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German Pages 161 [162] Year 1972
ALFREDLOÖRENZER ZUR BEGRUNDUNG EINER MATERIALISTISCHEN SOZIALISATIONSTHEORIE
THEORIE SUHRKAMP VERLAG
Theorie Herausgegeben von Jirgen Habermas, Dieter Henrich und Jacob Taubes Redaktion Karl Markus Michel
Alfred Lorenzer, geboren 1922 in Ulm, ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Bremen. Publikationen: Kritik
des psychoanalytischen Symbolbegriffs, 1970; Sprachzerstörung und
Rekonstruktion, 1971; Beiträge u. a. in: Architektur als Ideologie und Psychoanalyse als Sozialwissenschafl (beide edition suhrkamp). Lorenzer entwirft in seinem neuen Buch das Modell einer Sozialisationstheorie,
die
menschliche
Entwicklung
und
Reifung
nicht
mit
ahistorischen Kategorien zu fassen sucht, sondern im Rahmen von Interaktion und Kommunikation, also von geschichtlicher mensch-
licher Praxis, die Triebproblematik diskutiert. In Abhebung sowohl
gegen idealistische und positivistische Sozialisationstheorien als auch gegen den Freudschen Biologismus wird gezeigt, wie Erleben durch die Auseinandersetzung mit innerer Natur einerseits und die Einfügung iın die konkrete geschichtliche Lage andererseits sich vollzieht und ım Symbol vermittelt wird.
Alfred Lorenzer
Zur Begründung einer
materialistischen Sozialisationstheorie
Suhrkamp Verlag
Siebentes bis zwölftes Tausend 1973 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1972. Alle Rechte vorbehalten. Satz, in Linotype Garamond, und Druck bei Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden. Printed in Germany
Inhalt Vorwort Einleitung I. Die Mutter-Kind-Dyade und die Einigung auf Interaktionsformen
7 13 23
56 83
II. Die Einführungssituation von Sprache III. Der Sozialisationsprozefd IV. Systematisch gebrochene Praxis in der primidren Sozialisation
128
Nachweise
157
Vorwort Diese Untersuchung
kindliche
ist der Frage auf der Spur:
Entwicklung
als Naturprozeß
und
Wie
zugleich
kann
als
soziale Bildungsgeschichte gesehen werden? Angespielt wird damit freilich nicht auf den alten harmlosen Gemeinplatz eines Ineinander von natürlicher Anlage und
kulturellen Einflüssen. Die Untersuchung stellt sich vielmehr voll der Konfrontation
zuschließen rialismus.
scheinen:
zweier Theorien,
Psychoanalyse
die einander
aus-
und historischer Mate-
Versteht die Psychoanalyse menschliche Erlebnisstrukturen —
Handeln, Denken, Fiihlen, Wahrnehmen — als triebbestimmt, so muß der historische Materialismus darauf beharren, eben
diese Strukturen in Abhingigkeit vom geschichtlichen Prozefl der Auseinandersetzung des Menschen mit äußerer Natur,
wie er konkret hier und heute im Moment der Analyse gegeben ist, anzusehen. Die Freud-Marx-Auseinandersetzung der Jahre 1925-1935 ist an diesem Problem ebenso gescheitert wie die Psychoanalyse-Renaissance der Studentenbewegung der spiten sechziger Jahre. Wilhelm Reichs Ende in einem ge-
schichtsfremden Biologismus erscheint all denen, die sich von
der Psychoanalyse wieder abwandten, paradigmatisch als das
unvermeidliche Ziel einer Sackgasse, in die die Psychoanalyse
in der Sicht vieler Marxisten fiihrt.
Wozu
dieser Frage nachgehen
und wozu
die Klirung auf
dem Wege der Begriindung einer materialistischen Sozialisationstheorie suchen? Die meisten Psychoanalytiker und — aus entgegengesetztem Grund — auch die meisten Marxisten
werden Und
eine derartige
vielen,
denen
Vermittlung
die Kontroverse
fiir entbehrlich Freud-Marx
halten.
bedeutsam
ist, wird zumindest der Weg einer Vermittlung von Psychoanalyse und historischem Materialismus iiber kategoriale Klarung anstatt materiale Analyse fragwiirdig diinken. Diese 7
Kritiker sehen nicht, daß alle materialen Analysen des subjektiven Faktors deshalb immer wieder in vagen Abstraktionen landeten und landen, weil sich konkrete, beide Perspektiven unverkürzt durchhaltende Analysen mit den bisherigen Mit-
teln nicht denken lassen. Alle Versuche geraten an irgendeiner
Stelle in die versteckten Begriffsfallen subjektivistischer und idealistischer Vorannahmen oder aber in einen Materialismus,
dem über der Naturdialektik der geschichts-materialistische Standpunkt unvermerkt abhanden gekommen ist. Um einige Beispiele anzuführen:
Gewiß faßt die Piagetsche Psychologie kindliche Entwicklung von
vornherein
als ein differenziertes
Ineinander
von
Ent-
wicklungs- und Reifeschritten. Piagets subtile Untersuchungen finden denn auch bei materialistischen Autoren zu Recht Anklang, aber: Was
bedeutet es für die Deutung
des Vorfind-
lichen im Lichte einer Theorie, wenn Piaget auf der idealisti-
schen Annahme einer sich entfaltenden Vernunft aufbaut (1) und die gesellschaftliche Bestimmtheit eines Individuums der subjektiv-persönlichen Eigenentwicklung nur aufsitzen sieht?
Gewiß auch hat die moderne Sprachtheorie dem Subjektivismus
der Erkenntnistheorie
ein Ende
bereitet, und
sicherlich
sind die Ansätze Chomskys — angesichts der zunehmenden
Bedeutung der Sprachtheorie für Sozialisation — für eine geschichts-materialistische Diskussion der Frage nach der Konstitution von Bewußtsein fruchtbar, aber: Was soll man mit
einer Theorie anfangen, die an entscheidender Stelle der Be-
gründung auf die »ideae innatae« zurückgreift, sei der Leibniz’sche Rationalismus auch noch so relativiert? Und weiter: Gewiß räumt der französische Strukturalismus mit allen subjektivistischen Verengungen auf, um die Figuren menschlicher Sozialisation auf den Boden kollektiver Strukturen zu stellen — womit er bei Autoren wie Althusser eine neue Marx-Rezeption anregte —, dies freilich um den Preis des Verlustes der auch für Marx zentralen Kategorie des Subjekts und — schlimmer noch — konkreter Geschichtlich-
keit menschlicher Praxis. 8
Und
schließlich: »Marxistische Psychologie« war notwendig
immer schon materialistisch. Freilich im selben Maß,
sie die biologische Ausgangslage
in dem
materialistisch ernst nahm
und en detail präzisierte, geriet ihr die Bedingtheit mensch-
licher Erlebnisformen wie Inhalte durch gesellschaftliche Praxis (auf geschichtlich-konkretem Stand) aus dem Blick. Ein ernstgenommener historischer Materialismus kann sich nicht damit begnügen, anzunehmen, geschichtliche Praxis träte »im Laufe der Entwicklung« von außen an ein autonom sich entfaltendes kindliches Naturwesen heran, er kann nicht bei einem
stehenbleiben, Verständnis sentwicklungspsychologischen« bringt: wie es die Pawlow-Bemerkung zum Ausdruck
»Wir stehen heute fest auf dem Standpunkt, daß es angeborene Eigenschaften des Menschen gibt und andererseits auch solche, die
durch die Lebensumstände
wenn
von
angeborenen
erworben
Eigenschaften
ist klar. Das heißt,
sind. Das
wird,
gesprochen
so ist es
der Typ des Nervensystems. Wenn es sich aber um den Charakter handelt, dann haben wir es mit einer Mischung angeborener Neigungen mit im Laufe des Lebens unter dem Einfluß der Lebensein-
drücke erworbenen Eigenschaften zu tun.« (2)
Solche Formulierungen überspringen naiv die wichtigste Aufgabe
von
Psychologie,
»wissenschaftlich«
zu
zeigen,
wie
sich
natürliche Bedingungen und gesellschaftliche Bestimmtheit »menschlicher Eigenschaften« so vermitteln, daß unverkürzt die Einsicht zur Geltung kommt, die Marx in der 6. Feuerbachthese beschrieb:
»Das menschliche Wesen... In seiner Wirklichkeit semble der gesellschaftlichen Verhältnisse.«
Wenn
menschliche Strukturen, wenn
ist es das En-
Praxis als das »Wirken
des die individuellen Tätigkeiten übergreifenden Gesamtarbei-
ters« (3) voll und ganz in Abhängigkeit von den Produktionsprozessen verstanden werden soll, so ist zu zeigen, daß menschliche Struktur schon in ihren allerersten Ansätzen von jenem Wirken bestimmt wird. Nur wenn man diesen Aufweis radikal durchführt, können die versteckten »idealistischen 9
Reste« aus einem materialistischen Verständnis von Subjektivität ausgetrieben und können folgenschwere Verfälschungen der Theorie eliminiert werden. In dieser Arbeit soll gezeigt werden, daß es keinen Ansatz von Subjektivität außerhalb
der praktischen Dialektik der Auseinandersetzung des »Ge-
samtarbeiters« (4) mit äußerer Natur wie auch innerer Natur (des Kindes) gibt, und daß das Subjekt in »materiellen« Prozeßschritten aus eben dieser Dialektik herauswächst. Subjek-
tivität ist voll und ganz auf objektive Bedingungen zurückführbar. Fordert der historische Materialismus
die Einsicht, daß Sub-
jektivität — nach Form wie Inhalt — aus der gesellschaftlichen »Basis«
erwächst,
so
verlangt
der
Marx’sche
Naturbegriff
gleichwohl, daß die Ansatzpunkte praktischer Dialektik sowohl in jener Natur, die dem Menschen gegenüber steht, wie
auch der Natur, die er (biologisch) ist, nicht vergessen werden. Daß die Auseinandersetzung mit beiden Ansätzen nicht zer-
rissen werden darf, haben sowohl die Freudo-Marxisten verkannt (in der Annahme von zweierlei »Basis«) wie auch
ihre objektivistischen Gegner, denen die Bedeutung des Freudschen Hinweises auf die Naturbestimmtheit menschlicher Erlebnisformen und Erlebnisinhalte unverständlich blieb.
Nur
wenn
Sozialisation
als Bildung
des Subjekts
radikal,
also schon in ihren Wurzeln, als Produktion menschlicher Strukturen durch die vom »Gesamtarbeiter« geleistete praktische Dialektik »innerer« wie »äußerer Natur« aufgewiesen
wird, läßt sich der Subjektbegriff materialistisch begriinden. Beließen es bisher alle materialistischen Begründungsversuche
bei dem idealistischen Rest geschichtsunabhängiger Strukturen, so verlangt die Konfrontation Freud-Marx deren volle Til-
gung. Indem Freud nämlich zeigen konnte, daß die Figuren
menschlichen Handelns, Fühlens, Denkens vom menschlichen Trieb und d.h. der Naturgrundlage auch inhaltlich abhängen, hat er das Problem auf die Spitze getrieben: Schon die aller-
ersten Bildungen menschlicher Entwicklung müssen Natur in
den Zusammenhang geschichtlicher Praxis rücken, oder aber es IO
sind denn doch zwei einander fremde Bereiche von »Basis« zu unterstellen. Letzteres wiederum läßt sich mit der geschichts-
materialistischen Perspektive keinesfalls vereinbaren. Der bil-
lige Ausweg, solcher Problematik dadurch zu entgehen, daß man auf den Subjektbegriff überhaupt verzichtet, ist un-
annehmbar. Marx’schen
Dieser
Ausweg
Gesellschaftstheorie
verträgt noch
sich
auch
weder
mit
einer
mit
der
daraus
sinnvoll abzuleitenden politischen Strategie. Solche Preisgabe des Subjektbegriffs ist schierer Positivismus.
Aufgabe muß vielmehr sein, am Subjektbegriff festzuhalten, seine
subjektivistisch-idealistische
Verformung
jedoch
ent-
schlossen aufzubrechen. Das wiederum erfordert jene genaue
kategoriale Klärung, die schon genannt wurde: Wie erwächst
das Subjekt in realen Bildungsschritten aus der Auseinandersetzung
des
»Gesamtarbeiters«
mit
der
inneren
Natur
des
Kindes, die — so Freud — als Bildungsfaktor unbestreitbar ist? Einfach formuliert lautet die Aufgabe so: Wie wird die »innere Natur«
des Kindes so in menschliche Praxis ein-
gefädelt, daß kindliche Entwicklung in vollem Umfang zugleich
als Naturgeschichte
wie
auch
als soziale
Bildungsge-
schichte aufgrund objektiver politisch-ökonomischer Prozesse
gelesen werden kann, ohne an irgendeiner Stelle vorgegebene, geschichtsunabhängige subjektive Kompetenzen und Strukturen unterstellen zu müssen? Es versteht sich, daß diese Begründung der Subjektivität auch die Bildung jener geistigen Figuren erklärbar machen muß, die neuere Sprachforschung als Sprachfiguren ausgewiesen hat. Erwerb und Funktion der
Sprache müssen materialistisch begründet werden.
Keines Hinweises bedarf es wohl darauf, des Problems hier nur erste Grundlinien können. Es wird dabei laufend zu prüfen Grundlinien widerspruchsfrei sind und
schaffen für die Eintragung
daß für die Lösung ausgezogen werden sein, inwieweit diese inwieweit sie Raum
aller Ergebnisse,
die konkrete
Analysen des subjektiven Faktors erbringen können und erbracht haben, befreit man diese von allen subjektivistischen
wie objektivistischen Verzerrungen, die sich bisherigen Einsei-
II
tigkeiten verdanken. Insofern ein derart gesichtetes Material hier exemplarisch herangezogen werden konnte, bildet die vorliegende Arbeit auch den Ansatz zu materialen Analysen. A. L.
Einleitung Will
man
Psychoanalyse
mit
einigen
Stichworten
charak-
terisieren, so kann man — nach meinem Verständnis der Sache
— folgenden Katalog anlegen:
I. Zur psychoanalytischen Methode: Ein kritisch-hermeneutisches Verfahren,
dessen
kritische
Potenz darauf beruht, daß Psychoanalyse, an den Leidenserfabrungen der Subjekte ansetzend, das System der handlungsbestimmenden, sprachlich kommunizierten Bedeutungen problematisiert, um so defiziente Interaktionsstrukturen zu ermitteln und zu dndern. IL, Gegenstand der Psychoanalyse ist das System der angeeigneten Interaktionsformen und d.h. der objektivbedingten Strukturen der Vergesellschaftung im Subjekt.
ITI. Ziel der klassischen Psychoanalyse ist die Herstellung des
durch Konflikt und Konfliktabwehr zerstorten Interaktionsgefiiges in Rekonstruktion der unterbrochenen Bildungsprozesse
Konflikt
und
schichtlichen
des
d.h.
Linien.
Individuums
Widerspruch
Die
— entlang
gewiesenen
Rekonstruktion
der
vom
lebensge-
der Lebensge-
schichte dient dabei der Rekonstruktion des Interaktionsgefiiges #nd der Konstituierung der subjektiven Moglichkeit, Widerspriiche, die verindernde Praxis
fordern, zu reflektieren. Psychoanalyse sprengt damit keine objektiven Handlungsgrenzen, wohl aber beseitigt sie die subjektiven Barrieren gegen die Entwicklung jener Interaktionsformen, die verindernde Praxis fundieren. Diese
Stichworte
sind zweifellos Wort
fiir Wort
interpreta-
tionsbediirftig. Ihre Stichhaltigkeit müßte en detail aufgewie-
sen werden,
um
so den Oberbegriff,
von Psychoanalyse Sozialwissenschaft.
zugehort,
der diesem
Verstindnis
zu fiillen: Psychoanalyse
als 13
Anzumerken ist, daß diese Freilegung des (von den gängigen Verzerrungen des Fremd- wie Eigenverständnisses von Psychoanalyse verdunkelten) Status von Psychoanalyse nicht bloße metatheoretische Interpretation der Psychoanalyse sein kann, sondern allemal schon eine Kritik der Psychoanalyse initiiert in
der
Hoffnung,
zu kommen.
Daß
zu
einer
kritischen
die Begründung
den Gang einer Auseinandersetzung
Theorie
einer solchen
des
Subjekts
Theorie
in
der Psychoanalyse mit
Marx’scher Gesellschaftstheorie gehört und jene nicht ohne diese zureichend verstehbar ist, soll, so hoffe ich, in vorliegender Analyse von primärer Sozialisation unmißverständlich deutlich werden. Eine ausführlichere Interpretation der psychoanalytischen Methode
habe ich in Sprachzerstörung und Rekonstruktion (s) gegeben, die Problemgeschichte des psychoanalytischen Untersuchungsgegenstan-
des ist in einer anderen Arbeit (6) dargestellt worden; eine Unter-
suchung der psychoanalytischen Theoriebildung soll folgen. Der Absicht, den sozialwissenschaftlichen Status der Psychoanalyse zu klären, und zugleich in kritischer Wendung jene kategorialen Verkürzungen
zu
bereinigen,
die
Psychoanalyse
im
Gehäuse
einer
bürgerlichen Wissenschaft zurückhalten, können die einzelnen Arbeiten in unterschiedlichem Umfang nur gerecht werden. So beschränkt sich Sprachzerstérung und Rekonstruktion im wesentlichen darauf,
die Struktur der therapeutischen Praxis bestehender Psychoanalyse aufzuzeigen, (befreit von den Selbstmifiverstindnissen, die der naivempiristischen wie auch der neopositivistischen Unterschitzung von Psychoanalyse zugehoren), exemplarisch abgehandelt an der — fiir die Analyse biirgerlicher Sozialisationsverliufe bedeutsamen — Verdringungsproblematik. (Was »biirgerliche Sozialisationsverliufe« meint, soll im 4. Kapitel angedeutet werden.)
Aus der ernstgemeinten und nicht als bloß modische fagon de parler vorgetragenen Feststellung, daß die Psychoanalyse
ihre praktischen Erfahrungen in Aufarbeitung der Problema-
tik biirgerlicher Sozialisation gewonnen hat, folgert notwendig: Psychoanalyse bringt als Theorie Subjektivitit zum Vorschein. Sie bringt diese freilich zum Vorschein in Formeln, I4
die den Horizont bürgerlichen Selbstverständnisses zumindest an einem Punkt sprengen: In der Entdeckung fundamentaler Widersprüchlichkeit in den Subjekten, die in der »klassischen Psychoanalyse« genetisch allerdings nur auf den abstrakten Widerspruch Natur-Kultur zurückgeführt wird.
Zu fordern, daß Psychoanalyse diese Widerspruchserfahrungen hätte auf ihren zutreffenden Begriff bringen sollen, hieße naiv die Abhängigkeit der Erkenntnis von geschichtlichen
Bewegungen zu verkennen. Die Stufe einer »bürgerlichen Wissenschaft vom Subjekt«, wie sie die Psychoanalyse repräsen-
tiert, ist eine unerläßliche Durchgangsstation der Auseinander-
setzung. Jedem,
der die Bedeutung
der bürgerlichen
Wissen-
schaft von der politischen Okonomie für die Entfaltung der Marx’schen Gesellschaftstheorie — die als Kritik der politischen Okonomie ansetzt — klar ist, wird dies ohne weitere Umschweife verständlich sein.
Der Durchgang einer kritischen Theorie des Subjekts durch
das psychoanalytische System ist unumgänglich, auch wenn man zutreffend sieht, wie im Marx’schen System Kategorien der Subjektivität vorgedacht sind, die das große Thema der
Psychoanalyse, die Darstellung systematisch gebrochener Sub-
jektivität, schon vorwegnehmend offenhalten in Leerstellen. Man muß wissen: Diese Leerstellen im Marx’schen System lassen sich nicht einfach ausfüllen. Psychoanalyse hat die Aufgabe, die aus der Analyse objektiver gesellschaftlicher Prozesse
abstrahierten Begriffe wie z. B. »Entfremdunge« inhaltlich zu
prizisieren in einem kritischen Verfahren, das von dem sinn-
lich-erfahrbaren Leiden der Subjekte ausgeht. Es gilt, kon-
kretes
um
an
Leiden
diesen
subjektiven
in seiner
Stellen
Faktors,
»wirklichen«
Genese
eine ideologische
die erst Freud
zu hinterfragen,
Verschleierung
aufzureiflen
begann,
des
zu
durchschauen. Die objektive Bedingtheit bornierten Handelns
anhand einer Analyse Gkonomischer Prozesse im Nachhinein zu erfassen, reicht nicht zu in den Fillen, wo es fiir eine richtige Strategie gemeinsamen Handelns nötig wire, die aktuelle Form der Deformation von Bewufltseinsfiguren IS
in aktu analytisch zu bestimmen — eben mit Hilfe einer von sinnlichen Erfahrungen ausgehenden Analyse der subjektiven Erlebnisweisen. Gewiß, die Psychoanalyse auf dem von ihr selbst (im Rahmen einer medizinischen Disziplin) errungenen Praxisstand ist
nicht ohne weiteres imstand, in diese Aufgabe eingesetzt zu
werden. Psychoanalytische Selbstreflexion ist zur Kritik der psychoanalytischen Kategorien voranzutreiben. Subjektive Bildungsgeschichte muß unterm Thema der Konstitution von Praxis und Bewußtsein begreifbar werden, der Bezug menschlichen Verhaltens muß über den Rahmen der Lebensgeschichte hinaus in den Rahmen geschichtlicher Prozesse gestellt werden, wobei solche Erweiterung zwingend auszugehen hat von
der Reflexion der systematischen Zerstörung subjektiver Bildungsprozesse,
wie sie Psychoanalyse
kenntlich machte.
Wie
man sieht, entwertet die Kennzeichnung der Psychoanalyse als die »am weitesten fortgeschrittene bürgerliche Wissenschaft der subjektiven Erlebnisstrukturen« diese nicht, sondern
unterstreicht vielmehr ihre einzigartige Bedeutung kritische Theorie des Subjekts.
Was
für eine
»am weitesten fortgeschrittene bürgerliche Theorie der
subjektiven Strukturen« meint, soll in einer kurzen Problemdarstellung wenigstens flüchtig illustriert werden anhand des Begriffs »Triebschicksale«.
Unter diesem Begriff werden Erfahrungen gesammelt, die sich
der folgenden umstürzenden methodischen Neuerung verdanken: Im Gegensatz zu der — für Medizin wie Psychologie gleichermaßen geltenden — Distanz zwischen Beobachter und
Beobachtetem
treten in der Psychoanalyse
Analytiker
und
Analysand zu einer praktischen Kooperation (7) zusammen, um in den sich ergänzenden Verfahren von freiem Assoziieren und Deuten die Erlebnisse des einen Teilnehmers, des Patienten, in der je eigenen lebensgeschichtlichen Bedeutung zu artikulieren. Erlebnis wird dabei folgendermaflen gesehen: 1. Erlebnis wird determiniert gesehen von koérperlich-materiellen Prozessen, die als Korperbediirfnisse, als »Triebe«, 16
»inhaltlich« ins Erleben eingehen. Erleben gilt als triebbestimmt. Solcherart triebbestimmtes Erleben ist nicht unabhängig von der Beziehung zu »Liebesobjekten«. Triebbestimmtes Erleben ist zugleich Erfahrung von Interaktion, ıst körperbestimmte Interaktion — womit eine Verbindung hergestellt wird, die im Triebbegriff selbst schon angelegt ist. Trieb ist e definitione: Körperbedürfnis »in-Beziehung-zu«. Erlebnis als kérperbestimmte Interaktion realisiert sich ın
angebbaren szenischen Erfahrungen des Kindes, ist ein in der Realitit verankerter Bildungsprozef. Erlebnis ist der Niederschlag real erfahrener korperbestimmter Interaktion.
Dieser
Niederschlag
real
erfahrener
ko&rperbestimmter
Interaktion ist nicht isoliert, sondern bildet den Sinnzusammenhang einer Lebensgeschichte, die als umfassende
subjektive Totalitit den Bedeutungsrahmen fiir das einzelne Erleben abgibt.
Die unterm Stichwort der Triebschicksale aufgegliederte Fiille des Erlebnisses
läßt sich, in gegenliufiger
Perspektive,
des-
halb auch unterm Begriff der »Objektschicksale« lesen. Triebschicksal ist immer zugleich real entfaltete Objektbeziehung,
ist Interaktion in folgenden, sich erweiternden Kreisen: Interaktion konstituiert sich im Beziehungsfeld zwischen dem Kind und seinen infantilen Liebesobjekten.
I.
Die Beziehung zu den Liebesobjekten wird nicht isoliert
gedacht von dem »kulturellen Rahmen«, in dem diese Liebesobjekte stehen. »Kultur« wiederum wird nicht als immaterielle Entitit verstanden, sondern wird — und dies macht eine der stets durchgehaltenen Grundziige der psychoanalytischen Kulturuntersuchungen aus — als Realisation materieller, vom Triebschicksal abhingiger kollektiver Prozesse gesehen. Niemand, der mit der Problemstellung des historischen Materialismus vertraut ist, wird nun allerdings verkennen, daß diese, wiewohl materialistische, Fassung von »Kultur« nicht 17
nur vage, sondern in kennzeichnender Weise ideologisch verzerrt ist: a) Trieb wird immer wieder als Naturkategorie reklamiert. Das gilt nicht nur für das Anfangsstadium der Psychoanalyse (als psychoanalytische Theoretiker sich noch im geschlossenen Gehäuse des naturwissenschaftlich-medizinischen Systems glaubten bewegen zu müssen), es kennzeich-
net auch spätere Phasen, in denen längst schon das Verständnis
des
psychoanalytischen
Gegenstandes
erweitert
worden war. Es kennzeichnet pointiert die Lage des Eros-
Todestrieb-Konzeptes,
das noch einmal den Versuch dar-
stellt, den Gegenstand der Psychoanalyse ins kategoriale Joch »bloßer Natur« zurückzuzwingen.
b) Nicht selten verbindet sich mit einer biologistischen Deu-
tung des Triebbegriffs eine Auffassung vom Beziehungs-
feld des Kindes, die man familialistisch nennen kann: Die Einwirkung realer Interaktion auf die infantilen Bildungsprozesse wird zwar als einflufireich akzeptiert, wird aber beschrinkt gesehen auf Familie, die als starrer
Rahmen und d. h. letzte intersubjektive, den Entwicklungsprozef} bestimmende Gruppierung angenommen wird-
Gerade
hier aber wird
auch das halbe Recht der ideolo-
gischen Figuren der Psychoanalyse deutlich, dieses ZumVorschein-aber-auf-den-falschen-Begriff-bringen: Im Betonen
der familialen
Funktion
wird
zutreffend
die Ein-
bindung der Sozialisation in einen engen Kreis frithkind-
licher Szenerie betont, wird zutreffend auch angenommen,
daß Gesellschaft in der Tat ein abstraktes Gegeniiber ist,
die Vermittlung gesellschaftlicher Gehalte immer über Gruppierungen liuft. Jedoch, in der Verabsolutierung der
biirgerlichen Familie wird eine Konfiguration unserer Gesellschaft zur Naturkonstante verallgemeinert, womit die
Familie unvermittelt stellt wird, abgelost Gruppierungen,
abstrakter »Kultur« gegeniibergevom Standort in iibergreifenden
die sozialisationsrelevant
sind,
weil
sie —
mehr-minder verdeckt und in mehr-minder verzerrter Zu18
ordnung
— vom
Klassenantagonismus
bestimmt
sind. Es
wird also nicht nur der Durchblick auf die Determiniert-
heit primärer Sozialisation durch Gesellschaft verstellt, sondern auch die geltende konkret-relevante Vermittlungsordnung verschleiert. Respektiert die familialistische Variante des Triebbiologismus immerhin die Bedeutung realer Interaktion für den
kindlichen Entwicklungsprozeß, so entwertet eine andere
Variante die Bedeutung realer Szenen gänzlich zugunsten einer Erlebnisinnerlichkeit, die Entwicklung auf die Wir-
kung einer biologischen Uhr reduziert sieht. Dies gilt z. B.
für Melanie Klein (8), in deren Auffassung alle wesent-
lichen Weichenstellungen im unaufklärbar-mythischen Bereich frühester Umstellungen, zwar nicht abgetrennt vom Außen, wohl aber in innerlicher Souveränität vorfallen.
c) Kennzeichnet
die
Kleinsche
Unabhängigkeit
von
gesell-
schaftlicher Bestimmung ein triebobjektivistisches Moment,
so ist eine andere Fassung der Erlebnisinnerlichkeit subjektivistisch: Triebdynamik wird hier zwar in Wechselbeziehung zu einem mit der Realität sich folgenreich aus-
einandersetzenden Ich gesehen; Lebensgeschichte ist hier nicht bloß Abklatscheiner in allem Wesentlichen biologisch
vorprogrammierten Entwicklung, sondern ist Bildungsgeschichte des Subjekts, dem aber eine autonome Basis unterstellt wird. Im autonomen Ansatz der Subjektivität (der
Triebobjektivität gegenüber) wird Lebensgeschichte zur Abfolge psychischer Figuren, die in ihrer Genese nur immer auf andere psychische Konfigurationen zurückverweisen. In seiner theoretisch weniger reflektierten Form gehört hierher das ganze Feld jener psychologistischen Motivationsforschung, die subjektives Erleben von objektiven Prozessen abgelöst sieht, nichts gesellschaftlich Objek-
tives mehr wahrnehmen kann, weil konsequenterweise als bloßer Ausfluß
ihr Objektivität subjektiver (und
d. h. hier individual-psychologisch erklärbarer) Strebungen
erscheint.
19
Einem derartig naiven Subjektivismus steht eine wissen-
schaftstheoretisch besonnene Spielart zur Seite, deren interessantester Vertreter zweifellos Hartmann ist (9). Hartmann hat nicht nur die psychoanalytische Ichpsychologie mit allgemeiner Psychologie zu verbinden gesucht und dabei eine bemerkenswerte (leider wenig diskutierte) neukantianisch beeinflußte Interpretation der Psychoanalyse
(10) vorgelegt, er hat vielmehr
auch
mit seiner Lehre
von der Ichautonomie dem Subjektivismus eine theoretisch
differenzierte Stütze gegeben. Nicht zufällig ist, Hartmann auch eine Rolle in der Verknüpfung
daß von
Psychoanalyse und Parsonscher Gesellschaftstheorie spielt.
Ohne
den
überaus
komplexen
Standpunkt
Hartmanns
hier in gebotener Breite zur Diskussion stellen zu können, Jläßt sich doch deutlich erkennen, daß in der »Autonom-
stellung des Subjekts« sich noch einmal ein Moment der Relativierung der brisanten, sozialwissenschaftlich folgen-
schweren
psychoanalytischen
Triebtheorie
zugleich
mit
einer Immunisierung gegen den Gesellschaftsbegriff des hi-
storischen Materialismus zur festen Barriere verbindet.
d) Klaus Horn (11) hat darauf hingewiesen, daß der Subjektivismus Hartmanns verborgene kulturistische Ziige tragt.
Abzugrenzen vom Hartmannschen Subjektivismus ist allerdings jener offene und auflerhalb der Psychoanalyse angesiedelte Kulturismus — Horney, Sullivan, Fromm -,
den
haben
schon
(12,
Adorno
13). Die
wie
Marcuse
unverbliimte
ausfiihrlich
Preisgabe
des
kritisiert Freud-
schen Materialismus entspricht da nicht von ungefihr der Verdiinnung von »Gesellschaft« zu einem flachen Milieubegriff, einem banalen Objektivismus, der zugleich mit der Triebtheorie das Subjekt auflöst ins Bestehende, an
das sich anzupassen Aufgabe der Subjekte und Aufgabe
Der
der Therapie wird. vorstehende Aufriß
eines Problemkatalogs
der Psycho-
analyse diirfte einen groben Uberblick dariiber gegeben haben, wie umfinglich eine Kritik der Psychoanalyse anzulegen ist. 20
Ganz abgesehen davon, daß dieser Überblick keineswegs das volle Tableau der Probleme psychoanalytischer Theorie andeutet, muß zur Kritik des theoretischen Systems jene aus-
führliche Kritik der psychoanalytischen Praxis treten, ohne die eine theoretische Auseinandersetzung nur allzu leicht an der Oberfläche unwesentlicher psychoanalytischer Selbstverständnisse und Selbstmißverständnisse verbleibt. Die Schwierigkeit, die das Verfolgen
der genetischen Frage — der Ver-
ankerung des psychoanalytischen Theorie-Praxis-Verhiltnisses in der geschichtlichen Bewegung der Gesellschaft — bringt, ist zudem kaum zu iiberschitzen. Beriicksichtigen wir fernerhin, daß erst eine volle Interpretation kollektiver Erlebnisfiguren — und ihrer objektiven Bedingtheit — im umfassenden Rahmen kritischer Gesellschaftstheorie jenes kritische Unternechmen vollendet, das
Psychoanalyse, ausgehend vom individuellen Leiden, als Analyse des Subjekts beginnt, dann mag einleuchten, welchen Sinn
es hat, am Vermittlungspunkt von »Individuum und Gesellschaft« einen Haltepunkt fiir das kategoriale Geriist einer Psychoanalyse in sozialwissenschaftlicher Perspektive begriin-
det auszumachen. In der Absicht der Begriindung verweilt Kritik, um die Tragfihigkeit und Angemessenheit der Theorie, von der aus zum Konkreten aufgestiegen werden soll, zu priifen.
Zu beachten ist dabei: Wenn wir vom Sozialisationsgang »allgemein« sprechen, so deshalb, weil wir (in den ersten drei Kapiteln) uns konzentrieren auf jene Grunderfahrungen, die fiir alle menschlichen Lebewesen gelten: »Einiibung iın Interaktion« und »Einfiihrung in Sprache«. Die Auswertung von — hier und heute gewonnenen — psychoanalytischen, psychologischen und sprachtheoretischen Analysen bestehender Sozialisation wird in Stilisierung dieser beiden Grundsituationen von Sozialisation allemal vorangetrieben auf die Stufe allgemein-menschlicher Typik. Der Leser wird zu priifen haben, ob es mir gelungen ist, falsche Verallgemeinerungen auszuschlieflen. 2I
[. Die Mutter-Kind-Dyade und die Einigung auf Interaktionsformen I.1 Das Unternehmen, psychoanalytische Entwicklungspsychologie als das zu skizzieren, was sie tatsichlich ist, nimlich Sozialisationstheorie, basiert auf Schliissen, die andernorts (14) ent-
wickelt wurden. Gegenstand der Psychoanalyse sind die Figuren menschlicher Interaktion im Subjekt.
Freilich geht es nicht um den Ersatz bloß von Entwicklungs-
psychologie.
Wenn
wir
Sozialisationstheorie
als
Uberschrift
fiir soziale Bildungsprozesse des Individuums (d. h. den Gang seiner Vergesellschaftung und Individuation zugleich) wie auch als Uberschrift fiir das Gesamt der Interaktionsstrukturen nehmen, dann wird klar, daß Sozialisationstheorie das Ganze psychoanalytischer anthropologischer Theoreme umfaflt. »Sozialisationstheorie« tritt damit neben das corpus der psycho-
analytischen Methodik. Beide sind aufeinander bezogen, was zu zeigen Aufgabe einer Metatheorie der Psychoanalyse ist. Die vorliegende Schrift wird sich mit einem Teil der psycho-
analytischen Sozialisationstheorie nur beschiftigen, nämlich mit primirer Sozialisation, und auch da nur mit den wichtigen Schaltpunkten der Entwicklung, an denen der Frage nachgegangen werden kann, ob die subjektiven Bildungsprozesse sich unverkiirzt unter den Annahmen eines triebdetermini-
stischen Standpunktes einerseits und eines geschichtsmateriali-
stischen Standpunktes andererseits ohne Widerspruch verstehen lassen. Das grofle und wichtige Gebiet der sekundiren Sozialisation muß beiseite bleiben, sofern diese nicht fiir primire Sozialisation unmittelbar bedeutsam ist. Die Ecksteine, auf denen das Gebiude einer psychoanalyti-
schen Sozialisationstheorie ruht, sind folgende Einsichten: 1) daß eine Untersuchung der menschlichen Entwicklung nicht in erster Linie auf Wahrnehmungsvorginge und
23
kognitive Akte sich richten muß, sondern auf emotionale
Prozesse. Denken und Erkennen dürfen zwar nicht unbeachtet bleiben, sind aber doch abgeleitet aus dem von affektiven Regungen gesteuerten praktischen Umgang des Menschen mit seinen Beziehungsprojekten zu sehen.
2) Zurückzuführen
sind
diese
affektiven
Vorgänge
auf
Triebschicksale, die sich allemal in Objektbeziehungen abspielen. Triebschicksale sind immer auch Schicksale der Objektbeziehungen; Psychoanalyse ist im selben Maße,
in dem sie eine Triebpsychologie ist (und sein muß), auch eine Psychologie der Objektbeziehungen. Was »Trieb« und »Objekt« sind — das nicht zuletzt soll in der vor-
liegenden Studie geprüft werden.
3) Das
Schicksal
der
Erwachsenen
baut
auf
dem
Schicksal
des Kindes auf. (Die Radikalität dieser psychoanalytischen
Einsicht, die das Kind nicht mehr als kleinen Erwachsenen wertet, sondern im Erwachsenen das Kind sieht, ist
kaum mehr richtig zu wiirdigen — eben weil unter dem Einfluß der Psychoanalyse das allgemeine Verstindnis sich verinderte.) 4) Diese Abhingigkeit des Erwachsenen von seiner eigenen Kindheit wird gesteigert und verzerrt, wo in der infantilen Neurose primire Sozialisation fixiert wird zur star-
ren Reproduktion infantiler Klischees und Zeichen. Psychoanalyse verweist auf den systematischen Bruch der Bildungsprozesse in der Kindheit.
Alle vier Punkte zusammen den
die Psychoanalyse
zwar
deuten auf einen Sachverhalt,
nicht entdeckt,
wohl
aber
mit
neuer Bedeutung gefiillt hat: Die Lebensgeschichte des Individuums. Freilich, so gewichtig der lebensgeschichtlich-gene-
tische Aspekt fiir die therapeutische Praxis der Psychoanalyse ist, im Aufril der psychoanalytischen Theorie scheint die lebensgeschichtliche Perspektive zuriickzutreten und zu einem unter mehreren Aspekten innerhalb einer Strukturlehre des Systems der Subjektivitit zu werden. Dieser Anschein ist irre-
fiihrend. Tatsdchlich ist der genetische Aspekt den anderen
24
Forschungskategorien vorgeordnet. Er gehört neben dem (auf Interaktion bezogenen) Strukturbegriff zu den übergreifenden Explikationslinien des psychoanalytischen Gegenstands. Das
Nebeneinander von lebensgeschichtlich-genetischem und strukturellem Aspekt im psychoanalytischen Forschungsansatz verweist auf die Verschränkung von Bildungsprozeß und Inter-
aktion
als Grundmomente
der Psychoanalyse.
des anthropologischen
Entwurfs
Macht man sich unter den Gesichtspunkten, die ich eben nochmals
umrissen
habe,
daran,
die Grundzüge
einer Sozialisa-
tionstheorie aus psychoanalytischer Entwicklungspsychologie zu skizzieren, so tut man gut, verstärkt Erfahrungen aus direkter Beobachtung von Kindern heranzuziehen. Nicht weil der Direktbeobachtung ein höherer Wert zukäme, verglichen mit dem klassisch-psychoanalytischen Untersuchungsverfahren (die psychoanalytischen Direktbeobachtungen sind ohne die Theorie, die aus der klassischen psychoanalytischen Forschung stammt, gewiß nicht denkbar), sondern weil die Direktbeobachtung einen argumentations-strategischen Vorteil hat: Sie bietet in der Empirie einen allen zugänglichen Ansatz für eine Überprüfung der Thesen, macht psychoanalytische Erfahrungen ohne Teilnahme am psychoanalytischen Prozeß einsichtig. Insbesondere die Untersuchungen von René Spitz und die Resultate jener kulturanthropologischen Feldforschung, die psychoanalytischer Theoreme sich bediente, geben dafiir ein stabiles Fundament ab.
Das erste soziale Feld, das eine von der Psychoanalyse ausgehende Sozialisationstheorie genauer zu untersuchen hat, ist jene primire Einheit, die von der Ferenczi-Schule (15,16)
schon unter dem Begriff der »Dualeinheit« oder der »Zwei-
Einigkeit« beschrieben wurde, nimlich die Mutter-Kind-Beziehung. Diese auch als Mutter-Kind-Dyade bezeichnete Ein-
heit, die von Alice Balint (17), von Margaret Mahler (18) und Therese Bendek (19) symbiotische Beziehung genannt wurde, bildet bei Spitz den Gegenstand vielfacher Forschung. 25
Anzumerken ist, daß die Einsichten in die Mutter-Kind-Dyade abgenommen sind aus der Beobachtung des Verhältnisses von Kindern zu
ihren
leiblichen
Müttern
—
ein
Ausgangspunkt,
der
in
gleicher
Weise auch weitgehend für die vergleichende Untersuchung in primitiven Gesellschaften gilt. Daß die Schlüsse aus diesen Untersuchungen gewisse Modifikationen erfahren müssen, wenn man von der Objektbeziehung Kind-leibliche Mutter übergeht zu anderen Verhältnissen, wird nahegelegt von den Ergebnissen der Untersuchung, wie sie vornehmlich Winnicott (20) über Veränderung der Mütter in der Schwangerschaft und Mutterschaft vorgelegt hat. Diese feineren Unterschiede werden in der folgenden Darstellung freilich unbeachtet bleiben müssen und können, da wir die Mutter-Kind-Dyade auf dem Niveau einer stilisierten Modellsituation diskutieren werden, den ein theoretischer Entwurf einhalten muß, soll er als brauchbares Kartenblatt zur Einzeichnung vielfacher Erfahrungen dienen (was nichts mit der Ungeschichtlichkeit positivistischer Modelle, die den Zusammenhang von Konkretem und Abstraktem zerreißen, zu tun hat). Daß unser Modell nicht aus der Dialektik von Konkretem und Abstraktem herausfällt, wird unablässig zu überprüfen sein.
Der eingenommenen Abstraktionsstufe entspräche es nun freilich, »Mutter« durch »primäres Beziehungsobjekt« und Mutter-Kind-Dyade durch den umständlichen Satz »Beziehung des Kindes zu seinem primären Beziehungsobjekt« zu ersetzen. Ich nehme aber an, daß der Hinweis auf die »stilisierte« Verwendungsweise der Begriffe »Mutter« und »Mutter-KindDyade« genügt, eine konkretistische und unreflektierte Gleichsetzung unserer Modellfigur mit den besonderen Konfigurationen (wie etwa »leibliche Mutter in der heutigen Klein-
familie«) zu vermeiden. Eine solche Gleichsetzung wäre das
Gegenstückk
zur
Zerreißung
des
Zusammenhangs
von
Kon-
kretem und Abstraktem: die Mißachtung der Differenz zwi-
schen
der
Organisationsstufe
konkreter
tischer Modelle, welcher Mißachtung Verallgemeinerungen verdanken.
Daten
sich
die
und
theore-
schlechten
Ohne schlechter Verallgemeinerung zu verfallen, läßt sich als
theoretische Grundfigur 26
menschlicher Entwicklung
transsub-
jektiv, transkulturell eine typische Anordnung ausmachen, die wir im angegebenen Sinne als »Mutter-Kind-Dyade« bezeichnen wollen: ein intimes Zusammenspiel zwischen Embryo/Neugeborenem und bestimmtem primären Beziehungsobjekt realisiert in einer oder mehreren, gleichartig sich dem Kind zuwendenden Personen.
Für das Gefüge
psychoanalytischer Theorie hat dieses Be-
ziehungsfeld zweifellos die Relevanz einer Grundfigur. Was alle psychoanalytischen Untersuchungen konkreter Mutter-Kind-Dyaden hervorheben, ist die grundlegende Bedeut-
samkeit dieses Beziehungsfeldes für jede weitere Entwicklung des Kindes. Dies darf gleichermaßen als allgemeiner Konsens
psychoanalytischer Autoren angesehen werden, wie es auch als undiskutiert-selbstverständliche Voraussetzung jenen Feldforschern galt, die sich bei ihrem Kulturvergleich bevorzugt
dem
Studium
dieser
Grundgruppe
zuwandten.
Michael
Balint (21) hat diesem Konsens Ausdruck verliehen in seinem
Konzept der Primary-love. Er hat zumindest in der Anerkennung der Gewichtigkeit der Dualunion auch keinen Widerspruch* erfahren.
Und wenn Erikson (22) die Erwerbung eines »Urvertrauens«
zur Basis seiner Lehre von der Entwicklung des Ichs machte, so geht auch er aus von der fundierenden Bedeutung der
Dualunion. Spitz (23) bezeichnet die Dualunion in Anlehnung an Simmel sogar ausdrücklich als Keim jeder sozial höheren Ordnung. I 2
Drei Grundprozesse sind nach psychoanalytischer Erfahrung an diese Mutter-Kind-Dyade gebunden.
1) Die Triebregulation im Wechselspiel von Trieberfiillung und Triebversagung. Triebversagung meint dabei nach * Auf die Auseinandersetzung des Primary-love-Konzeptes mit der Frage des primiren Narzifimus wird andernorts eingegangen werden. Die Auseinandersetzung beriihrt jedoch nicht die Einschitzung der Dualunion als Grundgruppe.
27
psychoanalytischer Auffassung nicht nur pathogenetisch relevante Frustration, sondern bezieht auch jene unvermeidlichen Versagungen mit ein, die — wie insbesondere Greenacre (24) hervorhob — die Umstellung der Geburtsphase innerhalb der ersten Wochen dieses entscheidenden Wechsels von der weitgehenden Befriedigungskonstanz der
pränatalen Geborgenheit zur postnatalen Ungeborgenheit
kennzeichnet. Der Wechsel von Triebbefriedigung und Versagung selbst muß von vornherein als Motor der Entwicklung betrachtet werden.
2) Dieses Einspielen der Triebregulation ist schon in der jeder Erlebensfihigkeit vorangehenden organismischen Frühphase
der kindlichen
Entwicklung
Ansatz
für jene Aus-
bildung realitätsgerichteten Handelns, dessen Kontrapunkt die Entfaltung von Phantasie und infantilen
Wunschgebilden ist. 3) Die Triebregulation ist zugleich der Ansatz für Objektbeziehungen. Im Realisieren von Triebwünschen innerhalb
der Mutter-Kind-Dyade wird die Beziehung zu einem befriedigenden Partner zu jenen Formeln verdichtet, die die ganze spätere Entwicklung bestimmen.
Überblickt man die drei Grundprozesse, dann wird eine Gemeinsamkeit erkennbar. Triebregulation steht jedesmal im Spannungsfeld von Gegensätzen, die nicht aufhebbar sind — es sei denn um den Preis von Pathologie und auch da niemals vollständig. Dies gilt ebenso für das Paar »Befriedigung-Versagung« wie für die Spannung von realitätsgerichtetem Handeln und Phantasie (als Widerspruch zum real Erreichbaren). Es gilt auch für die Objektbeziehungen, die allemal eingespannt bleiben in eine Zweipoligkeit, die insbesondere Eidelberg (25) hervorgehoben hat, wenn er darauf aufmerksam
machte, daß jede Triebbefriedigung zugleich Erfüllung einer
Zuwendung zum Partner (also Triebbefriedigung in Vereinigung mit einem anderen Subjekt bzw. Objekt) ist wie auch
lustvolle narzißtische Erfahrung am eigenen Körper. Erhö-
hung der »Besetzung« am anderen Objekt (bzw. dessen inner28
psychischer Repräsentanz)* geht mit einer Erhöhung tischer Qualität am eigenen Selbst Hand in Hand.
Dieses dreimalige
»sowohl — als auch«,
narziß-
das durch weitere
Gegensätze vermehrt werden könnte, verweist auf ein durchgängiges Merkmal gelungener Entwicklung bzw. Sozialisa-
tion: Das Gelingen ist ausgezeichnet durch das Einspielen einer Relation, durch die Herstellung eines Verhältnisses. So-
zialisation ist im psychoanalytischen Verständnis gekennzeichnet durch das Eintarieren von Lösungsformeln, die bestehende Spannungen nicht total abbauen, sondern in einer bestimmten Einigung aufheben. Schon an dieser Stelle verdichtet sich die Annahme,
daß
der Prozeß
der Entwicklung,
die Psychoana-
lyse untersucht, ein dialektischer ist. Einigung ist Herstellung einer Wechselbeziehung, die deutlich greifbar wird, wenn wir das Resultat dieses Verstindigungsprozesses uns vor Augen stellen und jenes tiefreichende Verstindigtsein sehen konnen,
das Ausdruck einer priverbalen, den verbalen Konsens tra-
genden Kommunikation
schlufireiches Beispiel:
ist. Melitta Sperling bringt ein auf-
»We know that between mother and child there exists a kind of
preverbal communication and that infants are aware of changes in facial expression, shades in voice-tone of their mothers, etc. In a moving picture, M. Fries demonstrated the infant’s extraordinary sensitivity to the mother’s feelings, of which the mother, herself
may be unaware, but which are perceived by the infant, e. g. in the way he is being held by his mother. Where the mother, owing to her own emotional arrest, has an exaggerated need to keep her child
in a highly dependent state, this sensitivity is maintained by the child in dealing with his mother. It is as though the child were in a
prolonged infancy and continued to communicate with the mother in this primitive way. The wishes of such mothers have to be
carried
out
because
the
child
has
not
been
allowed
to sever
its
dependent ties in normal growth and because the often intense mental cruelty of the mother (evidenced openly or in the ambiva-
* Wir iibergehen hier die Frage, daß Eidelbergs Modell fiir spitere, weitaus differenziertere Erlebnisphasen zugeschnitten ist in Verwendung der Terme Selbstreprisentanz und Objektreprisentanz.
29
lent attitude) makes
it mandatory
that the child carry out her
unconscious wishes. The child in such a case very often does not react to the manifest content of the mothers verbalizations which seem appropriate to the situation, but reacts instead to its unconscious intent. I should like to illustrate this with some case material.
A very inhibited mother had unconsciously identified herself with
her five-year-old daughter, Laura, whom she used for the vicarious satisfaction of her own inhibited, sadistic impulses. Laura had a
difficult time with
the children
in kindergarten
because
of her
provocative behaviour. Actually she liked these children and wanted to be friends with them but antagonized them upon unconscious instigation by the mother. As a result they called her >naughty Laura« and reported her to the teachers, etc. The mother herself had always been a model child. One day Laura behaved very badly towards the maternal grandmother and her mother’s only sister, saying
hateful things to them. This was very unusual, because Laura, her grandmother’s favourite, had always treated her with affection.
The mother, who in her analysis was just then beginning to become conscious of her hatred towards her mother and sister, was very much startled and believed Laura to be reading her mind. When she reproached the child for her behaviour, Laura said, >But you hate them and you really wanted me to tell them this.c For the mother, this only confirmed Laura’s telepathic abilities. But when
she asked her, >What
maked
you say this?« and
Laura
casually
answered, »I heard you talk to them on the telephone, mummy I could hear that you hated them«. ..« (26)
and
Daß es sich bei dieser »Einigung« um die Resultate eines Lernprozesses, d. h. einer schrittweise erworbenen Einiibung in ein gemeinsames Interaktionsspiel handelt, macht Sperling selbst klar, wenn sie hinzufiigt: »It was my aim to demonstrate that the unconscious and preconscious wishes of the mothers in my cases transmitted themselves to the
child through some concrete signs which could be received by the child through touch).« (27)
ordinary
sensory
perception
(visible,
audible
or
Erikson bringt diese gegenseitige Einigung im Sinne eines ein30
geübten Wechselspiels auf die treffende Formulierung. Seine Ausführungen führen uns auch wieder zurück auf die allerersten Schritte in der frühen Mutter-Kind-Dyade. Er schreibt: »Bekommen bedeutet: empfangen und nehmen, was gegeben wird. Das ist die erste soziale Modalität, die im Leben erlernt wird. Es klingt aber einfacher als es ist. Denn der tastende und ungefestigte neugeborene Organismus lernt diese Modalität, indem er lernt, sein Organsystem in Übereinstimmung mit der Art zu regulieren, in der die mütterliche Umgebung ihre Methoden der Säuglingsfürsorge organisiert. Es ist also klar, daß die günstigste Gesamtsituation, in die die Bereitschaft
des Kindes
»zu bekommen«
inbegriffen
ist, in seiner
wechselseitigen Regulation mit einer Mutter liegt, die ihm gestattet, seine Mittel des Bekommens zu entwickeln und zu koordinieren, wie auch sie ihre Mittel des Gebens entwidkelt und koordiniert. Auf diese Koordination steht eine hohe Primie an libidinöser Freude, eine libidindse Lust, die mit dem Ausdruck >oralc nur unzulinglich formuliert scheint. Mund und Brustwarze scheinen dabei die bloflen Zentren einer allgemeinen Aura von Wirme und Wedhselseitigkeit zu werden, die nicht nur von diesen Zentralorganen, sondern von den beiden Gesamtorganismen entspannt genossen und beantwortet werden. Die so sich entwickelnde Wechselseitigkeit der Entspannung
ist von hochster Bedeutung fiir die erste Erfahrung eines freundli-
chen >Anderen«. Man könnte (natiirlich etwas mystisch) sagen, daß das kleine Kind, indem es so bekommt, was gegeben wird, und indem es lernt, jemanden dazu zu gewinnen, für es zu tun, was es ge-
tan
haben
möchte,
die nötige
Ich-Grundlage
entwickelt,
um
ein
Gebendes zu werden.« (28)
Machen wir uns nochmals klar: Das Wechselverhältnis hat zwei Pole, Kind und Mutter. Daß die Einigung auf ein be-
friedigendes Wechselverhältnis passungsvorgang des Kindes hingewiesen in einem Autsatz »Die Anpassung der Familie die Mutter ihrerseits sich an
adaptieren
muß,
zeigt
auch
nicht nur ein einseitiger Einist, darauf hat schon Ferenczi unter dem bezeichnenden Titel: an das Kind« (29). Wie stark die Anforderungen des Kindes
Greenson,
wenn
er auf
tief-
reichende psychologische Umstellungen wie z. B. Regressionen im Dienste des Kindes hinweist: Er erschließt eine einge-
31
nommene »infantilisierte« Position der Mutter, z. B. aus der Analyse der Bedeutung einfacher Lautäußerungen. »The musical quality of this »Mm ...< sound is probably related to the fact that the contented mother hums cheerfully herself as she feeds her baby or rocks it so sleep. She hums by way of her identi-
fication with the baby’s pleasurable satiation and sound she felt as a child.« (30)
thus echoes a
Die andere Seite, die Position des Kindes ist nicht in gleicher Weise psychoanalytisch zuginglich. Daß es sich hier nicht um einen passiven Prozeß widerstandsloser Einfiigung ins Bestehende handeln kann, wird aber doch deutlich, wenn man die auftretenden Konflikte beachtet. Erikson faßt — im Zu-
sammenhang
seines
Kulturvergleichs
folgendermaflen zusammen:
—
seine
Erfahrungen
»Angesichts der ersten oralen Phase sprachen wir von einer wechselseitigen Regulierung zwischen der Verhaltensform des Kindes, Dinge
zu bekommen, und der Art der Mutter (der Kultur), sie zu geben.
Es gibt aber Stadien, die sich durch eine so unvermeidliche Entwicklung von Wut und Zorn auszeichnen, dafl eine wechselseitige Regulierung durch komplementires Verhalten nicht die richtige Form sein kann, ihnen zu begegnen. Der Zorn beim Zahnen, die Wutanfille
der motorischen und analen Machtlosigkeit, das Erlebnis des Mifilingens beim Hinfallen
etc. — alles das sind Situationen,
in denen
gerade die Intensitit der Impulse zu ihrer eigenen Niederlage bei-
trigt. Eltern und Kulturen niitzen diese infantilen Zusammenstofle mit den inneren Kobolden zur Verstirkung äußerer Forderungen aus. Aber Eltern und Kulturen miissen diesen Phasen auch insoweit
gerecht werden, daß sie Sorge tragen, im Prozeß der fortschreitenden Entwidklungsstufen so wenig als mdglich der urspriinglichen Wechselseitigkeit verlorengehen zu lassen.« (31)
Eriksons Ausfilhrungen verweisen auf drei wichtige Tatbestinde: 1. Die Einigung zwischen Kind und Mutter ist eine Auseinandersetzung, in der das Kind seine K&rperbediirfnisse einbringt und anmeldet. Das Kind fiihrt im Annehmen der miitterlichen Befriedigungsangebote — bewufitlos zunichst — seine Auseinandersetzung mit der inneren Natur. 32
Die biologischen Bedürfnisse bilden den point de résistance
im Kind. Dieser Widerstand des Kindes, sein Beharren auf der in seiner konkreten organismischen Situation formierten Bedürfnisbefriedigung, wird von der Umgebung und d. h.
vor allem von der Mutter angegangen. Die Krisen sind, wie Erikson plausibel macht, Marksteine passungsstrategie an die Umwelt.
für
eine
An-
Die, im Beginn noch organismische, Lebensgeschichte des
Kindes
ist ein Vorgang
zunehmender
Kanalisierung
der
kindlichen Bedürfnisse. Die Brechung oder, milder ausgedrückt, die Beeinflussung der originären Bedürfnisse nimmt einen Weg, bei dem jeder Schritt den nachfolgenden determiniert. Umsetzung dieser Wünsche in Realität verändert das Profil der Bedürfnisse und biegt so eine Entwicklungslinie
zunehmender
Formung
der Körperbe-
schon
in der organis-
dürfnisse zurecht. Gerade Eriksons Beispiel erinnert uns daran,
daß
dieser Formungsprozeß
mischen, d. h. bewufitlosen Phase der kindlichen Entwick-
lung als Profilierung des Bediirfnispotentials sich abspieit.
Das Ausmaf dieser Einpassung wird deutlich, wenn wir uns an kulturvergleichenden Untersuchungen einen Ein-
druck der Forschung geben lassen.
Ziehen wir nochmals ein Beispiel Eriksons heran. Er be-
schreibt die frithe Kindheit der Sioux-Indianer als ein ziemlich uneingeschrinktes Paradies oraler Bediirfnisstellung, fihrt dann aber fort:
»Dies Paradies des praktisch unbegrenzten Privilegs auf die Mutter-
brust hatte aber ebenfalls seine verbotene Frucht. Um saugen zu diirfen, mußte das Kleinkind lernen, nicht zu beiflen. Siouxgroßmiitter berichten, was fiir Mühe sie mit ihren verwdhnten Siuglingen hatten, wenn diese anfingen, die Brustwarzen fiir ihre ersten kriftigen Beiflversuche zu benutzen. Die Alten erzihlen mit Vergniigen, wie sie den Kopf des Kindes >aufzubumsen« pflegten und in was für eine wilde Wut es dabei geriet. An diesem Punkte pflegten die Siouxmiitter dasselbe zu sagen, was unsere Miitter so viel früher
33
im Leben unserer Kinder sagen: Laß es schreien, davon wird es stark! Besonders die zukünftigen guten Jäger konnten an der Kraft ihrer infantilen Wut erkannt werden.
War das Siouxkind so mit Wut erfüllt, so wurde es jetzt bis zum
Halse mit Wickelbändern an das Wiegenbrett gebunden. Es konnte seine Wut nicht durch die übliche heftige Bewegung seiner Glieder ausdrücken. Ich will damit keineswegs sagen, daß das Wiegenbrett oder das feste Wickeln mit Tiichern oder Bändern eine grausamc Beschränkung darstellen. Im Gegenteil sind diese Prozeduren zu
Anfang zweifellos angenehm feste, mutterschoßartige Dinge, etwas worin sich das Kind eingehüllt und gewiegt fühlt, während für die
Mutter auf diese Weise ein handliches Bündel entsteht, in dem sie das Kind auch während der Arbeit bei sich tragen kann. Aber ich will damit zum Ausdruck bringen, daß die jeweilige Konstruktion des Wiegenbrettes, sein Platz im Hause und die Dauer seiner Anwendung variable Elemente sind, die von den verschicdenen Kulturen zur Einprigung der grundlegenden Erfahrungen und wichtigsten Charakterziige angewendet werden, die sie in ihren Kindern entwickeln wollen.« (32)
Wir diirfen diese Beispiele jedoch nicht kulturistisch mißverstehen. Einigung auf ein Wechselverhiltnis ist allemal die Vereinbarung
zweier
Positionen.
Der
Anteil
des
Kindes
wird offenkundig, wenn wir Beispiele mifigliickter Einigung studieren. Spitz hat dazu eine Fiille von Beobachtungen
beigetragen; Beobachtungen, die umso gewichtiger fiir unseren Gedankengang sind, als sie zeigen, wie am Beginn der Mutter-Kind-Dyade auf der Basis »physiologischer Verstandigung«,
im
Zuge
der
Herstellung
eines
Zusammenspiels
der Korperfunktionen — miitterliches Stillen, kindliches Gestillt-werden — die ersten folgenschweren Einigungsformeln
»erarbeitet« werden miissen. Ein von Spitz publiziertes Bei-
spiel:
»Die Mutter des Kindes ist 16 Jahre alt, ein zartgebautes junges Middhen; sie ist unverheiratet. Sie ist als Hausmidchen beschiftigt. Sie wurde vom Sohn ihres Dienstherrn verfiihrt; ein einziger Sexualakt fand statt, der eine Schwangerschaft zur Folge hatte. Sie ist
gliubige 34
Katholikin.
Wihrend
der
Schwangerschaft
litt
sie
an
schweren Schuldgefühlen. Das Kind war keineswegs erwünscht. Die Niederkunft fand in einem Entbindungsheim statt und war normal. Das Kind wurde nach 24 Stunden ohne Erfolg angelegt. Das gleiche
wiederholte sich bei den nächsten Stillversuchen. Man sagte, die Mutter habe keine Milch. Es war jedoch ohne Schwierigkeiten möglich, Milch aus der Brust herauszudrücken. Auch hatte der Säugling keinerlei
Schwierigkeiten,
die
ausgedrückte
Milch
aus
der
Flasche
zu trinken. Aber wenn man das Kind an die Brust legte, behan-
delte die Mutter das Kind, wie wenn es eine Sache, etwas Fremdes
sel, und kein lebendes Wesen. lhre Haltung war abweisend, starr und gespannt, was man am Korper, im Gesicht und an den Hinden
lesen konnte. Diese Situation blieb fiinf Tage lang unverindert bestehen. Wir filmten den letzten Versuch des Anlegens, bei dem man beobachten
konnte, wie das Kind in eine Art prikomatdsen Stupor verfiel, wie
er von Ribble beschrieben worden war. Das Kind wurde mit Hilfe von Kodhsalzzufuhr wedkt.
und
Sondenfiitterung
wieder
zum
Leben
er-
Wegen der Begleitumstinde und im Hinblick auf das intellektuelle Niveau
der Mutter
ergriffen wir die allereinfachsten
Mafinahmen.
Wir gaben ihr genaue Instruktionen, wie sie sich ihrem Kinde gegeniiber zu verhalten
habe, wie sie es auf den Arm
nehmen
und ihm
die Brust reichen solle und lieflen sie das üben. Inzwischen hatte sich das Kind erholt und nach fiinf Tagen gelang schliefilich das Anlegen. Das Kind fing an zu gedeihen, wenigstens innerhalb der nichsten sechs Tage, die ich es beobachten konnte. Man kann sich fragen, wie sich ein Kind
entwickeln wird, das bei
der Geburt eine derart unverhiillte Ablehnung erfihrt. Wahrscheinlich
wird
ersten
man
bei
unmittelbar
somatischen
diesem
Kinde
auch
lebensbedrohlichen
Folgeerscheinungen
nach
Uberwindung
Reaktionen
begegnen,
wenn
spiter
auch
dieser
psycho-
diese
dann
weniger ernst sein werden. Ich glaube, daß manche Fille von Erbrechen im ersten Trimenon in diese Kategorie gehören.« (33)
Die Versuche, in der Mutter-Kind-Dyade eine beidseits befriedigende Einigung im Wechselverhiltnis zu finden, bringt Erikson auf einen kurzen Nenner, wenn er schreibt:
„Wo das mifilingt, zerfillt die Situation in eine Vielfalt von Versuchen, durch Zwang oder in der Phantasie zu herrschen, statt durch
Wechselseitigkeit. Der Siugling wird versuchen, durch ziellose blinde 35
Aktivität zu kriegen, was er durch zentrales Saugen nicht bekommen kann, er wird sich erschöpfen oder seinen eigenen Daumen entdecken und auf die Welt pfeifen. Auch die Mutter kann versuchen, die Angelegenheit zu forcieren, wenn sie dem Kind die Brustwarze in den Mund drängt, nervös die Fütterungszeiten und Nahrungszusammensetzung wechselt und außerstande ist, sich während der anfangs u. U. schmerzhaften Stillprozedur zu entspannen.« (34)
Lichtenstein zögert nicht, die Rolle der Mutter in diesem Zusammenhang als »Verführung« zu bezeichnen, womit er zu-
treffend die induzierte Vermittlung zweier polar angelegter Bestrebungen benennt:
» The answer, I believe, lies in the fact that while we cannot, strictly speaking, refer to a drive before there is a functioning continuous organizational identity, there is an innate body responsiveness, a
capacity, probably more developed in the human
infant than in
animals, to respond to contact with another person with a specific kind of somatic excitation which is not a drive, because it has no
direction, but which is the innate prerequisite for the later deve-
lopment of a drive. This responsivness to body contact — SO convincingly described by Mahler ..., Mahler and Elkisch ..., and
Mahler and Gosliner ... — is probably heightened by the other
person’s
emotional
interest
in
provoking
this
particular
soma-
tic excitation, i.c., by what we may call another person’s seduc-
tive intent. We might hesitate to use the word seduction ın order not to conjure up old ghosts of sexual seduction theory, but if we take the concept of seduction in a broader sense, it implies the
kindling of desires by one person in another one, desires which, without this kindling effort, would perhaps never, or at least not in this form, have arisen in the object of stimulation. Thus, in this sense, one may say that infants — like those victims of hospitalism
described by Spitz ... — can die, or not develop, because nobody
has taken the interest to seduce them to live.« (35)
Lichtenstein umreißt
auch die ganze Breite und
Tiefe des
Spannungsfeldes der Mutter-Kind-Dyade, wenn er eine Reihe psychoanalytischer Autoren, die sich dazu geduflert haben,
heranzieht:
»Another important point which is not explicitly made by Mahler, but does not appear to contradict her findings, is that the pri36
mitive stimuli which cathect the apparatus of touch, smell, taste, etc., must be seen as >messages< conveying to the infant a great deal about the mother’s unconscious wishes concerning the dhild. The way the mother is touching, holding, warming the child, the way
in which some
senses are stimulated, while others are not, forms
a kind of >stimulus cast< of the mother’s unconscious, just as a blind
and deaf person may, by the sense of touch, >cast« the form and
the personality of another person in his mind. Here we are on mor familiar territory: numerous psychoanalytic authors (74, 75, 76, 129, 36, 38) have talked about the >mirroring experience« and have shown conclusively that such mirroring experiences are intimately
linked with the emergence of both body image and »>sense of identity«. I feel that the term >mirroring« overemphasizes the visual element of the experience. It would seem that the primitive modalities
of >somatic recognition< between mother and infant described by Mabhler in the quoted passage constitute a kind of mirroring expe-
rience, but the >image« of oneself that the mirror conveys is at this early age — a stage >before images formed« (129) — outlined in terms of sensory responsiveness, not as visual perception. This would
appear to be an important point, because these sensory responses are simultancously »outlining« a first sUmwelt-otherness< and a first Umwelt-defined identity. Moreover, these responses as well as the
primitive stimuli that elicit them form a continuous interchange of need creation and need satisfaction between the two partners of the symbiotic world. While the mother satisfies the infant’s needs, in fact creates certain specific needs, which she delights in satisfying, the infant is transformed into an organ or an instrument for the satisfaction of the mother’s unconscious needs. It is at this point
that I see a link between sexuality and the emergence of identity in man.
An
interaction
between
two
partners where
each partner
experiences himself as uniquely and specifically capable of serving
as the instrument of the other’s sensory gratification — such a part-
nership can be called a partnership of sensual involvement. I believe that this type of relationship is, in the adult, established in the sexual
involvement
of two
individuals.
In the
interchanges taking place between mother see the precursor of adult sexuality.« (36)
primitive
sensory
and infant one could
Wenn auch das Sehfeld der psychoanalytischen Forscher zumeist konzentriert bleibt auf die Mutter-Kind-Dyade als ein 37
privatfamiliales Feld, so ziehen einige Autoren doch Schlüsse auf ein weitergespanntes Verhältnis. Levita verweist auf Erikson: »Er will lediglich beweisen, daß der wechselseitige Einfluß von Individuum und Gemeinschaft am ersten Lebenstag dieses Indivi-
duums beginnt, daß >»es kein soziales Vakuum gibt, in dem mensch-
liche Elemente sich eine Zeitlang ganz von selbst entwickeln könnten, um dann — wie es heißt — durch die Gesellschaft geformt oder »kanalisiert« zu werden«, sondern daß diese Kanalisation untrennbar mit jeder Handlung, die das Kind ausführt oder erfährt, verbunden 1St.«
(3 7)
Sieht man die hier aufgefiihrten Zitate und die uniibersehbare Fille gleichlautender psychoanalytischer Auflerungen zu diesem Thema durch, so zeichnen sich zwei grundlegende Ein-
sichten unbestritten ab: 1.
Die Mutter-Kind-Dyade ist ein Wechselverhältnis. Sie ist keinesfalls nur ein einseitiger Prigungsvorgang. Gerade im Festhalten der Beidseitigkeit grenzt sich psychoanalytische Entwicklungstheorie ab von jenen behavioristischen und soziologistischen Entwiirfen, in denen der kindliche Anteil bestenfalls als biologische Folie fiir einen Prigungs-
prozeß
angesehen
wird.
Fiir die Psychoanalyse
ist die
Auseinandersetzung zwischen Mutter und kindlichem Organismus ein dialektischer Prozef.
Diese Sicht ergibt sich fiir die Psychoanalyse zwangsliufig aus dem Festhalten alles Erlebens. Trieb ja ein dem Erleben Bestandteil. Erleben
macht den Kern
am Grundsatz der Triebbestimmtheit ist in psychoanalytischer Anschauung nicht duflerlicher sondern immanenter ist inhaltlich triebbestimmt. Genau das
der psychoanalytischen
Personlichkeits-
theorie aus, daß von den unstrukturiert-emotionalen Zustinden bis zu den elaborierten rationalen Akten alles Psychische vom Trieb auch inhaltlich abhingig zu denken
ist. Hier liegt die feste Trennungslinie zum Kulturismus. Diese Abhingigkeit von Formen wie Inhalten des Erlebens 38
illustriert die auf psychoanalytische Thesen aufgebaute Untersuchung Mirskys (38) recht gut. Mirsky ermittelte
den Zusammenhang zwischen Ulcus-Anfilligkeit und Be-
lastungssituationen, neurotischer Vorgeschichte und Magensaftsekretion. Bei diesen Untersuchungen fiel folgendes Nebenergebnis an: Die bei Siuglingen erhobenen Werte
der
Magensaftproduktion
waren
recht
unterschiedlich.
Mirsky konnte nun nachweisen, wie diese differente Ausgangslage das weitere Entwickiungsschicksal bestimmte, gerade weil das Pflegeverhalten der Eltern auf ein stan-
dardisiertes
Bediirfnisprofil
eingestellt war.
Aus
diesen
von den Miittern nicht erkannten (und nicht erkennbaren)
Verschiebungen der physiologischen Ausgangslage gegenüber der Norm ergaben sich typische Konflikte mit den
entsprechenden Verinderungen der Personlichkeitsstruktur. Alles in allem ein {iberaus anschauliches Beispiel, wie
in die Personlichkeitsstrukturen und Erlebnisinhalte die
Geschichte
der
Auseinandersetzung
zwischen
der Natur
des Kindes und dem miitterlichen Verhalten als konstitutives Moment eingeht. Die Mirskyschen Resultate, auf dem Erwartungshorizont der psychoanalytischen Theorie
gelesen, verdeutlichen den prizisen Sinn der psychoanalytischen Aussagen iiber »Wechselbeziehung«. Wechselbe-
ziechung heißt: Aufarbeitung dialektisch einander gegenibergestellter Positionen. . Diese Wechselbeziehung ist von den ersten Augenblicken des Lebens an aktuell. Die alten und nicht selten »mytho-
logischen« Vermutungen psychoanalytischer Autoren iiber
intrauterines Erleben erfahren ihre notwendige Richtigstellung und zugleich ihre partielle Bestdtigung, wenn wir
uns klarmachen: Auch im bloß organismischen Stadium
embryonaler Reizreaktionszusammenhinge werden lange vor jeder Erlebensfihigkeit (im Sinne zentralnervoser Registrierung und Umschaltung) erste Ansitze des Wechselspiels eingeiibt.
Neuere Untersuchungen iiber die Folge intrauteriner Reiz-
39
beeinflussung bestätigen, was vorher schon vermutet werden konnte. Schon der embryonale Organismus stellt sich auf spezifische Reizreaktionslagen ein, was im hier entfalteten Sinne heißt: er tritt bereits embryonal in eine Auseinandersetzung ein, bei der Umwelt und Organismus sich auf allmählich sich einschleifende Formeln »einigen«. Diese Einigung hat ihre Toleranzbreite. Wird die Bandbreite der kindlichen Toleranz überfordert, so kommt es zu Störungen, womit wiederum auf die Dialektik der
infantilen Entwicklung verwiesen wird. Um die Bedeutung der psychoanalytischen Anschauungen über diese Wechselbeziehung von Anfang an richtig einschätzen
zu können, müssen wir freilich unsere Sichtweise ändern. Ha-
ben wir doch bislang die Vorgänge ganz aus der Sicht des erwachsenen Betrachters angesehen, in einer Beobachterposition also, in der kindlicher Organismus und Mutter als zwei
abgegrenzte Lebewesen erscheinen. Stellt man sich aber so konsequent, wie dies der genetische Aspekt der Psychoanalyse
versucht (wenn Psychoanalyse vom Erleben des Erwachsenen
her regressiv die infantile Erlebnislage erschließt), die Frage nach den Anfängen der kindlichen Entwicklung, so gilt es, die Erfahrungen aus der Perspektive des kindlichen Organismus zu konstruieren. Hierfür gilt aber eindeutig: In der Phase
des bewußtlos-organismischen
ist das Kind
Kontinuum
Reizreaktionszusammenhanges
ein »undifferenziertes,
mit seiner
biologischen
unbegrenztes
Umgebung«
Wesen
ım
(Margolin
und Grinker,39). Auch in den ersten Ansätzen höherer psychischer Organisation, die, wie nun wohl hinlänglich dargelegt, aus jener biologischen Phase herauswachsen, befindet sich das Kind allemal in einem Zustand, in dem »die leiblichen Bedürfnisse und ihre Befriedigung oder Nichtbefriedigung eine entscheidende Rolle spielen und nicht die Objektwelt« (Anna Freud, 40). Mit anderen Worten, der kindliche Organismus verharrt auf dem Stand der »undifferenzierten Phase«, in der Körperbedürfnisse und irgendwelche Vorformen eines späteren Ich noch ungeschieden anzunehmen sind. 40
Daraus läßt folgendes Verständnis vom »Trieb« sich ableiten: Triebe sind verwurzelt in bewußtlosen Körperbedürfnissen, die wiederum in genetischem Zusammenhang stehen mit einem organismischen Bedarf, dessen erste Station jene Vorgeschichte des Individuums ist, in der es noch ein Teil des mütterlichen Organismus war. Kurz gesagt, Ausgangsbasis des Wechselspiels ist die reale Einheit von Kind und Mutter und das darauffolgende intrauterine »homdostatische Gleichgewicht« (Margret Mahler, 18).
Mit dieser Feststellung über die Ausgangslage des Entwick-
lungsprozesses erwichst nun allerdings ein Problem: Wie bil-
det sich aus diesem »unbegrenzten Kontinuum« ein Wechselspiel, das zumindest organismische Grenzen voraussetzt — soll der Begriff Wechselspiel sinnvoll bleiben und soll nicht die These gelten, dieses Wechselverhiltnis trete an irgendeinem Punkt quasi als deus ex machina ins Spiel. Dieser letztgenannte Ausweg hitte in der Tat die fatale Folge, Vorformen subjektiver Autonomie eben an der Stelle unterstellen zu miissen, an der das Wechselspiel einsetzt. Es wiirde damit zugleich die — in der Tat revolutionir zu nennende — Umwendung der idealistischen Bewuftseinspsychologie in eine
materialistische Triebpsychologie widerrufen. In Wirklichkeit nötigt uns nichts dazu. Die vorher schon ge-
nannten Befunde der intrauterinen Reizreaktionen geben uns
einen Fingerzeig, wie die Differenzierung des kindlichen Organismus zu einer abgegrenzten biologischen (und spiter psychischen) Einheit vor sich geht: In den Zustand des ungeschiedenen Kontinuums brechen Reize, z. B. Klopfreize durch
die miitterlichen Bauchdecken, ein. Diese Klopfreize stellen Unterbrechungen des befriedigenden Zustandes dar, erwirken also eine Zustandsinderung, die kindliche Reaktionen hervorruft. Die Zustandsinderung klingt ab, um bei nichster Gele-
genheit sich zu wiederholen und damit Ansitze zu einer Struktur zu bilden. Die Grenze ist — im Ablauf von Reiz, Reizbeantwortung, Abklingen usw., Wiedererscheinen einer Stromung — gewiß nicht riumlich angelegt sondern zeitlich. AT
Die Strukturen folgen nicht einer räumlichen Grenzlinie, sondern erwachsen aus der zeitlichen Markierung des Wechsels von reizlosem Kontinuum und Störungseinbruch (41). Der Einbruch des Geburtstraumas, dieser »starken homöostatischen Krise« (Cannon, 42), die »unter echter Todes-
drohung eine neue Form der Anpassung erzwingt« (Balint,
43),
ist
als
einschneidende
Zustandsänderung
die
schärfste
zeitliche Markierung, d. h. Grenzziehung. Mit dem Geburtstrauma, das — wie insbesondere Greenacre (24) hervorgehoben hat — nicht als ein pointiertes Einzeltrauma, sondern als Folge vieler gleichgerichteter Traumatisierungen innerhalb einer langen Übergangsperiode anzusehen ist, erfolgt der »Sprung aus der fast völligen Abhängigkeit des intrauterinen Lebens zu den Uranfängen der Selbständigkeit«, wobei die Bemerkung »Uranfänge der Selbständigkeit« nun auf eine zweite Grenzziehung, nämlich die zwischen kindlichem Organismus und Mutter in räumlicher Differenzierung verweist. Um es nochmals auseinanderzuhalten: Wir haben zwei Prozesse der Grenzziehung vor uns. Zuerst eine zeitliche Differenzierung, in der der Einbruch eines Reizes in ein Befriedi-
gungskontinuum und seine reaktive Beseitigung in zeitlicher Markierung gleichsam Inseln der Strukturbildung hervorbringen,
und
zum
anderen
jene
räumliche
Differenzierung
in
Auftrennung der Einheit von Mutter und Kind. Die These von der zweizeitigen Differenzierung des Kind-Umwelt-Systems läßt sich voll erst verstehen, wenn wir sie ergänzen durch die These von einem schrittweisen Aufbau des Wechselspiels im Zuge des erzwungenen Abbaues der ursprünglichen Einheit und d. h. des ursprünglichen Kontinuums unbegrenz-
ter Bedarfsstillung. Eben dieses heißt aber auch: iın dem Maße, als aus der Bedürfnislosigkeit ungestörter Harmonie durch die
Störung erfüllten
der Bedarf zum Bedürfnis — und später zum oder nichterfüllten Bedürfnis — wird, tritt das
Wechselspiel zwischen Mutter und kindlichem Organismus in Funktion. Die beiden ersten Grenzziehungen sind ja nichts anderes als zunehmende 42
Distanzierungen
zwischen
Bedürfnis
und Befriedigung. Die laufende Aufhebung dieser Distanz ist identisch mit der Etablierung des Wechselverhiltnisses. In beiden
der
Phasen,
räumlichen
in der
zeitlichen
Differenzierung,
psychoanalytischen Annahmen
objektlosen«
Zustand
(Freud,
wie
befindet
auch
sich
in der
nach
Phase
allen
das Kind in jenem »primitiven
44),
die
den
Psychoanalyse
unter der Bezeichnung des primären Narzißmus registriert. Noch kann nicht davon gesprochen werden, daß das Kind in der Lage wäre, Ich und Nichtich voneinander dauernd zu unterscheiden. Es handelt sich hier immer noch um einen
»Narzißmus, der fast oder gar keinen psychischen Gehalt hat« 24). Der Narzißmus
(Greenacre,
ist ja nichts anderes als die
ursprüngliche Einheit bzw. partiell und vorübergehend gelungene Wiederverschmelzung zum grenzenlos-kontinuierlichen Einssein mit der Mutter, er sucht die Ansätze einer Aufspaltung in Selbst und Objektwelt zu überspielen. In den postnatalen frühen Entwicklungsphasen wiederholt schon angenommen
sich, was wir für die früheren Vorgänge
haben. An jedem Schritt der Störung des Gleichgewichtes muß die ursprüngliche Einheit aufgegeben werden und tritt — ideal — ein gelungenes Wechselspiel zwischen Kind und Mut-
ter an
deren
Störungen
Stelle.
Das
gelungene
gleichfalls auf, es macht
Wechselspiel
die Einbuße
hebt
die
an primär-
narzißtischer Ungestörtheit zwar nicht zunichte (die Störung legt ja nur
die
reale
Trennung
zwischen
den
Organismen
bloß), ersetzt aber in der mütterlichen Fiirsorge reparativ die verlorene Einheit durch eine gelungene Objektbeziehung, durch ein Wechselspiel, das als Objektbeziehung freilich noch nicht bewußt erfahrbar ist. Dieser letzte, bisher immer
wieder betonte Punkt
soll noch-
mals beachtet werden: Weil der Übergang von der primär-
narzißtischen Unbegrenztheit zur Objektbeziehung mit ausge-
formt distanzierten Positionen von Mutter und Kind
unmittelbar vom
Himmel
fällt, sondern
nicht
in Schritten heraus-
wächst und in Schritten zum Aufbau der Mutter-Kind-Dyade führt, ist die Erfahrung des Zusammenspiels früher als die 43
Erfahrung eines Gegenübers zweier differenzierter Positionen. Mit anderen Worten, ein Kind, das durch die Kette von
Störungen, und d.h. Versagungen, unmittelbarer Bediirfnis-
befriedigung aus dem leidlosen Zustand bedürfnisloser Einheit
von Bedarf und Erfüllung herausgetrieben wurde, erwirbt als Ersatz neue Befriedigungsformen in der Wechselbeziehung, deren Entfaltung erst allmählich das Gegenüber von Ich und Nichtich preisgibt. An anderer Stelle (45) habe ich ausgeführt, daß wir mit zwei Stufen von Reizeinbrüchen zu rechnen haben, nämlich
I. mit jenen »primiren« traumatischen Störungen, durch welche die Harmonie des primir-narzifitischen Zustands jeweils aufgerissen wird. Diese Reizeinbriiche sind als ubiquitir-unumginglich anzusehen. Es sind dies jene unver-
meidlichen Erfahrungen von Hilflosigkeit, die das Wech-
2.
selspiel mit der Mutter aufheben wird. Diese Storungen bilden jeweils Punkte, an denen die Wechselbeziechung als reizbeseitigende Interaktion erfahren wird. Ein derartig eingeiibtes und als Instrument der BediirfnisOkonomie approbiertes Wechselspiel verliuft seinerseits
keineswegs
stdrungsfrei. Konstruieren
wir den
utopisch-
idealen Fall einer durch keinerlei duflerliche Momente
(wie
zufillige Abwesenheit der Mutter) getriibten Inanspruchnahme der miitterlichen Hilfe — auch dann kann die Bediirfnisbefriedigung nicht jenen Gang nehmen, den der kindliche K&rperbedarf anstrebt; auch dann werden die kindlichen Erwartungen im schon eingeiibten Wechselspiel frustriert. Durch die Abfolge dieser neuerlich unvermeidlichen Erfahrungen erhilt das Wechselspiel schließlich die Form, die die Beziehung zwischen diesem Kind und dieser Mutter kennzeichnet. Versagungen und ihre jeweils spezifischen Aufhebungen erbringen so die allmihliche Konturierung in konkreten Formeln der Einigung, die zunehmend das Merkmal lebensgeschichtlicher Unaustauschbarkeit erhalten. Dieses in realer Interaktion sich festigende
eigenartige
44
Profil
der
Beziehung
zwischen
Mutter
und
Kind wollen wir das Profil der spezifischen Interaktionsformen der Mutter-Kind-Dyade (»If«) nennen. Verweilen
wir einen Moment
bei diesem
fiir unsere weiteren
Uberlegungen wichtigen Begriff. Noch ist auf diesem Stand der Entwicklung nicht von Subjekt und Objekt zu sprechen.
Dementsprechend kann auch noch keineswegs von einem deutlich geschiedenen Gegeniiber von Es und Ich im Kinde die Rede sein. In der durch eine bestimmte Interaktionsform gekennzeichneten konkreten Interaktion einer Mutter-KindDyade wird keineswegs die Beziehung zwischen einem umrissenen Triebprofil und einem ihm äußerlichen Gegenliber
in der Umwelt »hergestellt«, — »Triebprofil« wie »Umwelt-
horizont« werden umgekehrt erst aufgebaut in der Einigung auf Interaktionsformen. Dieser Sachverhalt macht auch klar,
mit welcher Berechtigung wir von einer Beeinflussung
der
Triebe zu sprechen haben.
Dasselbe gilt, wie der Deutlichkeit halber nochmals hervor-
gehoben werden soll, von der Beziehung Mutter-Kind. Nicht tritt hier ein Individuum dem anderen gegeniiber; Individualität geht vielmehr in der Erfahrung des Kindes mit dem Bild der Mutter zugleich aus der Interaktionsform hervor. Das Kind macht sich das Bild seiner Mutter nach dem Bilde der Interaktion, die freilich nicht aus einem isolierten Unbewufiten erwichst, sondern Niederschlag des so und so geformten
Wechselspiels
zwischen
Korperbediirfnissen
und
Interaktionsangeboten, zwischen kindlicher Natur und den Kriften, die durch die Mutter hindurch das reale Wechselverhiltnis beeinflussen, ist. Diese Interaktionsform darf nicht als eine äußere Verhaltensregel, die zu erlernen wire, angesehen werden (solche Auffassungen wiirden unter der Hand wieder ein kindliches Subjekt hypostasieren). Auch ist die Interaktionsform weder eine dem Kind imputierte äußere Realitit,
noch — in individualistischer Wendung oder biologistisch ver-
standen — eine »innere« Formel. Sie ist notwendig beides als Ausdruck der Einigungssituation. Sie ist eingeiibte Praxis. Keine Praxis, die dem Kind iibergestiilpt wiirde aus einem
45
Katalog feststehender Verhaltensnormen, sondern Praxis, die
dem Kind von vornherein ebenso eigen wie fremd ist; sie ist
Aneignung der gelungenen Natur eingegangen ist.
Fassen wir das des Subjektes, Satz: Das Ich für diese erste satz
des
Auseinandersetzung,
in die seine
Endergebnis des Prozesses, nämlich die Bildung ins Auge, dann läßt sich der alte Freudsche ist der Niederschlag der Objektbeziehungen, Vorstufe folgendermaßen abwandeln: Der An-
Subjektes
ist
der
Niederschlag
der
Interaktions-
formen. Das Festhalten an der unverkürzten Bedeutung der alten materialistischen Triebtheorie Freuds hat Psychoanalyse allemal davor bewahrt, den Versuchungen der idealistischen Bewufltseinspsychologie zu verfallen. Ich nehme an, es ist hin-
reichend klar geworden, daß das vorliegende Konzept diesen materialistischen Zug durchhilt bis in alle Einzelheiten: Uber die Interaktionsformen geht eine in dialektischem Prozef praktisch angeeignete Natur ins Subjekt ein. Jedoch, ist uns nicht mit zunehmender Klirung der Soziali-
sationsdialektik der Zusammenhang mit den materiellen Pro-
zessen gesellschaftlicher Praxis verlorengegangen? In Beantwortung dieser Frage werden wir die Funktion der Mutter zu analysieren haben.
I. 3 Der schlichte Satz, mit dem D. W. Winnicott sein Buch Kind, Familie und Umwelt einführt: »In diesem Buch werden wir über
das,
was
eine
hingebende
Mutter
einfach
dadurch
tut,
daß sie nichts weiter als sie selbst ist« (46), liest sich im
psychoanalytischen Verständnis natürlich hintergründiger, als er sich präsentiert. Psychoanalytische Erkenntnis ist in der Analyse wie auch in der direkten Beobachtung kritisch, d. h. sie löst das faktisch Vorhandene auf, um — wie Freud es
schon ganz ohne wissenschaftstheoretische Reflexion zutreffend genannt hat — die hinter den Phänomenen liegenden Kräfte zu ermitteln.
46
Zwei
Schichten dieser kritischen Auflösung
der Phänomene
sind uns schon in den angezogenen Zitaten zugänglich geworden: 1. Das, was die Mutter einfach »selbst ist«, wird aufgelöst in Lebensgeschichte. Die Interaktion, die eine Mutter dem Kind anbietet, und d. h. die konkrete Praxis ihres Interagierens, ist das Produkt ihrer eigenen Lebenspraxis. Zu-
nächst also steht hier Interagieren in Beziehung zu den Interaktionsformen ihrer eigenen, in gesamtgesellschaftliches Handeln einbezogenen Praxis. Kurz gesagt, die mütterlichen Interaktionsformen sind Ausdruck der Erfah-
rung der Mutter in der sekundären Sozialisation, die bis zum Tode eines Individuums nicht abreißt. Diese sekundäre Sozialisation baut ihrerseits aber auf der primären Sozialisation der Mutter auf, greift also zurück auf jene Sozialisation, die die Mutter als Kind selbst durchgemacht hat, reicht zurück bis zur Mutter—I'{ind-
Dyade ihrer eigenen Entwicklung. Damit werden wir auf die Mutter der Mutter und deren Beziehungspersonen aufmerksam gemacht und auf jenen dialektischen Aneignungs-
und
Vermittlungsprozeß
zwischen
innerer
Natur
und
angebotenen Interaktionsformen, den die vorherige Generation durchlief. Und natürlich können wir auch diese Beziehungspersonen der zweiten Generation entsprechend auflösen und können, weiter so verfahrend, den Vermittlungsweg entlanggehen. Da wir alle Subjekte, die an der Interaktion der Mutter in sekundirer wie primärer Sozialisation gleicherweise beteiligt sind, auflösen können, mag
die eingeschlagene Richtung dieser kritischen Auflösung — zunächst — als familialistische Version des Historismus 2.
angesehen werden, und d. h.
miitterliches Handeln wird nun als kulturspezifisch anzusehen sein. Die Mutter gibt die ihr selbst einsozialisierten
kulturellen Normen weiter, gebrochen durch ihre eigene lebensgeschichtliche Aneignung. Der zweite Punkt relativiert freilich den Familialismus, zumal 47
wenn wir die Wechselwirkung zwischen der primären und sekundären Sozialisation deutlicher sehen — was freilich ın der psychoanalytischen Literatur bislang nur in verstreuten Ansätzen geschehen ist: Hatte die Psychoanalyse vereinzelt im individualpsychologischen Rahmen auf Reifungsschritte im Erwachsenenalter aufmerksam gemacht (»Elternschaft als Phase der Entwicklung«) (47) und damit die Bedeutung der sekundären Sozialisation wie auch der Einflüsse aus dem kulturellen
Normensystem
sich
klarzumachen
versucht,
so
hat
Freud selbst doch recht früh schon über die kollektiv-psychologische Thematik den Zusammenhang mit dem allgemeinen Normensystem anvisiert. Dies allerdings, ohne auf die Relevanz jener Vergesellschaftungsschritte für die Eltern-KindBeziehung nennenswert einzugehen. Die neuere psychoanalyti-
sche Sozialpsychologie hat insbesondere im Aufgreifen des Rollenbegriffes (48) diese Arbeit nachgeholt und damit den
krud
verengten
Familialismus
relativiert.
Die
psychoanaly-
tische Version des Rollenbegriffs zeichnet sich dabei durch
die interessante Besonderheit
aus, daß
die eigenartige
Tren-
nung in ein gesellschaftliches Rollenrepertoire und eine private
Residualkategorie
(Dahrendorf,
49) beseitigt wird:
Rolle ist
in diesem Verstindnis zwingend immer eine Instanz, die sich gegeniiber dem aufler-psychoanalytischen Rollenbegriff dadurch auszeichnet, daß in die gesellschaftlichen Standards immer auch jene lebensgeschichtlich erworbenen Positionen eingehen,
zwischen
die
aus
je-eigenen
der
friihinfantilen
Korperbedingungen,
Trieben und verbindlichen Normen
Auseinandersetzung
Bediirfnissen
bzw.
hervorgehen. Auch wenn
die Autoren nicht auf diese Auseinandersetzung als dialektischem Prozef zwischen gesellschaftlichen Formen und dem, was von kindlicher Natur nicht darin aufgeht, reflektieren, so beriicksichtigen sie doch diesen Sachverhalt. Das Ernstnehmen der psychoanalytischen Moglichkeit zu.
Triebtheorie
läßt
keine
andere
Allerdings ist die Preisgabe der alten positiv-anthropologischen Rechnung mit Naturkonstanten wie auch der Aufrech48
nung eines auf primäre Sozialisation allein ausgerichteten Familialismus noch keineswegs eine Absicherung gegen ein unmerkliches Einbezogenwerden in einen positivistisch-verengten
Soziologismus, der mit Hilfe des Rollenbegriffs eben jene Sub-
jektivität
sich
einverleibt,
Prozessen
vorenthält.
die
ihm
Triebbegriff durch Verankerung
der
psychoanalytische
des Erlebens in materiellen
Genausowenig
vermöchte
sich die um
den Rollenbegriff erweiterte psychoanalytische Sozialpsycho-
logie gegen eine Interpretation ihrer Befunde im Rahmen eines idealistischen Konzepts von Wirkungsgeschichte, wie es
Gadamer (50) erneuert hat, zur Wehr zu setzen; Sozialisation
ließe sich durchaus einem derartigen geschichtsphilos_ophisch.en Verständnis einbauen, ihm gleichsam eine Verankerung ım
materiellen Naturprozeß liefernd. All diese Gefahren, auf deren detaillierte Schilderung ich verzichten mochte, lassen sich nur vermeiden, wenn wir einen Begriff schirfer beriicdksichtigen, den ich bisher nur beiläufig benutzt habe, den der »Praxis«. Um auch hier den Zusam-
menhang
mit
psychoanalytischer
Erfahrung
nicht
zu
zer-
reißen, werden wir diesen Begriff in unvorbelasteter Weise aus den psychoanalytischen Befunden abzuleiten suchen. Erinnern wir uns, daß in den frühorganismischen Entwicklungsstadien der kindlichen Sozialisation die Wechselbezie-
hung im praktischen Umgang von Mutter und Kind verläuft, was genauer heißen soll: in Körperbewegungen, Handgriffen, Gesten. Die eingespielte Interaktionsform ist gestisches Zusammenspiel. Die mütterlichen Bewegungen sind ebenso wie
die
Auflerungen
bewegungen
der
kindlichen
z.B., in denen
Bediirfnisse
Gesten
das Zusammenspiel
—
vom
Such-
Kind
er angenommen und aufgenommen wird. Und wenn wir davon sprechen, daß im Wechselverhiltnis der Mutter-Kind-
Dyade
kindliche
Bediirfnisse
in
einer
bestimmten
Inter-
aktionsform aufgehoben werden, so kennzeichnet der Begriff Interaktionsform immer auch, daß die Korperbediirfnisse
thren
Ausdruck,
ihre
Erfiillung
in realen
K&rperprozessen
finden, die an eine bestimmte gestische Form — eben die Inter49
aktionsform — gebunden,
in ihr realisiert werden.
Die ge-
sellschaftliche Formbestimmung vollzieht sich im Medium
Interaktion,
Individuen
die wir, spielte sie sich zwischen
ab, intersubjektiv
nennen
wiirden.
der
ausgereiften
Diese
Reali-
sierung der Interaktionsformen in der Einigungssituation der
Mutter-Kind-Dyade folgt dem Ineinander von Körpervorgängen, die wegen ihrer gegenseitigen handlungsregulierenden Abgestimmtheit
die
Bezeichnung
»Geste«
verdienen,
auch
wenn das symbolische Moment noch fehlt und der Vorgang der Informationsvermittlung noch ganz mit der Handlung
(die durch den schmolzen ist.
Kehren wir den Fassung »Gesten
Informationsaustausch letzten Satz um, sind aufeinander
gänge« darauf aufmerksam,
legenden
Einigungssituation
hat. Die »formgebenden« von
keiner
anderen
Art
gesteuert wird)
ver-
so macht er uns in der abgestimmte Körpervor-
daß Interaktion in der grund-
keinen
idealistischen
Körpervorgänge
als
die
Hintersinn
der Mutter sind
formgebenden
Handgriffe
des Arbeiters. Am Ursprung der Bildung von Interaktionsformen wird mithin die Abgrenzung von »Interaktion« und
»Arbeit«, wie sie Habermas (51) vornimmt, brüchig, so wie, gleichsinnig dazu, die von ihm unter der Hand vorgenommene Identifizierung von Kommunikation und Interaktion
fragwiirdig wird. Kommunikation ist ja, soll der Begriff mehr
sein als die blofle Verdoppelung von Interaktion, zwingend an Symbolprozesse gebunden. Eben diese aber fehlen in jener früheren Phase, in der gleichwohl schon von einer in »be-
stimmter Form sich abspielenden Interaktion« zu sprechen ist. Aber verbleiben wir noch beim wichtigen Vergleich von Interaktion
(in
der
Einigungssituation
der
Mutter-Kind-Dyade)
und Arbeit. Wir haben festgestellt, daß die Korpervorginge,
die wir als formvermittelnde bezeichnet haben, von derselben Art sind wie die Korpervorginge beim Arbeitsprozefl. Der »praktische Umgang« der Mutter mit dem Kind unterscheidet sich nicht grundsitzlich von der korperlichen Bewegung bei der Arbeit. Auch da kann ja ohne Zwang von einer »Eini§O
gung«
und
sogar
von
wir als Annäherung
Gesten
gesprochen
werden.
Nehmen
ans Gemeinte das Beispiel des Bauern,
der sich in der Tierzucht gleichfalls in einer »Einigungssituation« befindet. Auch er muß in eingeübten, ihm vermittelten Handgriffen mit jenem Stück Natur so umgehen, daß es unter seinen Händen zum Produkt wird. Bei der Arbeit wie auch in der Mutter-Kind-Dyade ist beidemale
das Produkt weder pure Natur noch bloß Hergestelltes. Da
wie dort wird die Form vermittelt. Aber wir können das Beispiel des Bauern verlassen und verallgemeinern: Die Aus-
einandersetzung des Arbeiters mit der »äußeren Natur«, die Leistung der Vermenschlichung von Natur und die Vergegenständigung zum
falls in einem
menschlichen
praktischen
»formgebenden« Umgang Dyade in vollem Umfang
Produkt
Umgang,
wird realisiert gleich-
der
dem
praktischen
der Mutter in der Mutter-Kindvergleichbar ist. Auch in der letz-
teren ist Natur, die Natur der kindlichen Körperbedürfnisse,
Gegenstand einer Handhabung, eines körperlichen Geschicks. Ist dort die Form der Produktion und die Form des Produktes das Resultat der Arbeit, so ist in der Mutter-Kind-Dyade die Interaktionsform (und letztendlich die Form der subjek-
tiven
Struktur
Leistung. Wem
des Kindes)
das Ergebnis
der
mütterlichen
diese Gleichsetzung inhuman erscheint und als
»instrumentalistische« Verzerrung des Wechselspiels der Mutter-Kind-Dyade, sollte sich fragen, ob er nicht umgekehrt unterm Augenschein von Gegenständlichkeit des Arbeitspro-
duktes dessen durch Arbeit vermittelte Menschlichkeit verleugnet. Und so einschneidend auch der Unterschied imponiert, daß in der Arbeit dem Arbeiter Natur äußerlich entgegensteht, das Kind und dessen Körperlichkeit dagegen aus der
Mutter selbst hervorgingen, auch dieser Unterschied relativiert
sich, sobald wir uns vergegenwärtigen, daß auch dem Arbeiter nie bloße Natur entgegensteht, sondern immer schon ein Produkt
nur
als
Teil
aufgrund
des
der
Gesamtsubjekts,
dessen
partikularisierenden
bewußtseins nicht zu sehen vermögen.
Menschlichkeit
Sicht
des
wir
Alltags-
ST
Kurzum, beide Male ist Umgang »Praxis«, praktische Form-
gebung innerhalb gesellschaftlicher Prozesse. Beide Male auch
wird Interaktion konstitutiv für das, was aus dem praktischen Umgang hervorgeht. Nun
läßt
sich
freilich
einwenden,
»konkrete
Interaktione
nehme beide Male eine unterschiedliche Stellung im Produk-
tionsprozefl ein. Wihrend bei der Arbeit die Interaktion Vor-
aussetzung der Produktion ist, bildet bei der Mutter-Kind-
Dyade,
wie
dargestellt,
die — in
bestimmte
— Interaktion dessen Ergebnis. Wihrend
Form
gefaflte
Gesten im Arbeits-
prozeß Mittel der Zusammenarbeit mit den anderen Arbeitern
sind,
also
gleichsam
stehen, sind Gesten
quer
zur
Arbeitsauseinandersetzung
in der Einigungssituation
Momente
der
Auseinandersetzung selbst. Diese Einwinde fallen jedoch zurick hinter die Klirung, die wir schon gewonnen haben.
Haben wir uns doch schon klarmachen kénnen, daß der Umgang mit dem Material selbst gestischer Natur ist, wenn man den Begriff der Dialektik im Arbeitsprozeff ernst nimmt, SO wie wir umgekehrt sehen miissen, daß es ja auch in der
Arbeitssituation der Mutter Verstindigung quer zur Mutter-
Kind-Beziehung
gibt mit denjenigen,
mit denen
die Mutter
ithrerseits in weiteren Interaktionen steht. Schlieflich haben
wir uns die Mutter-Kind-Dyade ja eben nicht als eine isolierte Situation, in der die Mutter mit dem Kind allein wire, zu denken. Genau das ist ohnehin der Punkt, zu dem wir
kommen miissen, soll der Begriff der gesellschaftlichen Vermittlung von Interaktionsformen mehr sein als die alte kulturistische Formel der Umweltbeeinflussung: Die Mutter steht ihrerseits im gesellschaftlichen Zusammenhang; ihre Praxis ist ein Teil der gesamtgesellschaftlichen Praxis, ist nicht isoliert von der Organisation der Arbeit, die der geschichtlichen Bewegung folgt. Uber die Mutter steht die in materiellem Ge-
schehen griindende Dialektik der kindlichen Bildungsprozesse
in Verbindung mit dem Arbeitsprozefl. Ja, die Form jener praktischen Dialektik wird von den materiellen Arbeitsprozessen her vermittelt, eben weil die Interaktion, auf die sich 52
die Mutter-Kind-Dyade einigt, ihre bestimmte Form durch die
mütterliche
Praxis
erhält.
Auf
diesem
Weg
wird
das
Kind
in die Geschichte eingeführt, in der es sich als Teil des mütterlichen Organismus vorweg befunden hat. Halten wir uns nicht zu lange auf bei der Befriedigung, den Zusammenhang von »Interaktion« und »Arbeit«, der materiellen Prozesse der Triebauseinandersetzung mit der mate-
riellen Realität des Produktionsgeschehens über die Realisierung in konkreten Einigungssituationen hergestellt zu haben. Unsere Übereinstimmung ist ja nur deshalb so ideal gelungen, weil wir die Situation gebrochener Praxis in bestehenden
Produktionsverhältnissen außer acht ließen. Unser Bild bewegte sich in utopischen Situationen: Arbeitsverhältnisse, in denen die Produzenten auch Herren ihrer eigenen Arbeit wären,
und Einigungssituationen,
in denen
die Interaktions-
form befriedigend gelänge. Nun haben wir ja flüchtig die Möglichkeit des Scheiterns von Interaktion schon vermerkt, indem wir den Begriff der »Wechselbeziehung« uns klären ließen am Beispiel von Fehlentwicklungen der Mutter-Kind-Dyade. Nicht zufällig hat Psychoanalyse ihren Weg genommen über die Analyse mißlungener Interaktionsformen statt über den Entwurf idealer Interaktionssituationen; im Laufe ihrer Arbeit war der
Psychoanalyse ja auch zunehmend klar geworden, daß die Annahme idealer Beziehungen allemal eine nicht einholbare
Utopie darstellt. Wir haben deshalb schon von der Psychoanalyse her allen Grund, die Annahme systematisch gebroche-
ner Verhiltnisse ins Konzept selbst aufzunehmen, um die Einigung auf Interaktionsformen unterm Aspekt systematisch gestorter Interaktion und fortlaufender Folgen dieser Storung zu bedenken. Zunächst freilich bedringt uns ein anderes Problem, das vorweg unser ganzes Konzept infrage stellt. Die in Abwandlung eines Freud-Wortes geprigte Formel, das Subjekt sei der Niederschlag
seiner
Interaktionsformen,
ging
wie
selbstver-
stindlich davon aus, daß die hier herausgearbeiteten Entwick-
53
lungslinien eine Besonderheit menschlicher Sozialisation seien.
Hätte uns unser Vergleich der Mutter-Kind-Dyade
mit der
Arbeit des Bauern in der Aufzucht eines Tieres aber schon stutzig machen konnen, so werden wir in eben der Grund-
annahme erschiittert, wenn wir folgenden Bericht beriicksichtigen:
»Lucinda
ist ein kleiner weiblicher Affe mit malvenfarbiger
Haut
und grauem Fell; sie gehört zur Art der Lagothryx, die man dort ihres dicken Bauches wegen barrigudo nennt. Ich habe Lucinda, als
sie einige Wochen alt war, von einer Nambikwara-Indianerin erhalten, die sie Tag und Nacht auf dem Riicken trug, um dem kleinen Tier die Mutter zu ersetzen, denn auch die Affenmiitter tragen ihre
Jungen auf dem Riicken. Ich gab ihr kondensierte Milch aus der Flasche und am Abend Whisky zu trinken, der das arme Tier in tiefen Schlaf verfallen ließ, mich aber wenigstens in der Nacht von seinen Griffen befreite. Am Tag jedoch war Lucinda bestenfalls be-
reit, einen Kompromiß zu schliefen; statt sich an meinen Haaren anzuklammern, hielt sie sich mit allen Vieren an meinem linken Stiefel fest, gleich oberhalb des Fußes, ein Platz, den sie von morgens bis abends nicht mehr verließ. Zu Pferd und im Boot war dies allenfalls ertriglich gewesen, nun aber, da wir zu Fuß gehen mußten,
stieB Lucinda bei jeder Beriihrung mit einem Zweig oder einem Wasserloch gellende Schreie aus. Alle Bemiihungen, sie auf den Arm oder auf die Schultern zu nehmen oder sie schließlich auf dem Kopf
zu tragen, waren vergeblich. Sie zog den linken Stiefel vor, der ihr
allem Anschein nach als einziger vertrauenswiirdiger Ort in diesem
Walde erschien, in dem sie zwar auf die Welt gekommen war, dem sie sich aber dank den paar unter den Menschen verbrachten Monaten ebensosehr entfremdet hatte, wie wenn sie in der raffiniertesten
Zivilisation aufgewachsen wire.« (52)
Angesichts dieser Geschichte verlifit uns alle Sicherheit, die wir aus den allseitigen Beteuerungen iiber die »Fixiertheit
tierischer Instinktschablonen« im Gegensatz zu menschlicher
Offenheit
und
Notigung
zur
Einiibung
bestimmter
Inter-
aktionsformen gewonnen haben. Zumindest fiir Lucinda und
ihre Leidensgenossen, die im Umgang mit Menschen heranwachsen, miissen wir betroffen eingestehen, dafl »Wechsel54
beziehung«,
»Einigungssituation«
aktionsformen«
für
sie
kaum
menschliche Kinder — mögen schiedlichen
Reifungsverläufe
Abgrenzung
gegen
und
weniger
»vermittelte zutreffen
Inter-
als
für
die Besonderheiten der unterund
der
eigentümlichen
Aus-
stattung des Menschen uns noch so sehr auf Differenzen verweisen. Unsere Aufgabe kompliziert sich: Wir werden ın wickeln müssen.
den
»Fall Lucinda«
unser Konzept
ent-
II.
Die Einführungssituation von Sprache
IL ı Um schneller zur Klärung dieser Frage zu kommen, wollen wir dem weiteren Bildungsprozeß des Kindes nicht en detail
folgen, sondern werden uns jenen Vorgang vor Augen stellen, der am deutlichsten die Trennung zwischen tierischen und menschlichen Lebewesen markiert: den Spracherwerb. Zwar hat es sich eingebürgert,
gelegentlich
auch von
Tiersprachen
zu reden, so etwa bei den Bienen, den Delphinen
weiter. Wenn der Begriff umfassenden Begriff von dürfte Sprache wohl für bleiben aus zwei Gründen: 1. Zwar bereitet es einige
und so
Sprache jedoch nicht einfach im Kommunikation untergehen soll, menschliches Verhalten reserviert Schwierigkeiten,
die Abgrenzung
gegen die Tiere am Problem erlernbarer Bedeutungen von Zeichen festzumachen. So eindeutig der Unterschied zwischen Signalen und Zeichen bzw. Symbolen sich auf den ersten Blidk hin darstellt, so durchlissig werden die Grenzen gerade dann, wenn man, wie uns der Fall Lucinda demonstrieren kann (ganz zu schweigen von den Resultaten der auf Priifung von Symbolbildungsfihigkeiten
abgestellten Affenversuche), die Erfahrung mit Haustieren einbezieht. Eines jedoch ist sicher: Auch die am weitesten entwickelten Fihigkeiten zur Kommunikation reichen bei
Tieren nicht aus, sich #ber Bedeutungen zu verstindigen. Wie immer es mit der Möglichkeit steht, Bewegungskomplexe zu signifikanten Gesten zu verselbstindigen, nichts spricht fiir die Annahme, daß es innerhalb eines tierischen Symbolgebrauchs je zu jener hierarchischen Schichtung kommen kdnnte, die Operationen auf der zweiten Sprachstufe als Verstindigung über Symbole selbst méglich
2. 56
macht. Damit verschlungen, wenn nicht identisch, ist der Mangel
aller tierischen Kommunikationskomplexe an einer Syntax
als einem »System untereinander verbundener Zeichen, die in bestimmter Weise kombinierbar sind und in anderer Weise nicht, wenn es sich darum handelt, eine Vielfalt
von komplexen Zeichenprozessen zu bilden« (52 a).
Worin gründet nun aber die Bedeutung von Sprachsymbolen, von Wörtern? Lassen wir uns folgenden Hinweis geben: »Die
Erwerbung
neuer
Stimuli, die im Rahmen
Begriffe
durch
Erfahrung
neuen
verleiht
eines solchen Begriffs kategorial erfaßt
werden, »Bedeutung«. Wallochs Darstellung zufolge wird ein Han.\mer, wenn der Begriff erst einmal erworben ist, nicht bloß als eın Fledk von bestimmter Form und Farbverteilung wahrgenomm.en‚
sondern als ein Objekt, mit dem man einen Nagel einschlagen, eıne
Vase zerschlagen oder etwas Ahnliches tun kann. Diese erlernte Funktion oder Bedeutung wird als ein objektives Faktum erfahren, das den gleichen Status besitzt wie die gesehene Farbe und Form.«
(53)
Die Betonung eines Zusammenhangs von »erlernter Funktion« mit »Bedeutung« bindet Bedeutung an Handlungen. Wenngleich es uns etwas schwerfillt, im Abbild eines Gegenstandes
zugleih den Handlungsentwurf zu sehen, so wird es bei einigem Nachdenken doch klar, daß Tisch oder Stuhl nicht anders als Bleistift oder Landkarte Erfahrungen sind, in denen
eine
handlungsausgerichtete
Anweisung
Wort
Das
steckt.
Messer z. B. vermittelt uns nicht nur das Bild eines Gegen-
standes, sondern auch eine Handlungsanweisung, wie wir damit umzugehen
haben.
Das
eine verbale Reprisentanz
etwa
die
Angst,
die
uns
Wort
bietet uns
an fiir emotionale
momentan
zugleich
ankommt,
auch
Regungen wenn
—
ein
Messer von einem Schrank herab auf uns fillt. Church beschreibt eben diese Verschrinkung affektiver und pragmatischer Funktionen des Wortes mit der Abbildungsfunktion: »Wenn
Jargon«
Kinder erst anfangen, in einen Schwall von sexpressivem einzelne
echte Worter
einzubetten,
verschwindet
der Jar-
gon meist rasch, und die kindliche Sprache konzentriert sich auf
Einwortsitze
(Holophrasie). Diese frühen Sitze scheinen vor allem
57
in drei Formen vorzukommen: als Interjektionen (>ei-ei¢, >»ada-ada« und >neinEssen!, -Milch!¢, >»Auf!«, >Raus!Ist das ein ..?< als >»Das ist ein . ... Und schließlich spricht das Kind die Namen der Dinge auch nur fiir sich selbst aus, so als wollte es seine Fertigkeit darin tiben. Man hat gesagt, urspriinglich bestehe das kindliche Vokabular nur
aus Hauptwdrtern,
Objekte
weil die ersten Dinge, die Namen
seien. Gewiß
dominieren
die Hauptworter
bekommen,
in der Sprache
kleiner Kinder, doch sind diese durchaus fihig, Verben, Adjektive
und Adverbien zu benutzen, wenn sie bedeutungsvolle Erfahrungsdaten betreffen. Das von ziemlich vielen Kindern zuerst verwendete Adjektiv ist heiß, doch ist nicht klar, ob sie es als Einzelattribut
oder als allgemeinen Terminus fiir heifle Dinge benutzen: fiir Suppe, Ofen oder Heizkdrper. Es mag auch einfach, dem Gebrauch der
Eltern entsprechend, >Gefahr« bedeuten. In der Zeit, da das Kind anfingt, bereits bekannte Worter zu verwenden, ist es darauf aus,
neue zu lernen. Manchmal fragt es, auf etwas hinzeigend, >Wada?« oder es blickt den Erwachsenen nur an, um von ihm das identifizierende Wort zu hören. Doch den Hauptanteil seines Vokabulars gewinnt es dadurch, daß es die Worter einfach aufschnappt, die es im Gebrauchskontext hort.« (54)
Schon Segerstedt verwies auf Handlungsfunktionen, wenn er vermerkt: »Wir haben uns ausfithrlich mit der allgemeinen Situation befaflt. Und zwar deswegen, weil sie nach unserer Auffassung von grofiter Bedeutung fiir das Verstindnis der meisten sprachpsydhologischen 58
Probleme ist. So scheint mir die von uns gegebene Analyse der allgemeinen Situation zum Beispiel sehr gut das von Stern beschriebene Phänomen zu erklären, daß seine Tochter Hilde anfıng, nicht bloß ihre Puppe — die das Urspriingliche war —, sondern auch ein Spielzeugkaninchen und andere Dinge Puppe zu nennen. Stern vermu-
tet, die oberflächliche Ahnlichkeit der Gegenstände habe die Assozia-
tion mit demselben Wort hervorgerufen. Nun ist es aber viel näher-
liegend zu sagen, die Gefiihls- und Willenselemente der allgemeinen
Situation seien ähnlich geartet, und da die vokale Reaktion blof Glied der allgemeinen Reaktion ausmacht, folgt sie mit. Dieser danke wurde frither bereits von E. Meumann in Die Entstebung ersten Wortbedeutungen beim Kinde vorgebracht. Lewis, dc.er
ein Gedf’r die
Auffassung Meumanns teilt und seine These mit zum Teil eigenen BeObachtungen stützt, unterscheidet zwischen der gefiihls- und der
willensbetonten Ausbreitung des Wortes. Nach Lewis Auffassung }}at Meumann
rend Dewey
die gefiihlsbetonte Seite beobadm.at, wihstirkeren Nachdruck auf die willensbetonte Seite legte.
hauptsichlich
Lewis führte das folgende Zitat aus Dewey an: sDie Tendenz, den gleichen Ausdruck fiir eine große Anzahl Gegenstinde zu verwenden — Ball zum Beispiel fiir Ball, Apfelsine, Mond und Lampenschirm — 1äßt sich leicht verstehen, wenn man bedenkt, bis zu welchem Grad das Substantiv Ball wirklich eine aktive Bedeutung hat.
>Ball, das ist setwas, das man werfen kann« und zwar auf genau daß der die gleiche Art wie andere runde Dinge. Ich glaube nicht, beiRundheit die oder verwedhselt Mond den und Ball den Kleine
der abstrahiert; das er geworfen
die runde
Form
deutet
fiir ihn bloff etwas
hat, so daß er auch den Mond
werfen
an,
konnte, wenn
er ihn bloß padken kdnnte.c« (55) Dafl
eben
drei
Dimensionen
nicht
diese
für ein
Funktion,
isoliertes der
Handlungsanweisungen
Individuum
gilt, sondern
Symbolfunktion
auf
zu
geben,
in allen
Handeln
mit
andern, auf Vergesellschaftung, verweist, ist zu beachten. De Laguna deutet darauf hin unter ausdriicklichem Bezug auf Handeln: »... die wichtige
Funktion
der Sprache
fiir die Koordination
des
Verhaltens der einzelnen Mitglieder einer sozialen Gruppe ... ihr fundamentaler und primirer Wert ... liegt in ihrer gesellschaft-
lichen Funktion, Individuen zu assoziieren.« (56)
59
Nun
ist diese Trias von Handlungsanweisungen,
Ausdrucks-
befriedigung und Vergesellschaftung nach der schon von Segerstedt geäußerten Auffassung kein zufälliges Merkmal der Sprachsymbole, sondern hat aufzeigbare genetische Wurzeln in realen Situationen: »Gegen die Auffassung von der großen Bedeutung der allgemeinen Situation liefle sich einwenden, und de Laguna hat es beispielsweise
auch
getan,
daß
die
menschliche
Rede,
im
Gegensatz
zum
Schrei des Tieres, nicht bloß ein Element in einer totalen Reaktion, sondern eine ganze unabhingige Form des Verhaltens ist. Der Mensch kann reden, gleichgültig ob er aktiv oder passiv ist, und seine Reaktion braucht keine direkte Beziehung zu dem, was er tut, zu haben, noch zu den Gefühlen, die er gerade in diesem Augenblick hegt. Das ist richtig, insofern das ein Kennzeichen der Rede der
gesunden Menschen ist; gleichzeitig aber muß man
feststellen, daß
das nur möglich wurde, weil das Wort ursprünglich Teil einer Gesamtreaktion war und dadurch einen Sinn erhielt. Die allgemeine Situation ist gleichsam eine Voraussetzung der vollausgebildeten Rede. Hingegen hat aber de Laguna auf etwas Wesentliches der allgemeinen Situation hingewiesen, wenn sie betont, der Name des Gegenstandes könne nicht scharf von den damit zusammenhängenden Handlungen getrennt werden, da der Gegenstand gerade dadurch seinen Namen erhält, daß man das Verhalten dem Objekt
gegenüber beherrschen und kontrollieren kann. Das Wort bezeichnet also nicht Handlungen als solche, sondern Handlungen in bezug auf einen bestimmten, konkreten Gegenstand.« (57)
Der Verweis auf Situationen ist bei Segerstedt vor allem als Fingerzeig auf die Genese von Sprache gemeint. Den Hinweis von Benutzung,
von Bedeutungen
aktueller
Bildungssituation benennt er genauer noch:
Szene und
»Ich selbst habe ein sechzehn Monate altes Kind beobachtet, das alles, was es selbst zum Munde fithren und essen konnte, >kaka< (Kuchen) nun keine Keks, wie das erste,
nannte. Alles andere Eßbare duflere Xhnlichkeit vor, denn eine Beere, ein Apfel oder ein was das Kind selbst zu essen
war >mat< (Essen). Hier lag Kaka konnte ebenso gut ein Stiickchen Zudker sein. Aber imstande war, war ein Keks
gewesen — in der Sprache, die die Erwachsenen mit ihm sprachen, 60
einfach kaka (Kuchen) genannt — und so blieb alles, was es selbst zum Munde führen konnte, kaka. Zu diesem Zeitpunkt war Essen
gleichbedeutend mit Gefüttertwerden. Hingegen wurde ein Butter-
brot, das zuerst >»mat« (Essen)
gewesen
war,
zu >kaka«, sobald
das
Kind es selbst anfassen und zum Mund führen konnte. Lewis weist sogar, wie ich glaube mit Recht, darauf hin, daß man
hier nicht nur mit der eigenen Situation des Kindes zu rechnen hat,
sondern auch mit dem Tun der es umgebenden Menschen. Als Beispiel führt er ein Kind
an, das jedes Werkzeug,
das von
den
Er-
wachsenen gebraucht wurde, mit ein und demselben Wort bezeichnete. Wobei man aber wohl hervorheben muß, dafl die handelnden
Erwachsenen bei dieser Gelegenheit ein Glied in der unmittelbaren Situation des Kindes werden. Es handelt sich also stets um die allgemeine Situation des Kindes und die Bedeutung, die diese fiir die
Bildung und Verschiebung des Sinnes hat. ) Dabei hat die allgemeine Situation nicht bloß grofie Bedeutung fiir
die Einfügung des Wortes in den Zusammenhang. Sie bedeutet auch es sehr viel fiir die Bildung der Auffassung, die das Kind von d(fn hat. Du?sen Eigenschaften ihren und Gegenstinden umgebenden Sachverhalt kann man ausdrücken, indem man sagt, das Objekt
habe durch die allgemeine Situation einen Sinn bek?mmen; C.13$ Objekt ist also etwas geworden, demgegeniiber man sich auf eine durch eine Norm bestimmte Art und Weise verhilt. In der allge-
meinen
Situation hat sich eine feste Verbindung
zwischen
dem Ol?-
jekt und einer ganzen Reihe Reaktionen gebildet, zu de'nen au'c.h die verbale Reaktion gehört. Dieser Umstand gibt sogar die .Erkletrung wonach d.1e Kinder für das von Piaget geschilderte Phinomen,
zwischen dem Wort und dem, was das Wort bezeichnet, nicht unterscheiden können.« (58) Und an anderer Stelle: »Was
stadium
nun
wirklich
geschieht
des sprachlichen
und
Vorganges
was
das
ausmacht,
letzte
Entwi?klungs-
besteht darin, daß
also, der durch die Erziehung, durch den Druck der Gesellschaft Grund zu gewissen Gewohnheiten oder Verhalten dem Wc?rt gegenübergelegt wird. Andererseits aber wäre der ursPrÜngl.lche Laut niemals zum Symbol geworden, wenn er nicht zuvor mit einer allgemeinen Situation verknüpft worden wäre. Das Wort wird als vom Ganzen, der allgemeinen Situation abgetrennt, gleichzeitig aber als
ein Teil von ihr aufgefaßt.« (59)
61
Dieser Zusammenhang
von
Wort
und Lebenssituation
hat,
wie unschwer schon aus den Zitaten abzulesen ist, einen doppelten Bezug:
1. Als Einbindung in das Handlungsgefiige, in dem gesprochen wird. Sprecher und Hörer müssen
dabei verständigt
sein über die zutreffenden Bedeutungen nicht nur nach Art zweier Gelehrter, die (zumindest in Grundbegriffen) ein übereinstimmendes Vokabular benützen, wenn sie mit-
einander ins Gespräch kommen wollen, sondern auch nach Art zweier Arbeiter, die in ihren gegenseitigen Arbeitsanweisungen sich auf praktische Bewährung übereinstim2.
mend gemeinter Bedeutungen verlassen.
Als Bezug von Sprache und situativ ausgebreiteter Gegenstandswelt. In strikter Weise gilt dies für die »Einführungssituation« eines Wortes. In der Einführungssitua-
tion nämlich erwächst das Wort als ein Teil dieser Situa-
tion unmittelbar daraus: Die wechselseitige Artikulation eines
Lautkomplexes,
bewegung,
die beim
d. h. einer
Hörer
wie
bestimmten
beim
Sprecher
Kehlkopf-
selbst Sin-
nesempfindungen hervorruft, ist Erzeugung eines (zusatzlichen) Bewegungsablaufs, der dieser Situation hinzugefiigt
wird, von ihr (nach gelungener Einiibung) aber auch wieder abgelost werden kann, um dann auflerhalb der betreffenden realen Situationsanordnung auf sie zu verweisen. In recht vager Weise deutet auf eben solchen sinnlich-materiellen Bezug Russell, wenn er schreibt:
»Die Assoziation
zwischen Wort
und
Gegenstand
ist einc ebenso
gewohnheitsmiflige Assoziation, wie zum Beispiel die zwischen Anblick und Beriihrung. Sobald die Assoziation einmal fixiert wurde, ruft der Gegenstand die Erinnerung an das Wort, und das Wort die Erinnerung an den Gegenstand in der gleichen Weise hervor, in der ein cinmal gesehener Gegenstand Beriithrungssensationen erwedkt, und ein Gegenstand, den wir im Dunkel beriihren, Gesichtssensationen. Assoziation und Gewohnheit sind nichts speziell mit der Sprache in Zusammenhang Stehendes; sie kennzeichnen die Physiologie und Psychologie im allgemeinen.« (60) 62
Wir können einen dritten Situationsbezug erschließen, wenn wir uns erinnern, daß der Sprecher, der das Wort in der Lernsituation eingeübt hat, seinerseits in jenem (unter ı genann-
ten) Praxiszusammenhang steht, der verbürgt, daß auch der Lernende keine Privatsprache im Sinn einer folie a deux ein-
übt, sondern
seiner
hoffen
kann,
Sprachgemeinschaft
zu
Bedeutung
erwerben.
im großen Dieser
Konsens
—
dritte
—
Situationsbezug entspricht der schon von Peirce ausführlich bedachten Forschergemeinschaft, wobei wir in unserem Ver-
ständnis jedoch einerseits die Grenzen der intellektuellen Verständigung sprengen, wie auch andererseits Sprachgemeinschaft
auf die hier und heute in aktuellem gesellschaftlichen Praxis-
zusammenhang Stehenden beziehen. Der Hinweis auf Sprachgemeinschaft deutet darauf, daß wır
auch Wittgensteins
Verstindnis
tionsgefiige als Sprachspiel
von
Sprache
(61) heranziehen
und
konnen
Interak-
als Be-
lege fiir die von den verschiedenen Autoren (in ganz unterschiedlicher Absicht) bedachte Beziehung von Wort und Situation. Der phinomenologische Begriff der Lebenswelt verweist ebenso auf diesen Sachverhalt, wie im Rahmen der
funktionalistischen Anthropologie die Kontexttheorie darauf aufmerksam macht — ganz zu schweigen von dem Ineinander von Sprache und Weltentwurf in der Sapir-WhorfSchule.
Ohne
die
hier angedeutete
Fiille von
Belegen
mit
ihren
recht unterschiedlichen Beitrigen zur Frage der Verwobenheit von Sprache und Situation ausbreiten zu wollen, läßt sich als Ausbeute unseres Streifzuges immerhin dreierlei festhalten: ı. Der verbale Bewegungs- und Wahrnehmungskomplex des Wortes wird vom Lehrenden, oder sagen wir hier gleich, von
der »Mutter in der Mutter-Kind-Dyade« in die Einfiihrungssituation eingebracht. ,. Das Wort wird mit der Einfihrungssituation verschmolzen, es wird ein Teil von ihr und vermag sie deshalb zu beqennen,
wenn
das eingeiibte Wort
verselbstindigt
in anderen
63
Handlungslagen erscheint. Die Bedeutung
des Wortes, das ın
der Einführungssituation erworben wird, hängt am Sinn der dort real gegebenen Interaktion.
3. Die der
von
»Einführungssituation« uns
ausführlich
des Wortes
diskutierten
ist identisch mit
»bestimmten
Interak-
tion«. Zu ihr tritt der Vorgang der Benennung hinzu. War das Wechselspiel der Mutter-Kind-Dyade gekennzeichnet von einem gestischen Ineinandergreifen, von einer gleichsam
schweigsamen Abstimmung gegenseitiger Bedürfnisse, SO kommt nun das Sprachsymbol als drittes dazwischen. Dieser
Lautkomplex, das Wort, ist unmittelbar auf Interaktion bezogen, ist ihr »Name«. Dies gilt im starken Sinne natürlich nur für die Einführungssituation und eindeutig nur für die Einführungssituation
des
ersten
Wortes.
Hier
ist ja in der
Tat nichts vorhanden außer der Interaktion selbst. Noch wäre es
absurd,
von
»Ich«
versus
»Nichtich«,
»Objekt« zu sprechen. Wie es aus der bewußtlos stummen
»Subjekt«
Interaktion
versus
heraus zur
Subjekt-Objekt-Distanzierung und zur Bildung eines Bewußt-
seins kommt, das muß allerdings noch daraufhin überprüft werden, ob wir »Zwischenschritte« zwischen jener »bestimmten
Interaktion«
als
Resultat
einübender
Wechselbeziehung
und der »Einführungssituation« berücksichtigen müssen. Ich möchte vorweg aber schon betonen: wir werden an der Formel festhalten können: Das Wort »Einführungssituation« nennt die bestimmte Interaktion der Mutter-Kind-Dyade. Bevor
wir die Hauptpunkte
unserer
bisherigen
Diskussion
zusam-
menfassen, wollen wir eine Unterscheidung mit ein paar Worten wenigstens bedenken, die zwischen Sprechen und Sprache. Auf Sprechen werden wir nur abgrenzend eingehen, unsere Überlegungen konzentrieren sich ausschließlich auf Sprache und Sprachentwicklung in der Ontogenese des Individuums. Alles, was das Sprechen konstituiert, bleibt auflerhalb, so die Problematik der Entwidklung des Sprachinstrumentariums mit der Frage, wie aus der besonderen
menschlichen
Fahigkeit
des Lallens
keiten erstehen oder wie bei anderen
64
und
Brabbelns
Primaten
Sprechméglich-
vergleichbare
gesti-
sche Chancen erwächst.*
Da
wir
uns
einer
begrenzten
weder
mit
Operation
mit
Sprachphysiologie
Doppelbewegungen
noch
auch
mit
Sprechpsychologie beschäftigen wollen, untersuchen wir auch nicht instrumentelle Fähigkeiten und Kompetenzen, sondern
die Genese von Sprache. Sprache, nicht Sprechen, ist unser
Gegenstand. Dementsprechend berühren wir die Vorstufen der Sprachentwicklung (der Denk- und Wahrnehmungsfähigkeit) auch immer nur in der Perspektive der Untersuchung der Genese der Sprachsymbole und ihres schrittweisen Herauswachsens aus vorsprachlichen Interaktionssituationen. Daß
Spracherwerb
die Entwicklung
der
Sprechfähigkeit
Wahrnehmenkönnen
und
Reagieren
an
ge-
knüpft ist, wird von uns ebenso als gegeben vorausgesetzt, wie wir undiskutiert hinnehmen, daß das Wechselspiel in der Mutter-Kind-Dyade an die Ausbildung physiologischer I‘ertigkeiten
von
geknüpft
und beides an einen bestimmten Zeitplan gebunden ist. Alle diese Probleme, die im Zuge einer physiologischen und psychologischen Untersuchung bemerkenswert wären, können außerhalb unserer Erörterung bleiben, eben weil wir ja der Frage nach dem Spracherwerb in sozialwissenschaftlicher Perspektive nachgehen. Einer der entscheidenden Fehler der bisherigen
Analyse der Erlebnisstrukturen bestand ja nicht zuletzt darın, daß es immer wieder zu einer fruchtlosen Vermengung
dieser
beiden (niemals in einem Zug zugleich verfolgbaren) Untersuchungslinien kam.
* Erst recht außer Betracht bleiben soll, unter welchen Bedingungen.Sprache
sich in der Phylogenese des Menschengeschlechtes entwickelt — wie ja iiberhaupt der ganze unfruchtbare Ballast der Phylogenese-Untersuchungen abseits unserer Gedankengänge verbleibt. Wir rechnen allemal damit, daß unser Untersuchungsobjekt, das menschliche Kind der von uns überschau_baren Kulturbereiche, in eine bestehende Sprachgemeinschaft hineinversetzt 1st und in dieser Sprachgemeinschaft aufgrund seiner gegebenen physiologischen Ausstattung in Sprache einsozialisiert wird. So wie klinische Psychoanalyse stets ihren Ausgang von der Analyse konkret vorhandener Ergebnisse (und zwar Leidenserlebnisse) nahm, wihlte sinnvollerweise auch die »angewandte Psychoanalyse« ihren Ansatz in gegebenen Erfahrungs-
daten. Von da aus geht die kritische und d. h. auflésende Intention.
65
Lassen wir also die Frage nach den Bedingungen des Sprechenkönnens
beiseite und
konzentrieren
wir uns auf die Proble-
matik der Sprachstruktur. Die Konstitutiva von Sprache aber sind in unserer Sicht kurz zusammengefaßt folgende: 1.
Die Sprache der Mutter in der Mutter-Kind-Dyade.
Die
Mutter trigt in der Einfiithrungssituation die Sprache ihrer
Sprachgemeinschaft an das Kind heran, indem sie auf be-
summte Akt
Interaktionsformen
des Zeigens,
auf den
hinweist
schon
—
im
deiktischen
Biihler ausfiihrlich
auf-
merksam gemacht hat —; die Mutter versiecht damit eine 2.
im Moment realisierte Form der Interaktion, die in der Mutter-Kind-Dyade eingeiibt war, mit einem Namen.
Die
Interaktion
der Mutter-Kind-Dyade
in der Hand-
lungsperspektive des Kindes. Das Kind prisentiert ja bewufltlos dasselbe Interaktionsgefiige, das wir (unter Punkt
1) von der Sicht der Mutter her aufgefiihrt haben.
Unzerlegt in die beiden realen Pole Mutter und Kind wird die geschlossene Interaktion der Mutter-Kind-Dyade bestimmt von den folgenden bereits ausfiihrlicher erörterten Determinanten:
a) den Korperbediirfnissen des Kindes und den davon aus-
gehenden sensorisch motorischen Auflerungen, eingespielt ım Wechselverhiltnis der Mutter-Kind-Dyade; b) der Praxis der Mutter, die auf die Kdrperbediirfnisse und die senso-motorische Aktivitit des Kindes in realer Ininteraktion formgebend antwortet. Reale Interaktion ist
auch die Einfiihrungssituation von Sprache, in der die eingeiibte
bestimmte
Interaktionsform
der
Mutter-Kind-
Dyade erweitert wird durch das gesprochene Wort.*
Durch das gesprochene Wort wird die bestimmte Interaktionsform auf den Begriff gebracht, was in einer weniger idealistisch vorbelasteten und die Situation materialistisch treffenden Formulierung heiflt: Die Einigungssituation auf be* Es versteht sich, dafl im besonderen
weise andere
signifikante Gesten
der sprechenden Umwelt einspringen.
66
Fall der taubstummen
im Zusammenhang
Kinder ersatz-
mit dem
Sprachspiel
stimmte
Interaktionsformen
wird durch
die Verbindung
einem Lautkomplex zur Einführungssituation von Sprache.
mit
Auf das Herauswachsen der Einführungssituation aus der hic et nunc realisierten Interaktionssituation muß ausdrücklich hingewiesen werden. Dies ist ein entscheidender Punkt: Die in der realen Interaktion verwirklichte Interaktionsform wird benannt. Dies und nichts anderes kennzeichnet die Einfiihrungssituation, zerlegt in die Einzelschritte: ı. Die Mutter spricht ein Wort, z. B. »Mama«. 2. Die Mutter zeigt dabei in impliziter Geste auf die als bestimmte Interaktionsform vom Kind angeeignete Interaktion.
3.
4.
Das Kind hört das Wort als Teil der fiir es im Moment
aktuellen
Interaktion und d. h. als Kennzeichnung
dieser
Interaktionsform.
Das Kind spricht ein Wort — z. B. »Mama« — als Teil der Interaktion. Es ist dabei auch Horer seiner Auflerun-
gen, womit der senso-motorische Zirkel des Sprechens geschlossen wird. Diese Wedchselseitigkeit der Erfahrung ım
Kind begriindet jene Einheit von Passivitit und Aktivitdt, aus der selbstindiges Handeln
hervorgeht. Damit erst ist
das Wort eingefithrt und wird der Verselbstindigungsprozeß des Symbols Mama eingeleitet. I1.>
Verlieren
situation
wir nicht aus dem
von
Sprache«
keine
Sinn, daß
anderen
die »Einfithrungs-
Bezugspunkte
hat als
die »Einigungssituation« auf bestimmte Interaktionsformen: Naturprozefl und gesellschaftliche Praxis. Das »Naturmo-
ment« ist nochmals mit allem Nachdruck zu unterstreichen. Hier liegt der wichtigste Beitrag psychoanalytischer Er-
fahrung: Die korperlichen Bediirfnisse werden in den von Sprache gebildeten Sinnzusammenhang eingeschmolzen; Natur
geht
in
die
Interaktionsformen
nennung auch ins Sprachspiel. Bemerkenswerterweise haben
ein
verschiedene
und
iiber
die
Be-
psychoanalytische 67
Autoren diesen Naturanteil auch für die Benennung der bestimmten Interaktion in der Einführungssituation geltend gemacht. So willkürlich die Namensgebung der ersten Worte in unseren Kulturbereichen, z. B. Mama, ist, im transkulturellen Vergleich war die Ahnlichkeit der ersten Worte auffillig geworden. Mama ist eines der Worter, in denen die
Beteiligung des Kindes bis ins phonetische Phinomen schlägt. Schon Spielrein äußerte dazu folgendes: »Wenn
das Kind
weil dieses Wort
das Wort
>»mö-mö«
durch-
ruft, so tut es dies zuerst
es an eine mit angenehmen
Empfindungen
nicht,
ver-
kniipfte Handlung, das Saugen, mahnt: urspriinglich bedeutete das Wort nicht eine Handlung,* es war die Handlung selbst. Diese Tatsache ist es, auf welcher die Magie in ihrem Glauben zuriickkehrt: das Wort kann eine Handlung ersetzen, weil das erste Wort urspriinglich eine Handlung war. Das Wort >»mö-mö« im Sinne eines getrennten Objektes differenziert sich erst nachtriglich aus einer bestimmten dumpfen Empfindungsgruppe heraus, welche sich beim
Saugakte bildet. Das Aussprechen oder Denken eines Wortes ruft die gleichen Empfindungen ins Leben wie die Handlung selbst, wie die Mundbewe-
gungen beim Saugakte, weil dieses Wort als direktes Resultat dieser Bewegungen mit ihnen identisch wirkt. Wenn sich mit der Zeit aus der undeutlichen Empfindungsgruppe bei der weiteren psychischen Entwicklung der Begriff eines Objektes, der Mutter, differenziert, bleibt die urspriinglich bestehende Verbindung zwischen Handlung = Wort und dem nun differenzierten Objekte >Ma-ma« (spiter Mutter), welches dieses Wort bezeichnet, bestehen.« (62)
Auf welche Urgeschichte innerhalb der Vorgeschichte des einzelnen Kindes die Lautgruppe »mö-mö« zuriickgeht, Greenson hervorgehoben. Er verfolgte die Laute »M« » N« zuriick zum zweiten Monat: »The »m« and >n< sounds which are made
hat und
in states of discomfort at
the age of two months are later produced only in states of comfort from the age of six months. It would seem that the infant’s
memories of having its hunger gratified and the expectation of the
satisfaction accounts for this transition. The >Mm ...« sound which * Es bedeutet die Empfindungsgruppe, 68
nicht die Handlung.
[Fn. im Zitat]
is now
uttered
in a state of contentment
of oral gratification.« (63) Auch ein anderes bedeutsames
indicates the expectation
Merkmal
der
Einführungs-
situation wird schon in der bewußtlosen Interaktionsperiode des Kindes vorbereitet oder, richtiger gesagt, aus der vorgegebenen Position des Kindes, aus seiner Natur erweckt: Der
vorher genannte formale Doppelcharakter des Wortes als ein gesprochener wie zugleich gehörter Bewegungskomplex. Auch
dieser wichtige, Symbolbildung ausmachende, Zug hat Vorläufer. So hat Hoffer (64) schon für die ersten wurzelhaften uterinen Erfahrungen des Kindes die Kombination des Füh-
lens des Daumens in der Mundhöhle als eine zugleich passiv empfundene wie aktiv gemachte Geste als wesentlich hervorgehoben.
Greenson
greift diese Verbindung
von Empfinc%ung
und Bewegung auf, indem er die Bedeutsamkeit des AktiwfätPassivität-Komplexes in allen Umschlagstellen der Entwicku.nd lung des Kindes betont als ein Zugleich von Festhalten Weitergehen, dabei die Brustsituation als Vorläufer der Einführungssituation von Wörtern kennzeichnend: / »In all ego developments
which
represent a transition
fr.om passi-
vity to activity, identification is the significant mechanism. "I'?\us it appears that the auditory incorporation of words is a critical factor in the maturation of the child. Speech is on the one hand a means of retaining a connection with the mother as well as a means
of becoming separated from her. The child who suckled' at the mother’s breast now replaces this by introjecting a new liquid .of the mother-sounds. In addition, the child now has the opportunity to repeat actively this old, passive gratification. Thus the child replaces passivity and mother attachment by activity and mother
identification via the language. It can easily be imagined, therefor.e, that the earliest relationship between child and mother’s breast will have a decisive influence on the relationship of the child to its
mother tongue.« (65)
Angefithrt werden muß, wie der Vorgang der Verinnerlichung, der fiir die Bildung von subjektiven Strukturen über-
haupt grundlegend ist, mit eben diesen Mechanismen von Festhalten und Weitergehen in dem Aktivitit-Passivitit69
Komplex verflochten ist; relevant noch für alle späteren Lern-
vorgänge von Sprache:
»Observations on learning a new language confirm some of these hypotheses. Stengel described some differences between children and adults learning a new language. The child uses simple and complete
identification and echolalia is typical. The adult tries to learn the
language rationally. Learning a new language
involves introjecting
new objects and resistances to giving up the old objects may become an obstacle in this process. It is well known that there is 2 reluctance to give a new name to an old object. It is easier to take
on new
words
and
a new
vocabulary
than
to take on
a new
accent and new intonation. Vocabulary and grammar can be learned
rationally, but accent, tone and rhythm have to be imitated, i.e.
incorporated. It is this inner core of language, so intimately related to the earliest child-mother relationship, which is so difficult for
adults to change. Probably, the facility in learning a new language is also determined by the outcome of the early relationship to the mother. The patient described above had a remarkable fluency in speaking English. She had an unusually large vocabulary, and spoke grammatically with a mere trace of a foreign accent. She wanted to incorporate new objects and in her new language she found a suitable opportunity.« (66)
Unseren Gedankengingen bieten diese paar gesammelten Zitate Fingerzeige, wie den psychoanalytischen Erfahrungen, die in ganz anderen Untersuchungsgingen erhoben worden waren, ibereinstimmend die FEinsicht entnommen werden kann, daß in Strukturen und Prozessen des Spracherwerbs Aktivititen des Kindes aus der frithen Interaktionsphase be-
stimmend eingehen. II. 3
Die andere Seite, nimlich die Verankerung
dieser »Ausein-
andersetzung mit Natur« in den historisch-materiellen Prozessen, die durch die miitterliche Praxis dem Kind in der Mutter-Kind-Dyade vermittelt werden, ist noch zu kliren.
Was die Mutter dem Kind vermittelt in der Mutter-KindDyade, ist, wie wir gesehen haben, eine bestimmte Form 70
menschlichen Interagierens; Praxis der Mutter aber ist als ein Teilbereich gesamtgesellschaftlicher Praxis zu verstehen. Wir hatten diese Problematik vorläufig zurückgestellt, müssen uns nun aber klarmachen, daß gesamtgesellschaftliche Praxis
allemal
»symbolvermittelte«
Praxis
ist,
weil
ja
die
gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit äußerer Natur
niemals nur instrumentelles Handeln isolierter Individuen sein kann, sondern stets Instrumentalität im Rahmen von Interak-
tionsprozessen der Individuen (in konkreten politisch-6konomischen Verhiltnissen) ist. Wenn wir Sprache als das zentrale
Regelsystem ansehen, in dem die Regeln der Interaktion objektiv aufbewahrt sind, so wird deutlich, daß wir auch fiir
den Fall der vorsprachlichen Einiibung des Zusammenspiels in der Mutter-Kind-Dyade die Relevanz von Sprache fiir
miitterliches Handeln sprachliche Situation
implizit mitzudenken haben. Die vorin der Mutter-Kind-Dyade ist nie
»auflersprachlich«, wie das Interaktionsspiel der Mutter-Kindder Dyade immer schon eingebettet ist in die Sprachspiele
steht. Mutter innerhalb der Praxisgemeinschaft, in der sie auf Verzicht Nun darf nicht verschwiegen werden, daß der sich in Gefahr eine Untersuchung der Sprachphylogenese die Sprache fiir von eit Bedeutsamk der birgt, bei der Betonung menschliches Handeln unvermerkt idealistischen Ballast da-
durch einzuschleppen, daß Sprache auf einer geschichtsunabwird — womit das hingigen »idealen« Basis versichert gesehen RahWechselverhiltnis von Sprache und Handeln aus dem men konkreter Praxis herausfiele.
Wir werden
deshalb die Frage der Begriindung von Sprache
nicht einfach iibergehen konnen, befinden uns dabei aber in
der gliicklichen Lage,
auf die sprachphilosophisdlen
Unter-
zu konnen, suchungen von Kuno Lorenz (67) zuriickgreifen ist. ausgeriumt Gefahr stische in denen eben diese spradmideali Ausgang seinen durch Lorenz sich Diese Chance erdffnet
von konstruktivistischen Losungsversuch des mathematischen
Grundlagenstreits. Darauf muß kurz eingegangen werden: Anstelle einer Begriindung der Mathematik in Axiomen
als 71
unbefragt hinzunehmenden Grundfiguren der Zahlbegriffe stellt der Konstruktivismus die Mathematik auf die Basis des alltäglich praktischen Vorgangs des Zählens. Die »natürlichen Zahlen« — so Paul Lorenzen (68) — werden hergestellt in jener
einfachen
Prozedur,
die
durch Striche — an einer Wand
zu
zählenden
Gegenstände
etwa — abzubilden.
Diese,
der Marx’schen erkenntnistheoretischen Wendung vergleichbare, Verankerung von Erkenntnisinhalten in praktischer
Tätigkeit wurde ausgedehnt zu einer Begründung der Logik. In ihrer
Logischen
Propädeutik
stellen
Kamlah
und
Lo-
renzen (69) Begriffsbildung nach dem grob skizzierten Muster der Bildung des Zahlbegriffs vor: analog zur Zuordnung von Strichen zu Gegenständen, die gezählt werden sollen, werden den Gegenständen im Alltagsgebrauch Begriffe zugesprochen. Die Problematik des Zahlbegriffs läßt sich mithin verallgemeinern: der Begriff gründet in praktischer Bildung von Symbolen; Angelpunkt der Begriffe ist die Begriffsbildung
als Zuordnung von Symbolen zu Gegenständen analog der
Zuordnung von Strichen zu zählbaren Stücken. Der Herstellung von Begriffen entspricht in Rückwendung auf diesen fundamentalen
Konstruktionsprozeß
Prinzips von Verstehen,
die
Formulierung
»daß wir nur das verstehen,
wir selber herstellen können . . .« (70).
des
was
Für unsere Problematik ist bereits dieser Vorgang wesentlich, weil — zumindest in dieser Grundfigur des Aufbaus der Logik — nicht nur der Vorgang intelligenter Operation, sondern auch die Begriffsinhalte an das »Herstellen« gebunden werden. Kuno Lorenz nun stellt den Sprachaufbau auf den — dem Zählen vergleichbar einfachen — Grundvorgang der Pridikation als einer fundamentalen, keiner weiteren Rechtfertigung bediirftigen Handlung: In einer dialogischen Lernund Lehrsituation wird von einer Person A einer Person B ein Gegenstand gezeigt und wird dem Gegenstand ein Wort — der Priddikator — zugeordnet.
Der Ubergang der Lorenz’schen Untersuchung von der Logikdebatte zur Sprachkonstruktion ist fiir unsere Uberlegungen 72
bemerkenswert, nicht nur weil damit die uns interessierende Sprachthematik unmittelbar aufgegriffen wird, sondern vor allem wegen der Erweiterung der monologischen Anordnung des Zählens zur dialogischen Situation der Sprachunterweisung. Sprache griindet hiernach auf einer Vielzahl von Schrit-
ten der Vermittlung, die keine andere Basis haben als prak-
tische Akte: Lautkomplexe werden im praktischen Dialog (durch »Zeigen«) sinnlich erfahrbaren »Gegenständen« zugeordnet. Das System der Sprache, das vermittelt wird, wie-
derum hat keine anderen Konstituentien als die Vielzahl von
praktischen dialogischen Vorgängen,
die allesamt in die ent-
faltete gesamtgesellschaftliche Praxis eingebettet sind. Weil die Einführung von Sprache in unserem Verständnis aber unmit-
telbar aus dem gestischen Zusammenspiel herauswächst, kommt
im Vermittlungsvorgang der Sprachunterweisung Praxis »kon-
kret«, d. h. in ihrer jeweiligen geschichtlichen Bestimmtheit ins Spiel der Bildung von Begriffsinhalten. Der in Sprache enthaltene Sinnzusammenhang wird nicht nur in Praxis
abstrakt
fundiert,
vielmehr
wird
das
Fundament
in Handlungen ausgemacht, die in der Geste des »Zeigensauf« und dem »Benennen« innerhalb der aktuellen gesellschaftlichen Prozesse verbleiben. Wertvoll wird die Lorenz’sche Analyse uns dadurch, daß sie
aufweisen kann, wie aus dieser Praxisvermittlung das seman-
tische wie syntaktische System der Sprache erwächst. Semantisches
System
meint:
das
Gefüge
des
»Geistes«
als
das
komplizierte Gebäude der Bedeutungen, und syntaktisches System heißt letztlich: die Regeln der Sprache, die zugleich Regeln des intelligenten Operierens und des praktischen
Handelns
sind.
Da
wir
die
Tradition
der
Sprache,
die ja
im Unterweisungsakt schon vorhanden ist, nicht anders verstehen können denn als Niederschlag früherer Unterweisungen, und alle Unterweisungen, also auch die geschichtlich frühesten Einführungssituationen, aus praktischer Interaktion
entstehen, bleibt so kein Platz für irgendein außerhalb von Geschichte angesiedeltes »Reich von Ideen«.
73
Gerade weil das Lorenz’sche Modell die logischen Strukturen
des Sprachaufbaus freilegt, bildet es eine notwendige Ergänzung unseres ın ganz anderer Perspektive angelegten Modells der Ontogenese subjektiver Bildungsprozesse. Lorenz
kennzeichnet den Unterschied, wenn er schreibt: »Dabei sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, daß die zu diesem Zweck entworfenen stilisierten Situationen auch nicht als Modelle für das Sprechenlernen im Kindesalter oder gar für das Auftreten von Sprache in grauer Vorzeit gedacht sind, sie sind viel-
mehr entworfen, chen ...« (71) Um
um
den Vorgang
unser
eigenes
der Prädikation
Lorenz folgendes Beispiel:
Reden
durchsichtig
zu verdeutlichen,
zu
ma-
benutzt
»Man stelle sich vor, daß eine Handlung, etwa das Verbeugen, auf geeignete Weise — zum Beispiel durch Vor- und Nachmachen — von einem, genannt A, gelehrt und von einem anderen, genannt B, gelernt
wird. Nachdem B sich selbständig verbeugen kann, also das Verbeu-
gen
gelernt hat, beginne
A jetzt das Wort
»verbeugen«
auszuspre-
chen. Das ist eine zweite, sprachliche Handlung, die ihrerseits von B gelernt werden kann. B kann dann sowohl sich verbeugen als auch das Wort >verbeugen« aussprechen. In einem dritten Schritt lerne B jetzt eine Handlung, vermöge der ein Zusammenhang der beiden ersten Handlungen hergestellt wird, nämlich eine Zugehörigkeit des Wortes »verbeugen« zu der Handlung Verbeugen. Das könnte etwa so geschehen, daß A sich verbeugt und B daraufhin das Wort »verbeugen« ausspricht. Mit anderen Handlungen und den zugehorigen Wortern wire anschliefend entsprechend zu verfahren. Wir sagen
dann: B hat gelernt, der Handlung des Verbeugens den Pridikator »verbeugen« zuzusprechen.« (72)
Einfacher,
freilich nur fiir eine erste Orientierung,
ist das
folgende Beispiel, das Lorenz verschiedentlich heranzieht:
A zeigt auf eine Rose, spricht dabei »Rose« und ordnet fiir B — so dem Gegenstand Rose das Symbol »Rose« zu. Der Zweck der Pridikation ist ein dreifacher:
Zum
einen geht es um
die Verstindigung
der Subjekte
(die
Beteiligten besitzen durch die Pridikation ein ihnen gemein-
sames Symbol), 74
zum
anderen werden
Gegenstinde
dauerhaft
mit Symbolen verknüpft (»Rose« denotiert Rose), zum dritten
aber bildet sich ein Symbolsystem, Rose nimmt innerhalb der
Sprache einen bestimmten Platz ein. Das Symbol »Rose« ist z. B. verkniipft mit dem Symbol »Lilie« (unter dem Oberbegriff der Blumen); der Vorgang der Pridikation stellt eben
diese Querverbindung her, indem er zugleich aber auch Rosen von Lilien trennt. Diese Doppelfunktion der Priddikation macht uns das komplizierte Gefiige der Semantik einer Sprache
deutlich: Wenn wir vom markierten Punkt »Rose und nicht Lilie« ausgehen, so eröffnet sich uns mit jedem weiteren Schritt ein kompliziertes, neben- und ibereinander geschichtetes System von Pridikatoren. Jeder einzelne Pridikator leistet ein Stiick der Verkniipfung und Trennung; Rose wird durch »Rose« positiv bestimmt wie auch negativ abgegrenzt durch »Nichtrose«. »Derselbe Pridikator wird gewissen Gegenstinden zugesprochen, gewissen anderen Gegenstinden jedoch soabgeSProchen, denselben Gegenstinden hingegen niemals
wohl zugesprochen als auch abgesprochen«. (73)
_
einen Mit dem Vorgang der Pridikation gewinnen wır also Bedeutunge.n der Gefiige verwirrende das in Einstieg festen einer Sprache, denn wenn wir alle Bedeutungen als Pridi-
katoren nehmen, 16st sich ordneten Symbole auf in dendes System, bei dem Prädikationen verbunden in einer Abfolge
von
uns die Fiille der einander zugeein zunehmend iberschaubar weralle einzelnen Knotenpunkte fibc.er sind mit Gegenständen, auf c_lle
realen
Einführungssituationen
geze1gt
wurde.
Nun handelt es sich bei den »Gegenständen« keinesfalls nur um Dinge der sinnlichen Außenwahrnehmung. Schon das ol.aen
erwähnte Lorenz’sche Einleitungsbeispiel verweist ja auf eine ganz andere Klasse von »Gegenstinden«, nimlich auf Handlungen. Gerade mit diesem Beispiel konkretisiert sich die stilisierte Einfiihrungssituation bei Lorenz in Richtung der Ver-
hiltnisse, die wir unter dem Stichwort der Mutter-KindDyade abgehandelt haben. Die Pridikation prisentiert bei
den Handlungen drei elementare Bewegungskomplexe:
75
ı.
den Prädikator,
d.h. den akustischen Komplex
des ge-
sprochenen und gehörten Wortes, 2. die Geste des einen Partners, der auf die Handlung zeigt, und 3. den Bewegungskomplex (bei Lorenz z.B. »Verbeugen«), wobei offenbleiben kann, ob Partner A oder B ihn ausführt. Wenn wir von der Lorenz’schen Absicht, die Konstruktion
von Sprache und d.h. Denken wie Handeln (»wer philosophiert redet und wer redet handelt«, 74) auf die Basis der Prädikation
Überlegungen, »Zeigen«,
zu stellen, zurückgehen
so müssen
wir
»dialogische Situation«,
Begriffe
zu unseren
wie
»Partner«
eigenen
»Gegenstand«,
im Rahmen
un-
serer Betrachtung interpretieren. Zunächst, »Gegenstand« kann in der Einführungssituation der Mutter-Kind-Dyade sowenig einen wohl-abgegrenzten, umschriebenen Gegenstand meinen, wie »Rose« bereits ein klar konturiertes Symbol, abgegrenzt in einem begriffenen Sprachsystem, sein kann. Beides muß ja in diesem Schritt erst konstituiert werden. Diesen für den ersten Ansatz der Spracheinführung fundamentalen Sachverhalt faßt Lorenz selbst durchaus ins Auge, wenn er schreibt: »Die Wendung hier zu einem
>Unterscheidung der Dinge« allerdings könnte schon Mifverstindnis fithren, wenn man daraus folgern
wollte, daß zunichst ein Vorrat von Dingen gegeben sein miifite, die traditionellen Einzeldinge oder Gegenstinde, die es anschliefend zu unterscheiden gelte. Vielmehr sollen die im folgenden behandelten Konstruktionen einige der fiir eine wissenschaftliche Sprache benétigten Redeweisen gerade erst einfiihren.« (75)
Tatsdchlich liegt ja der Sinn von Lorenz’ Sprachkonstruktion eben darin, den Aufbau der Sprache und der an Sprache gebundenen logischen Operationen durchsichtig zu machen. Wir geraten in keinen Widerspruch zu seinem Unternehmen, wenn wir den Vorgang der Pridikation der schon skizzierten »Einfuhrungssituation von Sprache in die Mutter-Kind-Dyade«
folgendermaflen einfiigen:
76
1. Worauf
»gezeigt«
wird
in
der
Mutter-Kind-Dyade,
ist
kein ihr äußerlicher Gegenstand. Der Gegenstand der initialen Prädikation ist vielmehr die Mutter-Kind-Dyade selbst oder,
genauer gesagt, die in der realen Szene
»realisierte«
aktionsform. Diese Interaktionsform erhält einen Namen.
Inter-
2. Der gezeigte Gegenstand ist mit der Mutter-Kind-Dyade einer aktuell vorliegenden Form identisch.
3. Der zeigende Partner besteht als abgegrenztes Subjekt fiir
das Kind sowenig, wie dieses selbst sich als Subjekt erfahren sind identisch als ein Kontinuum,
Kind
konnte. Mutter
und
absicht — schon
angenommene
das sich noch nicht voll aufgespalten hat. Damit wird die von Lorenz — innerhalb seiner Erkenntnis»natiirliche
Auszeichnung
des
Zusprechens vor dem Absprechen« (76) in zeitlicher Abfolge greifbar: Die Initialpridikation (»Mama« etwa) vermag nur insoweit abzusprechen (die Situation ist nicht-Mama), als die sprachliche Bestimmung der aktuellen Interaktionsform Moglichkeiten ausgrenzt — in einer Ausgrenzung, die dem Zug der Formbestimmung bewußtlos eingeiibter Interaktionen folgt (jede realisierte Interaktionsform vernichtet bestimmte
Moglichkeiten).
Auch das Herauswachsen der benannten Interaktionsform aus der vorsprachlichen Interaktionsform, die diese bis zur Ein-
fihrung des Initialpridikators war, findet bei Lorenz schon
eine
Formulierung,
können: »Andererseits
aber
wir
die
erlaubt
fiir
gerade
unser
das
heranziehen
Modell
Beispiel
verwendete
einer
sprachlich artikulierten Handlung auch abzulesen, in welchem Sinne
sprachlichen
Unterscheidungen
nichtsprachliche,
durch
Handlungen
wie das Verbeugen dargestellte, Unterscheidungen noch vorausgehen können. Handlungen
lassen sich lernen, ohne sie gleich auch sprach-
erlaubt
es, sie allein
durch
beugen«
zusammen
lich bewußt
zu machen.
Jedoch
erst ihre sprachliche Artikulation
Wörter,
»rein«
sprachliche
Handlungen
also, zu vertreten. Wer sich zu verbeugen und auch das Wort >vermit
dem
Zusprechen
gelernt
hat,
der
kann
kiinftig allein mit dem Wort >verbeugen, ohne Anwesenheit eines Gegenstandes, dem er zugesprochen werden kann, einen solchen 77
Gegenstand, eine Verbeugung, minologie, vorstellen.« (76 a)
Fügt
man
die Lorenz’schen
wickelten tionen
den
den
fingieren oder, in traditioneller Ter-
Konzept
ein,
so
weiteren
weiteren
Annahmen
der ersten sprachlichen
ergibt
sich
Aufbau
der
Aufbau
der
eine
dem
zuverlässige
Sprache
und
Objektwelt
von
uns
ent-
EinführungssituaPerspektive
d.h.
und
der
zugleich
für
für
subjektiven
Strukturen. Die wichtigste Konsequenz ist zunächst: Die Initialprädikation (etwa »Mama«) ist als Grundsymbol des weiteren Sprachaufbaus
schrittweise
Pridikator
alle
anzusehen.
anderen
Aus
»Mama«
Pridikationen,
gezeigt wird. Dieser Aufbau
entfalten
wobei
aber
sich jeder
löst in der Abfolge
erster Schritte übrigens noch keineswegs die Geschlossenheit der Mutter-Kind-Dyade auf. Die grundlegende Distanzierung von Subjekt- und Objekt-Pridikatoren, die Auftrennung von
Ich und Nichtich ist gewiß nicht das Werk sich iiberstiirzender
Zuordnungen. Vielmehr, fiirs erste geht es allemal nur darum, die bereits gegliederte Anzahl verschiedener der Mutter-Kind-Dyade zusammenzufassen.
Ausformungen Die benannte
Mutter-Kind-Dyade wird abgegrenzt von all den Interaktionen, die das Kind weiterhin eingeht. Es gilt, die Doppel-
funktion
der
Initialpridikatoren
der gewonnenen
einzuiiben,
Pridikation in Realisierung
festigen.
die Bestitigung
der Szene zu
Bereits innerhalb der Einiibungsphase des Initialpridikators bahnt sich schon eine grundlegende sprachliche Operation an, nimlich die Regulation. Da Lorenz diese Operationen in recht knapper
Form
erliutert,
Hinzufiigung hier zitiert:
sei seine Darstellung
ohne
weitere
»Es handelt sich dabei um die von Lorenzen fiir eine Begriffstheorie
eingefiihrten Pridikatorenregeln, deren jede es erlaubt, die Beispiele
oder Gegenbeispiele fiir eine oder mehrere Handlungen als Beispiele oder auch Gegenbeispiele fiir eine weitere Handlung zu verwenden. Ist etwa
das
neben
dem
Auf-Rosen-Zeigen
Verbeugen
mit
auch
Beispielen
noch
und
das
Spaziergehen
Gegenbeispielen
und
ge-
lehrt und gelernt worden — und dazu bedurfte es, wie wir gesehen 78
haben,
der sprachlichen
zugehörigen,
Artikulation
ın der vorliegenden
dieser Handlungen
mit den
Beschreibung bereits verwendeten
Prädikatoren —, so kann jetzt explizit vereinbart werden, die Beispiele fiir das Verbeugen stets als Gegenbeispiele sowohl fiir das Spazierengehen als auch fiir das Auf-Rosen-Zeigen anzusehen. Diese Vercinbarung, ebenfalls ein sprachliches Handlungsschema, muß ihrerseits gelehrt und gelernt werden, und zwar so, dafl einem
Zusprechen von »>verbeugen< ein Absprechen von >spazierengehenc jeweils denselben Gegenstinden gegeniiber folgt, und der Lernende
diese Aufeinanderfolge schlieflich selbstindig zu reproduzieren in der Lage ist. Anders als beim Lehren und Lernen des Zusprechens, wo es gleichgiiltig ist, ob den Aktualisierungen des zugrundeliegen-
den Handlungsschemas der zugehérige Pridikator folgt oder voraufgeht, kommt es hier auf die Reihenfolge der beiden Teilhandlungen, dem Zusprechen von >verbeugen< und dem Absprechen von >spazierengehen¢,
durchaus
diese Aufeinanderfolge
an, gerade
mufl
verstanden, und das heifit, sie muß gelehrt und gelernt werden. Ersichtlich geniigt auch hierbei nicht dieses eine Beispiel, sondern durch hinreichend viele entsprechende weitere Beispiele, darunter insbesondere:
Gegenstinden folgen,
muß
auf
das
Zusprechen
gegeniiber
schliefllich
das
von
‚verbeugen«
Absprechen
verstindlich
werden,
von
daß
darf
densc?lben
>auf-Rosen-zeigen: diese
neu
einge-
führte sprachliche Handlung, die wir Regulation nennen wollen, sich von der anfangs eingefithrten sprachlichen Handlung der
Pridikation unterscheidet.« (77)
Versteht man die Regulation als ein Zentralvermogen dfar menschlichen Sprachoperation, so eröffnet sich nun auch ein Durchblick auf die Entwicklung der Sprachkompetenzen, die in der Syntaxtheorie eine so gewichtige Rolle spielen. Vergegenwirtigt man sich dazu, dafl die Hierarchie der BedeuSzene für tungen, beginnend mit der Einfiihrungssituation,
Szene in einzelnen Einführungssituationen aufgebaut wurde,
so wird das »Ende des Sprachidealismus« uns greifbar nahegebracht. Das alles ist umso wichtiger, als in der Ontogenese Ja keineswegs Sprache neugeschaffen wird, sondern Sprache als ein schon bestehendes System in die Sozialisation des einzelnen Individuums hineingetragen wird ın Sprachfiguren, in
denen der Zusammenhang der Bedeutungen bereits objekti-
79
viert
ist. Auch
für
daß sie im Zuge
diese
Figuren
läßt
sich
der Auseinandersetzung
nun
aber
zeigen,
der Generationen
mit Sprache angeeignet wurden in einem Verfahren, das aus Interaktionsformen herauswuchs und den Trieb, diesen Ab-
kömmling der Natur, in Sprache einbrachte. Durch Sprache hindurch wird über die Abfolge der Sozialisation das Symbol-
system der Sprache rückführbar auf die Dialektik einer Aus-
einandersetzung mit innerer Natur. Keine lebende Sprache, auch nicht die aus lebender Sprache entwickelten formalen Sprachen
der
vermögen
Erstarrung
zu
dieses Erbe
abzustreifen;
emotional-bedeutungslosen
allerdings diese Abkunft unerkennbar machen.
sie können
in
Formationen
Machen wir uns klar, daß die Auseinandersetzung mit innerer Natur ein Moment der Dialektik ist, die, eingelassen in die gesellschaftlichen Prozesse, vom »produktiven« Kampf
des Menschen gegen äußere Natur ihre Prägung erhält. Das Individuum ist der Schauplatz, in dem die großen dialektischen Bewegungen ihre Mitte haben. Der immer wieder so beruhigende Rückfall in Objektivismen, denen bald die Wirklichkeit der Produktionsprozesse, bald die Realität der ıin primärer Sozialisation stets erneut einsetzenden Dialektik mit Natur, die der Mensch ist, entschwindet, geschieht, wenn man illusionär die Problematik der Subjektivität ausstreicht. Doch wenden wir uns nochmals den Details der Einführungs-
situation zu. Die Ubereinstimmung unseres Sozialisationskonzeptes mit den Lorenz’schen Gesichtspunkten von Sprachkon-
struktion eröffnet bemerkenswerte Perspektiven. Ohne auf die Reservate eines in der Psychoanalyse gefihrlich naheliegenden Subjektivismus zuriickgreifen zu miissen, wird nun erkennbar, worin der Unterschied menschlicher und tierischer Entwick-
lung liegt: in der Einbeziehung der bewufitlos eingeiibten In-
teraktionsformen in das System der Sprache. Die Moglichkeit, bestimmte Interaktionsformen priadizieren zu konnen und damit Interaktionsform im Symbol zu verselbstindigen, erweitert die Verfiigung des schrittweise aus der Mutter-Kind-Dyade sich lösenden Individuums. Die Abl6sung 8o
des laryngeal-akustischen
Bewegungskomplexes
(oder erset-
zender signifikanter Gesten) aus dem szenischen Verband der Einführungssituation, — eben das ist ja der wichtige Neugewinn — erlaubt dann nicht nur die selbständige Reproduktion als »geistige Vergegenwärtigung« der ursprünglich realen Szene, unabhängig vom Vorliegen der realen Reizkombina-
tion in beliebig-anderen Situationen, sondern gestattet darüber hinaus auch den Vergleich differenter Interaktionsformen, die so zum Repertoire bewußt verfügbarer Handlungsanweisungen werden. Das Wiedererkennen einer Situation und die bewuflte Wahrnehmung der Differenz gelingt ja nur, weil ibers Symbol Vergleichungen angestellt werden konnen. Weil
Sprache
aber
Handlungsanweisungen
der
systematisierte
ist, wird
Niederschlag
die einzelne
von
Interaktions-
form in fortschreitender Aneignung von Sprache dem riesigen
Netz der Bedeutungen einverleibt — oder umgekehrt gedacht: wird
die
systematische
Handlungsanweisungen
Fiille
und
der
d.
h.
in
Sprache
aufgehobenen
Interaktionsformen
als
Wahlméglichkeit erschlossen, wird so das Auftreten von neuen situativen Reizen zur Wahrnehmung von Objekten und d. h.
Interaktionsangeboten, die zunehmend in die vergegenstind-
lichten Positionen von Ich und Nichtich auseinander gelegt werden konnen. Damit wird aber auch jener soziale Ler.nProzeß der Verschiebung aktiv intendierter Bediirfnisbefrie-
digung in sekundire Motivationen in Gang gesetzt. Sprach-
lich vermitteltes Handeln erlaubt es schliefllich auch, ir? der unerliflichen Umwandlung des Lustprinzips zum Realitäts-
Prinzip Befriedigung festzuhalten und in aktiver Veränderung der Umwelt zu erreichen. In vierfacher Hinsicht erhebt sich so die bewußte und d.h.
die durch Teilnahme an einer Sprachgemeinschaft errungene Freiheit des Subjektes über die bewußtlos eingeübte Interaktion:
I. Das gegliederte System der Objekt- und Subjektsymbole macht die Welt instrumentell zuginglich. (Befreit man dabei den Begriff instrumentellen Handelns von dem Odium
81
kommunikationslosen Hantierens, so heißt das:) Handeln des einzelnen wird als gesellschaftliche Praxis denkbar und wird zum Kampf aller gegen die Grenzen äußerer Natur in Herstellung der menschlichen Lebensmittel.
In situationsabhängiger Verfügung
über die erworbenen
Symbole wird jene Rückwendung des einzelnen, jene Reflexion auf seine eigenen Interaktionsformen möglich, die
sich dem
in Sprache
bereitgestellten,
metasprachlich
steigbaren System der Bedeutungen verdankt.
er-
. Die unerläßliche andere Seite der reflexiven Selbstverständigung, nämlich die Diskussion mit anderen Subjekten über allgemein geltende Handlungsnormen (und d. h. verbindliche Interaktionsformen) erschließt jene auszeichnende menschliche Möglichkeit, die allein man sinnvoll mit dem Begriff Freiheit verbinden kann. Man muß jedoch klar sehen, daß auch diese Freiheit nicht die Bindung aller Symbole an die Auseinandersetzung mit innerer wie
äußerer Natur sprengt und daß Befreiung von unertriglichen Interaktionsformen allemal an Veränderung realer Praxis und d. h. an Veränderung der objektiven gesell-
schaftlichen
Organisationsformen
gebunden
ist. Erst im
Durchsetzen der Anderung dieser Organisationsformen wird die Veränderung der Symbole real — so wie schon in primärer Sozialisation die Aufrichtung subjektiver Interaktionsformen Aneignung von Formen praktisch-realen Umgangs in der Interaktion der Mutter-Kind-Dyade war.
ITI.
Der Sozialisationsprozeß
II ı
Angetrieben von der Frage nach dem Unterschied tierischen und menschlichen Verhaltens sind wir auf die Funktion der Vermittlung von Sprache an die dem kindlichen Organismus
eingeübten Interaktionsformen gestoßen. Wohl hat unsere stilisierende Betrachtungsweise den Zusammenhang von »Einigungssituation« und »Einführungssituation von Sprache« als Etappen ein und desselben Prozesses menschlicher Sozialisation festgehalten — wir haben auch sehen können, wie der
Spracherwerb »auf den Schultern« der Einigung auf die — für
Mutter wie Kind gemeinsamen — Interaktionsformen vor sich
geht. Dennoch blieben beide Stufen — Einigungssituation und Einführungssituation
— noch
allzusehr
gegeneinander
abge-
grenzt. Wir werden das subtile Ineinander, den auf Sprach-
möglichkeit
vorbereitenden
Übergang
des
Prozesses,
dem
Sprache nicht unvermittelt zufällt, genauer noch zu bedenken
haben. Dabei werden wir einige Seitenblicke auf einen Autor
werfen, den wir nur eingangs kurz erwähnten, Jean Piaget. Freilich werden wir uns gerade da der Übereinstimmung nur exemplarisch
versichern
können.
Die
Hinweise
sollen
nicht
mehr leisten, als eine Anregung für eine genauere Vergleichung des hier entwickelten Modells mit dem Piagetschen Entwick-
lungsmodell zu geben. Ein paar Vorbemerkungen sind dem Standpunkt Piagets zu widmen.
Er
ist im
wesentlichen
kantianisch-subjektivistisch.
Aebli driickt das in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde zutreffend aus: »Piagets eigene Position steht Kant niher, als er es selbst ausspricht. Wenn er beschreibt, wie das Kleinkind die Dinge seiner Umwelt kennenlernt,
indem
es sie in seine
Verhaltensschemata
einbezieht,
und wie es die Erscheinungen dieser Welt nur in dem Mafle in den
Griff bekommt, als es über die geeigneten Assimilationsschemata ver-
83
fügt, wenn
des handeln-
er schließlich festhält, daß diese Schemata
den Erfassens der Wirklichkeit die praktischen
Vorläufer
der be-
grifflichen Instrumente darstellen, mit deren Hilfe es die Wirklichkeit später gedanklich >begreift, so äußert sich darin trotz aller Auffassung kantianische eine primir Form biologisierenden vom Erkennen der Wirklichkeit: Im Prozesse des Erkennens sind
die »Assimilationsschemata«
der subjektiven
Bedingungen
und
der Apriorl,
Aquivalente
funktionelle
Instrumente
des Erkennens.
Aber
während Kant die subjektiven Bedingungen des Erkennens weitgehend statisch und daher ahistorisch geschen hatte, so ist Piagets Theorie — im Gefolge
eine
genetische
und
Darwins,
daher
Spencers,
historische.
Deweys
und
Psychologisch
Bergsons
—
ausgedrückt:
Piagets Entwicklungstheorie enthält eine implizite Lerntheorie.«(78)
Wenn bei Aebli unbefangen die Rede ist von einem Apriori, und wenn bei der Schilderung der Lage des Kindes davon gesprochen wird, daß das Kind die Welt »in den Griff bekommt« und »iiber Assimilationsschemata verfiigt«; wenn das Kind »festhilt«, »begreift«, so dienen diese Vokabeln géWiß nicht nur dazu, in aller Kiirze ein Bild des sich entfaltenden instrumentellen Repertoires des Kindes zu geben, solche Ak-
zentuierung zeigt vielmehr zuverlissig an, daß die kindliche
Entwicklung von Piaget wesentlich als Lernprozeß eines »er-
kenntnistheoretischen Subjektes« gesehen wird. Zwar ist bei Piaget keine Rede mehr von fertigen »am Anfang der Entwicklung schon bereitliegenden Strukturen«, wohl aber von
einer »invarianten Funktion des Denkens«, die bei ihm immer
mehr ist als bloß ein Setting physiologischer, neurophysiologischer Mdglichkeiten. Die kindliche Entwicklung hat immer schon einen »subjektiven« Inhalt: » Vernunft«. Piaget schreibt: »Wenn tatsichlich in allen intellektuellen Strukturen ein Kern von Funktionsweisen existiert, der aus dem innersten Wesen jeder biolo-
gischen Organisation hervorgeht, dann wird dieser invariante Kern selbstverstindlich der Entwicklung der aufeinanderfolgenden Strukturen,
die
die
Vernunft
in
der
Auseinandersetzung
mit
der
Wirk-
lichkeit erarbeitet, eine Richtung verleihen. Er wird somit die Rolle spielen, die die Philosophen dem Apriori zugeschrieben haben, d. h. er wird die Existenz der Strukturen von gewissen notwendigen und
84
nicht weiter reduzierbaren Bedingungen abhängig machen. Man hat manchmal nur den Fehler begangen, das Apriori in fertigen und am Anfang der Entwicklung schon bereitliegenden Strukturen verwirklicht zu glauben. Die invariante Funktion des Denkens ist zwar schon in den primitivsten Entwicklungsstadien am Werke, drängt sich aber
dem
Bewußtsein
erst nach
und
nach
auf,
und
zwar
dank
der Erarbeitung von Strukturen, die dieser Funktionsweise immer
besser angepaßt sind. Das Apriori nimmt daher die Form notwendiger Strukturen erst am Ende der Entwicklung der Begriffe und
nicht zu ihrem Beginn an. Mag das Apriori folglich auch vererbt
sein,
so
steht
es
doch
am
äußersten
Gegenpol
der
sogenannten
>angeborenen Ideenc.« (79) Daß diesem »subjektivistischen« Fundament des Piagetschen Denkens zwingend eine auf Kognition zentrierte Sicht des Entwidklungsprozesses entspricht, schloß der Hinweis auf Kant schon ein. In aller Kiirze nur mochte ich meine Position davon abgrenzen:
I. Unsere Fragestellung zielt in erster Linie auf emotionale und nicht auf kognitive Prozesse. Wir verfolgen kindliche Entwidklung
als Aufbau
eines praktischen,
nicht nur auf
Erkenntnisbildung konzentrierten Umgangs mit der Umwelt. Die Freudsche Wendung von der Bewufltseinspsy-
chologie zur Libidotheorie ist prinzipiell zu verstehen als Zuwendung zu einem in Praxis fundierten Grundverstindnis des Menschen. Dementsprechend ist der Gegen-
stand unserer Frage allemal: Wie werden die Kdrperbediirfnisse des Kindes, wie wird seine »innere Natur« eingefidelt in eine Praxis, die ihre Form erhilt durch die Dialektik zwischen kindlichen Korperbediirfnissen und dem
von
der
Mutter
vermittelten,
gesellschaftlich
bedingten
Verhalten. Ergebnis dieser Dialektik sind in unserer Sicht die »bestimmten Interaktionsformen«. Erinnern wir uns nochmals, diese Formbestimmung geschieht in der realen Interaktionsszene, die wir — stilisiert — als »Einigungssituation« beschrieben haben. Menschliche Sozialisation unterscheidet sich, wie wir feststellen muflten, dabei nicht
85
grundsätzlich
von
der
»Sozialisation
der Haustiere«,
sie
differiert freilich in der Art des Aneignungsprozesses (entsprechend der physiologischen Besonderheit) und im Re-
pertoire menschlicher Möglichkeiten. Beim Menschen erwächst aus der prä-verbalen Interaktion die Einführungssituation von Sprache.
Weil unser Blick auf dem inbaltlichen Aspekt mittlungsgeschehens
ruht,
ist unser
Thema
des Ver-
Sozialisation,
nicht Entwicklungspsychologie. Die Stufenleiter menschlicher Funktionsreifungen interessiert in unserer Untersu-
chung nur als die (hier nicht weiter zu bedenkende) Skala von Moglichkeiten, mit denen wir unbesehen rechnen kon-
nen. Als eines der Resultate des gelungenen Sozialisationsprozesses, als Frucht der Ausdifferenzierung des Kindes zum Subjekt beachten wir auch die Ausbildung subjektiver Fahigkeiten und Kompetenzen. Sie gelten allemal aber als Resultat objektiver Prozesse, als Ergebnis der genann-
ten dialektischen Auseinandersetzung zwischen kindlicher Natur und miitterlicher Praxis. Das Subjekt ist der Niederschlag, das Produkt der objektiven Prozesse, die in den
realen dialektischen Schritten der Einigungssituation und der Einfiihrungssituation zur Sprache verwirklicht werden.
Sozialisation geschieht in realer Interaktion. Diese Formulierung scheint auf eine volle Ubereinstimmung mit Piaget
hinzudeuten — wie sein Zitat zeigte —, wird hier aber radikaler verstanden, da der Kantische Apriorismus einer sich selbst
formenden
Vernunft,
wie
ihn
der
Piagetsche
Subjektivismus beibehilt, ginzlich aufgegeben wird. Form-
bildung ist nichts als die Frucht eines Prozesses, der materiell Giber die Interaktion verliuft und in den nichts ein-
geht als die »natiirliche Ausstattung« des Kindes (in seiner organismisch-materiellen
dende
Praxis
Gegebenheit)
der Mutter.
wird das »an sich« dieser Fundamente
dialektik zu einem Bewufltsein.
86
und
die
formbil-
Erst im Sozialisationsprozefl
»fiir uns«
der Sozialisations-
in der Konstitution
von
Beachtet man diese Differenzen und berücksichtigt man, daß unser Sozialisationskonzept die entwicklungspsychologische
Fragestellung
nicht ausstreicht, sondern
»aufhebt«
in einen
umfassenden Rahmen (wobei Entwicklungspsychologie ihr Recht als einzelwissenschaftliche Beschreibung von Prozessen
der Funktionsreifung behält), so bietet die Piagetsche Ent-
wicklungspsychologie ren Herausarbeitung
gung.
bedeutende Beiträge zu einer feinevon Entwicklungsschritten der Eini-
So finden sich auch bei Piaget der Hinweis
auf das Heraus-
wachsen der Subjekt-Objekt-Differenzierung und die Begründung der Bildungsprozesse in einer undifferenzierten Phase:
». .. die Beziehungen zwischen Subjekt und Umwelt bestehen wesent-
lich in einer umfassenden Interaktion, und das Bewußtsein beginnt nicht mit dem Wissen um die Gegenstände noch mit dem Wissen um die eigene Tätigkeit, sondern mit einem Zustand der Undifferenziertheit. Diesem Zustand entspringen zwei komplementäre Bewe-
gungen, die eine verleibt die Dinge dem Subjekt ein, die andere akkommodiert seine Schemata an die Dinge.« (80)
Auch die Verankerung des Bildungsprozesses in realen, Kind und Umwelt zugleich umgreifenden Interaktionen wird ausdrücklich erwähnt: „Die konkrete Realität ist nichts anderes als die Gesamtheit der reziproken
Beziehungen
von
Umwelt
und
Organismus,
d. h. das
System der Interaktionen, die Umwelt und Organismus in gegenseitige Abhängigkeit bringen.« (81)
Für eine ins Detail gehende Aufgliederung der Vorgänge der „Einigungsphase« bietet die Piagetsche Theorie eine Fülle von
verarbeiteten Beobachtungen. Wollte man sich die Mühe machen, in genauer Transskription die Piagetschen Funde unserer Darstellung nutzbar zu machen, so würden vielfache, systcmatisch gegliederte Belege dafür, was der Begriff »Einigung« meint, mit einem Schlag verfügbar. Um die Fruchtbarieit des Vergleichs nur in einem Zitat anzudeuten:
„Wenn
es die Brustwarze wiedererkennt, handelt es sich dabei nicht
um das Wiedererkennen eines Dinges oder eines Bildes, sondern um
87
die
Assimilation
eines
einen anderen.« (82)
sensomotorischen
Verhaltenskomplexes
an
Die Komplexitit der »Einigung« wird unmittelbar durdhsichtig in den zusammenfassenden Bemerkungen zur Assimilation — wobei Einigung unterm Titel der Anpassung des Reflexes beschrieben ist: »Wir konnen also abschlieBend zusammenfassen, daß die der Anpassung des Reflexes eigentiimliche Assimilation sich unter drei
verschiedenen Formen darbietet: kumulative Wiederholung, Generalisierung der Reflextitigkeit mit Einverleibung neuer Objekte in ihre Funktionsweise und schlieflich motorisches Wiedererkennen. In
letzter Analyse stellen aber diese drei Formen
ein und denselben
Sachverhalt dar: Der Reflex ist als ein organisiertes und geordnetes
Geschehen aufzufassen, dessen Eigentiimlichkeit darin besteht, sich durch Betitigung zu erhalten und folglich frither oder spiter fir sich allein zu funktionieren (Wiederholung), sich die Gegenstinde einzuverleiben,
die
ist das
Ziel
dieser
Funktion
angemessen
sind
(generalisie-
rende Assimilation) und die Situationen zu diskriminieren, die bestimmten spezifischen Weisen seiner Tätigkeit entsprechen (motorisches Wiedererkennen). Wir werden in der Folge sehen — und das einzige
dieser
Analyse
— daß
diese
Prozesse
sich
in
derselben Form auf den Entwidklungsstufen der erworbenen Zirku-
lirreaktionen, der ersten intentionalen Verhaltensschemata und der im eigentlichen Sinn intelligenten Verhaltensweisen wiederfinden. Die Verschiebungen, die sich dabei offenbaren, sind durch die zunehmende Komplexitit der Strukturen zu erkliren.« (83)
Fassen wir die Ubereinstimmung
kurz zusammen:
verschiedenen Formen der Assimilation Grundlinien der Einigungssituation:
Die drei
entsprechen
den
1. Kumulative Wiederholung: Indem die Interaktion zwischen kindlichem Organismus und Mutter* sich in bestimmten gleichen Formen abspielt, gewinnt das Interagieren
seine
Interaktionsform.
Diese
Interaktionsform
braucht keineswegs »verinnerlicht« zu werden, sie ist innerlich — gibt es doch auf dieser Stufe so wenig wie * Worunter, wie mehrfach gesagt, im konkreten Ablauf gleichermaflen andere Subjekte und Objekte der kindlichen Umwelt subsumiert werden.
88
in irgendeinem anderen biologischen Komplex ein Innen oder Außen: Die alte Metapher, daß auch ein geknicktes Blatt ein »Gedächtnis« hat, das die Veränderung reproduzierbar macht, kennzeichnet die Sachlage. Der Organismus folgt den eingeübten Spuren einer Erfahrung, die jede
gleichartige Wiederholung verfestigt. Die Einigung wird als organismisches Zusammenspiel fixiert.
Generalisierung
der Reflextätigkeiten mit Einverleibung
neuer Objekte heißt im Rahmen unseres Interaktionskonzeptes nichts anderes als: Eingeübte Interaktionsfor-
men werden bei jeder situativen Änderung, in der unter
vergleichbarem
Reiz
die Interaktion
abgerufen
wird,
zu
die Mutter-Kind-Dyade
erweitert.
Als
ein-
einer Neuanpassung an die veränderte Lage veranlaßt. Das Interaktionsspiel breitet sich aus. Auf eben diesem wird
Wege
drucksvolles Beispiel illustriert diesen Zug das schon von Freud beobachtete Spiel seines Enkels:
»Die verschiedenen Theorien des Kinderspieles sind erst kürzlich
von
S. Pfeifer
in der
»Imago«
(V/4)
zusammengestellt
un.d
analytisch gewürdigt worden; ich kann hier auf diese Arbeit verweisen. Diese Theorien bemühen sich, die Motive des Spielens der Kinder zu erraten, ohne daß dabei der ökonomische
Gesichtspunkt, die Rücksicht auf Lustgewinn, in den Vordergrund gerückt würde. Ich habe, ohne das Ganze dieser Erschei-
nungen
umfassen
zu wollen,
eine
Gelegenheit
ausgenützt,
die
sich mir bot, um das erste selbstgeschaffene Spiel eines Knaben
im Alter von ı % Jahren aufzuklären. Es war mehr als eine
flüchtige Beobachtung, denn ich lebte durch einige Wochen mit dem Kinde und dessen Eltern unter einem Dach, und es dauerte ziemlich lange, bis das rätselhafte und andauernd wiederholte Tun mir seinen Sinn verriet.
Das Kind war in seiner intellektuellen Entwicklung keineswegs voreilig, es sprach mit 1 Y2 Jahren erst wenige verständliche Worte und verfiigte außerdem iiber mehrere bedeutungsvolle Laute, die von der Umgebung verstanden wurden. Aber es war in gutem Rapport mit den Eltern und dem einzigen Dienstmidchen und wurde wegen seines »anstindigen« Charakters
89
gelobt. Es störte die Eltern nicht zur Nachtzeit, befolgte ge-
wissenhaft die Verbote, manche Gegenstände zu berühren und in gewisse Räume zu gehen, und vor allem anderen, es weinte nie, wenn die Mutter es für Stunden verließ, obwohl es dieser Mutter zärtlich anhing, die das Kind nicht nur selbst genährt, sondern auch ohne jede fremde Beihilfe gepflegt und betreut hatte. Dieses brave Kind zeigte nun die gelegentlich störende Gewohnheit, alle kleinen Gegenstände, deren es habhaft wurde,
weit weg von sich in eine Zimmerecke, unter ein Bett usw. zu
schleudern, so daß das Zusammensuchen seines Spielzeuges oft keine leichte Arbeit war. Dabei brachte es mit dem Ausdruck von Interesse und Befriedigung ein lautes, langgezogenes 0-0-0-0 hervor, das nach dem übereinstimmenden Urteil der Mutter und des Beobachters keine Interjektion war, sondern >»Fort« bedeutete. Ich merkte endlich, daß das ein Spiel sei, und daß das Kind alle seine Spielsachen nur dazu benützte, mit ihnen »fortsein« zu spielen. Eines Tages machte ich dann die Beobach-
tung, die meine
Holzspule,
Auffassung
die
mit
einem
bestitigte. Das
Bindfaden
Kind
umwickelt
hatte eine
war.
Es
fiel
ihm nie ein, sie zum Beispiel am Boden hinter sich herzuziehen,
also Wagen mit ihr zu spielen, sondern es warf die am Faden gehaltene Spule mit grofem Geschick über den Rand seines verhingten Bettchens, so daß sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles 0-0-0-0 und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begriifite aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen >Da«. Das war also das
komplette
Spiel,
Verschwinden
und
Wiederkommen,
wovon
man zumeist nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde fiir sich allein unermiidljch als Spiel wiederholt, obwohl
die groflere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing. Die Deutung des Spiels lag dann nahe. Es war im Zusammenhang mit der großen kulturellen Leistung des Kindes, mit dem
von ihm zustande gebrachten Triebverzicht (Verzicht auf Triebbefriedigung), das Fortgehen der Mutter ohne Striuben zu ge-
statten. Es entschidigte sich gleichsam dafiir, indem es dasselbe Verschwinden und Wiederkommen mit den ihm erreichbaren Gegenstinden
selbst
in
Szene
setzte.
Fiir
die
affektive
Ein-
schitzung dieses Spieles ist es natiirlich gleichgiiltig, ob das Kind es selbst erfunden
99
oder
sich infolge
einer
Anregung
zu eigen
gemacht hatte. Unser Interesse wird sich einem anderen Punkte zuwenden. Das Fortgehen der Mutter kann dem Kinde unmöglich angenehm oder auch nur gleichgültig gewesen sein. Wie
stimmt es also zum Lustprinzip, daß es dieses peinliche Erlebnis als Spiel
wiederholt?
Man
wird
vielleicht
antworten
wollen,
das Fortgehen müßte als Vorbedingung des erfreulichen Wieder-
erscheinens gespielt werden, im letzteren sei die eigentliche Spielabsicht gelegen. Dem würde die Beobachtung widersprechen,
daß der erste Akt, das Fortgehen, für sich allein als Spiel in-
szeniert wurde, und zwar ungleich häufiger als das zum lustvollen Ende fortgeführte Ganze. Die Analyse eines solchen einzelnen Falles ergibt keine sichere Entsdleidung;
bei
unbefangener
Betrachtung
gewinnt
man
den
Eindruck, daß das Kind das Erlebnis aus einem anderen Motiv zum Spiel gemacht hat. Es war dabei passiv, wurde vom Erlebnis betroffen und bringt sich nun in eine aktive Rolle, indem es dasselbe, trotzdem es unlustvoll war, als Spiel wieder-
holt.« (84)
Gerade dieses Beispiel aus einem bereits fortgeschrittenen Stadium der Mutter-Kind-Dyade deutet auch an, wie ın der Generalisierung schon jene ersten Ansätze einer Verselbständigung der Interaktionsform gegenüber der konkreten Dyade erfolgen im Zuge der Entwicklung der Aktivität des kindlichen Organismus, Reizkonstellationen selbst herzustellen (ein Verhalten, das — wie einer mißverständlichen Abtrennung menschlicher Entwicklung von tierischer auf dieser Phase entgegenzuhalten ist — bekanntlich auch bei spielenden Haustieren beobachtet werden kann). Aktivität erwächst unmittelbar aus dem Interaktionsspiel in Übernahme der Funktion des »alter« dadurch, daß senso-
rische Wahrnehmung
und motorische Aktivitäten paral-
lelisiert und damit zentral-nervös kurzgeschlossen werden.
Daß dieses Spiel aber kein monadisches ist, das hat Freud
schon
klargestellt,
indem
er auf die
Identität
der
zum
Verschwinden gebrachten Garnrolle mit der verschwindenden Mutter hinwies.
3. Einen weiteren wichtigen Punkt zeigt Piaget auf: »Daß o1
diese Prozesse sich in derselben Form auf den Entwicklungsstufen ... wiederfinden«. »Entwicklungsstufen« besagt für unser Verstindnis zunichst einmal: Es gibt in
der
Entwicklung
Organisationspunkte,
an
denen
die
Differenzierungen, die wir eben erértert haben, ihre Form
finden, und in denen die sich allmihlich ausprigenden Positionen von Ich und Nichtich etappenartig aus der sich auflGsenden Zweieinigkeit der Mutter-Kind-Dyade herauswachsen. Noch kann ja nicht die Rede sein von einer definitiven Aufspaltung in Subjekt und Objekt im Sinne menschlichen Bewuftseins, dem sich die einander entgegengesetzten Pole verselbstindigt hitten zu vergegenstindlicht erfahrenen Einheiten. Noch sind auch ego und alter nicht iiber die Beziehungsgliederung, die auch
das Tier besitzt, hinausgewachsen. Wir miissen daran fest-
halten, daß dieser entscheidende Schritt erst mit der Einfiihrungssituation von Sprache und ihren Folgestufen einsetzt.
Des weiteren wird in der Phase der priverbalen Einiibung von Interaktionsformen eine Integrationsleistung vollbracht, auf die ebenfalls Piaget schon hingewiesen hat: Die in der Interaktion jeweils in den verschiedenen Reaktionen angesprochenen unterschiedlichen motorischen, taktilen, wie auch
akustischen Reizkombinationen miissen verschmolzen werden.
Piaget schreibt dazu (wobei wir freilich Zuriidkhaltung iiben
missen in der Ubernahme »Weltbild«, »Werte«):
von Begriffen wie »Bedeutungs,
»In der Folge kniipfen sich Beziehungen zwischen Sehen und Saugen, dann zwischen Sehen, Greifen, Fiithlen und kinisthetischen Eindriidken usw. Diese Koordinationen zwischen verschiedenen Sinneseindriicken und diese zusammenfassende Verarbeitung heterogener Schemata verleihen den visuellen Bildern immer reichere Bedeutungen und entbléfen die Assimilation des Gesichtssinnes ihres Selbstzwedkes und machen aus ihr ein Werkzeug im Dienst einer umfassenderen Assimilation...
Diese progressive 92
Organisiertheit
verleiht den
Sehbildern
Bedeu-
tung ein.
und
Festigkeit
und
ordnet
sie in ein
umfassendes
Weltbild
Vom Standpunkt der funktionalen Kategorien des Denkens, die fnit den biologischen Invarianten der mentalen Entwicklung identfsch sind, dürfte es interessant sein festzustellen, in welchem
Maße
innere Organisation hier wie überall Quelle und Ursprung heitlicher Strukturen und Werte ist.« (85)
diese
ganz-
Piaget selbst übersieht übrigens die Problematik von idealistisch verdächtigen Begriffen wie »Bedeutung« nicht, wenn er sıch von Charlotte Bühler abgrenzt:
»Derartige Verhaltensweisen übertreffen bei weitem die lfloße Koot'-
dination von Stellung und Saugtitigkeit. eigentliches Wiedererkennen
Implizieren sie doch ein
visueller Bilder und setzen voraus, daß
diese Bilder in bezug auf das Saugschema mit Bedeutung ge!.aden sind. Folgt daraus, daß die Saugflasche usw. schon »Gegenstindec fir
das
Kind
darstellen,
wie
Frau
Biihler
es
annimrrft?
(A.zf.O.
S. 18) Wir würden es nicht wagen, so weit zu gehen (1r.n zweiten
Band werden wir unsere Gründe angeben). Sensorische Bilder können wiedererkannt werden und eine Bedeutung erhalten, ohne deswegen den Charakter der substantiellen und räumlichen Permanenz, die mit dem Objekt verbunden ist, anzunehmen. Wir würden aber
zugestehen, daß diese Bilder vom Kinde als »draußen« liegend wahr-
genommen werden, d. h. sie werden in ein kohirentes Geflige vGegebenheit
»EWEIA 95Qq« :I0JEMIPEIT uoneniig ~EWEB[-»95Qq «
|
EWENN :JoieyIprid '] dpuaiaLnIsnij-iey
EWEIN JOITYIPRIJ uonyeIau] "palijaq-puapuddsowiem
(uonyeiaiuy Jap 23nja0) SdANENIIS)
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(z)
(£)
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e 1yund3raz 3uniapar)n IaPI[315Z Ul wnnun -uoy] saualjedsadyneun uonemispunic) (1) (uonayesaiuy I9p S[EWYIIN)
(332/qos3unyarzag ap1o]3 syne ua30zaq) USUONIENIIG SPUSIALIISNIF-3[es] pUn Ipuspuadsawragp :£ vwdipeied :E 0221y
Die Verbindung »liebe und böse Mama« läßt sich, wie leicht ersichtlich,
nicht mit
Hilfe
der
Prädikation
allein
iın einen
Begriff bringen. Eben dazu bedarf es jener von Lorenz als »Regulation« beschriebenen zusätzlichen Sprachhandlung, die den
Gebrauch
mehrerer
Prädikatoren
voraussetzt.
Es
ja am selben Objekt die eine Bedeutung von »Mama«
muß
mit
der anderen Bedeutung von »Mama« verbunden werden — in einer Verbindungsleistung, die nicht unabhängig von der Auseinandersetzung in realen Interaktionen erfolgen kann.
Beide Vorgänge stellen Grundlinien dar für den Aufbau von Sprache als Aufbau von symbolischen Repräsentanzen, sie laufen auf folgendes Ziel zu: SkiZZe
4°
symbolische Interaktionsform symbolische
Subjektrepräsentanzen
symbolische
Objektrepräsentanzen
I11.4
Benutzen wir die Gelegenheit, auch noch allerletzte ide:illistische Mißdeutungen unseres Verständnisses von Interaktion abzuwehren, indem wir die Einführung von Sprache auf die Ebene der zentral-nervösen Vorgänge im Kind projizieren.
Einführung von Sprache auf der Basis von Interaktionsformen läßt sich auf der Ebene zentral-nervöser Prozesse
folgendermaßen beschreiben: Bestimmten sensorischen Engrammen und motorischen Verlaufsschablonen tritt der senso-
risch-motorische Komplex von Impulsen, die einem bestimm-
ten Lautgebilde, dem Wort, zugehören, hinzu. Letztere werden zum abrufbaren Stellvertreter der zentral-nervösen Schaltung der Interaktionsform. Das Verfolgen dieser Vorgänge als zentral-nervöse Abläufe hilft uns, das Verständnis der Symbolfunktion des Wortes zu verfeinern: Es wäre irreführend, im Lautengramm allein das organische Substrat des 10§
Symbols zu sehen. Grundlage des Symbols ist vielmehr die engrammatisch fixierte Beziehungsstruktur beider Komplexe. Zum Symbol gehören also gleichermaßen die sensorischen
Engramme
der Interaktionsform, die für sich allein so wenig
»Symbolqualität« haben wie die dazugehörigen motorischen Schaltungen. Erst die Kombination der Schaltungen zusam-
men bildet jenes zentral-nervöse Gefüge, das sich als Symbol
zu verselbständigen vermag.
Einigung auf Interaktionsformen basiert auf den zirkulären Prozessen sensorischer Reize und motorischer Reaktionen. Der
ursprünglich spinale Reflexbogen steigt in der Ontogenese mit der Reifung der zentral-nervösen Organisation bekanntlich auf zu einem zerebralen Gefiige von Verbindungen sensorischer und motorischer Zentren. Die zerebralen Verbindungen bilden sich abhingig von realer Interaktion im Zuge der Einigung
auf
—
allemal
bestimmte
d. h. stimulierte Wahrnehmungen
—
Interaktionsformen,
mit den dazugehorenden
motorischen Entladungen. Die als Interaktionsform bezeichnete Einheit von sensorischen und korrespondierenden moto-
rischen Schemata existiert ja immer nur als Funktionskomplex realer Abliufe. Der Deutlichkeit halber soll diese strikte Abbingigkeit der Interaktionsform von realer Interaktion in
der Einklammerung
I + If)
ausgedriickt werden. Wenn wir, davon ausgehend,
die Einführung
eines Wortes
— als »Grundpridikation« — formulieren, so kann die Formel angesichts unserer Grundthesen, daß in den allerersten Pridikationen das Wort auf Interaktion verweist, deshalb nur lauten: Wort + (I + If) oder genauer
jeweiliger Lautkomplex (Lautwahrnehmung bewegung)
+
L + (I + If 106
(I
+
If), d. h. abgekiirzt:
+
Laut-
Nun gilt für den Lautkomplex dasselbe wie für den Wahrnehmungs- und Bewegungskomplex: Das jeweilige gesproche-
ne Wort »L« bildet eine zentralnervöse Schaltung in einer bestimmten Form: Lf. Auch hier gilt die Einklammerung: (L + Lf) Genau genommen treten also Wort und Handlung in folgender Weise zusammen:
(L + Lf) + (If +I)
Diese Formel kennzeichnet die Einführungssituation des ersten Prädikators. Mit Hilfe dieser Formel läßt sich der Weg der
Verselbständigung des Handlungsentwurfs »If« von unmittelbarer zwingender Abhängigkeit von der Situation »I« folgendermaflen skizzieren: (L + Lf) geniigen, um als sensorischer zu Reiz »If« auch in Abwesenheit der situativen Reize »I« evozieren:
von Wort (L+Lf) treten, sobald die Zusammengehdrigkeit sensoneue als ist, und Handlung nur geniigend eingeiibt situativen des anstelle vermögen, es die rische Reize an »If«,
Wahrnehmungsreizes den Interaktionszirkel auszuldsen: d. h. also (L + Lf + If) produzieren Wahrnehmungen, Hankorrespondieren.de das ihrerseits »Vorstellungen«, die Realisierung: angemessenen einer deln abrufen in Erwartung
(L + Lf + If) > I
freilich An dieser Stelle der Überlegungen drängt si & nun dieser auf geht ist, erkennen zu leicht ein Einwand auf: Wie Stufe der Neugewinn des Lautkomplexes »Wort« niChf ü?er
die von der Untersuchung der Tiere wohlbekannte Em.fuh-
dieser rung eines Signals hinaus. Mit anderen Worten, auf nur Wort das nimmt Worteinführung der Stufe allerersten
die
Funktion
wahr,
die
präverbale
Gesten
schon
längst
haben: (S + If) > I Unsere Annahme, damit die im Modell der Einführung von Prädikatoren gemeinte besondere menschliche Leistung gefaßt zu haben, war also voreilig. Immerhin war diese Voreiligkeit
insofern fruchtbar, als sie uns auf die Vorginge, aus denen
107
die Prädikation herauswächst, aufmerksam machte mit der Frage: Worin unterscheidet sich der Gewinn der Grundprädi-
kation von der präverbalen Einübung von Signalen? Worin unterscheidet sich symbolvermitteltes Operieren vom Signal-
ausgelösten Verhalten der Tiere? Um gegen vorschnelle Annahmen geschützt zu sein, müssen wir zunächst freilich die Gemeinsamkeiten notieren, die menschliches Verhalten am Ansatz der Einführung der Prädikatoren mit tierischem Verhalten, das der Formel S
+
If —>
I
folgt, verbindet. Dabei werden wir, in Abwehr idealistischer Miflverstindnisse des Begriffs »If«, die Sachlage auf der Ebene zentralnervéser Schaltungen verfolgen, werden deshalb die Interaktionsformeln auf ihre neurophysiologische Basis, und
Dabei
d.
h.
auf
»Interaktionsengramme«
entschwindet
unserem
Blickfeld
(»IE«)
reduzieren.
freilich vorübergehend‚
daß wir If als ein Moment individueller Sozialisation eines »bestimmten« Kindes verstanden haben, um die Sozialisationsdialektik konkret (und nicht generalisierend-abstrakt) auch auf dem von uns eingenommenen Niveau »stilisierender« Betrachtung zu bewahren. Mit der Formel IE miissen wir vortibergehend von der Bezogenheit von If zu dem im — stets — subjektiven Bildungsprozef bestehenden konkreten Sinnzusam-
menhang dieses Subjekts in dieser Gesellschaft abstrahieren.
I?ie Vorgänge in der Einführungssituation sich in neurophysiologischer Perspektive Der sensomotorische Komplex »LE« der nehmung verkniipften Wahrnehmungs-
gramme
von Sprache lassen so charakterisieren: mit der Lautwahrund Bewegungsen-
geht eine Verbindung mit den Interaktionsengram-
men ein und provoziert unabhingig von realen Auflenreizen Interaktionen. Eben dies gilt aber auch fiir signalbestimmtes Verhalten. Ist ja von den Tierbeobachtungen her wohlbekannt, daß Signale
zur Abrufung von Interaktionsengrammen führen, eine Such-
bewegung auslösen, um eine befriedigende situative Erfiillung
der in Gang gesetzten Erwartungen herzustellen. 108
Für Signale
dasselbe: Von
wie
auch
für Sprachlaute
gilt also beidemale
S bzw. L her wird ein If ausmachendes
Inter-
aktionsengramm IE in Gang gesetzt. Dieser Komplex dringt auf Realisierung in konkreter Handlung. Wir konnen dies so zum Ausdruck bringen: Die Aktivierung von Lautengrammen (»LE«) im Signal fiihrt iiber die Verbindung von LE + IE zur Handlung. Abgekiirzt: L > (LE + IE) > I Im symbolvermittelten wie auch im signalgesteuerten Verhalten kann die Beziehung auf reale Interaktion dadurch gelockert werden, daß L (oder andere Gesten) sich über Lautengramme mit Interaktionsengrammen so verbinden, daß gelten kann
L > (LE + IE)...... I?
der Nur, wihrend beim Signal die wiederholte Abkoppelung
realen Interaktion zu einer Vernichtung von S führt, vermag L als Symbol diesem Schicksal werden evozierbar, auch wenn
zu entgehen. Vorstellungen die dazugehorige Situati?n
immer wieder ausfillt. Wir konnen, um ein grobes Beispiel anzufithren, an »Situationen«, die wir nicht erreichen‚. über oft eine nicht genau abschätzbare lange Zeit hinweg beliebig denken.
Damit
stellt
sich
die
Wie
Frage:
ibersteigt
das
offenbar menschliche Lebewesen jene Grenze, die den Tieren Syn_lzum L gesetzt ist? Wie wird der Signalcharakter von bolcharakter?
Anders
ausgedrückt:
Was
unterscheidet .dle
Zuordnung von Signalen von der Zuordnung von Prädikatoren?
Halten wir fest, für Signale wie für Symbole gilt: das die
Verselbständigung begründende Moment liegt in der Verbindung der Lautengramme mit den Interaktionsengrammen,
d.h.
in den
engrammatisch
fixierten
Beziehungsstrukturen
beider Komplexe. Dieser Sachverhalt wird bei sprachlichen Lebewesen offensichtlich kompliziert, wie sich leicht zeigen läßt, sobald man sich die beiden Besonderheiten des Sprachaufbaus, die wir
unter den Stichworten »Aufgliederung« und »Identitätenbil-
109
dung« vorgestellt haben, gleichfalls auf der neurophysiologischen Ebene verdeutlicht, Auf dieser Ebene ergibt sich die folgende Skizze von »Aufgliederung« versus »Identititsbildung«, wobei der Vereinfachung wie der Deutlichkeit halber nur Stufe I (Kon-
tinuum) und Stufe 3 (Subjekt-Objektspaltung) gentibergestellt werden: Skizze 5: Aufgliederung Stufe ı
LE + IE
Stufe 3
(LEa + IEa)
Skizze 6: Identitdtsbildung Stufe 1
(LE + IEa)
Stufe 3
einander ge-
(LEb + IEb) usw-
(LE + IEDb)
LEsyst. — LE ((LE + IEa) + (LE + IEb))
Während die Formel der »Aufgliederung« sich wohl ohne Schwierigkeiten lesen 148t — auf der Stufe 3 stehen verschiedene Komplexe (LE + IE) vereinzelt nebeneinander, verbun-
den durch die gemeinsame Abkunft aus einer einheitlich-um-
fassenden benannten
Interaktionsform —, bedarf die Formel
hungen
den
der Identititsbildung der Erliuterung. Die Aussage der Verklammerung diirfte dabei einigermaflen klar sein: es miissen verschiedene, unvereinbare (LE — IE)-Komplexe miteinander verbunden werden. Diese Verschmelzung ist nun freilich nicht denkbar ohne jene differenzierende Verinderung der Bezievon LE
zu
verschiedenen
Interaktionsengram-
men, die demselben Wort (»Mama«) zugeordnet werden. Die unterschiedlichen
bilden 110
Beziehungen
unterschiedliche
von
LE
»Bedeutungen«.
zu
verschiedenen
Eben
dies
IE
gilt erst
recht für das umfassende LE vor der Klammer,
derspruch, den es in der Identität von »Mama«
gilt, nur im Zusammenhang
mit dem
das den Wi-
zu erfassen
entfalteten System
der
LE insgesamt zu lösen vermag. Der Vergleich von Skizze 4 und 5 macht klar, daß bei der Aufgliederung die Reichhaltigkeit der Welterfahrung in im-
mer neuen unterschiedlichen Szenen erschlossen wird; auf der
Basis der vorhandenen Prädikation werden immer neue Unterschiede an der Realität aufgezeigt, womit die Welt als Kosmos von Interaktionen (d.h. Beziehungen) und Gegenständen (d.h. Knotenpunkten von Beziehungen, Vergeget?ständlichungen) erfahren wird. Die Bildung von »Identitäten« dagegen zielt auf eine Schichtung der inhaltlich zunehmend komplexer werdenden Identifizierung gegenständlicher Interaktionen, sie zielt auf ein und denselben Knotenpunkt der Beziehungen. Damit wird eine Verflechtung der / / Engramme in zunehmender Netzbildung möglich.
d.1fEine genauere Analyse zeigt deutlich, daß beide Weisen ferenzierenden
Aufbaus
die Sprachhandlungen benutzen.
des Symbolsystems,
der Pridikation
das Sprache }St,
und der Regulation
So miissen beidemale in realer Interaktion Unter-
schiede als vermittelbar und Widerspriiche als unvermittelbar
aufgezeigt werden. daß gegensitzliche
Identititsbildung gelingt eben dadurd, Interaktionsformen auf ein zunehmend
einheitlicher werdendes
»Objekt«
bezogen werden — realem
Interagieren mit eben diesem »Objekt« entsprechend. Umgekehrt muß die formale Gleichartigkeit von »liebe Mama«
und
»lieber Papa«
z.B. aufgegliedert werden, indem, der.n
realem Widerspruch von minnlich zu weiblich gemäß, Unvereinbarkeit der Pridikation »Mama« und »Papa« nehmend herausgearbeitet wird.
die zu-
»Aufgliederung« wie »Identititenbildung« machen sich dabei jene, Sprache auszeichnende Moglichkeit zunutze, ein hierar-
chisch gegliedertes System von sekundir, tertidr usw. übergreifenden Symbolen aufzubauen. Die Differenzierung von
»Mama«
und
»Papa«
kann
nur gelingen, weil und indem
III
zugleich mit »Mama« versus »Papa« »Mama und Papa« zur Verfügung gestellt wird (man erinnere sich Sartres illustrativer Formel »Karl und Mami« in Die Wörter). Der
Ein-Wort-Satz
»Mama«
wird mit der fortschreitenden Prä-
zisierung der Interaktionsszene (als »reales« Gegenüber von bestimmtem Kind zu bestimmter, umschriebener Mutter)
zum »Satz«. Die Interaktion wird zur gegliederten Szene, die als sprachlich begriffene Szene mit anderen sprachlich begriffenen Szenen in vielfach geschichtetem Symbolgefiige verbunden ist. Die biologische Grundlage dieses Symbolgefiiges gen
ist in den
zwischen
engrammatisch
den
Lautengrammen
keltem Symbolsystem
in den
fixierten zu
Querverbindun-
suchen.
griindet das Einzelsymbol
Querverbindungen
LE-IE
plexen LE (LE-IE). Kurz
wie
auch
Bei
entwik-
mithin stets
in den
Kom-
gesagt, symbolvermittelndes Han-
deln beruht im Gegensatz zu signalgesteuertem auf der Fahigkeit der Lautengramme, ein in sich gegliedertes Netz von Beziehungen eingehen zu können und zwar nicht nur zwischen der
Beziehung
von
LE
und
IE,
sondern
auch
zwischen
den
LE, deren Verbindung sich als Relationsengramm niederschlagt. Auf diesen engrammatisch fixierten Verbindungen
aber basiert die Méglichkeit der sprachlichen Wesen (also der
Mens.chen),
vom
signalgebundenen
Verhalten
zum
symbol-
ve.rmlttelten Handeln, zum Symbolgebrauch aufzusteigen:
Die Ablösung
der verbalen
Signalsysteme
aus unmittelbarem
Interaktionszwang verdankt sich der Systematisierung der Lautengramme, ihrer Fähigkeit, Beziehungen aufsteigender Komplexität
aufzubauen
rufbereit zu halten.
und
in zerebralen
Schalzungen
ab-
Der Mensch sprengt damit den Rahmen, der für Signalsysteme der Tiere gilt. Dort hatten wir zwei Möglichkeiten
zwar schon gesehen: Die Fähigkeit der Stellvertretung von Lautengrammen für Interaktionsengramme (das Signal kann die organismischen Reaktionen unabhängig von Außenreizen in Gang bringen) und die Fähigkeit, auf Signale hin aktiv in die Situation vorzustoßen, um die Entsprechung real einzu112
holen. Interaktionsengramm und Interaktion sind durch Zwischenschaltung von Signalen (z. B. Lautengrammen) vorläufig
situationsunabhängig, bedürfen jedoch der Bestätigung durch
reale Interaktion, soll nicht das Lautengramm als Signal erlöschen. Beim Menschen dagegen sehen wir: Wenn Lautengramme als
ein systematisch gegliedertes System aufgebaut sind, verzögert sich die Bindung an die Real-Situation deshalb, weil über das Netz der Lautengramme eine damit zusammenhängende Reihe wird.
gramme
von Bei
verschiedenen Interaktionsengrammen abgerufen ausgereiftem System bedeutungsvoller Lauten-
werden
und motorische
damit
zugleich
unterschiedliche
sensorische
Impulse mobilisiert — so z. B. widerspruchs-
volle Vorstellungen.
Freilich erweist sich das nicht nur als
Möglichkeit der Situationsfreiheit, sondern wiederum auch als Zwang: das von einem Lautengramm (z. B. zufällig produ-
zierte) Interaktionsengramm wird — außer in den Fä_llen Pathologischer Störung — zu einer Aktivierung des mit ihm verbundenen Interaktionsengramms führen. Der Betreffende muß sein Verhalten mit den relevanten Interaktionsformen abstimmen. Ein auftretender Widerspruch arretiert entweder den motorischen Impuls und wird zum Nachdenken führen, oder aber er blockiert die Interaktion. Das Nachdenken
vermag eventuell eine neue, bisher ungebahnte Verbi.ndt.mg
von Bedeutungen herzustellen; die mittlere Möglichk_elt sind UmgeWichtungen im Abwägen von Handlungsanweisungen,
wobei das Stichwort »Handlungsanweisung« uns daran erinnert, daß wir das bedeutungsvolle Lautengramm immer als einen Komplex
(LE + IE)...I
zu denken haben. Die vollstindigere Formulierung muß, wie uns schon die Vorgänge bei der Bildung von Identitäten ge-
zeigt haben, lauten:
LEsyst. - LE (LE + IE)...I
Aber auch diese Formel
nicht nur
ist noch zu dürftig. Anzumerken
die, metasprachliche
Operationen
ist
ermöglichende,
113
Vielschichtigkeit
über
der
»Basis«
der
Objekt-bezogenen
Komplexe (LE + IE), sondern auch die Rückbezogenheit auf
das gesamte System der »(LE
+
IE) ... I«-Komplexe. Zu
‚.beachten ist nämlich, daß sich die realisierbaren Interaktionen
im Gefüge eines Handlungssystems, dessen Sprache das Kind lernt, bilden. Demnach gilt:
Skizze 7:
LEsyst. — LE (LE + IE)...I-1 (syst)
|
IE (syst)
Diese Ausschreibung soll den Sachverhalt formulieren, 1. daß das System der bedeutungsvollen Lautengramme an keiner Stelle unabhingig von realen Interaktionserfahrungen steht (welche deformierten Verarbeitungen auch 2.
ımmer den Zusammenhang verschleiern mdgen),
daß — und dies ist der wichtigste Punkt — das System der bedeutungsvollen Lautengramme aufgrund der Verkniipfung von (LE- IE) ein System der Modelle enthilt, die den Raum der realen Interaktion als ein zusammenhingendes Gefiige systematisch intendierbarer Welt erscheinen läßt. Die unablissige Priifung dieses Scheins in praktischer Bewihrung der Interaktionsformen ist dabei als stindiger Test notwendig.
HIL 5 Die Präzisierung der Sprachsymbole in der Formel LEsyst. — LE (LE + IE) ...I-I (syst) | L IE (syst) erlaubt es, auch das Problem des Unterschiedes diskursiver Symbole zu prisentativen aus dem Himmel idealistischer Annahmen herunterzuholen. Um den Unterschied kurz zu umreiflen: Prisentative Symbole (90, 91) werden jene Symbolformationen genannt, die, wie z. B. die Musik, ihre Gehalte nicht nach Art der gegliederten, ein festes Vokabular be114
nutzenden Rede zum Ausdruck bringen. Präsentative Symbole
_ so Langer
— artikulieren
symbolisches
Schema
als
die
»Dinge,
die
diskursive
durch
ein
Sprache
anderes
begriffen
werden müssen«.* Wohlverstanden, nicht als Signalement von Empfindungen, wie es der Klagelaut eines Tieres, das Schmerz empfindet, ist, sondern als »logische Formulierung« (92) eines
Erlebnisses ist die prisentative Symbolik anzusehen. »Wenn Musik iiberhaupt einen Sinn hat, so ist dieser semantisch und
nicht symptomatisch.« (93) Diese
wenigen
eigentiimliche
Hinweise
Nihe
diirften
schon
des dargestellten
ausreichen,
Sachverhaltes
eine
um
zu der
Einfiihrungssituation von Sprache anzudeuten. Zumindest gilt
dies in folgender Weise: In beiden Fillen wird ein Erlebnisge-
halt in einen Begriff gebracht. Pridikation wie auch Bildung eines prisentativen Symbols lassen sich, wie die Langersche
Bemerkung von der logischen Formulierung ausdriicklich sagt, auf
Nenner
gleichen
stellen;
beide
bringen
Sprachloses
zur
finSprache. Beide Male läßt sich eine »dialogische Struktur«
den, innerhalb
derer ein Partner
(z. B. der Kiinstler)
einem
anderen (etwa dem Kunstbetrachter) etwas zeigt, und zwar
auf Interaktion) (folgt man meiner Grundthese vom Zeigen wird. . pridiziert der als Zeigen auf einen Erlebniskomplex,
Ob der Erlebniskomplex im Falle der Kunst Interaktion Meint, wird zu prüfen sein. Zunächst wollen wir erst e.inmal die deutlichsten Ungereimtheiten der Vergleichung notieren: Wihrend bei der Spracheinfithrung der Name einem bestehenden Vokabular entnommen wird, die Interaktionsform beim Benennen,
wie
dargestellt,
ihre
ausdriickliche
Verfestigung
erhilt, meint die prisentative Symbolbildung offensichtlich die Neueinfiibrung einer Darstellungshgur, die ein noch ungekanntes Erleben artikulieren soll. Jedoch, weit sind wir von
der Lage
bei der Spracheinfiihrung
nicht entfernt,
* Dies trift nach Langer auch durchaus fiir die Poesie zu; zwar bewegt diese sich in verbalen Formen, aber ohne sich in der Aufgabe, auf reale
Qbiekte zu dcuten, zu erschöpfen. Die Bedeutung der Sprache des Dichters ist vielmehr auch in der Artikulation von Erlebnissen zu suchen.
11§
wenn wir berücksichtigen, daß bei der Benennung zwar stets immer die gleichen Vokabeln (so »Mama«) benutzt
werden, diese aber jedesmal neu für neue Sachverhalte angesetzt werden müssen; geht es ja doch um Interaktionsformen, die als Ergebnisse einer konkreten Dialektik zwischen der
Mutter und dem Kind sich entwickelt haben. Sieht man bevorzugt diese Seite des Neuanfangs, dann verblaßt der Unter-
schied zwischen ritualisierter Vergabe eines Namens und der
Artikulation neuer Empfindungsstrukturen durch Kunst. Offensichtlich handelt es sich beide Male um NeueinführungAllerdings, in der Mutter-Kind-Dyade wird ja Sprache neu an das Kind herangebracht, die Neuformulierungen präsentativer Symbole dagegen wenden sich ganz offensichtlich an längst in Sprache einsozialisierte Erwachsene. Zumindest da besteht unbedingt eine polare Lage. Und noch in anderer Hinsicht ist die Entgegensetzung deutlich: Die dialogische Situation der Spracheinführung ist eine strikt duale, während
Kunst (auch wo sie der Mitteilung zwischen zwei Menschen dienen mag) stets den größeren Rahmen einer Sprachgemeinschaft (einer geschlossenen Kultur oder einzelner Subkulturen) hat. Denn auch der einsame Poet dichtet für ein Publikum.
Zu
fragen
ist, ob nicht eben
diese Spiegelbildlichkeit
in
doppelter Hinsicht ein Indiz abgibt. Versuchen wir folgende Konstruktion: Im Falle der Mutter-Kind-Dyade steht
die Sprachgemeinschaft fest als ein stabiler Rahmen fiir die Erlebnisse des einzufiihrenden Individuums. Im anderen Falle dagegen wird offensichtlich eben dieser Rahmen infrage gestellt. Diese Deutung der Kunst als einer kollektiven Auseinandersetzung kdnnte zusitzlich auch begreiflich machen, weshalb in der Mutter-Kind-Dyade ein Vokabular, in der Kunst dagegen notwendig eine nicht-diskursive, nicht auf feste Begrifte bezogene Kommunikation angemessen ist. Wenn
wir den Unterschied
in der Polaritit von
Einpassung
kindlichen Erlebens in die Formen einer bestehenden Sprachgemeinschaft versus Auflésung der gebriuchlichen Formelemente unter Beriicksichtigung von nicht artikulierten Erleb116
nissen annehmen,
so wird deutlich, daß der eine Vorgang,
nämlich der in der sekundären Sozialisation ablaufende Pro-
zeß der künstlerischen Auseinandersetzung, offensichtlich der Tendenz
des anderen
(in primärer
Sozialisation
angelegten)
Prozesses zuwiderläuft. Festigt jener, so löst dieser auf; was dort stabil ist, wird da nicht nur infrage gestellt, sondern erneut und verändert beantwortet.
Hat diese Polarisierung nun aber tatsächlich ihr Fundament gemeinsam in demselben Sachverhalt, in Interaktion? Zweifellos wäre es gerade hier am Platz, in materialer Analyse den Nachweis zu führen. Ich muß mich mit einem Hinweis
auf die Identität des Gegenstandes begnügen, der nicht mehr leistet, als diesen Sachverhalt in toto der Grundthese der hier vertretenen Sozialisationstheorie einzugliedern. Die Fig}n‘en der Emotionalitit sind genetisch immer Abkommlinge jenes dialektischen Prozesses, den ich als »Formbestimmung von
Interaktion im realen Interaktionsverlauf der Mutter-Kind-
Dyade« ausgewiesen habe. Wenn prisentative Symbolbildung — abgekiirzt also »Kunst« — Emotionalitit artikulieren soll,
heißt dies im hier entwidkelten Verstindnis: sie bringt Inter-
aktionsformen in allgemein-vereinbarten Formen zur Dar-
stellung. Prisentative Symbolbildung als Prozefl der Verstindigung eines oder mehrerer Individuen oder einer Gruppe mit ihrem Publikum (das im Extremfall mit dieser Gruppe
durchaus zusammenfallen kann und der totalen Privatspra.ch.e E.unin psychotischer Isolierung sich anzunihern vermag) ist
gung über Interaktionssymbole, genauer: gemeinsam verbindliche Formulierung von bis dahin unbegriffenen, weil aufler-
halb des Konsens stehenden Verkehrsformen. Damit haben wir zwei Merkmale des Prozesses beriihrt, die noch kurz auseinandergefaltet werden sollen: / entBediirfnis kollektiven einem I. Wenn diese Einigung
spricht,
so muß
offensichtlich eine
Verschiebung
gegen-
über der Lage zur Zeit der primiren Sozialisation vorgefallen sein. Das Feld der damals angemessenen Dialektik
muß sich verschoben haben. Das beriihrt den Sachverhalt 117
des »kulturellen Wandels« auf der Basis von Veränderungen der objektiven Lage im Geschichtsprozeß. Was immer dem zugrunde liegen mag, Fortschritte der Auseinandersetzung des gesamtgesellschaftlichen Subjektes mit äußerer Natur, Anderung der Verkehrsformen der Sprachgemeinschaft,
schaft
die
ist, Veränderung
ja
der
zugleich
Interaktionsgemein-
Bedürfnisstruktur
aufgrund
veränderter Produktionsverhältnisse usw. — allemal erwächst dieser Drang zur Neuformulierung einsozialisierter und ins Bewußtsein gebrachter Interaktionsformen aus der Dialektik zwischen den Polen des körperlichen Bedarfs, d. h. der Triebbedürfnisse der einzelnen, und der gesell-
schaftlichen Praxis. 2. Die Neubestimmung
geschieht als neuerliche Einigung -
was darauf deutet, daß der Verstindigungsprozefl »tiefer«
greift, hinter die Lage der Einfithrung von Sprache zuriickgeht. Die schdpferische Regression (94) des Kunstpro-
zesses hat nicht-artikulierte Interaktionen in neue Bewufltseinsfiguren einzufideln, iiberschreitet also zumindest insofern die Schwelle der Einfihrungssituation, als sie
damals-nicht-anerkannte Interaktionsformen in den allgemeinen
Konsens
einholt. Das gibt uns zu bedenken,
was
ohnehin nicht iiberraschend ist: Die im Sprachaufbau legitimierten Interaktionsformen werden nicht als fertige, auf den Symbolkonsens
zugeschnittene Einheiten
in der Ver-
mittlung des Sozialisationsprozesses transportiert. Vermittlung meint immer auch: Symbole miissen im Vermittlungsprozefl stets »hergestellt« werden in einer Bildungsprozedur,
die
allemal
iiber
die
Stufe
von
Vor-formen,
d. h. Protosymbolen, läuft. Der Begriff Vor-form darf nicht miflverstanden werden. Selbstverstindlich können zwischen den Klassen der Signale
und Symbole
keine Zwischenglieder
vermutet
werden,
wohl
aber miissen im Symbolbildungsprozef fiir das einzelne Symbol Friihstadien der — formalen wie inhaltlichen — Ausgestaltung angenommen werden, soll dieser Bildungsprozef als 118
Vermittlungsvorgang mithin
jene
begriffen
benannten
werden.
Protosymbole
Interaktionsformen,
die
auf
sind
dem
als
Sozialisation:
Da
Ausgliederung und Identitätenbildung gekennzeichneten Weg
»auf der Strecke bleiben«. Orientieren wir uns am Prozeß
die einzelnen Phase
nicht
Interaktionsformen
als
isolierte,
keinen
primärer
schon in der präverbalen Zusammenhang
bildende
Komplexe unverbunden nebeneinander stehen, versteht es sich
von
selbst, daß
die Protosymbole
nicht einfach verschwinden,
sondern im Netz ihrer Beziehungen im »Hintergrund« des Bewußtseins gehalten werden. Auch streift das »endgültige« Symbol keineswegs seine — genetische — Beziehung zum Protosymbol ab. Daher kommt es, daß das endgültige Symbol allemal von einem Halo von Protosymbolen umgeben ist. Eben dieser Halo macht die Grundlage des Phantasierens aus,
das als Stachel des Nichtidentischen gegen das allgemein Anerkannte lebendig bleibt. In diesen Bereich der Phantasien
bzw.
der ihnen
zugrunde
liegenden Interaktionsformen regrediert die Phantasie krea-
tiver Akte, sobald der bislang geltende Konsens brüchig wird.
Da die Einigung auf Interaktionsformen (als soziale Vorstufe der Einfilhrung von
Sprache)
aber ihrerseits vom
Profil der
allgemein verbindlichen Praxisformen abhing — eben diese bei jedem tiefergehenden gesellschaftlichen Fortschritt sich notwendig indern —, ist anzunehmen, daß es auch zum Neueinspielen
von
Interaktionsformen
kommt,
falls
Interaktions-
formen nicht als versteinerte Verhiltnisse festgehalten werden. Im Zuge
der Bewufltseinsinderung auf dem
Riicken der ge-
wandelten Basis gewinnt der »Publikumsdialog« der Kiinste die Eigenart der Mutter-Kind-Dyade in der fortgeschrittenen Einigungsphase. tiven Dialogs nimmt
In beiden Operationsfeldern des kreader Einfluf auf die Interaktionsfor-
men seinen Verlauf derart: die Neufassung geht über das System der Bedeutungen in verinderten realen Interaktionen. Eben dabei aber spielen Phantasien, und d. h. Protosymbole,
eine Rolle.
119
Das Zurückgreifen (»zurück« nicht nur ım Sinne der genetischen Regression auf lebensgeschichtlich frühere Stadien, sondern auch der topischen Regression im Sinne der vom aktuell zugelassenen System der Bewußtseinsfiguren
zurückgewiesenen
Interaktionsformen)
auf
ausgeschlossenen,
die
Frühstadien
der Symbolorganisation wie auch auf die der Einführung von
Sprache (als dem System der konventionell zugelassenen Be-
wußtseinsfiguren) vorangehenden archaisch-präverbalen Stufer{ der Einigung auf Interaktionsformen läßt sich illustrieren an der Rolle der Musik in heutigen Subkulturen. Dort wird nicht nur die Produktion ungewohnter Bild-
erfahrungen angeregt, sondern gleichermaßen sind auch un-
gewohnte Bewegungsabläufe als Merkmale neu eingeübter In-
teraktionsformen zu beobachten. Das alles heißt aber: Über
»künstlerische Dialogsituationen« werden abgewiesene Protosymbole (abgewiesen in der primären Sozialisation) mobilisiert und in den allgemeinen Konsens als neu zugelassene
Symbolformationen aufgenommen. Es werden darüber hinaus
auch veränderte Vereinbarungen
auf neue Formen
Wenn
die einschneidende
aktion — in den Grenzen der Verkehrsformen, stehende gesellschaftliche Lage zuläßt — eingeübt. wir
kreativen
Prozessen
der Inter-
die die beFunktion
einer Vereinbarung neuer Interaktionsformen zugebilligt haben, wird es notwendig,
die kreativen Prozesse mit anderen
verändernden Prozessen der sekundären Sozialisation zu ver-
gleichen, nämlich mit »emanzipatorischer Diskussion« einer auf Veränderung der objektiven Lage abzielenden
litischen Praxis«.
Die
Problematik
beider
und »po-
geschichtlich-rele-
vanten Prozesse kann selbstverstindlich nicht im Nebenbei unseres Gedankenganges zureichend erdrtert werden. Immer-
hin muß darauf wenigstens in fliichtiger Andeutung eingegangen werden. Dies zumal deshalb, weil der »kreative Dialog« beiden gegeniiber, wie gegenwirtig deutlich genug erkennbar ist, sowohl die Rolle eines Wegbereiters wie auch einer entpolitisierenden Ablenkung spielen kann. Die Uberschitzung der Funktion subkultureller Bewegungen durch 120
Marcuse insbesondere nötigt dringend zu einer wenigstens tenfativen
Skizzierung
der Modelle
der
drei Aktionskreise
in
ihrem Verhältnis zueinander. Die Struktur der emanzipatorischen Diskussion läßt sich zwanglos aus den bisherigen Erörterungen ableiten. Sprache
enthält, gebunden
an die Engramme
Emanzipatorische
Diskussion
der Lautkomplexe,
das
System der geltenden Handlungs- bzw. Interaktionsanweisungen und der damit verknüpften Interaktionsvorstellungen. kann
auf
dem
Boden
dieser
These nur lauten: Diskussion über die Verbindlichkeit der Interaktionsanweisungen mit dem Ziel, unangemessene Normen aufzulösen. Da das Gefüge des bedeutungsvollen LESystems aber, wie die Skizze 7 ausweist, an reale Interaktion, d. h. Praxis gebunden ist, wird die Grenze der emanzipativen
Kraft der Diskussion über Interaktionsnormen schnell erkennbar. Ihr Spielraum kann nicht weiter reichen als bis zur Auflösung überständiger Interaktionsanweisungen, d.h. Interaktionsformen.
Keinesfalls aber kann sie die von objektiven
politisch ökonomischen Strukturen gesetzten Schranken gesamtgesellschaftlicher Praxis sprengen. Diese Funktion kann nur einer auf Anderung der objektiven Lage abzielenden praktisch ändernden politischen Aktion zukommen. Kurz gesagt, emanzipatorische Diskussion ist kein Ersatz für politische Aktivität, die unter geltenden Bedingungen Klassenkampf ist. Jedoch, weil Klassenkampf vom Bewußtsein ab-
hängige
Handeln
Praxis ist (menschliche Praxis ist symbolvermitteltes
allemal), kommt
emanzipatorischer Diskussion die
Funktion zu, die man in Aktualisierung des oben umrissenen
Spielraums als Auflösung der solidarische Praxis blockierenden Vorurteile, ideologischen Barrieren und einsozialisierten Defekte bewufiten Handelns verstehen muf.
Die dritte, in ihrer Gewichtigkeit schon unterstrichene Form
gesellschaftlich indernder
Innovation
ist die auf Anderung
der objektiven Verhiltnisse ausgehende politische Praxis. Sie
greift, im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Prozessen, an der formbestimmenden Basis realer Interaktion unmittel-
I21
bar an. Zweifellos liegt hier auch der entscheidende
Hebel
einer Änderung der Interaktionsformen. Um sie auf unseren Themenkreis der primären Sozialisation zu beschrinken: An-
derung der objektiven Lage ermöglicht die Anderung der Praxis der primären Bezugspersonen des von uns stilisiert als »Mutter-Kind-Dyade« gekennzeichneten Raumes der Einigung
und
Einübung
von
Interaktionsformen
und
führung von Sprache (als System der Symbole). gesehen wird
klar, daß den beiden anderen
der
Ein-
Von
daher
Prozessen
keine
unabhängige Funktion zukommen kann. Es muß bei alledem beachtet werden, daß in der Verbindung der drei emanzipatorischen Prozesse ein Prinzip der Ergän-
zung vorliegt, mit einer offensichtlich nicht aufhebbaren Aktionssperre im einen und einer Diskussionssperre ım anderen
Fall. Auf objektive Anderungen hin angelegte politische Praxis z. B. stellt im Moment der Handlung die beiden anderen
Emanzipationsprozesse
still. Handeln
sistiert im
Augenblick
der Aktion die Diskussion iiber die Handeln begriindenden Interaktionsformen, es läßt lediglich taktische und strategische
Uberlegungen auf der Basis vereinbarter Interaktionsformen zu. Die Gefahr eines politischen Aktionismus ist jedoch, spiegelbildlich angelegt zur Gefahr einer Allmachtphantasie
emanzipatorischer
Diskussion,
die Einfrierung
der
fiir Be-
wufltseinsinderung notwendigen Problematisierung der Interaktionsformen. Politisches Handeln verkommt, wenn es nicht gelingt, das Verhiltnis von kimpferischer Praxis, Dis-
kurs und
Phantasie zu institutionalisieren.
So wie Psycho-
analyse (als Methode der Problematisierung von Interaktions-
formen) zugleich mit dem Gebot einer Handlungsabstinenz
innerhalb der analytischen Stunde die Einsicht verbindet, daß
der Analysand in den verbleibenden 23 Stunden des Tages sich in seinem Beziehungsfeld »real« auseinandersetzen muf, ebenso muß im umgekehrten Falle einer planvollen politischen Aktivitit der Problematisierung von Interaktionsformen ein gesicherter Platz eingeriumt werden. Zweifellos ist es das
Merkmal einer auf geschichtlichen Progreß ausgerichteten po122
litischen Strategie, die auf Dauer gestellte Einfrierung der Diskussion ebenso zu vermeiden wie eine sich im Kreis drehende »emanzipatorische Diskussion«. Und gleichermaßen gilt es auch, die Zwecklosigkeit der in illusionäre Phantasiezirkel
eingefangenen Selbstbefriedigung einer (für die Anderung realer Bewußtseinsbedingungen folgenlosen, weil von politischer Praxis abgetrennten) Freisetzung gebundener Phantasie zu durchschauen. ITl.6
Unser bisheriger Uberblick iiber Sozialisation hat uns gezeigt,
daf es sich dabei um einen Prozef handelt, bei dem weder
Interaktionsformen noch Sprachsymbole als fertige St.ücke dem Kind übergestülpt werden, sondern allemal gebildet
werden in einem dialektischen Vorgang, dessen » Abfallprodukte« die Protosymbole darstellen. Der Prozef} darf selbstverstandlich nicht als abgegrenztes Nacheinander geschlossener Entwicklungsstufen gesehen werden. Sollte unsere_Gegfen-
überstellung von Einigungssituation und Einführungs.suuatlon
von Sprache diesen Eindruck vermittelt haben, so ıst er zu korrigieren. Die beiden Etappen schichten sich überel.nander, die erste Einführung eines Wortes markiert keinesfalls
sondern nur auf Interaktion, der Einigung das Ende dem ersten fortan der Prozesses, zweiten den Beginn eines in kontinuierlichen Schritten nachfolgt. »Nachfolgen_« soll
heißen: das Einspielen von Interaktion einer jeweils immer
neu herzustellenden Einigung auf bestimmte Int.eralftlons— formen (gemifl den Etappen des Triebschicksals) wird immer
wieder mit Sprache verkniipft. Neue Interaktionsformen werden immer wieder entwidselt, weil sich mit der kö.rperllf:h affektiven Ausreifung des Kindes zugleich die Dialektik zwischen kindlichen Bedürfnissen und mütterlicher Antwort verschiebt, bestehende Interaktionsformen schon allein aufgrund der von biologischer Reifung erbrachten veränderten Lage des Kindes nachfolgenden neuen Interaktionsformen
weichen müssen, von ihnen abgelöst werden.
123
Gegenüber der Einübung von Interaktionsformen in der bewußtlosen Phase der Entwicklung haben sich die Verhältnisse nach dem Spracherwerb gewandelt insofern, als nun immer schon Interaktionssymbole vorhanden sind, d. h. Interaktions-
formen mit bedeutungsvollen Lautengrammen verknüpft sind (bei zunehmender Differenzierung des Systems bedeutungsvoller
Lautengramme).
Gewonnene
Stabilisierungen
werden
laufend gestört, Die Verschiebung der materiellen Basis der
Entwicklung, die Anderung der körperlichen Lage des Kindes
erzwingt immer wieder ein erneutes »Einfädeln« von Forderungen in Interaktionsformen mit dem nachfolgenden Ziel einer Aufnahme der neuen Interaktionsform in das Symbolge-
füge. Unabhängig davon, daß aus bestehenden Interaktionen sich Handlungen
wie
auch
abgegrenzte
»Dinge«
inzwischen
ausgegliedert haben, werden also neue Interaktionsformen in »realem Zusammenagieren« hergestellt. Der Aktivierung phallischer Regungen zum Beispiel entspricht eine phallisch angelegte Szenerie, d. h. eine phallisch bedeutsame Interak-
tion, aus der allmihlich durch Pridikation, d. h. Verbindung
mit Lautengrammen
Subjekt- und Objektreprisentanzen
der
phallischen Stufe hervorgehen. So entwidkeln sich abgegrenzte Selbstimagines — bezogen auf Mutterimagines gleicher Art —
wobei beide aus der Ungeschiedenheit einer Interaktionsform hervorgewachsen waren. Zwei Prozesse, die man in riumlicher Anschaulichkeit vertikal
und
horizontal
nennen
könnte,
verlaufen
mithin
stets
nebeneinander: Vertikal erfolgt die stindige Umorganisierung der Interaktion entsprechend der verinderten Trieblage, horizontal dagegen geschieht die Erweiterung des Weltbildes und d. h. zunichst, des Interaktionsrahmens des Kindes. Das Kind
bekommt die aus der Grundinteraktion der Mutter-KindDyade erwachsenden Gegenstinde der Welt nicht nur gezeigt, sondern erfiahrt sie real.
Beide Bildungsmomente, horizontale wie vertikale Entwicklungsbewegung, stehen im Zusammenhang mit den schon eingeiibten Interaktionen, neue Interaktionsformen haben alle124
mal eine Beziehung zu den vorhandenen Interaktionsformen. Im Falle der horizontalen Erweiterung des Interaktionsraumes erscheint dies unproblematisch. Was aber geschieht in vertikaler Bewegung? Hier müssen wir ja annchmen, daß die Interaktionsformen einander ablösen. Orale Interaktionsformen treten notwendig ihren Platz ab an anale Interaktionsformen usw. Wenn wir uns dies genau verdeutlichen an-
hand der Formel
LEs& —LE (LE + Il'ix) ... IEx I — I(syst)
IE(syst) _ dann kann dies ja nur heiflen: Anstelle von IEx tritt im Symbolgefiige ein anderes Interaktionsengramm. Nennen wır
es IEy. Um genau zu sein, die Entwicklung verläuft in unserer
Notierung so: zunächst wird auch hier
(IEy + 1)
ın realer Interaktion müßte daraus
eingefithrt.
Im
Sprachzusammenhang
LEsyst. — LE (LEx + IEy) ... Iy — I(syst)
|
[
IE(syst) werden. Dies verdeutlicht jedoch nicht den springenden Punkt. In der Bindung an eine verinderte Interaktionsform verdndert sich die Bedeutung des Wortes, das als Pridikator der Interaktionsform zugeordnet ist. Zwar bleibt das Wort
dasselbe, doch seine »Bedeutung« wandelt sich zwangsldufig bei verdndertem Bezug auf eine andere Interaktionsform. Was aber geschieht mit den alten engrammatisch festgehaltenen Beziehungen? Zu behaupten, sie wiirden ersatzlos gestrichen, läßt sich nicht vereinbaren mit der psychoanalytischen Erfahrung, daß auch abgeloste Bedeutungskomplexe reaktivierbar sind — etwa ın einer
der
Psychoanalyse,
Entwicklung
wo
gelingen
der
Riickgriff
kann.
auf
Auflerdem
frithere
Stufen
widerspriche
solche Annahme ginzlich den hier schon dargelegten Schliissen,
hatten wir doch klarmachen konnen, daß die Pridikationen
125
zunehmend
systematisiert werden
mit jedem Schritt der Ein-
führung des Kindes in Sprache. Jeder (LE + IE)-Komplex ist durch vielfache Verknüpfung mit anderen Komplexen verbunden. Zudem war uns ja auch klar geworden, daß Interaktionsformen schon vor Einführung des systematisierenden Ge-
füges der Lautengramme nicht unverbunden nebeneinander stehen, wie wir uns bei der Diskussion der Protosymbole verdeutlichen konnten. Wenn unsere Annahmen an jener Stelle nicht falsch waren, so ist die Vermutung unumgänglich, daß die abgelösten Interaktionsformen in den Bereich der
Protosymbole abgeschoben werden mit eben demselben Schicksal: nicht (mehr) verbunden zu sein in einem für symbolische
Repräsentanzen konstitutiven Band zum System der Sprache.
Von
den
Protosymbolen
der
ersten
Stufe
unterscheiden
sich
diese Protosymbole allerdings dadurch, daß sie ja bereits schon in den sprachlichen Zusammenhang aufgenommen waren, zuf Lebensgeschichte gehören, weil sie auch in dem eben nochmals skizzierten Komplex der Lautengramme in höher organisierten
Formeln
schon
ihren
Platz
gefunden
hatten.
Dennoch
aber gilt fiir sie uneingeschrinkt dasselbe, was schon fiir jene Protosymbole auszusagen war: Ohne Zusammenhang mit den anderen Pridikatoren, die mit realisierbaren Interaktionsformeln verbunden sind, sind sie aus den Handlungsanwei‘
sungen der Sprache, aus der symbolvermittelten geschlossen.
Vor alle
dem
totalen Erldschen
Protosymbole
am
Leben
bewahrt
erhilt:
sie eben der
Praxis aus-
dasselbe, was
Kontakt
zu
den
pridizierten Interaktionsformen, deren Vorginger sie (ähnlich den primiren Protosymbolen) sind. Um sie aber irgendwie zu erwecken, mufl zweierlei geschehen: Es bedarf einer realen Interaktion, die gezielt evoziert, und das System der ın Sprache eingeholten Interaktionsformen muß Platz machen, was zugleich ja auch heißt: Die Interaktionsform muß mit dem System der sprachlich lizenzierten Handlungsnormen koalieren kdnnen.
Daß die solchermaflen exkommunizierten Repriasentanzen nicht 126
mehr
als Objekt-
bzw.
Subjektrepräsentanzen
in
ausgewie-
sener Abgegrenztheit gelten können, kann nicht strittig sein. Die Profilierung abgegrenzter Gegenstände ist ja ein Vorgang, der
bereits
weit
im
Gebiet
entfalteten
Sprachgefüges
liegt.
Desymbolisierungen sind als rückläufige Bewegungen Rückverweisungen auf ungeschiedene Interaktionsformen; ım Unbewußten sind keine umschriebenen Objekte denkbar.
Der Prozeß von oralen über anale zu phallischen Positionen bis zur ödipalen Dramatik kommt transkulturell bei allen
menschlichen Gruppen, die wir kennen, vor. Wie unterschiedlich immer die einzelnen Stationen dieses Weges auch geformt und wie verschieden die jeweiligen Bilder, z. B. odipaler Szenerie, sein mogen, die Tatsache eines phasisch gegliederten
Entwicklungsganges von der oralen bis zur &dipalen Proble-
matik ist bei allen Menschen anzunehmen. Weil also die .Ent-
faltung der Objektbeziehungen stets ein protrahierter bfologisch bedingter Progreß über abgrenzbare Stufen der Objektstrukturierung und Objektdifferenzierung ist, ist klar, daß
der ontogenetische Prozeß insoweit Naturgeschichte ist und die Verschiebung der dialektischen Ebene der Vermittlun.g von Natur und gesellschaftlicher Formbestimmung entsd.leldende Anstöße im natürlichen Reifungsprozeß hat. Diese FeStstellung kollidiert in keiner Weise mit der Auffassung, daß alle gebildeten Strukturen bis zur Triebform als geformte EI‘Sc:heinungen den Stempel des Vermittelten tragen. Worum es im Moment unserer Untersuchung geht, ist, zu sehen, daß
dieser Prozeß auch bestimmt wird von den Anstößen »natürlicher« Reifung, daß die Ablösung der zu früheren Reifungsstufen gehörenden Interaktionsformen als Auflösung überständiger Interaktion vor sich geht. Im idealen Fall der Entwicklung ist es das Kind, das im Verlassen alter Positionen
eine neue Einigung fordert. Folgt die Mutter in der MutterKind-Dyade zwanglos der neuen Anforderung, dann wird den Interaktionsengrammen die Realisierungsmöglichkeit in
der Interaktion ebenso entzogen, wie sich das System Prädikatoren den neuen Interaktionsformen anpaßt.
der
IV. Systematisch gebrochene Praxis in der primären Sozialisation IV. ı
Wir haben in der ganzen bisherigen Darstellung Sozialisation als makellosen Verlauf beschrieben. Die schon am Ende des ersten Kapitels aufgeworfene Frage nach dem Zusammenhang solch ungetrübter Entwicklung mit der systematischen Gebrochenheit von Praxis unter realen Verhältnissen ist immer noch nicht berücksichtigt. Wir werden ihr nun energisch nach-
zugehen
haben.
Dabei
mag
uns erinnerlich werden,
daß wir
an einzelnen Stellen wohl schon Störungen des reinen Verlaufs
vermerkt
haben,
so bei der Erwähnung
von
unverträglichen
Versagungen, die über das Niveau von nützlichen Anstößen hinaus die Reifung verhindern. Näher waren wir darauf nicht eingegangen, es dürfte sich deshalb empfehlen, auf jene Früh-
phase zurückzugehen,
um
gründlicher auf das Problem
der
Gestörtheit eingehen zu können. Am Beispiel schwerster Störungen (etwa den Hospitalismusffillen) wird unschwer erkennbar, wie »Einigung« verfehlt wird.
Der Toleranzrahmen der kindlichen Anpassungsfihigkeit, d. h. der Einpassung seiner Korperbediirfnisse in angebotene Formen, wird iiberzogen. Versagung tritt hier nicht als voriiber-
gehendes Formierungsmoment auf, sondern als Storung, als punktueller Abbruch der Wechselbeziehung. Versagung wird da nicht zum formbildenden Moment bestimmter Interaktionsformen und zum Motor der Aneignung von Interaktionsengrammen in jener Selbstherstellung einer befriedigenden Interaktion, wie wir sie am Garnrollenbeispiel Freuds gesehen hatten. Die Suchbewegungen des Kindes z. B. einer versagenden Mutterbrust gegeniiber miinden im Falle unvertriglicher Abweisung in Apathie, die den Lernprozeß der Interaktionsformen nicht vorantreibt, sondern blockiert. Bringt die
weitere 128
Entwicklung
nicht
andere
befriedigende
Interaktio-
nen, dann resultieren jene katastrophal-letalen Ausgänge, die Spitz (23) detailliert beschrieben hat. Allerdings, auch im erstgenannten Fall verbleiben punktuelle Narben, verbleiben Briiche im Zusammenhang der Interaktionsform an eben den Stellen, an denen notwendige Erfillung der Bediirfnisse ausfiel, an denen keine Einigung
zustande kommen konnte. Das Gefiige der Einigungsformeln und
d. h. der eingeiibten
Interaktionsengramme
wird punk-
tuell verzerrt und führt zu Verhaltensstorungen, die ja auch den Verhaltensforschern nicht verborgen blieben (zumal der Laborversuch stellt ja die Tiere unter Bedingungen, die sich einer »Einigungssituation« nihern, ja grob vereinfacht, geradezu das Modell nachzeichnen mit abstrakten Interaktionsangeboten). Die gescheiterten Einigungen lassen sich als verdeckte lakunire Unterbrechungen der Konsistenz des Interaktionsgefiiges ausmachen, wobei im detaillierten Vergleich der einzelnen Interaktionen nicht selten die Inkonsequenz der Verhaltensfolge grob sich verdeutlicht. Um nur drei Beispiele andeutungsweise einzufiihren: Die Mutter, die aufgrund ihrer Ambivalenz dem Kind die Brust-
warze zum Stillen mal gibt, mal verweigert, spielt nicht eine Form
profilierte
der
Einigung
durch,
sondern
bietet
dem
Verhalten
auf
einen
Kinde (wie auch sich selbst und allen Beobachtern) das Bild unberechenbarer Willkiir. Zwar vermögen wir — im Verstindnis
der
Symptomatik
—
dieses
Nenner zu bringen, nimlich den der Widerspriichlichkeit, fiir das in der Interaktion unmittelbar befangene Kind aber ist der Widerspruch undurchschaubar.
Ein anderes, aber gleichfalls vom Widerspruch geprigtes Bild
bieten
jene
Mutter-Kind-Szenen
der Reinlichkeitsdressur,
ın
denen zunichst ja (notgedrungen) eine Befriedigung der analen Bediirfnisse zugelassen und die anale Auflerung auch akzep-
tiert wird, dann aber an irgendeinem Punkt eine Zuriickweisung einsetzt, womit die bislang konzedierte Lust iın
Unlust verkehrt wird. Hier konturieren sich zwar im Wechsel die Normen, in der Interaktion beziehen sie sich aber kontra-
129
diktorisch auf dieselbe Interaktionsform. Es tritt ja nicht eine neue
Interaktionsform
neben
eine
andere,
sondern
der
Er-
satz einer schon eingeübten Interaktion wird apodiktisch erzwungen ın Beseitigung der alten Interaktionsform. Mit anderen Worten, die schon erfolgte Einigung wird widerrufen, und
zwar
so, als ob
sie nie bestanden
hätte.
Hier
deuten
sich zwei Möglichkeiten der Reinlichkeitserziehung an, nämlich
ein verständnisvoller Wechsel — was heißen soll: Zwischen Mutter und Kind wird eine Verständigung über die Ablösung der alten Interaktionsformen erreicht in vermittelnden Interaktionen
mit
einem
Umbau
der
Interaktionsform
dadurch,
daß der Widerspruch zwischen der einen und der anderen Weise, anale Bedürfnisse in der Mutter-Kind-Dyade zur Geltung zu bringen, abgearbeitet wird in Ausnützung des kindlichen Toleranzraumes fiir Anderung, in Anpassung an die
Eigendynamik oben
erdrtert).
sprechen,
wenn
der Umwandlung Von
—
kindlicher Bediirfnisse (Wi€
Reinlichkeitsdressur
als
zweite,
schlechte
dagegen
Moglichkeit
1st
—
ZU
ohne
Verstindigung die Interaktionsform seitens der Mutter umkippt ins Gegenteil einer unvermittelten Negation der Vereinbarung. Es ist gut zu sehen, wie diese neurotogene Erziehung Dressur ist im Zerreifen der Dialektik der Mutter-KindDyade. Gegen die durch den Ansatz der Versagung entwidkelte Aktivitit, auf der gewohnten Erfiillung der Interaktionsform zu bestehen, wird eine neue Einigung kontradiktorisch
dazu erzwungen. Dieser Zwang wird méglich durch die totale Abhingigkeit* des Kindes.
* Aufschluflireich ist der Fall, wenn neben der neurotischen Mutter eine ?.ndere einfihlungsfihigere, aber zweitrangige Bezugsperson vorhanden ist. Ob das Kind in der Lage ist, sich die bessere Wechselbeziehung auszusuchen, hingt offensichtlich von zwe; Momenten ab: von dem Ausmaß der_ realen und d. h. von den beiden »Müttern« übernommenen Interaktion, entscheidender aber noch davon, inwieweit die zweite Person die Mutter abgelöst hat in der Mutter-Kind-Dyade. Unser Verständnis der Mutter-Kind-Dyade sieht diese Möglichkeit vor, da Mutter hier nur die von einer oder mehreren Personen eingenommene Position des primären Bezugsobjektes
bezeichnet.
Auf
lung der Mutter-Kind-Dyade
130
die
konkrete
Problematik
solcher
Abwand-
kann hier nicht eingegangen werden.
pas Schicksal der Negation der bisherigen Interaktion zugunsten einer gegenteiligen, abrupt eingeführten Interaktionsform hängt entscheidend ab vom Stellenwert der Interaktionsform im Gefüge des dominanten Interaktionsgefüges der Mutter-Kind-Dyade. Diese Abhängigkeit ist es letztlich, die über den Verlauf entscheidet. Einfach gesprochen: Das Kind muß sich der erzwungenen Einigung im partiellen Falle fügen, weil es an die Praxis des dominanten Partners innerhalb der Mutter-Kind-Dyade gebunden ist. Dieses Schicksal, das wir bisher innerhalb der präverbalen Einigungs- und Einübungsphase bewußtlosen Verhaltens studiert haben, wird verschärft mit der Einführung von Sprache.
Das an das Kind in der präverbalen Phase von außen herantretende Normensystem der Mutter, die deren Interaktionsmöglichkeit bestimmt, wird nunmehr als System der über die Identifizierung
vermittelten
von
Sprachsymbolen
mit
Handlungsanweisungen
Interaktionsformen
innerlich.
Damit
aber
wird die Widersprüchlichkeit der Interaktion nunmehr erfahrener Widerspruch, d. h. »Konflikt«. Nunmehr erfolgt der
Einspruch
Normen
gegen
ein Verhalten,
in Widerspruch
das
mit
den
mütterlichen
steht, von zwei Instanzen her, von
einer äußeren wie auch einer dem Kind inneren. Dieser doppelte Zugriff nimmt die Interaktionsform gleichsam in die Zange in einem Vorgang, den die folgenden gegenläufig angelegten Tendenzen kennzeichnen: Die über Versagungen eingeübte Verschiebung von passiver zu aktiver Interaktionsgestaltung wird auch hier in Gang gesetzt und verstärkt die Bedürfnisdisposition, bei jedem pas-
senden situativen Reiz gemäß der alten Interaktion zur Entladung zu drängen. Gerade dazu aber bietet im Falle des neurotogenen Verhaltens der Mutter die Inkonsequenz der mütterlichen Praxis einen eigentümlichen Verstärker. Diese Inkonsequenz hat den neurotogenen Widerspruch ja schon zur Entfaltung
gebracht:
Mütterliches
Verhalten
hat
den
kind-
lichen Bedürfnissen in eben den Interaktionsformen zunächst
Befriedigung gewährt,
die von einem bestimmten
Punkt
der 131
Entwicklung ab verboten werden. Weil es bei der Mutter selbst um unbewußte, d.h. ihrer Kontrolle und Reflexion entzogene Handlungsnormen geht, wird die verpönte Interaktionsform unter der Hand weiter gefördert, gleichzeitig aber wird von der bewußten mütterlichen Handlungsstrategie
her die Auslöschung der verpönten Interaktionsformen und d. h. ihre Desymbolisierung, ihre Ausscheidung aus den ın Sprache
zu
Wort
Handlungsnormen
kommenden
betrieben.
Abgehängt von den an Sprache gebundenen Handlungsanweimit
sungen
ihrer
von
Verschiebung
der
Möglichkeit
Bedürf-
niserfüllung entlang der Verbindung systematisierten symbol-
vermittelten Handelns tritt im kindlichen Erleben das ein, was Freud schon frühzeitig unter dem Begriff der Fixierung abgewehrter
Triebimpulse
Verfestigung
verpönter
hat:
beschrieben
Interaktionsformen.
eine
sekundäre
Unter
Verdrän-
gungszwang aus dem Bereich der Symbole verstoßene und d. h. desymbolisierte Interaktionsformen gewinnen jene elementare Dynamik, die bewußtlos eingeübte Einigung aus-
imperative verzögerungslos-abrufbereite nämlich zeichnet, Gewalt. Diese Kombination von Desymbolisierung und Fixierung führt zu Interaktionszirkeln, die als Perpetuierung
eingeübter — im Es wie in realer
befriedigend
verankerter
—
Interaktionsformen
bewußtloser
Interaktion auf
den
Stand vorsprachlich eingeschliffenen Wechselspiels zurückfal-
len. Waren
die vorsprachlichen
Interaktionsformen
mit
der
Einfiihrung von Sprache zu Sprachspielen geworden (die sie im Handeln der Mutter schon immer waren, weil die miitterliche
Praxis
als
symbolvermitteltes
Handeln
aus
dem
Re-
pertoire der Sprachspiele und d. h. symbolischen Interaktionsformationen entnommen waren), so geht mit der Desymbolisierung
dieser Sprachspiel-Charakter
der
Interaktionsformen
verloren, wihrend zugleich die verpdnten Interaktionsformen gegen
jegliche
Ausléschung
in
unbewufitem
mit der Mutter festgehalten werden.
Zusammenspiel
Die Folge dieses selt-
samen Doppelspiels ist: Das Sprachspiel wird aufgespalten, die Interaktionsform verliert ihre Symbolqualitit, wird als 132
drängender
Impuls
aber bestätigt.
Sie wird
zum
Klischee.
Mit dem Begriff »Klischee« sollen mithin jene unbewußten Interaktionsformen
bezeichnet
werden,
die in Kombination
von Desymbolisierung und Fixierung auf den Stand vorsprachlich virulenter Interaktionsformen zurückgestoßen werden. Waren die im Entwicklungsgang überständig gewordenen Interaktionsformen bloße Protosymbole geworden, die durch ihre Verbindung zu anerkannten sprachlich akzeptierten Interaktionskomplexen außerhalb des Bewußtseins am Leben erhalten werden, so sind die Klischees aus zusätzlichem Zu-
fluß heraus sprechende
Sie sind stets abrufbereit,
virulent.
der Kindheit
Situationsstimuli
wenn
(im Auftreten
ent-
der
| Erwachsenenneurose) sie erneut provozieren. Interaktion, von Formen drei Damit können wir zwischen die aus dem Bereich der an einem Prädikator gebundex}en, also sprachfihigen Interaktionsformen ausgeschlossen sind, unterscheiden:
I.
2. 3.
Interaktionsformen, die nie in den Bereich sprachlich begriffener Handlungsnormen aufgenommen wurden;
diejenigen Interaktionsformen, die aus dem Sprachkonsen-
sus wieder ausscheiden, weil die Entwicklung mehr oder minder zwanglos weiterschritt; diejenigen Interaktionsformen, die #nter Zwang aus der
Sprache ausgeschlossen, zugleich aber als Interaktionsformen
Diese von
fixiert werden.
drei
Gruppen
jenen sprachlich
Sie bezeichnen wir als Klischees.
Interaktionsformen heben sich ab gefafiten symbolischen Interaktionsfor-
von
men, die dem Bereich unverstiimmelter, unaufgespaltener Sprachspiele zugehören. Diese sind gleichermaflen handlungsanweisend wie auch der Reflexion zuginglich, sie sind auf ihre Funktionalitit hin iiberpriifbar in allgemeiner Diskussion über praktisch-relevante Interaktionsnormen.
Nun haben wir im Gang unserer Er6rterungen das Schicksal dieser Interaktionsformen nur bis zu dem Punkt verfolgt, wo
sie in
statu
nascendi
in
der
Einfithrungssituation
von
133
Sprache eingeübt werden. Wir können das weitere Schicksal hier nur andeutungsweise skizzieren.
Wie schon erwähnt, entwickelt sich aus den prädizierten Interaktionsformen das vielgliedrige System der Subjektrepräsentanzen (als Bilder des Selbst) und der Objektrepräsentanzen (als Bilder der Welt in ihrer Gegenständlichkeit). In meiner Symbolkritik (95) habe ich schon erwähnt, daß mit der Bildung symbolischer Subjekt- bzw. Objektrepräsen-
tanzen die Entwicklung
Unter
Umständen
(die
nicht unbedingt abgeschlossen ist.
als
neurotisch
zu
verstehen
sind
analog zu klischeebestimmtem Verhalten) kommt es zu einer
Weiterentwicklung von Symbolen zu jenen Zeichen, in denen der Zusammenhang mit den zugrunde liegenden Interaktionsformen unterbrochen ist, in denen also die Vergegenstind-
lichung der Subjekt- bzw. Objektreprisentanzen vorangetrieben wurde bis zur interaktionsblinden Verdinglichung. Diese Zeichen bilden das Gegenstiick zu den Klischees. Daß die
Zeichen, die sich dem Abwehrmechanismus der Isolierung verdanken, ebenso wie die Klischees Formen zerfallener Praxis
darstellen, kann hier nur angemerkt werden. Daß sie mit den Klischees in der lebensgeschichtlichen Genese verbunden sind, 14t sich ohne lingere Diskussion nicht klarstellen. Eine ausfiihrliche Untersuchung muß hier ausgespart bleiben. IV.2
Auf die Interferenz symbolvermittelten Handelns mit klischeebestimmtem (und einem durch Zeichen regulierten) Verhalten und auf die Aufgabe der psychoanalytischen Therapie — ihre Chance, ihre Wirksamkeit und ihre Notigung iiber ein hermeneutisches Verfahren der lebensgeschichtlichen Reaktualisierung der realen Abwehrsituation — bin ich andernorts
ausfilhrlich
eingegangen
konzentrieren,
tischen Bildung Halten wir fest:
134
(5). Hier
die Ursachen
zerfallener
dieses
Praxis
miissen
wir
Mechanismus
genauer
uns
der
darauf
neuro-
aufzuspiiren.
ı. 2.
Den Kausalnexus der Klischeebildung miissen wir in einer
Anderung
der miitterlichen Interaktion suchen.
Klischeebildung verweist auf die Widerspriichlichkeit der
miitterlichen Praxis, denn die klischeebildende Interaktion der Mutter ist ihrerseits Verhalten, das sich unabhingig
von bewuflter Reflexion durchsetzt. Hier stehen symbolvermitteltes Handeln und klischeebestimmtes Verhalten gegeneinander. Praxis fallt hier punktuell aus dem Rahmen diskutierbarer Handlungsanweisungen der Sprachgemeinschaft. Praxis ist vom Konsens offener Diskussion abgespalten. Nun liegt es nahe, die Widerspriichlichkeit im lebensgeschichtlichen
Regreß
wiederum
auf
die primire
Sozialisation
der
Mutter zuriickzufithren. Diesen Weg haben die psychoanaly-
tischen Untersuchungen ja auch mit Erfolg beschritten. Mit Erfolg, d. h.: mit dem Ergebnis, eine Wirkungsgeschichte der
Sozialisationstradition aufzufinden. »Wirkungsgeschichte« er-
hilt so ihre
kannt,
daf
psychoanalytische
die methodisch
psychoanalytischen
Therapie
Nuancierung.
notwendige (und
Jedoch
ist be-
Konzentration
Theoriebildung)
der
auf
Lebensgeschichte an eben diesem Punkt in die Sackgasse eines familialistischen Psychologisierens gerit: im Absehen vom Zusammenhang subjektiver Lebensgeschichte mit dem objektiven geschichtlichen Prozeß.
Im Rahmen unseres Konzeptes gilt es statt dessen folgenden
zu sehen: die Formation der Subjekte (greif-
7usammenhang
bar als Sprachzerstörung) verweist genetisch weiter auf gestörte Interaktion, die wiederum — in primärer wie sekundärer Sozialisation
auf
—
Verzerrungen
in
formbestimmender
Praxis zurückgeht. Einzelpraxis aber ist — wo und wie immer sie ins Spiel kommt — dabei stets Teil gesamtgesellschaftlicher Dialektik zwischen den Polen »innerer Natur und suflerer Natur«. Sie ist damit abhängig von den Formen, in denen praktische Naturbewältigung sich vollzieht und d. h., sie ist abhängig von den Produktionsverhältnissen. Man
Weil
kann denselben Sachverhalt kürzer auch so ausdrücken:
Sprache
in
praktischer
Sprachkonstruktion
gründet, I35
lassen sich Sprachverzerrungen auf Praxisdefekte zurückführen, wobei sierenden« Mutter
Praxis in erster Linie auf den Teil der Mutter-Kind-Dyade
ist es, von
ren Natur
ausgeht,
der
aktiv »einsozializurückgeht: Die
die Auseinandersetzung
sie ist die Mittlerperson,
mit
der
inne-
die jene Praxis
einbringt in einer Handlungsvorgabe. Die Mutter strukturiert als Teil des Gesamtarbeiters. Eben deshalb aber ist ihr Verhalten von den Beschränkungen gekennzeichnet, denen der
Gesamtarbeiter
durch
versteinerte
Produktionsverhält-
nisse ausgesetzt ist. Umgekehrt argumentiert: Die Produktionsverhältnisse stecken formgebend den Rahmen ab für die praktischen Möglichkeiten; ein überholt-unangemessener Rah-
men borniert praktische Entfaltung, so auch die Entfaltung
der Einigung in der Mutter-Kind-Dyade.
Mit dieser Feststellung rücken zwei Interaktionskreise in den
Mittelpunkt des Interesses als Schaltstellen der Sozialisation: Der frühkindliche Interaktionskreis, der seinerseits aber abhängig ist von jenem umfassenden Interaktionskreis, der iden-
tisch ist mit der Organisation von Arbeit, die als Organisation von Herrschaft zugleich — und d. h. als Produktionsverhältnisse — das Gesamt geltender Interaktionsformen repräsentiert. Diese sind die Totalität geschichtlich-konkreten Interagierens, die jede einzelne Interaktionsform bestimmt.
Aus
den
Widersprüchen
reproduziert
der
Produktionsverhältnisse
sich Sozialisation
Interaktionsformen.
heraus
als Widersprüchlichkeit
der
Um diese These mit dem Material konkreter Analysen subjektiver Zerstörung symbolvermittelten Handelns (faßbar als Sprachzerstörung, d.h. Aufspaltung von Sprachspielen) und praxiszerstörender Defizienz von Gruppenbewußtsein in Konsequenz von gesellschaftlichen Widersprüchen belegen zu können, bedürfte es freilich einer bisher nicht geleisteten Untersuchung
des
»Alltagsbewußtseins«*
auf
der
einen
und
der
* Thomas Leithäuser hat einen bemerkenswerten Ansatz in Untersuchung der Konstitution von Alltagsbewußtsein in einer noch nicht publizierten Arbeit unternommen.
136
Profile »zerstörter Praxis« auf der anderen Seite. Da wir uns
hier noch nicht auf materiale Analysen stützen können, werden wir ın einem weitgefaßten Erkundungsbogen den geforderten Zusammenhang einholen müssen, um Aufschlüsse über den Kausalnexus zwischen subjektivem Zerfall von Praxis und ob-
jektiven Ursachen wenigstens andeutungsweise zu gewinnen. Greifen wir zurück auf feldanthropologische Erfahrungen, die wir schon mehrfach gestreift haben. Das von Erikson dargebotene Beispiel der Sozialisationstechnik der Sioux-Mütter soll
uns
als
Ausgangspunkt
unserer
Überlegungen
dienen
(s. Seite 33). Zerlegen wir den Vorgang anhand unserer Dar-
stellung der Sozialisationsschritte in zwei nacheinander angeordnete Phasen der Einübung von Interaktionsformen:
Schritt ı: Die bestimmte Interaktionsform maximaler oraler Bedürfnisbefriedigung wird eingeübt. Gemessen an den oralen
Einigungsmechanismen
unserer
Gesellschaft
wird
jede Versagung vermieden, das orale Wechselspiel in der Mutter-Kind-Dyade verlängert den vorgeburtlichen Stand vollständigen Entgegenkommens auf die Körperbedürfnisse ohne Aktivierung kindlicher Suchimpulse. Das Kind wird in der Mutter-Kind-Dyade auf der Stufe voller Passivitit festgehalten, auch wenn die Gesamtorganisation bereits das Niveau groflerer instrumenteller Aktivitditsmoglichkeiten
erworben
hitte.
Das
Kind
bleibt in
passiver Position bis zum Moment der Entwicklung von Beiflwerkzeugen. An diesem Punkt wird abrupt die miitterliche Interaktionsweise gewechselt. Schritt
2: Anstelle
von
Lust
erzeugt
die verfestigte
Inter-
aktionsform heftige Unlust — durch kontrires aggressives Interaktionsverhalten der Mutter. Die durch die konstante
Einiibung
Versagung
gefestigte fixiert.
Interaktionsform
Momentan
Aktivitit hilt am Befriedigungsziel ibrigen
Pflegeverhalten,
wird
einschieflende
in gezielter
kindliche
jedoch fest. Da im
d. h. im Gesamtsystem
der eip-
fiihlenden Interaktion, sich nichts geindert hat, wird eine
punktuelle Neurotisierung des Kindes erreicht.
137
Schritt
3: Diese
ausgestanzte
Einigung
auf
ein
weiter
wu-
cherndes Disagreement bleibt bei der — später erfolgten — Einübung von Sprache außerhalb der Aufarbeitung
der Widersprüche. »Mama« kennzeichnet mehrheitlich ein befriedigendes Wechselverhältnis, der traumatische Komplex bleibt ausgestanzt als fixierte bewußtlose Inter-
aktionsform, d. h. als Klischee.
Vergleichen
wir
genauigkeitshalber
die
Merkmale
klischee-
vermittelten Verhaltens, wie wir sie von den lebensgeschichtlich-subjektiven Neurotisierungen her kennengelernt haben: Der Verhaltenskomplex bleibt beide Male auflerhalb des
Sprachspiels. Die wuterzeugende Situation geht (im Falle der
Sioux)
nicht
in die Spannung
von
guter
und
böser
Mutter
ein, es wird keine Synthesis als iibergreifende Einsicht in begriffener Vieldeutigkeit der menschlichen Interaktion (die den Umgang mit Liebesobjekten realititsgerecht ausmacht) geleistet. In einer Mischung von libidinöser Nihe und einer durch Aggression nur zu iiberwindenden Distanziertheit des Liebesobjekts wird hier die Interaktion aufrechterhalten. Die
Aggression
wird
aus dem
genetisch zutreffenden
Zusammen-
hang der Beziehung zum Liebesobjekt aber ausgeklammert — sie ist ja unbewuflt. Ambivalenz kann also nicht begriffen
werden als ein konstitutives Merkmal aller Beziehungen, sondern wird gezielt aufgespalten: Der böse Anteil von »Mama«
wird blind verschoben auf »Nichtmama« und wird dort wegen des Wegfalls der riidibeziehenden Vermittlung an den Gesamtkomplex der Mutterimago zum Ansatz einer aggressiven Wendung
sich bewußt
gegen Gruppen
jenseits der Beziehungen,
mit der Mutter-Kind-Dyade
verbinden
die
lassen.
Familie, Sippe, Stamm, Freundschaft, vertraute Subjekte und Objekte erhalten den Anteil libidinSser Zuneigung, der aus
der Beziehung mit Auflengruppen abgezogen ist — denen fillt dafiir der verstirkte Zuschlag an feindlicher Aktivitit Zu.
Wie
leicht
Mechanismus 138
erkennbar,
haben
wir
hier
am
entscheidenden
der Sprachkonstruktion und d. h. des Aufbaus
des Systems
punkt:
handlungsvermittelter
Die Riikvermittlung
Symbole
den
Störungs-
gegensitzlicher Interaktionsfor-
men auf die Mutter-Kind-Dyade fillt in ihrem »konkreten« Riickbezug auf die Kind-Mutter-Beziehung aus; damit kann auch die Pridizierung nicht realititsangemessen erfolgen. Es kann nicht diejenige Wechselbeziehung, fiir die der Pridikator
konkret zutrifft (weil die Situation, auf die gezeigt wurde, die Interaktion innerhalb der Mutter-Kind-Dyade ist), pridiziert werden. Dem
Pridikator »Feinde, der irgendwann ein-
geführt wird, wird zugeschlagen, was sich auf andere Pridikatoren verteilen miifite. Mit dem Ausfall von Pridikation und der Verzerrung der Regulation an dieser Stelle, d. h. mit dem vorweg erfolgenden oder nadhtriglich durch Exkommunikation sich vollziehenden Ausschlufl
der zum
Klischee geronnenen
Interaktionsformen
vom Sprachspiel behilt der Komplex (If+1I) seine urspriingliche Geschlossenheit. Es kommt nicht zur Eingliederung der Positionen von Kind und Mutter in die »aus der Interaktionsform sich differenziert ausgliedernden« Subjekt- und Objektreprasentanzen.
Neben den Ausfall der Pridikation fiir die zugehorige Interaktion (die Blindheit gegeniiber der Verursachung innerhalb der Mutter-Kind-Dyade) und die affektive Akzentuierung falsch zugeordneter Pridikatoren (der Feindgruppe) tritt ein drittes Merkmal
klischeebestimmten Verhaltens: die stets ab-
rufbare Virulenz der Klischees. In jeder passenden Feindsituation vermag die Szene ebenso ungemildert (weil durch kein System symbolvermittelter Handlungsanweisungen verzogert) das voll aggressive Interagieren zu provozieren. Die Einheit (If + I) wird unaufhaltsam realisiert. Und auch ein viertes Merkmal trifft zu: Das eingeiibte klischeebestimmte Verhalten erweist sich als unwiderruflich starr. Auflerhalb aller Sprachspiele, die der Reflexion und Diskussion über ihre Tauglichkeit unterliegen, wird dieses Ver-
halten reproduziert, auch wenn die Realitit es lingst als über-
fiissig entwertet
hat. Auch
nach
dem
Verschwinden
jener 139
Umweltkonstellation, auf die hin solche Sozialisation sinnvoll
erscheinen mag, bleibt der Verhaltenskomplex unantastbar rigid. Die Unantastbarkeit gilt in gleicher Weise für die ein-
sozialisierten Kinder wie für die einsozialisierenden Mütter. Der Umstand, daß die Sioux-Mütter selbst einen Zu-
sammenhang zwischen ihrer Manipulation und dem angestrebten Zweck, »tüchtige Krieger« zu erzeugen, feststellen,
könnte zu der irrigen Annahme
führen, den Müttern sei eben
dieser Verhaltenskomplex bewußt. Diese Annahme ist falsch.
Tatsächlich ist die Bewußtheit im Falle der Sioux-Miitter nicht größer, als es die Bewußtheit der Mütter unserer Kultur ist, die in der zutreffenden Annahme, eine frühe Reinlichkeits-
erziehung erzeuge »anständige, disziplinierte Menschen«, gleichfalls Einsicht in den Mechanismus (hier der Erzeugung
analer Charaktere durch anale Repression) an den Tag legen,
gleichwohl aber den gesellschaftlichen Zusammenhang verkennen. Für beide Fälle gilt: Der Kern der Klischeebildung, nämlich die Fixierungsmechanik und die fehlerhafte Prädi-
kation, bleibt beide Male unbegriffen. Weder sind die Sioux-
Miitter in der Lage zu sehen, daß die »Feinde« Projektionen der miitterlich-frustrierenden Positionen darstellen, noch vermogen die Miitter unseres Kulturkreises die angstbedingte Grundlage der Anstindigkeit und die persistierende Bindung
an die Mutter-Kind-Dyade zu sehen, geschweige denn, daß beide Gruppen die gesellschaftliche Bedingtheit dieses Arran-
gements durchschauen kénnten. Es ist bemerkenswert, daß die Einsicht in den
letztgenann-
ten sozialen Zusammenhang auch innerhalb der Psychoanalyse erst unter den Bedingungen einer Verfremdung der Sozialisationsthematik durch die feldanthropologische Untersuchung
fremder
Kulturen
gelang:
Unter
diesen Bedingungen
hatte
sich (in der Verkiirzung des funktionalistischen Standpunktes)
der entscheidende Kausalnexus eréffnet. Hier ließ sich das bisher Verdeckte neurotisch verstimmelter Interaktion im fremden gesellschaftlichen Praxiszusammenhang erkennen. Die Blindheit der sozialisierenden Miitter ihrer Sozialisations140
strategie gegenüber führt uns zu einem entscheidenden Schluß:
Schon bei der Analyse der formbestimmenden Momente
der
Interaktionsformen waren wir zu der Einsicht gekommen, daß die Mütter in der Mutter-Kind-Dyade als Vermittler
anzusehen sind. Sie vermitteln gesellschaftlich gültige Formeln
Interaktions- und Sprachspiels, in die sie selbst einbezogen sind — worauf schon Fromms Satz von der Familie als Agentur der Gesellschaft verwies. Löst man jedes familiades
listische Mißverständnis
auch dieses Satzes auf, indem
man
von vornherein anstelle einer Ichpsychologie eine Interaktionstheorie rückt und Interaktion im Rahmen von Sprach-
spielen sieht, dann wird klar, daß die Formbestimmung all.emal an objektiv gesellschaftliche Prozesse gebunden ist. Die
Sozialisationspraxis der Miitter ist Realisierung von Handlungsentwürfen‚ die sich in gesellschaftlicher und d. h. historisch-materieller Praxis bilden. Was für die Vermittlung von »unproblematischen« Interaktionsformen gilt, gilt ım ver-
stirkten Maße noch fiir die Vermittlung von Widersprüchlich-
keiten, die dem klischeebestimmten Verhalten zugrunde Gerade die Blindheit klischeebestimmten Verhaltens und
Kind
vorangehend
—
der
bei
—
weist
Mutter
drücklich darauf hin, wie sich hier über die Köpfe
ja
liegt. beim aus-
der Sub-
jekte hinweg objektive Strukturen durchsetzen: als unbegriffene
Interaktionsformen
in
Widersprüche
und
zugehörigen
Symbolen und als Dissonanz zwischen dem Sprachspiel und
den unbewußt anhängenden Klischees, die zusammen die herr-
schende Interaktionspraxis ausmachen. Der
wichtigste
Punkt
klischeebestimmtes
unseres
Verhalten
Schlusses
ist
auf Widersprüche
mithin:
zwischen
Weil
be-
wußtem Sprachspiel und kollektiven Interaktionsformen hinweist, verrät es die gesellschaftliche Verursachung der punktuellen Destruktion
Bewußtsein
men).
und
von
Handeln
unbewußt
Die punktuelle
letzte Formbestimmung
(im Widerspruch
zwischen
der Sprachspiele
hat ihre
determinierten
Aufspaltung
Interaktionsfor-
in kollektiven Prozessen, die den je I41
unterschiedlichen
Brechungen
subjektiver
Praxis
liegen. Die Einsozialisierung klischeebestimmten dient gesellschaftlichen Zwecken.
Verbleiben
mehr
über
wir
noch
beim
Beispiel
die gesellschaftlichen
der
Zwedke
zugrunde
Verhaltens
Sioux-Miitter,
um
der Erzeugung
kli-
scheebestimmten Verhaltens zu erfahren. Wir sollten genauer noch sehen, aus welchen Griinden die friihkindlichen Lernprozesse an bestimmten Stellen mit bestimmten Praktiken umgebogen werden in die Einiibung irrationaler Mechanismen. Eriksons Deutung nennt zwei Zwedke:
1. Die Erzeugung von entschlossenen Jigern und d. h. die Ausstattung
der Kinder
das auf eine besonders
in
Auseinandersetzung
herzustellen, 2.
abgestimmt
mit
einem
Verhaltensrepertoire
gute Bewiltigung
mit
äußerer
ist. Das
Natur
der Aufgabe,
Lebensmittel
Sozialisationsarrange-
ment dient mithin durchaus der Vorbereitung auf Arbeit.
Die Erzeugung mutiger, wutentbrannter Kämpfer, ein Erziehungsziel, das der Stabilisierung der herrschenden Herrschafts- und Gewaltverhältnisse dient, mithin auf Dauerstellung der geltenden Verkehrsformen abgestellt ist.
Weshalb aber werden diese eingeiibt? Oder — hier —
Handlungsentwiirfe unbewuf}t richtiger formuliert, weshalb
werden sie bewufitlos so eingeiibt, daß sie außerhalb Sprachspiele bleiben? Ohne die Problematik ausschdpfen zu kdnnen, deuten zwel
Punkte
an, die bereits durch
das vorliegende
der
sich
Material
gedeckt sind. Es geht zum einen um das Festhalten eines affektiven Zuflusses bei Bewiltigung einer Aufgabe, die im Bereich der Arbeit wie auch der Interaktion als Kampf angelegt ist. Arbeit ist hier Kampf gegen eine gefihrlich iiberlegene Natur. Zugleich soll diese Kampfsituation aber als
blind einrastender Kampfmechanismus etabliert werden. Es geht um die Schaffung eines aggressiven Potentials fiir einen von den Subjekten nicht infrage zu stellenden Kampf; es geht um die Erzeugung einer gesellschaftlich ohne weiteres abrufbaren, unbefragt ausbeutbaren Form von Aggression. 142
Ob Arbeit oder Krieg, im Maximierung einer gegen Kampfeignung
Verfahrens
hergestellt.
treten
angesichts
(nämlich der Situation
gungen die
Falle der Sioux wird so eine subjektive Bedenken gefeiten
Die
im
Folgen
des
Arbeitssituationen
der Indianer abseits ihrer Jagdbedin-
in den Reservationen)
Funktionalität
unerwünschten
veränderter
Dienste
hervor. Diese Folgen stellen der
Auseinandersetzung
mit
äußerer Natur (die wir zunächst im Vordergrund sahen) infrage, sie decken auf: I. Die Herstellung klischeebestimmten Verhaltens macht die
2.
Subjekte disponibel im Dienst einer bestehenden Ordnung;
sie blockiert mogliche Diskussionen iiber diejenigen Hand-
lungsnormen, die dem betreffenden Verhaltenskomplex — hier Kampf — angehdren. Kimpferische Auseinanderset-
zung wird als blinde Aggression von inneren Widerspri-
chen auf den Widerspruch nach auflen abgelenkt. Bestehende Ordnung wird so nicht nur sanktioniert, sie vermag ebe.n
die Krifte, die sich als kimpferische Aktivitit gegen sie richten kénnten, zu binden und zu ihrer eigenen Stabilisierung zu benutzen. Herrschaftsstrukturen werden so auf
3-
Dauer gestellt.
Mit der Verkehrung des kimpferischen Potentials ın herr-
schaftsfungible Aggression wird Kampf als symbolisch vermitteltes Handeln und d. h. als ein mit Bewufltsein angelegtes Handeln blodkiert, wird reflexionsfihige kämp-
ferische Aktivität ausgelöscht. Die Verhinderung bewußten kämpferischen Handelns suspendiert mit der Verhinderung von Reflexion und Diskussion auch die Einigung auf bewußtes Handeln,
gegen
die Moglichkeit
Interessen.
d. h. sie immunisiert die Subjekte
kimpferischer
Vertretung
eigener
Im hdheren Verallgemeinerungsgrad, d. h. auf nichster Abstraktionsstufe, gilt: Der Widerspruch zwischen klischeebe-
stimmtem Verhalten und symbolisch vermitteltem Handeln ist ausbeutbar als ein die bestehende Ordnung zementierender Sozialisationsfaktor. Das aber kann nichts anderes heiflen, als
143
daß an eben dieser Stelle ein möglicher Dissens der Subjekte abgewehrt werden.
wird,
gesellschaftliche
Widersprüche
stillgestellt
Diese Annahme läßt sich auf anderem Wege bestitigen: Wenn
das unbekannte x der formbestimmenden Einfliisse hinter dem
Reproduktionszirkel der Sozialisationsprozesse gesucht wird, dann deuten die subjektiven Konflikte auf punktuelle Wi-
derspriiche zwischen Sprachspiel und Interaktionsformen. Diese Annahme löst Individualitit nicht in einen Objektivismus auf, betont vielmehr, daß die Einbriiche klischeebe-
simmten Verhaltens an bestimmter Stelle die Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft punktuell zerrissen haben und in schlechter Identifizierung der Subjekte mit den
gesellschaftlichen Widerspriichen die Distanz zu Lasten der Subjekte beseitigten. Die Geschichte wird so lange angehalten,
solange nicht an eben dieser Stelle die Distanz in solidarischer
Bemiihung henden.
wiederhergestellt wird
in Umwilzung
des Beste-
IV. 3
Es ist aufschlufireich, dafl unsere Skizze systematisch gebrochener Praxis beim Durchblick auf gesellschaftliche Genese uns konkret nur gelingen konnte am verfremdenden
Beispiel
fernliegender, primitiver Gesellschaften. Psychoanalyse steht ‚ hier offenbar vor einer Tabuschranke, die, anders als die altbekannten Widerstinde (die auf bloß subjektiv-lebensgeschichtliche Verkiirzung verweisen), unmittelbar aus objek-
tiven Verschleierungen herriihrt. Immerhin geben uns die weit hergeholten Einsichten Fingerzeige auf offene Probleme, die sich stellen, wenn wir ernstlich die alte psychoanalytische Frage nach der Genese von Leidenserscheinungen über die subjektive Begrenzung hinaus auf geschichtliche Prozesse richten. Erinnern wir uns beim Ausblick auf jene Frage an Bekanntes: Psychoanalyse
sah infantile
Entwicklungen
als Abfolge
von
Erlebnisbriichen, als eine Lebensgeschichte, lesbar in Narben-
144
bildungen.
Sie hat, wie meine Darstellung in Reflexion auf
den psychoanalytischen Gegenstand als einen sozialen verdeutlichen will, diese Narben als Niederschläge von »Widersprüchen«, die den idealen Bildungsprozeß brechen, verstanden. Orientiert an bürgerlichen Sozialisationsverläufen hat Psychoanalyse diese Widersprüche als Stationen subjektiver
Konflikte begriffen — als Konflikte,
deren Ausgang
in jenen
Zerfall des Sprachspiels führt, den wir als Desymbolisierung uns erklären konnten.
Unsere Untersuchung hier hat uns freilich auch aufmerksam gemacht auf Vorgänge, die zu aufgespaltenen Sprachspielen
führen
in einer Weise,
die dem
Konfliktmodell
sich deshalb
nicht mehr fügen will, weil die Widersprüche innerhalb defizienter Interaktionsformen unvermittelter einander entgegen-
stehen. Zumindest jene »schweren Fälle«, deren wir beim Hospitalismus ansichtig wurden, deuten auf solche Verläufe: auf defekte Interaktionsspiele, die jedem begreifbaren Konflikte vorweg gegen Synthesis und mithin gegen Symbolbildung verriegelt sind. Erfahrungen mit psychoseerzeugender Widersprüchlichkeit, wie
sie die neuere kommunikationstheoretische
Psychoseforschung
gesammelt hat, stützen diese These. Zu den noch anstehenden
Aufgaben der Psychoanalyse gehört es, in kritischer Wendung
gegen die kommunikationstheoretische Deutung dieser Erfahrungen diese sich als Darstellung von Praxisdefekten durchsichtig zu machen. Es kann hier nur angedeutet werden, daß
— im hier entfalteten Konzept — solche Praxisdefekte als Interaktionsformen zu begreifen sind, in denen die Wider-
sprüche so durchschlagen, daß Sprachkonstruktion punktuell unmöglich wird. — Doch das ist eine zu weitläufige und gewichtige Frage, als daß ihr hier ausführlich nachgegangen werden könnte. Auf sie aber wenigstens kurz einzugehen ist freilich um so dringender, als die Erfahrungen uns hier über den Bereich der bürgerlichen Sozialisationsverläufe hinaus auf ein Terrain führen, das psychoanalytischer Erkundung bislang kaum zugänglich war: die Sozialisation der »Unterschicht«.
145
Unsere weiteren Uberlegungen fachen Perspektive.
stehen mithin
in einer drei-
1. Wir haben zu prüfen, inwieweit sich je nach dem unter-
2.
3.
schiedlichen Bezug zum Klassenantagonismus gruppenbzw. schichtendifferente Sozialisationsmechanismen ausmachen lassen. Diese Prüfung ist anzustellen in der Absicht, falsche Identifizierung psychoanalytischer Theoreme mit schlechten Verallgemeinerungen zu l6sen. Zugleich verbindet sich damit der Versuch, in derart neuer Wendung, zusitzliches und schon durch den Kontrast aufschluflreiches Material fiir genaue Einsichten in die Mechanik der Veridnderung subjektiver Strukturen unter objektiv-gesellschaftlichen Bedingungen zu gewinnen. Damit wird wissenschaftlich faflbar, wie gesellschaftliche Objektivitdt sich in die Köpfe der Subjekte (und zwar nicht nur in deren geistige Figuren, sondern in die Struktur ihres Handelns) umsetzt. Drei Untersuchungsstringe mit reichlichem Material geben
dabei fruchtbare Ausgangspunkte
tersuchung
der
aktuellen
fiir eine konkrete Un-
Unterschicht-Sozialisation
ab:
die Erkundung der Heimerziehung, die Diskussion der Sprachbarrieren und die Psychosenproblematik. Zur Heimerziehung: Daß es sich dabei um gezielte »Einiibung in die Klassengesellschaft« handelt — um einen treffenden Ausdruck
von K. J. Huch
der Dissozialitit
Zweifel
sein. Die
eines
(96) zu benutzen — in Erzeugung
»Lumpenproletariats«,
system-stabilisierende
diirfte außer
Funktion
der
»Ver-
wahrlosten« und ihrer Bewiltigung im Apparat herrschafts-
stiitzender Institutionen wird allmihlich durdhsichtig; zumindest eine Seite der gezielten Deformierung der Interaktionsformen und d. h. der subjektiven Struktur der Beherrschten insgesamt wird eine genauere, genetisch ausgerichtete Analyse in der angezeigten Richtung klarstellen. Unstrittig ist gleichfalls der Beitrag der Forschung iiber
Sprachbarrieren fiir eine Analyse der Unterschichtsproblema146
tik. Wenngleich diese Forschung auf ihrem gegenwärtigen Stand noch stark beeinflußt ist von »bürgerlichen« Vorannahmen (was Diagnostik und erst recht was therapeutische Strategie angeht), so macht sie doch eindeutig, daß die Unterschicht-Sozialisation Sprachdefizienzen produziert, die — im Sinne unserer Ausführungen — auf Interaktionsverzerrungen und konsekutive Symbolbeschränkungen zurückgehen. Und wenngleich die bisherige Forschung zu wenig Augenmerk auf die
komplementären
Interaktionsdefekte
des
»elaborierten
Kode« der Mittelschicht richtete und die Analyse des »restrin-
gierten Kode« nur allzu schnell zur globalen Bestandsaufnahme der subjektiven Struktur der Unterschicht sich ausdehnte, bieten die Einsichten in diese Defizienz von Sprache
wie Interaktion doch einen wichtigen Ansatz fiir die genetische Verfolgung der Traumatisierungsmechanismen, denen die Subjekte der Unterschicht gezielt ausgesetzt sind. Das
schichtspezifische
Traumamodell
diirfte weitere
Aufkli-
rung erfahren, wenn man die dritte hier genannte Untersuchungslinie, nimlich die Psychoseforschung, in den gesellschaftskritischen Zusammenhang stellt. Schon allein die statistisch gesicherte Gewichtung von Psychoseerkrankungen in der »Unterschicht« bietet Anlafl, darin ein schichtspezifisches Problem zu sehen. Zieht man diese Verteilungsquote (Neurose/Psychose in ihrer unterschiedlichen Zuordnung zur Mit-
telschicht bzw. Unterschicht) in Rechnung und beachtet man zumal den (bislang nur fiir familiale Genese ausgewerteten) Gesichtspunkt der Zuspitzung des neuroserelevanten Kon-
flikts man keit« auch
zu psychoseerzeugenden Sozialisationsbedingungen, die unter dem Stichwort »unvermittelbare Widerspriichlichder Sozialisationsagenten fassen kann, dann deutet sich schon ein Hinweis auf die Traumatisierungsmechanismen
in »Unterschicht« einerseits und »Mittelschicht« andererseits an.
Dieser
Unterschied
leitung
in ausfithrlicher
wWihrend
dem
kann
— unter Vorwegnahme
Erörterung
neurotischen
— so angedeutet
Konflikt
ein
einer Abwerden:
Widerspruch
zwi-
schen aktuellem Interagieren und den konsistent in Sprache
147
aufgenommenen Interaktionsformen zugrunde liegt (mit dem Ausgang in Exkommunizierung der verpönten Interaktionsformen), produziert der psychose-relevante Widerspruch inkompatible Interaktionsformen. Diese sind inkompatibel, weil sie allemal auf dieselben Interaktionsfiguren (double bind!) sich beziehen, ohne in iibergreifender Synthesis bewiltigt zu werden. Freilich läßt bei sorgfiltiger Untersuchung des neurotischen
Konflikts auch dieser sich als Widerspriichlichkeit im Integrationssystem bezeichnen; der blof quantitative Unterschied
Wi.l'd in der Konsequenz jedoch qualitativ: psychoserelevante Widerspriichlichkeit beschrinkt sich nicht nur auf die Verzer-
rung der Bedeutungen im Angriff auf die Pridikation, sondern zersetzt dariiber hinaus auch die Regulationsfihigkeit der Sprache. Widerspriiche treffen unvermittelbar aufeinander. Der schizophrene Widersinn spiegelt unvermittelte
Widerspriichlichkeit der Interaktion in der infantilen Szenerie wider. Um den Unterschied von »Mittelklassen-Sozialisation« zur »Unterschicht-Sozialisation« in grob vereinfachter Gegeniiberstellung dazu in Beziehung zu setzen: Wihrend in der Mittelschicht-Sozialisation die Widerspriichlichkeit der Interaktions-
angebote zumindest voriibergehend sich zu einer Synthesis bringen läßt (die freilich nicht haltbar ist im sprachlich ge-
faßten System der Interaktionsformen und deshalb zur punktuellen Desymbolisierung fiihrt), stofen die Widerspriiche im psychoseerzeugenden Sozialisationsmuster punktuell so kontradiktorisch aufeinander, daß sie nicht einmal voriibergehend in einem Begriff zu fassen sind. Nicht Desymbolisierung son-
dern Unfahigkeit zur Symbolbildung ist die fatale Folge.
Schon in dieser recht groben Skizzierung der Sozialisationslage psychosegefahrdeter Individuen werden Entwicklungs-
linien erkennbar, die in der Tat Schichtspezifitit gewinnen,
wenn
wir die Sozialisationspraktiken der »Unterschicht«
deren (schlechte) Funktionalitit fiir die Klassengesellschaft« beriidksichtigen. 148
»Einiibung
und
in die
Funktional (im schlechten Sinne) ist die Ausrichtung auf eine resignative Hinnahme gesellschaftlicher »Dichotomie«, die nicht weiter hinterfragt werden kann — angelegt schon in
der Hinnahme
von
willkiirlich-inkonsistenten
standes
»Ziichtigung«
Widerspriichen
der eingeiibten Interaktionsformen. Wenn »Ordnung, unbedingter Gehorsam« und die erzwungene Brechung des Widerdurch
zum
bekannten
Repertoire
der
Unterschichtserziehung gehören (79), so korreliert dieses Verhalten prima vista schon deutlich mehr mit den psychoseerzeugenden Erziehungsmechanismen als mit dem neurotischen Konflikt. Letzterer deckt sich ungleich mehr mit der Mittelschicht-Sozialisation‚ in der auftretende Differenzen durch Dis-
kussion
mindest
vermittelt im
Ansatz
zum
Konflikt
gemacht
werden
Problemlösungsstrategien
und
zu-
durchgespielt
werden in Eröffnung des Zusammenhangs problematischer Interaktionsformen mit dem geltenden Wertsystem. Werden Wertordnungen und deren institutionelle Repräsentanz dem »Mittelschichtkind« gezeigt, so bietet die um Reflexion verkiirzte Unterschicht-Sozialisation zweifellos den besten Näh.rboden für die Entwicklung resignativen Sich-Einfügens ın bestehende Hierarchie, in das Ausgeschlossensein von Plan\:\ng und in die Zuweisung entsprechend »sinnentleerter Arbe_lt«‚ Wie sie die Situation des Arbeiters kennzeichnen. Vorbereitet wird all dies durch jenes »Zugleich« unvermittelbarer Inter-
aktionsformen im psychoserelevanten Sozialisationsmuster. Sinnentleerung, wie auch die Unfihigkeit, bestehende Dichotomie zu hinterfragen und unertrigliche Abhingigkeit als verinderbar zu durchschauen, werden einsozialisiert, indem aus der unvermittelten Willkiirlichkeit der Interaktionsfor-
men heraus der Sprachaufbau als Méglichkeit, Widerspriich-
liches zu reflektieren, blockiert wird.
Da
Defekte
im Sprachaufbau
aber immer
auch — wie das
psychoserelevante Sozialisationsmuster in der drastischen Vergroflerung des Extremfalles zeigt — Gestortheit realer Interaktion bedeutet, ist Unterschicht-Sozialisation auch die »geeignete Vorbereitung« fiir ein durch Vereinzelung des Arbeiters
149
und
beliebige Austauschbarkeit
in den
tionen charakterisiertes Arbeitsleben.
beruflichen
Interak-
Trotz unserer Warnung, mit der Herausarbeitung der trauma-
tischen Struktur der Unterschicht-Sozialisation nicht zu vorschnellen Rückschlüssen auf das Ganze der Unterschicht-Sozialisation zu kommen, droht unser Überblick doch an dieser Stelle zu einer Verzerrung des Unterschiedes von Mittelschicht- und Unterschicht-Sozialisation zu werden. Es wäre notwendig, kontrastierend eine Sozialisationsgeschichte bürgerlicher »Charaktermasken« einzufügen, um Sozialisation der Gruppen und
Schichten, die in verschiedenem Bezug zum Klassengegensatz stehen, als Einübung in die Klassengesellschaft transparent werden
zu
lassen.
Der
Mangel
einer
gesellschaftskritisch
ge-
erndeten (und nicht durch die Brille herrschender Vorurteile, wie
der
positiven
Wertung
des
Leistungsstrebens
etwa,
8¢~
sehenen) Analyse der Mittelschicht-Sozialisation wird dabei besonders fühlbar. Weit entfernt, Sozialisationsverläufe in
ihrem genetischen wie funktionalen Bezug auf den Klassengegensatz aufzeigen zu können, sind wir vorderhand nur ın der Lage, den für politische Psychologie in der Tat relevan-
testen
Fragen
der
traumatischen
sation der » Totalabhängigen«
Beschädigung
nachzugehen. Daß
der
Soziali-
in dieser So-
zialisation freilich auch jene Ansätze zu einer gesellschaftlichen Weiterentwicklung liegen (die hinwiederum der MittelschichtSozialisation nicht von ungefähr fehlen), kann nur angedeutet
werden
unter Benutzung einer Zusammenfassung
»In
Unterschicht
der
bewegt
von Huch:
sich die Mutter-Kind-Beziehung
stär-
ker in unmittelbaren Formen. Die Mutter reagiert auf ihre Umwelt Ofter auf nichtsprachlich-gestische Weise oder mit stereotypen,
traditionellen
Wendungen.
>»Das Kind
lernt im Sozialisationsprozeß
auf andere als auf satzstrukturelle und durch Adjektive nuancierte Auflerungen zu rcagieren. Die Intentionen, Gefühle und Einstellun-
gen werden durch eine Form des Ausdrucks modifiziert, die die Solidaritit beront und einen konkreten, visuellen, tangiblen und deskriptiven Symbolgehalt aufweist. Die individuelle Qualifikation
tritt nicht in der Sprache I§0
zutage,
sondern
driickt sich durch
Ge-
stik, Mimik, Körperhaltung und Intonation und Schwankungen des Stimmvolumens aus, so daß oft das, was nicht gesagt wird, wichtiger
1st als das, was gesagt wird.