sich richten kann, die aber in Wirklich­ keit nur wahrscheinliche Obj ekte sind (alle Objekte sind nur wahrscheinlich) oder auch Scheinobj ekte sein können. 74

Von der Spontaneität unterscheidet sich der Wille dadurch, daß diese ein unreflektiertes Bewußtsein von Anlässen ist. »Das Ideal des Willens ist es, ein >Anundfürsich < zu sein, insofern es ein Sichentwerfen auf ein bestimmtes Ziel hin ist : d as ist offenbar ein rein reflexives Ideal und zugleich der Sinn der Befriedigung, die wir aus einem Urteil schöpfen wie : > Ich habe getan, was ich wollte > Das Sein ist dies da, und, abgesehen von die­ sem, nichts.«1 J ede Frage erwartet eine Seinsenthüllung und rechnet da­ mit, daß das befragte Seiende ein Nicht-Sein enthüllt. Jede Frage enthält also ein prälogisches Verständnis für das Nicht­ Sein. Jede Frage macht das Gegebene zu einer Vorstellung, die zwischen Sein und Nicht-Sein hin und her schwingt. Der Frage­ steller befreit sich von der Kausalität, die ja immer nur Posi­ tives aus Positivem hervorgehen lassen kann. Er macht einen nichtenden Schritt nach rückwärts (ein nichtender Prozeß hat keine Ursache, er leitet seinen Ursprung von sich selbst her) , er verschafft sich Spielraum gegenüber dem Gegebenen und versetzt es dadurch in einen neutralen Zustand zwischen Sein und Nicht-Sein. Gleichzeitig macht er sich selbst von der Leim­ rute des Seins los und verschafft sich damit die Möglichkeit, Nicht-Sein für möglich zu halten. Durch die Frage gelangen die Negiertheiten in die Welt, d. h. rf'ale Seiende, in deren innerer Struktur die Negation ent­ halten ist als eine notwendige Bedingung ihres Vorhanden­ seins. Derartige Seiende können nicht nur beurteilt, sondern auch in Frage gestellt, gefürchtet, bekämpft, verabscheut wer­ den. Eine Negiertheit ist z. B. der Staat. 77

DER WERT

Wertvoll ist, was meine Freiheit als wertvoll anerkennt. Ein Wert enthüllt sich nur einer aktiven Freiheit, nicht aber einer kontemplativen Betrachtung, die ihn wie einen Gegenstand er­ greifen möchte. Das Sein des Wertes besteht in der Forderung, die er an mich richtet, und die ihrerseits insofern besteht, als ich sie anerkenne. Die Werte werden allein von meiner Frei­ heit begründet. Meine Freiheit ängstigt sich, die Grundlage dieser grundlagelosen Werte zu werden und dabei doch die Möglichkeit zu haben, die Werte j ederzeit auf den Kopf zu stellen. »Diese Angst vor den Werten ist die Anerkennung der Idealität der Werte«\ d. h. die Anerkennung der Tatsache, daß die Werte nichts Gegenständliches an sich haben. Bei einem Wert kann ich keine Zufl ucht finden, denn meine Freiheit ist es j a, die die Werte im Sein erhält. Ich allein habe den Sinn der Welt und den meines Wesens zu verwirklichen. Dabei kann nichts mich rechtfertigen und nichts kann mir als Entschuldigung dienen für »Fehler>zu sein hat«, was er aber durchaus nicht »ist«. Er ist für Andere und für sich selbst nur eine Vorstel­ lung und er kann nur als Vorstellung >>sein« . >>A ber gerade, wenn ich mir mein Sein vorstelle, bin ich es nicht. Ich bin von ihm geschieden wie das Objekt vom Subj ekt, geschieden durch nichts, aber dieses nichts sondert mich von ihm ab, ich kann es nicht sein, ich kann nur spielen, es zu sein, d. h. ich kann mir einbilden, ich sei es. Und eben dadurch belaste ich es mit Nichts.«1 Echt sein, derjenige sein, der man ist, heißt also, den Versuch machen, im Spiel einen vorgestellten Typus (>>den« ehrbaren Kaufmann, >>den« vorbildlichen Familienvater, >>den« genialen Verbrecher) zu realisieren. Was ich für d ie Anderen und für mich bin, bin ich >>in der Weise, das zu sein, was ich nicht bin«2• >>Ich kann weder sagen, daß ich hier > bin bin< in dem Sinne, in dem man sagt, > diese Streich­ holzschachtel ist auf dem Tische < : das hieße, mein Inderweit­ sein mit meinem lnmittenderweltsein verwechseln«3, d. h. mein Sein als Subjekt in meiner Welt verwechseln mit meinem Sein als Ding in der allen Menschen gemeinsamen Welt der Dinge. 80

Also kann das Ideal der Echtheit nicht verwirklicht werden, denn sein Sein widerspricht der Struktur des menschlichen Be­ wußtseins . Wenn ich sein >> soll«, was ich bin, wird angenom­ men, daß ich nidtt ursprünglich das bin, was ich bin. Aber in Richtung auf ein Ansichsein kann ich mich gar nicht ent­ wickeln, denn ein solches Ansichsein gibt es für mich nicht und ich weiß das auch ganz genau. lch weiß, daß ich mich nicht als einen Gegenstand konstituieren kann, der ein Glied der Kausalkette bildet. Ein Strafurteil betrifft immer einen Misse­ täter, der eigentlich gar nicht mehr vorhanden ist. Wer sich eingesteht, schlecht zu >> sein« , setzt an die Stelle seiner - ihn ängstigenden - Freiheit zum Bösen einen ding­ haften Schlechtheits-Charakter, den er nun >> objektiv« ver­ urteilen kann. In seinem Streben nach Echtheit konstituiert er sich also als das, was er ist, um es nicht zu sein (denn in ihm gibt es eben nichts Dinghaftes) und um aus seiner Verurtei­ lung des Schiechtheits-Charakters ein Verdienst für sich her­ leiten zu können. Er ist nicht echt, sondern unwahrhaftig. Überhaupt sind die Ziele von Echtheit und Unwahrhaftigkeit nicht sehr verschieden. Im Grunde genommen liegt das daran, >> d aß es keinen scharfen Unterschied von Sein und Nicht·Sein gibt, sobald es sich um mein Sein handelt«'.

DAs SEIN Das Sein ist das den Seienden Gemeinsame. Das Sein ist die immer gegenwärtige Grundlage des Seienden. Es gibt vielerlei, was wahr ist, aber es gibt nur eine Wahrheit. Die Wahrheit ist das Sein der wahren Dinge, insoweit sie wahr sind. Da das Sein sich allen Menschen irgendwie kundgibt, müßte es eigentlich ein Phänomen, eine Erscheinung des Seins geben, also ein Seinsphänomen. Sogleich erhebt sich die Frage : könnte d ieses Seinsphänomen identisch mit d em Sein der Phänomene sein, durch die die Dinge mir erscheinen ? 81

D as Sein ist nicht, wie Hegel meinte, ein Moment des Gegen­ standes, »eine Struktur neben anderen«, sondern die Bedin­ gung aller Momente und Strukturen. Auf dem Untergrunde des Seins zeigen sich erst die Bestimmungsstücke des Phäno­ mens. Das Sein ist also weder eine Eigenschaft, noch d er Sinn eines Obj ektes. Wenn man alle Eigenschaften eines Dinges wegnähme, bliebe nicht etwa das Sein übrig. Das Sein ist nicht nur Sein des Objektes, sondern auch Sein von dessen Eigen­ schaften. Das Sein »ist«. D as Seinsphänomen ist ein Ruf nach Sein, es verlangt nach einer transphänomenalen Begründung. Das Sein geht über die Erkenntnis, die man vom Phänomen gewinnt, hinaus und stif­ tet sie. Das transphänomenale Sein ist das Sein des erkennen­ den Subjektes. Das Seinsgesetz dieses Subjektes ist aber : be­ wußt·sein. Was ein Gegenstand ist, wird durch das Zueinander der .subj ektiven Eindrücke enthüllt, die ich von ihm habe. Er selbst ist die transzendente Grenze dieses Zueinanders, sein Grund und zugleich sein Ziel. Das Seiende kann vom Bewußtsein stets transzendiert wer­ den, nicht auf dessen Sein, wohl aber auf den Sinn dieses Seins hin. Der Sinn vom Sein eines Seienden ist das Seinsphänomen. Er gilt auch für das Sein dieses Sinnes. Das Sein des Phänomens unterscheidet sich durchaus vom Sein des Bewußtseins. Das Sein des Phänomens, also das eigentliche Sein, hat die Seinsart des Ansichseins ; es kann weder von etwas Möglichem, noch von etwas Notwendigem, noch von einem anderen Sein abgeleitet werden : es ist »Über­ zählig« (de trop) 1• Das Sein des Bewußtseins hat dagegen die Seinsart eines degradierten Ansichseins, das wir Fürsichsein nennen. Das Sein des Phänomens ist ungeschaffen, aber es ist nicht - wie das Bewußtsein - Ursache seiner selbst ( causi sui) . Es ist an sich, wobei dieses »sich« das Sein selbst ist, sobald die fortgesetzte Reflexion, durch die das »sich« konstituiert ,ß2

wird, sich in einer Identität von Reflektierendem und Reflek· tiertem auflöst. »Das Sein ist, was es ist«2, wogegen das Für· sichsein ist, was es nicht ist, aber zu sein hat.

DAS NICHTS

Das Nichts »ist« nicht, es ist überhaupt nichts. Es hat nicht nur kein Sein, sondern es ist Abwesenheit j edes Seins. Aber es ist notwendig, denn ohne das Nichts gäbe es nichts als Sein, das heißt, es gäbe nur Dinge und es gäbe keine bewußten Wesen. Weil im Menschen - und nur im Menschen - das Nichts wohnt, kann er nie mit sich selbst identisch werden, geht immer durch ihn ein Riß hindurch, in dem das Nichts seinen Sitz hat. Weil der Mensch das Nichts in sich trägt, kann er die Welt ganz oder teilweise ableugnen. Dieses Nichts scheidet seine Vergangenheit von seiner Gegenwart, sofern es eine Struktur des Bewußtseins ist, das er selbst ist. Es macht ihn von seiner eigenen Vergangenheit unabhängig. Weil der Mensch nein sagen kann, ist er frei. Wer nichts abzulehnen vermag, ist ein Knecht. Wenn der Mensch dem Ansichsein gegenüber überhaupt Stellung nehmen kann, so deshalb, weil er dieses Sein nicht ist und weil er es verneinen kann. Die Ver­ neinung hat die Fähigkeit, ein Seiendes zu nichten. Unter »Nichtung« versteht man denjenigen Vorgang, durch den das Fürsich ein bestimmtes Seiendes vor dem Hintergrund der un­ differenzierten Ding-Gesamtheit auftauchen läß t, indem es zu· gleich diesem Seienden eine Bedeutung (einen Namen, einen Sinn, einen Zweck) beilegt, das Seiende dadurch überschreitet und in das Nicht-Sein zurückstößt, - denn das betreffende Seiende existiert fortan nicht mehr als solches, sondern nur noch, insoweit es diese Bedeutung usw. repräsentiert. Das Sein geht nicht aus dem Nichts hervor, sondern das Nichts ist logisch später, als das Sein : das Nicl1ts setzt das Sein voraus, um es leugnen zu können. Wenn alles Sein ver· 83

schwände, würde nicht das Nicht-Sein All einherrscher werden, sondern mit verschwinden. »Nicht-Sein gibt es nur auf der Oberfläche des Seins.«1 Das Nicht-Sein ist fortwährend da, in uns und außer uns. Das Sein wird vorn Nicht-Sein heimgesucht, aber das Nicht­ Sein erscheint nur, wo Sein erwartet werden konnte. Weil der Physiker von der Natur erwartete, daß sie seine Hypothese bestätigte, konnte sie nein zu ihm sagen. Das heißt, daß das Nicht-Sein nur erscheinen kann, wenn es vorher als Möglich­ keit gesetzt wurde. Jedes erwartete Seiende muß vor einem Hintergrund aus anderem Seienden erscheinen, das durch eben diese Erwartung zu einem undifferenzierten Etwas (dem Hin­ tergrunde) zusammenschmilzt, seiner Individualität beraubt und gerrichtet wird, eben weil es das erwartete Seiende »nicht ist«. Taucht das erwartete Seiende nicht auf, so verharrt es als ein Nichts vor einem Nichtungshintergrunde. Die Erwartung eines Seienden läßt dessen Abwesenheit geschehen. Aber das Nicht-Sein gelangt nicht durch ein negatives Urteil zu Dingen, sondern das Umgekehrte ist der Fall : »das negative Urteil wird von Nicht-Sein getragen«2• Das Nichts muß gegeben sein, damit es Verneinung und negative Urteile geben kann. Verneinung muß es geben, damit Fragen gestellt werden können, vor allem Fragen nach dem Sein. Aber das Nichts kann nicht vorn Sein hervorgebracht werden, denn das Sein ist durch und durch positiv. Das Nichts muß inmitten des Seins gegeben sein, »in seinem Herzen, wie ein Wurrn.«3 Das Nichts »nichtet« nicht, wie Heidegger meint, denn um das zu können, müßte es Sein besitzen. Es hat aber kein eige­ nes, sondern nur ein entliehenes Sein, nämlich das Sein des­ j enigen Seienden, d as es war, aber nicht mehr ist. »Das Nichts nichtet nicht, sondern es wird genichtet.«4 Dazu ist aber nicht das Ansichsein (das Sein des Phänomens) , sondern nur ein Seiendes imstande, dem es in seinem Sein um das Nichts des Seins geht : »Das Sein, durch das das Nichts in die Welt ge84

langt, muß sein eigenes Nichts sein«5, d. h. es kann nur der Mensch sein, da nur der Mensch etwas in Frage stellen kann und da nur dem Mens Ch en Negiertheiten - die allein in Frage gestellt werden können - begegnen. Jedes zerstörbare, zerbrechliche Seiende enthält in seinem Sein »eine bestimmte Möglichkeit von Nicht-Sein«8• Die Sicht­ barwerdung dieser Möglichkeit stammt vom Menschen. Ein Gegenstand wird wertvoll, zerbrechlich, wenn der Mensch ihn als zerbrechlichen setzt und wenn er Maßnahmen ergreift, um ihn vor dem Zerbrochenwerden zu schützen. » Sinn und Zweck des Krieges sind bereits in der Tatsache enthalten, daß der Mensch etwas aufbaut, errichtet.«7

DIE TRANSZENDENZ

Transzendenz ist, was über j ede mögliche Erfahrung hinaus­ geht. Ein Tatbestand ist transzendent, wenn er nicht »exi­ stiert« , d. h. wenn er kein Faktum, nichts Handgreifliches ist. Wenn z. B. ein Lügner so tut, als spräche er die Wahrheit, so mimt er eine die Wahrheit sagende Persönlichkeit, » aber diese Persönlichkeit ist, eben weil sie niCht ist, etwa Transzenden­ tes« 1 . Transzendenz ist das Vorhandensein in der Weise von etwas Transzendentem, zugleich aber die Fähigkeit, etwas zu tran­ szendieren, d. h. etwas nicht als das zu nehmen, was es an sich ist, sondern es zu »Überschreiten« auf etwas hin, was es von sich aus nicht ist, z. B. auf eine Bedeutung hin (die ich ihm verleihe) . Der Mensch ist transzendent, denn er reicht über jede mög­ liche Erfahrung, die man mit ihm machen kann, hinaus, er ist - nach den Worten Jaspers' - grundsätzlich mehr, als über ihn ausgesagt werden kann. »L'Homme surpasse infiniment l'homme« (Pascal) . Aber der Mensch ist auch eine Transzen· denz, denn er hat die Fähigkeit zur Transzendenz. Der Mensch 85

transzendiert jedes Ding, sobald er es zu »seinem« Gegenstand macht, zum Gegenstand seiner Beurteilung, seiner Erkenntnis oder seines Tuns, und er »entfremdet« damit das Ding sich selbst, er tut seinem Wesen dadurch Gewalt an, daß er es zwingt, ihm eine bestimmte Seite seines Wesens zuzukehren, während alle anderen Seiten (Aspekte) vernachlässisgt wer­ den. Aber der Mensch kann auch selbst transzendiert werden, nämlich von einem anderen Menschen, der ihn anblickt, über ihn ein Urteil fällt und ihn d adurch zu seinem Gegenstand macht. Brutalere Weisen, einen Menschen zu transzendieren und sich selbst zu entfremden, bestehen in der Benutzung eines Menschen als Werkzeug zu Erreichung bestimmter Ziele (Folterung zur Erlangung bestimmter Aufschlüsse, z. B.) . Insofern der Mensch die Dinge transzendiert, bildet er aus ihnen seine »Situation« , der er selbst angehört. Wenn dieser Mensch von einem Anderen erblickt und also transzendiert wird, erstarrt er mitsamt seiner Situation zu etwas Objekti­ vem : den Dingen und ihm selbst wird vom Anderen eine neue Bedeutung beigelegt, die er nicht kennt. Der Mensch ist zu einer transzendierten Transzendenz geworden. GoTT

»Wenn ich den Blick der Anderen als die Gelegenheit zu konkreter Erfahrung [meines Erblicktwerdens und also mei­ ner Gegenständlichkeit] beiseite lasse und versuche, die un­ endliche Ununterschiedenheit der Gegenwart anderer Men­ schen rein formal zu denken und sie unter dem Begriff des unendlichen Subjektes, das niemals Objekt ist, zusammen­ zufassen, so erhalte ich einen inhaltlosen Begriff, der sich auf eine unendliche Reihe mystischer Erfahrungen mit der Gegenwart Anderer bezieht, einen Begriff von Gott als dem allgegenwärtigen und unendlichen Subj ekt, für das ich exi­ stiere.« 1 Zugleich verewige ich mein Objekt-sein und mache meine Scham, als Objekt angetroffen zu werden, zu etwas Un86

aufhörlichem. Und zugleich verdingliche ich meine Obj ektheit und mache sie zu etwas Realerem, als mein Fürmichsein ist. »Ich existiere mir entfremdet und lasse mich von meinem Drau­ ßen [d. h. von den\., was ich für den Anderen bin] darüber unterrichten, was ich sein soll. Das ist der Ursprung der Furcht vor Gott.«2 Es gibt einen menschlichen Ur-Entwurf, der darauf a bzielt. aus der Vereinzelung herauszukommen, das Fürsichsein ab­ zuwerfen und zu einer Gesamtheit mit allen anderen Men­ schen (d. h. zu einer »Menschheit« ) zu verschmelzen. Ein sol­ cher Entwurf statuiert die Existenz eines Dritten, »der sieb grundsätzlich von der Menschheit unterscheidet und in dessen Augen sie ganz und gar Obj ekt ist«3• Dieser nicht realisier· bare Dritte ist der Gegenstand des gleichen inhaltlosen Be­ griffes, von dem wir oben sprachen. Der Begriff ist, so ge­ sehen, identisch mit dem Erblickend-sein, das niemals erblickt werden kann, d. h. mit der Gottesidee. Aber Gott ist etwas Ab­ wesendes, durch ihn kann daher niemals die Menschheit als die unsrige verwirklicht werden. Wenn ich »wir« sage und die Menschheit meine, so bleibt dieses Wir ein Begriff ohne In­ halt, »eine bloße Anzeige einer möglichen Ausdehnung des gewöhnlichen Gebrauchs von Wir«4, die Anzeige einer ge­ wissen konkreten Erfahrung, die in Gegenwart des absolut gesetzten Dritten, d. h. Gottes, erduldet werden muß. Die Be­ griffe Menschheit und Gott sind zueinander korrelativ, einer ist im anderen enthalten. Der den grundlegenden Selbstentwurf des Fürsich leitende Wert ist das Anundfürsich, d. h. das Ideal eines Bewußtseins, das die Grundlage seines eigenen Ansichseins wäre. Sofern man dieses Ideal Gott nennt, besteht der grundlegende Ent­ wurf der menschlichen Realität darin, Gott zu werden. Dieser Gott stellt das ständige Ziel der Transzendenz des Menschen dar, das Ziel also, von dem aus der Mensch sich verkünden läßt, was er ist. »Mensch sein heißt, darauf abzielen, Gott zu werden.«1 87

DER Ton

Der Tod ist in unserer Zeit zu einem Ereignis des mensch­ lichen Lebens gew orden. So wie der Schlußakkord einer Melo­ die >>aus Stille gemacht ist«1, aus dem Nichts an Klang, das der Melodie folgen wird (»denn die Stille, die folgen wird, ist in dem auflösenden Akkord als seine Bedeutung schon anwesend«2) , wie er aber andererseits auch zur Melodie selbst gehört (denn ohne ihn würde die Melodie in der Luft hängen bleiben und jeder Ton zu etwas Unbestimmtem, Unfertigen werden) , so hat der Tod, wie j eder Grenzstein, zwei Gesichter : ein nach dem Nichts und ein nach dem Leben zu gewendetes. Für die Mehrzahl der Menschen bedeutet der Tod die un­ mittelbare Berührung mit dem Nichtmenschlichen. Für die Ro­ mantiker und für einige Dichter (Rilke, Malraux u. a.) wurde der Tod dagegen zu einem Bestandteil des Lebens, er wurde in das Leben hineingenommen und verinnerlicht. Es wurde auf diese Weise erreicht, daß der Mensch nur Menschlichem be­ gegnen kann. »Der Tod ist das letzte Phänomen des Lebens, also noch Leben . . . Der Tod wird zum Sinn des Lebens, so wie der auflösende Akkord der Sinn der Melodie ist.«3 Der so verstandene Tod ist aber nicht allein menschlich, sonder!l er ist, da er verinnerlicht wird, auch der meine. »Er ist das­ j enige Phänomen meines persönlichen Lebens, das aus diesem Leben ein einmaliges Leben macht . . . Dadurch werde ich für meinen Tod so verantwortlich, wie für mein Leben.«4 Da das menschliche Dasein nichts erleidet, weil es ganz und gar Ent­ wurf und Vorwegnahme ist, entwirft es auch seinen eigenen Tod als die Möglichkeit, »Anwesenheit in der Welt nicht mehr zu realisieren« (Heidegger) 5• Das Sein des Menschen ist ein »Sein zum Tode« . Diese romantisch·idealistische Auffassung des Todes i s t n u­ haltbar. Vor allem übersieht sie den Absurdheitscharakter des Todes. Er ist nicht der auflösende Akkord am Schlusse einer Melodie. Vielmehr ist j eder von uns »in der Lage eines zum 88

Tode Verurteilten, der sich tapfer auf den letzten Gang vor­ bereitet, der alle Sorgfalt darauf verwendet, auf dem Schafott eine gute Figur zu machen, und der inzwischen von einer Grippeepidemie dahingerafft wird«6• Außerdem aber kann man auf den Tod nicht - wie die romantischen Gemüter meinen ­ »warten« (falls es sich nicht um eine bevorstehende Hinrich­ tung oder um den Ausgang einer absolut tödlichen Krankheit handelt) . Warten kann ich nur auf ein ganz bestimmtes Er­ eignis, was durch ganz bestimmte Geschehnisse herbeigeführt wird, und zwar muß der Ablauf dieser Geschehnisse bereits begonnen haben : ich kann auf einen Zug warten, von dem ich weiß, daß er den Abgangsbahnhof verlassen hat, und ich kann mich »darauf gefaßt machen«7, daß er Verspätung hat. »Die .M öglichkeit meines Todes gehört zum Typus einer wahrschein­ lichen Zugverspätung, nicht zum Typus der Ankunft des Zu­ ges . . . Mein Tod kann für kein Datum vorausgesehen und folglich auch nicht erwartet werden.«8 Es ist nicht absolut rich­ tig, daß jede Minute, die vergeht, mich dem Tode näher bringt. »Vielleicht ist, während ich an meinem Schreibtisch friedlich arbeite, der Weltenzustand ein solcher geworden, daß mein Tod beträchtlich näher gerückt ist, vielleicht aber hat er sich, im Gegenteil, soeben beträchtlich entfernt.«� »Wir haben alle Aussichten, zu sterben, bevor wir unsere Aufgaben erfüllt haben, oder, im Gegenteil, sie und uns selbst zu überleben.«10 Der Zufall, der über den Eintritt des Todes entscheidet, kann aber »nur als Nichtung aller meiner Möglich­ keiten aufgefaßt werden, und zwar als eine Nichtung, die selbst keinen Teil meiner Möglichkeiten mehr bildet. So ist der Tod nicht meine Möglichkeit, Anwesenheit in der Welt nicht mehr zu realisieren, sondern eine j ederzeit mögliche Nichtung meiner Möglichkeiten11 • • • Nehmen wir an, Balzac sei vor den > Chouans< gestorben, dann wäre er für alle Zeiten der Autor einiger abscheulicher Abenteuerromane«12• Durch den Tod wird die ganze V ergangenheit eines Lebens zu einem unabänderlichen Ansieh. »Der Sinn j edes beliebigen 7 StreUer, Sartre

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Phänomens dieses Lebens ist von nun an festgelegt, aber nicht mehr durch das Leben selbst, sondern durch jene offene Ganz­ heit, die das stehen gebliebene Leben ist.«13 Ein solcher starr gewordener Sinn ist aber prinzipiell »Abwesenheit von Sinn«14• Ein totes Leben ist nicht sinnvoll, sondern absurd, denn sein eigentlicher Sinn (der etwas prinzipiell Vorläufiges ist) hat zufällig Endgültigkeit erlangt. Ein totes Leben gerät in die Gewalt der Anderen. Sie kön­ nen es am LeLen halten oder in Vergessenheit geraten lassen, d. h. ein zweites Mal töten. Unsere Beziehungen zu den Toten gehören mit zu unserem Für-Andere·sein. Wir entscheiden frei über das Los der Toten, »Über den Sinn der Bemühungen und Unternehmungen der vorhergehenden Generation, sei es, daß wir ihre sozialen und politischen Versuche wieder aufnehmen und fortsetzen, sei es, daß wir einen entschlossenen Bruch mit der Vergangenheit herbeiführen und die Toten in die Wir­ kungslosigkeit hinabstoßen«15• Für das tote Leben ist alles schon entschieden und es er­ leidet Veränderungen, ohne im geringsten dafür verantwort­ lich zu sein und ohne sich dagegen wehren zu können. Wer den Sinn seines zukünftigen Todes erfassen will, wird sich selbst als die künftige Beute der Anderen entdecken. Sterben ist Verurteiltwerden, nämlich zu dem, was die Anderen von mir halten. Der Tod ist nicht - wie Heidegger sagt - meine eigene Möglichkeit, sondern er ist, genau wie die Geburt, »ein kon­ tingentes Faktum, das als solches sich mir grundsätzlich ent­ zieht und von Anfang an zu meiner Faktizität gehört«16• »Es ist widersinnig, daß wir geboren sind, es ist widersinnig, daß wir sterben.«17 Endlichsein und Sterbenmüssen haben nichts miteinander zu tun. Die Endlichkeit ist eine ontologische Struktur des Für­ sich : »Die menschli che Realität würde endlich bleiben, auch wenn sie unsterblich wäre, denn sie macht sich endlich, indem sie sich als menschliche erwählt. Endlich sein heißt nämlich, 90

sich erwählen, d. h. sich, was man ist, dadurch verkünd en las· sen, daß man sich auf ein Mögliches hin, unter Ausschluß an· derer, entwirft. Gerade der Freiheitsakt, der das Wählen ist, ist also Ü bernahme und Erschaffung der Endlichkeit. «18 Mein Sein ist kein Sein zum Tode, und ich bin nicht frei »Um des Sterbens willen«19, sondern ich bin ein freier Sterb· lieber. »Wir können den Tod weder gedanklich fassen, noch erwarten, noch uns gegen ihn wappnen, und auch unsere Ent· würfe sind als solche unabhängig von ihm - nicht infolge unserer Verblendung, wie der Christ sich ausdrückt, sondern grundsätzlich.«20

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ZusAMMENFASSUNG: SARTRES WELT

»Das Fürsicll tauffit zur Welt auf.« Ein solcher Satz ist für Sartre sehr typisch. Er enthält drei grundlegend wichtige Begriffe. Zuerst das »Fürsim Hammer« gehört natürlicli aucli der Sinn des Hammers, nämlicli das >> Hämmern«, und der Zweck des Hämmerns, nämlicli >> einen Nagel einschlagen«. Das Insgesamt der Phänomene ist nun die >>Welt« im eigent­ liclien Sinne, die es für das Fürsich >>gibt«, indem es niclit­ setzendes Bewußtsein von Welt und setzendes Bewuf3tsein von Phänomenen ist. Abgesehen davon, daß das Fürsicli Etwas ist und daß es bewußt ist, hat es noch ein wichtiges Kennzeichen : es ist frei. Sofort erhebt sicli die alte Frage : frei wovon und frei wofür ? Die Antwort lautet : frei von Bedingtheit und frei zu allem. Die Antwort ist unbefriedigend und hat weitere Fragen zur Folge. Wieso ist das Fürsicli kein Glied der Kausalkette ? Weil es aus sich selbst das Nichts hervorbringt. Wie es das macht, sagt Sartre nicht, aber er sagt, warum es das maclit. 95

Das Fürsich bringt das Nichts hervor und bringt es dadurch in die Welt, und zwar, um »nichten« zu können. Der Ausdruck nichten besagt : sich nicht bei dem beruhigen, was ist, sondern aus dem Seienden etwas anderes, meinen Intentionen ent· sprechenderes machen. So ist z. B. j edes Transzendieren auch ein Nichten. Wenn ich aus einem Stückehen Brot eine Kugel forme, so nid1te ich das Brot, ich verwandle es in Nicht-Sein und setze an seine Stelle ein neues Sein, das der Kugel. Zu­ gleich transzendiere ich das Brot, ich überschreite es in Rich­ tung auf meine Möglichkeit, eine Kugel daraus zu formen. Ich verleihe dem Brot die neue Bedeutung, Rohstoff für eine Kugel zu bilden, d. h. ich nichte die alte Bedeutung, Nahrungs­ mittel zu sein. Das Nichts dient dem Fürsich dazu, sich selbst zu isolieren und die Phänomene voneinander zu trennen. Was trennt das Fürsich vom Ansich ? Nichts. Aber dieses Nichts genügt, damit das Fürsich erfahren kann, daß es »nicht« dieses Ansich ist. Das Nichts eröffnet die Möglichkeit, einen Tatbestand zu ver­ neinen, abzuleugnen. Es eröffnet insbesondere die Möglich­ keit, die Kausalkette zu unterbrechen, d. h. das Fürsich kann für sich den Tatbestand einer kausalen Bedingtheit verneinen. Da nämlich das Fürsich Bewußtsein ist, und da das Bewußt­ sein sich im Zeitenlaufe ständig ändert, beruht das gegen­ wärtige Fürsich zwar auf dem vergangenen, es wird aber nicht von ihm bedingt. Ein Etwas aber, das nicht ein anderes Etwas zu sein braurot und das von einem anderen Etwas nicht be­ dingt wird, ist frei. Im übrigen ist die Freiheit des Fürsich kontingent, d. h. unbegründet und unbegründbar. Wenn das Fürsich das Nichts aus siro selbst hervorbringen soll, muß es das Nichts in sich tragen. Das ist in der Tat der Fall. Das Nichts liegt zwischen dem Für und dem Sich. Denn das Fürsich besteht, wie schon der Name andeutet, aus zwei Teilen, die durch nichts (den »Binde>Theatre« ( 1 947, deutsch 13.-16. Tsd. 1 949 , enthal­ tend : Les mouches, Huis clos, Morts sans sepulture, La putain respectueuse) , Les mains sales (1 94 8 , deutsch 1949) , L� diable et le bon dieu (1 95 1 , deutsch 1 9 5 1 ) . Im Roman »La nausee« ( 1 938, deutsch 7.-1 0. Tsd. 1950) , der stellenweise lebhaft an »Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge« von R. M. Rilke erinnert, ringt Sartre um die Klärung des Begriffes Existenz, sowohl seiner eigenen als auch der Existenz der die Umwelt ausmachenden Dinge und Menschen. Um die Faktizität der Freiheit handelt es sich in dem Ro­ manzyklus »Les ehernins de la liberte«, Bd. I : L' Age de la raison ( 1 945 , deutsch 1 949 ) ; Bd. II : Le sursis ( 1945, deutsch 110

1950) ; Bd. III : La mort dans l'ime ( 1 949, deutsch 1 9 5 1 ) . Die Novellensammlung » Le mur« ( 1 939, deutsch 1950) gibt Beispiele für den grundlegenden Selbstentwurf des Menschen, von dem sein ganzes Tun und Lassen abhängt. Vorstudien zu seinen philosophischen Arbeiten sowie ge­ sammelte Aufsätze enthalten die drei Bände der »Situations« ( 1947/49) . Im zweiten B and findet sich die wichtige Arbeit »Qu'est-ce que la litterature ? « (deutsch 1 9 5 2) . Zu erwähnen sind ferner die »Reflexions sur la question juive« ( 1946, deutsch 1948 ) , der Essai » Visages> B ewußtsein«.

definieren,

den

B egriff

einer

Merkmale darstellen. gesetzt.

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im

stehend,

das

Dasein

betreffend.

Existenz, Dasein, Vorhandensein

Range

schaften oder dem Wesen von etwas Daseiendem

oder Vor­

handenem) . - Fremdexistenz, das Vorhandensein Anderer.

existieren, da sein, vorhanden

Sache durch Aufzählung seiner

degradiert,

Dasein

(im Gegensatz zu den Eigen·

A utonomie, E igengesetzlichkeit. Bewußtseinsindividuen, Um­ schreibung

existentiell, in B eziehung zum

herab­

sein.

explizit, ausdrücklich, absichtlich. faktisch, tatsächlieh, in der Weise eines Gegenstandes an· wesend, unabänderlich.

Faktizität, Seinsweise eines Fak­ einer

tums,

unabänderlichen

Tatsache, eines Gegenstandes. Gegebenheit,

Faktum,

unabän­

intentional, absichtlich, auf ein Ziel gerichtet.

intersubjektiv, allen Subjekten gemeinsam.

intuitiv, auf unmittelbarer, d. h.

derliche Tatsache.

formal, nur die (logische) Form,

ohne Mitwirkung des logischen

nicht auch den Inhalt betref­

Denkens gewonnener Einsicht

fend.

beruhend.

fü.rsich, in der Weise des erken­

irreduzibel, nicht weiter zurück­

nenden Subjektes existierend,

führbar, von nichts anderem

bei

Sartre

auch :

umwillen

ableitbar. Art,

Kategorie, Sorte,

seiner selbst existierend.

Hypothese, wissenschaftliche An­

Klasse,

Grundform des Seins,

Rang.

Stammbegriff.

nahme.

identifizieren, gleichsetzen, alle

Kausalgesetz besagt : jedes Ge­ schehen hat eine Ursache (ist

Unterschiede aufheben.

identisch, unter allen Umständen

bewirkt, Wirkung) und ist zu­ gleich die Ursache eines an­

dasselbe bleibend.

Identität, Dieselbigkeit, Einerlei­ heil, völlige Übereinstimmung.

deren Geschehens. Zu­

gesetzmäßiger

Kausalität,

Das Prinzip der Identität ver­

sammenhang von Ursache und

langt, daß ein B egriff im Ver­

Wirkung.

laufe

eines Denkaktes genau

dieselbe B edeutung beibehält.

Kausalzusammenhang,

Immanenz, das In-etwas-enthal­ im

Wirkung.

eigenen B ereich, das Verhar­

Koeffizient,

das

Verbleiben

ren bei sich selbst.

Indifferenz, Gleichgültigkeit. Insuffizienz, Schwäche, Unzuläng­ lichkeit.

integrierend, nötig für das B e­ stehen

und

die

Vollständig­

keit.

Ver­

Zusammenhang,

licher

knüpfung

tensein,

ursäch­

von

und

Ursache

der

mitwirkende

Faktor, dasjenige, was etwas zu dem m acht, was es ist.

Koinzidenz, das Zusamm enfallen. Komplement, ErgänzungsmitteL Komplex, in der Psychoanalyse eine

Gruppe eng zusammen­

hängender bzw.

durch

einen

intelligibel, nur mit Hilfe des Intellekts erfaßbar. In telligib ­ ler Charakter, die metaphysi­

mit Gefühlen meist peinlicher

sche, von naturhaften Fesseln

gen, die in der Regel unbewußt

freie Grundlage des Charak­

bleiben.

ters.

Intention, Absicht, Gerichtetheit auf ein zu erreichendes Ziel.

zusammengehaltener,

Affekt Art

verbundener

Vorstellun­

konkret, Ieibhaft vorhanden, an­ schaulich erlebbar, bei Sartre auch :

aus

dem

Gegenstand

115

und

dem

mit ihm

sich

ver·

N egiertheit,

etwas,

das

ein

von

Sein

einigenden B ewußtsein zugleich

»Seinsl och«,

bestehend.

nicht erfüllten B ereich besitzt

einen

konkretisieren, zu etwas Ieibhaft

(d. h. das Nichts enthält) und

vorhandenem, anschaulich er·

infolgedessen in Frage gestellt,

lebbaren machen.

gefürchtet,

zusamm ensetzen,

konstituieren, errichten,

auferbauen,

aus·

m achen, bilden.

konstitutionell, verfassungsm äßig. kontingent, zufällig, nicht not· wendig, unbegründet und un· begründbar,

sich

schlechthin

ereignend.

Kontingenz, Zufälligkeit, Nicht· notwendigkeit,

U nbegründet·

heit, Ereignishaftigkeit.

koordinieren, zuordnen, beiord· nen, als gleichwertig nebenein· ander stellen.

Korrelat, ein D ing oder B egriff, der nur in wechselseitiger B e· ziehung zu einem anderen Ding oder B egriff B estand und Sinn hat.

bekämpft,

scheut werden kann.

nickten, das Vorhandensein von etwas in Frage stellen, ableug· nen, außer acht lassen, etwas

in

den

B ereich

von etwas.

Nichtung, die Verweisung von etwas in den B ereich des Nidit· Seins, und zwar dadurch, daß diesem Etwas eine Bedeutung b eigelegt wird, die es ansieh, d. h. rein als E rscheinung ge· nommen, nicht hat.

Objektheit,

die

Tatsache,

für

Andere ein Obj ekt, ein Gegen· stand des Erkennens, Beurtei· Jens usw, zu sein. liehen,

vergegenständ·

zum

Grundwissenschaft, die die B e·

Erkennens, machen.

Gegenstand B eurteilens

des usw.

Objektivität, Gegenständlichkeit,

Modalität, Art und Weise des S eins oder Geschehens.

Modifikation, Veränderung, Ab· änderung, neuartige Weise des Vorhandenseins.

Dinglichkeit, S achlichkeit.

ontisch, dinghaft

seiend, seins·

gemäß.

Ontologie, die Lehre vom Sein der daseienden Dinge.

Moment, wesentlicher Umstand, B estandteil.

Negativität,

Nicht·

Seins verweisen.

dingungen alles S eienden er· forscht.

des

Nichts, das Nichtvorhandensein

objektivieren,

Metaphysik, die philosophische

verab·

ontologisch, vom Standpunkt der Ontologie, der Lehre vom Sein

die

Eigenschaft,

aus betrachtet, das Sein

be·

einen das eigene Vorhanden·

treffend.

sein in Frage stellenden, be·

vor das Nachdenken über das

drohenden B estandteil zu be· sitzen.

116

-

vorontologisch, be·

Sein begi nnt.

Pathos, Leid, Leidenschaft.

Phänomen, E rscheinung, mit den Sinnen erfaßbarer Gegenstand.

phänom enal, in der Art einer Er­ scheinung.

Positivität, die Eigenschaft, nichts zu enthalten, was nicht bej aht werden müßte.

prälogisch, vorlogisch, vor bzw. auch ohne Mitwirkung des lo­ gischen Denkens der Einsicht gegeben.

pro-jectum, lateinisch : Entwurf, eigentlich Vor-Wurf.

real, nicht nur in Gedanken, son­ dern tatsächlich , Ieibhaft da­ seiend.

realisieren, eine Idee oder eine Vorstellung mittels eines gei­ stigen Aktes zu etwas machen, das wie eine tatsächliche Gege­ benheit erlebt werden kann.

Realität, Wirklichkeit, Dinghaf­ menschliche Reali­ tigkeit. tät, der Mensch, wie er leibt -

und lebt.

reflektieren, über denken,

einer

etwas Sache

nach­ durch

Nachdenken (und nicht durch unmittelbare Anschauung oder durch Handeln) inne werden.

Reflexion, das prüfende und ver­ gleichende

Nachdenken

über

etwas.

reflexiv ist ein Seiendes, das der Dinge durch Nachdenken (und nicht durch unmittelbare An­ schauung oder durch Handeln) inne wird, - oder inne ge­ worden ist.

relativ, im Verh ältnis, verhältnis­ mäßig.

resultieren , sich ergeben.

Philosophen

die

Scholastiker,

und Theologen des abendlim­ dischen Mittelalters.

Spontaneität, Selbsttätigkeit, Fä­ higkeit, sich ohne bewußt er­ faßte Anlässe zu betätigen .

Statuierung,

Setzung,

Feststel­

lung.

Struktur, Gefüge, B au, Zusam­ m enhang ; im

das

B ezugs,ystcm

Aufbau des Ganzen ; die

Art, in der die Teile des Gan­ zen angeordnet sind und zu­ sammengehalten werden Stru k­ .

turelem ent, Struktur als B e­ standteil eines lnsgesamts von Strukturen.

Subjektivität, Insgesamt dessen, was ein (erkennendes) Sub­ jekt ·und die Art seines Emp­ findens,

U rteilens,

Denkeus,

Fühlens usw. ausmacht.

substantiell, stofflich. Substanz, Stoff, unveränderliches Wesen.

Synthese, Vereinigung einer Man­ nigfaltigkeit, einer Gegensätz­ lichkeit oder einer gegensätz­ lichen Vielheit zu einer Ein­ der

die

Gegensätze

heit,

in

und

Widersprüche

ausgegli­

chen oder aufgehoben werden.

synthetisch, nach Art einer Syn­ these.

tr ansphänomenal ist etwas über den Bereich der Erscheinungen Hinausreichendes bzw. ist eine über den B ereich der gewöhn­ lichen Erscheinungen hinaus­ reichende Erscheinung.

117

transzendent ist, was über jede mögliche

Erfahrung

hinaus­

geht, was sie überschreitet.

Transzendenz, Vorhandensein in der Weise von etwas Transzen­ dentem, zugleich die Fäh ig­ keit, etwas zu transzendieren, d . h.

etwas nicht als das zu

Tätigkeit einer Transzendenz ausüben.

undifferenziert ist etwas, dessen B estandteile nicht unterschie­ den werden können.

Undifferenziertheit,

Einförmig­

keit, U ngegliedertheit.

zeitigen, aus etwas gegenwärti­

nehmen, was es an sich ist,

gem dessen Vergangenheit und

sondern es zu » überschreiten«

Zukunft hervorgehen lassen.

auf etwas hin, was es an silh

Zeugkomplex, eine Gruppe von

nicht ist, z. B. auf eine B e­

Zeug (Werk»zeug« usw.) , de­

de utung hin, die ihm verliehen wird (z. B. auf die B edeutung hin,

Zweck

zur

Erreichung

eines Zieles zu sein) .

transzendieren, überschreiten, die

118

ren Zusammenhang durch den gemeinsamen

Zweck

herge­

stellt wird, z. B. den Zweck, mit ihrer Hilfe ein bestimmtes Ziel zu erreichen.