Zukunft. Werte. Europa: Die Europäische Wertestudie 1990-2010: Österreich im Vergleich 9783205791638, 9783205787327


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Zukunft. Werte. Europa: Die Europäische Wertestudie 1990-2010: Österreich im Vergleich
 9783205791638, 9783205787327

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Regina Polak (Hg.)

Zukunft. Werte. Europa

Die Europäische Wertestudie 1990–2010: Österreich im Vergleich

B ö h l a u V e r l ag W i e n · K ö l n · W e i m a r

Religion and Transformation in Contemporary European Society

Durchgeführt und gedruckt mit der Unterstützung durch das Bundesministerium für ­Wissenschaft und Forschung in Wien in Kooperation mit der Forschungsplattform der ­Universität Wien „Religion and Transformation in Contemporary European Society“ (http://www.religionandtransformation.at/)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http  ://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-78732-7 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, ­insbesondere die der Über­ setzung, des Nachdruckes, der Entnahme von ­Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf ­fotomechanischem oder ­ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Daten­ver­arbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2011 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co.KG, Wien · Köln · Weimar http  ://www.boehlau-verlag.com Umschlaggestaltung: Michael Haderer Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier. Druck  : Balto print, Vilnius

Inhaltsverzeichnis Regina Polak Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Hintergrund . . . . . . . . . . . . . 2. Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Aktualität. . . . . . . . . . . . . . . 4. Forschungsfragen und Methoden . 5. Aufbau des Buches . . . . . . . . . 6. Grenzen der EVS . . . . . . . . . . 7. Religion wird wichtiger. . . . . . . 8. Dank . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Grundlagen Regina Polak Grundlagenfragen und Situierung des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ziel und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Wie ist der Wertebegriff wissenschaftlich verantwortbar  ? . . . . . . . . . . . 3. Wie ist der Wertewandel in Europa zu interpretieren  ? . . . . . . . . . . . . . 4. In welchem Kontext findet die Wertetransformation in Europa statt  ? . . . . 5. Welchen Beitrag leistet der empirische Überblick über die Werte in Europa zum Diskurs um die europäischen Werte  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christof Mandry Werte und Religion im Europäischen Wertediskurs . . . . . . . . . . . . 1. Unterscheidung zwischen Werttheorien und einer Wertesemantik. . 2. Aktuelle Theorien ethischer Werte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Frage nach europäischen Werten und ihre Probleme . . . . . . . 4. Zukunftsherausforderung Pluralität – Pluralismus als Wert. . . . . . .

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Wil Arts/Loek Halman Value Research and Transformation in Europe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Introduction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

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Inhaltsverzeichnis

2. Modernization theory.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Institutionalism . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Mapping European Value Patterns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. The basic value patterns of Austrians in a comparative and longitudinal ­perspective. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Conclusion and discussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Empirischer Überblick Elisabeth Kropf/Erich Lehner Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einleitung und Fragestellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Familie in Österreich und Europa  : Auf hohem Niveau konstant und zugleich im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Ehe – eine auf hohem Niveau konstante Lebensform in Europa . . . 4. Unkonventionelle Lebensgemeinschaften in Österreich und Europa. . . 5. Zusammenfassung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Claudia Scheid/Katharina Renner Leistungsethik in der Transformation  : Die Bedeutung der Arbeit . . . . . . . . 1. Aufbau des Beitrages . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Deskriptiver Ein- und Überblick über Entwicklungen in Europa . . . . . . . 3. Diskussion der Ergebnisse im Rahmen der Theorie der Leistungsethik . . . 4. Prognosen  : Die Identifizierten, die Abgehängten und die Avantgardisten ..

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Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Daten und Methoden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erodierende Unterstützung für Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Hohes politisches Interesse und niedrige Partizipation . . . . . . . . . . 5. Politisches Vertrauen am Tiefpunkt  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. ÖsterreicherInnen am liebsten unter sich  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Schlussfolgerungen und Herausforderungen. . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Regina Polak/Christoph Schachinger Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa. . . . . . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Langzeit-Entwicklungen  : Länderspezifisch verschiedene, aber stabile ­Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenhänge  : Religiöse Dimensionen und konfessionsnahe (neue  ?) ­Religiosität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Religiöse Typologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sozial, aber unpolitisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Und die Zukunft  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Vertiefungen Jens S. Dangschat (Groß-)Städte in der Wertelandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Stadt und Land – ein Kontinuum der Moderne und der Interpretationen .. 2. Die Analyse nach Gemeindegrößenklassen – ein Kompromiss mit weit reichender Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Stadt-Land-Gegensätze der Wertemuster in Österreich . . . . . . . . . . . . 5. Wien im europäischen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Zusammenfassung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Pfau-Effinger Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung . . . . 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Theoretischer Rahmen  : Der theoretische Ansatz der Geschlechterkultur .. 3. Zur praktischen Relevanz kultureller Familienleitbilder . . . . . . . . . . . . 4. Historischer Wandel der Familie im Kontext differierender kultureller ­Familienmodelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Methodologischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Einstellungen zur Gleichstellung und zur Familie in Österreich im europäischen Kontext.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Österreich im Vergleich – und in Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Perchinig/Tobias Troger Migrationshintergrund als Differenzkategorie.. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

1. Vorwort der Herausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Sozialwissenschaftliche Kategoriebildung und Differenzordnungen . 4. Der Bedeutungsverlust der Differenzordnung Staatsbürgerschaft. . . 5. Die Erfindung des Migrationshintergrunds.. . . . . . . . . . . . . . . 6. Rassismus des Migrationshintergrunds  ? . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Zur Empirie des „Migrationshintergrunds“.. . . . . . . . . . . . . . . 8. Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Regina Polak/Dominik Gnirs Zukunft.Werte.Europa  : Zusammenfassung und Perspektiven.. . . . . . . . . .

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Verzeichnis der Grafiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Herausgeberin und AutorInnen.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Perspektiven

Regina Polak

Einleitung 1. Hintergrund Teilen die Menschen in Europa fundamentale Werte  ? Wie einheitlich oder auch verschieden sind die Werte der EuropäerInnen und Europäer  ? Wie kann angesichts der kulturellen Vielfalt Europa zusammenwachsen  ? Was hält Europa zusammen  ? Gibt es eine „europäische Identität“  ? Welche Rolle spielen Werte dabei  ? Diese Fragen führten 1978 zur Konstituierung der European Value Systems Study Group (EVSSG), initiiert von Jan Kerkhofs (Universität Leuven) und Ruud de Moor (Universität Tilburg). 1981-1983 führte diese Gruppe die erste Europäische Wertestudie (EVS) durch und erforschte in einem interkulturellen Vergleich Werthaltungen in den Ländern der damaligen Europäischen Gemeinschaft („Zwölfergemeinschaft“). Im Zentrum standen Einstellungen zu Familie, Arbeit, Religion, Politik und Gesellschaft. Die Studie wurde 1990 und 1999 wiederholt, immer mehr Länder nahmen an diesem internationalen Projekt teil. Österreich beteiligte sich 1990 unter der Leitung von Paul M. Zulehner (Universität Wien) erstmals an dieser Studie. Vier Publikationen sind seither in Österreich dazu erschienen, die über einen Zeitraum von 20 Jahren die Entwicklung der Wertelandschaft in Österreich und Europa beschreiben.1 Am Institut für Praktische Theologie der Universität Wien hat sich zwischenzeitlich Werteforschung als eigener fächerübergreifender Forschungsschwerpunkt etabliert. Die Europäische Wertestudie ist mittlerweile ein professionell institutionalisiertes Forschungsunternehmen, das an der Universität Tilburg unter der Leitung von Jaak Billiet (Chair) und Loek Halman (Secretary) koordiniert wird.2 Mit Ende 2010 lag der komplette Datensatz der vierten Untersuchungswelle vor. 45 Länder haben im Zeitraum von 2008 bis 2010 repräsentative Befragungen durchgeführt. Österreich hat als eines der ersten Länder seine Umfrage abgeschlossen und konnte bereits 1 EVS 1990  : Zulehner, Paul M./Denz, Hermann  : Wie Europa lebt und glaubt. Europäische Werte­ studie, Düsseldorf 1993  ; EVS 1999  : Denz, Hermann/Friesl, Christian/Polak, Regina/Zuba, Reinhard/Zulehner, Paul M.  : Die Konfliktgesellschaft. Wertewandel 1990-2000, Wien 2001  ; Denz, Hermann (Hg.)  : Die europäische Seele. Leben und Glauben in Europa, Wien 2002  ; EVS 2008  : Friesl, Christian/Polak, Regina/Hamachers-Zuba Ursula (Hg.)  : Die Österreicher/-innen. Wer­ te­wandel 1990-2008, Wien 2009. 2 European Values Study. The most comprehensive research project on human values in Europe. Stand  : 07.03.2011, URL  : http  ://www.europeanvaluesstudy.eu/.

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Regina Polak

2009 seine Ergebnisse präsentieren.3 Nunmehr ermöglicht eine überbordende Fülle an Daten – 67 774 Personen konnten zu 136 Fragen Stellung beziehen – einen Vergleich der österreichischen Ergebnisse mit Entwicklungen in Europa. Die Datensätze4 der vorhergegangenen Untersuchungswellen eröffnen zudem einen Überblick über Langzeitentwicklungen.5 Im Folgenden wird das Forschungskonzept der österreichischen Europa-Auswertung vorgestellt.

2. Ziel Im Zentrum dieser Studie steht der Vergleich der Werte der österreichischen Bevölkerung mit ausgewählten europäischen Referenzländern  : Wie stellt sich die Werteentwicklung in Österreich bis 2008 im europäischen Vergleich dar  ? Die AutorInnen der Studie fragen nach spezifischen Merkmalen, Gemeinsamkeiten und Unterschieden von Wertentwicklungen in Österreich mit ausgewählten Ländern in Europa. Die Auswahl der Vergleichs-Länder erfolgte entsprechend dem jeweiligen Themenschwerpunkt und Theoriezugang der VerfasserInnen, mitunter auch pragmatisch in Bezug auf die Datenqualität. So wurden zusätzlich zu den Nachbarländern primär jene Länder untersucht, die in Bezug auf die politische Verfasstheit oder das Sozialsystem große Ähnlichkeiten oder aber große Unterschiede aufweisen  ; ebenso wurden Länder zum Vergleich herangezogen, die mit Österreich einen gemeinsamen Geschichtsraum teilen oder aber völlig verschiedene kulturelle oder religiöse Traditionen aufweisen. Die dadurch möglichen Vergleiche sind nicht rein deskriptiv, sondern verfolgen mehrere Ziele. Sie sensibilisieren für die Pluralität der Werthaltungen und Werteentwicklungen in Europa und erhellen die Relevanz von regionalen politischen, sozialen, kulturellen, religiösen, geschichtlichen Hintergründen für die oft widersprüchlichen Entwicklungen. Dabei wird sichtbar, dass das nationalstaatliche Forschungsprinzip der EVS manche Erkenntnismöglichkeiten verschließt  : Nationen sind keine geschlossenen Entitäten und oft auch kein ausreichender Er3 Friesl/Polak/Hamachers-Zuba (Hg.), Die Österreicher/-innen. 4 Die Datensätze  : 1. EVS (2010)  : European Values Study 2008, 4th wave, Integrated Dataset. GESIS Data Archive, Cologne, Germany, ZA4800 Data File Version 2.0.0 (2010-11-30) doi  :10.4232/1.10188  ; 2. European Values Study 1999/2000 (release 2, May 2006) – Integrated Dataset. GESIS Data Archive, Cologne, Germany, ZA3811  ; 3. European Values Study 1990 (release 2, 2007) – Integrated Dataset. GESIS Data Archive, Cologne, Germany, ZA4460. Wenn in den Beiträgen dieses Buches auf die EVS-Daten rekurriert wird, beziehen sich die Angaben auf diese Quellen. 5 Datensätze, Gewichtungen, Syntax, Informationsmaterial finden sich auf unserer Homepage  : Stand: 01.05.2011, URL  : http  ://ktf.univie.ac.at/wertestudie.

Einleitung

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klärungsgrund für bestimmte Entwicklungen. Die Ergebnisse der Vergleiche verlangen so gesehen nach vertiefender Regionen-Forschung und der Entwicklung einer Europa-Theorie6 für weitere Wiederholungen der EVS. Vergleiche lassen zukünftige Konfliktlinien, Problemzonen und Entwicklungsbedarf – für Österreich und Europa – erkennen und eröffnen so die Formulierung von Handlungsperspektiven. Sie verdeutlichen zudem den konstitutiven Zusammenhang von Werten mit strukturellen Rahmenbedingungen (z. B. Gesetzeslage, Wohlfahrtsstaat, Arbeitsmarkt). Schließlich erlaubt der Vergleich die Identifizierung von zukünftigen Lernfeldern  : Was kann Österreich von Wertentwicklungen in anderen Ländern lernen  ?

3. Aktualität Die eingangs erwähnten Leitfragen der „Gründungsväter“ der Europäischen Wertestudie sind von bleibender Aktualität. Angesichts globaler Herausforderungen und ihrer Auswirkungen auf Europa spitzt sich die Frage nach den Werten der europäischen Bevölkerung sogar in besonderer Weise zu. Finanz- und Wirtschaftskrise, der globale Klimawandel, internationale Migration, jüngst auch die Revolten in der arabischen Welt verlangen nicht nur nach pragmatischen Lösungen. Die Krisenphänomene stellen das System der Weltordnung selbst in Frage, stehen doch die traditionellen Orientierungswerte insbesondere von Politik und Wirtschaft (hegemoniale Macht, unbegrenztes Wirtschaftswachstum und schrankenloser Ressourcenverbrauch, abgesicherter Wohlstand, Konkurrenz als Handlungsprinzip) und mit ihnen der Lebensstil der sogenannten „Ersten Welt“, der reichen Industriestaaten des Westens selbst auf dem Prüfstand. Diese Krisenphänomene konfrontieren Europa deshalb mit Fragen nach der Zukunft  : Welche Rolle kann, soll und will Europa bei der Entwicklung einer neuen Weltordnung spielen  ? Welche Werte können und müssen dabei eine leitende Aufgabe spielen  ? Diese Fragen betreffen die politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Institutionen in Europa. Sie sind zentrale wertbildende Größen. 6 Eine solche Europa-Theorie haben z. B. Ulrich Beck und Edgar Grande vorgelegt, die bei aller Fragwürdigkeit der Terminologie für die Weiterentwicklung der EVS inspirierend sein könnte, um einerseits verstärkt auf die regionalen Unterschiede in Europa zu achten, andererseits auch gezielt nach den spezifisch europäischen Werten der Befragten zu fragen  : Beck, Ulrich/Grande, Edgar  : Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main 2004. (Der Begriff des Kosmopolitischen ist problematisch, da Beck zu wenig dessen geistesgeschichtlichen Kontext und die damit verbundenen Assoziationen berücksichtigt sowie die Orientierung an globalen Perspektiven mit dem Kosmos gleichsetzt.)

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Regina Polak

Zugleich ist die wertgeleitete Partizipation der europäischen Bürgerinnen und Bürger an der Gestaltung neuer Ordnungssysteme in Gesellschaft, Politik, Wirtschaft, Kultur, in Bildung und Wissenschaft ein unverzichtbares und konstitutives Element, um die Herausforderungen gut und verantwortet bestehen zu können. Werte spielen dabei nicht die einzige, aber eine fundamentale Rolle, da sie wesentliche Orientierungspunkte sind, wie Europa die globalen Herausforderungen nicht nur bestehen, sondern auch innovativ mitgestalten kann und wird. Wertorientierungen – der Institutionen, der Bevölkerung – sind auch ein Schlüssel für die Frage, wie Europa seine internen Schwierigkeiten in Zukunft lösen wird. Um nur einige zu nennen  : die demographische Entwicklung und deren Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Sozialsysteme  ; die Chancen und Konfliktfelder, die sich durch Migration ergeben – von innovativen Impulsen zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung durch kulturelle Vielfalt bis zu beunruhigenden Phänomenen der Menschenfeindlichkeit aller Art (Rassismus, Islamophobie, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus)  ; die wirtschaftlichen Entwicklungen und die Frage nach sozialer Ungleichheit innerhalb und zwischen europäischen Nationen  ; die Stagnation des europäischen Integrationsprozesses. Werte verändern sich im Kontext dieser Entwicklungen und stellen zugleich entscheidende Weichen dafür, wie diese Schwierigkeiten wahrgenommen und interpretiert werden und wie sodann entschieden und gehandelt wird – auf der Mikro-, Meso- und Makroebene. Eine differenzierte Kenntnis der europäischen Wertelandschaft auf der Ebene der Bevölkerung ist deshalb ein wichtiger Baustein, um die anstehenden Zukunftsaufgaben wahrnehmen, identifizieren und entsprechend handeln zu können. Dazu kann die Europäische Wertestudie einen Beitrag leisten. Die Zukunfts-Fragen stellen sich auch für Österreich  : Welche Rolle kann, soll und will es zukünftig in Europa spielen  ? Was kann es beitragen zur Identität Europas  ? Wie reagiert Österreich auf die globalen Herausforderungen  ? Österreich ist materiell wie immateriell eines der reichsten Länder Europas (ökonomische, personelle, natürliche, bildungsmäßige Ressourcen). Zugleich haben die Österreich-Ergebnisse der EVS 2008 gezeigt, wie eingeschränkt der globale und europäische Horizont der Bevölkerung ist  : 84 % sind stolz auf die österreichische Staatsbürgerschaft, die Mehrheit fühlt sich zunächst der eigenen Wohngegend zugehörig, 27 % fühlen sich in erster, 38 % in zweiter Linie Österreich zugehörig – und nur 5 % fühlen sich in erster Linie, 10 % in zweiter Linie Europa zugehörig  ; 4 % fühlen sich der ganzen Welt zugehörig.7 Hier bedarf es dringlich der Weitung der Horizonte. 7 Friesl, Christian/Hofer, Thomas/Wieser, Renate  : Die Österreicher/-innen und die Politik, in  : Friesl/Polak/Hamachers-Zuba, Die Österreicher/-innen, 207–293, 276.

Einleitung

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4. Forschungsfragen und Methoden Die Europäische Wertestudie ermöglicht einen Ein- und Überblick über Ausgangslage, aber auch mögliche zukünftige Potentiale und Konfliktfelder der Wert-Entwicklung in Österreich und Europa. Aus der Fülle möglicher Forschungsfragen, die die Daten ermöglichen, stehen folgende Fragen im Zentrum der Studie  : • Welche Werteinstellungen haben Menschen 2008-2010 in Europa zu den Lebensbereichen Beziehung, Ehe, Familie, Arbeit, Beruf, Religion und Politik  ? Welche großen Entwicklungslinien zeigen sich  ? • Wie haben sich diese Einstellungen zwischen 1990 und 2010 entwickelt  ? Welche Ursachen gibt es für diese Veränderungen  ? Wie sind diese Entwicklungen zu interpretieren  ? • Wie stellt sich Österreich im Europavergleich dar  ? Wie lassen sich die Entwicklungen in Österreich im Europa-Vergleich interpretieren  ? • Welche Herausforderungen stellen sich für Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Kultur und Bildung in Österreich und Europa  ? Mit welchen Entwicklungen kann oder muss in Zukunft gerechnet werden  ? Welche Handlungsperspektiven zeigen sich  ? Diese Fragen bilden die „roten Fäden“ durch die Beiträge der vorliegenden Studie. Ein interdisziplinäres AutorInnenteam bekam zusätzlich auch noch Detailfragen zu den einzelnen Themenbereichen. Um die Stärke der Interdisziplinarität zu fördern, wurde den AutorInnen die Wahl der theoretischen wie methodischen Annäherung an die übergreifenden Fragestellungen weitgehend freigestellt. Dies führt zu gewissen Widersprüchen und Differenzen zwischen den einzelnen Beiträgen. Diese können und sollen jedoch zu vertieftem Forschen und weiterem Diskurs anregen. Von einer redaktionellen Vorgabe einer einheitlichen, studienübergreifenden Wertentwicklungstheorie (Wie wird der Wertewandel interpretiert  ?) sowie einer EuropaTheorie (Welche Länder werden zum Vergleich herangezogen  ?) haben wir nach längerer Diskussion abgesehen. Die themenspezifisch konkretisierten Fragestellungen, die fachlichen Zugänge, Interessenslagen und Einschätzungen der ExpertInnen für die einzelnen Themenbereiche erwiesen sich nach einer ersten gemeinsamen Ergebnisanalyse8 als sehr heterogen. Für den Vergleich sozioreligiöser Entwicklun8 Dazu fand an der Universität Wien am 4./5. November 2010 ein Fachsymposium zum Thema „Werte in Österreich und Europa“ statt, Dokumentation siehe  : Stand  : 01.05.2011, URL  : http  ://ktf.univie. ac.at/wertestudie.

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gen in Europa sind andere Theorien und europäische Länder von Relevanz als für die Frage nach der demokratischen Entwicklung. Um den Erkenntnisreichtum nicht durch eine normative Theorie-Vorgabe einzuschränken, haben wir uns für das Sichtbarmachen der Differenzen entschieden. So zeigen sich Heterogenität und Brüchigkeit der Wertentwicklung in Europa auch in den verschiedenen Theorie- und Methodenzugänge der Beiträge. Bezüglich der genauen Darstellung methodischer Details zu den einzelnen Beiträgen verweisen wir auf unsere Methoden-Dokumentation9 im Internet. Unsere wissenschaftspolitischen Interessen, i.e. unser Ziel, sich neben der scientific community auch an eine breite Leserschaft zu wenden, haben uns zu der Entscheidung geführt, die sozialwissenschaftliche Methodik so differenziert wie nötig und so verständlich wie möglich darzustellen. Diese Studie positioniert sich an mehreren Schnittstellen  : an der Schnittstelle (1) von heterogenen wissenschaftlichen Zugängen und ihren – oft widersprüchlichen – Theorien  ; (2) von wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Relevanz  ; (3) schließlich von Forschungsmöglichkeiten, die die EVS-Daten eröffnen und Forschungsfragen, die die europäischen Entwicklungen verlangen, aber mit dem Datenmaterial nicht immer befriedigend beantwortet werden können. Wir haben uns entschieden, die Schwierigkeiten, die diese Schnittstellen mit sich bringen, bewusst in Kauf zu nehmen  : Denn sie eröffnen zugleich ein selbstkritisches wissenschaftliches Vorgehen und neue Forschungsfragen. So ist unsere Studie nicht nur eine Präsentation von empirischen Daten, sondern zeichnet sich auch durch ein kritisches Verhältnis zu Daten und Konzept der EVS aus. In einzelnen Beiträgen – zur Arbeit, zur Religion, zur Bedeutung von Großstädten im Wertewandel – wird dies besonders deutlich.

5. Aufbau des Buches Ausgehend von den leitenden Forschungsfragen gliedert sich das Buch in vier Teile  : „Grundlagen“  : Teil 1 widmet sich Grundlagenfragen und situiert die Europäische Wertestudie innerhalb des wissenschaftlichen wie europäischen Wertediskurses  : • Regina Polak (Wien) führt im Kapitel „Grundlagenfragen und Situierung des Diskurses“ in jene zentralen Fragen ein, in deren Horizont die Europäische Wertestu9 Stand  : 01.05.2011, URL  : http  ://ktf.univie.ac.at/content/forschung/wertestudie/de/materialiendown loads/index.html.

Einleitung

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die diskutiert werden möchte  : Wie ist der Wertebegriff wissenschaftlich verantwortbar  ? Wie kann der Wertewandel in Europa interpretiert werden  ? In welchem Kontext findet die Wertetransformation in Europa statt  ? Welchen Beitrag leistet der empirische Überblick über Werte in Europa zum Diskurs um die europäischen Werte  ? • Christoph Mandry (Tübingen) diskutiert unter dem Titel „Werte und Religion im europäischen Wertediskurs“ jene Werte, die mit Europa als „Idee“ und als politischem Einigungsprojekt verbunden sind – oder sein sollten. Er analysiert die Unterscheidung zwischen Theorien ethischer Werte und der theoretischen Analyse gesellschaftlich stattfindender Debatten über Werte, bewertet aktuelle sozialphilosophische und ethische Theorien von Werten aus einer ethischen Perspektive und fragt nach dem Stellenwert gesellschaftlich geteilter Werte angesichts von Pluralität. • Wil Arts und Loek Halman (Tilburg) stellen im Beitrag „Value Research and Transformation in Europe“ die methodische und theoretische Entwicklungsgeschichte der Europäischen Wertestudie dar und zeigen die großen Entwicklungslinien in der europäischen Wertelandschaft seit 1981 aus der Perspektive der EVS- Forschungsgruppe in Tilburg. Anhand jüngster Auswertungen des Gesamtdatensatzes 2010 beschreiben sie österreichische Entwicklungen aus ihrer internationalen Perspektive. „Empirischer Überblick“  : Teil 2 bildet den empirischen Hauptteil der Studie und stellt die Wertelandschaft Österreichs im europäischen Vergleich sowie die Langzeitentwicklungen in Europa dar. • Elisabeth Kropf und Erich Lehner (Wien) bieten unter dem Titel „Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa“ einen Überblick über Lebens- und Partnerschaftsformen in Österreich und Europa. Sie fragen nach den Einstellungen zu Familie und Geschlechterrollen, zu Ehe und zu unkonventionellen Lebensformen. • Claudia Scheid (Potsdam) und Katharina Renner (Wien) widmen sich unter dem Titel „Leistungsethik in der Transformation  : Die Bedeutung der Arbeit“ der Frage nach dem Stellenwert von Arbeit im Leben der EuropäerInnen. Nach einem deskriptiven Überblick beleuchten sie die Ergebnisse aus der Perspektive der Theorie der Leistungsethik nach Max Weber. • Sieglinde Rosenberger (Wien) und Gilg Seeber (Innsbruck) konzentrieren sich in ihrem Beitrag „Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration“ auf die Entwicklung von demokratischen Einstellungen ausgewähl-

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Abkürzungs- und Literaturverzeichnis

ter westeuropäischer Demokratien und vergleichen Österreich mit diesen. Die ÖsterreicherInnen erweisen sich dabei als erstaunlich politisch interessiert, aber auch als Spitzenreiter der Antipathie gegen „Andere“. • Regina Polak und Christoph Schachinger (Wien) vergleichen in ihrem Beitrag „Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa“ die religiösen Entwicklungen in Österreich mit jenen in ausgewählten europäischen Ländern. Dabei zeigen sie, wie verschieden sich der europaweite Trend des Rückgangs traditioneller kirchlich-gebundener Religiosität gestalten kann – bedingt durch konfessionelle Unterschiede. Sozioreligiöse Transformation findet – noch – im Kontext von Konfessionalität statt. „Vertiefungen“  : Teil 3 widmet sich drei speziellen gesellschaftlichen Brennpunkten, die in Zukunft in Österreich und Europa noch länger verstärkt Aufmerksamkeit erfahren werden – müssen. Diese Beiträge verstehen sich nicht als repräsentative Darstellungen für Langzeitentwicklungen in Europa. Diese Fragestellungen waren zwar nicht im Grundkonzept der EVS vorgesehen, sind aber für ein Buch über Werte in Europa unabdingbar. Allerdings erlaubt die Datenlage nur selektive Tiefenbohrungen. Die Themen sind jedoch von hoher Relevanz und müssen bei EVS-Wiederholungen sowohl im Fragebogendesign als auch in der Auswahl der Samples verstärkt berücksichtigt werden. • Jens Dangschat (Wien) überprüft in seinem Beitrag „(Groß-)Städte in der Wertelandschaft“ kritisch die These, dass (Groß-)Städte die VorreiterInnen sozialen Wandels und damit auch des Wertewandels sind. Dazu vergleicht er neben einem Blick auf die österreichische Situation auch Wertemuster in ausgewählten europäischen Groß- und Hauptstädten miteinander. Das Ergebnis sind viele Rückfragen an die traditionelle Stadt- und Werteforschung. • Birgit Pfau-Effinger (Hamburg) fragt im Kapitel „Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung“ nach den Auswirkungen kultureller Wertvorstellungen zu Geschlecht und Elternschaft auf die Einstellungen zur Geschlechtergleichstellung und Kinderbetreuung in zehn ausgewählten Ländern, arbeitet verschiedene europäische Modelle heraus und analysiert die Differenzen mit Blick auf Österreich. • Bernhard Perchinig und Tobias Troger (Wien) fragen in ihrem Beitrag „Migrationshintergrund als Differenzkategorie“, welches empirische Erklärungspotential „Migrationshintergrund“ in Bezug auf Werte hat. Sie stellen zudem kritische Rückfragen an die Kategorie „Migrationshintergrund“.

Abkürzungs- und Literaturverzeichnis

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„Perspektiven“  : Teil 4 bietet in einem zusammenfassenden Abschlusskapitel „Zukunft. Werte. Europa“ Perspektiven für die Zukunft. Diese Zusammenfassung möchte vor allem Opinionshipleader, MultiplikatorInnen und EntscheidungsträgerInnen in Politik, Gesellschaft, Wirtschaft, Bildung, Kirchen und Religionsgemeinschafen anregen, Konsequenzen aus den Ergebnissen der Wertestudie zu ziehen.

6. Grenzen der EVS

Die Datenfülle der Europäischen Wertestudie eröffnet ungezählte Forschungsfragen. Längst kann eine Studie wie unsere nicht alle diesbezüglichen Möglichkeiten ausschöpfen. Umgekehrt lassen sich nicht alle Fragen, die die Zukunft Europas und seiner Werte betreffen, mithilfe der Fragen des EVS-Fragebogens beantworten. Zudem stellt die schrittweise Veränderung von Fragestellungen des EVS-Fragebogens im Laufe der vier Untersuchungswellen auch vor Interpretationsprobleme beim Vergleichen. Die Stärke der EVS ist ihr Replikationscharakter und die kontinuierliche Konzentration auf Kernthemen. Trotz aller nötigen Veränderungen im Fragebogendesign ermöglicht der Zeitvergleich die Wahrnehmung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten  : So bleiben die Wichtigkeit von Familie und auch die Intensität des Gottesglaubens europaweit vergleichsweise stabil, aber ihre Bedeutungen verändern sich ausgelöst durch soziokulturelle, sozioökonomische und politische Transformationsprozesse. Seit der Erstkonzeption der EVS 1978 haben aber auch massive gesellschaftliche Veränderungsprozesse und Wertetransformationsprozesse stattgefunden, die mit den derzeit vorliegenden Fragen der EVS gar nicht wahrgenommen werden können. Hier besteht für das EVS-Projekt dringender Entwicklungsbedarf  : Fragen nach den zivilgesellschaftlichen Werthaltungen (wie z. B. Menschenrechte) in den Bevölkerungen sind ebenso wenig beantwortbar wie neue sozioreligiöse Transformationsprozesse kaum sichtbar werden (z. B. Spiritualität). Auch methodisch steht das Projekt vor schwierigen Herausforderungen  : Die Veränderungen der Fragestellungen im Zeitraum von 30 Jahren, die Übersetzungen der Fragen in den einzelnen Ländern, die unterschiedlichen Erhebungszeiträume, dazu noch die nicht messbaren Einflüsse einschneidender internationaler Ereignisse wie der Finanzkrise 200810 oder nationaler Ereignisse wie z. B. Wahlen zwingen AutorInnen wie LeserInnen zu vorsichtigen Interpretationen. Was lässt sich denn nun 10 So wurde die Österreich-Befragung z. B. vor der Finanzkrise durchgeführt, viele andere Länder gingen erst danach ins Feld.

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tatsächlich seriös vergleichen  ? Auch zeigt das Ringen um eine interdisziplinäre Auswertung, die z. B. auch historische oder kulturwissenschaftliche Interpretationsansätze mit einbeziehen möchte, die Grenzen der Wertestudie auf. Hier gilt es beim Interpretieren die Balance zu wahren zwischen Mut zu innovativen Deutungen und Bescheidenheit angesichts der realen Aussagekraft von Daten. Das AutorInnenteam, das hinter dieser Studie steht, war sich dieser komplexen Situation bewusst und hat sich bemüht, mit den vorliegenden Daten so umsichtig wie möglich umzugehen. Dabei sind freilich viele Fragen offen geblieben und noch viel mehr neue Fragen entstanden. Aber auch dies ist ein wichtiger Erkenntnisfortschritt und zeigt den Reichtum des vorhandenen Datenschatzes auf.

7. Religion wird wichtiger

Ein Beispiel  : Die Bedeutung von Religion in der EVS. In den bisherigen Wertestudien war dem Thema Religion immer ein eigenes Kapitel gewidmet – so auch in dieser Studie. Die Veränderungen des Fragebogens machen eine tiefere Erforschung der sozioreligiösen Situation aber kaum möglich. Die Religionsfragen wurden zugunsten soziodemographischer Merkmale reduziert. Neue Entwicklungen sind so kaum wahrnehmbar. Trotz der geringeren Itemzahl zu religiösen Fragen wurde nun in dieser Studie der Faktor Religion – insbesondere Konfessionalität – deutlich relevanter. Religion wird auch in anderen Beiträgen Thema  : als Faktor im Wertediskurs (Christof Mandry), als wesentliches Merkmal europäischer Werteesets (Wil Arts und Loek Halman), im Kontext von Migration (Bernhard Perchinig und Tobias Troger). Deshalb versteht sich diese Studie auch als Forschungsbeitrag für die interfakultäre Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“11 der Universität Wien. Die hier publizierten Ergebnisse möchten Impuls und Anregung zur Generierung von Forschungsfragen sein.

8. Dank

Abschließend sei all jenen Personen und Institutionen gedankt, die an der Realisierung dieses Projektes mitgewirkt haben. Der Dank richtet sich an  : 11 Forschungsplattform „Religion and Transformation in Contemporary European Society“  : Ziele, Projekte, Veranstaltungen können folgender Homepage entnommen werden  : Stand  : 07.03.2011, URL  : http  ://www.religionandtransformation.at/.

Einleitung

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• Alle Autorinnen und Autoren, die sich trotz bereits reichhaltiger wissenschaftlicher Aufgaben auf das Projekt Europäische Wertestudie eingelassen haben – mit all den unvorhersehbaren Herausforderungen und Schwierigkeiten, die die Vielzahl beteiligter Personen, Zugangsweisen, Fragestellungen sowie das Forschen mit empirischen Daten in einem internationalen Netzwerk zwangsläufig mit sich bringt. • Das Werteforschungsteam des Instituts für Praktische Theologie der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Wien12, das für den kontinuierliche Fortschritt und die Qualitätssicherung des Projektes ebenso unverzichtbar war wie für das Management alltäglicher Herausforderungen bei der Durchführung. Genannt seien hier der Leiter dieses Teams, Christian Friesl, die Projektmitarbeiterin ­Katharina Renner sowie die Office-Managerin Monika Mannbarth. Ein besonderer Dank gilt dem Projektmitarbeiter Dominik Gnirs, der nicht nur für die korrekte und umsichtige Fertigstellung des Manuskripts verantwortlich ist, sondern durch seine wertvollen redaktionellen Beiträge einen unverzichtbaren Beitrag geleistet hat. • Das EVS-Team in Tilburg, verantwortlich für die internationale Projektkoordination und Datenbereinigung. • Das Soziologenteam Markus Vonach, Tobias Troger und Christoph Schachinger, ohne deren akribische Arbeit in der Aufbereitung der Daten viele unserer AutorInnen ihre Forschungen nicht in ihrer Qualität hätten durchführen können. • Das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, das seit zwanzig Jahren ideell wie materiell ein treuer Partner der Europäischen Wertestudie ist und das Projekt großzügig finanziell unterstützt hat. • Die Grafikerin Karin Klier für die Erstellung professioneller Grafiken. • Den Böhlau Verlag, insbesondere Frau Dr. Eva Reinhold-Weisz und ihre MitarbeiterInnen, die uns professionell und umsichtig betreut haben. Wir alle hoffen, dass die vorliegende Studie einen anregenden Beitrag leistet, die Frage nach der Zukunft der Werte in Österreich und Europa breit und intensiv zu diskutieren. Wien, im Mai 2011

Regina Polak, Herausgeberin

12 Stand  : 01.05.201, URL  : http  ://ktf.univie.ac.at/content/site/pt/home/index.html.

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Literatur Beck, Ulrich/Grande, Edgar  : Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main 2004 Denz, Hermann (Hg.)  : Die europäische Seele. Leben und Glauben in Europa, Wien 2002 Denz, Hermann/Friesl, Christian/Polak, Regina/Zuba, Reinhard/Zulehner, Paul M.  : Die Konfliktgesellschaft. Wertewandel 1990-2000, Wien 2001 Friesl, Christian/Polak, Regina/Hamachers-Zuba Ursula (Hg.)  : Die Österreicher/-innen. Wertewandel 1990-2008, Wien 2009 Friesl, Christian/Hofer, Thomas/Wieser, Renate  : Die Österreicher/-innen und die Politik, in  : Friesl/Polak/Hamachers-Zuba, Die Österreicher/-innen, 207-293 Zulehner, Paul M./Denz, Hermann  : Wie Europa lebt und glaubt. Europäische Wertestudie, Düsseldorf 1993 Internetquellen European Values Study. The most comprehensive research project on human values in Europe. Stand  : 07.03.2011, URL  : http  ://www.europeanvaluesstudy.eu/

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Grundlagenfragen und Situierung des Diskurses

1. Ziel und Fragestellungen In diesem Beitrag reflektiere ich entlang von vier Fragen wesentliche Grundlagen für einen differenzierten Wertediskurs, der das Anliegen der Europäischen Wertestudie ist. Diese grundlegenden Fragen eröffnen den Horizont, in dem die Ergebnisse der Studie diskutiert werden möchten. Sie führen die verschiedenen Fäden des Wertediskurses zusammen und verstehen sich als Anregungen zu einer vertiefenden Auseinandersetzung in Wissenschaft und Bildung, Gesellschaft und Kultur, Wirtschaft und Politik. – – – –

Wie ist der Wertebegriff wissenschaftlich verantwortbar  ? Wie kann der Wertewandel in Europa interpretiert werden  ? In welchem Kontext findet die Wertetransformation in Europa statt  ? Welchen Beitrag leistet der empirische Überblick über die Werte in Europa zum Diskurs um die europäischen Werte  ?

2. Wie ist der Wertebegriff wissenschaftlich verantwortbar  ? Der interdisziplinäre Diskurs ist ein zentrales Merkmal eines wissenschaftlich verantworteten Umgangs mit dem Wertebegriff. Die folgenden Überlegungen zeigen modellhaft, wie ein solcher Diskurs die Auseinandersetzung um die empirischen Ergebnisse der Europäischen Wertestudie bereichern könnte. Dies geschieht in vier Schritten  : – In einem ersten Schritt ist die Bedeutung des Wertebegriffs in den Sozialwissenschaften zu klären. Welche Möglichkeiten eröffnet er  ? Welche Grenzen hat er  ? Welche Fragen wirft er auf  ? – Im zweiten Schritt werden exemplarisch wissenschaftliche Diskurse und ihr Zugang zum Wertebegriff beschrieben  : Philosophie und Ethik, Geschichtswissenschaft und Theologie. Sie stellen wichtige Rückfragen an den Wertebegriff.1 1 Weder die Auswahl der Disziplinen noch die Darstellungen selbst erheben Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sollen den Gewinn einer interdisziplinären Werteforschung verdeutlichen.

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– Im dritten Schritt sollen auf der Basis der kritischen Rückfragen einige Hinweise formuliert werden, wie man verantwortet von Werten sprechen kann. – Der vierte Schritt formuliert eine zusammenfassende Antwort. 2.1 Möglichkeiten und Grenzen der Werteforschung in den Sozialwissenschaften

Seit der Nachkriegszeit spielen Werte in diesem Bereich eine zentrale Rolle im Verständnis der Zusammenhänge zwischen Person, Kultur und Gesellschaft. Im Anschluss an Talcott Parsons, Clyde Kluckhohn und Gordon Allport etablierte sich die sozialwissenschaftliche Werteforschung als innovativer und kooperativer Forschungsansatz.2 Das Wertekonzept galt als elementar für die Weiterentwicklung und Integration der Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Werte wurden zu einem Schlüsselbegriff  : Ein Begriff aus dem Umfeld von Moralphilosophie und Ethik kann die zeitgenössische Weise der Sinngebung einer Gesellschaft empirisch erschließen. Als „Schlüsselwort“3 ermöglicht er es, im Rückgriff auf vorab definierte Wertvorstellungen eine konkrete und einmalige gesellschaftliche Situation zu beschreiben. Sozialwissenschaftliche Forschung zeigt auf, wie es um die Sinn- und Moralressourcen einer Gesellschaft bestellt ist. Zugleich können Schlüsselwörter jedoch auch zur Orientierung und Kritik dienen, indem sie Handeln begründen und ausrichten und die Möglichkeit eröffnen, zwischen „gut“ und „böse“ zu unterscheiden. Auf diese Diskussion haben sich die Sozialwissenschaften jedoch kaum eingelassen, die ihre Aufmerksamkeit auf die strukturelle Funktion von Werten richten, insofern diese für die Leistungsfähigkeit und Stabilität von Gesellschaft und Kultur verantwortlich sind. Sie steuern Einstellungen und Verhaltensdispositionen und sind unerlässlich für den Verflechtungszusammenhang von Person, Gesellschaft und Kultur. Gesichert wird dies durch Sozialisation und die damit verbundene Internalisierung gesellschaftlicher Werte zu persönlichen Wertorientierungen. Wenn Einstellungen zu dem, was in einer Gesellschaft jeweils als wertvoll erachtet wird, erhoben werden, können empirische Daten leicht als Fakten verstanden werden, ohne zu bedenken, dass bereits Deskription interpretierte Wirklichkeit ist. Ein solcher Zugang lässt aber viele Fragen offen  : Sind denn die in Gesellschaft und Kultur vorfindbaren Werte „gut“  ? Sind es diese Werte wert, Werte genannt zu werden  ? Ist die Weise, wie sich eine Gesellschaft, eine Kultur Sinn verleiht, ethisch, 2 Zur Wertewandelforschung vgl. Osterdiekhoff, Georg/Jegelka, Norbert (Hg.)  : Werte und Wertewandel in westlichen Gesellschaften  : Resultate und Perspektiven der Sozialwissenschaften. Opladen 2001. 3 Zum Konzept des „Schlüsselwortes“  : Zulehner, Paul M.  : Fundamentalpastoral. Kirche zwischen Auftrag und Erwartung, Düsseldorf 1989, 60–64.

Grundlagenfragen und Situierung des Diskurses

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philosophisch, politisch verantwortbar  ? Ein funktionaler Wertebegriff kann darauf nicht antworten. Ein anderes Problem stellt die Rezeption der Ergebnisse dar  : Ohne deren kritische Diskussion in einem interdisziplinären Dialog besteht die Gefahr, aus empirischen Daten selektiv und interessengeleitet ethische Bewertungen oder politische Maßnahmen abzuleiten. Notwendige politische Entscheidungen – z. B. angesichts von Fremdenfeindlichkeit – werden mit Blick auf Mehrheits“werte“ in der Gesellschaft aus Angst vor Stimmenverlust nicht getroffen. Werthaltungen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf werden als Legitimation für Parteipolitik benützt. Ein funktionaler Wertebegriff kann zum empiristischen Fehlschluss führen  : Aus dem IstZustand wird der Soll-Zustand abgeleitet. Mittlerweile liegt nach Jahrzehnten intensiver Werteforschung eine kaum noch überschaubare Menge empirischer Daten vor. Diese sind ein viel zu wenig gehobener Schatz an Einsichten und Informationen über die konkreten Wertelandschaften und deren Entwicklung. Internationale Studien wie der Eurobarometer, die WorldValue-Surveys und die Europäische Wertestudie werfen die Frage nach deren jeweiliger innerer Logik und Wertebegrifflichkeit auf. Sie verlangen nach kritischer Reflexion. Ohne Grundlagenforschung droht die empirische Datenflut eher zu verwirren. Deshalb sind das funktionale Wertekonzept der Sozialwissenschaften und deren Ergebnisse in ein interdisziplinäres Gespräch zu bringen. Dann kann der funktionalempirische Zugang seine Stärke entfalten  : wissenschaftlich fundiert Einblick geben in die konkreten Wertvorstellungen und Sinnressourcen von Menschen. 2.2 Drei exemplarische wissenschaftliche Zugänge zum Wertebegriff 2.2.1 Skepsis und Fundamentalkritik am Wertebegriff in Philosophie und Ethik

In den zeitgenössischen Diskursen von Philosophie und Ethik4 haben Werte einen umstrittenen und marginalen Status.5 Diese Disziplinen fragen nach universalisierbaren und allgemeingültigen Kriterien und Prinzipien. Sie bevorzugen daher die Rede 4 Die historischen wertphilosophischen Entwürfe – von Husserl, Scheler, Hartmann – sind hier unberücksichtigt, da sie in der gegenwärtigen Debatte kaum eine Rolle spielen. Einzig das Werteverständnis Friedrich Nietzsches, der den Menschen als „schätzendes Wesen“ bezeichnet hat, das vom Willen zur Macht geleitet Werte schafft, ist wirkungsgeschichtlich bedeutsam, da dies zur Erschütterung traditioneller ethischer Konzepte geführt hat. 5 Ausnahmen bestätigen die Regel  : z. B. Harth, Manfred  : Werte und Wahrheit. Paderborn 2008  ; Hiller, Friedrich (Hg.)  : Normen und Werte. Heidelberg 1982  ; Krobath, Hermann  : Werte. Ein Streifzug durch Philosophie und Wissenschaft, Würzburg 2009  ; Rinderle, Peter  : Werte im Widerstreit. Freiburg im Breisgau 2007  ; Straub, Eberhard  : Zur Tyrannei der Werte. Stuttgart 2010. In der Fülle der philosophischen und ethischen Literatur spielen Werte aber eine untergeordnete Rolle.

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von Normen und Tugenden, Sittengesetzen und Maximen, Pflichten und Prinzipien.6 Der Wertebegriff gilt als diffus und unterbestimmt. Er steht unter dem Verdacht des Nihilismus7  : Der Wertebegriff kann den Eindruck erwecken, Antworten auf die Frage nach dem Guten seien willkürliche und relative menschliche Konstruktionen, ohne jeglichen allgemeingültig argumentierbaren Wahrheits- oder Verbindlichkeitsanspruch. Wenn man die Reflexion des Guten auf Werte reduziert, wird die Frage nach dem Guten beliebig, so die Kritik. Werte spielen daher zwar als Zielvorstellungen des Guten eine wichtige Rolle, müssen aber in einen ethischen Diskurs eingebettet und überprüft werden. Für sich sind sie noch keine ausreichende Antwort auf die Frage nach dem Guten. In der Tat verdichten sich im Wertebegriff zentrale Herausforderungen  : Philosophische und ethische Fragen, Argumente, Normen und Kriterien stehen immer in Bezug zum Frage- und Erkenntnisort. Sie sind abhängig von Zeit und Raum, Situation und Kontext, Gesellschaft und Kultur. Sie sind geschichtlich gewachsen, daher gestalt- und veränderbar. Sie sind untrennbar verbunden mit dem Subjekt und dessen Erfahrung. Der Mensch ist Konstrukteur von Vorstellungen vom Guten. Diese Vorstellungen sind nicht nur Ergebnisse der Vernunft, sondern Gefühle, Erlebnisse, Wünsche, Hoffnungen, Ängste – die konkrete Lebenserfahrung – spielen eine zentrale Rolle bei deren Genese. Philosophische und ethische Fragen haben zudem immer ein Erkenntnisinteresse. Sie sind deshalb auf ihre Machtinteressen hin zu befragen.8 Der Wertebegriff reagiert zwar auf diese Schwierigkeiten, löst sie aber in den Augen der Kritiker nicht. Die radikalste Kritik am Wertebegriff findet sich bei der Philosophin Hannah Arendt. Ihren Studien zufolge taucht der Wertebegriff erstmals im „Leviathan“ von Thomas Hobbes (1588–1679) auf  : „Der Wert des Menschen ist ‚sein Preis, das ist das, was für den Gebrauch seiner Kraft gegeben werden würde‘. Der Wert ist das, was früher Tugend geheißen hat, und wird festgestellt durch die ‚Schätzung der anderen‘, die in der Gesellschaft konstituiert in der öffentlichen Meinung die Werte nach dem Gesetz von Nachfrage und Angebot bestim6 Ausführlich  : Polak, Regina/Friesl, Christian/Hamachers-Zuba, Ursula  : „Werte“ – Versuch einer Klärung, in  : Friesl, Christian/Polak, Regina/Hamachers-Zuba, Ursula (Hg.)  : Die Österreicher/innen. Wertewandel 1990–2008, Wien 2009, 13–36, 26ff. Dort findet sich auch ein Überblick über den Wertebegriff in der Philosophie (Scheler, Hartmann, Nietzsche). 7 Nach Friedrich Nietzsche ist der Nihilismus „die ständige Umwertung aller Werte“ als Folge des Verlustes eines absoluten Bezugspunktes (Tod Gottes). 8 Dieses Bewusstsein der Machtdimension von Werten ist mit Friedrich Nietzsche in die Philosophie gekommen.

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men. Die uns aus der neuesten Philosophie so bekannte Transformierung der Güter und Tugenden der traditionellen Philosophie in Werte, die sich in der sogenannten Wertphilosophie explizieren, tritt uns hier zum ersten Mal entgegen.“9

Arendt interpretiert den Wertebegriff im Kontext ihrer Analysen totalitärer Systeme und macht damit die politische Brisanz des Wertebegriffes deutlich. So zeigt sich bei Hobbes noch unverblümt, „durch keinen idealistischen Nebel verhüllt“10, dass es Werte nur als „Austauschwerte“ und als „gesellschaftlichen Begriff “ geben kann. Werte beziehen sich auf keinen absoluten Horizont mehr, ein absoluter Wert wird damit zum Widerspruch in sich. Indem Hobbes die Tugend und sogar den Menschen selbst als Wert bestimmt, stellt er fest, dass nichts existiert „außer dem, was in der Gesellschaft gegen etwas anderes austauschbar ist“. Insofern jedes Gut, jede Tugend in einen Wert transformiert werden kann, haben Güter und Tugenden fortan einen Preis – nämlich das, wofür ihr Besitzer bereit wäre, sie einzutauschen. Die Folge dieser Vergesellschaftung von Gütern und Tugenden und schließlich vom Menschen selbst ist ein radikaler Relativismus  : Absolutes ist gar nicht mehr feststellbar. Die Gesellschaft müsste dafür Maßstäbe formulieren, ist aber dazu nicht mehr in der Lage. Hobbes war sich der Folgen der Transformierung von Gütern, Tugenden und Menschen in Werte illusionslos bewusst  : In einer Situation radikaler Relativierung aller Einschätzungen entscheidet nur mehr Macht darüber, was im „Austausch und Kampf der Werte miteinander den Ausschlag gibt“. Der Verlust eines absoluten Horizontes – anders formuliert  : der Verlust des Glaubens an eine radikal entzogene, transzendente Wirklichkeit  ; der Verlust unverfügbarer, universal verbindlicher Prinzipien – führt zu einer Vergesellschaftung von Gütern und Tugenden. Davon bleibt letztlich der Mensch selbst nicht verschont. Indem alles verfügbar wird, wird auch er zum Wert – oder zum Wertlosen. Die praktischen Folgen einer solchen alles relativierenden Weltsicht wurden in den beiden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts konkrete Geschichte  : Millionen Tote und Ermordete sind auch die Konsequenz einer Gesellschaft, die alles in „Werte“ verwandelt.11 Wer über Werte spricht, muss sich deshalb fragen lassen  : Gibt es angesichts dieser Fundamentalkritik noch einen legitimen Wertebegriff  ? Ein solcher muss das Humanum schützen und den Menschen vor dem Zugriff auf sich selbst und andere  9 Arendt, Hannah  : Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München9 1986 (1955), 319. 10 Alle folgenden Zitate ebd. 11 Insofern totalitäre Systeme den „neuen Menschen“ definieren und mit politischer Gewalt durchsetzen, definieren sie „wertes und „unwertes“ Leben. Dadurch werden Menschen überflüssig und können vernichtet werden.

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retten. Er darf die Instrumentalisierung und Relativierung des Menschen nicht ermöglichen. 2.2.2 Skepsis in der Geschichtswissenschaft

Manche Historiker stehen dem Wertekonzept ebenfalls sehr reserviert gegenüber.12 Sie diskutieren den Wertebegriff im Kontext der Debatte um die Rolle von Werten im Zuge des europäischen Integrationsprozesses. So wird z. B. der Versuch der Europäischen Union kritisch bewertet, diesen Integrationsprozess und die Entwicklung einer europäischen Identität über den Rekurs bzw. die Konstruktion gemeinsamer Werte zu fördern.13 Drei der zahlreichen Kritikpunkte aus dieser Diskussion seien genannt  : Kritik am politischen Interesse  : Aus historischer Perspektive setzt die Intensivierung der Werterhetorik erst mit der Transformation vom wirtschaftlichen zum politischen Europa ein. Der Wertediskurs sei somit eher ein Ausdruck der Wahrnehmung der europäischen Wertepluralität als einer europäischen Wertegemeinschaft.14 Damit stellt sich die Frage nach den leitenden Interessen des Wertediskurses. Historiker kritisieren dabei vor allem „die nicht immer genügend reflektierte beziehungsweise eingestandene Vorstellung, die politische Einheit Europas ließe sich nach dem nationalstaatlichen Muster des 19. Jahrhunderts ‚konstruieren‘.“15 Kritik der Folgen  : Das Beschwören eines gemeinsamen verbindlichen Gedächtnisses kann problematische Folgen haben  ; ebenso die Forderung, sich einer gemeinsamen Wertetradition zu versichern, die als unverwechselbares Kennzeichen Europas dieses von anderen unterscheiden würde. 1. Erstens kann damit die für Europa charakteristische innere Diversität durch Ausschluss überwunden und verdrängt werden – und mit ihr die verschiedenen na12 Z.B. Csáky, Moritz/Feichtinger, Johannes (Hg.)  : Europa – geeint durch Werte  ? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld 2007. Der Wertebegriff wird in dieser Publikation allerdings kaum definiert oder differenziert, sondern im Kontext seiner historischen Auswirkungen kritisch beleuchtet. 13 Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel  : So formuliert Romain Kirt sogar ein Plädoyer für die „Rückkehr zu den europäischen Werten“ (z. B. Frieden, Sicherheit, Wohlstand)  : Kirt, Romain  : Europa – Die Weltmacht der Herzen. Zukunftsszenarien für das 21. Jahrhundert, Hildesheim 2009. Auch er definiert den Wertebegriff nicht. 14 Pollack, Johannes  : Europäische Werte  ?, in  : Csáky, Europa – geeint durch Werte  ?, 89–101, 91. Warum Pluralität und Gemeinschaft ein einander ausschließender Widerspruch sein müssen, wird nicht erklärt. 15 Csáky, Moritz  : Einleitung, in  : Csáky, Europa – geeint durch Werte  ?, 9–17, 9.

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tionalen und regionalen Gedächtnisse. Wenn zusätzlich vergessen wird, dass es bereits vor der europäischen Integration ein Europa-Bewusstsein, europäische Gedächtnisse und Werte gab, wird die Wertefrage zudem ausschließlich auf politische Integration bzw. die EU bezogen. 2. Zweitens kann der Eindruck entstehen, es gäbe europäische Wertemonopole. Werte, die auch anderswo Geltung haben, werden vereinnahmt. Neue mentale Grenzen werden errichtet, mit deren Hilfe Auswärtige, „Fremde“ abgewehrt werden können.16 Immigranten werden nur akzeptiert, wenn sie sich den „europäischen Wertvorstellungen“ fügen. Ein solches Konzept der „(Self )Authentication“17 hat sich im Nationalstaat bereits mit Mechanismen ethnischkultureller Homogenisierung, Assimilation und Dissimilation18 verbunden. Historiker fürchten, der Rekurs auf gemeinsame europäische Werte könne ähnliche Dynamiken nach sich ziehen.19 3. Drittens besteht das Risiko, durch ausschließlich positive Wertebestimmungen die „Abstiegserfahrungen“20 Europas als europakonstitutiv vergessen zu lassen. Der Wertediskurs kann ebenso eine abwehrende Antwort auf die katastrophischen Erfahrungen der Geschichte, insbesondere des 20. Jahrhunderts sein  : die Erfahrung kontinuierlicher Niederlagen, der Verlust der Kolonien durch deren Emanzipation, die Katastrophen und Zivilisationszusammenbrüche. Kritik des Zusammenhangs von Werterhetorik und Praxis  : Die Kritik der Historiker gründet vor allem in der Art, wie der Wertebegriff im politischen Diskurs verwendet

16 Ebd., 10. 17 Vgl. FN 18 in  : Feichtinger, Johannes  : Europa, quo vadis  ? Zur Erfindung eines Kontinents zwischen transnationalem Anspruch und nationaler Wirklichkeit, in  : Csáky, Europa – geeint durch Werte  ?, 19–43, 25. 18 Das bedeutet  : Selbstaufwertung durch Abwertung anderer, Aufwertung kultureller Differenzen zu essenzieller Andersartigkeit und Forderung nach vollkommener Anpassung oder Ausschluss. 19 Die zentraleuropäische Geschichte und vor allem die Geschichte Wiens legen dafür ein beredtes Zeugnis ab  : In Wien, von dessen Einwohnern im Jahr 1880 nur 38 %, im Jahr 1900 nur 46 % in Wien geboren waren, sollte der deutsch-christliche Charakter der Stadt vor der „Überfremdung“ durch „mehr als 200 000 mehr oder weniger assimilierte österreichische Juden, durch hunderttausende vorwiegend Wiener mit tschechischer oder slowakischer Muttersprache und durch zehntausende polnisch, ungarisch, slowenisch oder kroatisch sprechende Österreicher bewahrt werden.“ Vgl. Feichtinger, Europa, quo vadis  ?, 25–26  ; inkl. FN 19 ebd.  ; vgl. Kury, Astrid/Tragatschnik, Ulrich  : Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne, Innsbruck u.a. 2004. 20 Dieser Begriff stammt von  : Derrida, Jacques/Habermas, Jürgen  : Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg  : Die Wiedergeburt Europas, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Mai 2003, Nr. 125, 33–34, 34.

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wird  :21 Werte erscheinen dabei als abstrakte, überzeitliche Normen und Begriffe, deren Übersetzung in konkretes Handeln oft aussteht. Zudem kann sich der Wertediskurs mit einer politischen Praxis verbinden, die die jeweiligen Werte instrumentalisiert22 oder sogar desavouiert. So hat z. B. der kommunistische Missbrauch des Begriffes Solidarität zur Diskreditierung dieses Wertes im öffentlichen Bewusstsein Osteuropas geführt – „with officially proclaimed solidarity becoming identified with the privileges of the ruling caste, while the term ‚brotherly help‘ was used to describe the occupation of a country with a different understanding of socialism.“23,24 Solche Beobachtungen können Historiker zu folgenden Thesen führen  : „(1) Europa ist nicht auf gemeinsamen Werten gebaut  ; (2) Der Verweis auf europäische Werte dient zumeist als Flucht vor möglicherweise unangenehmen politischen Entscheidungen  ; (3) Die Werterhetorik behindert den sinnvollen Fortgang der Integration.“25 2.2.3 Theologie zwischen Skepsis und Wertschätzung

Theologie 26 hat zum Wertebegriff ein kritisches Verhältnis. Während die Kirchen sich selbst zunehmend als wertstiftende Institutionen in den öffentlichen Diskurs einbrin-

21 Vgl. z. B. Prole, Dragan  : Europäische Responsivität  : Verschränkung der Gedächtnisse und Werte, in  : Csáky, Europa – geeint durch Werte  ?, 75–88, 92. Allerdings wird der Wertebegriff dabei unkritisch genau so übernommen. 22 Pollack, Johannes  : Europäische Werte  ?, in  : Csáky, Europa – geeint durch Werte  ?, 96 zeigt das z. B. anhand der Wertediskussionen zur Europäischen Verfassung, wo sich mit der Gottesfrage bzw. den Werten von Religionsfreiheit und Toleranz auch handfeste politische Interessen (z. B. Verhinderung der EU-Erweiterung um die Türkei) verbanden. 23 Rupnik, Jacques  : The European Union’s Enlargement to the East and Solidarity, in  : Michalski, Krzysztof (ed.)  : What Holds Europe Together  ? Conditions of European Solidarity. Vol. I, Budapest – New York 2006, 86–92, 92. 24 Auch kulturhistorisch bedingte Unterschiede können dazu führen, dass ein abstrakter Wertebegriff in unterschiedlichen Kontexten mit verschiedenen Inhalten konnotiert wird und sodann zu Konflikten führt. So lässt sich der Streit zwischen Ost- und Westeuropa um die Forderung nach mehr Solidarität des Westens mit dem Osten vor diesem Hintergrund besser verstehen. „Solidarity“ bedeutet im angelsächsischen Sprachraum „gemeinsame Interessen teilen, wechselseitige Abhängigkeit und Unterstützung, Übereinstimmung und Anstreben von Gewinn für beide Seiten.“ Die Dimensionen „Unterstützung des schwächeren Partners“ und „Verzicht“ – Bedeutungen, die im osteuropäischen Sprachraum konstitutiv zum Solidaritätsbegriff gehören – kommen in diesem Konzept nicht vor. Vgl. Kovacs, Janos Matyas  : Between Resentment and Indifference. Narratives of Solidarity in the Enlarging Union, in  : Michalski (ed.), What Holds Europe Together  ?, 54–85, 59–60. 25 Pollack, Europäische Werte  ?, 91. 26 Ich beschränke mich hier auf deutschsprachige christliche Theologie.

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gen27, übt die Theologie Zurückhaltung. Der Wertebegriff spielt vor allem in den systematischen Fächern der Theologie eine untergeordnete Rolle. Er wird als philosophische28 und soziologische29 Kategorie diskutiert und erfährt eine vorsichtige theologische Würdigung allein im Kontext christlicher Ethik. Dabei wird von evangelischer wie katholischer Seite betont, dass Werte und Wertevermittlung nur im Kontext „religiöser Verwurzelung, glaubender Verpflichtung und verbindlicher Gemeinschaftsformen“30 legitim sind und vom „Glauben und der Entschiedenheit für Gottes Heil geprägt sein müssen.“31 Die christliche Theologie konzentriert sich auf sittliche Werte, also Motivationen und Zielsetzungen, an denen sich der Mensch in seinem Handeln, seiner Überzeugung, seiner Gesinnung, etc. vernünftig und frei ausrichtet.32 Sie legt dabei großen Wert auf den jeweiligen Sinn- und Begründungshorizont. Der christliche Glaube versteht sich nämlich primär als eine Interpretation des inneren Sinnes und Grundes von Mensch und Welt, die ihren Ursprung in der biblischen Offenbarung und deren Reflexion durch Gläubige, Kirche und Theologie in Geschichte und Gegenwart hat. Ethische Fragen und damit Werte werden in diesem Kontext reflektiert, wodurch sie eine nachrangige Bedeutung haben. Dazu kommt die historische Erfahrung, dass die Kirchen in Europa allzu eng mit politischen Mächten kollaborierten, der christliche Glaube in Europa vielfach auf Moral reduziert und politisch instrumentalisiert wurde. Ein offensives Selbstverständnis der Kirchen als Werte-Stifterin ist somit aus theologischer Sicht problematisch. Im Kontext von Begründungsfragen wird allerdings dafür votiert, sich in den Wertewandelprozess einzubringen. 27 Kirchliche Stellungnahmen und Pastoralkonzepte rekurrieren auf „christliche Werte“ oder bringen Werte in den Bildungsdiskurs ein, z. B. als pastoraler Schwerpunkt der Diözese Eisenstadt  : Stand  : 04.04.2011, URL  : http  ://www.martinus.at/ueberuns/pastoraleschwerpunkte/  ; auch Religionspädagogik, Religionsunterricht oder Katholische Privatschulen setzen in ihren Profilen auf Werte und Wertebildung, z. B. das Projekt Lebens.Werte.Schule, Stand  : 07. 04. 2011, URL  : http  ://www.univie. ac.at/lebenswerteschule/  ; z. B. „christliche, wertorientierte Erziehung und Bildung als Anliegen katholischer Privatschulen“  : Stand  : 07.04.2011, URL  : http  ://www.schulamt.at/aktuelles/20/articles/2007/10/18/a2758/. Oder  : Ratzinger, Josef  : Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg – Basel – Wien 2005. 28 Z.B. Pieper, Annemarie  : Art. Wert. I. Philosophisch, in  : Lexikon für Theologie und Kirche. Band 10, hg. von Buchberger, Michael/Kasper, Walter, 3. Aufl., Freiburg im Breisgau 2001, 1106– 1107. 29 Z.B. Bittner, Wolfgang J.  : Wert, in  : Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde, Band O-Z, hg. von Burkhardt, Helmut, Wuppertal 1994, 2152–2154. 30 Ebd., 2154. 31 Römelt, Josef  : Art. Wert. II  : Theologisch-ethisch, in  : Lexikon für Theologie und Kirche. Band 10, 1107. 32 Vgl. Hunold, Gerfried (Hg.)  : Lexikon der christlichen Ethik II, Band 2, L–Z, Freiburg im Breisgau 2003, 2046.

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In einzelnen theologischen Disziplinen erfährt der Wertebegriff allerdings in den vergangenen Jahren wachsende Aufmerksamkeit. So hat der Moraltheologe und Sozialethiker Dietmar Mieth bereits in den 80er-Jahren auf den aufkommenden gesellschaftlichen Wertediskurses reagiert und einen theologisch-kritischen Wertebegriff entwickelt.33 In der Debatte um die Europäische Wertegemeinschaft spielen Werte in der Moraltheologie und Sozialethik heute eine bedeutsame Rolle.34 Aufgrund ihrer Option für das, was Menschen in ihrem Leben bewegt, setzen sich vor allem die praktisch-theologischen Fächer (insbesondere. Religionspädagogik und Pastoraltheologie) wertschätzend mit den konkret vorfindbaren Werten von Menschen auseinander.35 Wenn Werte für Menschen und Politik in Europa eine gewichtige Rolle spielen  ; wenn die Gesellschaft die Kirchen oder den Religionsunterricht als Wertestifter einfordert, so sind diese Fächer verpflichtet, dieses Phänomen wahrzunehmen und theologisch-kritisch zu würdigen. Werte gelten dabei als „Zeuge-Notionen“, als Begriffe, die im gesellschaftlichen Diskurs intensiviert auftauchen und in denen sich positive und negative Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen, Sorgen und Erwartungen verdichten. Praktische Theologie erforscht deren Tiefendimensionen – auch als Anfrage an Glaube, Kirche und Theologie. Die politischen und sozialen Wirkungen, die der Wertediskurs und die Werteforschung nach sich ziehen, sind ebenso von praktischtheologischem Interesse. Die affirmativen theologischen Zugänge stellen die theoretischen Wissenschaften vor die Frage nach der Rückbindung ihrer Forschung an die konkreten Lebenssituationen von Menschen. Umgekehrt stellt die kritische Zurückhaltung der Theologie zum Wertebegriff Rückfragen  : Aus welchen Sinnquellen speisen sich ethische und politische Diskurse  ? In welchen Begründungshorizonten werden sie geführt  ?

33 Mieth, Dietmar  : Kontinuität und Wandel der Wertorientierungen, in  : Concilium (Internationale Zeitschrift für Theologie) 23 (1987), 210–215. 34 Christof Mandry, ist in der deutschsprachigen Theologie einer der bekanntesten Vertreter, vgl. dazu das Kapitel  : „Werte und Religion im Europäischen Wertediskurs“, 63ff.  ; auch  : Mandry, Christof  : Europa als Wertegemeinschaft. Eine theologisch-ethische Studie zum politischen Selbstverständnis der Europäischen Union, Baden-Baden 2009. Auch der Philosoph und Theologe Clemens Sedmak hat sich mit einer interdisziplinären Publikation, dem ersten Band einer geplanten siebenteiligen Reihe zu europäischen Werten, affirmativ in den Diskurs um die europäischen Werte eingebracht, vgl. Sedmak, Clemens (Hg.)  : Solidarität. Vom Wert der Gemeinschaft, Darmstadt 2010. 35 Am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien gibt es seit 1990 einen Werteforschungsschwerpunkt.

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2.3 Verantwortet von Werten sprechen

Die fachwissenschaftliche Kritik ist nun Basis für einige Hinweise, wie verantwortet von Werten gesprochen werden kann. Sie konzentrieren sich dabei auf Voraussetzungen und Merkmale für einen qualifizierten Wertediskurs und nennen einige Praxiskonsequenzen. 2.3.1 Der Begriff „Wert“ ist klar zu definieren und von einem Sinnzusammenhang her zu begründen

Es braucht klare Definitionen, die das Spezifische des Wertebegriffes herausarbeiten und ihn von anderen Kategorien unterscheiden. Dazu sind in jüngerer Zeit einige Konzepte vorgelegt worden.36 So definiert Hans Joas Werte folgendermaßen  : Werte sind mental-psychisch verinnerlichte Erfahrungen37 der Selbsttranszendenz und Selbstbildung, in deren Rahmen Menschen von Lebenswirklichkeiten, die ihnen widerfahren, so ergriffen werden, dass sie sich diese zu eigen machen.38 Dieser Wertebegriff ist interdisziplinär anschlussfähig  : Er zollt der Subjekt- und Erfahrungsbezogenheit (also der Empirie und der Geschichte) und der Frage nach Gut und Böse ebenso Rechnung wie der philosophischen und religiösen Erkenntnis, dass der Wirklichkeit Werte zugrunde liegen, die als bindend und universalgültig erfahren werden können. Werte sind somit an Sinn-Erfahrung angebunden. Zugleich unterscheidet Joas Werte klar von Normen und Prinzipien – so ist der Wertebegriff offen für vernunftgeleitete Kritik und ethische Reflexion. Clemens Sedmak greift dieses Konzept auf und beschreibt im Anschluss an Michael Hechter Werte als „hochgradig emotional besetzte Vorstellungen über das Wünschenswerte“ und „relativ generelle und dauerhafte Bewertungskriterien.“39 Werte sind auch bei Sedmak keine Normen oder moralische Präferenzen, „son36 Darstellung und kritische Reflexion  : Mandry, Christof, vgl. das Kapitel  : „Werte und Religion im Europäischen Wertediskurs“, 63ff.  ; Ich beschränke mich daher auf zwei exemplarische Beispiele für interdisziplinär anschlussfähige Wertebegriffe. Die Diskussion findet sich bei Mandry. 37 Joas nennt Erotik und Sexualität, religiöse Erfahrungen, moralische Konflikte  : Joas, Hans  : Braucht der Mensch Religion  ? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg im Breisgau 2004. 38 Vgl. u.a. Joas, Hans/Wiegandt, Klaus (Hg.)  : Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt am Main 2005, 14–15. Detaillierte Darstellung und Diskussion  : Mandry, Christof, vgl. das Kapitel  : „Werte und Religion im Europäischen Wertediskurs“, 63ff. 39 Sedmak, Clemens  : Europäische Grundwerte, Werte in Europa, in  : Sedmak, Clemens (Hg.)  : Solidarität, 9–42, 16  : Sedmak zitiert Michael Hechter nach Joas, Hans  : Die Entstehung der Werte. Frankfurt am Main 1999, 30.

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dern der Bezugsrahmen für Präferenzen  ; Werte sind nicht Entscheidungen, sondern die Grundlage für Entscheidungen  ; Werte sind nicht Bewertungen, sondern Kriterien für Bewertungen  ; Werte sind nicht Wünsche, sondern Konzeptionen des Wünschenswerten.“40 Drei Dimensionen lassen sich bei Werten unterscheiden  : „Eine kognitive Dimension, die mit Überzeugungen verbunden ist  ; eine affektive Dimension, die mit einer gefühlsmäßigen Färbung dieser Bindungen zusammenhängt  ; eine volitive Dimension, die diese Bindungen als Resultat von Willensentscheidungen verstehen lässt.“41 Von daher hängen Werte eng mit dem Lebensgefühl und Fragen nach der Identität zusammen. Sie sind eingebettet in konkrete Lebensformen und immer vom kulturellen Hintergrund her zu verstehen. Man entscheidet sich also nicht für Werte, sondern auf der Grundlage von Werten. Dementsprechend kann man Werte nicht verordnen oder am grünen Tisch erarbeiten. Sie lassen sich nicht beliebig wechseln oder austauschen, sondern müssen wachsen. Als moralische Ressourcen sind erfahrungsgeprägte Werte aber unverzichtbare Quellen für moralische Orientierung und Motivation, lenken das Handeln in eine bestimmte Richtung und stellen dafür Kraft bereit. Sie sind für ein Gemeinwesen unverzichtbar. Wie bei Joas ist dieser Wertebegriff an die menschliche Person rückgebunden und nimmt Gefühl bzw. Erfahrung ernst. Sedmak betont dabei noch die kulturelle und sozialethische Relevanz von Werten als Sinn-Grund. Beide Wertebegriffe werden so in ihrer Erschließungskraft präzisiert. Solch „bescheidene“ Wertebegriffe machen die Wertediskussion anschlussfähig an interdisziplinäre Diskurse. Offen bleibt in beiden – formalen – Konzepten die Frage nach der normativen Dimension von Werten bzw. nach deren ethischer Legitimität. Dazu hat Dietmar Mieth ausführliche Überlegungen vorgelegt.42 Er beschreibt Wert als „die Verpflichtung eines erkannten und anerkannten Sinnes von menschlichem Dasein.“ 43 Zwischen „Wert“ und „Sinn des Daseins“ besteht ein untrennbarer Zusammenhang. Das bedeutet, dass sich jeder Wertebegriff in und aus diesem Kontext begründen, erschließen und diskutieren lassen muss. Wo dieser Zusammenhang auseinander bricht, entstehen Wertideologien. Wer den Wertebegriff ins Spiel bringt, ist also zugleich auskunftspflichtig hinsichtlich des Sinnes von Dasein, den er damit einbringt. Legitim kann der Wertebegriff verwendet werden, wenn er klar definiert und begründet wird  ; wenn er rückgebunden ist an die personale Würde des Menschen sowie an die konkrete geschichtliche Situation  ; wenn ein Kommunikationsprozess 40 Ebd., 16. 41 Ebd., 19. 42 Mieth, Kontinuität und Wandel. 43 Ebd., 211.

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über Begründungen und Inhalte stattfindet. Auch bei Mieth ersetzt der Wertebegriff moralische und ethische Kategorien nicht, sondern eröffnet und ermöglicht entsprechende Diskussionen. Über den Begriff der personalen Würde bekommt der Wertebegriff hier zusätzlich eine normative Dimension. 2.3.2 Die Anerkennung der Pluralität der Werte ist der Ausgangspunkt jedes ­Wertediskurses44

Klar definierte Werte-Begriffe gibt es ebenfalls nur im Plural. Eine Rückkehr zu abstrakten, „absoluten Werten“ oder deren religiöse oder politische Verordnung ist also nicht mehr möglich. Dennoch brauchen Gesellschaften einen gemeinsamen verbindlichen Wertekanon.45 In einer säkular-pluralen Gesellschaft kann ein solcher „nur“ durch und in demokratischen und partizipativen Kommunikationsprozessen gewonnen werden. Dies sichert Freiheit und Nachhaltigkeit. Pluralität ermöglicht gemeinsame Lernprozesse und Horizonterweiterung. Pluralität hat auch Schattenseiten  : Beliebigkeit, Gleich-Gültigkeit, Unverbindlichkeit, Orientierungslosigkeit, Verschleierung von Machtverhältnissen. Deshalb bedarf die Anerkennung von Pluralität zugleich der Verpflichtung, die Wertedebatte im Horizont der Frage nach der Wahrheit zu führen. Wahrheit bedeutet hier  : (1) das Streben nach universaler, vernunftorientierter, argumentierter, nachvollziehbarer und ethisch verpflichtender Erkenntnis und (2) das Streben nach einer humanen und gerechten Gesellschaft.46 2.3.3 Verantwortet über Werte sprechen bedeutet immer auch, sie in entsprechende Kommunikationsprozesse einzubetten

Werte werden in dialogischen Kommunikationsprozessen generiert. Die historische Kritik am Wertebegriff verdeutlicht, dass solche Kommunikationsprozesse immer eingebettet sein müssen in Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften konkreter Geschichte. Über Werte „sprechen“ allein macht noch keinen qualifizierten Diskurs aus. Institutionen und Organisationen im Bereich der Zivilgesellschaft (Schule, Ver44 Zur Pluralitätsfrage auch  : Mandry, Christof, vgl. das Kapitel  : „Werte und Religion im Europäischen Wertediskurs“, 63ff. 45 Vgl. z. B. Michalski (ed.), What Holds Europe Together  ?  ; Fürst, Walter/Drumm, Joachim/Schröder, Wolfgang M. (Hg.)  : Ideen für Europa. Christliche Perspektiven der Europapolitik, Münster 2004. 46 Dieser Wahrheitsbegriff orientiert sich an der biblisch-theologischen Tradition, wo Wahrheit untrennbar mit Fragen der Gerechtigkeit verbunden ist. Vgl. auch  : Schockenhoff, Eberhard  : Zur Lüge verdammt  ? Politik, Medien, Medizin, Justiz, Wissenschaft und die Ethik der Wahrheit, Freiburg im Breisgau 2000.

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eine, religiöse Gemeinden, NGOs) kommt in solchen Kommunikationsprozessen ebenso eine Schlüsselrolle zu wie den Medien.47 Kommunikation ermöglicht in diesen „Räumen“ Vergemeinschaftung durch Partizipation. Erst so können Werte nachhaltig internalisiert und wirksam werden. Die dabei entstehende Wertegemeinschaft ist prinzipiell offen  : Sie kann eine Gemeinschaft aufgrund gleicher Werte ebenso sein wie eine aus relativ unterscheidbaren Werten. Das Suchen, Reflektieren, Ringen ist konstitutiver Bestandteil der Vergemeinschaftung.48 Kommunikation bezeichnet hier den Austausch von Deutungen und Bedeutungen zur Konstruktion einer gemeinsamen Welt durch Dialog.49 Dialog ist daher immer auch Verständigung über Differenz  ; Kommunikation ist die Reaktion auf Verschiedenheit und bearbeitet diese. Dabei werden Beziehungen ausverhandelt – und erfahrungsgesättigte Werte entstehen. Werte sind nicht mehr nur abstrakte Wirklichkeiten, sondern werden konkret. 2.3.4 Verantwortet über Werte sprechen beinhaltet zugleich die Sorge um Institutionen

Werte entstehen immer auch in Institutionen. Deren explizit propagierte, vor allem aber deren implizit wirkende und gelebte Werte haben einen nachhaltigen Einfluss auf die Entstehung von Werten. In den Strukturen von Institutionen verdichten sich geronnene Erinnerungen, Hoffnungen, Erwartungen, Enttäuschungen. Diese stehen mitunter im Gegensatz zum veröffentlichten Programm. Institutionelle Strukturen können Werte daher fördern, blockieren oder zerstören.50 Gelingende Wertekommunikation braucht also Institutionenreform.51

47 Vgl. zum folgenden  : Bauer, Thomas A./Ortner, Gerhard E. (Hg.)  : Werte für Europa. Medienkultur und ethische Bildung in und für Europa, Düsseldorf 2006. 48 Ebd., 7. 49 Bauer, Thomas A.  : Minderheiten – Medien – Kompetenz, in  : Bauer/Ortner (Hg.), Werte für Europa, 187–210, 193. 50 So kann der Mangel an Solidarität z. B. auch an einem Mangel dafür nötiger partizipatorischer Strukturen in einer Institution liegen (z. B. Politik)  ; Werte können folgenlos bleiben, da die gesetzlichen Grundlagen unzureichend sind (z. B. Vereinbarkeit von Familie und Beruf )  ; in der Schule wird Kooperation gefordert, aber Konkurrenz durch Strukturen begünstigt. 51 Konzepte und Erfahrungen zu solcher Organisationsethik liegen bereits vor, z. B. im Bereich der wertorientierten Schulentwicklung oder der Organisationsentwicklung in Kirchen, Caritas und Diakonie  ; vgl. Krobath, Thomas (Hg.)  : Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik, Freiburg im Breisgau 2010  ; Heller, Andreas/Krobath, Thomas (Hg.)  : Organisationsethik. Organisationsentwicklung in Kirchen, Caritas und Diakonie, Freiburg im Breisgau 2003  ; das Projekt „Wahrnehmungs- und Wertorientierte Schulentwicklung“  : Stand  : 07.04.2011, URL  : http  ://www. kphvie.ac.at/kompetenzzentren/schulentwicklung/wwse.html.

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Mit Hans Joas lässt sich dieser Zusammenhang folgendermaßen erklären  :52 Werte entstehen innerhalb eines dreieckigen Kraftfeldes. Dieses bildet sich im Zusammenspiel zwischen (1) den Werten selbst, definiert als diskursive und argumentierte Artikulationen von Erfahrungen in Begriffen von Gut und Böse  ; (2) den Alltagspraktiken, in denen immer schon, auch implizit, ein Bewusstsein davon wirkt, was gut oder böse ist  ; und (3) schließlich den Institutionen, die Werte in bindende Regeln übersetzen. Werte entfalten daher erst ihre volle Wirksamkeit, wenn drei Bedingungen erfüllt sind  : (1) Sie sind intellektuell begründet, vor allem aber subjektiv evident und gefühlsmäßig intensiv. (2) Sie sind in konkreter Alltagspraxis inkarniert und können relevant und handlungsleitend wirken. (3) Sie werden von den gesellschaftlichen Institutionen getragen (d.h. konkret gelebt) und von der Zivilgesellschaft propagiert. 2.3.5 Werte sind ihrer kulturellen Bedeutung wahr- und ernstzunehmen

Sie strukturieren nicht nur die Sozialbeziehungen in einer Gesellschaft und halten diese zusammen, sondern prägen zugleich deren Kultur. Das zeigt der komplexe Prozess der Wertentstehung, wie ihn Joas beschreibt. Veränderungen im Alltagsverhalten oder in Institutionen hängen eng mit kulturellen Traditionen zusammen. Eine historische Perspektive weitet den sozialwissenschaftlichen Zugang und lässt nach der Bedeutung der Kultur für Werte fragen. Kultur bezeichnet das, wodurch und wie Menschen sich selbst ausdrücken  ; wodurch und wie sie die Welt und ihre sozialen Beziehungen erkennen und gestalten  ; wodurch und wie sie ihre Erfahrungen kommunizieren und vergegenständlichen.53 Kultur ist ein empirisch-geschichtlicher Prozess. Kulturwissenschaftlich spricht man von einer symbolischen Ordnung von benennbaren Codes, mit denen in einem sozialen Kontext verbal und nonverbal interagiert wird.54 Pointiert  : „Kultur ist eine Antwort auf drei Fragen  : wie die Welt im Inneren beschaffen ist, wie sie sein soll und wie sie vermutlich werden wird.“55 Werte spielen dabei eine Schlüsselrolle  : Sie orientieren, repräsentieren und entstehen zugleich durch kulturelle Kommunikationsprozesse. Diese sind selbst eine kulturelle Leistung, die Werte generieren und bilden. Ein solches Verständnis von Kultur macht deutlich, dass Werte nicht allein soziologisch oder aus politischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen heraus erklärt werden können. Sie halten sich nicht an die Grenzen nationalstaatlich organisierter Gesellschaften und spielen eine 52 Vgl. Joas, Hans  : Der Mensch muss uns heilig sein, in  : Die Zeit, 22. Dezember 2010, 49–50, 50. 53 Vgl. Gaudium et Spes. Die pastorale Konstitution der Kirche in der Welt von heute, 53. 54 Vgl. Feichtinger, Europa, quo vadis  ?, 29. 55 Leggewie, Claus/Welzer Harald  : Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt am Main 2009, 14.

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Rolle in allen Lebensbereichen. Kulturen sind „sich kreuzende Einflüsse, die von bestimmten Räumen ausgehen und keine Grenzen kennen.“56 Grenzen markieren Unterschiede, müssen aber keinen Ausschluss bedeuten. Paul Ricoeur vergleicht die kulturellen Zentren mit Lichtkegeln, die sich kreuzen und ein Netzwerk mit engen Maschen aufspannen. Kulturelle Kommunikation über Werte ist ein grenzüberschreitender Prozess. 2.3.6 Das „Unverfügbare“ des Mensch-Seins nicht vergessen

Hannah Arendts Fundamentalkritik am Wertebegriff erinnert daran, dass in keinem Wertediskurs die Frage nach dem transzendenten, unverfügbaren Ermöglichungsgrund von Mensch-Sein vergessen werden darf. Zu einem verantworteten Umgang mit dem Wertebegriff gehört ebenfalls die Sorge um das Geheimnis des Menschen. Auch wissenschaftliche Zugangsweisen zum Wertebegriff können die Frage nach dem “Nicht-Austauschbaren“, dem „Unverrechenbaren“ des Mensch-Seins nicht erschöpfend beantworten. Wissenschaften sind daher zur kritischen Selbstreflexion angehalten, um den Menschen mit ihren Theorien und Begrifflichkeiten nicht zu instrumentalisieren oder in seiner Einzigartigkeit und Würde auszulöschen. Wie kann die Sorge um das Unverfügbare des Mensch-Seins in einer säkularen Gesellschaft aussehen, die ohne Rückgriff auf religiöse Traditionen auskommen kann  ? Die Theologie kann sich dieser Aufgabe ebenfalls nicht entziehen und sich in der Argumentation auf Gott als letzten absoluten Wert zurückziehen. Wenn sie Werte thematisiert, unterliegt sie denselben kritischen Fragen und Begründungspflichten wie die „säkularen“ Wissenschaften. Sie teilt die ethischen Herausforderungen und Schwierigkeiten der säkularen Gesellschaft. So ist der Rekurs auf spezifisch „christliche Werte“ problematisch. Er kann ausgrenzende und vereinnahmende Wirkung haben und den Eindruck erwecken, es gäbe ein christliches Sinnreservat. Sinnvoller sind Kriterien, die Dialog, Anschluss und Kritik von Werten aus christlicher Perspektive ermöglichen. Jene Werte wären dann z. B. als christlich zu bezeichnen, die im Dienst der Verwirklichung des Reiches Gottes stehen. Christlich sind Werte dann, wenn sie zur Kritik, Stimulation und Integration menschlichen Handelns in einen christlichen Sinnhorizont beitragen. Insofern sind aus theologischer Sicht christliche Werte immer auch menschliche Werte.

56 Ricoeur, Paul  : Das universelle Projekt und die Vielfalt des Erbes, in  : Bindé, Jerôme (Hg.)  : Die Zukunft der Werte. Dialoge über das 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2007, 68–76, 69.

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2.4 Zusammenfassung und Konsequenzen

Der Versuch, den Gewinn eines interdisziplinären Zugangs zum Wertebegriff modellhaft zu zeigen, führt zu folgenden Schlüssen  : Von Werten lässt sich verantwortet sprechen, wenn 1. jede Wissenschaft ihre Begriffe, Möglichkeiten und Grenzen transparent benennen kann und sich der Kritik anderer Zugänge stellt 2. in jedem Wertediskurs der Wertebegriff klar definiert und aus einem Sinnhorizont heraus begründet ist 3. die Interessen geklärt werden sowie die (historischen und möglichen Folgen) bedacht werden 4. der untrennbare Zusammenhang von Theorie und Praxis konstitutiv mit bedacht wird, d.h. wenn es auch eine Bereitschaft zur (Selbst)Kritik der Praxis gibt, die sich mit dem Sprechen über Werte verbindet 5. die konkreten Wertvorstellungen von Menschen wertgeschätzt und als Erkenntnisquelle ernst genommen werden 6. Pluralität anerkannt wird im Kontext der Frage nach Wahrheit 7. Werte in ihrem Zusammenhang mit Kommunikationsprozessen, Institutionen und Kultur bedacht werden 8. und schließlich das „Unverfügbare“ des Mensch-Seins nicht vergessen wird. 3. Wie ist der Wertewandel in Europa zu interpretieren  ? Die Antwort auf diese Frage erfolgt in drei Schritten  : – Zunächst wird die Frage nach der Perspektive gestellt  : Bedeutet der Wertewandel einen Verfall oder eine Chance  ? Die Perspektive ist entscheidend für die Rezeption empirischer Studien. – Im nächsten Schritt werden drei verschiedene theoretische Zugänge zur Interpretation des Wertewandels vorgestellt  : Modernisierungstheorien, Globalisierungstheorien sowie – ausführlicher – Transformationstheorien. – Schließlich votiere ich für die Weiterentwicklung eines transformationstheoretischen Zugangs zur Interpretation des Wertewandels und begründe dieses.57 57 Nicht alle AutorInnen dieser Studien teilen diesen Ansatz. Da mir die wissenschaftliche Freiheit wichtig ist, gab es daher keine verpflichtende Vorgabe zur Dateninterpretation. So werden die Er-

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3.1 Wertewandel als Werteverfall oder gesellschaftliche Chance  ?

Die empirische Werteforschung zeigt seit den 60er-Jahren einen umfassenden Wertewandel in den europäischen Gesellschaften. Heftig diskutiert wird, wie diese Wandlungsprozesse einzuschätzen sind. Im deutschsprachigen Raum dominiert im öffentlichen Wertediskurs nach wie vor weitgehend die Wahrnehmung des Wertewandels als Werteverfall. Beklagt werden der Rückgang an Mitmenschlichkeit, Gemeinsinn und Solidarität, die Zunahme von Materialismus, Egoismus und Hedonismus, insbesondere bei jungen Menschen. Kriminalität und Gewalt werden ebenfalls mit dem Werteverfall begründet. Wer aus dieser Perspektive Werte einfordert, verlangt zumeist Rückkehr zu traditionellen Wertvorstellungen als Lösung oder sucht nach dem Bleibenden im Wandel. Dem gegenüber stehen Einschätzungen in der Werteforschung, die ein wesentlich differenzierteres Bild liefern. Die sozialwissenschaftlichen Ergebnisse zeigen, dass die gegenwärtigen Werte-Krisen weniger Folge eines Mangels als vielmehr Ausdruck und Konsequenz einer unübersichtlich gewordenen Wertefülle sind. Wohl gibt es „Verfallserscheinungen“, aber das größere Problem sind die vielen neuen Fragen  : Wie kann und soll man sich inmitten der Wertevielfalt orientieren  ? Mit welchen Maßstäben sind Werte zu bewerten  ? Wie sind Werte in Wertekonflikten zu priorisieren  ? Diese neue Situation – eine verstärkte Sensibilität für Wertefragen – kann auch als Chance interpretiert werden. Die Werte-Krise ist ein Zeichen, dass ethische Fragen mitten in der Gesellschaft angekommen sind und Menschen selbständig nach Orientierung suchen möchten. Dieses Potential betont z. B. Helmut Klages in seiner Interpretation des Wertewandels.58 Er votiert für die Förderung neuer Werte durch die gesellschaftlichen Institutionen. Er begründet dies mit seinen Langzeitforschungen. Schon in den 60er-Jahren fand in Deutschland und anderen Ländern ein Wertewandel statt, in dessen Verlauf individualistische Selbstentfaltungswerte an Bedeutung gewannen und Pflicht- und Akzeptanzwerte an Bedeutung verloren. Letztere starben jedoch nicht aus, sondern wurden von der Mehrheit der Bevölkerung zu Synthesen mit den Selbstentfaltungswerten verbunden. Im Zuge dieser Synthesenbildung entwickelten sich unterschiedliche Wertkonstellationen. So entstanden nur bei einer Minderheit junger Menschen in den 80er-Jahren hedonistischer Materialismus und politische gebnisse mittels verschiedener Theorien interpretiert. Für die weitere Diskussion der Studienergebnisse möchte ich meinen Ansatz ins Spiel bringen. Widersprüche, die die Studie zeigt, sollen zur weiteren Diskussion anregen. 58 Klages, Helmut  : Chancen des Wertewandels, in  : Teufel, Erwin (Hg.)  : Was hält die moderne Gesellschaft zusammen  ? Frankfurt am Main 1996, 45–49.

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Abstinenz. Bei einer weitaus größeren Gruppe entwickelte sich ein ganz neues Prinzip  : der aktive Realismus. Selbstverwirklichung spielt dabei eine zentrale Rolle, aber zugleich wollen sich die jungen Menschen in Institutionen und Organisationen selbständig und verantwortlich einbringen. Diese Autonomieentwicklungen haben sich relativ geräuschlos vollzogen und paaren sich mitunter mit erstaunlicher Disziplin. Bis heute haben Gesellschaft und Politik darauf zu wenig reagiert. Dies führt zu Frustration, Resignation oder Rebellion. Klages ortet die gegenwärtigen Schwierigkeiten daher vor allem in der mangelnden institutionellen Förderung dieser vorhandenen Bereitschaften und Entwicklungswünsche. Klages Interpretation zeigt beispielhaft, wie entscheidend die Perspektive auf den Wertewandel ist. 3.2 Wertewandeltheorien

Drei theoretische Zugänge zur Erklärung des Wertewandels werden im Folgenden exemplarisch vorgestellt. Je nach Zugang werden Werte unterschiedlich wahrgenommen und deren Wandel verschieden gedeutet. 3.2.1 Theorien der Moderne, Postmoderne, Multiple Moderne, Zweite Moderne

In diesen Theorien wird schwerpunktmäßig gefragt, wie sich sozioökonomische, soziopolitische und wissenschaftlich-technologische Entwicklungen auf Werte auswirken. So konzentrieren sich diese Ansätze vor allem auf Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesse in allen Lebensbereichen. Sie zeigen, wie Rationalisierungs-, Funktionalisierungs- und Säkularisierungsprozesse der Modernisierung gesellschaftliche Strukturen und Institutionen verändern und sich auf die sozialen Verhältnisse auswirken. Diese Prozesse sind nach wie vor im Gang, haben aber zwischenzeitlich neue Entwicklungen bzw. Probleme nach sich gezogen.59 In der Soziologie werden diese verschieden interpretiert. Theoretiker der „Zweiten Moderne“ (z. B. Ulrich Beck60) sprechen von einer radikalisierten Moderne infolge der Globalisierung  : Eine Weltgesellschaft entsteht und stellt das nationalstaatliche Paradigma in Frage  ; die digitale Revolution verändert Kulturen  ; eine globalisierte Wirtschaft forciert Probleme wie soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Umweltbelastung. Die Moderne tritt sich selbst in einer selbstreflexiven Selbstvergewisserung gegenüber. Postmoderne 59 Vgl. Beck, Ulrich  : Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986. 60 Z.B. Beck, Ulrich/Grande, Edgar  : Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main 2004.

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Theorien bleiben bleiben modernen Prinzipien verhaftet, stehen aber den modernen Ideologien und Utopien kritisch bis ablehnend gegenüber (Jean-François Lyotard, Jacques Derrida). Theorien multipler Moderne sprechen von einer Vielzahl von Modernen, die sich weltweit entwickeln, indem sich Globalisierungsprozesse regional verschieden konkretisieren (z. B. Peter Berger, Hans Joas61). Je nach Theorie wird der Wertewandel interpretiert  : als Ausdruck, Folge oder Kritik verschieden interpretierter Modernisierungsprozesse. Theoretiker der „Zweiten Moderne“ entdecken so die Unzulänglichkeit einer Sozialwissenschaft, die sich in einer globalisierten Moderne am nationalstaatlichen Paradigma orientiert  : neu entstehende europäische und globale Werte können so nicht erforscht werden. Postmoderne Theoretiker sind sensibilisiert für neu entstehende postmoderne Werte. Theoretiker der multiplen Moderne erforschen vor allem die Differenzen zwischen Werten verschiedener Kulturen. 3.2.2 Theorien der Globalisierung

In diesen Theorien wird vor allem danach gefragt, wie sich Globalisierungsprozesse auf Werte auswirken. Der Begriff der Globalisierung lässt sich dabei vielfältig definieren. In der Regel beschreibt er die weltweiten wirtschaftlichen Integrationsprozesse und politischen Interaktionen.62 Dementsprechend kritisch wird dieser Prozess betrachtet, da solche Globalisierung zugleich neue Formen sozialer und territorialer Ungleichheit und Diskriminierung nach sich zieht. Globalisierung kann sich auch auf Menschen beziehen. Der Begriff beschreibt dann jene kulturellen Veränderungen, die internationale Migration, Arbeits- und Umweltmigration, die technologische Revolution63 oder die regionale Rezeption der amerikanischen Kultur64 nach sich ziehen. Nach Giddens ist Globalisierung ein dialektischer Prozess, bei dem soziale Beziehungen weltweit so intensiviert und verbunden werden, dass Ereignisse an einem Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen und umgekehrt.65 Globalisierung kann weiters 61 Z.B. Berger, Peter/Huntington, Samuel P. (eds.)  : Many Globalizations. Cultural Diversity in the Contemporary World, New York 2002  ; Joas, Hans  : Welche Gestalt von Religion für welche Moderne  ?, in  : Reder, Michael/Rugel, Matthias (Hg.)  : Religion und die umstrittene Moderne. Stuttgart 2010. 62 Der Begriff ist von Ökonomen (u.a. Theodore Levitt) eingeführt und propagiert worden. Die sozialwissenschaftliche Rezeption erfolgte vor allem durch Giddens, Anthony  : Konsequenzen der Moderne. Frankfurt 1996. 63 Z.B. Serres, Michel  : Ist die Kultur in Gefahr  ?, in  : Bindé (Hg.), Die Zukunft der Werte, 211–218. 64 Z.B. Berger/Huntington (eds.), Many Globalizations. 65 Giddens, Konsequenzen der Moderne, 84–86.

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die Wahrnehmungs- und Einstellungsveränderungen von Menschen bezeichnen, die aufgrund stetig wachsender Vernetzung der Menschheit untereinander ihr Verständnis von Mensch-Sein und Menschheit verändern. Wertewandel wird hier interpretiert als Ausdruck, Folge und Kritik dieser vielfältigen weltumspannenden Prozesse. 3.2.3 Theorien der Transformation

Viele namhafte Autoren sprechen von dramatischen Wendezeiten und Transformationsprozessen, in denen wir uns befinden.66 „Wir leben seit den epochalen Zäsuren und spektakulären geopolitischen Umwälzungen von 1989 (Fall der Berliner Mauer) und 1991 (Implosion und Selbstauflösung der Sowjetunion) sowie den sie flankierenden Umbrüchen im internationalen System (Ende des Ost-West-Konflikts, Transformationsprozess in Mittel- und Osteuropa, Suche nach einer Neuen Weltordnung) in einer ‚Wendezeit der Geschichte‘ (Karl-Dietrich Bracher), (…) in der sich die Welt von Grund auf verändern wird.“67 Diese Entwicklungen ziehen umfassende Systemveränderungen, i.e. den Umbau politischer und ökonomischer Institutionen mit sich. Sie sind verbunden mit Transformationsprozessen von Werten  : Brüche, Konflikte und Polarisierungen sowie Wertegenesen gehören zu dieser Transformation. Zugleich können Werte ihrerseits diesen globalen Transformationsprozess beeinflussen. Die Stärke der Transformationstheorien besteht darin, dass sie die Neuartigkeit der Situation berücksichtigen. Da sie systemisch denken, haben sie zudem das Potential, Werte und Wertewandel nicht nur als Ausdruck und Folge von Entwicklungen wahrzunehmen, sondern beschreiben, dass und wie Werte in diesen Theorien selbst zu „Motoren“ der Transformation werden können. Transformationstheorien fragen weniger nach Ursache-Wirkungszusammenhängen, sondern beschreiben Veränderungsprozesse von Systemen. Kritiker stellen allerdings zu Recht fest, dass der Begriff der Transformation vorläufig noch unterbestimmt ist. Der Begriff erweist sich bei näherer Analyse eher als eine Formalanzeige für „etwas Neues“ denn als exakt definierbares Konzept. Nahezu inflationär dient er in verschiedenen Wissenschaften zur Beschreibung des Wandels. Das Neue oder Spezifische wird aber selten exakt definiert. Historiker sprechen von der 25-Jahrgrenze, die es braucht, um nachhaltige Veränderungen feststellen zu 66 Ulrich Beck spricht von der Transformation der Nationalstaaten  : Beck/Grande (Hg.), Das kosmopolitische Europa  ; Hans Joas von kulturellen Transformationsprozessen  : Joas, Welche Gestalt von Religion für welche Religion  ?  ; Die prominenten RednerInnen des Kongresses „Die Zukunft der Werte. Dialoge über das 21. Jahrhundert“ betonen die Neuartigkeit der Situation  : Bindé (Hg.), Die Zukunft der Werte. 67 Kirt, Europa – Die Weltmacht der Herzen, 32. Auslassung RP.

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können. In einzelnen Fachdisziplinen lassen sich allerdings hilfreiche Hinweise zur Konzeption einer Transformationstheorie finden. In der Politikwissenschaft Exakte Definitionen gibt es bisher nur im Bereich der Politikwissenschaft. Dort beschreibt der Begriff „Transformation“ politische und ökonomische Systemwechsel und subsumiert Struktur-, System- und Kulturtheorien unter dieser Kategorie und Perspektive.68 Näherhin bezeichnet der Begriff vor allem jenen politischen Systemwechsel, der seit der Zäsur 1989 in den ehemals kommunistischen Ländern stattgefunden hat. Dieser Wandel – oder vielmehr Bruch – hatte und hat Auswirkungen auf Gesellschaften und Kultur. „Dieser Wechsel des gesellschaftlichen Systems und der damit verbundene Wandel der Kultur hat sich in den einzelnen Ländern auf unterschiedliche Weise vollzogen, weil die Ausgangsbedingungen – politisch, ökonomisch und kulturell – höchst unterschiedlich gewesen sind. Aber auch für die Länder des ‚alten‘ Europa markiert das Jahr 1989 einen historischen Einschnitt, der sich auf allen Ebenen der Gesellschaft nachzeichnen und analysieren lässt. Dabei spielen harte und weiche Phänomene eine Rolle  : die ökonomischen Auswirkungen des Zerfalls der kommunistischen Staaten, das Verschwinden der Systemgrenze zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘ und damit einer zentralen Definitionsachse europäischen Selbstverständnisses im 20. Jahrhundert, neue Raumvorstellungen, Migrationsprozesse, Transfers sowie die Ausbildung neuer beziehungsweise der Rückgriff auf alte Repräsentationssysteme des ‚eigenen Fremden‘, des Fremden in der Nähe.“69

In der Sozialwissenschaft Ein Überblick über die sozialwissenschaftliche Transformationsforschung der vergangenen zwei Jahrzehnte zeigt einen Mangel in der Theoriebildung zum Konzept „Transformation“.70 Eine große Zahl von Einzelstudien und -theorien über den Übergang der kommunistischen Länder in moderne Demokratien liegt vor. Neue Erkenntnisse über Modernisierungs- und Demokratisierungsprozesse konnten 68 Merkel, Wolfgang  : Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Wiesbaden2 2010. 69 Fassmann, Heinz/Müller-Funk, Wolfgang/Uhl, Heidemarie (Hg.)  : Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven, Wien 2009, 9. 70 Wiesenthal, Helmut  : Transformation oder Wandel  ? Impressionen aus (fast) zwei Jahrzehnten Transformationsforschung. (Online-Dokument, Stand  : 07.04.2011, URL  : http  ://zs.thulb.uni-jena. de/servlets/MCRFileNodeServlet/jportal_derivate_00177851/Heft % 2031_2.pdf.).

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bisher allerdings nicht gewonnen werden. Helmut Wiesenthal vermutet, dass der Transformationsprozess überhaupt erst begonnen hat – und entsprechende Parameter, was das „Neue“ an der Transformation ausmacht, erst ex post wahrgenommen werden können  : „Denn es wird immer deutlicher, dass die postsozialistische Transformation nicht das Ende tief greifender Anpassungsprozesse in Europa darstellt, sondern nur ihren besonders markanten Auftakt. Während der nächsten Periode beschleunigten sozialen Wandels, die als Folge des Aufstiegs der sog. ‚emerging economies‘ und des abnehmenden Gewichts Europas in der Weltwirtschaft zu erwarten ist, werden die europäischen Wohlfahrtsstaaten nicht mehr als Vorbild und Entwicklungshelfer dienen können, sondern selbst Objekt und Subjekt tief greifender Anpassungsprozesse sein.“71

Im Kontext von Wirtschaftssystemkritik Weitere Hinweise zum Transformationsbegriff72 finden sich beim Sozialanthropologen Karl Polanyi, der in seinem Buch „The Great Transformation“ (1944) in der modernen Geschichte zwei große ökonomische Organisationsprinzipien am Werk sieht  : das eine, das auf die ungebändigte Freiheit des selbstregulativen Marktes, also seine Entbettung aus allen nicht-ökonomischen Bezügen zielt  ; das andere, das die selbstzerstörerischen Wirkungen des Marktprinzips zu begrenzen sucht. Dieses hoch aktuelle Werk, erinnert daran, dass Wirtschaft nicht nur ein Tauschsystem rational kalkulierender Individuen ist, sondern über soziale Netzwerke, Haushalte und Genossenschaften stets Muster von sozialer Reziprozität und über politische Organisationen wie den Staat Muster der Redistribution aufweist. Polanyi entwirft dabei das Konzept der „Embeddedness“ und konstituiert Wirtschaftswissenschaft damit als Kulturwissenschaft  : die Wiedereinbettung der Märkte in soziale Netzwerke und Institutionen. Wirtschaftliche Fragen und Wertefragen hängen eng zusammen. Diesen Zusammenhang betont Jeremy Rifkin  : „Die Wirtschaft profitiert von der Kultur, diese ist die Grundlage ökonomischer Profite. Kennen Sie ein historisches Beispiel, in dem Menschen zuerst Handelsbeziehungen oder staatliche Strukturen errichteten und erst dann eine Kultur schufen  ? Von der Aufklärung über Adam Smith und Karl Marx bis zu den Verfechtern der ‚Dritten Weges‘ haben wir uns allesamt getäuscht  : Die Wirtschaft ist nicht die Grundlage der Kultur, vielmehr profitiert erstere von 71 Ebd., 10. 72 Leggewie/Welzer, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, 107–108, greifen diese Hinweise auf im Kontext ihrer Analyse und Kritik des gegenwärtigen Weltwirtschaftssystems und dessen katastrophalen Folgen für die Umwelt.

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letzterer.“73 Werte werden von wirtschaftlichen Veränderungen also nicht nur verändert, sondern können ihrerseits Veränderungen nach sich ziehen. In der Religionssoziologie Der Sozialanthropologe Charles Taylor interpretiert den sozioreligiösen Wandel in Westeuropa als Transformation74 und charakterisiert das „Neue“ an zeitgenössischen Glaubensformen in einer säkularen Gesellschaft folgendermaßen  : Zum einen weiß der glaubende Mensch von heute, dass sein Glaube nur eine von vielen Optionen ist, das Leben zu interpretieren. Zum anderen scheint ein solcher Glaube im Angesicht einer säkularen Wirklichkeitswahrnehmung, die vom szientistischen Paradigma dominiert ist, als irrational und wird daher begründungspflichtig. Damit hat sich die Situation des Glaubens in der Gesellschaft im Vergleich mit vormodernen Gesellschaften geradezu umgekehrt. Analoges gilt in Bezug auf Werte  : Sich auf bestimmte Werte zu verpflichten, ist in einer pluralen Situation nur eine von vielen Möglichkeiten – und sie ist zudem begründungspflichtig geworden. 3.3 Wertetransformation – ein heuristisches Zukunftskonzept zur Interpretation des ­Wertewandels

Eine transformationstheoretische Interpretation des Wertewandels kann noch nicht auf ein ausgegorenes Konzept zurückgreifen. Die erwähnten Hinweise lassen es aber sinnvoll erscheinen, das Konzept der Transformation als Interpretationsrahmen für Wertewandelprozesse weiterzuentwickeln. – Mit seiner Herkunft aus dem politik- und sozialwissenschaftlichen Kontext wird der enge Zusammenhang zwischen sozioökonomischen, soziopolitischen Faktoren und Wertewandelprozessen berücksichtigt. Wertewandel ist nicht nur eine Frage individueller Moralitäten und ethischer Diskurse, sondern konstitutiv und untrennbar mit strukturellen Fragen verbunden. – Mit seiner Herkunft aus der mittel- und osteuropäischen Transformationsforschung lässt sich das Spezifische des Wertewandels in Europa näher beleuchten. Die Bedeutung von 1989, 1991 und der samtenen Revolution im osteuropäischen 73 Rifkin, Jeremy  : Das Zeitalter des Zugangs, in  : Bindé, Die Zukunft der Werte, 158–183, 179. Rifkin verdeutlicht das am Beispiel des Scheiterns westlicher Unternehmer in vielen ehemaligen kommunistischen Staaten, wo der Kommunismus den kulturellen Sektor dermaßen zerstört hatte, dass mangels Sozialkapital keine zuverlässigen Wirtschaftsbeziehungen aufgebaut werden konnten (Ausnahmen  : Ungarn, Tschechoslowakei, Polen), ebd., 181. 74 Taylor, Charles  : Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt am Main 2009, 34.

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Raum wird für den Wertewandel als bedeutsam wahrgenommen. Dies erinnert daran, dass die Rede von Werten in Europa sich nicht nur auf westeuropäische Werte und EU-Werte bezieht. Wertewandelforschung muss in Zukunft die Entwicklungen in Osteuropa verstärkt berücksichtigen, um eine Interpretation des Wertewandels in Europa zu entwickeln. Der Transformationsbegriff ermöglicht eine verstärkte Berücksichtigung der Bedeutung von Kultur bei Wertewandelprozessen. Werte lassen sich dann nicht mehr nur als Reaktion auf sozioökonomische oder politische Veränderungen oder als Resultat derselben verstehen. Sichtbar werden im Transformationskonzept Wertewandelprozesse, die Ausdruck und Folge ausschließlich kultureller Veränderungen sind.75 Werte als Kulturfaktoren können schließlich selbst als Ursachen und Faktoren für soziale und politische Veränderungsprozesse wahrgenommen werden. Da sich im Transformationsbegriff aktive, passive und reflexive Bedeutungsdimensionen verschränken, zollt der Begriff der Tatsache Rechnung, dass Wertewandelprozesse nicht nur in monokausalen Ursache-Wirkungszusammenhängen verstanden werden können, sondern multidimensional und interdisziplinär zu erklären sind. Neue und unabsehbare Entwicklungen finden ebenso Platz. Freilich darf der intransitive Begriff nicht verschleiern, dass Transformation durch bewusste Entscheidungen von Menschen erfolgt, und Wandlungsprozesse daher Opfer produzieren können. Aus praktisch-theologischer Perspektive ist dieser Begriff zur Deutung des Wertewandels offen für schöpfungstheologische und eschatologische Interpretationen, die u.a. davon ausgehen, dass Gott in Gegenwart und Gesellschaft Altes erneuern, Neues entstehen und Lebens- und Menschenzerstörerisches heilen kann. Weiters kann sich eine ethisch-normative Dimension mit diesem Begriff verbinden. Diese formulieren die Politikwissenschaftler Leggewie und Welzer so  : „Die Große Transformation, die ansteht, gleicht in ihrer Tiefe und Breite historischen Achsenzeiten wie den Übergängen in die Agrargesellschaft und in die Industriegesellschaft.“76 Gefordert wird ein fundamentaler Kulturwandel angesichts des anthropogenen Klimawandels und seiner katastrophalen Folgen. „Die Welt durchlebt nicht nur eine historische Wirtschaftskrise, ihr steht auch die dramatischste Erwärmung seit drei Millionen Jahren bevor.“77 Der Ernst dieser Lage

75 Z.B. pädagogischer Wertewandel  : Gewalt gegen Kinder wird gesellschaftlich geächtet  ; Wertewandel in der Frage von Liebe und Sexualität  : freie Partnerwahl, verändertes Sexualverhalten durch die Pille. 76 Leggewie/Welzer  : Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, 13. 77 Ebd.

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verlangt nach einer bewussten und ethisch-politisch verantworteten Wertetransformation. Zusammenfassend lässt sich sagen  : Jede Perspektive und jede Interpretation des Wertewandels hat ihre spezifischen Stärken und Schwächen. Jede hat ihre spezifischen Vorstellungen vom Zusammenhang zwischen Wertewandel und gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Veränderungen. Jede macht von daher verschiedene Dimensionen und Aspekte von Werten und Wertewandelprozessen sichtbar. Ein transformationstheoretischer Ansatz ist eine Möglichkeit, die verschiedenen Zugänge zu verbinden.

4. In welchem Kontext findet die Wertetransformation in Europa statt  ? Modernisierungs-, Globalisierungs- und Transformationsprozesse sind die treibenden Großdynamiken hinter den Wertewandelprozessen in Europa. Im Folgenden werden in acht Schritten pinselstrichartig einige der wichtigsten Veränderungen beschrieben, in deren Kontext Werte heute an Bedeutung verlieren, neu oder anders interpretiert werden oder neue Werte entstehen. Ziel ist dabei, die großen Theorien anschaulich werden zu lassen und einige konkrete „Treiber“ des Wertewandels zu benennen. Dabei sind die Veränderungen auf Mikro-, Meso- und Makroebene der Gesellschaft kaum mehr voneinander zu trennen  : Die sozialen Einheiten, in denen wir gedacht haben – Familie, Institution, Staat – vermischen und verwischen sich in ihren Bedeutungen, da lokale Politik und Weltpolitik aufeinander Auswirkungen haben und allesamt vor neuen Krisen und Ambivalenzen stehen.78 Beck und Grande sprechen von einer „Weltrisikogesellschaft“79 – einer Ära riskanter Unordnung. Die großen weltweiten Konfliktlinien sehen sie in den ökologischen Risikokonflikten, in den globalen Finanzrisiken und in den terroristischen Netzwerken. Regional unterschiedlich wirken sich diese Konflikte auf Europa aus. Wie diese Konflikte wahrgenommen und gelöst werden, hängt eng mit Werten zusammen. 4.1 Veränderungen in Wirtschaft und Technologie

In Europa sind die Auswirkungen der Globalisierung eng verbunden mit dem Ende der „Trente Glorieuses“, jener „dreißig glorreichen Wirtschaftsjahre“, in denen das 78 Beck/Grande, Das kosmopolitische Europa, 336. 79 Dazu Beck/Grande, Das kosmopolitische Europa, 296–314.

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keynesianische Modell kapitalistischen Wachstums den meisten europäischen Marktwirtschaften nie geahnte wirtschaftliche Prosperität und soziale Stabilität ermöglicht hat.80 Mit den Ölkrisen der 70er-Jahre begann eine neue Phase der Umstrukturierung, die sich bis in die 90er-Jahre mit Maßnahmen der Deregulierung, Privatisierung und einem Abbau des Gesellschaftsvertrages zwischen Kapital und Arbeit fortgesetzt hat. Diese Maßnahmen vertieften die kapitalistische Logik der Profitproduktion  : Steigerung der Produktivität, um die neuen Chancen der Globalisierung zu nutzen. Staaten unterstützten diese Prozesse, um die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften zu schützen – häufig auf Kosten der Regulierungen sozialer Sicherung.81 In dieser Zeit werden die ersten Brüche und Konfliktzonen im Wertegefüge sichtbar bzw. wird der Ruf nach Werten laut. Der Wertewandel ist eng verbunden mit den Veränderungen in der Weltwirtschaft und den Reaktionen auf diese in Europa. Die Entwicklungen im Bereich der Technologie spielen dabei eine intensivierende Rolle  : Sie ermöglichen und beschleunigen den wirtschaftlichen Globalisierungsprozess. „Harte“ und „weiche“ Technologie explodiert  : Die Produktion und Nutzung von technischen Hilfsmitteln nehmen ebenso rasant zu wie die Techniken informationeller Natur und das verfügbare Wissen.82 Dabei entstanden virtuelle Finanzmärkte, die von der Realwirtschaft entkoppelt neue wirtschaftliche Dynamiken und Logiken entwickelten – und nach der Finanzkrise 2008 als System selbst in Frage gestellt sind. Denn die Folgen der Zusammenbrüche solcher Märkte – wie 2008 – tragen in der Regel nicht die Verursacher, sondern verschärfen die weltweite Armutsproblematik. Märkte sind heute weltweit miteinander verbunden, die Arbeitsteilung erfolgt international. Damit steigen die Chancen, aber auch die wechselseitige Abhängigkeit und Fragilität. Industriegesellschaften werden zu Dienstleistungs- und Informationsgesellschaften. Diese Rahmenbedingungen wirken sich auf Werte nachhaltig aus, weil sie die Lebensbedingungen nachhaltig verändern, neue Werte propagieren (Internationalisierung) und neue Werte entstehen lassen (Globale Solidarität). 4.2 Veränderungen in der Politik

Der Wirtschaftswandel führt zu neuen Herausforderungen für Staat, Regierungen und Politik. Die Rolle des Staates ändert sich, Sozialstaaten reorganisieren ihre Sozialpolitik. Hinzu kommen in Europa die Spannungen zwischen den – zwischenzeitlich stagnierenden – Europäisierungsprozessen und nationalstaatlichen Interes80 Kirt, Europa – Die Weltmacht der Herzen, 84. 81 Vgl. ebd., 84ff. 82 Vgl. Serres, Ist die Kultur in Gefahr  ?, 211.

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sen. Vielfach überfordert reagieren große Teile der europäischen Bevölkerungen, insbesondere in Osteuropa, mit Demokratieskepsis, Demokratiemüdigkeit und Politikverdrossenheit sowie autoritären Sehnsüchten.83 Zugleich beginnen sich zivilgesellschaftliche Gruppierungen zu organisieren und bringen ihre Lösungen ein. 84 Im weltpolitischen Kontext wird nach 1989 um eine neue Weltordnung, Macht und Ressourcen gerungen. Europa hat hinsichtlich seiner zukünftigen Rolle und Bedeutung in der Weltpolitik noch keine überzeugende Identität gefunden.85 So verändern sich auch politische Werte. 4.3 Veränderungen durch Demographie und Migration

Die demographischen Entwicklungen in Europa konfrontieren die Gesellschaften mit den Herausforderungen einer „ageing society“. Diese eröffnet neue gesellschaftliche Optionen. Ein viertes, erwerbsarbeitsfreies Lebensalter bietet Menschen und Gesellschaft neue Möglichkeiten gemeinwohlorientierten Engagements, verlangt aber dringlich nach neuen sozialpolitischen Lösungen angesichts von Einsamkeit und Krankheit im Alter. Ein gravierender Arbeitskräftemangel in bestimmten Branchen ist ebenfalls eine Folge der demographischen Veränderungen – mit den entsprechenden Konsequenzen für die traditionellen Steuersysteme. Europa ist auf Migration angewiesen. Migration ist bereits jetzt eine Realität, die die europäischen Gesellschaften verändert – ohne dass die gesellschaftlichen und politischen Institutionen durch Umbau bisher darauf adäquat reagiert hätten. Europa steht dabei unter mehrfachem Druck  : angesichts von Überalterung ist Einwanderung für viele Staaten eine ökonomische Notwendigkeit  ; in anderen Staaten führt Abwanderung zum Abzug qualifizierten Personals (Brain Drain). Zugleich reagieren relevante gesellschaftliche Teile mit Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Islamophobie. Zivilgesellschaften, Regierungen und Staat antworten mit heterogenen Rechts- und Integrationsmaßnahmen – von gesellschaftspolitischen Konzepten, die auf „Cultural Diversity“ setzen, bis zu rigiden rechtlichen Exklusionsmaßnahmen. Werteverändernd wirkt ebenfalls die Beschleunigung kultureller und religiöser Pluralität durch Migration – sowohl bei den 83 Vgl. Denz, Hermann  : Krise der Demokratie – Wiederkehr der Führer  ?, in  : Denz, Hermann (Hg.)  : Die europäische Seele. Leben und Glauben in Europa. (Europäische Wertestudie 2000), Wien 2002, 95–118. 84 Deren Bedeutung für den Wertewandel ist aber in den großen europäischen Wertestudien vergleichsweise unsichtbar. 85 Vgl. Checkel, Jeffrey T./Katzenstein, Peter J. (eds.)  : European Identity. Cambridge 2009  ; Kirt, Europa – Die Weltmacht der Herzen, fasst dazu die entsprechende Diskussion zusammen.

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Zu- und Abwanderern als auch bei den autochthonen Bevölkerungen. Die Frage nach dem Leben und Umgang mit kultureller Differenz wird zu einer Schlüsselfrage für den sozialen Frieden und gesellschaftliche Innovation. 4.4 Veränderungen durch den anthropogenen Klimawandel

Europa gehört nach den USA zu den Hauptverursachern jenes Klimawandels, der in den kommenden Jahrzehnten weltweit zu sozialen und politischen Konflikten führen wird. Das Phänomen der Umweltmigration wird Europa vor neue Herausforderungen stellen. Zugleich wird es von den Folgen weniger betroffen sein.86 Ursache für diesen Klimawandel ist u.a. der Lebensstil industrialisierter, reicher Staaten. Der Lebensstil hängt eng mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit und daher mit Werten zusammen. Vorstellungen von Lebensstandard und Lebenszufriedenheit, die Einstellung zum Ressourcenverbrauch, die Bedeutung von Konsum und Wohlstand, die Bereitschaft zum Verzicht  : Sie alle sind Ausdruck und Folge von Werten. Wertewandel ist deshalb nicht nur eine empirisch zu beobachtende Größe, sondern eine Frage des Überlebens der Menschheit. Denn der zu erwartende Klimawandel mit seinen Folgen ist generationen- und nationenübergreifend und nicht nur auf einen bestimmten Zeitraum beschränkt. Bedeutung und Ausmaß der voraussagbaren Folgen kommen in europäischen Teilen der Bevölkerung bereits an. Langsam zeichnet sich der Beginn eines Wertewandels ab, der allerdings empirisch wenig erforscht ist. Das Umweltbewusstsein wächst vor allem bei jungen Menschen, Menschen suchen nach alternativen umweltverträglichen Lebensstilen87, Umweltindustrien entstehen, und Staaten reagieren – mehr oder weniger entschlossen – rechtlich und politisch auf die Situation. Der Klimawandel macht in besonderer Weise deutlich, dass Wertewandel nicht nur eine individuelle Angelegenheit ist, sondern zugleich Kultur- und Institutionenwandel bedeuten muss. 4.5 Soziale Veränderungen

Die bisher beschriebenen Veränderungen beschleunigen den sozialen Wandel der europäischen Gesellschaften. Sie betreffen die Erwerbsarbeit  :88 Arbeitsbedingungen verändern sich, neue Berufe und Beschäftigungsverhältnisse entstehen, damit 86 Vgl. Leggewie/Welzer, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. 87 Z.B. „Eurotopia – Gemeinschaften und Ökodörfer in Europa“  : Stand  : 07.04.2011, URL  : http  :// www.eurotopia.de/. 88 Vgl. Biffl, Gudrun u.a.  : Die Österreicher/-innen und der Wandel in der Arbeitswelt, in  : Friesl/ hamachers-Zuba/Polak (Hg.), Die Österreicher/-innen, 37–86.

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verbunden neue Sozialisationsformen. Arbeitsbiographien werden abwechslungsreicher, für viele jedoch unplanbar und brüchig. Denn zugleich ist die Arbeitsplatzsicherheit bedroht. Werte spielen in der Wahrnehmung der Situation ebenso eine Rolle wie sie sich dadurch verändern  : z. B. die Erwartungen an die Erwerbsarbeit. Vom Wandel betroffen sind menschliche Beziehungen  : Paarbeziehungen, Familienbeziehungen, Geschlechterverhältnisse, Haushaltsstrukturen. Neben den kulturellen Werten und deren Wandel (Gleichberechtigung von Frau und Mann  ; Vorstellungen zur Beziehungsqualität  ; Werte in der Kindererziehung) wirken sich die wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen auf Beziehungsmöglichkeiten und damit auf Werte aus. Dazu kommen die widersprüchlichen Vorstellungen, Wünsche und Erwartungen an Lebensstandard und Lebenszufriedenheit.89 Ein Mehr an Freizeit­ orientierung lässt für viele neue freie Zeit entstehen – aber was geschieht mit ihr  ? Soziale Ungleichheit zwischen einkommens- und bildungsmäßig verschiedenen Gruppen innerhalb einer Gesellschaft nimmt zu. Ebenso wächst kulturelle und territoriale Ungleichheit. Diese Ungleichheitsformen stehen in massiven Spannungen zueinander. Ein Arbeiter in Rumänien kann sozial schlechter gestellt sein als ein Gefängnisinsasse in Schweden. Ein akademisch gebildeter Nigerianer schlechter als ein österreichischer Facharbeiter. Dadurch entstehen neue soziale Milieus. Gewinner sammeln sich in den neuen Dienstleistungsberufen oder bei den international Hochmobilen und eilen den gesellschaftlichen Entwicklungen voraus. Andere Gruppen – im Kleinbürgertum, in der abstiegsbedrohten Mittelschicht, die Meinungsführer der keynesianischen und sozialen Marktwirtschaft – wollen das Erreichte absichern oder weiterentwickeln. Wieder andere Gruppen suchen nach alternativen Lebensstilen. Dabei werden Freundeskreise wieder wichtiger. Schließlich gibt es VerliererInnen  : jene, die bei diesen Entwicklungen nicht mithalten können. So zeigt sich mitten im Reichtum europäischer Wohlfahrtstaaten wieder die Armut – als wirtschaftliche und soziale Ab- und Ausgrenzung. Politisch wird diese Armut verschieden interpretiert  : als beherrschbarer Sonderfall, als Ausdruck ökonomischen und wirtschaftlichen Versagens, als Folge und Ausdruck von Reichtum aufgrund der Wettbewerbsorientierung. 4.6 Sozioreligiöse Veränderungen

Religionen lassen sich zwar (selbst) nicht auf Werte reduzieren, sind aber Sinnquellen für Werte. Ende des 20. Jahrhunderts taucht das Thema Religion wieder stärker im öffentlichen Raum auf. Diese – umstrittene – „Wiederkehr der Religion“ ist 89 Zellmann, Peter/Opaschowski, Horst W.  : Die Zukunftsgesellschaft … und wie wir in Österreich mit ihr umgehen müssen. Wien 2005.

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ein vielschichtiges Phänomen, das sich auf individueller, öffentlicher und politischer Ebene je unterschiedlich darstellt.90 Auf allen Ebenen kommt es zu Resignifikationsprozessen von Religion  : Religion wird im „religiösen Feld“ (Pierre Bourdieu) mit neuen Bedeutungen versehen. Im öffentlichen Raum kommt es zu einer verstärkten „Aufmerksamkeit für Religion“91 als gesellschaftlichem und politischem Phänomen. Mehrere Faktoren führen zu Bedeutungsveränderungen  : (1) Mit dem Ende der Aufteilung der Welt in eine kommunistische und eine kapitalistische Ordnung kommt es zu einem Wandel des Feindbildes. An die Stelle des Gegners „Kommunismus“ tritt jetzt vielfach pauschal „der Islam“. (2) Nach dem 11. September 2001 und seinen Folgen wird Religion medial primär im Kontext von Gewalt und Krieg diskutiert. (3) Die Krisen und Skandale der katholischen Kirche zerstören vielfach das Vertrauen in institutionalisiertes Christentum. (4) Religiöse und konfessionelle Pluralität wird infolge gesellschaftlich anerkannter Religionsfreiheit deutlicher wahrnehmbar. (5) Migration beschleunigt die religiöse Pluralisierung. Denn viele MigrantInnen gehören einer anderen Konfession oder Religion als der Mehrheitsreligion des Aufnahmelandes an. (6) Die Religion der Zugewanderten wird im öffentlichen Raum deutlicher sichtbar  : Religiöse Vereine werden gegründet  ; Orte religiöser Praxis entstehen (Tempel, Moscheen, Gebetsräume, Kirchen). Auf der Mikroebene finden gegenläufige Prozesse statt. Die europaweiten Erosionsprozesse der christlichen Kirchen, v.a. der katholischen Kirche, führen in Westeuropa zu einem Bedeutungsverlust traditionell-gelebter, konfessionell gebundener Alltagsreligion. In Osteuropa können sich die orthodoxen Kirchen wieder erholen, sind aber gleichfalls mit Problemen der Modernisierung und Säkularisierung konfrontiert.92 Überall in Europa sind zugleich – innerhalb wie außerhalb der Kirchen – neureligiöse und spirituelle Experimentier-, Wander- und Suchbewegungen zu beobachten.93 Das Interesse an fernöstlichen Religionen boomt in gebildeten Schichten. Diese wenigen Beispiele zeigen, dass sich Religion in den europäischen Gesellschaften in einem umfassenden Transformationsprozess94 befindet. Der Zu90 Polak, Regina  : Religion kehrt wieder. Handlungsoptionen in Kirche und Gesellschaft, Ostfildern 2005. 91 Casanova, José  : Europas Angst vor der Religion. Berlin 2009. 92 Zulehner, Paul M./Tomka, Miklós/Naletova, Inna  : Religionen und Kirchen in Ost(Mittel)Europa. Entwicklungen seit der Wende, Ostfildern 2008. 93 Z.B. Knoblauch, Hubert  : Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt am Main 2009  ; Martin, Ariane  : Sehnsucht – der Anfang von allem. Dimensionen zeitgenössischer Spiritualität, Ostfildern 2005. 94 Dazu hat die Universität Wien eine Forschungsplattform eingerichtet  : Religion and Transformation in Contemporary European Society. Stand  : 07.04.2011, URL  : http  ://www.religionandtransforma tion.at/.

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sammenhang mit dem Wertewandel ist allerdings noch wenig erforscht  : Wie wirkt sich der Wertewandel auf Religion aus  ? Wie wirkt sich der sozioreligiöse Wandel auf Werte aus  ? Wie verändern sich religiös begründete Werte  ? Welche neuen Werte entstehen im „religiösen Feld“  ? 4.7 Krisenbewusstsein

Ein allgegenwärtiges Krisenbewusstsein wirkt sich ebenfalls auf Wertetransformationsprozesse aus  : Werte zur Krisenlösung werden eingemahnt, Werteverfall als Krisenursache diagnostiziert, Wertewandel als Krisenlösung erhofft. Sozialwissenschaftler betonen dabei die Neuartigkeit gegenwärtiger Krisenphänomene. Die gegenwärtigen Krisen ermöglichen keine Rückkehr zur „alten Ordnung“, sondern stellen die „alte Welt“, ihre Institutionen, Strukturen und Werte in Frage. Markt, Technik, der Staat selbst stehen zur Disposition. So sprechen Leggewie und Welzer von einer „Metakrise“  : Die Kombination der einzelnen Krisen führt zur „Infragestellung des komplexen Zusammenwirkens aller Teilsysteme und damit zur Gefahr eines Systemzusammenbruches, der nur durch entschlossenes Gegensteuern abzuwenden ist.“95 Insofern Krisen etablierte und verlässlich erscheinende Sachverhalte fraglich oder instabil werden lassen, werden soziale Verhaltensweisen und kulturelle Referenzrahmen – und damit Werte – fraglich. 4.8 Ideen- und geistesgeschichtlicher Kontext

Dieser Aspekt kann hier nicht ausgeführt, muss aber eigens erwähnt werden, da er oft unterschätzt wird. Wertetransformation in Europa ist nicht nur im sozialen, ökonomischen und politischen Zusammenhang zu verstehen, sondern auch im Kontext der europäischen Geistesgeschichte zu lesen. Werte, auf die Europa heute stolz ist  : Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität, Menschenwürde, Friede, Toleranz, Recht und Menschenrechte – haben als Leit-Ideen und in der Vielfalt und Widersprüchlichkeit ihrer Begriffsgeschichten immer eine eigenständige geistige Wirkkraft gehabt.96 Als Formalanzeigen sind Ideen eine gewichtige Antriebskraft für Wertetransformationsprozesse. In der Auseinandersetzung mit der historischen Erfahrung haben diese Ideen an Inhalt gewonnen, trotz und gerade wegen des oftmaligen historischen Versagens. So ist die Idee der Gerechtigkeit oder das Konzept 95 Leggewie/Welzer, Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, 22. 96 Einen Versuch, den „europäischen Sonderweg“ zu beschreiben und spezifisch europäische Werte herauszuarbeiten findet man bei Sedmak, Europäische Grundwerte, Werte in Europa, 19–37.

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der Menschenrechte in der Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeitserfahrungen schrittweise gewachsen. Die Ideengeschichte lässt sich also nicht von den konkreten Ereignissen trennen, ist aber als irreduzible Kraft im Wertewandel wahrzunehmen.97 Drei Aspekte scheinen dazu heute bedenkenswert, wenn der Diskurs der Ideen weiterhin wirkkräftig sein soll  : – Das Bekenntnis zur Pluralität  : Die Konkretion von „Ideen“ kann niemals absehen von den jeweiligen Umständen. – Die Erinnerung an die Geschichte  : Sie verpflichtet dazu, die Wertediskussion heute in einer Kultur der Bescheidenheit, der Sensibilität, der Skepsis und des Zweifels zu führen. Eine „reine“ philosophische Wertediskussion darf es heute nicht mehr geben. – Die Spannung zwischen Universalismus und Partikularität  : In dieser Spannung die Frage nach den Werten zu diskutieren, scheint ein charakteristisches Erbe der europäischen Geistesgeschichte zu sein.

5. Welchen Beitrag leistet der empirische Überblick über die Werte in ­Europa zum Diskurs um die europäischen Werte  ? Die Europäische Wertestudie fragt nach den empirisch vorfindbaren Einstellungen zu Werten. Sie fragt also nach den Werten in Europa. Davon zu unterscheiden sind die europäischen Werte, zu denen sich die Europäische Union bekennt  : „Die Werte, auf die sich die Union gründet sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedsstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“98 Die Frage nach der Kohärenz der Werte in Europa mit den europäischen Werten wird zunehmend wichtiger  : (1) aufgrund der Relevanz der Diskussion um die „europäische Wertegemeinschaft“, (2) angesichts der Politisierung des Wertediskurses, (3) 97 In diesem Kontext muss man auch den Einfluss der Wissenschaft anführen, deren Erkenntnisse immer auch zentrale Motoren gesellschaftlichen Wertewandels waren  : Von der Veränderung des Weltbilds durch Kopernikus bis zu den „Werten“ der NS-Rasseforschung. 98 Artikel 2, Vertrag über die Gründung der Europäischen Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon, vgl. Stand  : 28.04.2011, URL  : http  ://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do  ?uri=OJ  : C  :2010  :083  :0013  :0046  :DE  :PDF.

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angesichts des mäßig ausgeprägten Europa-Bewusstseins der Menschen99 und (4) mit Blick auf die Frage, welche Rolle Europa in der Welt spielen will und wird  : Jedes politische Ziel, das in den Bevölkerungen nicht wertemäßig gedeckt ist, bleibt zahnlos. Es lassen sich auf Basis der Empirie einige Hinweise für die Zukunft formulieren  : 5.1 Wertebildung und Werteforschung werden in Zukunft wichtiger

Die empirischen Werte in Europa bilden Ausgangspunkt und Grundlage für ethisches und politisches Handeln, für ethischen und politischen Diskurs und Entscheidungen in Europa – ob man mit ihnen einverstanden ist oder nicht. Die Ergebnisse der Studie zeigen deutlich sowohl Wertebildungs- als auch Werteforschungsbedarf. Die Europäische Wertestudie ermöglicht einen unverzichtbaren Einblick in die großen gesellschaftlichen Trends und Langzeitentwicklungen. Manche Entwicklungen zeigen deutliche Widersprüche zu europäischen Werten (Fremdenfeindlichkeit), andere weisen auf politische und soziale Probleme hin. Unsichtbar bleiben empirisch überprüfte Ursachen und Motive des Wertewandels  ; ebenso Minderheiten, die neue Werte entwickeln oder neue Trends setzen. Die Studie bietet ebenso Einblick in zentrale Lebensbereiche, deckt aber längst nicht alle Wertebereiche ab  : Insbesondere der gesamte Bereich kultureller Werte fehlt  ; die Fragen zur Religion lassen eine Überprüfung aktueller religionssoziologischer Theorien nicht zu  ; im Bereich der Politik fehlen Fragen zur Akzeptanz der Menschenrechte ebenso wie ein Überblick über die zivilgesellschaftlich generierten Werte. Dennoch zeigen z. B. gerade die politischen Ergebnisse die Dringlichkeit politischer Bildung. 5.2 Die Eigenart einer heterogenen Wertelandschaft ernstnehmen

Die Ergebnisse zeigen eine äußerst heterogene Wertelandschaft. Große Unterschiede lassen sich nicht immer allein durch nationale Rahmenbedingungen – Sozialpolitik, Gesetzgebung, wirtschaftliche Lage – erklären, sondern verweisen auf die tiefe Verbindung zwischen Werten, Kultur und Geschichte. Die vielfältigen Wertelandschaften in Europa sind gleichsam durch historische Erfahrung organisch gewachsene Ge99 Das zeigt eine Spezialauswertung der Europäischen Wertestudie von Gnirs, Dominik  : Neue EuropäerInnen. Seminararbeit, unveröff. MS, Wien 2010. Stand  : 16.05.2011, URL  : http  ://ktf.univie. ac.at/content/forschung/wertestudie/de/materialiendownloads/index.html  ; Auch Noll, HeinzHerbert/Scheuer, Angelika  : Kein Herz für Europa  ? Komparative Indikatoren und Analysen zur europäischen Identität der Bürger, in  : ISI 35 (2006), (Informationsdienst Soziale Indikatoren), 1–5, berichten von einer insgesamt geringen Verbundenheit europäischer BürgerInnen der EU–15 mit Europa.

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biete und Gebilde. Zugleich sind sie infolge von Erfahrungen mit Krieg und Gewalt durchzogen von Brüchen, Rissen und Abgründen. Veränderungen lassen sich daher weder erzwingen, beschleunigen noch anordnen. Werteveränderungen bedürfen oft ein bis zwei Generationen, bis sie „ankommen“ oder nachhaltig Wurzeln schlagen. Werte entwickeln sich langsam und unmerklich. Da sie eng mit Erfahrungen und Lebensraum zusammenhängen, verfügen sie dementsprechend über Bindungskräfte und „Dichte“, d.h. Verankerung im Alltagsleben. Nicht bewusst verarbeitete geschichtliche Erfahrungen (Krieg, NS-Zeit, Kommunismus) wirken sich ebenso auf Werte und deren Wandel aus. Wertebildungsprozesse, Werteforschung sowie der öffentliche und politische Wertediskurs müssen das verstärkt berücksichtigen. 5.3 Der europäische Wertediskurs ist kritisch zu befragen

Nachdem die Hoffnungen der Europäischen Union, die Einheit Europas auf ökonomischer Basis zu erreichen und zu sichern, gescheitert sind, lässt die EU verstärkt nach Kultur und Werten fragen. Entsprechende Dokumente sind publiziert worden, die sich gemeinsamen kulturellen Werten verpflichtet wissen oder die kulturellen Werte europaweit erforschen.100 Es bedarf einer kritischen Auseinandersetzung mit den dahinterstehenden Interessen einer europäischen „Werte-politik“ und einer Formulierung von Herausforderungen und Aufgaben. Eine von der EU eingesetzte Gruppe, die „Michalski-Gruppe“ hat dazu entsprechende Hinweise formuliert.101 Europäische Kultur wird als Aufgabe und Prozess beschrieben, für deren Identität eine bloße Liste an gemeinsamen Werten nicht ausreichen wird. Als Horizont der Wertedebatte werden u.a. wirtschaftspolitische Forderungen formuliert  : Eine effektive und gerechte Wirtschaft muss in die Moralitäten, kulturellen Gewohnheiten und Lebensvorstellungen der Menschen ebenso eingebettet sein wie in die sozialen Institutionen. Eine EU, die kulturelle Werte fördern will, ist zugleich verantwortlich für die Herausforderungen durch Demographie, Migration, soziale Ungleichheit und den Frieden in der Welt.102 100 Einen Überblick dazu bieten folgende Links  : Stand  : 07.04.2011, URL  : http  ://www.euractiv.com/ en/culture/european-values-identity/article–154441  ; URL  : http  ://ec.europa.eu/dgs/education_ culture/publ/pdf/culture/barometer_en.pdf  ; URL  : http  ://ec.europa.eu/culture/pdf/doc958_en. pdf  ; auch  : Weidenfeld, Werner/Wessels, Wolfgang (Hg.)  : Jahrbuch der Europäischen Integration. Baden-Baden 2011. 101 Biedenkopf, Kurt/Geremek, Bronislaw/Michalski, Krzysztof/Rocard, Michel  : What Holds Europe Together  ? Concluding Remarks, in  : Michalski (ed.), What Holds Europe Together  ? 93–102. 102 Ebd., 96–97.

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5.4 Wertewandel braucht konkrete Maßnahmen

Ethische Stellungnahmen und politische Verordnungen sind unabdingbar, greifen allein aber zu kurz, um Werte zu verändern. Wer Fremdenfeindlichkeit, Demokratieskepsis, Frauendiskriminierung nachhaltig verändern möchte, wird ein besonderes Augenmerk auf Lebensformen und -erfahrungen von Menschen richten müssen. Besondere Sorge muss dabei den gesellschaftlichen Institutionen gelten  : den Schulen, Universitäten, Unternehmen, politischen Einrichtungen. Wenn europäische Werte internalisiert werden sollen, müssen sie als gesellschaftliche Werte in Institutionen konkret erfahrbar werden können.

Literatur Arendt, Hannah  : Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München9 1986 (1955) Bauer, Thomas A.  : Minderheiten – Medien – Kompetenz, in  : Bauer/Ortner (Hg.), Werte für Europa, 187–210 Bauer, Thomas/Ortner, Gerhard E. (Hg.)  : Werte für Europa. Medienkultur und ethische Bildung in und für Europa, Düsseldorf 2006 Beck, Ulrich  : Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986 Beck, Ulrich/Grande, Edgar  : Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main 2004 Berger, Peter/Huntington, Samuel P. (eds.)  : Many Globalizations. Cultural Diversity in the Contemporary World, New York 2002 Biedenkopf, Kurt/Geremek, Bronislaw/Michalski, Krzysztof/Rocard, Michel  : What Holds Europe Together  ? Concluding Remarks, in  : Michalski (ed.), What Holds Europe Together  ? 93–102 Biffl, Gudrun u.a.  : Die Österreicher/-innen und der Wandel in der Arbeitswelt, in  : Friesl, Christian/Hamachers-Zuba, Ursula/Polak, Regina (Hg.), Die Österreicher/-innen, 37–86 Bindé, Jerôme (Hg.)  : Die Zukunft der Werte. Dialoge über das 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2007 Bittner, Wolfgang J.  : Wert, in  : Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde, Band O-Z, hg. von Burkhardt, Helmut, Wuppertal 1994, 2152–2154 Casanova, José  : Europas Angst vor der Religion. Berlin 2009 Checkel, Jeffrey T./Katzenstein, Peter J. (eds.)  : European Identity. Cambridge 2009 Csáky, Moritz/Feichtinger, Johannes (Hg.)  : Europa – geeint durch Werte  ? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld 2007 Denz, Hermann (Hg.)  : Die europäische Seele. Leben und Glauben in Europa. (Europäische Wertestudie 2000), Wien 2002

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Denz, Hermann  : Krise der Demokratie – Wiederkehr der Führer  ?, in  : Denz, Die europäische Seele, 95–118 Derrida, Jacques/Habermas, Jürgen  : Unsere Erneuerung. Nach dem Krieg  : Die Wiedergeburt Europas, in  : Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. Mai 2003, Nr. 125, 33–34 Fassmann, Heinz/Müller-Funk, Wolfgang/Uhl, Heidemarie (Hg.)  : Kulturen der Differenz – Transformationsprozesse in Zentraleuropa nach 1989. Transdisziplinäre Perspektiven, Wien 2009 Feichtinger, Johannes  : Europa, quo vadis  ? Zur Erfindung eines Kontinents zwischen transnationalem Anspruch und nationaler Wirklichkeit, in  : Csáky, Europa – geeint durch Werte  ?, 19–43, 25 Friesl, Christian/Polak, Regina/Hamachers-Zuba, Ursula (Hg.)  : Die Österreicher/-innen. Wertewandel 1990–2008, Wien 2009 Fürst, Walter/Drumm, Joachim/Schröder, Wolfgang M. (Hg.)  : Ideen für Europa. Christliche Perspektiven der Europapolitik, Münster 2004 Gaudium et Spes. Die pastorale Konstitution der Kirche in der Welt von heute. 1968 Giddens, Anthony  : Konsequenzen der Moderne. Frankfurt 1996 Harth, Manfred  : Werte und Wahrheit. Paderborn 2008 Heller, Andreas/Krobath, Thomas (Hg.)  : Organisationsethik. Organisationsentwicklung in Kirchen, Caritas und Diakonie, Freiburg im Breisgau 2003 Hiller, Friedrich (Hg.)  : Normen und Werte. Heidelberg 1982 Hunold, Gerfried (Hg.)  : Lexikon der christlichen Ethik II, Band 2, L-Z, Freiburg im Breisgau 2003, 2046 Joas, Hans  : Braucht der Mensch Religion  ? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg im Breisgau 2004 Joas, Hans  : Der Mensch muss uns heilig sein, in  : Die Zeit, 22. Dezember 2010 Joas, Hans  : Die Entstehung der Werte. Frankfurt am Main 1999 Joas, Hans  : Welche Gestalt von Religion für welche Moderne  ?, in  : Reder, Michael/Rugel, Matthias (Hg.)  : Religion und die umstrittene Moderne. Stuttgart 2010 Joas, Hans/Wiegandt, Klaus (Hg.)  : Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt am Main 2005 Kirt, Romain  : Europa – Die Weltmacht der Herzen. Zukunftsszenarien für das 21. Jahrhundert, Hildesheim 2009 Klages, Helmut  : Chancen des Wertewandels, in  : Teufel, Erwin (Hg.)  : Was hält die moderne Gesellschaft zusammen  ? Frankfurt am Main 1996, 45–49 Knoblauch, Hubert  : Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt am Main 2009 Kovacs, Janos Matyas  : Between Resentment and Indifference. Narratives of Solidarity in the Enlarging Union, in  : Michalski (ed.), What Holds Europe Together  ?, 54–85 Krobath, Hermann  : Werte. Ein Streifzug durch Philosophie und Wissenschaft, Würzburg 2009 Krobath, Thomas (Hg.)  : Ethik organisieren. Handbuch der Organisationsethik, Freiburg im Breisgau 2010 Kury, Astrid/Tragatschnik, Ulrich  : Kultur – Identität – Differenz. Wien und Zentraleuropa in der Moderne, Innsbruck u.a. 2004

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Leggewie, Claus/Welzer Harald  : Das Ende der Welt, wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie, Frankfurt am Main 2009 Mandry, Christof  : Europa als Wertegemeinschaft. Eine theologisch-ethische Studie zum politischen Selbstverständnis der Europäischen Union, Baden-Baden 2009 Martin, Ariane  : Sehnsucht – der Anfang von allem. Dimensionen zeitgenössischer Spiritualität, Ostfildern 2005 Merkel, Wolfgang  : Systemtransformation. Eine Einführung in die Theorie und Empirie der Transformationsforschung, Wiesbaden2 2010 Michalski, Krzysztof (ed.)  : What Holds Europe Together  ? Conditions of European Solidarity. Vol. I, Budapest – New York 2006 Mieth, Dietmar  : Kontinuität und Wandel der Wertorientierungen, in  : Concilium (Internationale Zeitschrift für Theologie) 23 (1987), 210–215 Noll, Heinz-Herbert/Scheuer, Angelika  : Kein Herz für Europa  ? Komparative Indikatoren und Analysen zur europäischen Identität der Bürger, in  : ISI 35 (2006) (Informationsdienst Soziale Indikatoren), 1–5 Osterdiekhoff, Georg/Jegelka, Norbert (Hg.)  : Werte und Wertewandel in westlichen Gesellschaften  : Resultate und Perspektiven der Sozialwissenschaften. Opladen 2001 Pieper, Annemarie  : Art. Wert. I. Philosophisch, in  : Lexikon für Theologie und Kirche. Band 10, hg. von Buchberger, Michael/Kasper, Walter, 3. Aufl., Freiburg im Breisgau 2001, 1106–1107 Polak, Regina  : Religion kehrt wieder. Handlungsoptionen in Kirche und Gesellschaft, Ostfildern 2005 Polak, Regina/Friesl, Christian/Hamachers-Zuba, Ursula  : „Werte“ – Versuch einer Klärung, in  : Friesl, Christian/Polak, Regina/Hamachers-Zuba, Ursula (Hg.)  : Die Österreicher/-innen. Wertewandel 1990–2008, Wien 2009, 13–36 Pollack, Johannes  : Europäische Werte  ?, in  : Csáky, Moritz/Feichtinger, Johannes (Hg.)  : Europa – geeint durch Werte  ? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld 2007, 89–101, 91 Prole, Dragan  : Europäische Responsivität  : Verschränkung der Gedächtnisse und Werte, in  : Csáky, Moritz/Feichtinger, Johannes (Hg.)  : Europa – geeint durch Werte  ? Die europäische Wertedebatte auf dem Prüfstand der Geschichte, Bielefeld 2007, 75–88 Ratzinger, Josef  : Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg – Basel – Wien 2005 Reder, Michael/Rugel, Matthias (Hg.)  : Religion und die umstrittene Moderne. Stuttgart 2010 Ricœur, Paul  : Das universelle Projekt und die Vielfalt des Erbes, in  : Bindé (Hg.), Die Zukunft der Werte, 68–76 Rifkin, Jeremy  : Das Zeitalter des Zugangs, in  : Bindé, Jerôme (Hg.)  : Die Zukunft der Werte. Dialoge über das 21. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2007, 158–183 Rinderle, Peter  : Werte im Widerstreit. Freiburg im Breisgau 2007 Römelt, Josef  : Art. Wert. II  : Theologisch-ethisch, in  : Lexikon für Theologie und Kirche. Band 10, hg. von Buchberger, Michael/Kasper, Walter, 3. Auflage, Freiburg im Breisgau 2001, 1107

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Rupnik, Jacques  : The European Union’s Enlargement to the East and Solidarity, in  : Michalski (ed.), What Holds Europe Together  ?, 86–92 Schockenhoff, Eberhard  : Zur Lüge verdammt  ? Politik, Medien, Medizin, Justiz, Wissenschaft und die Ethik der Wahrheit, Freiburg im Breisgau 2000 Sedmak, Clemens  : Europäische Grundwerte, Werte in Europa, in  : Sedmak (Hg.), Solidarität, 9–42 Sedmak, Clemens (Hg.)  : Solidarität. Vom Wert der Gemeinschaft, Darmstadt 2010 Serres, Michel  : Ist die Kultur in Gefahr  ?, in  : Bindé (Hg.), Die Zukunft der Werte, 211–218 Straub, Eberhard  : Zur Tyrannei der Werte. Stuttgart 2010 Taylor, Charles  : Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt am Main 2009 Teufel, Erwin (Hg.)  : Was hält die moderne Gesellschaft zusammen  ? Frankfurt am Main 1996 Zellmann, Peter/Opaschowski, Horst W.  : Die Zukunftsgesellschaft … und wie wir in Österreich mit ihr umgehen müssen. Wien 2005 Zulehner, Paul M.  : Fundamentalpastoral. Kirche zwischen Auftrag und Erwartung, Düsseldorf 1989 Zulehner, Paul M./Tomka, Miklós/Naletova, Inna  : Religionen und Kirchen in Ost(Mittel) Europa. Entwicklungen seit der Wende, Ostfildern 2008 Internetquellen „Christliche, wertorientierte Erziehung und Bildung als Anliegen katholischer Privatschulen“, Stand: 07.04.2011, URL  : http  ://www.schulamt.at/aktuelles/20/articles/2007/10/18/ a2758/ Euractiv, Stand  : 07.04.2011, URL  : http  ://www.euractiv.com/en/culture/european-valuesidentity/article–154441 „Eurotopia – Gemeinschaften und Ökodörfer in Europa“, Stand  : 07.04.2011, URL  : http  :// www.eurotopia.de/ Eurobarometer survey on cultural values within Europe, Stand  : 10.05.2011, URL  : http  :// ec.europa.eu/dgs/education_culture/publ/pdf/culture/barometer_en.pdf Forschungsplattform “Religion and Transformation in Contemporary European Society”, Stand  : 07.04.2011, URL  : http  ://www.religionandtransformation.at/ Gnirs, Dominik  : Neue EuropäerInnen. Seminararbeit, unveröff. MS, Wien 2010. Stand  : 16.05.2011, URL  : http  ://ktf.univie.ac.at/content/forschung/wertestudie/de/materialiendownloads/index.html Pastoraler Schwerpunkt der Diözese Eisenstadt, Stand  : 04.04.2011, URL  : http  ://www.martinus.at/ueberuns/pastoraleschwerpunkte/ Projekt Lebens.Werte.Schule, Stand  : 07.04 2011, URL  : http  ://www.univie.ac.at/lebenswerteschule/ Projekt „Wahrnehmungs- und Wertorientierte Schulentwicklung“, Stand  : 07.04.2011, URL  : http  ://www.kphvie.ac.at/kompetenzzentren/schulentwicklung/wwse.html Special Eurobarometer 278, Stand: 05.05.2011, URL  : http  ://ec.europa.eu/culture/pdf/ doc958_en.pdf

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Wiesenthal, Helmut  : Transformation oder Wandel  ? Impressionen aus (fast) zwei Jahrzehnten Transformationsforschung, Stand  : 07.04.2011, URL  : http  ://zs.thulb.uni-jena.de/servlets/MCRFileNodeServlet/jportal_derivate_00177851/Heft  % 2031_2.pdf Vertrag über die Gründung der Europäischen Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon, Stand  : 28.04.2011, URL  : http  ://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do  ?uri= OJ  :C  :2010  :083  :0013  :0046  :DE  :PDF

Christof Mandry

Werte und Religion im Europäischen Wertediskurs

Die Werteforschung in Europa im Sinne des Fragens nach den Werten der EuropäerInnen, den europäischen Werten oder nach dem Wert, den „Europa“ selbst für die Menschen in Europa darstellt, hat nun schon einige Tradition. Ein solches Vorhaben beteiligt sich selbst an der Konstruktion europäischer Identitäten, indem es „Europa“ im Bewusstsein der Einwohner der geographischen Zone zwischen Gibraltar und Ural einen Platz verschafft. Empirische sowie philosophische, theologische und ethische Forschungen über europäische Werte haben – so die These – nicht nur einen wissenschaftlichen, sondern auch einen Stellenwert in den öffentlichen Diskursen über Europa. Gegenüber diesem weiteren Kontext geht es im Folgenden in erster Linie um den Diskurs über die Werte Europas im Sinne jener Werte, die mit Europa als „Idee“ und als politischem Einigungsprojekt verbunden sind – oder sein sollten. Die Unterscheidung zwischen Theorien ethischer Werte und der theoretischen Analyse gesellschaftlich stattfindender Debatten über Werte wird im ersten Abschnitt noch eingehender entfaltet. Im zweiten Abschnitt werden aktuelle sozialphilosophische und ethische Theorien von Werten vorgestellt und aus einer ethischen Perspektive beurteilt. Mögliche Antworten auf die Frage nach spezifisch europäischen Werten werden im dritten Abschnitt diskutiert. Im abschließenden vierten Abschnitt geht es erneut um den Stellenwert, den gesellschaftlich geteilte Werte angesichts der gesellschaftlichen Pluralität noch haben können  : Unter welchen Voraussetzungen sind gemeinsame Werte in einer pluralistischen Gesellschaft weiterhin wichtig  ? In allen vier Abschnitten kommt man um das Verhältnis von Werten und Religion nicht herum, da religiöse Überzeugungen und Wertüberzeugungen auf vielfache Weise miteinander zusammenhängen (können), wie sowohl die empirische Wertforschung als auch philosophische Werttheorien zeigen.

1. Unterscheidung zwischen Werttheorien und einer Wertesemantik Für eine Einordnung in europäische Wertedebatten ist es wichtig zu unterscheiden einerseits zwischen den verschiedenen wissenschaftsdisziplinären Wertbegriffen, v.a. in Soziologie und Ethik, und andererseits der Werte-Semantik in europäischen Debatten. In Unterschied zu soziologischen und ethischen Wertbegriffen,

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Christof Mandry

die erkenntnistheoretisch reflektiert sind, erfüllt die Werte-Semantik in öffentlichen Debatten eine bestimmte diskursive Funktion, die gerade mit ihrer theoretischen Unbestimmtheit zusammenhängt. Sie gehört eher der Sphäre der Moralsprache an als der der philosophischen oder theologischen Ethik, in der „Werte“ seit längerem kein zentrales Konzept mehr darstellen.1 Das hohe Aufkommen der Wertesprache in öffentlichen Debatten hängt zudem mit ihrer relativ geringeren Abstraktion und höheren Erfahrungsnähe zusammen. Dadurch eignen „Werte“ sich dazu, sowohl moralische Überzeugungen als auch deren Identitätsbedeutung in der Öffentlichkeit zur Sprache zu bringen. Unter Beachtung dieser Unterscheidungen kann eine fruchtbare kritische Verhältnisbestimmung zwischen beiden hergestellt werden. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass es höchst aufschlussreich ist, wann und warum über „Werte“ intensiver debattiert wird, welche Themen und Probleme dabei verhandelt werden, und welche weiteren Ausdrücke dabei eine Rolle spielen. Tatsächlich wurden auf der europäischen Ebene Werte lange Zeit überhaupt nicht diskutiert.2 Unabhängig von der Frage, ob und in welchem Ausmaß und mit welcher Bedeutung in nationalen Kontexten über „Werte“ debattiert wurde,3 ist festzustellen, dass sich die politischen Debatten über die europäische Integration und über die Idee „Europa“ erst nach 1989 in profilierter Weise der Wertesemantik bedient haben. In diesem Zusammenhang ist die Charakterisierung der Europäischen Union als „Wertegemeinschaft“ aufgekommen und relativ rasch zu einer zentralen Kate1 Als ethische Zentralkategorie hatten Werte ihre hohe Zeit in den 1920er Jahren mit Schelers Wert­ ethik sowie nochmals in den 1950er Jahren mit N. Hartmanns Ethik, vgl. Bohlken, Eike  : Wertethik, in  : Düwell, Markus/Hübenthal, Christoph/Werner, Micha H. (Hg.)  : Handbuch Ethik, 2. aktualisierte und erw. Aufl., Stuttgart 2006, 108–121. 2 Europa ist mit der Europäischen Union nicht identisch. Es kann aber auch nicht übersehen werden, dass einem europäischen Diskursraum – wenn es ihn ansatzweise vorher schon gab – erst mit der europäischen Einigung eine breitere Basis zugewachsen ist und er zunehmend den Charakter einer europäischen Öffentlichkeit angenommen hat. Gegenwärtig ist es kaum noch möglich, gänzlich ohne Bezug zur EU über Europa zu sprechen. 3 Eine vergleichende Diskursgeschichte über die Bedeutung von „Werten“ in den einzelnen Gesellschaftsdiskursen in Europa ist weitgehend ein Desiderat. Sie würde vermutlich sehr unterschiedliche Ergebnisse zu Tage fördern, da „Werte“ in den europäischen geistes- und ideengeschichtlichen Traditionen stark unterschiedlich geprägt sind. Die in der deutschen Debatte häufig anzutreffenden Reserven gegenüber „Werten“, die deutlich von Carl Schmitts Kritik an der neukantianischen und Schelerschen Wertethik geprägt sind und etwa noch bei Böckenförde nachhallen, spielen in den Wertedebatten auf europäischer Ebene keine Rolle. Vgl. Schmitt, Carl  : Die Tyrannei der Werte, in  : Schmitt, Carl/Jüngel, Eberhard/Schelz, Sepp (Hg.)  : Die Tyrannei der Werte. Hamburg 1979, 9–43  ; vgl. Böckenförde, Ernst-Wolfgang  : Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, in  : Böckenförde, Ernst-Wolfgang  : Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt am Main 1991, 67–91.

Werte und Religion im Europäischen Wertediskurs

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gorie in der Selbstverständigung des europäischen politischen Prozesses und damit auch des europäischen Gemeinwesens geworden.4 Das Aufkommen der Bezeichnung „Wertegemeinschaft“ hängt damit zusammen, dass die Identität Europas und der Europäischen Union als ihres politischen Projekts seit den 1980er-Jahren fraglich geworden war und einer neuen Antwort bedurfte. Denn mit den Ölkrisen und dem schwankenden Wirtschaftswachstum war die zunächst überzeugende Legitimation der europäischen Einigung, nämlich Wohlstandssteigerung, verunsichert worden. Verschiedene westeuropäische Erweiterungsrunden und schließlich die Aussicht auf die Erweiterung um die mittel- und osteuropäischen Länder warfen erneut die Frage nach dem Sinn und dem Ziel der europäischen Einigungsdynamik auf. Wieso gehört Europa zusammen, auch wenn es keine Nation bildet und die klare ideologische Identifikation angesichts des Endes des kommunistischen Ostblocks obsolet geworden ist  ? Die Frage, warum eine Identifikation mit „Europa“ nicht nur ideellkulturell, sondern auch politisch angelegen sein sollte, 5 verschärfte sich durch die Frage nach dem Träger der europäischen politischen Integration  : Letztlich konnten dies nur die BürgerInnen Europas als die demokratischen Subjekte sein – verfügen sie über eine europäische politische Identität, also über ein Bewusstsein als europäische BürgerInnen  ? In diesem Kontext sollte das Selbstverständnis als „Wertegemeinschaft“ die Frage nach der politischen Identität der Europäischen Union beantworten und brachte damit die Frage nach europäischen Werten auf einen vorderen Platz in den öffentlichen Debatten Europas. Als eine „imaginierte Gemeinschaft“ europäischer BürgerInnen bedarf die Europäische Union einer Identität im Sinne der Antwort auf die Frage, warum Europäerinnen und Europäer zusammengehören und worin der Grund ihres „Wir“ und ihrer Solidarität besteht.6 Sowohl aufschlussreich als auch erklärungsbedürftig ist dabei die Tatsache, dass in europäischen Wertediskursen eine Bezugnahme auf „Religion“ in jüngerer Zeit 4 Zu dieser Entwicklung vgl. Mandry, Christof  : Europa als Wertegemeinschaft. Eine theologisch-ethische Studie zum politischen Selbstverständnis der Europäischen Union, Baden-Baden 2009, 82–98. 5 Zur Verhältnisbestimmung zwischen politischer und kultureller Identität in diesem Zusammenhang vgl. Mandry, Christof  : Die Europäische Union als „Wertegemeinschaft“ in der Spannung zwischen politischer und kultureller Identität, in  : Heit, Helmut (Hg.)  : Die Werte Europas. Verfassungspatriotismus und Wertegemeinschaft in der EU  ?, Münster 2005, 284–294. 6 Vgl. dazu aus der Fülle der Literatur zur Identität Europas und zur europäischen Identitätspolitik Delanty, Gerard  : Inventing Europe. Idea, identity, reality, Houndmills2 1996  ; Delgado, Mariano (Hg.)  : Herausforderung Europa. Weg zu einer europäischen Identität, München 1995  ; Quenzel, Gudrun  : Konstruktionen von Europa. Die europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union, Bielefeld 2005  ; Sassatelli, Monica  : Imagined Europe. The Shaping of a European Cultural Identity through EU Cultural Policy, in  : European Journal of Social Theory 5 (2002), 435– 451  ; sowie Mandry, Christof  : Europa als Wertegemeinschaft, 104–126.

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Christof Mandry

wieder verstärkt vorgenommen wird, dies aber auch besonders umstritten ist. Die – je nach Standpunkt begrüßte oder bedauerte – Relevanz von Religion in den europäischen Gesellschaften wird zugleich als weiterer Aspekt verstanden, der die ohnehin vorhandene Pluralität der Orientierungen, Lebensstile und Weltanschauungen noch verstärkt und zuspitzt. Damit ist jedoch auch die Frage nach den gemeinsamen Grundlagen der Gesellschaft berührt. „Religion“ wird als Faktor der kulturellen und politischen Identität wieder ernst genommen und deshalb auch im Zusammenhang mit den Werten der Gesellschaft diskutiert. Gründen Werte in Religionen  ? Gründen moderne europäische Werte im Christentum  ? Oder sollen EuropäerInnen sich für die Frage nach den gemeinsamen Werten gerade nicht auf Religionen berufen  ? Im europäischen Diskurs sind diese Fragen in zentraler Weise im Kontext der Erarbeitung des – letztlich gescheiterten – EU-Verfassungsvertrags aufgekommen, und zwar in Gestalt der Kontroverse, ob in die Präambel des Verfassungsvertrags ein Bezug zu Religionen als Teil des Erbes Europas aufgenommen werden sollte.7

2. Aktuelle Theorien ethischer Werte Die gegenwärtig meist diskutierten sozialphilosophischen Werttheorien und Wertentstehungstheorien sind die von Hans Joas und Charles Taylor. Diese Theorien von Taylor und Joas haben im europäischen Kontext die wichtigsten Beiträge für das Neugewinnen eines genuin ethischen Wertbegriffs geleistet, der die Probleme der älteren Wertethiken vermeidet und an den weiterführende normativ-ethische Reflexionen anschließen können.8 7 Vgl. dazu etwa Luf, Gerhard/Potz, Richard/Schinkele, Brigitte (u.a.)  : Gott in der Verfassung  ? Zur Frage der Erwähnung der religiösen Dimension in der Präambel des Vertrags über eine Verfassung für Europa. Sechs Beiträge zu einer aktuellen Diskussion, in  : Österreichisches Archiv für Recht und Religion 49 (2002), 353–376  ; Schambeck, Herbert  : Die Bedeutung der Präambel und des Gottesbezuges im Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrages, in  : Ennuschat, Jörg/Geerlings, Jörg/Mann, Thomas/Pielow, Johann Ch. (Hg.)  : Wirtschaft und Gesellschaft im Staat der Gegenwart. Gedächtnisschrift für Peter J. Tettinger, Köln 2007, 627–643  ; Weninger, Michael H.  : Europa ohne Gott  ? Die Europäische Union und der Dialog mit den Religionen, Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften, Baden-Baden 2007, 178–226  ; d’Onorio, Joël-Benoît  : Religions et constitutions en Europe. À propos d’un préambule contesté, in  : Revue de droit public et de la science politique en France et à l’étranger 122 (2006), 715–736  ; mit Bezug auf die Wertedebatte  : Mandry, Christof  : Instrument of Mobilization or a Bridge towards Understanding  ? Religion and Values in the Reform Process of the European Union, in  : Journal of Religion in Europe 2 (2009), 257–284. 8 In welcher Weise diese Theorien fruchtbar mit einer empirischen Wertforschung gekoppelt werden können, die tatsächlich Werthaltungen erforscht und nicht nur Einstellungen erfragt, kann hier nicht weiterverfolgt werden. Die folgenden Ausführungen schließen an die gründliche Synthese

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Joas fragt nach dem Zustandekommen von Wertüberzeugungen und versteht Werte als Resultat aus Selbsttranszendierung und Selbstbindung.9 Wie Joas betont, bekennt man sich nicht zu Werten, weil man sich ihnen aufgrund von vernünftiger Begründung verpflichtet weiß, sondern weil man sich aufgrund von einschneidenden, die Persönlichkeit zutiefst berührenden Erfahrungen gebunden erfährt. Werte werden nicht von Individuen selbst souverän gesetzt, sondern ihnen wohnt ein wesentlich passivisches Element inne, das Joas als „Ergriffenwerden“ und „Ergriffensein“ von Werten auslegt. Er weist auf den spezifischen Charakter von Erfahrungen des Selbsttranszendierens hin, in denen das Subjekt sich als aus seinem Leben herausgerissen, seinen bisherigen Horizont übersteigend erfährt, und aus denen in der Deutung auf die eigene Lebensführung Wertüberzeugungen erwachsen.10 Das Eigentümliche an Wertbindungen besteht darin, dass sie als Erweiterung des Freiheitsraumes erlebt werden. Denn sie eröffnen Handlungsmöglichkeiten dadurch, dass sie Lebensoptionen und Handlungsweisen zu bewerten erlauben und damit motivierende Signifikanz erzeugen. Darin liegt die Attraktivität von Werten  : Sie stellen emotional stark besetzte Maßstäbe bereit, von denen aus spontan auftretende Wünsche ihrerseits bewertet und Handlungsentscheidungen motiviert werden. Weil Werte tief in persönlichen Erfahrungen verwurzelt sind und als freiheitseröffnende Selbstbindung erfahren werden, hängen sie eng mit der individuellen Identität zusammen  : Wenn eine Person sagt, sie könne nicht anders, so meint sie damit, dass sie aufgrund ihrer Wertüberzeugungen in einer bestimmten Weise handeln oder urteilen muss. Das „Müssen“ ist dabei nicht als moralische Verpflichtung zu verstehen, sondern als Übereinstimmung mit sich selbst. Wie Joas weiter zeigt, ist nicht trotz, sondern gerade aufgrund der Fundierung in Erfahrungen ein intersubjektives Sprechen über Werte und eine Werteverständigung möglich, denn Werte können dadurch verständlich gemacht werden, dass die ihnen zugrundeliegenden Erfahrungen erzählt werden. Im Unterschied zu moralischen Normen, deren prohibitiven Charakter Joas hervorhebt, werden Werte eher narrativ plausibilisiert als rationalargumentativ begründet. Die Frage nach der rationalen Kontrolle der eigenen Wert­ orientierungen hat sich damit freilich nicht erledigt. Vielmehr kann sie nun neu geklärt werden – und eine solche Klärung muss die metaethische Verhältnisbestimmung mit dem universalen Geltungsanspruch moralischer Normen sowie mit den stets pluralen Möglichkeiten einschließen, herausragende Erfahrungen zu deuten. von Friesl, Christian/Polak, Regina/Hamachers-Zuba, Ursula (Hg.)  : Die Österreicher/-innen. Wertewandel 1990 – 2008, Wien 2009, 13–36 an.   9 Vgl. Joas, Hans  : Die Entstehung der Werte, Frankfurt am Main 1997. 10 Vgl. dazu Joas, Hans  : Braucht der Mensch Religion  ? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg im Breisgau 2004.

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Taylor arbeitet ebenfalls die Identitätsrelevanz von Werten heraus, die er mit der geographischen Metapher der „moralischen Landschaft“ erläutert und mit dem Bild des „Lebensweges“ in einen narrativ-temporalen Zusammenhang mit dem menschlichen Handeln bringt.11 Werte erläutert er im Ausgang von „Wünschen zweiten Grades“, mit denen Handlungssubjekte ihre Wünsche bewerten. Was sich darin artikuliert, sind ihre „starken Wertungen“. Diese starken Wertungen ergeben insgesamt so etwas wie die „moralische Topographie“ eines Menschen, in der er Handlungen und Ziele verortet. Indem Taylor menschliches Handeln als Streben versteht, vermittelt er die temporale Struktur des Handelns mit dem Bild der moralischen Landschaft  : Die Selbstverortung eines Handelnden geschieht, indem er sein aktuelles Leben in der moralischen Landschaft verortet, damit seine Nähe oder Ferne zu den ihm wichtigen Werten und Lebenszielen bemisst und auf dieser Basis sein Streben ausrichtet. Dadurch erhält die narrative Reflexion des eigenen Lebens einen zentralen Stellenwert, denn die temporale und wertende Struktur der Lebensgeschichte wird in der erzählerischen Konfiguration erst hergestellt und so intelligibel und kommunikabel gemacht. Handeln ist daher immer in eine evaluative, sprachlich konstituierte Struktur eingebettet. Aus dieser Überlegung leitet Taylor die große Bedeutung von traditionalen und gemeinschaftlichen sprachlich-kulturellen Zusammenhängen her, die individuelle Werte zwar nicht vorgeben, aber den „Raum“ beschreiben, in dem individuelles Streben seine Wertigkeitsstruktur entwickelt. Mit diesem letzteren Gedankengang gelingt Taylor die Verbindung zwischen individuellen Werten und kollektiven Werten. Wichtig dabei sind die Sprache der Werte und das, was Taylor „konstitutive Güter“ nennt. Werte bedürfen zu ihrer Herausbildung der Artikulation, die wieder im Rahmen einer sozial vermittelten und kulturell geprägten Sprache geschieht, in der historisch-kulturell sedimentierte Wertungen transportiert und weitergegeben werden. Mit der Sprache und dem intersubjektiven Handlungswissen werden Sinnhorizonte aufgespannt, die innerhalb von historisch-kulturellen Gemeinschaften für belangvolle Handlungszusammenhänge geteilt werden und innerhalb derer Konflikte über Handlungsorientierungen bearbeitet werden. Auch in noch so pluralistischen Gesellschaften, könnte man Taylor reformulieren, ist der Pluralismus nicht unendlich, sondern spielt sich in bestimmten Grenzen ab, die die erwünschte und erträgliche Pluralität definieren.12 Taylor 11 Vgl. vor allem Taylor, Charles  : Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität, Frankfurt am Main 1996  ; sowie Taylor, Charles  : Was ist menschliches Handeln  ?, in  : Taylor, Charles  : Negative Freiheit  ? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus, Frankfurt am Main 31999, 9–51. 12 Unter „Pluralität“ verstehe ich die faktisch vorhandene Vielfalt der Überzeugungen und Orientierungen in einer Gesellschaft, während „Pluralismus“ die reflexive Wahrnehmung dieser Vielfalt durch die Gesellschaft meint, die zu ihrer Selbstbeschreibung gehört und die als Wert geschätzt wird.

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weist nun darauf hin, dass sich die Moderne dadurch auszeichnet, dass der Verzicht auf eine religiöse und transzendente Dimension eine reale Option darstellt, deren Vorhandensein auch die Überzeugungen von Menschen betrifft, die sich selbst als religiös verstehen.13 Diese Überlegung sowie sein Hinweis auf die Verbindung von Werten mit so genannten „konstitutiven Gütern“ sind für die Frage nach Religion und Werten von besonderer Bedeutung. Konstitutive Güter nennt Taylor jene Vorstellungen, die Wertüberzeugungen in eine Weltsicht einzuordnen vermögen und letztlich deren Sinn und Wertcharakter verbürgen – etwa eine Gottesidee, aber auch das platonische Gute und ähnliche Vorstellungen. Wertüberzeugungen werden aus konstitutiven Gütern nicht deduziert, aber von ihnen in einen weltanschaulichen oder religiösen Gesamtzusammenhang integriert, in dessen Licht sie letztlich ihren Sinn und ihren Ausweis als „gut“ erhalten. Damit stellt sich für Taylor die Frage, was mit Werten geschieht, wenn die konstitutiven Güter ihre gemeinschaftliche Relevanz und ihre individuelle Überzeugungskraft verlieren. Auch wenn Werte gesellschaftlich-kulturell wirksam sein können, ohne dass sie direkt aus konstitutiven Gütern abgeleitet werden, scheint in Taylors Perspektive die Problematik auf, ob nicht die Evidenz und Sinnhaftigkeit von Werten auf die Dauer verblassen, wenn die Bindung an konstitutive Güter schwindet. Vor dem Hintergrund dieser Werttheorien können auch die öffentlichen Wertedebatten in Europa eingeordnet werden. Dabei muss offen bleiben, ob das Faktum der Wertedebatten als ein Anzeichen zu werten ist, dass bislang gefestigte Wertüberlieferungen nun fraglich geworden sind, oder ob die Wertedebatten angesichts der sich wandelnden globalen Situation Europas eine willkommene Gelegenheit darstellen, die konstitutiven Güter – etwa den christlichen Glauben – öffentlich wieder deutlicher ins Bewusstsein zu bringen. Plausibel scheint mindestens die weniger weitreichende Annahme, dass die politische Entwicklung der EU nach der Osterweiterung und angesichts ihres nach wie vor offenen politischen Zieles einer Verständigung über ihren Charakter als „politisches Projekt“ bedarf. Gerade in einer solchen Situation kommt es typischerweise zu grundsätzlichen Debatten über die politisch-ethischen Grundlagen. Diese Selbstverständigung wurde und wird bevorzugt mit Bezug auf Werte und mittels der Selbstbezeichnung als „Wertegemeinschaft“ geführt. Außerdem dürfte in modernen pluralistischen Gesellschaften der Stellenwert von öffentlichen Diskursen für die Vergewisserung der grundsätzlichen Werthaltungen gestiegen sein  : Nachdem ihre fraglose Geltung nicht mehr gewiss 13 Taylor, Charles  : Ein säkulares Zeitalter. Frankfurt am Main 2009  ; vgl. dazu die kritische Würdigung von Joas, Hans  : Die säkulare Option. Ihr Aufstieg und ihre Folgen, in  : Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2009), 293–300.

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ist, bedürfen kollektive Werthaltungen in stärkerem Ausmaß als bisher der permanenten öffentlichen – symbolischen, narrativen, performativen und auch diskursiven – „Pflege“ in einer öffentlichen und politischen Kultur.14 Die obigen Ausführungen zeigen, dass die Wertsemantik öffentlicher Diskurse sich zwar durch vergleichsweise große begriffliche Unschärfe auszeichnet, sich aber die Identitätsrelevanz sowie die Erfahrungsgründung der Werthaltungen bestätigt. Öffentliche Wertdiskurse betonen stark die kollektive und kulturelle Bedeutung von Werten und sehen sie in historischen – kollektiven – Erfahrungen begründet. Sie sind damit nahe an (in gewohnter Weise  : nationalen) Mastererzählungen. Dass die Wertesemantik dieser Diskurse eher vage und theoretisch unterbestimmt ist, hat für die Funktion dieser Diskurse aber einen Vorteil, nämlich die größere Offenheit  : „Werte“ sind im Allgemeinverständnis eine offene und weite Kategorie, die es erlaubt, ethische Wichtigkeiten zu artikulieren, ohne auf ein stärker theoretisch geprägtes Vokabular – wie Normen und Prinzipien – zurückgreifen zu müssen. Sie eignet sich daher im europäischen Kontext, um Werthaltungen zur Sprache zu bringen, die sich auf die Identifikation mit der historisch-kulturellen Europa-Idee und deren politischer Institutionalisierung in der Europäischen Union beziehen. Die Vielzahl an Europa-Ideen und die Vielfalt der Mastererzählungen über das Werden und den Sinn Europas – also die Pluralisierung und die praktisch-normative Mehrdeutigkeit von Werten – stellt das fundamentale Problem der europäischen Wertedebatten dar. Aus ethischer Sicht haben die sozialphilosophischen Wertentstehungstheorien trotz ihrer hohen Leistungsfähigkeit den Nachteil, nicht zwischen den Bindungen an ethische Werte und an objektiv-ethische Unwerte (etwa extremen Nationalismus oder Rassismus) unterscheiden zu können. Sie sind folglich mit normativen Überlegungen in ein kritisches Verhältnis zu setzen. Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten, die hier stark typisiert vorgestellt werden. (1) Werten werden universale ethische Normen gegenübergestellt, etwa Menschenrechte, die den kriteriologischen Vorrang haben. Dies ist das Vorgehen aller universalistischen, deontologischen Ethiken. Oder es wird (2) in der Wertbindung selbst ein Moment der Verallgemeinerung identifiziert, nämlich der Prozess, der von der individuellen Erfahrung zur intersubjektiv zugänglichen Formulierung als Wert führt. Damit kann die Erfahrungsoffenheit von Werten zum Ausgangspunkt einer iterativen diskursiven Wertprüfung an weiterer, intersubjektiv vermittelter Erfahrung gemacht werden. Dieser Ansatz wird von hermeneutischen Ethiken bevorzugt.15 (3) Ein weiteres ethisches Vorge14 Zu dieser These vgl. ausführlicher Mandry, Europa als Wertegemeinschaft, 201–215. 15 In meiner Interpretation ist das die Position etwa von Hans Joas (vgl. Joas, Hans  : Die Entstehung der Werte, 252–293) und von Paul Ricœur (vgl. Ricœur, Paul  : Das Selbst als ein Anderer. Aus dem

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hen könnte die transzendentalen Voraussetzungen für das Zustandekommen von Werterfahrungen zu bestimmen suchen bzw. letztlich die Bedingungen der Möglichkeit für das Ausprägen einer moralischen Identität als Handlungssubjekt aufsuchen. Diese Voraussetzungen würden den äußeren Rahmen abgeben, den Wertorientierungen weder bei sich selbst noch bei anderen in Frage stellen dürfen.16 Je stärker dieses letztere Vorgehen auf die universalen Voraussetzungen eingeht, die für eine moralische Identität gegeben sein müssen, nähert es sich der Position (1) an  ; sofern eher die den Wertorientierungen inhärente Orientierung an einem „Guten“ in den Mittelpunkt gestellt wird, nimmt sie die Züge einer Kohärenz- und Konsistenzprüfung an. Allen dreien Typen ist gemeinsam, dass sie Werte, deren Bindungskraft ja auf den individuellen Erfahrungen beruht, einer Generalisierung aussetzt oder sie mit einer Universalisierbarkeitsprüfung konfrontiert. Sie unterscheiden sich darin, ob diese kritische Befragung bei den Werten selbst ansetzt oder ihnen quasi von außen – aus einer Perspektive moralischer Normen – gegenübergestellt wird.17

3. Die Frage nach europäischen Werten und ihre Probleme Die europäischen Debatten über europäische Werte sind als Identitätsdiskurse zu verstehen. An ihnen werden auf unterschiedlichen Ebenen die Probleme von politisch-kollektiven Identitätsdebatten deutlich. Als europäische Diskurse stehen sie in einem Spannungsverhältnis mit der Idee der Nation, die in Europa traditionellerweise als zentrale Ideologie des Gemeinwesens fungiert und die nicht (oder nur in marginaler Weise) der Wertesemantik bedarf. Generell geht es um die moralisch und identitär ausgezeichneten Grundlagen eines europäischen Zusammenhalts. Aufgrund der Erfordernis, eine europäische Identität über Werte zu bestimmen, kommt der Abgrenzungsfunktion europäischer Werte ein hoher Stellenwert zu. Darin ist zugleich aus ethischer Sicht eine zentrale Problematik zu erkennen, denn Identitätsbestimmungen neigen dazu, die Andersheit der Anderen zu definieren und Ausschluss- und Abschließungsbestrebungen zu legitimieren. Dies gilt auch für den

Französischen von Jean Greisch in Zusammenarbeit mit Thomas Bedorf und Birgit Schaaff, München 1996, 346–351). 16 Dieses Vorgehen spielt etwa bei Mieth – wenn auch in anderer Begrifflichkeit – eine zentrale Rolle, vgl. Mieth, Dietmar  : Kontinuität und Wandel der Wertorientierungen, in  : Concilium 23 (1987), 214f. 17 Auch aus einer hermeneutischen Perspektive steht das Verhältnis zwischen Werten und moralischen Normen im Zentrum  ; ich habe versucht, es als wechselseitige Kritik und interpretatorische Anreicherung zu entfalten, vgl. Mandry, Europa als Wertegemeinschaft, 168–184.

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europäischen Identitätsmarker der „Wertegemeinschaft“18 und stellt (nicht nur, aber auch) eine Gefährdung einer engen Verbindung zwischen europäischen Werten und religiösen Überzeugungen oder Traditionen dar. Eine Weichenstellung nimmt entsprechend die Frage ein, ob man sich zu exklusiveuropäischen Werten oder nur zu charakteristisch-europäischen Werten bekennt. Nur solche Werte scheinen als europäische Werte akzeptabel gemacht werden zu können, die universalen Geltungsanspruch haben, und deren Europäizität dann in der Erfahrungs- und Kulturgeschichte Europas verortet wird. Zu ihrer Europäizität gehört zudem, wie Taylor herausgearbeitet hat, die Realisierung in jeweils spezifischen institutionellen Ausprägungen, denen ebenfalls Identitätsrelevanz zuwächst19 (etwa  : Achtung der Menschenwürde – Ablehnung der Todesstrafe in Europa). Es gibt eine große Anzahl von Vorschlägen, was zu den Werten Europas zu zählen ist. Diese Kataloge reichen von kulturhistorischen Großströmungen, die europäische Mentalitäten geprägt haben und noch weiterhin prägen, bis zu Listen mit den grundlegenden, universalen Werten einer modernen und demokratischen Gesellschaft. So haben etwa Joas und Wiegandt in einer viel beachteten Veröffentlichung als „kulturelle Werte Europas“ Werthaltungen wie Bejahung von Vielfalt, Freiheit, Innerlichkeit, Rationalität, die Bejahung des gewöhnlichen Lebens und Selbstverwirklichung aufgeführt.20 Für den anderen Pol steht die Lösung, die nach langen Debatten der Europäische Konvent in seinem Entwurf für einen Verfassungsvertrag für die Europäische Union gefunden hat, und die sich heute als Artikel 2 des Vertrags von Lissabon wiederfindet. Die EU wird darin als Wertegemeinschaft bezeichnet und zählt auf  : „Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte“ und fährt fort, dass diese Werte in einer Gesellschaft zu wahren seien, „die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet“.21

18 Vgl. dazu bereits Schneider, Heinrich  : Die Europäische Union als Wertegemeinschaft auf der Suche nach sich selbst, in  : Die Union (2000), 11–47  ; sowie Joas, Hans/Mandry, Christof  : Europa als Werte- und Kulturgemeinschaft, in  : Folke Schuppert, Gunnar/Pernice, Ingolf/Haltern, Ulrich (Hg.)  : Europawissenschaft. Baden-Baden 2005, 541–572  ; und Mandry, Christof/Mieth, Dietmar  : Europa als Wertegemeinschaft, in  : Fürst, Walter/Drumm, Joachim/Schröder, Wolfgang M. (Hg.)  : Ideen für Europa. Christliche Perspektiven der Europapolitik, Münster 2004, 121–145. 19 Vgl. Taylor, Charles  : Religion, politische Identität und europäische Integration, in  : Transit 26 (2003), 166–186. 20 Vgl. Joas, Hans/Wiegandt, Klaus (Hg.)  : Die kulturellen Werte Europas. Frankfurt am Main 2005. 21 Artikel 2, Vertrag über die Gründung der Europäischen Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon.

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Diese unterschiedlichen Weisen, europäische Werte aufzufassen – eher als kulturelle Prägungen von Mentalitäten oder Identitäten oder als politisch-demokratische Werte – sind nicht einfachhin alternativ zueinander, sondern können als einander ergänzend betrachtet werden. Auch im Hinblick auf die fragliche Verortung von Religionen für europäische Werte ist es sinnvoll, verschiedene Ebenen zu unterscheiden, die im europäischen Wertediskurs verhandelt werden  : (a) kulturelle Tiefenwerte, die zu Europa gehören, wie Aufklärung, Christentum, Judentum, etc., deren Bedeutung für Europas Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anerkannt wird, d.h. deren Errungenschaften kulturell wertgeschätzt werden  ; (b) politische Werte wie Friedfertigkeit, Gerechtigkeit, Achtung der Menschenwürde, etc., die als Sinnwerte eines europäischen Miteinander geschätzt werden, deren Bindung – auch angesichts der universalen Geltung – aus europäischen geschichtlichen Erfahrungen herrührt und die schließlich als Werte der politischen Ordnung angesehen werden  ; (c) Metawerte wie Anerkennung des Pluralismus, Toleranz, Nichtdiskriminierung – also gesellschaftliche Werte, die gesellschaftliche Pluralität als unhintergehbar anerkennen und jene Werthaltungen identifizieren, die erforderlich sind, um mit den zu erwartenden Wertungskonflikten friedlich und gesellschaftlich produktiv umzugehen.22 Diese Wertebenen sind nicht voneinander unabhängig, sondern wirken aufeinander ein. Dies wird deutlich anlässlich der Frage, wie nun Religionen mit europäischen Werten zusammenhängen. Bekanntlich ist es außerordentlich strittig, ob auch Religionen als zur europäischen Identität gehörig öffentlich affirmiert werden sollen – darum handelte es sich beim „Präambelstreit“. Der Zusammenhang mit den Werten besteht darin, dass die Frage nach Religionen in Europa gerade als Frage nach den Traditionen und Fundamenten gestellt wird, in denen diese Werte ihrerseits wurzeln. Was zu den europäischen Werten zu zählen ist, ist weitaus weniger umstritten, als es die „Fundamente“ der Werte sind. An diesen Debatten ist zunächst festzustellen, dass Religionen häufig in Gestalt von Containerbegriffen vorkommen (Judentum, Christentum, Islam), die kulturelle Größen bezeichnen und in denen europäische Werte gründen oder „wurzeln“ sollen. Kontrovers ist dabei weniger die Fähigkeit von Religionen, Werte zu fundieren, als ihre Legitimität, als Wurzeln europäischer Gemeinschaftswerte beschworen zu werden. Unabhängig von der Frage, ob und inwiefern aus sozialphilosophischer und ethischer Sicht Werte tatsächlich in „Religionen“ oder in religiösen Überzeugungen „gründen“, ist festzuhalten, dass sich in dieser Kontroverse eine signifikante Erscheinungsform des gesellschaftlichen und weltanschaulichen Pluralismus manifestiert. Problematisch scheinen im Pluralismus weniger die politischen Werte des Gemeinwesens zu sein und kaum die Metawerte, als vielmehr die Akzep22 Vgl. dazu eingehender Mandry, Europa als Wertegemeinschaft, 190–197.

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tanz und Deutung der umfassenden und tiefgründenden kulturellen Tiefenwerte. Aus ethischer Sicht sollte dies ein Anlass sein, nicht nur nach der tatsächlichen (und nicht nur behaupteten) Wirkungsweise religiöser „Tiefenwerte“ auf die politischen Werte des Gemeinwesens zu fragen, sondern gerade auch ihren Beitrag zu gesellschaftlich wirksamen Metawerten zu untersuchen. Die Lösung, die europäische Debatten im Streit über die Wertfundamente gefunden haben und die sich im Text der EU-Verfassung niedergeschlagen hat, ist die der Vermeidung  : Die Fundamente von Werten in traditionalen Verstehens- und Überlieferungskontexten werden offen gelassen. Wohl wird anerkannt, dass Werte solche Wurzeln oder Quellen haben, jedoch werden sie nicht benannt, sondern mit Schweigen bedacht. Man könnte dies so deuten  : Die Beantwortung der Frage nach den Fundamenten gehört der Ebene der Zivilgesellschaft an, die vorausgesetzt wird, die aber keinen „Verfassungsrang“ hat. Gleichzeitig bedeutet dies allerdings  : Religionen und Weltanschauungen werden depotenziert, sie gelten nicht mehr als Garanten der politischen Einheit und der gesellschaftlichen Einigung, wenn ihnen vielleicht auch noch eine förderliche Funktion zugestanden wird. Es ist eine Konsequenz aus der Anerkennung des gesellschaftlichen Pluralismus, dass die Identitätsfunktion sich von starken und gesättigten Traditionen weg verlagert auf schmalere Konzepte wie Werte. Werte können zwar moralische und politische Erfahrungen abrufen und Legitimation wie Kriterien von politischer Einheit darstellen, können und wollen aber keine umfassendere legitimierende oder sinnstiftende Einbettung des Öffentlichen leisten.

4. Zukunftsherausforderung Pluralität – Pluralismus als Wert Die soziologisch, ethisch und theologisch zentrale Frage scheint somit schließlich zu sein, wie unter den Bedingungen gesellschaftlicher Pluralität gemeinsame Werte ausgeprägt werden können. Dabei kommt den Metawerten besondere Bedeutung zu  ; allerdings nur in einer Ergänzungsfunktion zu den anderen genannten Wertebenen. Denn angesichts der immer vorhandenen Wertkonflikte muss eine politische und gesellschaftliche Kultur gepflegt werden, die mit Wertungskonflikten umzugehen vermag, was selbst wiederum starker Wertorientierungen bedarf. Pluralismus als Wert meint jedoch – das muss nachdrücklich unterstrichen werden – keineswegs Indifferenz oder Relativismus.23 Die Einbettung des Pluralismus in 23 Im Folgenden stütze ich mich auf meine Überlegungen in Mandry, Christof  : Pluralismus als Problem und Pluralismus als Wert – theologisch-ethische Überlegungen, in  : Bultmann, Christoph/

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eine Reihe weiterer grundlegender Werte macht das deutlich. Erst auf der Voraussetzung bestimmter starker Werte wie der Menschenwürde, des Individualismus, der Person, der Demokratie werden Anerkennung und Bejahung von Pluralismus überhaupt als Wert erkennbar. Insofern ist Pluralismus ein abgeleiteter Wert, der nicht als Grundwert Europas taugt, sondern nur die Grundierung liefern kann in einem Bild, in dem andere, kräftigere Farben überwiegen. Aber deshalb hängt Pluralismus auch nicht in der dünnen Luft der Indifferenz und des Relativismus, angesichts derer der baldige Zusammenbruch zu erwarten wäre. Die Werte der Toleranz und Gleichberechtigung legen darüber hinaus eine weitere Spur  : Verschiedenheitsverträglichkeit geht nicht ohne Toleranz. Aus ethischer Sicht wäre sogar noch über Toleranz – der immer das Ablehnung implizierende „Ertragen“ anhaftet24 – hinauszugehen und festzuhalten  : Pluralismus als einen Wert zu verstehen und entsprechend zu bejahen, setzt die Anerkennung der Anderen in ihrer Andersheit voraus. Das sind sehr starke und anspruchsvolle moralische und politische Überzeugungen. Angesichts ihrer wandelt sich das Verständnis von Einheit und politischer und sozialer Gemeinschaft. Toleranz, Anerkennung von Pluralismus und Nichtdiskriminierung sind jene „Metawerte“, die gesellschaftliche Differenz voraussetzen, Pluralität als Situation der Gesellschaft anerkennen, und eine Schlüsselstellung für eine friedliche Bewältigung solcher Differenz haben. Die Verantwortung für politische Kultur ist auch eine Verantwortung für Werte. Religiöse Überzeugungen und Motivationen können dabei ebenso als Störfaktor wie als Unterstützungsfaktor wirksam werden. In europäischen Diskursen haben religiöse wie nicht-religiöse Sprecher sich bislang eher schwer damit getan, dem jeweils anderen eine positive Funktion für die Fundierung der – auffälligerweise wenig strittigen – universalen politischen Werte zuzuerkennen. Besondere Aufmerksamkeit ist daher zum einen der Frage zu widmen, wie pluralismustaugliche Werthaltungen zustande kommen und was sie bestärkt. Zum anderen sind die Faktoren zu untersuchen, die zu pluralismusfeindlichen Einstellungen (etwa Fremdenfeindlichkeit) führen und zu ihrer Verfestigung in Mentalitäten beitragen. Dabei muss auch die Bedeutung von Meinungsführern und Eliten (nicht nur religiösen) in Betracht gezogen werden, die pluralismusbejahende Werte entweder vorleben und propagieren oder auch, im Gegenteil, in die gesellschaftliche Polarisierung und in Abgrenzungsmentalitäten zum Zwecke der politischen Mobilisierung eigener Anhängerschaften investieren können. Rüpke, Jörg/Schmolinsky, Sabine (Hg.)  : Pluralismus als Markenzeichen europäischer Religionsgeschichte  ? Münster 2011. 24 Vgl. Forst, Rainer  : Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main 2003.

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Die Anerkennung von Pluralität erfordert ihrerseits Werte, nämlich Toleranz, Anerkennung und Respekt. Öffentliche Institutionen, allen voran das Rechtssystem und die Politik müssen dieser Forderung Nachdruck und Wirklichkeit verleihen. Aber als bloß normative Forderungen verbleiben Toleranz und Anerkennung letztlich auf dem Niveau von Instrumenten in einem Kampf um öffentliche Aufmerksamkeit und um Positionierung im politischen Kräftespiel. Als Werte müssen sie darüber hinaus die politisch-öffentliche Kultur durchdringen, in der sich diese Auseinandersetzungen abspielen. Dies ist eine der Herausforderungen für Europa – und auch an die Religionsgemeinschaften in Europa – die inneren Ressourcen freizulegen, zu stärken und zu pflegen, die anerkennungs- und respektförderlich sind, die gerade den Respekt gegenüber dem anderen Menschen, den anderen Religionsgemeinschaften und den anderen Weltanschauungen fördern.

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Wil Arts/Loek Halman

Value Research and Transformation in Europe

1. Introduction On the 24th of March 1976 Alexander Solzhenitsyn delivered his speech Warning to the Western World at BBC Radio. He raised the question of whether Europeans are still willing to preserve and develop their own identity  ; not as a fortress — globalisation makes that impossible — but as a reservoir of human values that can stimulate and help to build a global humanism. This speech inspired an international and multidisciplinary group of academics to debate the cultural predicament of Europe. What the group members shared was a growing concern for the sustainability of an expanding European Community. They wondered whether there is really something that one could call “European identity” and whether such an identity is indeed based on a coherent set of fundamental values. If so, could these values then lay the foundations for European unity  ? If not, could the cultural diversity of the nations that constitute Europe not sooner impede increasing European unity  ? The group called itself the European Value Systems Study Group (EVSSG). They started an applied social science research project aimed at providing valid and reliable information as to how Europeans feel and think about European identity and the underlying value systems of their nations. By doing so the group wanted to enable policymakers to make wiser and more adequate decisions and formulate more accurate policies. Their focus was among others on politicians and civil servants operating within European institutions. The EVSSG made no grand claims for any unified theory of human values. They had, however, one grand theoretical idea, that is that European value patterns constitute systems. And this idea was refuted by the results of the first survey in 1981.1 This raises the question of how the findings of the European Values Study (EVS) surveys could be interpreted and explained, i.e., which social scientific theories could be applied to elucidate the unity and diversity, the continuity and change of value patterns in contemporary Europe. Furthermore, the question can be asked what trends in 1 Cf. Stoetzel, Jean  : Les valuers du temps présent  : une enquête européenne. Paris 1983  ; Harding, Stephan/Phillips, David/Fogarty, Michael  : Contrasting Values in Western Europe. Unity, Diversity & Change, Houndsmill 1986.

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value change can be detected by exploring the data of EVS and other value surveys. And, what are the specifics of values in particular countries in comparison with the other European countries  ? In the remaining part of this chapter we will address these questions and focus in particular on the specifics of the Austrian case.

2. Modernization theory In the course of time the goals of EVS shifted from providing policymakers with information to addressing the social scientific forum and from descriptions and ad hoc interpretations of the research findings to more seriously testing theoretical explanations. In the first two waves of EVS (1981, 1990) most overall, i.e., domain transcending explanations were based on insights from modernization theory.2 The orienting statement was that technical innovations and economic growth are the main driving forces behind value change. This led to two central hypotheses. The first hypothesis reads as follows  : As modern, i.e., industrialized societies advance technologically and economically, an individualization process will occur and the values of their populations will increasingly shift from a collectivistic to an individualistic ethos. The second hypothesis runs something like this  : As modern societies advance a rationalization process will occur and the value patterns of their populations will increasingly shift from an absolute “ethics of principles” to a pragmatic “ethics of responsibilities”, i.e., from a substantive to an instrumentalistic ethos. It is the force of industrial circumstances, the inherent logic of industrialism that persuades people to adhere to individualistic and instrumentalistic beliefs and values.3 The core proposition goes as follows  : In so far as industrialization, urbanization, and the development of large-scale bureaucratic structures and their usual accompaniments create a more or less standard environment with more or less standard, institutional pressures for particular groups, to that degree they should produce more or less standard patterns of beliefs and values. To the disappointment of the researchers, in the early stage of EVS much of the predicted value change failed to materialize. Bailey therefore, argued that the best 2 Cf. Halman, Loek/Heunks, Felix/Moor, Ruud de/Zanders, Harry  : Traditie, Secularisatie en Individualisering. Tilburg 1987  ; Halman, Loek  : Waarden in de Westerse Wereld. Tilburg 1991  ; Ester, Peter/Halman, Loek/Moor, Ruud de (eds.)  : The Individualizing Society. Value Change in Europe and North America, Tilburg 1994. 3 Cf. Inkeles, Alex  : Industrial Man –The Relations of Status to Experience, Perceptions, and Values, in  : American Journal of Sociology 66 (1960), 1–31.

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thing to do was write modernization theory off.4 De Moor agreed by stating that modernization theory is far too general to explain the dynamics of value change.5 Not everybody, however, heeded their call. Some value researchers tried to modify modernization theory by addressing the question of why the cross-national variation of value patterns was larger than predicted by modernization theory. They argued that the explanation of European value patterns should start with the observation that the explanatory problem to be solved is both uniformity and variance  ; uniformity, because it cannot be denied that modernizing nations tend to show similarity in value patterns  ; variance, because significant differences tend to remain despite such similarities. Variance could be explained by referring to the fact that the courses of modernization processes vary from country to country and that present value patterns are not only the product of modernization processes but also of countryspecific value patterns of the past. Historical value patterns are therefore interwoven with modern ones. So not only do technology and economy matter, but also history. The work of Ronald Inglehart and his co-authors is the locus classicus of this approach. They apply Huntington’s concept of “cultural zones” and group the countries included in the European and World values surveys into eight such zones. Next they construct a two-dimensional plot of survival vs. self-expression values on the one hand and religious-traditional vs. secular-rational values on the other. Inglehart and Wetzel6 present a scatter diagram of 65 countries on these two dimensions in the 1990s. This diagram shows that Europe can be clearly distinguished from South Asia, Latin America and Africa. These latter parts of the world cherish overwhelmingly survival and religious-traditional values. Of all dominantly Roman Catholic European countries Austria proves to be the one that at the turn of the millennium had most proceeded in the direction of postmodernity, i.e., in adhering to self expression values. With respect to the other dimension, Austrians leaned at that point in time on average a little bit more to the rational-secular side than to the traditional-religious one. In this respect their position was somewhere in the middle of Roman Catholic Europe and Austria had at that moment much in common with neighbouring countries like Croatia, Hungary and Italy. The overall picture suggests that Austrians had, at least in value terms, at that time more in common with the inhabitants of Great-Britain and Iceland than with others. 4 Cf. Bailey, Joe  : Social Europe  : Unity and Diversity — An Introduction, in  : Bailey, Joe (ed.)  : Social Europe. London 1992, 1–14. 5 Cf. Moor, Ruud de  : Epilogue, in  : Ester, Peter/Halman Loek/Moor, Ruud de (eds.)  : The Individualizing Society. Value Change in Europe and North America, Tilburg 1994, 229–232. 6 Inglehart, Ronald/Welzel, Christian  : Modernization, Cultural Change and Democracy. New York 2005, 64.

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In a similar scatter diagram7 that depicts the state of affairs a decade earlier, the closest companions of Austria were the dominantly Roman Catholic countries Belgium, France and Italy, with Iceland and Great Britain a little bit farther away. In the last decade of the 20th century Austria has evidently made a stronger move towards selfexpression values than the other Roman Catholic countries. Value researchers have also tried to modify modernization theory by finding an answer to the question of why much of the predicted value change failed to materialize. Only a few authors referred in this respect to the notion of partial modernization, i.e., the idea that not all societal domains modernize to the same degree and at the same speed. This notion of partial modernization is in line with Ogburn’s 8 cultural lag theory. The term cultural lag refers to the notion that material culture (technology, economy) has a tendency to evolve and change rapidly and voluminously while non-material culture (values, norms, roles) tends to resist change and to remain fixed for a longer period of time. Without mentioning Ogburn and his theory of cultural lag, Inglehart9 suggested a solution to the problem of why there is a time lag between technical innovations and economic growth on the one hand and value change on the other. He argued that value change most of the time takes place through intergenerational population replacement, i.e., younger birth cohorts replace older ones in the population. This is, by its very nature, a slow process. He assumed that people’s basic values are largely fixed when they reach adulthood, and remain more or less stable thereafter. He also assumed in the so-called socialization hypothesis, that people’s basic values reflect, to a large extent, the conditions that prevailed during their pre-adult years. From these two assumptions follows that intergenerational change will occur if younger generations grow up under different conditions from those that shaped earlier generations. Another assumption he made was that not only long-term developments such as technological innovation and economic growth, but also short-term changes, such as different phases of the business cycle, and short-term events, such as wars and revolutions, have an impact on people’s values. This assumption is connected with the so-called scarcity hypothesis 7 Inglehart, Ronald/Baker, Wayne  : Modernization, Cultural Change and the Persistence of Traditional Values, in  : American Sociological Review 65 (2000), 19–51, 29. 8 Cf. Ogburn, William F.  : Social Change with Respect to Culture and Original Nature. New York 1952  ; Ogburn, William F.  : Cultural Lag as Theory, in  : Sociology and Social Research 41 (1957), 167–174. 9 Cf. Inglehart, Ronald  : The Silent Revolution in Europe — Intergenerational Change in Post-Industrial Societies, in  : American Political Science Review 65 (1971), 991–1017  ; Inglehart, Ronald  : The Silent Revolution — Changing Values and Political Styles among Western Publics. Princeton N.J. 1977  ; Inglehart, Ronald  : Culture Shift in Advanced Industrial Society. Princeton N.J. 1990.

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which states that people tend to place the highest values to the most pressing needs of the moment. These hypotheses can be tested by looking for age, period and cohort effects. Some researchers argue that people’s value change is foremost a product of their life-course  : the older they grow, the more conservative they become. According to them we should therefore look for age effects. Inglehart, by contrast, argues that value change is a product of socialization and scarcity and therefore we should look for cohort and period effects. He also argued that the emergence of postindustrial society will stimulate a further evolution of prevailing values, but not in precisely the same direction as in the early phases of industrialization. Later on Inglehart10 elaborated this idea by making an explicit distinction between modernization and postmodernization. Whereas in the modernizing stage materialistic values (survival, achievement motivation) are dominant, in the postmodern stage postmaterialistic values (well-being, self-expression) prevail.

3. Institutionalism In the past decade Inglehart11 derived theoretical ideas from institutionalism to enrich and modify (post)modernization theory. In order to explain why cultural traditions are persistent he referred to the theoretical notion of path dependence. He argued that religious traditions are originally founded and sustained by religious institutions. The same applies to political, social and economic traditions and their related institutions. Later on they are, however, especially transmitted by educational institutions and mass-media. This means that there is a kind of fly-wheel effect at work. Even when the original domain-specific institutions themselves have already changed, traditions still have an impact because other institutions have taken over the driving force. Therefore, there is no one-to-one relationship between technological and economic development on the one hand and the prevalence of secular-rational values on the other. Furthermore, Inglehart argued that in postmodern times, especially the distinctive social security systems of societies are intermediate variables that confound the relationship between technological and economic de10 Cf. Inglehart, Ronald  : Modernization and Postmodernization–Cultural, Economic and Political Change in 43 Societies. Princeton N.J. 1997. 11 Cf. Inglehart/Baker, Modernization, Cultural Change and the Persistence of Traditional Values, 19–51  ; Inglehart, Ronald  : Changing Values among Western Publics from 1970 to 2006, in  : West European Politics 31 (2008), 130–146.

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velopment on the one hand and the prevalence of postmaterialistic values on the other. One’s sense of security is, after all, not only shaped by the technological and economic level of a society but also by a society’s welfare institutions. Earlier Gundelach12 had argued that institutionalism provides sooner competing hypotheses than auxiliary ones. He forwarded the hypothesis that if countries have different institutional characteristics, these characteristics will have a different impact on the values of their populations. If they have the same institutional characteristics, these characteristics will have a similar impact. To test these hypotheses he identified several important domain specific institutional arrangements which are similar in some countries and different in other ones. Between countries variation proved to be better explained by institutional factors than by modernization indicators. This seems to point to an institutional embedding of domain-specific value orientations, but not necessarily of more general value patterns. Haller13, for his part, stood up to Inglehart’s “generalist” claims by focussing on one of his domain-independent value patterns, viz., the religious-traditional vs. secular-rational dimension. He observed that this dimension is empirically only weakly and inconsistently related to the level of economic development. He constructed three ideal types of institutional relationships between state, society, and religion. Applying these types to explain country scores on the “traditional-religious vs. secular-rational” dimension, he found that there remained no exceptional cases for which he had to find, as Inglehart did, ad hoc explanations. The rising interest in institutionalist explanations of value patterns went hand in hand with developments within a theoretical perspective called “new institutionalism”.14 There are branches within “new institutionalism”, especially embeddedness theory and cognitive new institutionalism, that are especially relevant for answering questions of how and why institutions have an impact on value patterns.15 According to these branches, institutions transmit their embedded norms to the public and thereby frame people’s beliefs and values. These frames may determine not only people’s perceptions of self-interest but also mitigate their inclinations toward opportunism because transmitted norms sometimes become internalized. In12 Cf. Gundelach, Peter  : National Value Differences — Modernization or Institutionalization  ?, in  : International Journal of Comparative Sociology 35 (1994), 37–58. 13 Cf. Haller, Max  : Theory and Method in the Comparative Study of Values. Critique and Alternative to Inglehart, in  : European Sociological Review 18 (2002), 139–158. 14 Brinton, Mary C./Nee, Victor  : The new institutionalism in sociology. New York 1998. 15 Cf. March, James G./Olsen, Johan P.  : Rediscovering Institutions — The Organizational Basis of Politics. New York 1989  ; Powell, Walter W./DiMaggio, Paul  : The New Institutionalism in Organizational Analysis, Chicago 1991.

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stitutions may therefore not only determine what people find to be a rational course of action, i.e., what is in their enlightened self-interest, but also what behavioural alternatives are acceptable to them or should be rejected from a moral point of view. Norms that are embedded in institutions and transmitted to people are, however, not slavishly followed by them, but filtered by their own interpretations and they may respond differently to the same norms depending on who they are and what they do, i.e., their social characteristics. Within EVS, Arts and Gelissen16 used a multi-level analysis to investigate whether, and if so, to what extent, institutional arrangements (welfare state regimes) and individual characteristics (social-demographics, ideological stance) explain people’s notions of solidarity and their choices of justice principles. They first of all reconstructed the solidarity and justice conceptions embedded in the distinct welfare regimes. Next they argued that welfare regimes only indirectly exercise their influence on people’s values. Their impact is namely filtered and modified by cognitive factors (learning, habit formation, situational framing). They found significant evidence that this indirect effect occurs and that regime type matters. They also found important differences between social groups in line with individual level hypotheses and previous findings. This suggests that, as predicted, people respond differently to the norms that are embedded in welfare states’ institutional regimes.

4. Mapping European Value Patterns Earlier in this chapter we have reported some empirical findings as to how value patterns are distributed over Europe and what Austria’s place is within these distributions. These patterns, however, were restricted to the two dimensions that Inglehart distinguished in his research, viz., the religious-traditional vs. secular-rational dimension and the survival vs. self-expression dimension. What we want to do in the remaining part of this chapter is to cast out our nets farther and wider. To accomplish this feat there seem to be two courses open to us. One course is the one followed in the Atlas of European Values.17 This course consists of grouping the values, beliefs, attitudes, opinions, preferences etc. measured by the EVS survey under a few distinct headings (Europe, family, work, religion, politics, society, and well16 Cf. Arts, Wil/Gelissen, John  : Welfare States, Solidarity and Justice Principles — Does the Type Really Matter  ?, in  : Acta Sociologica 44 (2001), 283–299. 17 Halman, Loek/Luijkx, Ruud/Zundert, Marga van  : Atlas of European Values. Leiden-Boston 2005.

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being) and describe and interpret them. This procedure takes, however, much more space than is available in this volume and is, if we take the theoretical and methodological progress made in explaining European value patterns seriously, not analytical enough. Another and more informative course is the one chosen by Hagenaars et al.18 They are not so much interested in identifying and interpreting value patterns in the different societal domains and life spheres, but sooner try to uncover the basic patterns beyond these domain specific value orientations by abstracting from the concrete contents of the separate questions and items. In other words, they explored Europe’s basic values map. One could argue that they tried to revive an old ideal of the EVSSG, viz., to explore whether they could detect systems in the values data. The exploratory analyses of Hagenaars et al.19 have three important features. First, they tried to identify a meaningful pattern in 40 attitudinal scales (indices) that cover all the distinctive societal domains and life spheres included in EVS and thus cover a wider range of value orientations than in other analyses. Secondly, they explored the basic value dimensions both at the aggregate and the individual level in order to prevent fallacies of the wrong level. Finally, they investigated whether the positions of the countries on the fundamental value dimensions have changed over time. In these analyses they use a generational perspective, as advocated by Inglehart. They applied principal components analysis to all 40 indices at three levels of analysis (individual level, aggregate country level, and age group by country level). The first question they raised was whether there was the same number of fundamental dimensions, i.e., the principal components, underlying the scores on the 40 indices at each level. The answer was affirmative. They concluded that for all three levels of analysis a two components solution had to be chosen. The first dimension they called “Autonomy-Social Liberalism”. This dimension refers to indices of post-materialism  : autonomy, the right for women to develop themselves socially and economically, tolerance towards ethnic groups, personal-sexual permissiveness, protest proneness, favouring democracy, environmentalism. The second dimension they called “Normative-Religious”. This dimension refers to indices of religiosity, emphasis on marriage and family, rejection of abortion, importance of work, emphasis on authority, trust in institutions, rejecting illegal actions and hedonistic behaviour, stressing the need for solidarity. It proved that an East-West division was pre-eminently clarifying the distribution over Europe on the first dimension. There 18 Cf. Hagenaars, Jaques/Halman Loek/Moors, Guy  : Exploring Europe’s Basic Values Map, in  : Arts, Wil/Hagenaars, Jaques/Halman, Loek (eds.)  : The Cultural Diversity of European Unity. Findings, Explanations and Reflections from the European Values Study, Leiden-Boston 2003, 23– 58. 19 Cf. Hagenaars/Halman/Moors, Exploring Europe’s Basic Values Map.

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appeared to be a high positive correlation between this dimension and the dummy variable East vs. West. Western European countries (except Portugal) scored relatively high on this “Autonomy-Social Liberal”-dimension. Sweden, the Netherlands and Denmark had the highest scores  ; Austria had a score somewhere in the middle of the Western European countries. In this respect Austrians have much in common with co-religionists like Italians and the Irish. Eastern European countries (except Croatia, Slovenia and Eastern Germany) scored relatively low on this dimension. Russia, Lithuania, Hungary and Belarus had the lowest scores. There proved to be a positive, although much lower correlation between the variable East-West and the second dimension. Western European countries scored relatively high on the “Normative-Religious”-dimension (except Denmark, Finland, Sweden, the Netherlands, and France). Malta, Ireland, Greece, Italy, and Northern Ireland had the highest scores. Again Austria was somewhere in the middle of the Western European countries. Great Britain and Iceland are more or less similar in this respect. Eastern European countries scored relatively low on this dimension (except Poland, Romania, Croatia, Hungary, and Slovenia). The Baltic countries, Belarus and Russia had the lowest scores. Hagenaars et al.20 interpreted these outcomes by arguing that country differences on the “Autonomy-Social Liberal”-dimension may be understood in terms of both modernization theory and institutionalism. Relatively high levels of economic development (affluent societies) and existential security (comprehensive welfare states) push values in the direction of personal autonomy and post-materialism. The position of the countries on the “Normative-Religious”-dimension can, however, not be “simply” understood from their level of economic development and existential security. The order of countries reflects much more their cultural heritage, especially their religious tradition (Atheist, Orthodox, Protestant, and Roman Catholic). Taking multi-level and age-cohort-period analysis seriously, Hagenaars et al.21 controlled for compositional age group differences between the countries. They found that the generational differences were surprisingly similar in all countries. They appeared to be each other’s mirror image, i.e., “Autonomy-Social Liberal” values continuously increased with successive birth cohorts, while “Normative-Religious” values continuously decreased. Whether these results reflect “real” generational differences or sooner life-course differences (growing older makes one more conservative) could not be answered by using cross-sectional data only. Therefore they looked at data from the three at that time available EVS waves (1981–1990– 20 Cf. Hagenaars/Halman/Moors, Exploring Europe’s Basic Values Map. 21 Cf. Hagenaars/Halman/Moors, Exploring Europe’s Basic Values Map.

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1999) for trends. Because Eastern European countries were not involved in the 1981 wave and only a few of them in the 1990 wave, the analysis was restricted to Western Europe. Hagenaars et al.22 observed a small but steady increase from 1981 to 1999 for each successive cohort on the “Autonomy-Social Liberal”-dimension. This increase, however, slowed down from the post-war birth cohort 1950–1959 on. Austria clearly showed rising levels of “Autonomy-Social Liberal” values from 1990 to 1999. On the “Normative-Religious” dimension a slight increase from 1981 to 1990 was visible in Western Europe. Between 1990 and 1999 there was, however, hardly any change on this dimension. Austria showed a small drop from 1990 to 1999.

5. The basic value patterns of Austrians in a comparative and longitudinal perspective When we tried to replicate the analyses of Hagenaars et al.23 we almost immediately ran into two problems. First, the number of countries surveyed increased from 33 in 1999 to 45 in 2008. Second, some of the indicators used by Hagenaars et al. were dropped from the 2008 questionnaire. There is a good chance that this seriously affects the comparability of the outcomes. It is hard to predict, however, to what extent these two problems will affect the basic value patterns that emerge. To solve the second problem, we included as many of the 40 attitude scales (indices) that are available since 1990, the year Austria entered EVS. To ascertain comparability over time we decided to run analyses on a provisional integrated longitudinal data file that we created especially for the purpose of this chapter. This merged file contains data of the three EVS surveys that were fielded since 1990 (1990–1999–2008). To solve the first problem we analyzed the 2008 data twice. In the first round the set contained all (45) participating countries and in the second round only the countries that participated since 1990. The differences in outcome were negligible. The factor pattern found in both analyses appeared to be rather stable and robust and was hardly affected by the inclusion of new countries. The first results of the principal components analysis of the 2008 individual level data were promising. Just as it was the case with the 1999 data, two principal components were extracted.24 The first component more or less corresponds with Hage22 Cf. Hagenaars/Halman/Moors, Exploring Europe’s Basic Values Map. 23 Cf. Hagenaars/Halman/Moors, Exploring Europe’s Basic Values Map. 24 Cf. Statistical Appendix on Stand  : 01.05.2011, URL  : http  ://ktf.univie.ac.at/content/forschung/wer testudie/de/materialiendownloads/index.html.

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naars’ et al.25 “Normative-Religious” component. The odds are high that people who have a high score on this component will also show a relatively high level of religiosity, have confidence in authoritative institutions (army, churches), prefer authority above autonomy as values that should be communicated in parental education, are intolerant towards ethnic and deviant groups, think that laziness is the most important reason why people in their country are in need, think that cultural homogeneity (shared religious ideas, being of the same social background, agreement on politics) and material conditions (adequate income, good housing) are important for a successful marriage, are of the opinion that a woman has to have children in order to be fulfilled, believe that women should not have a job and that pre-school children are likely to suffer if their mother works, disapprove of abortion, are neither protestprone nor sexual permissive, choose materialistic political goals above post-materialistic ones, identify first and foremost with the locality or the town where they live and least of all with Europe and the world at large. The second component resembles the “Autonomy-Social Liberalism” component of Hagenaars et al.26 People who have a high score on this dimension are with a relatively high probability also willing to make financial sacrifices for preventing environmental pollution, think that expressive qualities of work (an opportunity to use initiative, a responsible job, a job in which you feel you can achieve something, a useful job for society, a job that meets one’s abilities, meeting people, a job that is interesting) are important, reject unlawful and unethical selfish behaviour (claiming state benefits which you are not entitled to, cheating on tax if you have the chance, lying in your own interest), and identify first and foremost with their own nation and to a lesser degree with Europe. According to our analysis, however, what is more characteristic for people who have a high score on this component, is that the odds are high that they have not only confidence in authoritative institutions but also in other institutions (such as the education system, the press, parliament, civil service etc.) and international organizations. Hagenaars et al. decided not to work with the “confidence in institutions” indices to avoid as much as possible ecological fallacies. They found namely inconsistent outcomes when comparing the individual level analysis with an aggregate country level analysis and an age by country analysis. We ran analyses with and without these “confidence in institutions” indices and the results were more or less the same, so that keeping them in the analyses did not harm the results. We plotted the mean country scores on the two components we found (including the confidence in institutions indices) and did a cluster analysis. 25 Cf. Hagenaars,/Halman/Moors, Exploring Europe’s Basic Values Map. 26 Cf. Hagenaars,/Halman/Moors, Exploring Europe’s Basic Values Map.

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Figure 1  : Countries’ scores on the “Normative-Religious” dimension index in 2008. Source  : EVS 2008.

Countries’ scores on the normative – religious dimension in 2008

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Trends on the normative – religious dimension in European countries

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2008 – 1999

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1999 – 1990

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91

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Figure 2  : Changes in countries’ scores on the “Normative-Religious” dimension index. Source  : EVS 1990–2008.

92

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Trends in the normative – religious dimension in selected countries 0,6

0,4

0,2

0

–0,2

–0,4

–0,6

–0,8

1990

1999

2008

Austria

Czech Republic

Germany – West

Germany – East

Hungary

Italy

Slovakia

Slovenia

Figure 3  : Scores of selected countries on the “Normative-Religious” dimension index. Source  : EVS 1990–2008.

Neither the scatter plot nor the cluster analysis showed, at least from the vantage point of modernization theory or institutionalism, a clear pattern of countries. Trend analysis of the second component also produced confusing results that defied our theoretical imagination. Therefore we concluded that a closer analysis of the second component is needed. We decided, however, to postpone such an in-depth analysis of the second component and concentrated on the first dimension instead (fig. 1). Turkey has by far the highest score, followed by countries such as Georgia, Moldova, Romania and Malta who are also more religious and strict than other European countries. The lowest scores came from citizens of the Nordic countries  : Sweden, Norway, Denmark, Finland and Iceland. Compared to Eastern and Southern European people Western Europeans are less religious and strict. Austria is no exception to this rule. In order to describe the trends in time, we have calculated difference scores for the “Normative-Religious”-dimension since 1990. In Figure 2 the trends are displayed. Scores higher than 0 indicate increases  ; below 0 implies a decreasing trend. From 1990 to 1999 the majority of European countries show decreasing levels of religiosity and normative strictness. Nearly all European countries became more secu-

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93

Generational differences in Europe and Austria on the normative – religious dimension 0,8

0,6

0,4

0,2

0

–0,2

–0,4

–0,6

–0,8

until 1929 Europe

1930–1939

1940–1949

1950–1959

1960–1969

1970–1979

1980–early 90s

Austria

Figure 4  : Scores of the age cohorts on the “Normative-Religious” dimension index in Europe and Austria in 2008, x-axis  : Time spans of date of birth. Source  : EVS 2008.

lar and permissive in that decade. In the first decade of the 21st century this trend continued in most countries, but there are now more exceptions. In a number of countries the process of secularization slows down or the process is even reversed. Austria is among these exceptions (fig. 2). We explored the trend in Austria and its neighbouring countries separately. The results are as in Figure 3. Because Switzerland did not participate in all waves, it is excluded. We made a distinction between (former) East and West Germany. From 1990 to 1999 a decline in religiosity and normative strictness is visible in all countries except West Germany. From 1999 to 2008 most countries show a slight increase. The exceptions are West and East Germany and Slovakia (fig. 3). Earlier we have argued that a better insight into value change can be obtained by employing a generational perspective. Therefore we constructed seven 10-years age groups or birth cohorts. The first age group is the cohort born before 1930, the second born in the 1930s, the third in the 1940s etc. In the following figure generational differences in scores on the “Normative-Religious”-dimension are depicted both in Europe at large and in Austria. The younger the age group or birth cohort, the lower

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Wil Arts/Loek Halman

Trends in the normative – religious dimension in selected countries 1,2 1,0 0,8 0,6 0,4 0,2 0 –0,2 –0,4 –0,6 –0,8 –1,0

until 1929

1930–1939

1940–1949

1950–1959

1960–1969

1970–1979

1980–early 90s

Austria

Czech Republic

Germany – West

Germany – East

Hungary

Italy

Slovakia

Slovenia

Figure 5  : Scores of the age cohorts on the “Normative-Religious” dimension index in selected countries in 2008, xaxis  : Time spans of date of birth. Source  : EVS 2008.

the score on the “Religious-Normative”-dimension. The decline is much steeper in Austria than in Europe at large. This seems to suggest that the secularisation process ran in the past two decades in a slower pace in Europe than in Austria (fig. 4). This suggestion could, however, be a little too hasty. We get a more specified image when we compare Austria with its neighbours. From Figure 5 we can glean that Austria does not really differ from its neighbours in terms of the pace of generational change. In all countries we see that the younger the age group or birth cohort, the lower the scores on the “Religious-Normative”-dimension and that the pace does not differ very much. We cannot be sure, however, whether this is really a cohort or rather a life course effect. Modernization theory at least makes a point in favour of the first option (fig. 5).

Value Research and Transformation in Europe

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6. Conclusion and discussion At the start EVSSG had one grand theoretical idea, i.e., that European value patterns constitute systems. This idea was refuted by the first results of the survey. In this chapter, however, we have empirically shown that in terms of principal components there is more system in European value patterns than these first results suggested. When we looked at the locations of countries in two two-dimensional (religious-traditional vs. rational-secular and survival vs. self-expression) scatter diagrams, we noticed that Europe can be clearly distinguished from South Asia, Latin America and Africa. These latter parts of the world cherish overwhelmingly survival and religious-traditional values. In Europe Ex-Communist countries predominantly adhere to rational-secular and survival values, although the Orthodox Ex-Communist countries are less rational-secular than the Non-Orthodox ones. In Western Europe Roman Catholic countries tend to adhere to rational-secular and self-expression values but not as much as Protestant countries do. Austria is no exception to this rule. Austrian values resemble those in other dominantly Roman Catholic countries like Belgium, France and Italy but are also like those in Protestant countries like Great-Britain and Iceland. In the first decade of the new century, Austria distanced itself slightly from the other Roman Catholic countries by its higher score on self-expression values. When we looked at the locations of European countries on two other dimensions (autonomy-social liberalism and normative-religious) in 1999, we concluded that Austria very much resembles countries such as Belgium, France, Germany, Great Britain, Croatia and Slovakia in terms of both dimensions. Countries like Denmark, the Netherlands, Norway, and Sweden have significantly higher scores on the “autonomy-social liberalism”-dimension and countries such as Greece, Ireland, Italy, and Portugal have higher scores on the “normative-religious”- dimension. Due to operationalization problems we could only replicate the “normative-religious”-dimension in 2008. Of the countries surveyed Austria is somewhere in the middle. Austrians are on average less normative-religious than people in Southern Europe and in some Eastern Europe countries, but more religious and strict than people in the Nordic countries. Looking at the trends, it appears that most European countries became less religious and strict in the 1990s. Most European countries became also more secular and permissive in the first decade of the 21st century. There were, however, also a number of exceptions to this rule. Austria belongs to these exceptions. Age-group analysis suggests that cohort replacement plays an important role in value change. The older the generations, the more religious and normative strict they are. Austria does not differ much from its neighbours in the effects of cohort replacement.

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Wil Arts/Loek Halman

Relations between (social) sciences and policymaking Pure Social Science



Theoretical Social Science

Applied Social Science



Empirical Social Science



Applied Social Science



Social Technology/ Policy Science

 Political and Moral Theology Political and Moral Philosophy

 Policymaking 

Normative Science

Figure 6  : Relations between (social) sciences and policymaking. Own graph.

In EVS in the past decades two theories have been introduced and elaborated to explain cross-national and over-time differences in value patterns  : modernization theory and institutionalism. Especially the more sophisticated versions of these theories have been quite successful in partially explaining over-time and over-place differences in “grand” value patterns in Europe. Nevertheless, there is still a lot of theoretical work to be done. Rounding off this chapter, we have to discuss one additional issue. Earlier we have noticed that EVS originated from the social concern of an international multidisciplinary group of academics who wanted to provide European policymakers with valid and reliable information. According to them the findings of the EVS surveys should enable policymakers to make wiser and more adequate decisions. They begged, however, the question of how the findings of cross-national value surveys can contribute to policymaking. Figure 6 offers an opportunity to elucidate this question (fig. 6). The EVSSG consisted of philosophers, political scientists, psychologists, sociologists and theologians. The philosophers and theologians leaned towards addressing questions about which value patterns should, either for immanental or transcendental reasons be preferred in Europe today and which patterns should be avoided. In

Value Research and Transformation in Europe

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other words, they tended to ask normative-analytical questions about “what should be the case and why”. The social scientists, by contrast, wanted to answer descriptive and explanatory questions about European value patterns. In other words, they showed a propensity to ask “what is the case and why  ?” Ideally, after philosophers, theologians and social scientists have done their job, social engineers and policy analysts come in. They address application or improvement questions, i.e., questions of how value patterns can be improved or what the constraints are of certain value patterns for policymaking. Figure 6 suggests there is not only a division of labour between distinct disciplines, but also between subdivisions within these disciplines. It also suggests that there is a kind of watershed between philosophy and theology on the one hand and social science on the other. We think, however, that it is possible to build bridges between both kinds of sciences, and we are not the only ones.27 One could argue that philosophers and theologians should welcome research that describes the relatively stable and consistent opinions and beliefs of people with regard to moral principles and human values. After all, surveys make it possible to confront their normative theories and maxims with public opinion. How does this confrontation work  ? First, simply knowing that so many others think differently gives philosophers and theologians, with a proper sense of humility and fallibility, grounds for caution. If the descriptive findings of empirical value surveys can play this cautionary role, then social-science theories, that explain why people believe what they do about values, can and should be similarly thought-provoking. Second, normative convictions that are cherished by the general public impose limitations on and offer opportunities to the realization of philosophical and theological ideals. No matter how beautiful philosophical conceptions of the good life and how inspiring theological behavioural guidelines sometimes seem to be, if they do not mesh with what people think, feel and want, they are doomed to fail. The limits of what can be realized in practice are to a high degree determined by public opinion. Third, the normative beliefs and values of people contribute to the design of the actual state of affairs in various societal domains. Politicians and policymakers are not only guided by the moral principles and beliefs derived from philosophical and theological treatises when they are articulating their policies but also by electoral considerations and the calculus of consent. Philosophers and theologians therefore cannot confine themselves to evaluating and 27 Cf. Miller, David  : Distributive Justice — What the People Think, in  : Ethics 10 (1992), 555–593  ; Swift, Adam/Marshall, Gordon/Burgoyne, Carole/Routh, David  : Does it Matter what the People Think  ?, in  : Kluegel, James R./Mason, David S./Wegener, Bernd (eds.)  : Social Justice and Political Change. Public Opinion in Capitalist and Post-Communist States, New York 1995, 15–48.

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influencing the principles and values of politicians and policymakers but they also have to know what is in the minds of the people. References Arts, Wil/Gelissen, John  : Welfare States, Solidarity and Justice Principles — Does the Type Really Matter  ?, in  : Acta Sociologica 44 (2001), 283–299 Brinton, Mary C./Nee, Victor  : The new institutionalism in sociology. New York 1998. Bailey, Joe  : Social Europe  : Unity and Diversity — An Introduction, in  : Bailey, Joe (ed.)  : Social Europe. London 1992, 1–14 Ester, Peter/Halman Loek/Moor, Ruud de (eds.)  : The Individualizing Society. Value Change in Europe and North America, Tilburg 1994 Gundelach, Peter  : National Value Differences — Modernization or Institutionalization  ?, in  : International Journal of Comparative Sociology 35 (1994), 37–58 Hagenaars, Jaques/Halman Loek/Moors, Guy  : Exploring Europe’s Basic Values Map, in  : Arts, Wil/Hagenaars, Jaques/Halman, Loek (eds.)  : The Cultural Diversity of European Unity. Findings, Explanations and Reflections from the European Values Study, Leiden-Boston 2003, 23–58 Haller, Max  : Theory and Method in the Comparative Study of Values. Critique and Alternative to Inglehart, in  : European Sociological Review 18 (2002), 139–158 Halman, Loek  : Waarden in de Westerse Wereld. Tilburg 1991 Halman, Loek/Heunks, Felix/Moor, Ruud de/Zanders Harry  : Traditie, Secularisatie en Individualisering. Tilburg 1987 Halman, Loek/Luijkx, Ruud/Zundert, Marga van  : Atlas of European Values. LeidenBoston 2005 Harding, Stephan/Phillips, David/Fogarty, Michael  : Contrasting Values in Western Europe. Unity, Diversity & Change, Houndsmill 1986 Inglehart, Ronald  : The Silent Revolution in Europe — Intergenerational Change in PostIndustrial Societies, in  : American Political Science Review 65 (1971), 991–1017 Inglehart, Ronald  : The Silent Revolution — Changing Values and Political Styles among Western Publics. Princeton N.J. 1977 Inglehart, Ronald  : Culture Shift in Advanced Industrial Society. Princeton N.J. 1990 Inglehart, Ronald  : Modernization and Postmodernization — Cultural, Economic and Political Change in 43 Societies. Princeton N.J. 1997 Inglehart, Ronald/Baker, Wayne  : Modernization, Cultural Change and the Persistence of Traditional Values, in  : American Sociological Review 65 (2000), 19–51 Inglehart, Ronald/Welzel, Christian  : Modernization, Cultural Change and Democracy. New York 2005 Inglehart, Ronald  : Changing Values among Western Publics from 1970 to 2006, in  : West European Politics 31 (2008), 130–146 Inkeles, Alex  : Industrial Man — The Relations of Status to Experience, Perceptions, and Values. American Journal of Sociology 66 (1960), 1–31

Value Research and Transformation in Europe

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March, James G./Olsen, Johan P.  : Rediscovering Institutions — The Organizational Basis of Politics. New York 1989 Miller, David  : Distributive Justice — What the People Think, in  : Ethics 10 (1992), 555–593 Moor, Ruud de  : Epilogue, in  : Ester, Peter/Halman Loek/Moor, Ruud de (eds.)  : The Individualizing Society. Value Change in Europe and North America, Tilburg 1994, 229–232 Ogburn, William F.  : Social Change with Respect to Culture and Original Nature. New York 1952 Ogburn, William F.  : Cultural Lag as Theory, in  : Sociology and Social Research 41 (1957), 167–174 Powell, Walter W./DiMaggio, Paul  : The New Institutionalism in Organizational Analysis. Chicago 1991 Stoetzel, Jean  : Les valuers du temps présent  : une enquête européenne. Paris 1983 Swift, Adam/Marshall, Gordon/Burgoyne, Carole/Routh, David  : Does it Matter what the People Think  ?, in  : Kluegel, James R./Mason, David S./Wegener, Bernd (eds.)  : Social Justice and Political Change. Public Opinion in Capitalist and Post-Communist States, New York 1995, 15–48

Elisabeth Kropf/Erich Lehner

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und ­Partnerschaftsformen in Europa

1. Einleitung und Fragestellungen In allen europäischen Ländern begegnet man heute einer Vielzahl von Konzeptionen und Wahlmöglichkeiten an Lebens-, Familien- und Partnerschaftsformen. Die Untersuchung der Pluralisierung und Diversifizierung dieser stellen für die sozialwissenschaftliche Familienforschung seit mehr als 30 Jahren einen bedeutsamen Gegenstand dar. Eines der wichtigsten Ergebnisse des historisch arbeitenden Forschungszweiges war sicherlich, dass Pluralität keine neue Erscheinung ist, sondern bereits am Beginn des bis heute prägenden, bürgerlichen Familienbildes stand.1 Spätestens seit dem „Golden Age of Marriage“ der 1950er und 1960er fand das bürgerliche Familienmodell in Mittel- und Zentraleuropa weite Verbreitung. Gleichzeitig ist bis heute eine große Vielfalt an Familien- und Partnerschaftsformen feststellbar  : Wo noch vor wenigen Jahrzehnten vorwiegend die von außen normierte, hierarchisch und geschlechtsspezifisch strukturierte Familie dominierte (Familie als Ehegemeinschaft), findet sich heute mehr und mehr eine von dem bzw. den Einzelnen bestimmte, vielfältig lebbare, aber nach wie vor auf Dauer angelegte Solidargemeinschaft. Diese Vielfalt in der Familie hängt eng mit den gesellschaftlichen Transformationsprozessen in (Zentral-)Europa zusammen  : der Individualisierung, De-Institutionalisierung, Globalisierung, der Neuordnung der Generationen- und Geschlechterbeziehungen, den demografischen Veränderungen einer „Ageing Society“, aber auch den neu auftretenden Phänomenen der Entgrenzung von Arbeits-, Partnerschafts- und Familienzeiten.2 Die konkrete Ausgestaltung des Partnerschafts- und Familienlebens ergibt sich als Vermittlung zwischen den individuellen Erfahrungen 1 Vgl. Lüscher, Kurt  : Generationenbeziehungen in „postmodernen“ Gesellschaften. Analysen zum Verhältnis von Individuum, Familie, Staat und Gesellschaft, Konstanz 1995, 60  ; bzw. Richter, Martina  : Art. Familie/Generation, in  : Hansses, Anders/Homfeldt, Hans Günther (Hg.)  : Lebensalter und Soziale Arbeit. Eine Einführung, Hohengehren 2008, 64–77, 65. 2 Vgl. Heitkötter, Martina/Jurczyk, Karin/Lange, Andreas  : Zeit für Beziehungen  ? Zeit und Zeitpolitik für Familien, Opladen 2009.

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und Erwartungen und den genannten gesellschaftlichen bzw. gesellschaftspolitischen Entwicklungen. Familien- und Partnerschaftsvorstellungen variieren in Europa aber nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der Nationalstaaten  : Für die Ausgestaltung des Familienbildes treten nationale Grenzen mehr und mehr in den Hintergrund, das Individuum gewinnt hingegen an Bedeutung. Zudem sind Familien- und Partnerschaftsrealitäten von Familien- und Partnerschaftsidealen zu unterscheiden  : Ein verbreitetes, dominantes Partnerschaftsbild im österreichischen TV-Hauptabendprogramm ist derzeit z. B. jenes des jungen Paares, das in seiner trauten Zweisamkeit in einer heilen, reichen, meist bürgerlich-traditionellen, jedenfalls aber fern von gesellschaftlichen Konflikten und Ansprüchen stehenden Partnerschafts- bzw. Familienwelt lebt. Das Charakteristikum dieses dominanten, romantisch-idyllischen Familien- und Partnerschaftsbildes à la Rosamunde Pilcher ist Klarheit. In diesem Beitrag sollen beide Seiten – die doch recht komplexe Wirklichkeit und die meist einfacheren Ideale im Bereich der Familie und Partnerschaft – zur Sprache kommen. Welche Lebens-, Familien- und Partnerschaftsformen sind in Europa derzeit anzutreffen  ? Welche Entwicklungen haben sich in diesem Bereich in den letzten Jahren ergeben  ? Welche Trends lassen sich aus den vorhandenen Daten ableiten  ? Die Analyse der europäischen Staaten muss aufgrund der Fülle notwendigerweise reduziert werden. Im Mittelpunkt unserer Auswertung steht Österreich, das in einem ersten Schritt zu seinen unmittelbaren Nachbarländern in Beziehung gesetzt wird  : Deutschland, die Schweiz, Italien, Slowenien, Ungarn, Slowakei und Tschechien. Zur Typisierung dieser Länder stützen wir uns auf das bekannte Konzept der Wohlfahrtsstaatstypologie von Gøsta Esping-Andersen. Der dänische Soziologe unterschied um die Jahrtausendwende drei europäische Wohlfahrtsstaatenregime  : 1. Das konservative, korporatistische bzw. bismarcksche Wohlfahrtsstaaten-Modell Kontinentaleuropas (z. B. Deutschland, Österreich), 2. das liberale bzw. marktorientierte Modell (z. B. Großbritannien und Irland) und 3. das sozialdemokratische Regime der nordischen Länder (z. B. Dänemark, Schweden, Norwegen).3 Maurizio Ferrera ergänzte diese Systematik später um das südeuropäische bzw. mediterrane Modell (z. B. Italien, Spanien)4, Maarten Keune ergänzte die osteuropäischen Staaten.5 Auch jene 3 Vgl. Esping-Andersen, Gøsta  : Social Foundations of Postindustrial Economies. Oxford 1999. 4 Vgl. Ferrera, Maurizio  : The Southern Model of Welfare in Social Europe, in  : Journal of European Social Policy 6 (1996), 17–37. 5 Vgl. Keune, Maarten  : Mittel- und osteuropäische Wohlfahrtsstaaten im Vergleich. Typen und Leistungsfähigkeit, in  : Klenner, Christina/Leiber, Simone (Hg.)  : Wohlfahrtsstaaten und Geschlechter­ ungleichheit in Mittel- und Osteuropa. Wiesbaden 2009, 59–85, 60.

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

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Länder, die wir in diesem Artikel in das Zentrum rücken, lassen sich entsprechend dieser Analysemodelle aufteilen. Konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaaten sind Deutschland, Schweiz und Österreich, mediterrane Italien und osteuropäische Slowenien, Ungarn, Slowakei und Tschechien. Um jedoch alle Wohlfahrtsstaatstypologien abzudecken, ergänzten wir Österreich und seine Nachbarländer um das sozialdemokratische Schweden und das liberale Großbritannien – insgesamt fokussieren wir also auf zehn Vergleichsländer.6 Dieses Kapitel gliedert sich in drei Abschnitte  : In einem ersten Schritt fragen wir danach, was ÖsterreicherInnen und EuropäerInnen unter Familie verstehen und welche Geschlechterrollen in diesen Familienkonzepten begegnen. Familie definieren wir dabei in Anlehnung an das handlungs- und subjektorientierte Konzept des „Doing Family“  : Der bzw. die Einzelne entscheidet darüber, was Familie ist. Danach fragen wir – gestützt auf die Daten der EVS – nach der Bedeutung der Familie, aber auch dem Eltern-Kind-Verhältnis im Leben der ÖsterreicherInnen im Kontext von Europa  : schließlich ist das intergenerationale Zusammenleben eine Grundkonstante von Familie. Traditionelle Familienformen beruhen auf der Koppelung der Familie mit der Institution der Ehe. Im zweiten Abschnitt des Beitrags lenken wir unser Augenmerk daher auf die Ehe und fragen  : Welchen Stellenwert nimmt die Ehe in Österreich bzw. den ausgewählten europäischen Ländern ein  ? Verliert die Ehe als Institution an Bedeutung  ? Welche Funktionen sind den ÖsterreicherInnen und EuropäerInnen für das Gelingen einer „guten Ehe“ besonders wichtig  ? Der dritte Schritt – unkonventionelle Lebensgemeinschaften – „dockt“ an der Ehe an, versucht diese jedoch zu überschreiten. Die klassischen Familienstände „verheiratet, geschieden, ledig“ leiten sich von der Ehe ab. Nimmt man – entsprechend dem Ansatz des „Doing Family“ – die Eigendefinition der Menschen ernst, tut man sich mit der auf die Ehe zentrierten Bestimmung schwer. In der aktuellen Erhebungswelle der Europäischen Wertestudie konnten wir erstmals auch eine Differenzierung nach dem Beziehungsstatus vornehmen, was weitere Details im Familienund Beziehungsleben der ÖsterreicherInnen und EuropäerInnen sichtbar macht. Zuletzt wenden wir uns zwei unkonventionellen Lebensverbänden bestimmter Personengruppen im Detail zu  : Singles und jungen Erwachsenen.

6 Vgl. Esping-Andersen, Social Foundations of Postindustrial Economies.

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2. Familie in Österreich und Europa  : Auf hohem Niveau konstant und zugleich im Wandel 2.1 Definition von Familie in der sozialwissenschaftlichen Familienforschung – das Konzept des „Doing Family“

Wie der letzte österreichische Familienbericht feststellte, wird die Familie in der wissenschaftlichen Familienforschung nicht mehr als statische, singuläre Größe betrachtet, sondern mehr und mehr in ihren Übergängen, Brüchen, Ein- und Ausmündungen in die Partnerschaft und Erwerbstätigkeit.7 Familienzyklus-Konzepte mit klar abgegrenzten Phasen werden durch Konzepte mit fließenden Übergängen ergänzt (z. B. in räumlicher und zeitlicher Hinsicht).8 Bereits die letzte Datenauswertung der Europäischen Wertestudie zeigte, dass die Entwicklung von Lebensformen in Westeuropa heute vor allem durch die „Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Typen privater Lebensformen“9 gekennzeichnet ist. Die heterosexuelle, zumindest zwei Generationen umfassende Lebensform stellt dabei nur mehr einen Typus unter anderen dar. Mit dem Österreichischen Familienbericht lässt sich folgender Trend feststellen  : Familie definiert sich in Europa nicht mehr vorwiegend als eheliche oder generationenübergreifende Gemeinschaft, sondern vor allem als Solidargemeinschaft.10 Das Verständnis von Familie entwickelte sich von der Ehegemeinschaft hin zum Generationenverbund und schließlich zur Solidargemeinschaft. Das Neue an der Definition der Familie als Solidargemeinschaft ist vor allem, dass Beziehungen von den einzelnen Menschen freier gewählt und gegebenenfalls auch wieder beendet werden können. Die Deutungshoheit darüber, was Familie bzw. Partnerschaft ist, liegt damit mehr und mehr beim Einzelnen bzw. dem einzelnen Paar selbst. Für diesen Beitrag ist der Ansatz des „Doing Family“ zentral.11 Dieses vom Deutschen Institut für Jugendforschung erstellte handlungs- und subjektorientierte Konzept besagt, dass der bzw. die Einzelne darüber entscheidet, was Familie ist  : Ähnlich wie bei dem Ansatz des „Doing Gender“ geht „Doing   7 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend  : 5. Österreichischer Familien­ bericht auf einen Blick. Wien 2010, 25, Stand  : 08. 04. 2011, URL  : http  ://www.parlament.gv.at/ PAKT/VHG/XXIV/III/III_00157/imfname_190012.pdf.   8 Vgl. Heitkötter, Zeit für Beziehungen  ?   9 Vgl. Goldberg, Christine/Kratzer, Ulrike/Wilk, Lieselotte  : Familie als Beziehung zwischen den Geschlechtern und Generationen, in  : Denz, Hermann (Hg.)  : Die Europäische Seele. Leben und Glauben in Europa, Wien 2002, 119–148, 120. 10 Vgl. Bundesministerium für Wirtschaft, Familie und Jugend, 5. Österreichischer Familienbericht, 21. 11 Vgl. Jurczyk, Karin/Keddi, Barbara/Lange, Andreas/Zerle, Claudia  : Zur Herstellung von Familie, in  : DJI Bulletin 88 (2009), I– VIII.

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

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Family“ davon aus, dass es kein „natürliches“ Familienleben gibt, sondern Familie stets ein sozio-kulturell und institutionell bestimmtes Konstrukt ist.12 Familie ist nach Karin Jurczyk ein nicht nur allgemein gegebenes, von äußeren Normen/ Traditionen bestimmtes Kontinuum, sondern eine subjektive, Tag für Tag im Alltag hergestellte, biografische Leistung. Sie zeichnet sich weniger durch das generationenübergreifende Zusammenleben oder gar den Lebensstatus der Eltern aus (z. B. als eheliche Lebensgemeinschaft), sondern wird in den verbindlichen, wechselseitigen Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern geformt. Familie basiert nach dem Konzept des „Doing Family“ auf der gemeinsamen Interaktion der Familienmitglieder, die wiederum die Ko-Präsenz und körperliche Anwesenheit Einzelner voraussetzt. 2.2 Zur Bedeutung der Familie im Leben der ÖsterreicherInnen und EuropäerInnen

Familie nimmt für die EuropäerInnen nach wie vor die höchste Bedeutung in ihrem Leben ein. Durchschnittlich13 gaben 85 % der Personen aller befragten Länder an, dass Familie für sie „sehr wichtig“ sei. Auf den zweiten Platz reiht Europa Arbeit (57 %), auf den dritten Platz Bekannte und Freunde (47 %) und zuletzt Freizeit (38 %), Religion (20 %) und Politik (9 %). Während seit 1999 immer mehr Menschen Zeit mit FreundInnen und Freizeit als „sehr wichtig“ schätzen, bleibt Familie in den untersuchten europäischen Ländern auf hohem Niveau konstant. Beim Blick auf den gesamten Untersuchungszeitraum (d.h. 1990 bis 2008) fällt die Bedeutungsstabilität von Familie in Europa auf. Eine deutliche Ausnahme von diesem recht homogenen Bild der Bedeutung von Familie in Europa bilden jedoch zwei Länder  : Österreich und Schweden. SchwedInnen14 werten Familie aktuell nur zu 55 % als „sehr wichtig“ ein (und 40 % als „wichtig“), während Familie 1999 noch 89 % für „sehr wichtig“ hielten. In keinem anderen Land nahm die Wichtigkeit des Lebensbereiches der Familie von der Erhebung im 12 Vgl. ebd. 13 Der Durchschnittswert wurde für die EU–27-Länder (inkl. Schweiz und Norwegen) gebildet, wobei Gewichtungen nach den UNO-Bevölkerungszahlen entsprechend der Grundgesamtheit erstellt wurden (d.h. Unter–18-Jährige waren entsprechend der EVS-Grundgesamtheit ausgenommen). Weil keine verlässlichen Bevölkerungserhebungen für Zypern gefunden werden konnten, ging dieses Land nicht in die Gewichtung ein. Bei der Analyse der Durchschnittswerte über den Jahrzehntevergleich muss zudem beachtet werden, dass im Jahr 1990 bzw. teilweise auch noch 1999 die Schweiz, Norwegen, Kroatien und Griechenland noch nicht an der Erhebung teilnahmen – der Europadurchschnitt für 1990 bzw. 1999 bezieht sich also auf weniger Länder als jener von 2008. 14 Einschränkend ist zu sagen  : Ein Rückgang in diesem Ausmaß könnte zumindest teilweise auf eine Verzerrung der Stichprobe zurückzuführen sein.

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Jahr 1999 auf die Erhebung im Jahr 2008 derart stark ab – Schweden bildet nun das Schlusslicht des Länderranking. Auch für Österreich ist ein geringer Bedeutungsverlust von Familie feststellbar  : Während im Jahr 2008 79 % Familie als „sehr wichtig“ bezeichnen, waren dies 1999 noch 89 %. Im Ländervergleich erscheint Österreich damit auf Rang 37 von 47 möglichen.15 Ein tieferer Blick in die Daten zeigt, dass bestimmte Personengruppen im Europadurchschnitt Familie weniger häufig als „sehr wichtig“ erachten  : Das sind 18- bis 29-Jährige, Männer und niedrig gebildete Menschen. 1. Während 81 % der 18- bis 29-Jährigen Familie im Jahr 2008 als sehr wichtigen Lebensbereich bezeichneten, tun dies etwa 85 % aller anderen Altersstufen im Europadurchschnitt. Österreich scheint dabei einen Trend anzugeben, wie sich Europa in Einschätzung der Bedeutung der Familie weiterentwickeln könnte  : ÖsterreicherInnen zwischen 18 und 29 Jahren räumen mittlerweile den FreundInnen bzw. Peergroups einen fast gleich hohen Stellenwert in ihrem Leben ein wie der Familie  : So gaben ungefähr zwei Drittel der befragten jungen Erwachsenen an, dass in ihrem Leben Familie, aber eben auch der Bereich der FreundInnen bzw. Bekannten „sehr wichtig“ ist (Familie  : 69 %, FreundInnen  : 64 %). Auch die Freizeit erachteten etwas mehr als die Hälfte (53 %) der 20- bis 29-Jährigen als „sehr wichtig“, den Lebensbereich der Arbeit hingegen „nur“ 44 %. 2. Auch Männer erachten Familie im Europaschnitt weniger häufig als „sehr wichtig“ denn Frauen  : Während 81 % der Männer Familie als sehr wichtigen Lebensbereich bezeichneten, taten dies 88 % der Frauen. Österreich weist in dieser Hinsicht sogar eine noch größere Geschlechterdifferenz in der Einschätzung der Bedeutung von Familie auf  : Während österreichische Männer zu 74 % Familie als sehr bedeutsamen Lebensbereich angaben, taten dies 83 % der Frauen. 3. Familie ist im Europadurchschnitt zudem für niedrig gebildete Personen weniger häufig von Bedeutung  : Niedrig-Gebildete sehen die Familie zu 83 % als sehr bedeutsam an, während dies 85 % der Mittel-Gebildeten bzw. 87 % der HochGebildeten tun. Die Situation in Österreich stellt nun jedoch einen Gegensatz zur europäischen dar  : Hier gaben Niedrig-Gebildete die Familie am häufigsten als „sehr wichtig“ in ihrem Leben an (zu 83 %), während dies Hoch-Gebildete (79 %) und Mittel-Gebildete (77 %) ein wenig seltener taten.

15 Rückgang signifikant auf dem 0,001-Niveau.

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

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2.3 Das Eltern-Kindverhältnis und die Rolle der Kinder

Kinder sind ein wichtiger Teil familiären Zusammenlebens in Europa. Allerdings hat sich ihre Bedeutung für die Eltern stark verändert, vor allem ihr sinnstiftender Wert ist in den Vordergrund getreten.16 Kinder zu bekommen, ist eine individuelle Entscheidung. Sowohl in Österreich als auch in seinen Nachbarstaaten ist eine Mehrheit der Meinung, dass jeder selbst entscheiden sollte, ob er/sie Kinder will oder nicht  : Alle Länder liegen in dieser Frage zwischen 87 % (Tschechien) und 97 % (Slowenien). Die Meinung, dass es eine Pflicht gegenüber der Gesellschaft ist, Kinder zu haben, teilen hingegen nur etwa ein Viertel der befragten Personen in Italien (24 %), Schweiz (24 %) und Österreich (25 %), etwa ein Drittel in Deutschland (30 %), Slowakei (31 %), Slowenien (31 %) und Ungarn (36 %) und schwach die Hälfte in Tschechien (44 %). Die Familie ist geprägt von Kooperations- und Solidaritätsleistungen.17 Solidarität in der Familie meint einerseits, dass Eltern bereit sind sich für ihre Kinder einzusetzen und sie zu unterstützen. Sie beinhaltet aber auch, dass Kinder sich um ihre Eltern kümmern. Mehr als die Hälfte der Befragten in Österreich und seinen Nachbarländern stimmt der Überzeugung zu, dass Eltern alles für ihre Kinder tun müssen. In Tschechien stimmen 54 % der Befragten zu. Die Zustimmung steigt in den folgenden Ländern kontinuierlich, in Österreich sind es 58 %, in Deutschland 60 %, in der Slowakei 63 %, in der Schweiz 75 %, in Ungarn 77 %, in Slowenien 79 % und in Italien 83 %. Die Vergleichsländer Schweden (89 %) und Großbritannien (80 %) weisen hohe Zustimmungsraten auf. Aber auch umgekehrt wird die Bereitschaft zur Solidarität von Kindern mit den Eltern akzeptiert. Wieder stimmen in den Vergleichsländern mehr als die Hälfte dem Statement zu, man müsse die Eltern immer lieben und ehren. Die Zustimmungsrate liegt in Schweden (26 %), Österreich (53 %), der Schweiz (55 %), Deutschland (58 %), Großbritannien (59 %), Ungarn (75 %) und Italien (81 %) etwas unter der geforderten Solidarität der Eltern mit den Kindern. In Slowenien (79 %) ist sie etwa gleich stark. In der Slowakei (79 %) und Tschechien (64 %) liegt sie hingegen sogar darüber. Einer besonderen Belastungsprobe ist die Bereitschaft zur Solidarität der Kinder mit den Eltern im Fall, dass diese krank und pflegebedürftig werden, ausgesetzt. 16 Vgl. Fux, Beate/Pfeiffer, Christiane  : Ehe, Familie, Kinderzahl. Gesellschaftliche Einstellungen und individuelle Zielvorstellungen, in  : Bundesministerium für soziale Sicherheit und Gene­ rationen (Hg.)  : 4. Österreichischer Familienbericht 1999. Familie – zwischen Anspruch und Alltag. Zur Situation von Familie und Familienpolitik in Österreich, Wien 1999, 72. 17 Vgl. Nave-Herz, Rosemarie  : Familie heute. Wandel der Familienstrukturen und Folgen für die Erziehung, Darmstadt 2002.

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Mehr als die Hälfte der Befragten und in manchen Ländern sogar bis zu 90 % sehen es als eine Pflicht der Kinder, sich um den kranken Elternteil zu kümmern  : in Österreich sind es 57 %, in der Schweiz 61 %, in Deutschland 64 %, in Tschechien 77 %, in Slowenien 78 % in Ungarn 80 %, in der Slowakei 89 %, in Italien 89 % und in Spanien 90 %. Die Zustimmung liegt in den östlichen Nachbarländern und Italien deutlich höher als in den deutschsprachigen Ländern. In Großbritannien ist sie mit 41 % und vor allem in Schweden mit 27 % deutlich geringer. Wenn jedoch die Pflege zu einer Langzeitpflege der Eltern wird, dann ist klar erkennbar, dass die Bereitschaft zur Solidarität in allen Ländern deutlich geringer wird. Österreich (37 %), Deutschland (39 %) und die Schweiz (40 %) liegen auch hier deutlich unter den Nachbarländern Tschechien (50 %), Slowenien (57 %), Ungarn (57 %), der Slowakei (59 %) und Italien mit 67 %. Bei den unteren Zustimmungsraten liegen auch Großbritannien mit 37 % und vor allem Schweden mit 28 %.18 Auffällig ist der große Gegensatz im Antwortverhalten schwedischer Befragter. Einerseits befürworten sie mit 84 % Zustimmung in einem hohen Ausmaß die Solidarität der Eltern mit den Kindern. Andererseits gibt es durchgehend ein schwaches Drittel, das den Items, die die Solidarität der Kinder mit den Eltern abfragen, zustimmt. Eine mögliche Ursache für dieses Antwortverhalten könnte in der Struktur der schwedischen Altenbetreuung liegen. In Schweden wird die Betreuung alter Menschen staatlich finanziert und organisiert. Pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen werden von öffentlichen Diensten und Institutionen betreut. Diese können pflegerisches Engagement der Familienmitglieder unterstützen, aber auch bei Bedarf ersetzen. Es macht Pflegebedürftige unabhängig von den pflegerischen Möglichkeiten der Familie. Im Gegensatz dazu stützt sich die Betreuung alter und kranker Menschen in Ländern wie Österreich, Deutschland und Großbritannien in weit größerem Ausmaß auf die Familie. In diesen Ländern bekommt die Familie z. B. in Form von Pflegegeld eine finanzielle Unterstützung ausbezahlt, damit sie die Pflege finanzieren und organisieren kann. Während in Großbritannien die Unterstützung direkt an das pflegende Familienmitglied ausbezahlt wird, erhält das Pflegegeld in Österreich und Deutschland die betreuungsbedürftige Person. Dadurch werden zwar der Handlungsspielraum und die Entscheidungsmöglichkeit der betroffenen Person erhöht, aber gleichzeitig auch ihre Abhängigkeit von der Familie verstärkt. Denn meist sind die Familienmitglieder die ersten Ansprechpersonen, wenn es um Pflege und Versorgung geht. In den mediterranen Wohlfahrtsstaaten ist die Altenversorgung in erster Linie in der Familie situiert – die Familie spielt eine zentrale

18 Alle Länderunterschiede in diesem Unterkapitel sind signifikant auf dem 0,001-Niveau.

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

111

Rolle für die Abfederung sozialer Risiken.19 Zwar wird auch hier die stationäre Pflege öffentlich finanziert. Die Langzeitbetreuung alter und pflegebedürftiger Menschen ist jedoch ausschließlich auf familiäre Ressourcen angewiesen. Für diese Familienpflege gibt es keinerlei öffentlicher Unterstützung.20 Vor diesem Hintergrund erscheinen die niedrigen Zustimmungsraten zur Solidarität der Kinder mit den Eltern in Schweden plausibel. Schwedische Eltern sind in ihrer Alterssicherung unabhängig von ihren Kindern (Esping-Andersen spricht im Fall von Schweden auch von einem angestoßenen Prozess der Defamilisierung). Umgekehrt könnte auch die hohe Zustimmung in Italien mit der Altenbetreuung zusammenhängen, die hier in erster Linie von den Möglichkeiten der Familie abhängig ist. Möglicherweise liegen den hohen Zustimmungsraten in den osteuropäischen Nachbarländern Österreichs ähnliche Strukturen der Altersversorgung zu Grunde. Insgesamt betrachtet stellt für Österreich und die Vergleichsländer die familiäre Solidarität einen wichtigen Wert dar. Sowohl die Solidarität von Eltern gegenüber ihren Kindern, aber auch umgekehrt die Solidarität von Kindern gegenüber ihren Eltern erfährt in den Vergleichsländern hohe Zustimmung. Die Solidarität der Kinder zu ihren Eltern ist auch dann noch vorhanden, wenn es sich um die Frage der Betreuung der Eltern im Krankheitsfall handelt. Schweden zeigt in dieser Dimension ein abweichendes Antwortverhalten. Es ist Spitzenreiter in der Zustimmung zur geforderten Solidarität der Eltern mit den Kindern und jeweils Schlusslicht in der Zustimmung zur geforderten Solidarität der Kinder mit ihren Eltern. Dieses Antwortverhalten ist vor dem Hintergrund des ausgebauten schwedischen Wohlfahrtsstaates zu verstehen. Pflege und Versorgung im Alter wird in Schweden offensichtlich nicht von den Kindern, sondern vom staatlichen Pflegesystem erwartet. In anderen Ländern ist die Basis der Versorgung im Alter die Familie. So bildet beispielsweise für ca. 80 % der Pflegebedürftigen in Österreich und 68 % der Pflegebedürftigen in Deutschland die Familie die wichtigste Versorgungsform. In den Familien sind Frauen die häufigsten Hauptpflegepersonen, rund ein Drittel der Pflegenden in der Familie sind männlich.21 Angesichts einer im Jahrzehntevergleich sinkenden Zustimmungsrate zur Langzeitpflege der Eltern, die bei Frauen, die die 19 Vgl. Ferrera, The Southern Model of Welfare in Social Europe, 17–37. 20 Vgl. Lundsgaard, Jens  : Choice and Long-Term Care in OECD countries. Care Outcomes, Employment and fiscal Sustainability, in  : European Societies 8 (2006), 361–383, 362ff bzw. Leitner, Sigrid  : Varieties of familialism. The caring function of the family in comparative perspective, in  : European Societies 5 (2003), 353–375, 363. 21 Vgl. Backes, Gertrud/Wolfinger, Martina  : Perspektiven einer gender-körpersensiblen Altenpflege, in  : Reitinger, Elisabeth/Beyer, Sigrid (Hg.)  : Geschlechtersensible Hospiz- und Palliativkultur in der Altenhilfe. Frankfurt am Main 2010, 48ff.

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Elisabeth Kropf/Erich Lehner

Hauptlast der Pflege tragen, absolut gesehen noch etwas geringer ist als bei den Männern, ergibt sich ein dringender politischer Handlungsbedarf für die Langzeitversorgung alter und kranker Menschen. 2.4 Geschlechterrollen in der Familie22

Unterschiedliche männliche und weibliche Rollenbilder prägen das familiäre und partnerschaftliche Zusammenleben. „Halbe–Halbe“, die geschlechtergerechte Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit, ist trotz lang andauernder gesellschaftlicher Diskussionsprozesse noch immer nicht Realität in der Arbeitswelt und im Familienalltag. Gesellschaftliche Strukturen, aber auch individuelle Werthaltungen entwickeln ein Beharrungsvermögen, das Veränderungen erschwert. Wie denken die Menschen in Österreich und in seinen Nachbarländern zu diesen Fragen  ? Die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Berufstätigkeit bezeichnet eine Grundkonstante des Frauenbildes in modernen Gesellschaften. Die Aussagen „eine berufstätige Frau kann einem Kind genauso viel Wärme geben“ bzw. „ein Kleinkind wird wahrscheinlich darunter leiden, wenn die Mutter berufstätig ist“ geben darüber Auskunft, ob die beiden Aspekte der Rolle der Frau als miteinander vereinbar oder in Konflikt stehend gesehen werden. Insgesamt sind in den Ländern drei Viertel und mehr der Überzeugung, dass eine berufstätige Mutter einem Kind genauso viel Wärme geben kann. Österreich liegt dabei mit 72 % zusammen mit seinen Nachbarn Italien (69 %), Schweiz (71 %) und Deutschland (73 %) an der unteren Grenze der Zustimmung. Bedeutend mehr Zustimmung gibt es in Tschechien (78 %), Ungarn (79 %) Slowakei (86 %) und Slowenien (88 %). Die höchste Zustimmung findet sich in Schweden mit 91 %. Großbritannien ist mit 82 % gleichfalls in der oberen Hälfte anzutreffen. Die Vorstellung, dass ein Kind unter der Berufstätigkeit der Mutter leidet, ist dagegen in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die Zustimmung reicht von einem Drittel bis zu drei Viertel der Befragten. Sie ist am höchsten in Italien (76 %), gefolgt von Österreich (65 %), der Schweiz (60 %) und Deutschland (58 %). Mit Ausnahme von Ungarn (55 %), das hier näher bei seinen westlichen Nachbarn liegt, ist die Zustimmung in den anderen östlichen Staaten deutlich geringer  : Tschechien (41 %), Slowakei (39 %), Slowenien (36 %). Am geringsten ist sie in Schweden (19 %), aber auch Großbritannien (37 %) liegt unter den anderen Staaten. Die Überzeugung, dass die Berufstätigkeit der Mutter nicht im Widerspruch zu ihrer Mutterschaft steht, ist in den östlichen Nachbarländern, 22 Vertiefende Analysen zu dieser Fragestellung  : Pfau-Effinger, Birgit, vgl. das Kapitel  : „Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung“, 255ff.

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

113

Schweden und Großbritannien wesentlich deutlicher ausgeprägt als in Österreich, Deutschland, der Schweiz und Italien. Die Items „ein Beruf ist gut, aber was die meisten Frauen wirklich wollen ist ein Heim und Kinder“ und „Hausfrau zu sein ist genauso befriedigend wie eine Berufstätigkeit“ fragen gezielt Einstellungen über die Hausfrauenrollen ab. Die Überzeugung, dass Frauen lieber Heim und Kinder wollen, findet in Deutschland (41 %), Österreich (49 %) und der Schweiz (51 %) deutlich weniger Zustimmung als bei seinen südosteuropäischen Nachbarn  : Slowakei (56 %), Slowenien (64 %), Ungarn (66 %), Italien (67 %), Tschechien (71 %). Auch in den Vergleichsländern Großbritannien (46 %) und Schweden (31 %) gibt es geringe Zustimmung. Bei der Frage, ob Hausfrau sein genauso befriedigend wie eine Berufstätigkeit ist, findet sich Österreich (58 %) im oberen Feld, gleich nach der Schweiz (65 %) und Slowenien (59 %). Es folgen Ungarn (56 %), Slowakei (54 %), Tschechien (53 %), Italien (52 %) und Deutschland (47 %), das mit dem Vergleichsland Schweden (47 %) die geringste Zustimmung hat. Dagegen ist das Vergleichsland Großbritannien (68 %) in dieser Frage Spitzenreiter. Aussagen zur Partnerschaftlichkeit im Geschlechterverhältnis lassen sich anhand von vier Items herausfiltern. Da ist zunächst die Überzeugung, dass die „Berufstätigkeit der beste Weg für eine Frau ist, um unabhängig zu sein“. In dieser Frage dürfte in Österreich und seinen Nachbarstaaten Übereinstimmung herrschen. Die Zustimmungsraten liegen hier sehr eng beieinander  : Die Spannweite reicht von Österreich (85 %) bis Schweden (79 %). Nur in Großbritannien (63 %) fällt die Zustimmung ab. Aus den verbleibenden drei Fragestellungen lassen sich neben der Dimension Partnerschaftlichkeit auch die Umrisse eines neuen Männerbildes erkennen. Homogene Zustimmung auf hohem Niveau gibt es in den Ländern zu der Feststellung „beide, Mann und Frau, sollten zum Haushaltseinkommen beitragen“  : Schweiz (81 %), Österreich (83 %), Deutschland (83 %), Italien (88 %), Slowenien (90 %), Tschechien (91 %), Schweden (93 %), Slowakei (93 %) und Ungarn (94 %). Darüber hinaus sind die Befragten dieser Länder auch der Überzeugung, dass „Männer genauso viel Verantwortung für Haushalt und Kinder übernehmen sollten wie Frauen“.23 Wieder gibt es homogene Zustimmungsraten auf hohem Niveau  : Österreich (85 %), Tschechien (87 %), Deutschland (89 %), Schweiz (90 %), Italien (91 %), Slowakei (96 %), Slowenien (97 %), Ungarn (98 %). Die Vergleichsstaaten Großbritannien (94 %) und Schweden (97 %) liegen ebenfalls im oberen Feld. Schließlich lotet das Statement 23 Allerdings muss bei dieser Frage auch mitbedacht werden, dass ein Teil der Befragten die Verantwortung für Haushalt und Kinder ganz traditionell als männliches Sorgen für das Erwerbseinkommen und nicht als direkte Arbeitsleistung in Haushalt und Familie verstanden hat. Vgl. dazu  : Pfau-Effinger, Birgit, im Kapitel  : „Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung“, 255ff.

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„Im Allgemeinen sind Väter genauso geeignet, sich um die Kinder zu kümmern, wie Mütter“ ein Engagement von Männern in der Kinderbetreuung aus. Die Zustimmungsraten zu dieser Frage sind zwar hoch, sie sind allerdings nicht mehr so homogen. Österreich liegt mit 79 % in der Mitte innerhalb von 24 Prozentpunkten Unterschied. An der Spitze steht Slowenien (91 %), gefolgt von der Schweiz (84 %). Am unteren Ende findet man hingegen Deutschland (73 %), Ungarn (73 %), Italien (72 %), die Slowakei (71 %) und Tschechien (67 %). In Schweden (93 %) ist die Zustimmung etwas höher, in Großbritannien (79 %) liegt sie gleichauf mit Österreich. 24 Die präsentierten Fragen zum Thema Geschlechterrollen wurden einer Faktorenanalyse25 unterzogen. Dadurch wollten wir eine Zusammenschau der Ergebnisse ermöglichen und die Position Österreichs in Bezug auf die ausgewählten Referenzländer klarer zum Vorschein kommen. Durch die Faktorenanalyse wurden die verschiedenen Items auf folgende drei Dimensionen zurückgeführt  : - Müttererwerbstätigkeit • Eine berufstätige Mutter kann ihrem Kind genauso viel Wärme und Sicherheit geben wie eine Mutter, die nicht arbeitet. • Ein Kleinkind wird wahrscheinlich darunter leiden, wenn die Mutter berufstätig ist. - (Haus)Frauenrolle • Ein Beruf ist gut, aber was die meisten Frauen wirklich wollen, ist ein Heim und Kinder. • Hausfrau zu sein ist genauso befriedigend wie eine Berufstätigkeit. - Partnerschaftlichkeit • Berufstätigkeit ist der beste Weg für eine Frau, um unabhängig zu sein. • Beide, Mann und Frau, sollten zum Haushaltseinkommen beitragen. • Männer sollten genauso viel Verantwortung für Haushalt und Kinder übernehmen wie Frauen. Die drei Dimensionen werden vor dem Hintergrund des von Jane Lewis und Ilona Ostner26 entwickelten Familienernährerregimes zueinander in Beziehung gesetzt. Die beiden Autorinnen entwickelten in kritischer Auseinandersetzung mit Gøsta Esping-Andersens27 Analysemodell des Wohlfahrtsstaates eine Typologie, die die 24 Die Unterschiede zwischen den zehn Referenzländern sind in Genderfragen alle auf dem 0,001-Niveau signifikant. 25 Hauptachsen-Faktorenanalyse mit Varimax-Rotation. 26 Vgl. Lewis, Jane/Ostner, Ilona  : Gender and the Evolution of the European Social Policies. 27 Vgl. Esping-Andersen, Gøsta  : The three worlds of welfare capitalism. Cambridge 1990, 26–29.

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

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Geschlechterrollen: Müttererwerbstätigkeit versus (Haus)Frauenrolle ,70

,60

,50

,40

contra  (Haus)Frauenrolle  pro

,30

Ungarn ,20

,10

Slowenien

Tschechien Schweiz

Slowakei

Österreich

Italien

,00

Großbritannien –,10

–,20

Deutschland

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–,30

–,40

–,50

–,60

–,70 –,70

–,60

–,50

–,40

–,30

–,20

–,10

,00

,10

,20

,30

,40

,50

,60

,70

pro  Müttererwerbstätigkeit  contra Faktorwerte

Grafik 7  : Einstellungen in Bezug auf Müttererwerbstätigkeit und Hausfrauenrolle  ; Faktorwerte. Quelle  : EVS 2008.

Kategorie Geschlecht in die Analyse mit einbezog. Dabei handelt es sich um zwei Grundtypen. Einen Typus stellt das männliche Familienernährerregime dar. In diesem Modell ist der Familienerwerb dem männlichen Ernährer zugeschrieben, von dem die Hausfrau und die Kinder finanziell abhängig sind, und die Familienarbeit ist bei der Hausfrau angesiedelt. Im Gegensatz zum Familienernährerregime steht das in Schweden in den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelte Zweiverdienerre-

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gime. Schweden schaffte in dieser Zeit durch Änderung der Steuergesetzgebung, die Bereitstellung von Kinderbetreuungsangeboten und durch Förderung des Elternurlaubs einen Anstieg der Frauenerwerbsquote.28 Das klassische Familienernährerregime ist in Erosion begriffen, da Frauen de facto in allen Ländern einen Beitrag zum Familienerwerb leisten. Insofern ist die Entwicklung vom Familienernährerregime zum Zweiverdienerregime nicht linear. In jedem Land kann es deshalb auf dem Weg zu einem Zweiverdienermodell unterschiedliche Kombinationen der geschlechtsspezifischen Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit geben.29 Aufgrund dieser Typologie wäre zu erwarten, dass ein Familienernährerregime sich auf der Ebene der Einstellungen durch Betonung der Hausfrauenrolle und Ablehnung der Partnerschaftlichkeit und der Müttererwerbstätigkeit abbildet. Ein Zweiverdienerregime wird sich dementsprechend durch Ablehnung der Hausfrauenrolle und Befürwortung der Partnerschaftlichkeit und der Müttererwerbstätigkeit auszeichnen. Die Ergebnisse der Faktorenanalyse werden mit Hilfe von Streudiagrammen dargestellt. Auf der x-Achse des ersten Diagramms ist die durchschnittliche Einstellung in einem Land in Bezug auf Müttererwerbstätigkeit (Faktor 1) und auf der y-Achse die durchschnittliche Einstellung in Bezug auf die Rolle der Frau abgebildet (Faktor 2, siehe Grafik 7).30 Die Länder rechts der y-Ursprungslinie sind überdurchschnittlich hoch gegen Müttererwerbstätigkeit eingestellt.31 Länder oberhalb der x-Ursprungslinie sind überdurchschnittlich positiv gegenüber der Hausfrauenrolle eingestellt. In der Schweiz, Italien, Tschechien und Ungarn ist man vergleichsweise eher gegen die Müttererwerbstätigkeit und für die Hausfrauenrolle der Frau eingestellt. Die direkte Gegenposition dieser Haltung ist in Schweden zu finden, wo sich ein Eintreten für Müttererwerbstätigkeit mit einer Ablehnung der Hausfrauenrolle verbindet. Im Fall von Großbritannien, der Slowakei und Slowenien fällt auf, dass sich in diesen Ländern eine vergleichsweise hohe Befürwortung der Müttererwerbstätigkeit mit einer durchschnittlich bis überdurchschnittlich hohen Befürwortung der Hausfrauenrolle verbindet. Ebenso auffällig ist Deutschland, in dem eine Ablehnung der Müttererwerbstätig28 Vgl. Gillian, Pascall/Kwak, Anna  : Geschlechterregime im Wandel  : Gleichberechtigung in den Ländern Mittel- und Osteuropas  ?, in  : Klenner, Christina/Leiber, Simone (Hg.)  : Wohlfahrtsstaaten und Geschlechterungleichheit in Mittel- und Osteuropa. Kontinuität und postsozialistische Transformation in den EU-Mitgliedsstaaten, Wiesbaden 2009, 123–161, 124f. 29 Vgl. Lewis, Jane  : The Decline of the Male Breadwinner Model  : Implications for work and care, in  : Social Politics 8 (2001), 152–169, 156. 30 Auf allen drei Dimensionen sind die Länderunterschiede signifikant auf dem 0,001-Niveau. 31 Die Ursprungslinien entsprechen jeweils dem Mittelwert über alle befragten Personen in den zehn Referenzländern.

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

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Geschlechterrollen: Müttererwerbstätigkeit versus Partnerschaftlichkeit ,70

,60

,50

Großbritannien

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pro  Partnerschaftlichkeit  contra

,30

,20

Deutschland Schweiz

,10

Slowenien

Österreich Tschechien

Italien

,00

–,10

Schweden

Slowakei

–,20

–,30

Ungarn

–,40

–,50

–,60

–,70 –,70

–,60

–,50

–,40

–,30

–,20

–,10

,00

,10

,20

,30

,40

,50

,60

,70

pro  Müttererwerbstätigkeit  contra Faktorwerte

Grafik 8  : Einstellung in Bezug auf Müttererwerbstätigkeit und Partnerschaftlichkeit  ; Faktorwerte. Quelle  : EVS 2008.

keit mit einer gleichzeitigen Ablehnung der Hausfrauenrolle einhergeht. Österreich wiederum ist im Vergleich des Länderdurchschnitts zwar auch gegen die Müttererwerbstätigkeit, befindet sich jedoch bei der Hausfrauenrolle im Durchschnitt. In Grafik 8 ist auf der x-Achse die durchschnittliche Einstellung in einem Land in Bezug auf Müttererwerbstätigkeit (Faktor 1) und auf der y-Achse die durchschnittliche Einstellung in Bezug auf Partnerschaftlichkeit abgebildet (Faktor 3).

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Elisabeth Kropf/Erich Lehner

Österreich befindet sich mit Italien, Deutschland, Schweiz und Tschechien in der Gruppe jener Staaten, in denen die Befragten vergleichsweise wenig an Partnerschaftlichkeit interessiert sind. Gleichzeitig sind diese Länder auch der Müttererwerbstätigkeit gegenüber eher ablehnend eingestellt. In Ungarn ist man zwar gegen Müttererwerbstätigkeit, aber auch für Partnerschaftlichkeit. In Großbritannien gibt es eine überdurchschnittlich hohe Ablehnung von Partnerschaftlichkeit, bei gleichzeitig überdurchschnittlich hoher Befürwortung der Müttererwerbstätigkeit. Schließlich gibt es in den Ländern Slowakei und Schweden eine überdurchschnittlich hohe Befürwortung von Partnerschaftlichkeit und Müttererwerbstätigkeit. Die Zusammenschau der Faktorenanalyse zeigt, dass Österreich, Schweiz, Italien und Tschechien jene Länder sind, in denen eine Ablehnung der Partnerschaftlichkeit und der Müttererwerbstätigkeit mit einer Befürwortung der Hausfrauenrolle einhergeht. In diesen Ländern werden zumindest auf der Ebene der Einstellungen die Konturen eines Familienernährerregimes erkennbar, das im realen Alltag einem Erosionsprozess unterlegen ist. Schweden erweist sich mit einer Befürwortung der Partnerschaftlichkeit und der Müttererwerbstätigkeit und einer Ablehnung der Hausfrauenrolle als Zweiverdienerregime. In den verbleibenden Staaten sind widersprüchliche Gleichzeitigkeiten erkennbar. In Deutschland gibt es im Vergleich zu den anderen Staaten eine Ablehnung der Hausfrauenrolle gemeinsam mit einer Ablehnung der Müttererwerbstätigkeit und der Partnerschaftlichkeit. In Großbritannien ist man zwar gegen Partnerschaftlichkeit aber für Müttererwerbstätigkeit und gegen die Hausfrauenrolle. Dasselbe Einstellungsmuster findet sich in Slowenien. In Ungarn findet sich eine Befürwortung der Hausfrauenrolle und der Partnerschaftlichkeit, bei gleichzeitiger Ablehnung der Müttererwerbstätigkeit. Die Slowakei unterstützt sowohl die Hausfrauenrolle, die Partnerschaftlichkeit, als auch die Müttererwerbstätigkeit. Diese widersprüchliche Gleichzeitigkeit kann als Ausdruck des Erosionsprozesses, der auch auf der Einstellungsebene sichtbar wird, interpretiert werden. Für die osteuropäischen Nachbarländer Österreichs ist dies auch historisch erklärbar. In diesen Ländern war in der Zeit des Staatssozialismus vor der Wende 1989 ein Zweiverdienermodell prägend. Während jedoch die Vollbeschäftigung der Frau und damit das Zweiverdienermodell sozialpolitisch gefördert wurden, blieb die Elternrolle innerhalb der Familie in erster Linie der Frau vorbehalten. Männer fühlten sich dafür nicht zuständig. Vor dem Hintergrund dieser Tradition ist es nachvollziehbar, dass gerade in diesen Staaten eine Befürwortung der Müttererwerbstätigkeit mit einem traditionellen Frauenbild und einer Ablehnung der Partnerschaftlichkeit einhergehen kann. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das Bild in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse in den einzelnen Staaten widersprüchlich ist. Die hohe Zustimmung

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

119

zur Berufstätigkeit der Frau, die ihr Unabhängigkeit gewährt und für die Kinder kein Nachteil ist, weist in Richtung eines modernen Frauenbildes. Gleichzeitig sind aber auch traditionelle Überzeugungen präsent, wie z. B. „Kinder leiden unter der Berufstätigkeit der Frau“, oder „Frauen ziehen ein Heim dem Beruf vor“. Andererseits gibt es hohe Zustimmungsraten zu partnerschaftlichen Aussagen, z. B. dass beide Geschlechter zum Haushalt und zum Haushaltseinkommen beitragen sollen. Auch die Aspekte eines modernen Männerbildes, wie beispielsweise dass auch Männer zum Haushalt und zur Kinderversorgung beitragen sollen, weisen darauf hin, dass Bilder von Partnerschaftlichkeit – in den einzelnen Staaten unterschiedlich stark – vorhanden sind. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich der Staaten aufgrund der Faktorenanalyse über alle drei Dimensionen hinweg. Österreich erweist sich mit der Schweiz, Tschechien und Italien im Vergleich zu den anderen Ländern in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse als traditionell.

3. Die Ehe – eine auf hohem Niveau konstante Lebensform in Europa Die Ehe stellt in allen europäischen Staaten – nach wie vor – die häufigste Lebensform dar, trotzdem unterscheiden sich die Anteile in den Ländern voneinander. So sind z. B. fast 70 % der ItalienerInnen verheiratet, aber nur etwa 47 % der Deutschen bzw. TschechInnen. Am unteren Ende der Rankingliste liegt auch Österreich mit 48 % an verheirateten Personen. Im Jahrzehntevergleich fällt auf, dass immer weniger Menschen in Ehen leben, die Anzahl der geschieden bzw. getrennt lebenden Personen und der nie verheirateten Personen jedoch steigt (Grafik 9). Obwohl die Ehe mit Abstand die häufigste Lebensform in Europa darstellt, hat der Anteil an verheirateten Personen europaweit in den letzten zehn Jahren abgenommen, teilweise auch schon über die vergangenen zwanzig Jahre. Besonders stark sank die Zahl der verheirateten Personen seit 1990 in den ehemaligen kommunistischen Staaten  : In der Slowakei hat die Zahl der verheirateten Personen z. B. um 20 % abgenommen, in Tschechien gar um ein Viertel. Grob lässt sich Europa folgendermaßen aufteilen  : In Ländern aus Zentral- und Westeuropa ist die Ehe mehr und mehr ein „sinkendes Mehrheitsprogramm“ (Werte um ca. 50 %). Staaten in Südosteuropa (wie z. B. Albanien oder Rumänien) weisen mit Anteilen jenseits der 60 % -Marke jedoch nach wie vor hohe Anteile an verheirateten Personen auf.

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Veränderungen im Lebensstatus zwischen 1990 und 2008 0,20

+16

+15 +9

0,10

+10 +9

+8 +8

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+1

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–11 –14 –17

–0,20

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Ts

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Ös

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ich

–0,30

verheiratet

geschieden/getrennt

nie verheiratet

Grafik 9  : Veränderungen im Lebensstatus im Jahrzehntevergleich, Angaben in %, Quelle  : EVS 2008.32

3.1 Verliert die Ehe als Institution an Bedeutung  ?

Eng mit dem Wandel von Lebens-, Familien- und Partnerschaftsformen verknüpft ist die Frage nach dem Stellenwert der Ehe. In allen zehn untersuchten Ländern hat seit 1990 der Anteil jener Personen zugenommen, die die Ehe als überholte Institution betrachten (siehe Tabelle 1). Besonders stark stieg die Zustimmung zu dieser Aussage von 1999 auf 2008 in Tschechien (+13 %) und Österreich (+10 %). Absolut betrachtet, stimmten 2008 etwa ein Drittel der befragten Personen in den deutschsprachigen Ländern der Aussage zu, dass die Ehe eine überholte Institution sei (Österreich 30 %, Schweiz 28 %, Deutschland 27 %). In der Slowakei und Italien bzw. Ungarn lehnen hingegen nur etwa halb so viele Personen die Ehe ab (zwischen 14 % und 19 %). Dass das nach Maurizio Ferrara mediterrane Italien wenig Ablehnung gegenüber der Institution Ehe bekundet, ist nicht überraschend. Schwieriger ist die Entwicklung in der Slowakei und Ungarn zu deuten  : Obwohl die absolute Zahl der Eheschließungen in diesen beiden post-kommunistischen Ländern im Jahrzehnte32 Veränderungen für alle Länder signifikant auf dem 0,001-Niveau  ; Ausnahme  : Italien (nicht signifikant).

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

121

vergleich gesunken ist, ist in diesen Ländern eine relativ geringe Ablehnung gegenüber der Ehe festzustellen. Vielleicht wird am Beispiel der kommunistisch geprägten Länder besonders deutlich, dass die Sehnsucht bzw. das Ideal einer gelungenen Ehe (noch  ?) relativ stark vorhanden ist, bei fehlender Beziehungsqualität aber auch nicht davor zurückgescheut wird, die Ehe aufzulösen  ? Blickt man tiefer in die Daten, treten drei Gruppen deutlich hervor  : 1. Unter– 30-Jährige, 2. Berufstätige und 3. Männer. 1. Mehr als ein Drittel der jungen ÖsterreicherInnen (39 %), TschechInnen (38 %) und Deutschen (36 %) stimmen z. B. der Aussage zu, dass die Ehe eine überholte Institution ist. 2. Berufstätige stehen der Institution der Ehe in allen Ländern weit häufiger kritisch gegenüber als nicht-berufstätige Menschen  : In Österreich lehnen z. B. 33 % der Berufstätigen, aber nur 26 % der NichtBerufstätigen die Ehe ab. 3. Auch Männer lehnen in den zehn Ländern die Ehe häufiger ab als Frauen (mit Ausnahme der Schweiz)  : Während z. B. in Slowenien 30 % der Männer die Ehe als überholte Institution sehen, tun dies nur 21 % der Frauen. Dass die Institution Ehe an Bedeutung verliert, heißt jedoch umgekehrt nicht, dass sie (vollkommen) bedeutungslos wird. Mit Martina Beham-Rabanser kann vielmehr von einer Bedeutungsveränderung und einem partiellen Bedeutungsverlust, aber nicht von einer generellen Bedeutungslosigkeit von Ehe gesprochen werden.33 Die These von einer relativen Bedeutungsstabilität der Ehe bestätigt sich auch im Blick auf das subjektive Glücksempfinden der EuropäerInnen (siehe Tabelle 1)  : Glücklich sein ist für die Mehrheit der EuropäerInnen noch an die Ehe bzw. eine feste Beziehung gebunden. So stimmen aktuell 87 % der UngarInnen, 78 % der SlowakInnen und je 64 % der TschechInnen und ItalienerInnen der Aussage zu  : „Um glücklich zu sein, ist es notwendig, in einer Ehe oder einer dauerhaften, festen Beziehung zu leben.“ In Österreich, Großbritannien, Slowenien (mit einer extremen Abnahme von 1999 auf 2008 um 43 %) und Schweden stimmt hingegen immerhin knapp ein Drittel bis die Hälfte der befragten Personen dieser Aussage zu. Interpretiert man diese Ergebnisse vor dem Hintergrund der Frage, ob die Ehe eine überholte Institution ist, ergibt sich folgendes Bild  : Die Institution der Ehe wird in den zehn untersuchten Ländern mehr und mehr abgelehnt, während eine gelungene Partnerschaft bzw. Ehe an sich für das subjektive Glücksempfinden bedeutsam bleibt. Beides deutet auf gestiegene Ansprüche hin, was eine gelungene Partnerschaft bzw. Ehe heute „leisten“ soll. Welche Funktionen soll die Ehe nach der Meinung der EuropäerInnen erfüllen  ? 33 Vgl. Beham-Rabanser, Martina  : Paar- und Familienbeziehungen heute. Balanceakt zwischen Anforderungen und Überforderungen, in  : Krieger, Walter/Sieberer, Balthasar (Hg.)  : Beziehung leben zwischen Ideal und Wirklichkeit. Linz 2010, 9– 40, 12.

122

Land

Elisabeth Kropf/Erich Lehner „Um glücklich zu sein, ist es notwen­ dig, in einer Ehe oder einer dauer­ haften, festen Beziehung zu leben.“

  1990

„Die Ehe ist eine überholte Einrichtung.“

1999

2008

Verän­ derung 1999– 2008

1990

1999

2008

Verän­ derung 1999– 2008

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11

17

19

2

77

78

1

7

12

14

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Italien

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1

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2

63

64

1

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9

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64

–5

7

11

24

13

Deutschland Tschechien Schweiz Österreich Großbritannien

noch keine Erhebung

Ungarn Slowakei



50



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55

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–6

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10

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43

6

18

26

23

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Slowenien

82

39

–43

18

27

26

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Schweden

42

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–12

14

20

21

1

Tabelle 1  : Um glücklich zu sein, ist es notwendig, in einer Ehe oder einer dauerhaften, festen Beziehung zu leben, Antwort  : stimme zu, bzw. „Die Ehe ist eine überholte Einrichtung“, Antwort  : eher zustimmen, Angaben in %. Quelle  : EVS 1990–2008.

3.2 Funktionen einer guten Ehe

Intimität, Beziehungsqualität und der Austausch zwischen den PartnerInnen nehmen in Europa nach wie vor einen hohen Stellenwert für das Gelingen einer Ehe ein  :34 Für eine gute Ehe halten die EuropäerInnen Treue am wichtigsten, gefolgt von der Bereitschaft zur Diskussion über Probleme in der Partnerschaft und Kinder (siehe Tabelle 2). An vierter Stelle findet sich das Führen einer glücklichen sexuellen Beziehung, danach folgen von den Schwiegereltern getrennt leben, Zeit für FreundInnen/persönliche Hobbies/Aktivitäten haben, den Haushalt gemeinsam machen, angemessenes Einkommen erzielen und in guten Wohnverhältnissen leben. Gemeinsame religiöse Überzeugungen, die gleiche soziale Herkunft und die Übereinstimmung in politischen Fragen erachten die EuropäerInnen für eine gute Ehe hingegen als unwichtig.

34 Vgl. Hamachers-Zuba, Ursula/Lehner, Erich/Tschippan, Claudia  : Partnerschaft, Familie und Geschlechterverhältnisse in Österreich, in  : Friesl, Christian/Polak, Regina/Hamachers-Zuba, Ursula (Hg.)  : Die Österreicher/-innen. Wertewandel 1990 – 2008, Wien 2009, 87–141, 101.

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

Was für eine gute Ehe wichtig ist… Treue

123

Europa­ durch­ schnitt 1990

Rang 1990

Europa­ durch­ schnitt 2008

Rang 2008

Differenz 1990– 2008

Öster­ reich

78

 1

85

 1

 7

81

73

 2

Bereitschaft zur Diskussion über Probleme in der Partnerschaft

64

Kinder

61

 2

59

 4

–2

53

Glückliche sexuelle Beziehung

60

 3

61

 3

 1

56

Von den Schwiegereltern getrennt leben

47

 4

47

 5

 0

44

46

 6

Zeit für eigene Freunde/persönliche Hobbies/Aktivitäten

51

Den Haushalt gemeinsam machen

34

 6

41

 7

 7

36

Angemessenes Einkommen

34

 7

37

 8

 3

44

Gute Wohnverhältnisse

35

 5

37

 9

 2

42

Gemeinsame religiöse Überzeugungen

22

 8

19

10

–3

19

Gleiche soziale Herkunft

17

 9

16

11

–1

22

Übereinstimmung in politischen Fragen

 8

10

 8

12

 0

12

Tabelle 2  : Ist das Genannte für eine gute Ehe wichtig  ? Zustimmung „sehr wichtig“, Europadurchschnitt über die EU– 27-Länder (inkl. der Schweiz und Norwegen), Angaben in %. Quelle  : EVS 1990–2008.

Österreich weicht von dieser europäischen Rangliste an mehreren Stellen ab. Zwar reihen auch die ÖsterreicherInnen Treue und die Bereitschaft zur Diskussion an den ersten beiden Stellen, absolut gesehen sind den ÖsterreicherInnen partnerschaftliche Werte (so z. B. auch das gemeinsame Führen des Haushaltes) aber weniger bedeutsam als den EuropäerInnen. Auch Kinder sind den ÖsterreicherInnen weniger wichtig für eine gelungene Ehe – ÖsterreicherInnen reihen hingegen eine glückliche sexuelle Beziehung bereits auf dem dritten Platz und Zeit für eigene Freunde/ persönliche Hobbies/Aktivitäten auf dem fünften Platz. Sehr klar positioniert sich Österreich aber auch in den Einstellungen zu materiellen Werten  : Dem(r) Durchschnitts-ÖsterreicherIn sind angemessenes Einkommen, gute Wohnverhältnisse und eine gleiche soziale Herkunft deutlich wichtiger, als dem(r) D ­ urchschnittseuropäerIn. In den zehn Ländern haben im Jahrzehntevergleich drei Werte besonders stark abgenommen  : Kinder, Sexualität und religiöse Überzeugungen (siehe Tabelle 3), während die Bedeutung von Treue und das Erzielen eines angemessenen Einkommens stieg  : 1. Mit Ausnahme von Italien messen alle zehn Länder 2008 Kindern weniger Bedeutung für das Gelingen einer guten Ehe zu als noch 1990  : Während 86 % der TschechInnen im Jahr 1990 Kinder für das Gelingen einer Ehe für sehr wichtig hielten, waren dies 2008 nur noch 65 % (–21 %). Auch SchwedInnen (–14 %) und

124

Elisabeth Kropf/Erich Lehner

ÖsterreicherInnen (–10 %) sehen im Jahrzehntevergleich eine geringere Bedeutung von Kindern für eine gelungene Ehe. 2. Große Abnahmen gab es auch in der Frage nach der Bedeutung der Sexualität für eine gelungene Ehe, vor allem bei SchwedInnen (–19 % von 1990 auf 2008), SlowakInnen (–15 %) und TschechInnen (–12 %). 3. Auch die Einstellung in der Frage, welche Bedeutung gemeinsam religiöse Überzeugungen einnehmen, hat sich bei SlowakInnen und SlowenInnen sehr verändert  : 1990 gaben noch 34 % der SlowenInnen bzw. SlowakInnen an, dass gemeinsame religiöse Überzeugungen für das Gelingen einer guten Ehe eine Rolle spielen. 2008 waren dies nur noch 23 % (Slowakei) bzw. 22 % (Slowenien). 4. Der Wert der Treue und das Erzielen eines angemessenen Einkommens haben hingegen im 10-Länder-Vergleich leicht zugenommen  : Angemessenes Einkommen ist den postkommunistischen Ländern Ungarn (66 %, +14 % seit 1990), Slowakei (53 %) und Tschechien (47 %), aber auch Österreich (44 %, +13 %) besonders wichtig.

Kinder

Gemeinsame religiöse Überzeu­ gungen

Sexualität

Bereitschaft zur Diskussion über Probleme in der Partnerschaft

Treue

Schweden

47

Schweden

48

Schweden

11

Tschechien

72

Deutschland

58

Deutschland

48

Deutschland

52

Schweiz

13

Deutschland

79

Österreich

64

Großbritannien

52

Slowakei

55

Großbritannien

14

Österreich

81

Tschechien

66

Österreich

53

Österreich

56

Ungarn

15

Slowenien

86

Schweden

74

Schweiz

57

Slowenien

57

Deutschland

16

Schweiz

87

Slowakei

78

Tschechien

65

Tschechien

59

Österreich

19

Schweden

88

Italien

80

Italien

65

Großbritannien

65

Tschechien

22

Italien

88

Slowenien

80

Slowenien

70

Italien

65

Slowenien

22

Slowakei

88

Großbritannien

85

Ungarn

80

Schweiz

68

Slowakei

23

Ungarn

90

Schweiz

86

27

Großbritannien

93

Ungarn

89

Slowakei

81

Ungarn

76

Italien

Tabelle 3  : Ist das Genannte für eine gute Ehe wichtig  ? Zustimmung „sehr wichtig“ im Jahr 2008, Angaben in %. Quelle  : EVS 2008.

Wie stehen die genannten Bereiche jedoch miteinander in Beziehung  ? Erneut führten wir zur Beantwortung dieser Frage eine Faktoranalyse35 durch. Die untersuchten Items ließen sich in drei Dimensionen zusammenführen  : 35 Hauptachsenfaktorenanalyse mit Varimax-Rotation. Da die Items des gemeinsamen soziokulturellen

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

125

– Partnerschaftlichkeit und Freiraum • Für eine gute Ehe wichtig  : glückliche sexuelle Beziehung • Für eine gute Ehe wichtig  : Den Haushalt gemeinsam machen • Für eine gute Ehe wichtig  : Bereitschaft zur Diskussion über Probleme in der Partnerschaft • Für eine gute Ehe wichtig  : Zeit für eigene Freunde/persönliche Hobbies/Aktivitäten – Materielle Sicherheit • Für eine gute Ehe wichtig  : Angemessenes Einkommen • Für eine gute Ehe wichtig  : Gute Wohnverhältnisse – Treue und Kinder • Für eine gute Ehe wichtig  : Treue • Für eine gute Ehe wichtig  : Kinder In Grafik 10 wurde auf der x-Achse die durchschnittliche Bedeutung der materiellen Sicherheit länderweise aufgetragen und auf der y-Achse die durchschnittliche Bedeutung von Partnerschaftlichkeit/Freiraum für eine Ehe. Die Ursprungslinien stellen den jeweiligen Durchschnitt für alle Befragungspersonen in den zehn Ländern dar, die Verteilung in der „Landkarte“ zeigt an, wie sich die Länder im Vergleich zueinander dazu positionieren. Durch die Faktorenanalyse werden zwei Dinge deutlich  : Erstens ergibt sich in der Gegenüberstellung der materiellen Sicherheit und der Partnerschaftlichkeit eine leichte Polarität zwischen ost-europäischen und „rest“-europäischen Ländern. Zweitens und deutlicher bestätigt sich für zentral- bzw. südeuropäische Länder die Wohlfahrtsstaaten-Charakterisierung nach Gøsta Esping-Andersen. 1. Mit Ausnahme von Tschechien, jenem Land also, das sich durch eine besonders niedrige Mütterbeschäftigung auszeichnet, weisen alle osteuropäischen Länder den traditionellen Werten von Treue und Kindern eine vergleichsweise hohe Bedeutung für eine gelungene Ehe zu.36 Während den UngarInnen und SlowakInnen aber auch materielle Werte überdurchschnittlich wichtig sind (d.h. angemessene Wohnverhältnisse und Einkommen), schätzen dies SlowenInnen weniger. Besonders deutlich sticht Ungarn aufgrund der hohen Bedeutung des Materiel Hintergrunds (gleiche soziale, religiöse und politische Herkunft bzw. Einstellungen) geringe Faktorladung aufwiesen, wurden sie aus der Analyse ausgeschlossen. 36 In allen drei näher betrachteten Dimensionen sind die Länderunterschiede signifikant auf dem 0,001-Niveau.

126

Elisabeth Kropf/Erich Lehner

Einschätzung der Bedeutung für eine gute Ehe ,70

,60

wichtiger  Partnerschaftlichkeit und Freiraum  unwichtiger

,50

,40

,30

Deutschland Italien

,20

Slowakei Tschechien

,10

Österreich Slowenien

,00

Schweden –,10

–,20

Schweiz

Großbritannien

Ungarn

–,30

–,40

–,50

–,60

–,70 –,70

–,60

–,50

–,40

–,30

–,20

–,10

,00

,10

,20

,30

,40

,50

,60

,70

wichtiger  Materielle Sicherheit  unwichtiger Faktorwerte

Grafik 10  : Bedeutung von „Materieller Sicherheit“ und „Partnerschaftlichkeit/Freiraum“  ; Faktorwerte. Quelle  : EVS 2008.

len, aber auch der Partnerschaftlichkeit bzw. des Freiraumes hervor, wohingegen SlowenInnen dieser Position mit einer durchschnittlichen Gewichtung der Partnerschaftlichkeit und einem eher geringen Wert des Materiellen diametral gegenüber liegen. Die These von Maarten Keune, dass sich osteuropäische Staaten im Bereich der Familienpolitik nicht einfach einem der traditionellen Wohlfahrtsregime zuordnen lassen, bestätigt sich damit – vielmehr mischen sich in

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

127

den osteuropäischen Ländern Elemente der vier Wohlfahrtsregime. Als einzige Gemeinsamkeit kann also die Unterschiedlichkeit der osteuropäischen Länder in Hinblick auf wichtige Faktoren für eine gelungene Ehe genannt werden  : „In institutioneller Hinsicht ist die Tendenz zum bismarckschen System eindeutig die stärkste, allerdings spielen auch Marktausrichtung, Zielgruppenorientierung und Universalität eine wichtige Rolle. In anderen Worten  : Diese Länder haben das ihnen eigene bismarcksche und staatssozialistische Erbe mit der in den letzten 15 Jahren auf die Region projizierten Marktideologie kombiniert.“37 2. In der Faktorenanalyse zeigen sich Ländergruppierungen, die den bereits erwähnten Charakterisierungen von Wohlfahrtsstaaten nach Gøsta EspingAndersen entsprechen  : Italien weist als mediterraner Wohlfahrtsstaat eine überdurchschnittliche Orientierung an Treue bzw. Kindern auf, während sozialdemokratische Staaten (in unserem Fall  : Schweden) Treue bzw. Kindern einen vergleichsweise geringen Stellenwert einräumen. Die Bevölkerung Deutschlands schätzt den Faktor der Partnerschaftlichkeit und des Freiraums hingegen auffällig unwichtig ein (ähnlich zu Österreich). Materielle Sicherheit ist in den beiden Länder jedoch überdurchschnittlich wichtig. Dies entspricht auch der ambivalenten Rolle von Österreich und Deutschland nach dem Konzept des „demokratischen Sozialismus“38. Diese Wohlfahrtsstaaten wollen einerseits durch sozialpolitische Programme für einen sozialen Ausgleich sorgen, möchten jedoch nicht, dass der Staat direkt in die Wirtschaft und Familie eingreift. Auch SchwedInnen werten Treue und Kinder für eine Ehe als vergleichsweise unwichtig, stufen entsprechend ihrer sozialdemokratischen Ausrichtung die materielle Sicherheit für die Ehe unter allen Vergleichsländern am unwichtigsten ein. Für ItalienerInnen wiederum ist der Wert der Partnerschaftlichkeit und des Freiraums vergleichsweise unwichtig, Treue und Kinder sind aber sehr wichtig  : Italien als mediterranes Wohlfahrtsstaatsregime unterscheidet sich vom österreichischen bzw. deutschen System vor allem durch das sogenannte family bzw. kinship solidarity model  : Dies besagt, dass die Familie, nicht der Staat Familienmitgliedern in Notsituationen hilft.39 ItalienerInnen ist dementsprechend die Zeit mit ihren FreundInnen nicht besonders wichtig, sehr wohl aber ihre Kinder und (partnerschaftliche) Treue. 37 Keune, Mittel- und osteuropäische Wohlfahrtsstaaten, 60. 38 Blome, Agnes/Keck, Wolfgang/Alber, Jens  : Generationenbeziehungen im Wohlfahrtsstaat. Lebensbedingungen und Einstellungen von Altersgruppen im internationalen Vergleich, Wiesbaden 2008, 74. 39 Vgl. Naldini, Manuela  : The Family in the Mediterranean Welfare States. London 2003, zitiert nach  : Blome/Keck/Alber, Generationenbeziehungen im Wohlfahrtsstaat, 76.

128

Elisabeth Kropf/Erich Lehner

4. Unkonventionelle Lebensgemeinschaften in Österreich und Europa Die klassischen Familienstände „verheiratet, geschieden, ledig“ leiten sich von der Ehe ab. Ein(e) WitwerIn ist z. B. eine nicht mehr verheiratete Person, deren EhepartnerIn bereits gestorben ist  ; eine ledige Person hingegen lebt in keiner ehelichen Beziehung. Nimmt man – entsprechend dem Ansatz des „Doing Family“ – die Eigendefinition der Menschen jedoch ernst, ist eine auf die Ehe zentrierte Bestimmung keine Option mehr. In diesem Abschnitt soll daher die Eigendefinition der Einzelnen Berücksichtigung finden und anstelle des Familienstatus, wie er im zweiten Abschnitt dieses Beitrages im Überblick dargestellt wurde, der Beziehungsstatus im Fokus des Interesses stehen. Der Familienstand muss schließlich nicht zwangsläufig mit dem tatsächlichen Beziehungsstatus ident sein. So kann es z. B. vorkommen, dass eine Person, die als Familienstatus „geschieden“ angibt, tatsächlich aber in einer nicht-ehelichen Partnerschaft mit einem anderen Partner lebt. In der Europäischen Wertestudie wurden 2008 Beziehungs- und Lebensformen erstmals genauer abgefragt, sodass es möglich war, eine Typologie von Lebensformen zu entwerfen. Im Folgenden werden vier Gruppen (inkl. der Ehe) unterschieden, wobei sich in allen vier Gruppen Menschen ohne bzw. mit Kindern (Kinderlose bzw. Eltern) befinden können. 1. Singles  : leben ohne Partner und in keiner dauerhaften („festen“) Beziehung. 2. Nicht-eheliche Lebensgemeinschaften (NEL) bzw. COHAB („cohabiting“)  : Personen, die mit ihrem Partner in einer Beziehung in einem Haushalt zusammen leben, aber nicht verheiratet sind. 3. Living apart together (LAT)  : Personen, die eine Beziehung führen, aber mit ihrem(r) PartnerIn keinen gemeinsamen Haushalt führen. 4. Verheiratet  : Personen, die in einer Ehe und mit ihrem Partner in einem gemeinsamen Haushalt leben. Die häufigste Lebensform aller befragten EuropäerInnen, wie bereits erwähnt, ist nach wie vor die Ehe. Im Europadurchschnitt (EU-27-Länder inkl. Schweiz und Norwegen) lebt mehr als die Hälfte der befragten Personen verheiratet zusammen. Die zweitgrößte Gruppe und fast ein Drittel der befragten Personen der zehn Referenzländer stellen jedoch Singles dar. Eine Minderheit von 10 % lebt in Nichtehelichen-Lebensgemeinschaften. In einer Partnerschaft mit getrennten Haushalten (LAT) leben im Schnitt lediglich 8 % der EuropäerInnen. Im 10-Länder-Vergleich (siehe Tabelle 4) wird deutlich, dass in Großbritannien die meisten Singles leben (37 % der befragten BritInnen), während SchwedInnen nur

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

129

zu gut einem Fünftel alleine leben. Bei den Nicht-ehelichen-Lebensgemeinschaften führt das sozialdemokratische Schweden an  : Hier leben 18 % in einer Nichtehelichen Lebensgemeinschaft, während dies im mediterranen Italien nur 6 % tun. Beziehungen mit getrennten Haushalten führen in Europa aktuell am öftesten die SchweizerInnen (15 %), während BritInnen am seltensten in einer Partnerschaft mit getrennten Haushalten leben. Single

NEL

LAT

Schweden

Land

20

18

 8

Verheiratet 55

Italien

23

6

10

62

Slowenien

25

15

 8

52

Schweiz

29

10

15

47

Ungarn

29

12

 8

50

Slowakei

30

 8

 5

56

Deutschland

33

10

 7

49

Österreich

35

11

 7

48

Tschechien

36

10

 6

48

Großbritannien

37

12

 5

46

Tabelle 4  : Beziehungsstatus 2008 in den zehn europäischen Ländern, Angaben in %. Quelle  : EVS 2008.

Der Lebensstatus hängt maßgeblich vom Alter der befragten Person ab. EuropäerInnen zwischen 18 und 30 Jahren leben eben nicht in der Ehe, sondern am häufigsten als Single (Europadurchschnitt  : 43 %). 22 % der jungen Erwachsenen leben hingegen in einer Partnerschaft mit getrennten Haushalten und 18 % in einer Nicht-ehelichenLebensgemeinschaft. Verheiratet sind nur durchschnittlich 17 % der befragten jungen EuropäerInnen. Die meisten jungen Singles leben im 10-Länder-Vergleich in Österreich  : Mehr als die Hälfte der befragten jungen ÖsterreicherInnen zwischen 18 und 30 Jahren sind „solo“, die wenigsten Singles finden sich in der Schweiz (32 %). In einer Nichtehelichen-Lebensgemeinschaft lebt jede(r) fünfte junge BritIn (23 %), während dies in Slowenien nur fünf Prozent der befragten, jungen Personen tun. Fernbeziehungen wiederum werden am häufigsten von jungen Menschen in Schweden (27 %) geführt und am wenigsten häufig in Italien (4 %). Die vor allem in den jüngeren Lebensjahren üblich gewordene Pluralität der Lebensformen zeigt ihre Auswirkungen auf die Zahl und Größe der Haushalte. Auch in Österreich nahm die Haushaltszahl in den letzten drei Jahrzehnten beständig zu. Während es 1985 noch 2,8 Millionen Haushalte in Österreich gab, sind es 2009 bereits 3,6 Millionen – also um fast 30 % mehr. Auch die Größe der Haushalte änderte sich in den letzten Jahren massiv  : 1985 lebten in einem durchschnittlichen Haushalt

130

Elisabeth Kropf/Erich Lehner

in Österreich noch 2,7 Personen, 2009 waren es 2,3 Personen.40 Unter den Haushalten befinden sich zudem immer mehr Einpersonenhaushalte  : 1985 waren es noch 27 %, 2009 bereits 36 %.41 Die drei beschriebenen, unkonventionellen Partnerschaftsformen stehen mit zwei Personengruppen in engem Zusammenhang, die abschließend mit den Daten der Wertestudie skizziert werden sollen  : Singles und Junge Erwachsene. 4.1 Singles

Während der Anteil der verheirateten Personen in Europa auf hohem Niveau stagniert bzw. leicht sinkt, gewinnen zwei Lebensformen mehr und mehr an Bedeutung  : Personen, die noch nie verheiratet waren (Singles im engeren Sinn) und Personen, die wieder unverheiratet leben (Geschiedene und Getrennte bzw. Singles im weiteren Sinn). Wie bereits benannt, sind diese Anteile zwar absolut betrachtet nach wie vor recht gering, steigen jedoch im Jahrzehntevergleich. In Österreich waren 1990 z. B. noch ein Fünftel (21 %) aller befragten Personen noch nie verheiratet, 2008 waren es bereits 30 %. Auch der Anteil der geschiedenen bzw. getrennt lebenden Personen stieg von fünf Prozent (1990) auf 11 % (2008). Demgegenüber sank der Anteil der verheirateten Personen von 59 % (1990) auf 48 % (2008).42 1. Singles im engeren Sinn

Der Anteil der noch nie verheirateten Personen ist in den letzten Jahrzehnten in Europa beständig gestiegen. Ein Jahrzehntevergleich in den ausgewählten Ländern ergibt folgendes Bild  : In Tschechien und Ungarn waren 1990 nur 11 % alleinlebend, gefolgt von der Slowakei (13 %), Slowenien (18 %), Großbritannien (19 %), Deutschland (20 %), Österreich (21 %) und Schweden (22 %). Bis 2008 gingen alle zehn Länder Europas über das Niveau des Spitzenreiters Schwedens hinaus  : 2008 findet man z. B. in Slowenien, Ungarn, der Slowakei und Deutschland je ca. 26 % an noch nie verheirateten Personen. Österreich (30 %) weist sogar die meisten noch nie verheirateten Personen in Europa auf. 40 Vgl. Statistik Austria  : Ergebnisse im Überblick  : Privathaushalte. Stand  : 17.03.2011, URL  : http  :// www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/haushalte_familien_lebensformen/haus halte/023298.html. 41 Vgl. Statistik Austria  : Einpersonenhaushalte 1971 bis 2001 nach Geschlecht, Familienstand und Altersgruppen. Stand  : 17.03.2011, URL  : http  ://www.statistik.at/web_de/static/einpersonenhaus halte_1971_bis _2001_nach_geschlecht_ familienstand_und_alter_023304.XLS. 42 Die Veränderungen sind jeweils signifikant auf dem 0,001-Niveau.

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

131

Dies ist nicht zuletzt auf den hohen Anteil der jungen Singles in Österreich zurückzuführen  : Mehr als die Hälfte der ÖsterreicherInnen (53 %) zwischen 18 und 30 Jahren gehört dieser Lebensform an, was dem allgemein steigenden Erstheiratsalter in Österreich entspricht. (Aktuell beträgt das mittlere Erstheiratsalter 29,1 Jahre bei Frauen bzw. 31,8 Jahre bei Männern.43) 2. Geschiedene bzw. getrennt lebende Personen

Bei den Scheidungen fällt besonders auf, dass ehemalige kommunistische Länder einen vergleichsweise besonders hohen Anteil der Geschiedenen an allen Befragungspersonen in Europa aufweisen  : in Ostdeutschland sind z. B. aktuell 16 % der befragten Personen geschieden, in Tschechien 14 %, in Ungarn 10 % und in der Slowakei 7 %. Nur Slowenien „tanzt“ mit vier Prozent aus dieser „Reihe“. Aber auch Österreich (11 %), Schweden (12 %) und Großbritannien (15 %) weisen eine relativ hohe Zahl an geschiedenen Personen auf. Gesellschaftlich stößt man in Europa auf eine eher niedrige Ablehnung von Scheidungen. In Italien, jenem Land, das einen sehr geringen Anteil an Geschiedenen (5 %) besitzt, finden es 38 % unter keinen Umständen in Ordnung, wenn sich Menschen scheiden lassen. Deutlich niedriger fällt die Ablehnung in Staaten wie der Slowakei (27 %), Tschechien (23 %), Ungarn (23 %), Österreich (21 %), Deutschland (19 %), Slowenien (18 %), Großbritannien (16 %) und der Schweiz (15 %) aus. In Schweden finden eine Scheidung gar nur 9 % der befragten Personen überhaupt nicht in Ordnung. 4.2 Junge Erwachsene

Bereits im Österreichteil der Europäischen Wertestudie zeigte sich  : ob und mit welchen Personen ein Mensch einen Haushalt teilt, und in welcher Beziehung er oder sie zu diesen Personen steht, hängt sehr stark vom Geschlecht und der Lebensphase ab, in der er sich befindet.44 Blickt man nun auf die Europadaten, fällt auf, dass es auch wesentlich von der Nationalitätszugehörigkeit abhängt, wie früh/spät junge Erwachsene das Elternhaus verlassen.45

43 Vgl. Statistik Austria  : Ergebnisse im Überblick  : Eheschließungen. Stand  : 17.03.2011, URL  : http  : //www.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/eheschliessungen/index.html. 44 Vgl. Hamachers-Zuba/Lehner/Tschippan, Partnerschaft, Familie und Geschlechterverhältnisse in Österreich, 89. 45 Länderunterschiede signifikant auf dem 0,001-Niveau.

132

Elisabeth Kropf/Erich Lehner

Während unter–30-jährige ItalienerInnen aktuell beispielsweise zu rund 80 % im Elternhaus leben, tut dies nur etwa ein Fünftel der jungen BritInnen. In Slowenien leben rund 75 % der jungen Erwachsenen noch im Elternhaus, in der Slowakei 72 %, in Österreich hingegen nur 38 %, in Schweden gar nur 25 %. Im Jahrzehntevergleich fällt auf, dass heute in der Slowakei um 21 % mehr junge Menschen im elterlichen Haushalt leben als noch 1990. Gleiches gilt für weitere postkommunistische Länder wie Ungarn (2008 um 19 % weniger als 1990), Tschechien (9 %) und Slowenien (8 %). In den nicht-kommunistisch geprägten Ländern Europas stieg hingegen die Tendenz, unter–30-jährig das Elternhaus zu verlassen (mit Ausnahme von Deutschland und Italien)  : So leben heute z. B. in Spanien um 19 % weniger junge Erwachsene in ihrem Elternhaus als noch 1990. In Österreich kann man Rückgänge von 14 % und in Schweden von 8 % beobachten.46 In Österreich geht die kürzere Verbleibdauer im Elternhaus einher mit einem Anstieg des Erstheiratsalters und des Erstgeburtsalters  : Während das mittlere Erstheiratsalter vor rund 60 Jahren für Frauen bei 24 Jahren und bei Männern bei 27 Jahren lag, liegt das Erstheiratsalter nach Statistik Austria aktuell in Österreich bei 29,1 Jahren für Frauen und 31,8 Jahren für Männer. In den 1980er-Jahren brachten Frauen mit durchschnittlich 24 Jahren ihr erstes Kind auf die Welt. 2009 lag das Durchschnittsalter bei 28 Jahren.47 In Europa zeigt sich in Bezug auf die Geburten mit wenigen Ausnahmen eine Tendenz (erneut besonders auffällig in den osteuropäischen Ländern)  : Die Anzahl der Personen mit Kind hat bei jungen Erwachsenen (Personen unter 30 Jahren) über die drei Wellen sukzessive abgenommen  :48 Am häufigsten sind – im 10-Länder-Vergleich – junge BritInnen Eltern (43,3 %), gefolgt von Ostdeutschen (26 %), SlowakInnen (21 %) und TschechInnen (20 %). Junge Erwachsene mit Kind sind am seltensten in Italien (7,4 % haben bereits Kinder), Österreich (12 %) und Slowenien (13 %) Eltern. Die Gründung der Familie verschiebt sich also in den Biografieverläufen weiter nach hinten. Grafik 11 zeigt die obigen Ergebnisse für das Jahr 2008. Die x-Achse gibt den Anteil der jungen Erwachsenen an, die noch bei ihren Eltern wohnen, die y-Achse gibt den Anteil der jungen Erwachsenen wieder, die schon ein Kind haben. Es wird deutlich, dass Unter–30-Jährige in Großbritannien seltener mit ihren Eltern im ge46 Anstiege signifikant auf dem 0,001 (Slowakei, Ungarn), 0,01 (Tschechien) und 0,05-Niveau (Slowenien), Rückgänge signifikant auf dem 0,001-Niveau (Spanien, Österreich, Großbritannien und Schweden). 47 Statistik Austria  : Demographische Indikatoren. Stand  : 22.04.2011, URL  : http  ://www.statistik. at/web_de/statistiken/bevoelkerung/demographische_masszahlen/demographische_indikatoren/ index.html. 48 Die Rückgänge für die osteuropäischen Länder sind signifikant auf dem 0,001-Niveau.

Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

133

Personen, die mindestens ein Kind haben

Lebenssituation junger Erwachsener 50

Großbritannien 40

30

Tschechien

Schweden

20

Slowakei

Deutschland

Schweiz

Ungarn Slowenien

Österreich

10

Italien

0 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100

Personen, die noch bei ihren Eltern leben

Angaben in Prozent

Grafik 11  : Zu welchem Anteil haben die befragten Personen Kinder und leben noch in ihrem Elternhaus  ? Angaben in  %. Quelle  : EVS 2008.

meinsamen Haushalt leben, dafür aber sehr häufig bereits Eltern sind, während sich die Lage bei den jungen ItalienerInnen genau umgekehrt darstellt.

5. Zusammenfassung In Gesamteuropa ist mittlerweile eine Vielfalt von Lebens-, Partnerschafts- und Familienformen feststellbar, wie sie noch vor zwanzig Jahren nicht denkbar gewesen wäre. Das Spezifische der heutigen Situation besteht darin, dass sich die hohe Bedeutung von Partnerschaft und Familie im Leben der EuropäerInnen nicht ändert, auch wenn Familien- und Partnerschaftsbilder vielfältiger und gestaltungsoffener werden. Diese Entwicklung wird sich wohl auch in den nächsten zehn Jahren fortschreiben  : „Familie und Partnerschaft“ bleiben auch weiterhin die wichtigsten Grundkonstanten für die ÖsterreicherInnen, aber auch für fast alle europäischen Länder. Pointiert formuliert heißt dies  : An die Stelle der Familie tritt nichts anderes als die Familie, es ändern sich aber die Ausgestaltung dieser Lebensform und die Einstellungen dazu.

134

Elisabeth Kropf/Erich Lehner

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Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa

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Claudia Scheid/Katharina Renner

Leistungsethik in der Transformation  : Die Bedeutung der Arbeit 1. Aufbau des Beitrages Der erste Teil dieses Beitrages geht der Frage nach, wie sich die Bedeutung der Arbeit in Europa im Zeitverlauf der drei Untersuchungswellen der Europäischen Wertestudie darstellt und verändert hat. Lassen sich allgemeine Trends darstellen – in einzelnen Ländern oder Ländergruppen, in bestimmten Bevölkerungsgruppen – bzw. -schichten  ? Grundlage bilden die Daten der EVS 1990 – 2008. Um ein Ergebnis vorwegzunehmen  : In den skandinavischen Ländern einerseits, bei den Jungen, den gut Ausgebildeten und den Frauen zeichnet sich ein Muster ab – Arbeit selbstverständlich und selbstbestimmt leisten zu wollen. In einem ersten Schritt werden zur Darstellung dieser Entwicklung zentrale Ergebnisse zu den Items der EVS deskriptiv aufgeführt, die die Wichtigkeit, Bedeutung und Zufriedenheit mit der Arbeit erfragen. Daraus werden Trends abgeleitet. Der zweite Teil dieses Beitrages interpretiert sodann die Ergebnisse aus der Per­ spektive der berufssoziologischen Theorie der Subjektivierung von Arbeit. In diesem theoretischen Rahmen werden die quantitativen Daten der Europäischen Wertestudie mit Ergebnissen qualitativer Sozialforschung aus der Arbeits- und Berufssoziologie in ein kritisches Gespräch gebracht. Mithilfe eines indirekten Zugangs soll anschließend die subjektive Bedeutung von Arbeit in einzelnen europäischen Ländern der Tendenz nach erfasst werden. Abschließend formulieren wir mit besonderem Blick auf junge Menschen mögliche Prognosen und kritische Rückfragen.

2. Deskriptiver Ein- und Überblick über Entwicklungen in Europa Zur deskriptiven Darstellung konzentrieren wir uns auf den Vergleich Österreichs mit neun Ländern  : Deutschland, Schweiz, Tschechien und Ungarn wählen wir als Nachbarländer Österreichs  ; Frankreich bietet sich mit seiner hohen Frauenerwerbsquote und aktiven frauenfördernden Familienpolitik zum unterscheidenden Vergleich an  ; Polen, dessen Wirtschaft sich durch die politischen Transformationsprozesse in den vergangenen 20 Jahren stark verändert hat  ; Dänemark, Schweden und Finnland wählen wir aufgrund ihrer liberalen gesellschaftspolitischen Positionen zum Vergleich.

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Claudia Scheid/Katharina Renner

2.1 Wichtigkeit von Arbeit

Arbeit1 wird in Österreich als weniger wichtig eingeschätzt  : 1990 hielten 62 % Arbeit für einen sehr wichtigen Lebensbereich, 2008 waren es nur noch 54 %  ; die Bereiche Freizeit (44 % sehr wichtig) und Freundschaften (56 %) werden hingegen wichtiger. Die Antworten auf diese Frage eröffnen verschiedene Interpretationen  : Eine niedrigere Bewertung der Wichtigkeit von Arbeit kann heißen, dass Arbeit tatsächlich unwichtiger wird. Zugleich kann das Ergebnis aber auch bedeuten, dass die Befragten mehr Wert auf die Balance der unterschiedlichen Lebensbereiche legen oder die Vermischung von Arbeit und Freizeit/Privatleben so stark ist, dass die konkrete Arbeitsstelle nicht mehr der zentrale Ort ist, wo Qualifikationen eingebracht werden.2 Der Trend in Europa geht in verschiedene Richtungen  : In einigen unserer Vergleichsländer wird dem Lebensbereich Arbeit in den letzten zwanzig Jahren stark gestiegene Wichtigkeit beigemessen  : in Frankreich, Deutschland und Schweden (Grafik 12). In Deutschland geben – gegen den europäischen Trend – vor allem Männer und gut ausgebildete Menschen – die Arbeit als besonders wichtig an. Auch junge Menschen finden Arbeit besonders wichtig, im Gegensatz zu den über 60-Jährigen. Dies ist insofern bemerkenswert, als in den meisten anderen Ländern die SeniorInnen Arbeit wichtiger finden als die jungen Menschen. Dieser Haupttrend lässt sich möglicherweise dadurch erklären, dass für die heutigen SeniorInnen „Arbeit“ als eigenständiger Lebensbereich mit hoher Bedeutung galt, während die Jungen zunehmend mehr Wert auf Freizeit legen und sich Arbeit und Freizeit immer mehr vermischen. Auch die gut Ausgebildeten erweisen sich in der EVS meistens als jene, die der Arbeit geringere Bedeutung beimessen. Deutschland bildet möglicherweise deshalb eine Ausnahme, als die Nachkriegsgeneration, also die über 60-Jährigen, gegenwärtig ihren Wohlstand „einfach mal genießen“ möchte, nachdem sie am „Aufbau“ des Landes mitgewirkt hat. Die Jungen und die gut Ausgebildeten hingegen leben eher in Furcht vor wirtschaftlichem Abstieg und versuchen dagegen anzuarbeiten. 1 In diesem Abschnitt geht es um berufsförmige Erwerbsarbeit. Die Themenbereiche ehrenamtliche Arbeit, soziale Arbeit und Familienarbeit werden ab dem Abschnitt 2.4 diskutiert. Wie die für die Europäische Wertestudie Befragten den Begriff Arbeit je verstanden haben, ist u. E. nicht eindeutig. Vgl. Voß, G. Günter  : Was ist Arbeit  ? Zum Problem eines allgemeinen Arbeitsbegriffs, in  : Böhle, Fritz/Voß, G. Günter/Wachtler, Günther (Hg.)  : Handbuch Arbeitssoziologie, Wiesbaden 2010, 23–80. 2 Ausführliche Analyse für Österreich vgl. Biffl, Gudrun/Hamachers-Zuba, Ursula/Okolowicz, Justyna/Renner, Katharina/Steinmayr, Andreas  : Die Österreicher/-innen und der Wandel der Arbeitswelt, in  : Friesl, Christian/Hamachers-Zuba, Ursula/Polak, Regina (Hg.)  : Die Öster­rei­ cher/-innen. Wertewandel 1990–2008, Wien 2009, 37–86.

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Grafik 12  : Bewertung der Wichtigkeit von Arbeit, Angaben in %. Quelle  : EVS 1999–2008.

In Schweden findet sich die hohe Wichtigkeit der Arbeit in allen Schichten, Altersgruppen und Bildungsniveaus. Hier ist allem Anschein nach ein Wandel im Gange, der in diesem Rahmen und mit den Daten der Wertestudie allein nicht erklärt werden kann. Denn auch die Zustimmung zu Items wie „Die Arbeit sollte immer zuerst kommen, auch wenn das weniger Freizeit bedeutet“ steigt entgegen der Entwicklung in anderen Ländern stark an. Außerdem wird häufiger als anderswo verneint, dass „ein Kleinkind wahrscheinlich darunter leiden wird, wenn die Mutter berufstätig ist“ (1990  : 74 %  ; 1999  : 38 %  ; 2008  : 19 %). Nur Dänemark und Island haben bei diesem Item noch niedrigere Werte (9 resp. 18 %). Berufstätigkeit steht also in keinem Widerspruch zu Kindererziehung oder zur Freizeit. Vergleichbare Verluste in der Bewertung der Wichtigkeit von Arbeit wie in Österreich gibt es in Finnland, Polen und Tschechien. In Österreich finden vor allem schlecht Ausgebildete, Männer und Berufstätige Arbeit sehr wichtig, ganz besonders in der Altersgruppe der 30–59-Jährigen. Gut Gebildete, Frauen, nicht Berufstätige

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Claudia Scheid/Katharina Renner

und 18- bis 29-Jährige geben seltener an, Arbeit als sehr wichtigen Lebensbereich zu sehen. Hier kann ein traditionelles Verständnis von Arbeit im Hintergrund ebenso stehen wie die Angst vor Arbeitslosigkeit. In Finnland finden tendenziell ausländerfeindlich und autoritär eingestellte Befragte die Arbeit wichtig. Polen und Tschechien ähneln einander  : Arbeit finden die nicht Berufstätigen und niedrig Gebildeten eher unwichtig. In Dänemark und Ungarn ändert sich über die Jahre nicht viel in der Bedeutung von Arbeit. In der Regel wird in den ausgewählten zehn Ländern die Wichtigkeit der Arbeit stärker herausgestellt, wenn jemand im Berufsleben steht. Dies ist vor allem abhängig vom Alter  : je älter, umso wichtiger.3 In Bezug auf die höchste abgeschlossene Ausbildung lassen sich folgende Gruppen unterscheiden  : In Österreich, Frankreich und Finnland wird Arbeit umso weniger wichtig, je höher der Schulabschluss ist  ; in Deutschland, Polen, Tschechien und Ungarn hingegen wird die Arbeit von den gut Ausgebildeten als um einiges wichtiger herausgestellt als in den weniger gut gebildeten Gruppen. Grafik 13 illustriert dies. Versteht man Personen mit hohem Bildungsabschluss als die Elite eines Landes, bilden sich abermals zwei Gruppen  : Frankreich, Schweiz, Dänemark, Schweden, Österreich, Finnland sind jene Länder, in denen Arbeit als eigenständiger Lebensbereich für gut Gebildete weniger wichtig ist. Möglicherweise wird die Sphäre der Arbeit oft als nicht scharf trennbar von anderen Lebensbereichen wahrgenommen, die als ebenso wichtig gelten. Anders in Deutschland, Polen, Tschechien, Ungarn  : Hier wird Arbeit wichtiger, je höher die Bildung ist. Als Hypothese ließe sich interpretieren  : In wirtschaftlich schwachen Ländern und solchen, die Angst vor dem Abstieg haben (Deutschland), wird die Arbeit als wichtiges Identitätsmerkmal verstanden, um nicht selbst zu den „Absteigern“ zu gehören. Wie steht es um die Wichtigkeit von Arbeit im Vergleich zur Wichtigkeit anderer Lebensbereiche  ? In allen verglichenen Ländern – mit Ausnahme von Schweden – wird den Bereichen Freundschaften und Freizeit im Zeitverlauf mehr Bedeutung beigemessen oder die Zustimmungsraten bleiben zumindest gleich wie im Jahr 2000. Dabei zeigt sich eine leicht positive Korrelation zwischen den Angaben zu den Bereichen Arbeit und Freizeit  : Je stärker die Bedeutung der Arbeit betont wird, desto stärker wird auch der Bereich Freizeit als ein wichtiger dargelegt. Im Befragungsjahr 2008 ist dieser Zusammenhang in allen Ländern leicht positiv, in sechs von den zehn Vergleichsländern ist er signifikant (auch in Österreich). Diese leichte, aber signifikante positive Korrelation lässt sich auch für die Frage nach der Wichtigkeit 3 Einzig in Frankreich ist den unter 29-Jährigen und den über 60-Jährigen die Arbeit wichtiger als den übrigen Altersgruppen.

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Arbeit sehr wichtig – hoher Bildungsabschluss

Grafik 13  : Wichtigkeit der Arbeit und Bildungsabschluss, Angaben in %. Quelle  : EVS 2008.

von FreundInnen und Bekannten feststellen. Lässt sich aus diesen Entwicklungen der Wichtigkeit von Lebensbereichen eine generelle Bedeutungsveränderung von Arbeit und des Zueinanders von Arbeit, Freizeit und persönlichen Beziehungen ablesen  ? Hinzu kommt, dass das tatsächliche Arbeitsvolumen, i.e., das Ausmaß an Erwerbsarbeitszeit, in den Ländern sehr verschieden ist. Mitunter entsteht der Eindruck adverser Tendenzen  : Je niedriger die tatsächliche Erwerbsarbeitszeit, umso höher die Zustimmungsraten zur Wichtigkeit von Arbeit. Etwa geben in Frankreich, in dem man sich auf breiter Front nach wie vor für die 35-Stunden-Woche und für einen frühzeitigen Ruhestand einsetzt, mehr Personen an, dass ihnen die Arbeit sehr wichtig sei als in der Schweiz, in der kaum jemand an der 42-Wochen-Stunde rührt. Das Verhältnis von subjektiven Angaben zur Wichtigkeit von Arbeit und objektiver, durch eine lange Geschichte strukturell vorgegebener Relevanz ist bei der Interpretation mitzubedenken. Das Antworthandeln der Befragten zur Wichtigkeit von

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Claudia Scheid/Katharina Renner

Arbeit allein lässt also keine unmittelbaren Schlüsse auf deren Bedeutung in den einzelnen Ländern zu. 2.2 Bedeutung der Arbeit

Eine Reihe von Items lässt die Bedeutung, die der Arbeit beigemessen wird, stärker hervortreten. Das Antwortverhalten zu den beiden folgenden Aussagen verstärkt die Hypothese von einem Bedeutungswandel von Arbeit, bei dem vor allem die skandinavischen Länder sowie junge Menschen, gut ausgebildete Personen und Frauen „Trendsetter“ sind. (1) Der Aussage „Menschen, die nicht arbeiten, werden faul“ stimmen in Ungarn 78 % der Befragten zu, gefolgt von Tschechien, Dänemark, Österreich und Polen. Besonders wenig Zustimmung erhält diese Aussage in Schweden, Finnland, in der Schweiz und in Frankreich (zwischen 46 % und 59 %). Eine multivariate Betrachtung durch lineare Regression zeigt  : Das Antwortverhalten ist abhängig von den drei Variablen  : Alter, Bildung und Geschlecht. Die Zustimmung ist höher bei Männern  ; je höher das Alter und je niedriger das Bildungsniveau sind.4 In Schweden, Schweiz, Frankreich, Finnland und bei den Frauen, den Jungen und den gut Gebildeten ist die Zustimmung zu dieser Aussage am geringsten. (2) Etwa die Hälfte der Befragten in den verglichenen Ländern stimmt der Aussage zu, „dass es demütigend ist, Geld zu erhalten, ohne dafür zu arbeiten“. Ältere Befragte stimmen länderübergreifend eher zu als jüngere. In Dänemark ist die Zustimmung am niedrigsten, sie liegt bei 33 %. Der Bezug von Arbeitslosenunterstützung ist in Dänemark gesellschaftlich nicht stigmatisierend, weil der Übergangscharakter dieser Maßnahme im Vordergrund steht.5 Das Beispiel Dänemark zeigt  : Je stabiler die Vorstellung einer selbstbestimmten Aufnahme von Arbeit ist, desto eher kann man auch zeitweilig Hilfe in Anspruch nehmen. Leider lässt sich hier nichts über die Entwicklung sagen, da die Frage erst seit 1999 Teil der Umfrage ist, in vielen Ländern wurde sie erst 2008 eingeführt.

4 Alter  : Beta-Koeffizient –0,52  ; Bildungsniveau  : 0,94  ; Geschlecht  : 0,46. 5 Das dänische System der „Flexicurity“ begünstigt die Mobilität auf dem Arbeitsmarkt durch relativ geringen Kündigungsschutz und hohe, aber zeitlich stark begrenzte Leistungen bei Arbeitslosigkeit.

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Arbeit sehr wichtig – hoher Bildungsabschluss

Grafik 14  : Menschen, die nicht arbeiten, werden faul, Angaben in %. Quelle  : EVS 2008.

Das Antwortverhalten zu beiden Fragen lässt möglicherweise auf einen Bedeutungsverlust jenes klassischen Arbeitsethos schließen, der Arbeit, Beruf und Erwerbsarbeit identifiziert sowie mit Kategorien wie „Fleiß“ und „Pflicht“ (gegenüber der Gesellschaft) in Verbindung bringt. Was tritt an seine Stelle  ? Für die Hypothese, dass Arbeit mit Selbstverwirklichung und Selbstbestimmung in Verbindung gebracht wird, spricht das Antwortverhalten zur Aussage, „dass man eine Arbeit braucht, um seine Fähigkeiten voll entwickeln zu können“. Besonders in Deutschland (87 %) und Ungarn (86 %) ist diese Ansicht unter den Befragten stark vertreten. Auch in Österreich sind 83 % der Befragten dieser Meinung, ähnlich wie die Schweiz, Dänemark und Polen. Nur in Schweden (47 %) und Finnland (57 %) ist man von dieser Bedeutung der Arbeit für das Individuum nicht so stark überzeugt. In nahezu allen verglichenen Ländern steigt die Zustimmung mit dem Alter und sie sinkt mit zunehmender Ausbildung. Frauen stimmen eher weniger zu als Männer. Bei diesem Item bleibt die Zustimmung über die Jahre relativ gleich. Die

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Claudia Scheid/Katharina Renner

Ergebnisse werfen viele Fragen auf. Spiegeln sich hier Lebenserfahrung und größere Freiheitsgrade bei qualifizierteren Berufen wider (Ältere und gut Gebildete stimmen eher zu)  ? Gründen Frauen und SkandinavierInnen ihre Selbstverwirklichung auch auf andere Säulen der Identität als die Arbeit  ? Oder zeigen die Zahlen eine leichte Entwicklung hin zur selbstverständlichen Erwartung, dass alle arbeiten wollen und sollen  ? Weitere Informationen zur Frage nach der Bedeutung von Arbeit lassen sich anhand des Items gewinnen, „was als wichtig in einem Beruf angesehen wird“. Allerdings liegen die Prioritäten bei dieser Frage den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich. In Österreich liegt die Arbeitsplatzsicherheit an erster Stelle, gefolgt von der Bezahlung, einer interessanten Tätigkeit und den netten KollegInnen. Als nicht besonders wichtig wird der Leistungsgedanke angegeben. Karrieremöglichkeiten, Eigeninitiative oder der Neuerwerb von Fähigkeiten liegen alle in der Mitte. Am unwichtigsten erscheinen eine großzügige Urlaubsregelung und wenig Stress. Ähnlich antworten die Befragten in Frankreich und Deutschland  : auch hier werden die Arbeitsplatzsicherheit, die netten KollegInnen und die interessante Tätigkeit betont  ; die Eigeninitiative liegt im Mittelfeld  ; Arbeitszeiten oder Urlaubsregelung erscheinen als eher unwichtig. In der Schweiz, in Dänemark, Schweden und Tschechien hingegen findet sich die Arbeitsplatzsicherheit erst hinter den netten KollegInnen, der interessanten Tätigkeit, der Bezahlung und der Eigeninitiative. In diesen Ländern werden auch die Verantwortung im Beruf und der Erwerb von neuem Wissen als tendenziell wichtiger beziehungsweise in der Rangordnung weiter vorne angegeben. In Polen und Ungarn steht die Bezahlung an erster Stelle, gefolgt von der Arbeitsplatzsicherheit. Als unwichtiger werden hier die Eigeninitiative und die Verantwortung betrachtet. In den Ergebnissen spiegeln sich jeweils die aktuellen wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Verhältnisse ebenso wieder wie länderspezifische Kulturen im Verständnis von Arbeit im Lebenskonzept. Diese sind wichtige Faktoren bei der Frage nach dem Bedeutungswandel von Arbeit. 2.3 Zufriedenheit mit der Arbeitssituation

Die Zufriedenheit mit der Arbeit entwickelt sich in den Vergleichsländern heterogen. In Dänemark, Schweden, Polen und Ungarn sind die Befragten tendenziell unzufriedener als noch vor zwanzig Jahren. Auch in Österreich sinkt die Zufriedenheit  : Waren 1990 noch 69 % mit ihrer Arbeit zufrieden, sind es 2008 nur noch 60 %. Gestiegen ist die Arbeitszufriedenheit in Deutschland, Frankreich und Tschechien. Männer sind mit Ausnahme von Finnland eher zufrieden in ihrem Beruf als Frauen. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern ist aber sehr klein. Dies liegt wohl

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an der unterschiedlichen Bedeutung der Arbeit bei Männern und Frauen. Frauen akzeptieren tendenziell eher, dass ihr Beruf ihnen nicht Erfüllung bringt, weil ihre Berufstätigkeit oft unter die Kategorie Zuverdienst fällt. Bei Männern ist dies anders  : Ihr Beruf ist traditionell – und viel mehr als bei Frauen – der Ort, wo sie sich beweisen müssen, wo ihnen Anerkennung erwächst. Entweder haben sie schon einen befriedigenden Beruf oder sie geben bei einer Befragung aus Selbstachtung an, dass sie mit ihrer Arbeitsplatzsituation zufrieden sind. Hinzu kommen die differenten Situationen der Geschlechtsgruppen in Bezug auf Bezahlung und Karrieremöglichkeiten. Diesbezüglich erstaunen die geringen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Die Berufszufriedenheit steigt in fast allen Ländern leicht mit dem Alter. Dies liegt aber weniger an gesellschaftlichen Änderungen (also kein Generationeneffekt) als an der steigenden Selbstbestimmung im Verlauf einer Karriere. Indiz dafür ist, dass die Berufszufriedenheit auch mit der Ausbildung eher ansteigt oder gleich bleibt. Die statistische Überprüfung bestätigt dies  : Der wesentliche Einflussfaktor ist die Entscheidungsfreiheit – je höher, desto zufriedener im Beruf. Die erklärende Variable für die Unterschiede in der Zufriedenheit ist also die Entscheidungsfreiheit im Beruf, die mit dem Alter steigen kann. Für sich genommen erklärt das Alter hingegen die Zufriedenheit nicht. Zufriedenheit mit der Arbeit Land

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Tabelle 5  : Zufriedenheit mit der Arbeit, Angaben in %. Quelle  : EVS 1990–2008.

2.4 Hausarbeit

Der Wert von Arbeit wird gesellschaftlich in Europa in der Regel mit Geld bemessen. Hausarbeit ist die klassische Form unbezahlter Arbeit. In einer Gesellschaft, in der Erfolg zentral an der Höhe der Bezahlung für eine Berufstätigkeit gemessen

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Claudia Scheid/Katharina Renner

wird, muss man davon ausgehen, dass sich möglichst viele von unbezahlten Tätigkeiten befreien wollen und sie zunehmend aufgegeben werden. Die Einstellungen zur Behauptung  : „Hausfrau zu sein ist genauso befriedigend wie eine Berufstätigkeit“ widerspiegeln diesen Sachverhalt. Die Zustimmungen zu dieser Aussage sinken über die letzten drei Jahrzehnte kontinuierlich. Unbezahlte Hausarbeit wird als nicht mehr ausreichend befriedigend erachtet. Die Zustimmung liegt in den verglichenen Ländern bei 50 bis 60 %. Einzig in Finnland wurde die Zustimmung größer (2008  : 78 %). Die Zustimmung steigt mit dem Alter. Dies liegt aber wohl weniger am Alter selbst als an der Berufstätigkeit  : Einmal ausgestiegen aus dem Beruf, muss die Befriedigung aus häuslicher Tätigkeit gezogen werden. Bei multivariater Betrachtung durch logistische Regression zeigt sich, dass diese Vermutung stimmt  : Je höher das Alter, desto höher ist die Zustimmung. Am stärksten ist allerdings der Einfluss von Berufstätigkeit. Personen, die nicht arbeiten, stimmen mit 1,21 Mal höherer Wahrscheinlichkeit zu als Personen, die arbeiten. Das Bildungsniveau hat die gegenteilige Wirkung  : Je höher die Ausbildung einer Person ist, desto geringer ist die Zustimmung. Das Geschlecht hat bei dieser Frage im Allgemeinen keinen Einfluss.6 2.5 Zusammenfassung

Die Ergebnisse verweisen auf einen Bedeutungswandel von Arbeit. Dabei zeigen sich Ähnlichkeiten im Antwortverhalten zwischen den Befragten in nordeuropäischen Ländern, den Jungen, den gut Ausgebildeten und den Frauen. Diese Länder und Gruppen erscheinen gleichsam als Trendsetter gesellschaftlicher Veränderungen. Was könnte hinter diesem Trend stehen  ? Auf einen ersten Blick zeigen sich hier Einstellungen, die als Auswirkung einer selbstverständlichen Partizipation an einer Arbeitsgesellschaft für alle verstanden werden können, in der bei guter Bezahlung Arbeit mit Gestaltungsvollmacht und eigener Initiative verbunden wird. Im Folgenden wollen wir aber in der Auseinandersetzung mit qualitativen Studien­ ergebnissen diese Interpretation kritisch hinterfragen und tiefer ausleuchten. Die Überlegungen beschränken sich dabei auf den nord- und westeuropäischen Raum, zu dem hier auch Österreich gezählt wird. Analoge Studien für die vormals kommunistischen osteuropäischen Länder werden hier nicht einbezogen. 6 Zu der in diesem Kontext wichtigen Frage von Vereinbarkeit und Beruf vgl. Kropf, Elisabeth/Lehner, Erich, im Kapitel  : „Nach der Familie kommt die Familie  : Lebens- und Partnerschaftsformen in Europa“, 103ff  ; Pfau-Effinger, Birgit, im Kapitel  : „Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung“, 255ff.

Leistungsethik in der Transformation  : Die Bedeutung der Arbeit

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3. Diskussion der Ergebnisse im Rahmen der Theorie der Leistungsethik 3.1 Theoretische Grundlagen

„(M)ehr denn je und in fast allen Bereichen“ ist die Berufstätigkeit in einer „durch und durch kapitalistisch geprägten Gesellschaft“ von zentraler Relevanz.7 Immer noch bestimmt sie wesentlich die gesellschaftliche Position des Individuums. Als „krasse Fehlinterpretation“ eines Wandels bezeichnen Böhle, Voß und Wachtler im „Handbuch der Arbeitssoziologie“ die in den 80er-Jahren aufgekommene Vorstellung, dass die Berufstätigkeit subjektiv nicht mehr so wichtig sei. Wie Helmut Schelsky, Ulrich Oevermann, Ute Fischer und viele andere, die sich mit der Berufstätigkeit beschäftigt haben, greift auch Günter Voß zur Erklärung dieses Phänomens auf die Argumente von Max Weber zurück. Dieser entwickelte in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die klassische These  : Insbesondere im Protestantismus quäle die Frage, wer zu den Auserwählten gehöre, zu den sich Bewährenden, und wer zu den Verworfenen. Der methodische Charakter und ein sichtbarer Ertrag machen die berufsförmige Erwerbstätigkeit 8 zum Mittel, Ängste zu mildern. Die durch den Ertrag indizierte Leistung bestätigt die Bewährung. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung verlangt gleichzeitig eine Orientierung an methodischer, auf Ertrag ausgerichteter Arbeit.9 Eine spezielle religiöse Voreinstellung ist aber keine notwendige Voraussetzung einer solchen Wirtschaftsordnung  : Sie macht aus sich heraus ein Angebot, wonach sich der Status bemessen und was der Kompass einer Lebensführung sein kann – und entfaltet so eine sozialisatorische Wirkung.10 Sich dieser Dynamik zu entziehen, erscheint kaum möglich  : „Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der einzelne hineingeboren wird und der für ihn, wenigstens als einzelnen, als faktisch unabänderliches Gehäuse, in dem er zu leben hat, gegeben ist“.11  7 Böhle, Fritz/Voß, G. Günter/Wachtler, Günther  : Einführung, in  : Dies. (Hg.), Handbuch Arbeitssoziologie, 11–20, 11.   8 Auch wenn hier gelegentlich von Arbeit oder Beruf die Rede sein wird, ist letztlich immer berufsförmige Erwerbsarbeit gemeint, um eine auf Qualifizierung beruhende, aber nicht zwingend als eigentlicher „Beruf “ institutionalisierte Erwerbstätigkeit zu beschreiben. Zur Begriffsbildung siehe  : Bühler, Caroline  : Vom Verblassen beruflicher Identität. Fallanalysen zu Selbstbildern und Arbeitsethiken junger Erwerbstätiger, Zürich 2005  ; Voß, Was ist Arbeit  ?   9 Für Max Weber war beides zentral  : der systematisch-methodische Charakter und der Ertrag, vgl. Bühler, Vom Verblassen beruflicher Identität, 22 ff. 10 Diese Haltung wird vermittelt auch durch die sozialisatorische Wirkung der Schule, vgl. Wernet, Andreas  : Pädagogische Permissivität. Schulische Sozialisation jenseits der Professionalisierungsfrage, Opladen 2003. 11 Weber, Max  : Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. München 2004 (1920), 16.

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Claudia Scheid/Katharina Renner

Diese von Weber rekonstruierte Motivkonstellation wird in den Sozialwissenschaften unterschiedlich benannt, häufig als „Leistungsethik“. Mit diesem Begriff vermeidet man im Unterschied zum gleichfalls verwendeten Begriff der protestantischen Ethik das Missverständnis, dass diese Motivkonstellation an den Protestantismus gekoppelt sei, gleichwohl dieser wohl auch heute noch häufig eine nicht unbedeutende Transmissionsfunktion einnimmt. Mithilfe der Argumentation Max Webers schien es eine kaum erklärungsbedürftige Entwicklung, dass „die Arbeit und Berufserfüllung zum zentralen Lebensinhalt gemacht wurde“12, wie es Helmut Schelsky in den Siebzigern formulierte. Massenumfragen deuteten aber seit Mitte der 60er-Jahre darauf hin, dass es zu einer Distanzierung von der Erwerbsarbeit gekommen war. Die Arbeitszufriedenheit wurde geringer, Wünsche nach Arbeitszeitverkürzung waren weit verbreitet und klassische Tugenden wie Gehorsam, Pünktlichkeit, Sauberkeit, sowie der Wunsch, es zu etwas zu bringen, hatten im Laufe der 70er-Jahre an Zustimmung verloren. Diese Umfrageergebnisse erklärten manche, wie z. B. Ronald Inglehart, im Rahmen einer allgemeinen Wertverschiebung  ; andere, wie z. B. Elisabeth Noelle-Neumann, als Verfall der Leistungsethik. Doch die Umfragen ließen bei genauer Betrachtung noch anderes erkennen, was nicht auf Verfall hindeutete, sondern auf eine Transformation. Die Thesen von Max Weber wurden damit nicht hinfällig, sondern erschienen in neuem Licht. Günter Voß kam so zum Ergebnis einer gestiegenen Leistungsbereitschaft. Es bestünde aber eine negative Haltung bezüglich der konkreten Arbeitssituation, wenn dort diese Leistungsbereitschaft nicht zum Tragen kommen könne. Voß differenzierte zwei Varianten einer Arbeitshaltung. Mithilfe von Begriffen, die von Talcott Parsons Mitte des 20. Jahrhunderts zur Beschreibung relevanter Handlungsorientierungen in der Moderne entwickelt hatte, sprach er zum einen von einer „voll entwickelten“13, also purifizierten Leistungsethik mit den Grundelementen Aktivismus, Universalismus, Individualismus und Rationalität.14 Diese Grundele12 Schelsky, Helmut  : Die Bedeutung des Berufs in der modernen Gesellschaft, in  : Luckmann, Thomas/Sprondel, Walter (Hg.)  : Berufssoziologie. Köln 1972, 25–35, 26. 13 Voß, G. Günter  : Wertewandel. Eine Modernisierung der protestantischen Ethik  ?, in  : Zeitschrift für Personalforschung, 4. Jahrgang, 3 (1990), 263–275  ; 270. Vgl. auch Baethge, Martin  : Jugend, Arbeit und Identität. Lebensperspektiven und Interessenorientierungen von Jugendlichen, Opladen 1989  ; Baethge, Martin  : Arbeit, Vergesellschaftung und Identität. Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit, in  : Soziale Welt, 42. Jahrgang, 1 (1991), 6–19. 14 „Aktivismus  : Die Bejahung einer aktiven Gestaltung der Welt zur Optimierung der Lebensgrundlagen (und nicht passives Abfinden mit der Welt, wie sie ist“   ; „Universalismus  : die Bejahung prinzipiell gleicher Rechte und Pflichten für alle Menschen als Basiskonsens für den sozialen Verkehr (und nicht Akzeptanz vorgefundener ungleicher Rechte und Pflichten)“  ; „Individualismus  : Die Bejahung der alleinigen Zuständigkeit und Verantwortung des Einzelnen für seine Lebensführung und sein

Leistungsethik in der Transformation  : Die Bedeutung der Arbeit

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mente sind Voraussetzung und Ergebnis der Integration in eine selbstverantwortete Teilhabe an einer Wirtschaftsordnung, in der die Leistung in einer berufsförmigen Erwerbsarbeit zum zentralen Lebensziel wird. Dieser modernen Form stellte Voß zum anderen eine an passiver Pflichterfüllung und Unterordnung ausgerichtete Arbeitsmoral gegenüber. Die Relevanz der neuen Orientierungen wurde von ihm im Begriff des „Arbeitskraftunternehmers“ eingefangen, den er als Leittypus der aktuellen Arbeitsgesellschaft vermutete. 3.2 Ergebnisse qualitativer Sozialforschung

Was bringt diese starke Orientierung an Leistung in einer berufsförmigen Erwerbsarbeit mit sich  ? Wie sieht das Leben dabei aus  ? Offene Interviews und ihre hermeneutische Auswertung erlauben die Rekonstruktion von berufsbiographischen Entscheidungen und der in ihnen enthaltenen Implikationen. Der Einbezug von Frauen in die Samples, in der Kombination von Berufs- und Geschlechtersoziologie mit qualitativen Methoden15 ermöglichte neue Einsichten in die Struktur moderner Berufstätigkeit. So konnte rekonstruiert werden, dass sich auch Frauen zunehmend an einem ursprünglich nur von Männern übernommenen Muster der Lebensführung in Bezug auf Ausbildung und berufliche Tätigkeit orientierten.16 Unterschiede zu den Männern bestehen biographisch darin, dass die Berufstätigkeiten erst sukzessive für immer mehr Frauen an Bedeutung gewann, sowie in einer strukturellen Hinsicht, da die Karriereentscheidungen von Frauen vor dem Hintergrund anders Handeln in der Welt (und nicht  : unhinterfragte Unterordnung unter kollektive Normen)“  ; „Rationalität  : die Bejahung der Zweck-Optimierung des Handelns in Richtung kulturell akzeptierter Ziele unter Beachtung von Folgen und Nebenfolgen (und nicht  : unhinterfragte Orientierung an traditionellen Normen ohne Beachtung der Folgen).“ Vgl. Voß, Wertewandel, 272 (im Original je fett statt kursiv). 15 DFG-Projekt „Geschlechtsbezogene Arbeitsteilung und deren Implikationen für professionelle Definitionen des Arbeitsgegenstands ‚Familie‘ am Beispiel von Familienrecht und Mediation“ an der Universität Tübingen, Leitung  : Prof. Dr. Regine Gildemeister/Dr. Kai-Olaf Maiwald. Vgl. z. B. Scheid, Claudia/Gildemeister, Regine/Maiwald, Kai-Olaf/Seyfarth-Konau, Elisabeth  : Latente Differenzkonstruktionen  : Eine exemplarische Fallanalyse zu Geschlechterkonzeptionen in der professionellen Praxis, in  : Feministische Studien 2 (2001), 23–38  ; Scheid, Claudia/Maiwald, Kai-Olaf  : Welche Bedeutung hat der Beruf im Leben von Frauen, in  : Panorama. Berufsberatung, Berufsbildung, Arbeitsmarkt 2 (2003), 12–14  ; Gildemeister, Regine/Maiwald, Kai-Olaf/Scheid, Claudia/Seyfarth-Konau, Elisabeth  : Geschlechterdifferenzierungen im Horizont der Gleichheit. Opladen 2003. 16 Born, Claudia/Krüger, Helga/Lorenz-Meyer, Dagmar  : Der unentdeckte Wandel. Annäherung an das Verhältnis von Struktur und Norm im weiblichen Lebenslauf, Berlin 1996  ; Gildemeister/ Maiwald/Scheid/Seyfarth-Konau, Geschlechterdifferenzierungen im Horizont der Gleichheit.

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Claudia Scheid/Katharina Renner

gelagerter Rahmenbedingungen erfolgen. Die Relevanz der Geschlechtszugehörigkeit taucht wieder auf, wenn die Anforderung, Familientätigkeiten zu übernehmen, erfahrbar wird. Der Norm der Berufsorientierung steht dann die Erfahrung der beruflichen Desintegration in der Kinderphase und des damit einhergehenden Karriereknicks gegenüber. Dies führt zu einer „stummen Traumatisierung“. Durch die Untersuchung der berufsbiographischen Entscheidungen von Frauen tauchte damit ein Thema auf, das lange übersehen wurde, nämlich dasjenige des Verhältnisses von Arbeit und Leben. Anhand eines Datenpools, der erhoben wurde, um Überlegungen zu Ursachen der geringen Geburtenrate nachzugehen, wie sie für europäische Länder gilt, können diese Verhältnisse von Arbeit und Leben und die dominante Konfliktlinie verdeutlicht werden.17 Es zeigte sich, dass an Eltern, die ihre Berufstätigkeit reduzieren, zehrt, – und bisher sind es konkret vornehmlich die Frauen, die dies betrifft – dass die Berufstätigkeit als eigentliche Sphäre, in der sich die Person in ihrer Individualität zeigt und bewährt, im Rahmen der Familiengründung reduziert wird. Dies führt zu erschöpfenden inneren Konflikten. Das „Privatleben“ wird paradoxerweise nicht mit der Familie in Zusammenhang gesehen, sondern mit der Möglichkeit, sich im Beruf zu betätigen. Im Unterschied zur Arbeitswoche, die einem zumindest am Wochenende Zeit für sich lässt, wird der Familienalltag als etwas geschildert, das gänzlich vereinnahmt. Bei den Frauen zeigt sich dabei die Darstellung einer Schicksalshaftigkeit dieses Verlaufs, sofern man sich für Kinder entschieden hat. Die Elternschaft wird im Rahmen dieses Konflikts rollenförmig und ist nicht mehr durch die ganze Person gefüllt – die Familie wird so zum Pflichtprogramm. Die berufliche Arbeit erscheint, zumindest aus der Perspektive der Familiensphäre, als Sphäre der Lust. „Mein Hobby war ja auch arbeiten“, wie es eine der Befragten formulierte. Man sieht sich als jemand, der nicht ohne Erwerbstätigkeit leben kann. Andererseits ist für die interviewten Frauen entschieden, dass dasjenige, wozu innerlich schon Distanz besteht – die Mutterrolle –, von der Frau auszufüllen sei, denn einer soll für das Kind da sein. Erörterungen dazu, warum der Partner nicht zentral die frühe Fürsorge übernommen hat, werden nur ansatzweise deutlich. Da es für die Chancen des Engagements in der Familie kaum einen Diskurs gibt – es sei denn, dass mit dem Argument, man verbessere seine soziale Kompetenz, wiederum auf die berufliche Sphäre rekurriert wird – wird es schwer, die Übernahme der Fürsorge in der frühen Kindheit vor sich selbst und nach außen zu legitimieren. Auch wenn man sich für Kinder entschieden hat, zeigt sich in den Darstellungen, wie 17 Die Interviews wurden im Rahmen des von uns an der Universität Dortmund durchgeführten Seminars “Karriere statt Kinder  ? Zur Krise familialer und beruflicher Bewährung” im Jahr 2004 unter der Leitung von Ute Fischer und Claudia Scheid erhoben und analysiert.

Leistungsethik in der Transformation  : Die Bedeutung der Arbeit

151

unattraktiv die daraus resultierenden Folgen wahrgenommen werden. Diese Thesen wurden keineswegs nur an qualifizierten Interviewten überprüft, sondern konnten auch an unqualifizierten Arbeiterinnen bestätigt werden. Das Verhältnis von Leben und Arbeit kann mithilfe einer Untersuchung von Ute Fischer18 noch begrifflich präzisiert werden. Sie beschäftigte sich vertieft mit der Sinnstiftung in der Gegenwart. Deutlich wird auch im Rahmen dieser qualitativen Studie, wie wichtig die Berufstätigkeit ist. Im Beruf wird erfahren, „dass ich was kann, dass ich wer bin“19. Die Berufstätigkeit ist das zentrale Feld, wo Anforderungen erlebt und bewältigt werden. „Aktivität“20 wird nur dort und im ehrenamtlichen Engagement erlebt, aber nicht in der Familie. Prägnant zeigt sich die nicht bestehende Möglichkeit der Positivierung familialen Engagements im Gegensatz zum beruflichen. Man habe schließlich „für die Arbeit gelebt“21. Wird dann die Berufstätigkeit zeitweise aufgegeben, resultiert daraus das Gefühl, etwas zu verpassen. Als zentrales und für den hiesigen Kontext relevantestes Ergebnis wird formuliert  : „Eine schwindende Bedeutung der Leistungsethik und der beruflichen Tätigkeiten konnte nicht festgestellt werden“22  : Der Beruf steht für Männer und für Frauen im Zentrum ihres Lebens  : „Der Berufserfolg gilt als Merkmal eines anerkennenswerten Lebens.“23 Es herrscht Sprachlosigkeit, warum man seine Zeit mit etwas zubringt, wenn es nicht um die Berufstätigkeit geht. „Dies zeigt sich insbesondere in den Fällen, wo sie (die Leistungsethik  ; d. Verf.) aufgrund von Arbeitslosigkeit oder wegen einer Berufsunterbrechung zur Kindererziehung aktuell nicht realisiert wird.“24 Die familiale Fürsorge vollzieht sich im Schatten der Leistungsethik, so die Formulierung von Ute Fischer.25 Dieses Ergebnis ist bedeutsam für viele Teilbereiche der Sozialwissenschaften, nicht nur für die Berufs-, sondern auch für die Jugend- und insbesondere die Familiensoziologie und auch für die politische Diskussion  : Was resultiert aus diesem „Im-Schatten-Stehen“ für die Familien  ? Welche Eigentümlichkeiten modernen Familienlebens können damit in Zusammenhang gebracht werden  ? Die Untersuchung zeigt auch, dass die Berufstätigkeit kaum jemandem ausreicht. Was aber in diesen nicht-systematisch-methodischen Dimensionen genau gesucht wird bzw. gefunden 18 Fischer, Ute L.  : Anerkennung, Integration und Geschlecht. Zur Sinnstiftung des modernen Subjekts, Bielefeld 2009. 19 Ebd., 99. 20 Ebd., 158. 21 Ebd., 181. 22 Ebd., 281. 23 Ebd., 9. 24 Ebd., 281. 25 Ebd., 284.

152

Claudia Scheid/Katharina Renner

werden könnte, scheint eine offene Frage nicht nur der Praxis zu sein. Auch die berufs- und arbeitssoziologische Theoriebildung ist in gewissem Sinne sprachlos. 3.3 Theoretische Diskussion  : Der herausragende Konflikt

Durch die intensive Betrachtung und Reflexion weiblicher (Berufs-)Biographien wurde es auch für die Theoriebildung möglich, das Koordinatensystem der Beschreibung der Bedeutung des Berufes zu erweitern.26 Die Berufstätigkeit muss nicht mehr als Absolutes oder Isoliertes gesetzt werden. Es wird deutlich, dass die Berufstätigkeit objektiv eine spezifische Platzierung im Leben besitzt. Aktuell ist die berufliche Tätigkeit der erste Orientierungs- und der Dreh- und Angelpunkt der Lebensführung. Familiäre Tätigkeiten oder Engagement für das Allgemeinwohl werden zumeist immer noch nicht systematisch mit bedacht, und zwar weder in der biographischen Planung der Einzelnen noch auf der Ebene der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und auch nicht im öffentlich-politischen Diskurs.27 Kinder werden nur als zukünftige ArbeitnehmerInnen, SteuerzahlerInnen und AltenpflegerInnen thematisiert, was die Fixierung auf die Sphäre des Beruflichen und des Ertrages erneut reproduziert. Die voll berufstätigen Eltern, „entlastet“ durch Kinderbetreuungseinrichtungen und billige Pflege- und Reinigungskräfte, sind der relevante Bezugspunkt der politischen Diskussion.28 Dies wirkt dabei wie eine Abdunkelung der sich prinzipiell stellenden Fragen  : Können staatliche Institutionen (ErzieherInnen, Lehrpersonen) und Angestellte („Putzfrauen“, „Nannys“, „Au-Pairs“ etc.) immer mehr Aufgaben erfüllen, die über lange Zeit von einem Gros familiär übernommen wurden  ? Kann Sozialisation im Rahmen von Dienstleistungen gelingen  ? Welche Bedeutung hat die familiäre Sphäre für den Einzelnen und für die Gesellschaft  ? Der scheinbar progressive Diskurs bezüglich des Ausbaus von außerhäuslichen Betreuungseinrichtungen hinkt dabei den Notwendigkeiten hinterher – wie dringend dieser Ausbau auch immer sein mag, um biographische Notlagen zu beenden. In diesem Diskurs ist häufig von der Bürde der Kinder die Rede, von der man die Frauen durch Ganztageseinrichtungen zu „entlasten“ habe. Offen bleibt 26 Vgl. Jürgens, Kerstin  : Arbeit und Leben, in  : Böhle/Voß/Wachtler (Hg.), Handbuch Arbeitssoziologie, 483–510. 27 Allerdings hat Max Weber wie auch Ende der Neunziger Richard Sennett ein sehr dunkles Szenario einer einseitig am beruflichen Erfolg orientierten Gesellschaft, aus der sozusagen jedes Leben entwichen ist, projiziert. Künstlerische Gestaltungen des teils bestehenden, teils drohend imaginierten Elends gibt es viele. 28 Die Eltern müssen sich dabei souverän gegenüber den im allgemeinen Diskurs vermittelten gesundheitsgefährdenden Illusionen abgrenzen. Vgl. Jürgens, Arbeit und Leben.

Leistungsethik in der Transformation  : Die Bedeutung der Arbeit

153

sowohl für die einzelnen wie im öffentlichen Diskurs, warum überhaupt jemand die Last der Kinder- und Altenfürsorge übernehmen soll. Die in den Neunzigern verbreitete Rede vom „Modernisierungs-Gap“ bei Männern (Kathleen Gerson) verbarg den Umstand, dass es keinerlei Begründung dafür gab, warum Familientätigkeiten für Männer modern sein sollen, wenn dies für Frauen eben nicht galt.29 Dies dürfte einer der zentralen Gründe dafür sein, warum Männer nach wie vor wenig Neigung haben, Familientätigkeiten zu übernehmen. Die niedrige Geburtenrate, wie sie die wohlhabenden Nationen kennzeichnet, kann so in ihrer Motivlage nicht ausreichend wahrgenommen werden. Es deutet sich im Gegenteil an, dass diese zum globalen Phänomen werden könnte, denn auch in sogenannten „Schwellenländern“ sinken Geburtsraten rasant.30 Doch wird dieser Wandel in seinen Ursachen und den Folgen noch ungenügend erfasst. Konflikte resultieren aus der Zentralstellung des Berufes, die schon vorher hätten erkannt werden können, wären die Analysen von Max Weber und Helmut Schelsky zur Sinnstiftung des modernen Subjekts nicht implizit nur auf Männer beschränkt und nur als für sie zutreffend gelesen worden. Spätestens mit den Untersuchungen zum „unentdeckten Wandel“ Mitte der Neunziger war empirisch nachweisbar, dass die Norm der engagierten Berufstätigkeit nunmehr tatsächlich geschlechterindifferent verinnerlicht war und es somit zu einer „Motivationslücke“ im Familiären kommt. 3.4 Modernisierte Leistungsethik in Europa  ? – ein Annäherungsversuch mithilfe der EVS

Diese rekonstruierte zentrale Konfliktlinie kann die Europäische Wertestudie nicht abbilden. Sie reproduziert die rekonstruierte Struktur der Ausblendung  : So wird zwar ausführlich danach gefragt, was im Beruf gesucht wird31 – aber nicht danach, was man im häuslichen Bereich finden könnte. Die scheinbar aufschlussreiche Frage nach der Freizeit32 unterstellt das Primat der Arbeit, denn „Freizeit“ macht nur als Komplementärbegriff Sinn. Folgerichtig taucht das Thema Familie dort nicht auf.

29 Scheid, Claudia  : Zum Verhältnis von Beruf und Familie von Beruf und Familie bei Frauen  : verleugneter Wandel, demografische Folgen, in  : Caritas Schweiz (Hg.)  : Sozialalmanach 2004. Luzern 2003, 137–149. 30 Dass dies mit der Emanzipation der Frauen zu tun habe, ist kein Einwand, sondern nur eine Umschreibung des hier dargestellten Zusammenhangs. Emanzipation bedeutet (bisher) zentral die ökonomische Bewegungsfreiheit und die Beteiligung am System der Bewährung im Beruflichen. 31 Fragen 14 A bis Q oder auch 18 A bis E, vgl. den Fragebogen der EVS 2008, Stand: 10.04.2011, URL  : http  ://ktf.univie.ac.at/content/forschung/wertestudie/de/materialiendownloads/index.html  ?SW S=9qkooh1e0cpscgfikkcvuidsq2. 32 Frage 19 A bis D, ebd.

154

Claudia Scheid/Katharina Renner

Das Verhältnis von Familie und Beruf wird nur für Mütter33 thematisiert, was dieser Relation eine allgemeine Relevanz nimmt. Damit steht man vor einer gravierenden Erkenntnislücke  : „Lassen Arbeitsforschung und -politik den hier skizzierten Wandel des gesellschaftlichen Reproduktionsmodells außer Acht, werden sie weder die Funktionslogik des entgrenzten Kapitalismus, noch die sozialen Disparitäten erfassen, die sich aus den neuen Bedingungen von Arbeit und Leben ergeben.“34 Standardisierte Fragen weisen für die Geschichte der Arbeitssoziologie einen problematischen Aspekt auf, da in ihnen bisher zu eng arbeitsplatz-bezogen gefragt wurde.35 Enge Fragestellungen reproduzierten die „Ideologie“ der Aufteilung der Lebenssphären in Arbeit und Privates analog der ehemals zumindest ideologisch gültigen Aufteilung der Sphäre der Männer und derjenigen der Frauen und derjenigen von Arbeitszeit und Freizeit. Die Verhältnisse der Einstellungen zur Arbeit sind komplex, wie gerade auch die Geschichte der Entstehung des „Subjektivierungs“Diskurses aufzeigt, für die es ein Ausgangspunkt war, dass in Fragebögen angegebene Distanzierungen von der Berufstätigkeit keineswegs dem Niedergang einer hohen Motivation zu berufsförmigen Tätigkeiten gleichgesetzt werden konnten. Das Thema Arbeit bestimmt die europäische Welt in einem gravierenden Maß. Dies spiegelt die Europäische Wertestudie auch darin, dass die Frage nach der Wichtigkeit der Arbeit die Stellung 1A im Katalog der 271 Fragen besitzt. Äußerungen zu diesem Thema sind zudem vielfältigen Einflüssen ausgesetzt. In Österreich sinken die Zahlen nach einem Anstieg von 1990 auf 1999. Doch es spricht alles für eine gestiegene Bedeutung der berufsförmigen Erwerbsarbeit. So ist die Zahl der Erwerbstätigen kontinuierlich – und nicht nur in Österreich – im Steigen. Ein Anstieg fand in fast allen Ländern der EU statt, zum Teil um über zehn Prozentpunkte.36 Hier hat nicht eine Generation die andere abgelöst, dazu ist die Zeitspanne zu kurz  ; vielmehr integrierten sich dieselben, die früher nicht erwerbstätig waren, in den Arbeitsmarkt. Darin spiegelt sich eine Motivationslage, die sich zugunsten der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verändert hat. Zudem ist im Fragenkatalog eine Relationierung zu anderen Lebensbereichen nicht enthalten. 33 Fragen 48 A bis E, ebd. 34 Jürgens, Arbeit und Leben, 504. Jürgens fährt ebd. fort  : „Neue Untersuchungen über die Entwicklungsdynamik von Erwerbsarbeit werden sich daher zukünftig daran messen müssen, inwiefern sie veränderte Beanspruchungen abhängig Beschäftigter ganzheitlich ausgeleuchtet und Erkenntnisse der Gesundheits-, Familien- und Geschlechterforschung berücksichtigt haben.“ 35 Langfeldt, Bettina  : Subjektorientierung in der Arbeits- und Industriesoziologie. Theorien, Methoden und Instrumente zur Erfassung von Arbeit und Subjektivität, Wiesbaden 2007, 135. 36 Eurostat, Stand: 10.04.2011, URL  : http  ://epp.eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/employ ment_unemployment_lfs/data/database.

Leistungsethik in der Transformation  : Die Bedeutung der Arbeit Land (Gesamtranking)

Universalismus

155 Individualismus

1. Schweden

0,82

0,84

2. Niederlande

0,78

0,80

2. Norwegen

0,80

0,78

4. Dänemark

0,82

0,72

4. Finnland

0,72

0,82

6. Schweiz

0,83

0,64

7. Belgien

0,81

0,65

8. Großbritannien

0,73

0,72

9. Frankreich

0,84

0,57

9. Spanien

0,80

0,61

11. Luxemburg

0,77

0,63

12. Deutschland

0,77

0,61

13. Irland

0,68

0,66 0,65

14. Österreich

0,66

15. Portugal

0,69

0,54

16. Slowenien

0,61

0,60

17. Ungarn

0,65

0,47

18. Tschechien

0,60

0,51

19. Italien

0,61

0,49 0,48

20. Slowakei

0,60

21. Estland

0,53

0,52

21. Lettland

0,57

0,48 0,49

23. Polen

0,53

24. Griechenland

0,58

0,42

25. Rumänien

0,56

0,43

26. Malta

0,57

0,40

27. Litauen

0,42

0,54

28. Zypern

0,53

0,40

29. Bulgarien

0,49

0,42

Tabelle 6  : Operationalisierung der Leistungsethik nach den Dimensionen Universalismus und Individualismus, Länder geordnet nach Gesamtindex. Quelle  : EVS 2008.

Der Frage nach der Bedeutung der Arbeit kann man sich also nur indirekt annehmen. Voß diagnostizierte schon in den Achtzigern eine Ethik, die Universalismus, Aktivismus, Individualismus und Rationalität als „Grundelemente“ beinhalte. Über die Daten der Europäischen Wertestudie soll geprüft werden, welche Relevanz berufsförmige Erwerbsarbeit in Österreich hat. Dazu sollen die Grundelemente nach Voß teilweise operationalisiert werden. Damit soll das Ausmaß „modernisierter Leistungsethik“ in Österreich eingeschätzt werden. Tabelle 6 zeigt die Ergebnisse.

156

Claudia Scheid/Katharina Renner

Wie stellen sich Items dar, in denen eine Orientierung am Ideal des Universalismus zum Ausdruck gebracht werden kann  ? Eine universalistische Orientierung impliziert die Vorstellung, dass Regeln einer Gesellschaft für alle gelten, unabhängig von Geschlecht, Alter, Ethnizität oder anderen Kategorien. Die Umkehrform ist die Akzeptanz „naturgegebener“ Unterschiede, die sich auf die Rechte und Pflichten der einzelnen auswirken.37 Der einfache Summenindex zeigt38, dass Österreich im Vergleich mit anderen betrachteten Ländern eher weiter hinten steht. Den Werten des Universalismus besonders verpflichtet sehen sich Franzosen am meisten, gefolgt von der Schweiz und von Dänemark. Letztgereiht sind Litauen, Bulgarien, Polen, Zypern und Estland. Die Abweichungen der Länder zueinander sind erheblich. Das letztplatzierte Litauen kommt in der Summe nur auf den halben Indexwert im Verhältnis zu Frankreich  : 0,42 zu 0,84. Österreich nimmt Rang 15 ein mit einem Indexwert von 0,66. Ein weiteres Element einer Gesellschaft, die Bedingung und Ergebnis einer Leistung betonenden Arbeitswelt ist, ist der Individualismus. Er gibt Auskunft über den Grad der Verantwortung, die der/die einzelne über das eigene Leben übernimmt und übernehmen muss, weil er nicht mehr auf qua Geburt gegebene Solidarsysteme bauen will.39 Rang eins beim Individualismus in Europa nimmt Schweden ein, gefolgt von Finnland, den Niederlanden und Norwegen. Am wenigsten individualistisch zeigen sich Zypern, Malta, Griechenland und Bulgarien. Auch bei diesem Wert sind die Differenzen erheblich. Die letztplatzierten Zypern und Malta weisen noch 37 Messbar gemacht wurde diese Dimension durch die Summe folgender Items   : Nicht gern als Nachbarn  : Personen, die vorbestraft sind / Nicht gern als Nachbarn  : Menschen anderer Hautfarbe / Nicht gern als Nachbarn  : Psychisch instabile Personen / Nicht gern als Nachbarn  : Zuwanderer / Gastarbeiter / Nicht gern als Nachbarn  : Leute, die AIDS haben / Nicht gern als Nachbarn  : Homosexuelle/Nicht gern als Nachbarn  : Juden / Nicht gern als Nachbarn  : Zigeuner (bei diesen Items waren die Antwortmöglichkeiten genannt / nicht genannt) / Wenn die Arbeitsplätze knapp sind, sollten die Arbeitgeber Einheimische gegenüber Ausländern vorziehen. Es gilt  : Je weniger Nennungen, desto universalistischer / Homosexuelle Paare sollen Kinder adoptieren dürfen (umgepolt). Werte beziehen sich auf den einfachen Summenindex, sind also nicht zu verwechseln mit empirisch bestehender Zustimmung. 38 Indexwerte von 0 (Keine Zustimmung zu den Items) bis 1 (Zustimmung zu allen Items). 39 Items  : Wenn die Arbeitsplätze knapp sind, haben Männer eher ein Recht auf Arbeit als Frauen. / Abgesehen von Hochzeiten, Beerdigungen und Taufen  : Wie oft gingen Sie mit 12 zum Gottesdienst? / Eine Frau muss Kinder haben, um ein erfülltes Leben zu haben. / Wenn eine Frau ein Kind haben will, ohne eine feste Beziehung zu einem Mann zu haben  : gutheißen oder nicht  ? / Ein Mann muss Kinder haben, um ein erfülltes Leben zu haben. / Um glücklich zu sein, ist es notwendig, in einer Ehe oder einer dauerhaften, festen Beziehung zu leben. / Pflicht gegenüber der Gesellschaft Kinder zu haben. / Wenn Elternteil schwer krank ist – Pflicht der Kinder um sie/ihn zu kümmern./Ein Beruf ist gut, aber was die meisten Frauen wirklich wollen, ist ein Heim und Kinder. / Verhältnis von Kindern zu deren Eltern  : Man muss die Eltern immer lieben und ehren oder Eltern müssen sich das verdienen. Alle Items wurden auf zwei Ausprägungen reduziert und in Bezug auf die Richtung der Aussage gleich gepolt. Wie oben gilt auch hier  : Je weniger Nennungen, desto individualistischer.

Leistungsethik in der Transformation  : Die Bedeutung der Arbeit

157

nicht einmal die Hälfte an Zustimmung zu individualistischen Perspektiven auf, wie das erstplatzierte Schweden  : 0,40 zu 0,84. Österreich liegt im Ranking hier zwar sehr weit vorne, nämlich auf Platz acht – Schweden, Finnland, Niederlande, Norwegen, Dänemark, England und Irland sind vor Österreich –, doch der Wert von 0,65 zeigt an, dass auch hier noch „Luft“ zu den Spitzenplätzen ist. Verzichtet wurde auf die Operationalisierung der Grundelemente Aktivismus und Rationalität. Die „Übersetzung“ dieser Werte in Items der Europäischen Wertestudie gelang nicht befriedigend. Die beiden errechneten Indices gleich stark als Indikatoren für das Ausmaß „modernisierter Leistungsethik“ heranzuziehen macht Sinn, wenn man davon ausgeht, dass mit „Universalismus“ und „Individualismus“ zentrale Bestandteile einer Ethik gegeben sind, die eine enge Bindung an berufsförmige Leistungen implizieren, da nur über diese ein alternatives Anerkennungs- bzw. Status- sowie Versorgungsmodell gegeben ist.40 Auch hier wurde nun ein einfacher Summenindex gebildet. Die entstandenen Werte sind abstrakt und haben nur in der Relation zu anderen Ländern einen Sinn. Das entstehende Länder-Ranking kann aber helfen, zu sehen, wohin die Entwicklung tendenziell geht und zweitens einen ungefähren Eindruck davon vermitteln, wie lang der Weg für einzelne Nationen relativ gesehen bis dahin noch sein mag.41 Der Tendenz nach liegen die nordeuropäischen Länder vorne. Dann folgen schon mit Abstand die mitteleuropäischen Länder. Dann sinken die Werte deutlich. Portugal hat noch Anschluss, Slowenien liegt schon recht weit weg, noch geringer der Wert für die Tschechische Republik. Die unteren Plätze werden von den ehemals osteuropäischen Ländern eingenommen, unter der Anführung Sloweniens. Allerdings sind auch Italien und Griechenland in dieser Gruppe. Mit recht großem Abstand zu der vorherigen Gruppe stehen Bulgarien und Zypern am Ende des Rankings. In vielem haben sich die nordeuropäischen Länder, die das Ranking anführen, als Vorreiter gezeigt. Dies ist der Fall in der Geschlechter- und Familienpolitik, aber auch in Bezug auf Antidiskriminierungs- und Antikorruptionspolitik. Bleibt offen, ob und inwiefern dies auch für den „Export“ einer Leistungsethik in den ostmitteleuropäischen Raum bzw. in die (noch) ärmeren Regionen Europas zutrifft.

40 Wobei Frankreich ein weiter zu reflektierender Sonderfall ist (hoher Universalismuswert bei gleichzeitig schwachem Individualismuswert). Der Universalismus gründet sich dort möglicherweise auf das politische Handeln in der Bürgerposition, s. die relativ hohen Werte bei Item Q55A-E, Fragebogen der EVS 2008. Die Anerkennung von familiären Bindungen ist hoch, wie nicht nur die recht hohe Geburtenrate anzeigt. 41 Die Länderunterschiede sind bei allen Summenindizes signifikant auf dem 0,001-Niveau.

158

Claudia Scheid/Katharina Renner

3.5 Und Österreich  ?

Österreich liegt im Gesamtranking im „Mittelfeld“. Offenbar gewichten Österreicherinnen und Österreicher für das Ansehen der Person noch anderes als Leistung als wichtig  ; allerdings scheint weder der Universalismus des politischen Handelns in der Bürgerrolle42, noch das Bezugssystem der Familie die Alternative zu sein. Möglicherweise spielen die auf einer Meso-Ebene befindlichen „Bünde“ eine besonders starke Rolle, welche sich einer „voll entwickelten Leistungsethik“ in den Weg stellen können. Für viele mag dies ein Trost sein. Im Umkehrschluss zeigt das Ergebnis jedoch, dass eine an Pflichterfüllung und Unterordnung ausgerichtete Arbeitsmoral noch relativ weit verbreitet ist. Geht man davon aus, dass die „Grundelemente“ des Universalismus und Individualismus für eine humane und gerechte Gesellschaft nicht mehr aufgegeben werden können, und die Leistungsethik sich nur aus sich selbst heraus transformieren kann, dann wäre Österreich noch relativ weit entfernt von guten Lösungen des zentralen Konflikts. Der Konflikt ist – so muss man annehmen – in seiner ganzen Prägnanz noch gar nicht präsent. Dazu passen die in Österreich relativ hohen Werte zur Vorstellung, dass die Mütter die Fürsorge übernehmen sollen oder Männer ein stärkeres Anrecht auf Arbeit haben als Frauen. Eine den realen Verhältnissen angepasste Diskussion bleibt damit blockiert. Als aussagekräftiger als ein abstrakter Gesamtindex für die Lage in Österreich kann man auch die Diskussion der zwei Indizes oder einzelner Items erachten. Vor dem Hintergrund der hier vorgenommenen Argumentation sind die Selbstdarstellungen von vielen der befragten ÖsterreicherInnen insbesondere im Bereich „Universalismus“ interessant.43 Viele ÖsterreicherInnen haben offenkundig kein Problem damit, sich als jemand zu präsentieren, der z. B. Vorstellungen zur Relevanz der Hautfarbe anhängt. Wenn diesen Angaben ein Handeln entspricht, besteht die Gefahr von Diskriminierung sowie einer selbstverständlichen Inanspruchnahme von Privilegien. Eine Leistungsgesellschaft, in der problemlos Positionen gewechselt und mit neuem Personal versehen werden können, sämtliche Qualifikationsressourcen optimal eingesetzt werden können, wäre dadurch behindert. Leistungsorientierungen geraten in Widerspruch zu Strukturen der Arbeitswelt und können so resignative Rückzüge provozieren. Resignation aber ist kein Boden, von dem Innovation ausgehen kann. Die Kraft, Konflikte zu formulieren und anzugehen, steht dann nicht zur Verfügung. 42 Dagegen sprechen die bescheidenen Werte in den Items Q55A-E, Fragebogen der EVS 2008. 43 Vgl. dazu auch die Ergebnisse zu den hohen Antipathie-Werten gegenüber Gruppen, die „anders sind“, Rosenberger, Sieglinde/Seeber, Gilg, im Kapitel „Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration“, 165ff.

Leistungsethik in der Transformation  : Die Bedeutung der Arbeit

159

4. Prognosen  : Die Identifizierten, die Abgehängten und die Avantgardisten Der Grad der Durchsetzung der von Max Weber rekonstruierten Ethik muss im europäischen Vergleich aufgrund der unterschiedlichen Voraussetzungen differieren.44 Doch langfristig liegt wohl eine allgemeine und globale Tendenz vor, die durch den allgegenwärtigen Kapitalismus vorangetrieben wird. Für eine Erosion einer an berufsförmige Erwerbstätigkeiten gekoppelten Leistungsethik spricht unter Berücksichtigung aller zur Verfügung stehender Daten wenig. Zahlen, die Distanzierungen von der Arbeitswelt nahelegen, sind darum komplex zu diskutieren.45 Welche Ausformung diese Leistungsethik bei Jugendlichen annimmt, thematisieren Manuel Franzmann und Ulrich Oevermann.46 In den Rekonstruktionen zeigt sich ein Muster, dass man auf absehbare Zeit keine Familie will, sondern „höher“ hinausstrebt. Unterstellt wird, dass der angestrebte Status nur über eine Berufstätigkeit zu erlangen ist. Es ist jedoch nicht nur der berufsimmanente höhere Status, der reizt, sondern das damit einhergehende Geld, um einen bestimmten „Lifestyle“ zu pflegen, der den „Qualitätsmaßstäben einer internationalen Symbolwelt angepasst“ ist.47 Weder die Sicherheit der sozialen Herkunft noch die Möglichkeit, durch eine Heirat mit einem erfolgreichen Mann den erwünschten Lebensstil zu erreichen, spielen dabei in den Überlegungen eine Rolle. „Gemeinwohlverpflichtungen“48 würden dabei sehr wohl in Betracht gezogen, doch im Zentrum des Engagements stehen der Wille zum Erfolg und der damit mögliche erlesene Lebensstil. Es lohnt, sich damit zu befassen, welche Rolle das Geld und die „internationale Symbolwelt“ in die-

44 Vgl. Arts, Wil/Halman, Loek, im Kapitel  : „Value Research and Transformation in Europe“, 79ff.  : “Variance could be explained by referring to the fact that the courses of modernization processes vary from country to country and that present value patterns are not only the product of modernization processes but also of country-specific value patterns of the past. Historical value patterns are therefore interwoven with modern ones. So not only technology and economy matter, but also history does.” 45 Vgl. die Argumentation in Biffl/Hamachers-Zuba/Okolowicz/Renner/Steinmayr, Die Öster­ reicher/-innen und der Wandel der Arbeitswelt, 54 ff. 46 Teilprojekt D3 („Praxis als Erzeugungsquelle von Wissen“) des Sonderforschungsbereiches der DFG „Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel“ unter der Leitung von Prof. Dr. Ulrich Oevermann, das insbesondere den Problemlagen von Adoleszenten gewidmet war. Vgl. z. B. Oevermann, Ulrich/Franzmann, Manuel  : Strukturelle Religiosität auf dem Weg zur religiösen Indifferenz, in  : Franzmann, Manuel/Gärtner, Christel/Köck, Nicole (Hg.)  : Religiosität in der säkularisierten Welt. Theoretische und empirische Beiträge zur Säkularisierungsdebatte in der Religionssoziologie, Wiesbaden 2006, 49–82. 47 Ebd. 65. 48 Ebd. 66.

160

Claudia Scheid/Katharina Renner

sem Fall der „klassischen Leistungsethik“ spielt.49 „Geld ist letztlich das abstrakteste denkbare Kriterium für Erfolg“50, welches die Teilhabe an einer „internationalen Symbolwelt“ der Bewährung – also z. B. die Ausstattung mit international gültigen „Marken“ – ermöglicht. Es besitzt also zwei bedeutende Aspekte  : zum einen ist es Gradmesser des Erfolgs, zum anderen ermöglicht es den Ausdruck von etwas, das über den rein beruflichen Erfolg auch hinausweist. Die jüngsten Ereignisse im nordafrikanischen Raum scheinen die These eines damit gegebenen universalen oder zumindest international gültigen Bewährungsmaßstabs51 zu bestätigen und auch den lange in Zweifel gezogenen Sachverhalt zu belegen, dass diese Orientierung universal kompatibel ist. Es sind dabei insbesondere die Adoleszenten, die über die modernen Medien subjektiv integriert sind in die „internationale Symbolwelt“ und welche nun die Möglichkeit haben wollen, den „leistungsethischen“ Weg zu gehen. Die Relevanz von Markenkonsumartikeln weist darauf hin, dass es in der Sehnsucht nach „Wohlstand“ um die Anerkennung in einer internationalen Gemeinschaft geht. Denn die Vorstellungen davon, wie erworbenes Geld ausgegeben wird, könnten sich auch auf ganz anderes richten als auf den Konsum von Markenartikeln. Letztlich geht es mit dem Konsum darum, in aller Welt sich bewegen und auch präsentieren zu können als jemand, „der es geschafft hat“. Doch können es alle schaffen  ? Die Angst, nicht dazuzugehören, scheint weit verbreitet. In der Jugendstudie von Rheingold wird darauf hingewiesen, dass es im Zuge der Chancenminimierung bezüglich einer anerkannten Einkommenshöhe (Stichwort  : Zwei-Drittel-Gesellschaft, Polarisierung) dazu kommt, dass sich Anpassungsbemühungen der Jugendlichen weiter forcieren, um die individuellen Chancen bezüglich Teilhabe an der Erwerbstätigengesellschaft nicht zu gefährden. Die gesunkenen Chancen motivieren weitere Verschärfungen von Abgrenzungs- und Ausstoßungstendenzen gegenüber denjenigen, die als abgestürzt identifiziert werden.52 Die die manifesten Einstellungen erhebende Shell-Studie zeigt zwar für eine recht große Gruppe sogar einen gestiegenen Optimismus, doch dürfte dies der Chancen49 Franzmann und Oevermann nennen diesen Fall „klassisch“, den Voß als den „modernisierten“ bezeichnen würde. Dies widerspricht sich keineswegs, da der modernisierte, auch nach Voß, zugleich der purifizierte, „zu sich selbst gekommene“ ist und somit eben auch als „klassisch“ bezeichnet werden kann. 50 Franzmann/Oevermann, Strukturelle Religosität auf dem Weg zur religiösen Indifferenz, 79. 51 Ebd., 76. 52 Rheingold   : Institut für qualitative Markt- und Medienanalysen  : Die Absturz-Panik der Generation Biedermeier. Rheingold-Jugendstudie 2010, Stand  : 08.04.2011, URL  : www.rheingold-online.de/ grafik/veroeffentlichungen/Pressemitteilung % 20Jugendstudie_2010-09_rheingold.pdf  ; Albert, Mathias/Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun  : 16. Shell Jugendstudie. Jugend 2010, Frankfurt am Main 2010.

Leistungsethik in der Transformation  : Die Bedeutung der Arbeit

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minimierung geschuldet sein, denn um so schärfer hält die Gruppe, die sich noch Chancen ausrechnet, an der leistungsethischen „Technik“ fest, dass man an sich selbst glauben muss. Dass es eine wachsende Gruppe gibt, die sich trotz dieser allen bekannten „Technik“ resigniert zeigt und damit offenkundig nicht sozial erwünschte Haltungen offen legt, aber auch keinen alternativen Lebensentwurf entwickeln kann, lässt beträchtliches Gewaltpotential erahnen. Denn diese Gruppe ist nicht nur ausgesperrt von Anerkennung, sondern auch subjektiv von Sinn. Sehr deutlich kam diese Gruppe bei der Auswertung des Österreich-Teils der Europäischen Wertestudie zum Vorschein. Die „Ichbezogenen Autoritären“ sind stark autoritär, ausländerfeindlich und nur mit ihrem engsten Umfeld solidarisch. Sie sind mit ihrem Leben unzufrieden und haben das Gefühl, niemandem vertrauen zu können. Unter ihnen finden sich besonders viele Männer, Jugendliche, Ältere und wenig Gebildete. In Österreich machen sie mit 29 % die größte Gruppe aus.53 Kann es in Zukunft verbreitet Biographien geben, die nicht durch die Zentralstellung der Berufstätigkeit strukturiert sind und die auch nicht durch ein Unterlaufen einer „Bewährungsfrage“ gekennzeichnet sind, d.h. sich dennoch der Frage nach der Sinnhaftigkeit ihres Lebens stellen  ? Ulrich Oevermann entwickelt das Szenario einer Gemeinschaft, in der die Orientierung an der authentischen Rekonstruktion und Repräsentation von Erfahrungen als Gradmesser eines sinnerfüllten Lebens gelten könnte.54 Franzmann und Oevermann sehen insbesondere die Orientierung an Ästhetik als eine Grundlage für einen neuen Maßstab, der sich in der Relevanz von „Lebensstil“ bereits andeute. Ein ästhetischer Maßstab der Welterfahrung und des Selbstausdrucks würde beinhalten, „Selbstkontrolle, Selbstökonomisierung und Selbstrationalisierung“ (Voß) aufgeben und Offenheit, Brüche und „neugierig, distanzierte Welterfahrung“55 zulassen zu können.

Literaturverzeichnis Albert, Mathias/Hurrelmann, Klaus/Quenzel, Gudrun  : 16. Shell Jugendstudie. Jugend 2010, Frankfurt am Main 2010

53 Friesl, Christian/Hofer, Thomas/Wieser, Renate  : Die Österreicher/-innen und die Politik, in  : Friesl/Hamachers-Zuba/Polak (Hg.), Die Österreicher/-innen, 207–293, 242ff. 54 Oevermann, Ulrich  : Die Krise der Arbeitsgesellschaft und das Bewährungsproblem des modernen Subjekts. (Vortrag auf der Sommerakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes in St. Johann (Südtirol) am 15.09.1999), unveröffentlichtes Manuskript, Frankfurt am Main 1999, 19. 55 Oevermann/Franzmann, Auf dem Weg, 74.

162

Claudia Scheid/Katharina Renner

Baethge, Martin  : Jugend, Arbeit und Identität. Lebensperspektiven und Interessenorientierungen von Jugendlichen, Opladen 1989 Baethge, Martin  : Arbeit, Vergesellschaftung und Identität. Zur zunehmenden normativen Subjektivierung der Arbeit, in  : Soziale Welt, 42. Jahrgang, 1 (1991), 6–19. Biffl, Gudrun/Hamachers-Zuba, Ursula/Okolowicz, Justyna/Renner, Katharina/Steinmayr, Andreas  : Die Österreicher/-innen und der Wandel der Arbeitswelt, in  : Friesl, Christian/Hamachers-Zuba, Ursula/Polak, Regina (Hg.)  : Die Österreicher/-innen, 37–86 Böhle, Fritz/Voß, G. Günter/Wachtler, Günther  : Einführung, in  : Böhle/Voß/Wachtler (Hg.)  : Handbuch Arbeitssoziologie, 11–20 Böhle, Fritz/Voß, G. Günter/Wachtler, Günther (Hg.)  : Handbuch Arbeitssoziologie. Wiesbaden 2010 Born, Claudia/Krüger, Helga/Lorenz-Meyer, Dagmar  : Der unentdeckte Wandel. Annäherung an das Verhältnis von Struktur und Norm im weiblichen Lebenslauf, Berlin 1996 Bühler, Caroline  : Vom Verblassen beruflicher Identität. Fallanalysen zu Selbstbildern und Arbeitsethiken junger Erwerbstätiger, Zürich 2005 Fischer, Ute L.  : Anerkennung, Integration und Geschlecht. Zur Sinnstiftung des modernen Subjekts, Bielefeld 2009 Friesl, Christian/Hofer, Thomas/Wieser, Renate  : Die Österreicher/-innen und die Politik, in  : Friesl/Hamachers-Zuba/Polak (Hg.), Die Österreicher/-innen, 207–293 Friesl, Christian/Polak, Regina/Hamachers-Zuba, Ursula  : Die Österreicher/-innen. Wertewandel 1990–2008, Wien 2009 Gerson, Kathleen  : No Men’s Land. Men’s Changing Commitments to Familiy and Work, New York 1993 Gildemeister, Regine/Maiwald, Kai-Olaf/Scheid, Claudia/Seyfarth-Konau, Elisabeth  : Geschlechterdifferenzierungen im Horizont der Gleichheit. Opladen 2003 Jürgens, Kerstin  : Arbeit und Leben, in  : Böhle/Voß/Wachtler (Hg.), Handbuch Arbeitssoziologie, 483–510 Langfeldt, Bettina  : Subjektorientierung in der Arbeits- und Industriesoziologie. Theorien, Methoden und Instrumente zur Erfassung von Arbeit und Subjektivität, Wiesbaden 2007 Oevermann, Ulrich  : Die Krise der Arbeitsgesellschaft und das Bewährungsproblem des modernen Subjekts. (Vortrag auf der Sommerakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes in St. Johann (Südtirol) am 15.09.1999), unveröffentlichtes Manuskript, o. O. 1999 Oevermann, Ulrich/Franzmann, Manuel  : Strukturelle Religiosität auf dem Weg zur religiösen Indifferenz, in  : Franzmann, Manuel/Gärtner, Christel/Köck, Nicole (Hg.)  : Religiosität in der säkularisierten Welt. Theoretische und empirische Beiträge zur Säkularisierungsdebatte in der Religionssoziologie, Wiesbaden 2006, 49–82 Scheid, Claudia/Maiwald, Kai-Olaf  : Welche Bedeutung hat der Beruf im Leben von Frauen, in  : Panorama. Berufsberatung, Berufsbildung, Arbeitsmarkt 2 (2003), 12–14 Scheid, Claudia  : Zum Verhältnis von Beruf und Familie von Beruf und Familie bei Frauen  : verleugneter Wandel, demografische Folgen, in  : Caritas Schweiz (Hg.)  : Sozialalmanach 2004. Luzern 2003, 137–149 Scheid, Claudia/Gildemeister, Regine/Maiwald, Kai-Olaf/Seyfarth-Konau, Elisabeth  :

Leistungsethik in der Transformation  : Die Bedeutung der Arbeit

163

Latente Differenzkonstruktionen  : Eine exemplarische Fallanalyse zu Geschlechterkonzeptionen in der professionellen Praxis, in  : Feministische Studien 2 (2001), 23–38 Schelsky, Helmut  : Die Bedeutung des Berufs in der modernen Gesellschaft, in  : Luckmann, Thomas/Sprondel, Walter (Hg.)  : Berufssoziologie. Köln 1972, 25–30 Voß, G. Günter  : Wertewandel. Eine Modernisierung der protestantischen Ethik  ?, in  : Zeitschrift für Personalforschung, 4. Jahrgang, 3 (1990), 263–275 Voß, G. Günter, Auf dem Wege zum Individualberuf  ? Zur Beruflichkeit des Arbeitskraftunternehmers, in Kurtz, Thomas (Hg.)  : Aspekte des Berufs in der Moderne. Opladen 2001 Voß, G. Günter  : Was ist Arbeit  ? Zum Problem eines allgemeinen Arbeitsbegriffs, in  : Böhle/ Voß/Wachtler, Günther (Hg.)  : Handbuch Arbeitssoziologie, 23–80 Weber, Max  : Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. München 2004 [1920] Wernet, Andreas  : Pädagogische Permissivität. Schulische Sozialisation jenseits der Professionalisierungsfrage, Opladen 2003

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Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber

Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration1

1. Einleitung Gegenstand dieses Beitrages sind die „kritischen“ Beziehungen zwischen BürgerInnen und liberal-repräsentativer Politik – und zwar aus der Perspektive von (befragten) BürgerInnen. Überblicksmäßig werden individuelle Meinungen und Einstellungen der Wohnbevölkerungen in den etablierten westeuropäischen Demokratien im Hinblick auf Demokratie, politisches Interesse, unkonventionelle Partizipation, Unterstützung repräsentativer Einrichtungen sowie Orientierungen zu MigrantInnen, Minderheiten und EU-Erweiterung untersucht und miteinander in Beziehung gesetzt. Vertrauen und Misstrauen, Interesse und Desinteresse, Zustimmung und Unzufriedenheit, Ablehnung und Antipathie bilden den thematischen Rahmen. Auf der Grundlage von Daten der Europäischen Wertestudien 1990, 1999 und 2008 interessieren wir uns für Veränderungen und positionieren Österreich innerhalb der westeuropäischen Demokratien. Die leitenden Fragen sind folglich folgende  : Sind die individuellen Meinungen und Einstellungen der österreichischen BürgerInnen zu Demokratie, Politik und Migration/EU ähnlich oder anders als jene in den westeuropäischen Ländern  ? In welche Richtung haben sie sich im Zeitverlauf und im Ländervergleich gewandelt  ? Belastet das geänderte Meinungsklima demokratische Prinzipien und repräsentative Institutionen und AkteurInnen  ? Trifft dies für Österreich besonders oder anders zu als für andere europäische Demokratien  ? Diese Fragen sind mit Russel J. Dalton gesprochen deshalb relevant, weil Einstellungen das demokratische Regierungssystem insofern herausfordern als signifikante, über einen längeren Zeitraum hinweg sich verfestigende Einstellungsänderungen politische Prozesse, Inhalte und Institutionen maßgeblich beeinflussen. 2 Veränderungen in Akteurs- und Parteienkonstellationen, als Folge von Einstellungswandel zu betrachten, bringen inhaltliche und prozedurale Reformen hervor bzw. verhindern diese, schlagen sich also in institutionellem und inhaltlichem Wandel nieder. 1 Dieser Aufsatz ist dem Andenken an unseren Freund und Kollegen Hermann Denz gewidmet. 2 Vgl. Dalton, Russel J.  : Democratic Challenges, Democratic Choices. The Erosion of Political Support in Advanced Industrial Democracies, Oxford 2004.

166

Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber

In der politikwissenschaftlichen Literatur wird auf der Grundlage von Umfragen (wie z. B. dem länderübergreifenden Eurobarometer, der Weltwertestudie oder dem European Social Survey) nahezu konsensual ein kontinuierlicher Rückgang von politischer Beteiligung, Interesse und Vertrauen in politische Institutionen festgestellt – BürgerInnen distanzieren sich von Politik und PolitikerInnen, sie entkoppeln sich von ihr. Gerry Stoker, Colin Hay und Colin Crouch betonen die Bedeutung der Politik für das Leben der Menschen, aber auch für die Legitimität von politischen Entscheidungen und geben primär makropolitische Erklärungen, weshalb BürgerInnen sich von der Politik abwenden (z. B. Globalisierung, Kommerzialisierung öffentlicher Leistungen).3 Untersuchungen auf der Grundlage der Europäischen Wertestudien 1999 und 2008 weisen ebenfalls Erosionsprozesse nach. Denz zeigt sich über sinkende politische Zustimmungs-, Zufriedenheits- und Vertrauenswerte alarmiert.4 Friesl et al. weisen auf das fremdenfeindliche Klima in Österreich als Wertedefizit hin.5 Politikwissenschaftliche Studien zur politischen Kultur in Österreich, vor allem zur Erosion der politischen Konsenskultur, betonen zwar ebenfalls den Rückgang der Zustimmung zu etablierten politischen AkteurInnen und Einrichtungen. Sie sehen darin aber weniger eine problematische Entwicklung als ein Abgehen von der Hyperstabilität in Richtung Normalisierung der österreichischen politischen Kultur. Plasser/Seeber argumentieren, dass die österreichischen Einstellungen zum politischen System sich zunehmend mit jenen in Europa deckten, und zwar deshalb, weil Charakteristika westeuropäischer Staaten jenen Österreichs ähnlicher geworden wären – und nicht umgekehrt.6 Die in diesem Beitrag behandelten Themenblöcke Demokratie und Politik sind konzeptionell und empirisch im Denken nationalstaatlicher politischer Räume verankert. Durch die Einbeziehung von Meinungen und Einstellungen zu Migration und EU-Erweiterung wird es analytisch aber möglich, diesen Rahmen insofern zu sprengen, als die nationalstaatliche Dimension selbst zum Thema gemacht werden kann. In diesem Sinne skizzieren wir einleitend den thematischen Bogen und nehmen einige empirische Ergebnisse vorweg  : Der zeit- und ländervergleichende Zu3 Vgl. Stoker, Gerry  : Why Politics Matters. Making Democracy Work, Basingstoke 2006  ; Crouch, Colin  : Postdemokratie. Frankfurt am Main 2008  ; Hay, Colin  : Why we hate politics. Cambridge 2007. 4 Vgl. Denz, Hermann  : Krise der Demokratie – Rückkehr der Führer  ?, in  : Denz, Hermann (Hg.)  : Die europäische Seele. Leben und Glauben in Europa, Wien 2002, 95–118. 5 Vgl. Friesl, Christian/Hofer, Thomas/Wieser, Renate  : Die Österreicher/-innen und die Politik, in  : Friesl, Christian/Polak, Regina/Hamachers-Zuba, Ursula (Hg.)  : Die Österreicher/-innen. Wertewandel 1990–2008, Wien 2009, 207–293. 6 Vgl. Plasser, Fritz/Seeber, Gilg  : The europeanization of Austrian political culture  : Austrian exceptionalism revisited, in  : Pelinka, Anton/Bischof, Günter/Plasser, Fritz  : Global Austria. New Orleans – Innsbruck 2011, im Erscheinen.

Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration

167

gang birgt für Österreich eine Reihe widersprüchlicher Entwicklungen, die erst im Versuch, die einzelnen Segmente zu differenzieren und gleichzeitig zu einem Bild zu verdichten, Erkenntnisse liefern. Österreich ist charakterisiert durch eine sehr hohe Zustimmung zu Demokratie als abstraktem Regierungsprinzip, gleichzeitig ist die Zufriedenheit mit der Qualität der Leistungen des demokratischen Systems eher bescheiden. Die Daten sprechen für eine hohe, im Vergleich zu anderen Staaten aber dennoch durchschnittliche Zustimmung zum „starken Führer“ als Alternative zur demokratischen Regierungsform  ; sie zeigen eine vergleichsweise und kontinuierlich geringe Teilnahme an elitenherausfordernden Partizipationsformen und parallel dazu ein sehr hohes deklariertes politisches Interesse. Im Gegensatz dazu ist das politische Vertrauen in repräsentative Institutionen wie Regierung, Parlament und in politische Parteien westeuropäisch gesehen äußerst niedrig. Die größte Differenz zwischen den Meinungen der österreichischen BürgerInnen und jenen in anderen westeuropäischen Demokratien liegt aber in der Antipathie gegenüber MigrantInnen und Minderheiten. Diese Spitzenwerte der Ablehnung lassen eine hohe national-ethnische Positionierung bzw. Grenzziehung erkennen. Mit anderen Worten  : Das niedrige Vertrauen in Regierung, Parlament und Parteien korrespondiert mit niedrigem Vertrauen oder Antipathie gegenüber „Anderen“. Bevor wir nun die sehr hohe, dennoch aber bröckelnde Unterstützung von Demokratie als Regierungsform sowie die Einschätzung der Performanz des politischen Systems durch die BürgerInnen erörtern, werden Daten und methodische Herangehensweise kurz beschrieben.

2. Daten und Methoden Die empirischen Beobachtungen resultieren im Wesentlichen aus Analysen der Umfragedaten aus drei Wellen der Europäischen Wertestudie (EVS 1990, 1999/2000, 2008). Wir wählen einen vergleichenden Zugang, sowohl in zeitlicher als auch Länder vergleichender Perspektive. Die post-kommunistischen Staaten können auf eine relativ kurze demokratische Periode zurückblicken, die Entwicklung ihres politischen Systems als auch die Dynamik der öffentlichen Meinung unterliegen eigenen Charakteristika. Unser Fokus liegt deshalb auf den etablierten europäischen Demokratien, die wir im Folgenden kurz als Westeuropa (WE) bezeichnen. Daten liegen nicht für alle Länder dieser Staatengruppe für alle drei Erhebungsperioden vor – insbesondere bleibt die Schweiz in unserer Studie ausgeklammert, weil sie nicht an den Wellen 1990 und 1999/2000 des EVS teilgenommen hatte. Die nachfolgende Tabelle listet die inkludierten Staaten auf.

168 Land

Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber 1990

1999/2000

2008

Österreich (AT)

x

x

x

Frankreich (FR)

x

x

x

Deutschland (DE)

x

x

x

Dänemark (DK)

x

x

x

Schweden (SE)

x

x

x

Finnland (FI)

x

x

x

Belgien (BE)

x

x

x

x

x

Griechenland (GR) Großbritannien (GB, ohne Nordirland)

x

x

x

Irland (IE)

x

x

x

Italien (IT)

x

x

x

x

x

x

x

Luxemburg (LU) Niederlande (NL)

x

Norwegen (NO)

x

Portugal (PT)

x

x

x

Spanien (ES)

x

x

x

x

Tabelle 7  : Analysierte Länder.

Um Österreich im westeuropäischen Kontext zu analysieren, bilden wir aus den Individualdaten der EVS aggregierte Indikatoren auf der Ebene der Länder bzw. der gesamten Staatengruppe.7 Diese Indikatoren errechnen sich aus Variablen der EVS-Datensätze aus Anteils- bzw. Durchschnittswerten oder werden aus mehreren Variablen konstruiert. Beispiele für zusammengesetzte Indizes finden sich mit den Vertrauensindizes in Abschnitt 5 und den Antipathie-Indizes in Abschnitt 6. Für alle an der EVS teilnehmenden Staaten ist die Grundgesamtheit die erwachsene Wohnbevölkerung ab 18 Jahren, die in privaten Haushalten lebt – und zwar unabhängig von der Staatsbürgerschaft und der Herkunft.

3. Erodierende Unterstützung für Demokratie

Nach der Unterstützung für Demokratie durch die BürgerInnen in den westeuropäischen fortgeschrittenen Demokratien zu suchen, klingt fürs erste nach einer tautologischen Aufgabe. Die Frage ist aber relevant, weil analytisch mehrere Dimensionen zu unterscheiden sind, nämlich die Zustimmung zur Demokratie als prinzipieller 7 Indikatoren auf der Ebene der gesamten Staatengruppe berücksichtigen durch Gewichtung nach der Größe der Wohnbevölkerung die unterschiedlichen Bevölkerungszahlen der Länder.

Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration

169

Regierungsform von der Bewertung der Funktionalität und Leistung des jeweils eigenen demokratischen Systems. Menschen können eine hohe Zustimmung zu Demokratie bekunden, gleichzeitig mit der Performanz „ihres“ liberaldemokratischen Regierungssystems aber unzufrieden sein.8 Die Zustimmung zur Demokratie als bester Regierungsform ist im Ländercluster „Westeuropäische Demokratien“ sehr hoch – 2008 lag die niedrigste Zustimmungsrate in Irland bei 84 %, in Dänemark war sie mit 99 % am höchsten. Die Dynamiken zwischen 1999 und 2008 sind relativ gering, es ist lediglich eine leicht abnehmende Tendenz zu erkennen. Die Werte für Österreich lagen sowohl 1999 als auch 2008 über dem Durchschnitt der westeuropäischen Demokratien. Diese europaweit hohen Zustimmungswerte zu Demokratie als (bester) Regierungsform entsprechen wohl am ehesten dem, was in der wissenschaftlichen Wertediskussion als „leerer Bedeutungsgeber“ beschrieben wird. Demokratie bedeutet einen Wert bzw. wird als Wert kommuniziert, ohne dass dieser inhaltlich bestimmt werden würde bzw. könnte.9 Von der Zustimmung zur Demokratie als abstrakter Idee, in gewisser Weise als „Wert an sich“, ist analytisch die Zufriedenheit mit den Leistungen des jeweiligen demokratischen Systems zu unterscheiden. Diese Bewertung fällt im Zeitverlauf und über alle Länder hinweg bescheidener aus. Es besteht eine beträchtliche Kluft zwischen Zustimmung und Zufriedenheit. Im Jahre 2008 war die Zufriedenheit in Italien und Großbritannien vergleichsweise besonders niedrig, in Dänemark und Luxemburg hingegen besonders hoch. In vielen Ländern – mit Ausnahme Belgiens, Schwedens, Dänemarks – ging die Zufriedenheit mit Demokratie zwischen 1999 und 2008 zurück  ; in Österreich sogar besonders stark, nämlich um 24 Prozentpunkte. Die BürgerInnen der skandinavischen Länder (Dänemark, Norwegen, Schweden) und von Luxemburg zeigen die höchste Zufriedenheit mit ihrem demokratischen System. In den ehemaligen Militärdiktaturen Spanien, Portugal und Griechenland wiederum sind die Zufriedenheitsraten besonders stark zurück gegangen. Italien war sowohl 1999 als auch 2008 das Land mit der niedrigsten Zufriedenheit. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die „Zufriedenheit wie die Demokratie funktioniert“ nicht nur niedriger ist als die Zustimmung zur Demokratie als Regierungsform, sondern dass die Unzufriedenheit auch stärker angestiegen ist als der Rückgang der Unterstützung. Alleine diese Entwicklung ist aber noch nicht als In8 Vgl. Klingemann, Hans-Dieter  : Mapping Political Support in the 1990s  : A Global Analysis, in  : Norris, Pippa (ed.)  : Critical Citizens. Global Support for Democratic Governance, Oxford 1999, 31–56, 37. 9 Vgl. Mouffe, Chantal  : Deconstruction and Pragmatism  : Simon Critchley, Jacques Derrida, Ernesto Laclau & Richard Rorty. London 1996.

170

Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber

dikator für ein defizitäres Demokratieverständnis der BürgerInnen zu interpretieren. Die Antworten können vielmehr auch ausdrücken, dass (1) die Leistungen des demokratischen Systems gesunken sind (z. B. infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise), dass (2) die Erwartungen der BürgerInnen an Demokratie gestiegen sind oder dass sich (3) die persönliche Situation verschlechtert hat. Es kann sich also auch um Erfahrungen mit möglicherweise mangelnder Responsivität des Systems handeln, ohne dass dies eine kritische, ablehnende Haltung gegenüber den Prinzipien, Prozessen und Einrichtungen demokratischer Systeme zum Ausdruck brächte.10

Land

Zufriedenheit mit der Entwicklung der Demokratie

Zustimmung zur Demokratie als ­politischem System

1999

2008

1999

2008

Österreich

77

53

96

92

Frankreich

49

39

89

91

Deutschland

75

65

95

91

Dänemark

67

76

98

99

Schweden

60

70

89

92

Finnland

57

54

87

97

Belgien

49

61

89

92

Griechenland

55

43

98

97

Großbritannien

54

32

88

87

Irland

64

64

90

84

Italien

36

32

97

97

Luxemburg

83

75

92

91

Niederlande

74

56

96

Norwegen

71

92 96

Portugal

77

42

91

92

Spanien

60

58

94

96

Westeuropa

58

49

93

93

Tabelle 8  : Zufriedenheit mit und Zustimmung zur Demokratie. Spalten 2 und 3  : Zufriedenheit mit der Art und Weise, wie die Demokratie in (Land) funktioniert. Angegeben ist der Prozentsatz der RespondentInnen, die mit „sehr zufrieden“ oder „ziemlich zufrieden“ antworteten. Spalten 4 und 5  : Zustimmung zu einem demokratischen politischen System für (Land). Angegeben ist der Prozentsatz der RespondentInnen, die das Statement „Man sollte ein demokratisches politisches System haben“ „sehr gut“ oder „ziemlich gut“ beurteilten. Quelle  : EVS 1999 und 2008.

10 Vgl. Denters, Bas/Gabriel, Oscar/Torcal, Mario  : Political Confidence in representative Demo­ cracies, in  : van Deth, Jan/Montero, José Ramón/Westholm, Anders (Hg.)  : Citizenship and Involvement in European Democracies. A Comparative Analysis, London 2007, 66–87, 71.

Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration

171

Neben der Zustimmung zur Demokratie als „Wert an sich“ und den Nennungen, die die Zufriedenheit mit dem jeweils eigenen (nationalen) politischen System zum Ausdruck bringen, ist schließlich für die Beantwortung der Frage demokratischer Einstellungen auch die Sympathie für alternative Regierungsformen sowie die Bewertung der Leistungsfähigkeit von Demokratie relevant. Die Zustimmungswerte zum Item „starker Führer, der sich nicht um Parlament und um Wahlen kümmern muss“ haben bereits in der Europäischen Wertestudie 1999/2000 in so ferne beunruhigt, als Hermann Denz vom Wunsch nach der „Rückkehr der Führer“ in Europa geschrieben hatte.11 Die Zustimmung zu dieser, zentrale demokratische Prinzipien verletzenden Regierungsform ist in Westeuropa seither nahezu unverändert hoch geblieben. Lediglich Österreich hat 2008 im Vergleich zu 1999 zugelegt, d.h. es hat sich dem westeuropäischen Durchschnitt angenähert (siehe Grafik 15). Griechenland und Dänemark zeigen die niedrigste Zustimmung, Portugal hingegen die höchste. Wie Russel J. Dalton betont, schlagen sich Einstellungen der BürgerInnen im politisch-administrativen System nieder, umgekehrt resultieren Einstellungen aus Veränderungen im Regierungs- und Parteiensystem.12 Um die westeuropaweit auffällig hohe Zustimmung zum Item „starker Führer“ erklären zu können, wäre folglich auch auf Makrovariablen zurückzugreifen – was aber den Umfang dieses Beitrages sprengen würde. Weiters sind historisch geprägte diskursive Bedeutungen des Begriffes „Führer“ zu berücksichtigen. Um kontextuelle Begriffsbedeutungen in den Blick zu bekommen, sind hier die Zustimmungswerte in Deutschland und in Österreich aufschlussreich  : 1999 noch etwa gleich hoch, sind diese 2008 in beiden Ländern gestiegen – in Österreich allerdings stärker als in Deutschland. Neben dem häufig zitierten Item „starker Führer“ geben die Antworten auf die Fragen „in Demokratien funktioniert die Wirtschaft schlecht“, „Demokratien sind entscheidungsschwach, und es gibt zuviel Zank und Streit“ sowie „Demokratien sind nicht gut, um Ordnung zu halten“ ein etwas vollständigeres Bild zugeschriebener Leistungsfähigkeit demokratischer Systeme. In Österreich wird die Demokratie als viel effizienter für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung eingeschätzt als im westeuropäischen Durchschnitt. Ebenso wird viel eher angenommen, dass Demokratie und Wirtschaft harmonieren. Seit 1999 vertreten in Österreich Frauen häufiger als Männer die Meinung, Demokratie sei von Entscheidungsschwäche gekennzeichnet. Als Resümee ist festzuhalten, dass die Zustimmung auch zu konkreten Leistungen und Leistungserwartungen von Demokratie in Österreich höher ist als im west11 Denz, Krise der Demokratie – Rückkehr der Führer  ?, 105. 12 Vgl. Dalton, Democratic Challenges, Democratic Choices.

172

Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber

Einstellung zur Demokratie in Österreich und Westeuropa im Vergleich

Österreich

Wunsch nach starkem Führer Westeuropa

Österreich

Schlechtes Funktionieren der Wirtschaft

Westeuropa

Österreich

Entscheidungsschwäche Westeuropa

Österreich

Nicht gut für Aufrechterhaltung der Ordnung

Westeuropa

%

10

20

30

40

50

60

Änderung der Zustimmung zwischen 1999 und 2008 Frauen

Männer

Westeuropa (Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Portugal, Schweden, Spanien)

Grafik 15  : Änderungen der Einstellungen zur Demokratie zwischen 1999 und 2008, Österreich und Westeuropa im Vergleich. Angegeben ist der Prozentsatz der RespondentInnen, die ein politisches System mit einem „starken Führer, der sich nicht um ein Parlament und um Wahlen kümmern muss“ sehr gut oder ziemlich gut finden bzw. folgenden Aussagen (voll und ganz) zustimmen  : „In Demokratien funktioniert die Wirtschaft schlecht“, „Demokratien sind entscheidungsschwach und es gibt viel Zank und Streit“ und „Demokratien sind nicht gut, um die Ordnung aufrecht zu erhalten“. Quelle  : EVS 1999 und 2008.

europäischen Durchschnitt. Gleichzeitig sind aber markante Veränderungen zwischen 1999 und 2008 in Österreich zu beobachten und schließlich ist die Skepsis gegenüber der demokratischen Performanz bei Frauen höher als bei Männern. Die generelle Haltung zur Demokratie scheint also normativ gesehen vergleichsweise unproblematisch zu sein. Wie aber sind die Befunde bezüglich politischem Interesse und Partizipation  ?

Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration

173

4. Hohes politisches Interesse und niedrige Partizipation Politik ist bei weitem nicht das Wichtigste im Leben, so ein wenig überraschendes Ergebnis  : Etwa jeder zehnte Mann und etwa jede elfte Frau in Westeuropa finden, dass Politik im Leben sehr wichtig wäre – bei leicht steigender Tendenz seit 1990. Die Daten der EVS weisen für Österreich ein überdurchschnittlich hohes Interesse an Politik aus, Österreich erreicht hier geradezu Höchstwerte. 1990 lag Österreich hinter Deutschland an zweiter Stelle hinsichtlich „Politik interessiert mich sehr“, 1999 an erster Stelle, 2008 wiederum an zweiter Stelle (hinter Deutschland). Dänemark, ansonsten Spitzenreiter bei Werten, die eine hohe Zustimmung und Zufriedenheit mit Demokratie messen, liegt hinter Deutschland und Österreich an dritter Stelle. Zu erwähnen ist, dass auch in anderen Studien, etwa auf der Grundlage des European Social Survey, ein ähnlich intensives politisches Interesse identifiziert ­wurde.13 Das vergleichsweise hohe politische Interesse ist sowohl in Österreich als auch in Westeuropa geschlechtsspezifisch strukturiert. Der Anteil der Frauen, die angaben, sich nicht für Politik zu interessieren oder nie über Politik zu reden, ist höher als der Anteil der Männer, der selbiges über sich behauptet. Das Ausmaß des Redens über Politik ist über den Zeitverlauf in Westeuropa nahezu konstant geblieben. Ähnliches gilt für das politische Interesse, das im Zeitverlauf lediglich leicht angestiegen ist. Österreich ist in dieser Hinsicht etwas anders aufgestellt  : 1999 ist ein weiterer Anstieg des Interesses zu beobachten – hier aber nur bei Männern, nicht bei Frauen. Das Interesse der Frauen an Politik bleibt eher konstant, jenes der Männer nimmt zu – auch im Vergleich zu den westeuropäischen Ländern. 1990

1999

2008

Interesse an Politik

Geschlecht

AT

WE

AT

WE

AT

WE

Interessiert mich sehr

Männer

21

18

29

15

28

18

Frauen

12

9

13

7

13

10

Interessiert mich etwas

Männer

43

37

46

36

39

38

Frauen

33

30

46

28

40

33

Interessiert mich kaum oder gar nicht

Männer

36

45

25

49

32

44

Frauen

55

61

40

65

40

51

Tabelle 9  : Interesse an Politik – Vergleich Österreich (AT) zu Westeuropa (WE), Angaben in %. Quelle  : EVS 1990– 2008

13 Vgl. Plasser/Seeber, The europeanization of Austrian political culture.

174

Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber

Reden über ­Politik

Geschlecht

AT

WE

AT

WE

AT

WE

Öfter

Männer

23

20

25

18

21

20

Frauen

15

14

15

12

14

13

Männer

53

56

54

56

65

57

Frauen

48

48

55

49

60

53

Männer

24

24

21

26

14

23

Frauen

37

39

30

39

25

34

Gelegentlich

Nie

1990

1999

2008

Tabelle 10  : Wenn Sie mit Freunden zusammen sind  : Sprechen Sie dann über Politik  ? – Vergleich Österreich (AT) zu Westeuropa (WE), Angaben in %. Quelle  : EVS 1990–2008.

Das konstant hohe politische Interesse legt die Annahme nahe, dass aktuelle Ereignisse einen Effekt auf das Ausmaß des politischen Interesses generieren. Politisches Interesse ist nicht nur als Konstante, als dauerhafter Ausdruck von Sozialisation oder politischer Kultur zu sehen, sondern situationsspezifisch, von Ereignissen abhängig. So hatte Deutschland im Jahre 1990, im Jahr der Vereinigung zwischen Ost und West, den Spitzenwert von 27 %, der WE-Durchschnitt lag bei 12,3 % (und ging zu den folgenden Erhebungszeitpunkten wieder zurück). Für Österreich ist zu berücksichtigen, dass während aller drei EVS-Erhebungszeiträume Nationalratswahlkämpfe geführt wurden, es also eine Zeit politischer Mobilisierung und Profilierung war. Dieser Umstand könnte eine Erklärung für das vergleichsweise sehr ausgeprägte politische Interesse sein. So hatten beispielsweise 1990 jene drei Länder, die parallel zur Erhebung der EVS einen Wahlkampf führten (Österreich, Deutschland, Dänemark) gleichzeitig die höchsten „sehr-an-Politikinteressiert“-Werte. In Wahlkampfphasen steigt das politische Interesse, es wird häufiger über Politik geredet, in Österreich gekoppelt mit einem eindeutigen gender gap  : Das steigende Interesse lässt sich für Männer, aber nicht für Frauen beobachten. Wie ist die wachsende Geschlechterdifferenz im Jahre 1999 zu erklären  ? Vor dem Hintergrund des Ergebnisses der Nationalratswahl, die der FPÖ den hohen Stimmenanteil von 27 % brachte und ein eindeutig geschlechtsspezifisches Wahlverhalten zeigte,14 wäre in zukünftigen Studien folgender These nachzugehen  : Im Wahlkampf 1999 gelang es vor allem der FPÖ, Männer zu mobilisieren, sie politisch zu interessieren – was nicht nur den gender gap im Wahlverhalten, sondern auch jenen im politischen Interesse erklären könnte. 14 Vgl. Plasser, Fritz/Seeber, Gilg/Ulram, Peter A.  : Breaking the mold  : Politische Wettbewerbsräume und Wahlverhalten Ende der neunziger Jahre, in  : Plasser, Fritz/Ulram, Peter A./Sommer, Franz (Hg.)  : Das österreichische Wahlverhalten, Wien 2000, 55–115.

Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration

175

Wir gehen nun der Frage nach, ob sich das höhere politische Interesse auch in Partizipationsformen bzw. -bereitschaft niederschlägt. Um die Antwort vorwegzunehmen  : In Österreich koexistieren hohes politisches Interesse und niedrige eliten­ he­rausfordernde Partizipationsfreudigkeit.15 Wie also ist die Einstellung und Bereitschaft zu diesen legitimen bis illegitimen Partizipationsinstrumenten  ? Der erste Befund lautet, dass die Inanspruchnahme bzw. Bereitschaft, elitenherausfordernde Instrumente zu nutzen, in Österreich stets weniger ausgeprägt ist als im westeuropäischen Durchschnitt. Auffällig ist die vergleichsweise besonders niedrige Beteiligung bei genehmigten Demonstrationen, der hingegen in Frankreich ein hoher Stellenwert zukommt. Zweitens war abermals 1999 ein besonderer Zeitpunkt  : Elitenherausfordernde Instrumente sind 1999 häufiger als 1990, aber auch häufiger als 2008 genannt worden. Schließlich sind drittens erhebliche Geschlechterunterschiede festzustellen  : Im Zeitverlauf nimmt die Teilnahme der Männer an elitenherausfordernden politischen Aktionen mehr zu als jene der Frauen, die Partizipationskluft vergrößert sich. 1990

1999

2008

Partizipationsform

Geschlecht

AT

WE

AT

WE

AT

WE

Unterschriftensammlung

Männer

46

56

58

58

51

56

Frauen

47

51

55

57

47

56

Männer

 6

13

13

14

12

14

Frauen

 4

 8

 7

11

 7

10

Männer

11

31

22

33

19

33

Frauen

10

20

12

25

14

27

Männer

 1

 8

 3

 9

 5

 9

Frauen

 1

 4

 1

 5

 3

 5

Männer

 1

 5

 1

 6

 2

 6

Frauen

 1

 3

 1

 4

 3

 3

Boykott

Genehmigte Demonstration

Nicht genehmigter Streik

Gebäude oder Fabriken besetzen

Tabelle 11  : Beteiligung an politischen Aktionen – Vergleich Österreich (AT) zu Westeuropa (WE), Angaben in %. Quelle  : EVS 1990–2008.

Als Kontrast zu elitenherausfordernden Partizipationsformen sei ein Blick auf die Entwicklung der Wahlbeteiligung geworfen. Diese sinkt bei Nationalratswahlen – allerdings geschieht dies auf hohem Niveau (1990  : 86 %, 1999  : 80 % 2008  : 79 %)  ; sie 15 In der EVS wird lediglich nach Partizipationsformen wie Demonstrieren, Boykottieren, Streiken und Besetzen gefragt, nicht nach Wählen oder direkt-demokratischen Initiativen.

176

Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber

ist traditionell wie aktuell höher als in zahlreichen anderen westeuropäischen etablierten Demokratien. Die zum nächsten Kapitel überleitende Frage ist nun, ob die hohe Wahlbeteiligung auch mit hohem Vertrauen in bzw. Unterstützung für zentrale Akteure und Institutionen des demokratisch-politischen Systems einhergeht.

5. Politisches Vertrauen am Tiefpunkt  ?

Politisches Vertrauen bezieht sich auf die Meinungen und Einstellungen der Bevölkerung zu zentralen Institutionen und Akteuren des politisch-administrativen Systems. In diese Größe gehen aber nicht nur Wertorientierungen und Identifikationen ein  ; die konkreten Antworten der Befragten lassen auch auf die Bewertung der Leistungen dieser Institutionen schließen. Neben der Regierungsperformanz spielen auch Sympathie für die aktuelle Regierung oder eigene politische Erwartungen eine Rolle.16 Dalton17 und Denters et al.18 analysieren verschiedene Ebenen von Vertrauen und unterscheiden nach Akteuren der repräsentativen Demokratie (Parteien, PolitikerInnen), Institutionen der liberalen Demokratie (Parlament und Regierung) und Institutionen des Rechtsstaats (Gerichte, Medien, Polizei). Wir schließen uns dieser Systematisierung an, erweitern sie aber vor dem Hintergrund der spezifischen Datenlage der EVS und differenzieren folglich zwischen Vertrauen zu Akteuren, repräsentativen Institutionen, Verwaltung und Justiz sowie Einrichtungen des Sozialsystems (Sozialversicherung und Gesundheitsvorsorge). Für diese vier Bereiche entwickeln wir einen institutionellen Vertrauensindex mit der Eigenschaft, dass dieser den maximalen Wert 1 annimmt, wenn der/die RespondentIn in alle Institutionen des Bereiches sehr viel Vertrauen hat, und den minimalen Wert 0, wenn er/sie überhaupt kein Vertrauen in auch nur eine der Institutionen hat. Der Vertrauensindex eines Landes wird definiert als der Mittelwert der Vertrauensindizes aller RespondentInnen in diesem Land. Die so gebildeten vier Vertrauensindizes für das Jahr 2008 zeigen (vgl. Grafik 16), dass die österreichische Bevölkerung die einzelnen Segmente sehr unterschiedlich schätzt. Im Vergleich mit den etablierten westeuropäischen Demokratien erfährt in Österreich kein einziger Bereich hohes Vertrauen, die Werte liegen stets niedrig bzw. im Durchschnitt. Das Vertrauen in die repräsentativen Einrichtungen Parlament und Regierung ist besonders niedrig, lediglich Griechenland und Großbritan16 Vgl. Denters/Gabriel/Torcal, Political Confidence in representative Democracies, 70. 17 Vgl. Dalton, Democratic Challenges, Democratic Choices. 18 Vgl. Denters/Gabriel/Torcal, Political Confidence in representative Democracies.

Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration

177

nien weisen noch geringere Werte auf. Die politischen Parteien genießen besonders wenig Vertrauen, die Presse bedeutend höheres. Hinsichtlich der Institutionen, die öffentliche Leistungen anbieten, variieren die Werte ebenfalls stark. Die Einrichtungen der sozialen Sicherheit liegen in Österreich im Jahre 2008 im westeuropäischen Mittelfeld – ihnen wird also im Vergleich zu anderen Institutionen größeres Vertrauen entgegengebracht. Deren Werte sind aber im Zeitvergleich ebenfalls zurück gegangen, das Vertrauen in diese Einrichtungen schwindet also auch. Besonders verminderte sich 2008 das Vertrauen in das Bildungssystem, sowohl im Vergleich zu früheren Erhebungszeiträumen als auch im Vergleich zu Westeuropa insgesamt. Dieser Vertrauensverlust ist bei Frauen stärker als bei Männern. Das Vertrauen in Verwaltung und Justiz hingegen erfährt die größte Stabilität im Zeitverlauf und eine kontinuierliche Platzierung im europäischen Mittelfeld. Der Rückgang des Vertrauens in repräsentative Institutionen ist kontinuierlich, obwohl es einige exzeptionelle Punkte gibt, wie etwa 1999, als bei Männern das Vertrauen in das Parlament wieder stieg. Insgesamt aber lassen diese Daten eine Vertrauenskrise in gewählte AkteurInnen und Einrichtungen (Parteien, Parlament und Regierung) in Österreich behaupten. Auch wenn berücksichtigt wird, dass sich diese Einrichtungen dem Wettbewerb durch eine Wahl zu stellen haben (und alle Erhebungszeiträume Wahlkampfzeitpunkte umfassten), sind die österreichischen Ergebnisse doch gravierend zu interpretieren. Bedeuten niedrige Vertrauenswerte für Regierungen auch gleichzeitig einen Rückgang an Vertrauen in grundlegende Institutionen und Prozeduren von Demokratien und sollen folglich Anlass zur Besorgnis geben  ? Die wissenschaftlichen Befunde sind nicht eindeutig, manche meinen ja, andere nein.19 Niedrige Vertrauenswerte für eine Regierung sind für die aktuellen Regierungsparteien zweifellos ernst, sie deuten auf den Wunsch nach Regierungswechsel hin. Sie sind aber bezogen auf die österreichische Situation per se noch kein Indikator für Instabilität, u.a. deshalb nicht, weil parallel dazu ein starkes prinzipielles Bekenntnis zur Demokratie besteht und sich die Zustimmung zum „starken Führer, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss“ in Grenzen hält. Das niedrige Vertrauen in Regierung und Parlament scheint eine mäßige Beurteilung der Regierungsperformanz widerzuspiegeln und weniger Misstrauen gegenüber einer demokratisch gewählten Regierung und deren Mitgliedern an sich. 19 Vgl. Marien, Sofie/Hooghe, Marc  : Does political trust matter  ? An empirical investigation into the relation between political trust and support for law compliance, in  : European Journal of Political Research 50 (2011), 267–291.

178

Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber

Institutionelles Vertrauen in … Sozialsystem

Verwaltung & Justiz

LU

DK

BE

FI

ES

NO

FR

LU

DK

SE

NO

FR

AT

IE

GB

AT

NL

BE

FI

GB

SE

PT

IT

NL

PT

DE

IE

ES

DE

IT

GR

GR

0.2

0.3

0.4

0.5

0.6

0.2

Akteure

0.3

0.4

0.5

0.6

Repräsentative Institutionen

DK

LU

NO

DK

LU

NO

IE

SE

NL

NL

PT

IE

BE

ES

SE

FI

FI

FR

ES

BE

FR

DE

AT

PT

DE

IT

IT

AT

GB

GR

GR

GB

0.2

0.3

0.4

0.5

0.6

0.2

0.3

0.4

0.5

0.6

Vertrauensindex 2008 AT BE DE DK

Österreich Belgien Deutschland Dänemark

ES FI FR GB

Spanien Finnland Frankreich Großbritannien

GR IE IT LU

Griechenland Irland Italien Luxemburg

NL NO PT SE

Niederlande Norwegen Portugal Schweden

Grafik 16  : Institutionenvertrauen. Die Indizes fassen das Vertrauen in politische Akteure (politische Parteien, Gewerkschaften und Presse), repräsentative Institutionen (Parlament und Regierung), Verwaltung und Justiz (Verwaltung, Justiz und Polizei) und das Sozialsystem (Gesundheitswesen und das System der Sozialversicherung) zusammen und nehmen Werte zwischen 0 (kein Vertrauen) und 1 (volles Vertrauen) an. Angeführt sind länderspezifische Mittelwerte. Quelle  : EVS 2008.

Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration

Viel Vertrauen in

Geschlecht

179

1990

1999

2008

AT

WE

AT

WE

AT

WE

Akteure Gewerkschaften Presse und Zeitungswesen

Männer

37

35

32

34

30

37

Frauen

33

34

31

34

28

38

Männer

17

34

32

35

37

33

Frauen

18

34

32

36

34

33

Männer

42

45

46

40

32

39

Frauen

40

44

36

38

29

41

Repräsentative Institutionen Parlament Verwaltung und Justiz Verwaltung

Rechtssystem

Polizei

Männer

41

38

45

41

42

44

Frauen

41

40

40

41

41

46

Männer

59

50

71

47

68

51

Frauen

58

54

68

50

61

53

Männer

66

65

74

65

66

70

Frauen

68

69

77

69

71

75

Männer

66

53

66

50

56

56

Frauen

67

54

67

50

57

55

Männer

65

55

85

66

49

65

Frauen

65

59

88

67

55

66

Sozialsystem Soziale Sicherheit

Bildungssystem

Tabelle 12  : Institutionenvertrauen – Vergleich Österreich (AT) zu Westeuropa (WE). Angegeben ist der Prozentsatz der RespondentInnen, die in die Institution sehr viel oder ziemlich viel Vertrauen haben. Quelle  : EVS 1990–2008.

6. ÖsterreicherInnen am liebsten unter sich  ?

Die Welt im 21. Jahrhundert ist globalisiert, Staaten und Gesellschaften miteinander verknüpft, der europäische Integrationsprozess weit fortgeschritten, die Bevölkerungen ethnisch, national und religiös pluralisiert (in Österreich haben etwa 16 % sog. Migrationshintergrund20). Entgegen dieser Realitäten scheinen die Einstellungen der österreichischen Wohnbevölkerung weder in der Welt noch in Europa angekommen zu sein, dominiert das Nationale und Ethnische über trans- oder internationale Gegebenheiten.21 20 Österreichischer Integrationsfonds   : Migration & Integration. Zahlen, Daten, Fakten 2009, Wien 2009. 21 Vgl. Friesl/Hofer/Wieser, Die Österreicher/-innen und die Politik  ; Ulram, Peter A.  : Integra-

180

Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber

Vor diesem Hintergrund werden nun Antworten in der EVS 2008 auf Items wie „Zugehörigkeit zu Europa“, „Angst vor EU-Erweiterung“, „Wichtigkeit im Lande geboren zu sein“ sowie „Unerwünschtheit von migrantischen Nachbarn“ herangezogen, um den Stellenwert national-ethnisch komponierter Einstellungen zu erfassen. Der vergleichende Blick auf die westeuropäischen Länder bringt folgende Dynamiken und Zusammenhänge an die Oberfläche  : (1) Je prononcierter Menschen der Meinung sind, dass die Geburt im jeweiligen Land wichtig ist, desto weniger sehen sie sich als EuropäerInnen  ; (2) je höher der Wert des Antipathie-Index „Migration“22 eines Landes ist (d.h. je höher die Antipathie gegenüber MigrantInnen ist), desto größer ist die Angst vor einer weiteren EU-Erweiterung  ; (3) je höher der Wert dieses Index ist, desto größer ist die Zustimmung der RespondentInnen zur Wichtigkeit der Geburt im jeweiligen Land (siehe Tabelle 13). Die österreichischen RespondentInnen geben sich ängstlich – in Österreich fürchten sich vergleichsweise sehr viele vor einer weiteren EU-Erweiterung. Sie zeigen aber auch die höchste Antipathie gegenüber MigrantInnen (gemessen an der Frage nach den unerwünschten Nachbarn) und sie halten die Aussage, „die Geburt im Lande ist wichtig, um österreichisch zu sein“ für vergleichsweise wichtig. Dieses Einstellungsbündel verweist auf eine nationale und ethnische Selbstbezogenheit, die die mentalen wie territorialen Grenzen auch politisch eng ziehen lässt. Die ÖsterreicherInnen wollen also eher keine neuen Mitglieder in der Europäischen Union, für sie ist die Geburt im Lande ziemlich wichtig. Wie aber steht es mit dem Wunsch nach Nähe zu direkten Nachbarn, sozusagen gleich nebenan  ? Ablehnung, Antipathie, Distanzierung und Vorurteile gegenüber politischen, gesellschaftlichen, sozialen, ethnischen oder religiösen Gruppen werden in der EVS u.a. mit der Frage nach unerwünschten Nachbarn erhoben (Frage  : „Auf dieser Liste steht eine Reihe ganz verschiedener Personengruppen. Könnten Sie einmal alle heraussuchen, die Sie nicht gerne als Nachbarn hätten  ?“). Im Folgenden haben wir die gelisteten Personengruppen in insgesamt vier Cluster zusammen gefasst und Antipathie-Indizes konstruiert  : (1) Die Gruppe „MigrantInnen“ umfasst Menschen anderer Hautfarbe, Muslime und Zuwanderer/Gastarbeiter  ; (2) „Minoritäten“ umfassen MigrantInnen, Juden und Romani  ; (3) zu „Randgruppen“ zählen Leute, die oft betrunken sind, psychisch instabile Personen, AIDS-Kranke und Drogenabhängige  ; Gruppe (4) gehören Links- und Rechtsextremisten an.

tion in Österreich. Einstellungen, Orientierungen, und Erfahrungen von MigrantInnen und Angehörigen der Mehrheitsbevölkerung, Wien 2009. 22 Der Antipathie-Index „Migration“ wird weiter unten detailliert beschrieben.

Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration

Land Österreich

181

Zugehörigkeit zu Europa

Zugehörigkeit nur zum eige­ nen Land

Angst vor EUErweiterung

Geburt in Land X wichtig

AntipathieIndex Migran­ tInnen

17 (10)

81 (7)

51 (3)

73 (6)

0,232 (1)

Italien

18 (11)

75 (13)

36 (10)

76 (2)

0,171 (2)

Finnland

24 (15)

74 (14)

52 (2)

64 (8)

0,155 (3)

Niederlande

20 (13)

79 (10)

29 (14)

47 (13)

0,148 (4)

Griechenland

14 (7)

84 (6)

41 (8)

75 (3)

0,141 (5)

46 (16)

52 (16)

42 (7)

40 (16)

0,139 (6)

7 (2)

90 (1)

49 (4)

87 (1)

0,132 (7)

Deutschland

14 (6)

75 (12)

43 (6)

57 (9)

0,128 (8)

Portugal

12 (4)

87 (4)

23 (16)

74 (4)

0,114 (9)

9 (3)

88 (3)

52 (1)

73 (7)

0,110 (10)

16 (9)

70 (15)

33 (11)

49 (11)

0,092 (11)

21 (14)

78 (11)

37 (9)

47 (12)

0,087 (12)

Luxemburg Irland

Großbritannien Schweden Belgien Norwegen Spanien

12 (5)

88 (2)

30 (12)

53 (10)

0,080 (13)

7 (1)

86 (5)

24 (15)

74 (5)

0,069 (14)

Dänemark

16 (8)

81 (8)

30 (13)

45 (15)

0,069 (15)

Frankreich

19 (12)

80 (9)

44 (5)

47 (14)

0,051 (16)

Tabelle 13  : Zugehörigkeiten. Die Zugehörigkeit zu Europa ist der Prozentsatz jener RespondentInnen, die auf die Frage „Welcher dieser geographischen Gruppen … fühlen Sie sich vor allem zugehörig  ? (dem Stadtteil/Ort, in dem ich wohne  ; der Gegend, in der ich lebe  ; [Land]  ; Europa  ; der ganzen Welt)“ Europa an erster oder zweiter Stelle nannten. Die Zugehörigkeit nur zum eigenen Land ist der Prozentsatz jener, die Stadtteil/Ort, Gegend oder [Land], nicht aber Europa anführten. Angst vor der EU-Erweiterung ist der Prozentsatz der Befragten, die meinen, die Erweiterung der EU wäre zu weit gegangen. Geburt in Land X wichtig ist der Prozentsatz der Personen, die es für wichtig erachten, im Land geboren zu sein, um wirklich österreichisch, … zu sein. Der Antipathie-Index ist eine Zahl zwischen 0 und 1, die aus dem Anteil jener berechnet wird, für die migrantische Gruppen als Nachbarn unerwünscht sind. Die Länder sind nach dem Antipathie-Index gereiht, die Klammerausdrücke geben den jeweiligen Rang des Landes im Hinblick auf nationale und ethnische Selbstbezogenheit an. Quelle  : EVS 2008.

Jeder Antipathie-Index wird berechnet aus der Zahl der Nennungen von als Nachbarn unerwünschten Personengruppen eines Clusters durch eine/einen RespondentIn. Der maximale Wert des Index ist 1, wenn alle Personengruppen im Cluster genannt wurden, er ist 0, wenn keine Personengruppe angeführt wurde. Der Antipathie-Index eines Landes errechnet sich als der Mittelwert des entsprechenden Antipathie-Index der RespondentInnen in dem Land. Die vier Antipathie-Indizes 2008 zeigen für Westeuropa folgende Ergebnisse  : Die am stärksten abgelehnte Gruppe sind die in diesem Beitrag als Randgruppen bezeichneten Menschen, gefolgt von „Links- und Rechtsextremen“  ; „Minoritäten“ werden stärker abgelehnt bzw. zu ihnen will man eher Distanz halten als gegenüber „MigrantInnen“. Wir ziehen aus diesen Resultaten die Schlussfolgerung, dass jene Gruppe, die in vielen Ländern eine starke politisierende Parteien- und Medien-

182

Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber

wahrnehmung erfährt, nämlich die MigrantInnen, keineswegs die unerwünschtesten Nachbarn sind, sondern die Unerwünschtheit ist bei anderen Gruppen ausgeprägter. Auffallend ist, dass in Frankreich die Unerwünschtheitswerte sowohl bezüglich MigrantInnen, Minoritäten als auch gesellschaftlicher Randgruppen am niedrigsten sind. In Westeuropa ist Frankreich das – gemessen an der Frage „unerwünschte Nachbarn“ – am wenigsten vorurteilsgeladene Land (gefolgt von Dänemark, Spanien und Belgien). Österreich nimmt bei der Gruppe „MigrantInnen“ den Spitzenplatz in der geäußerten Antipathie ein, gefolgt von Italien. Weiters liegt es bei der Antipathie gegenüber „Minoritäten“ an zweiter Stelle, diesmal hat Italien die Spitzenposition. Unterstrichen wird dieses Bild der deklarierten Antipathie dadurch, dass in Österreich im Vergleich mit den westeuropäischen Demokratien der höchste Unerwünschtheitswert bei allen drei MigrantInnen-Gruppen zu finden ist – gegenüber Zugewanderten/ausländischen ArbeiterInnen, Muslimen und Menschen anderer Hautfarbe. Hinsichtlich der Ablehnung der Muslime folgen mit großem Abstand Finnland und Deutschland, bezüglich Menschen anderer Hautfarbe Italien und bezüglich Zugewanderter/ausländischer ArbeiterInnen ebenfalls Italien. Wie oben bereits erwähnt hat Frankreich bei allen diesen Distanzierungsitems die niedrigsten Nennungen. Die als Nachbarn hohe Unerwünschtheit der Muslime in Österreich und paral­ lel dazu deren niedrige Unerwünschtheit in Frankreich wirft die Frage nach den Effekten der institutionellen Anerkennung und Politisierung auf. In Frankreich gab und gibt es immer wieder heftige Kopftuch- und Burkadebatten, bei denen der Islam im Zentrum von Konflikten steht. In Österreich ist die Islamische Glaubensgemeinschaft eine anerkannte Religionsgemeinschaft und der Regierungsdiskurs zur Religionspolitik ist tendenziell auf Gleichbehandlung der Religionsgemeinschaften ausgerichtet. Es dürfte also der rechte Oppositionsdiskurs, der in Wahlkämpfen wiederholt den Islam als nicht integrationsfähig und fremd charakterisierte, in vorurteilsbeladenen Einstellungen eher Niederschlag gefunden haben als Positionen der Regierungsparteien (Grafik 17).23 Wie verändert sich das Ergebnis, wenn wir nicht nur eine Momentaufnahme (2008), sondern die Entwicklung über die drei Erhebungszeitpunkte betrachten  ? Darüber gibt uns Tabelle 15 Aufschluss, die die Werte der Antipathie-Indizes für die drei Erhebungszeitpunkte miteinander in Beziehung setzt. Dieses Instrument erlaubt folgende Beobachtungen  : Erstens haben in WE kaum Veränderungen der Uner23 Vgl. Dolezal, Martin/Helbling, Marc/Hutter, Swen  : Zwischen Gipfelkreuz und Halbmond. Die Auseinandersetzung um den Islam in Österreich und der Schweiz, 1998–2007, in  : Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 4 (2008), 401–418.

Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration

183

Antipathie gegen ... Minoritäten

Randgruppen

IT

GR

AT

NL

GR

FI

PT

AT

FI

IE

IE

IT

LU

GB

NL

PT

DE

SE

GB

DE

BE

LU

DK

DK

SE

NO

NO

ES

ES

BE

FR

FR

0.0

0.2

0.4

0.6

0.0

Links- & Rechtsextreme

0.2

0.4

0.6

0.4

0.6

MigrantInnen

NL

AT

AT

IT

DE

FI

LU

NL

SE

GR

BE

LU

IT

IE

GB

DE

IE

PT

NO

GB

FR

SE

FI

BE

PT

NO

ES

ES

DK

DK

GR

FR

0.0

0.2

0.4

0.6

0.0

0.2

Antipathie-Index 2008 AT BE DE DK

Österreich Belgien Deutschland Dänemark

ES FI FR GB

Spanien Finnland Frankreich Großbritannien

GR IE IT LU

Griechenland Irland Italien Luxemburg

NL NO PT SE

Niederlande Norwegen Portugal Schweden

Grafik 17  : Antipathie-Indizes. Die Indizes berechnen sich aus den Anteilen jener RespondentInnen, für die Angehörige der entsprechenden Personengruppen als Nachbarn unerwünscht sind. Die Indizes liegen zwischen 0 und 1, größere Werte bedeuten höhere Antipathie. Angegeben sind länderspezifische Mittelwerte. Quelle  : EVS 2008.

184

Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber

wünschtheit von bestimmten Nachbarsgruppen stattgefunden, die deklarierte Unerwünschtheit von migrantischen Gruppen ist konstant geblieben. Die Kurvenverläufe für 1990, 1999 und 2008 sind nahezu identisch, allerdings haben einige Länder die Plätze gewechselt. Letzteres gilt insbesondere für Österreich. Zweitens sind im Jahr 2008 in Österreich westeuropaweit die höchsten vorurteilsbeladenen Einstellungen gegenüber MigrantInnen zu beobachten. Die rasante Zunahme erfolgte im Zeitraum zwischen 1999 und 2008, denn im Jahre 1999 lag Österreich noch im Mittelfeld der Antipathielandschaft. Erst im Jahre 2008 ist die Anti-Migrationshaltung besonders stark zum Ausdruck gekommen, demgegenüber war zwischen 1990 und 1999 sogar ein leichter Rückgang zu beobachten. Land

1990

1999

2008

Differenz 1999 zu 1990

Differenz 2008 zu 1999

Österreich

0,142

0,119

0,232

–0,023

0,113

Italien

0,133

0,164

0,171

0,031

0,007

Finnland

0,131

0,145

0,155

0,014

0,010

Niederlande

0,101

0,074

0,148

–0,027

0,074

Griechenland

0,163

0,141

Luxemburg

0,106

0,139

–0,022 0,033

Irland

0,081

0,130

0,132

0,049

0,002

Deutschland

0,159

0,087

0,128

–0,072

0,041

Portugal

0,155

0,056

0,114

–0,099

0,058

Großbritannien

0,118

0,128

0,110

0,010

–0,018

Schweden

0,108

0,049

0,092

–0,059

0,043

Belgien

0,213

0,165

0,087

–0,048

–0,078

Spanien

0,089

0,102

0,069

0,013

–0,033

Dänemark

0,113

0,114

0,069

0,001

–0,045

Frankreich

0,132

0,124

0,051

–0,008

–0,073

Norwegen

0,080

Tabelle 14  : Antipathie-Index für MigrantInnen. Der Index wird aus dem Anteil jener berechnet, für die migrantische Gruppen als Nachbarn unerwünscht sind und ist eine Zahl zwischen 0 und 1. Größere Werte bedeuten höhere Antipathie. Quelle  : EVS 1990–2008.

Fremdenfeindliche Einstellungen in weiten Teilen der österreichischen Bevölkerung sind bereits hinreichend belegt. Friesl et al. resümieren die Einstellungen bezüglich Migration und MigrantInnen wie folgt  : „Nachdem innerhalb von 15 Jahren … das Einverständnis mit xenophoben Behauptungen um neun Prozent zugenommen hat und … die Zurückweisung von ausländer/-innenfeindlichen Aussagen um vier Prozent gesunken ist, muss das aktuelle Klima in Österreich als fremdenfeindlich

Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration

185

eingestuft werden.“ 24 Dieser Befund gewinnt an Dramatik, wenn er in ein westeuropäisches Umfeld gestellt wird, denn in dieser Kontextualisierung wird die fremdenfeindliche Haltung in Österreich besonders markant – unter den fortgeschrittenen westeuropäischen Demokratien nimmt Österreich die Spitzenposition der Ablehnungen ein (Tabelle 14).

Ausländische Staatsbürger­ schaft

Zu viele ­Zugewanderte

Österreich

10

65

Freiheitliche Partei Österreichs (17,5 %)

Frankreich

 6

44

Front National (4,3 %)

Deutschland

 9

54

Nationaldemokratische Partei Deutschlands (1,5 %), Republikaner (0,1 %), Deutsche Volksunion (0,1 %)

Dänemark

 5

31

Dänische Volkspartei (13,9 %)

Schweden

 6

40

Schwedendemokraten (5,7 %)

Finnland

 3

32

Wahre Finnen (4,1 %)

Belgien

10

57

Vlaams Belang (12 %), National Front (2 %)

Griechenland

 8

91

LAOS/Völkisch-Orthodoxe Sammlung (5,6 %)

Großbritannien

 6

69

British National Party (1,9 %)

Irland

13

60

Keine

Italien

 6

62

Lega Nord (8,3 %)

Luxemburg

42

42

Alternative Demokratische Volkspartei (8,1 %)

Niederlande

 4

41

Freiheitspartei (15,4 %)

Norwegen

 6

43

Fortschrittspartei (22,9 %)

Portugal

 4

49

Keine

Spanien

11

61

Keine

Anti-Immigrationsparteien

Tabelle 15  : Anteil der Wohnbevölkerung mit ausländischer Staatsbürgerschaft, wahrgenommener Anteil an Zugewanderten und Stärke von Anti-Immigrationsparteien, Stand 2008. Spalte 3 führt den Prozentsatz jener RespondentInnen an, die der Aussage „Heutzutage gibt es in (Land) zu viele Zuwanderer“ (voll und ganz) zustimmen. Quellen  : EVS 2008, eigene Recherchen.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach Erklärungen für dieses Österreich so besonders machende Phänomen. In der Literatur werden soziologische Erklärungen (z. B. der Einfluss der formalen Bildung auf die Einstellungen zu Zuwanderung und Zugewanderten) sowie sozio-psychologische Ansätze genannt, die primär die Angst vor „anderen“ kulturellen Einflüssen, sozialem Abstieg und Arbeitslosigkeit

24 Vgl. Friesl/Hofer/Wieser, Die Österreicher/-innen und die Politik, 258.

186

Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber

betonen.25 Alle diese Erklärungen haben unbestritten ihre Meriten und Aussagekraft. Wir möchten abschließend darüber hinaus aber einen explizit politischen Erklärungsansatz für die kritisch-ablehnende Haltung hinzufügen, der sich aus der Dynamik des politischen Prozesses und Parteienwettbewerbs herleiten lässt – nämlich die Politisierung und die Stärke von Anti-Immigrationsparteien (Tabelle 15). Wie auch in anderen Studien nachgewiesen wird,26 zeigt Tabelle 16, dass es keinen Zusammenhang zwischen der Zustimmung zum Item „zu viele Zugewanderte“ und der Anzahl der Menschen mit „ausländischer Staatsbürgerschaft“ im jeweiligen Land gibt. Der Korrelationskoeffizient ist 0. Die reale Präsenz, die Realkonfliktthese also alleine kann die unterschiedlichen Positionen in den westeuropäischen Ländern nicht erklären. Aus diesem Nicht-Zusammenhang ist vielmehr der Schluss zu ziehen, dass die Politisierung durch Parteien und Medien ein wichtiger Erklärungsfaktor sein dürfte. Hohe Stimmenanteile für Anti-Immigrationsparteien gehen häufig mit der Meinung, es sind zu viele zugewandert, teilweise losgelöst von der Größe ausländischer Wohnbevölkerung, einher. Einschränkend ist aber diesbezüglich zu bedenken bzw. zu beobachten, dass die Einstellungen der BürgerInnen zu Migration nicht alleine von Anti-Migrationsparteien geformt werden, wie es beispielsweise die vergleichsweise hohen Stimmenanteile für die Dänische Volkspartei oder die Norwegische Fortschrittspartei nahelegen. Denn gerade in diesen Ländern ist parallel dazu eine niedrigere Antipathie gegenüber MigrantInnen in den EVS-Daten zu finden. Vielmehr dürfte die Politisierung durch Anti-Immigrationsparteien und Zentrumsparteien sowie deren Konstellation im Parteiensystem für die Bildung der Einstellungen relevant sein. Der fehlende Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung „es sind zu viele Zugewanderte im Land“ und der faktischen Präsenz (gemessen an der Staatsbürgerschaft) bringt auf jeden Fall aber die Politik zurück auf die Bühne – mit Gerry Stoker gesprochen „Politics matters“!

7. Schlussfolgerungen und Herausforderungen Um Österreichs Meinungen und Einstellungen westeuropäisch zu verorten, fassen wir im Folgenden Ergebnisse unter dem Blickwinkel „Welche Länder sind Österreich am ähnlichsten  ?“ zusammen  : Tabelle 16 führt jene zwei Länder an, die für die 25 Vgl. Strabac, Zan/Listhaug, Ola  : Anti-Muslim prejudice in Europe  : A multilevel analysis of survey data from 30 countries, in  : Social Science Research 37 (2008), 268–286. 26 Vgl. Semyonov, Moshe/Raijmann, Rebeca/Yom Tov, Anat/Schmidt, Peter  : Population size, perceived threat, and exclusion  : a multiple-indicators analysis of attitudes toward foreigners in Germany, in  : Social Science Research 33 (2004), 681–701.

Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration

187

angesprochenen Themen die nächstliegenden Ausprägungen aufweisen. Bezogen auf diese Themen sind Österreichs „Einstellungsnachbarn“ Finnland, Italien und Griechenland. Vereinzelt besteht Nähe zu Deutschland, Dänemark, Spanien, Frankreich, Irland, Niederlande, Großbritannien. Keine Nähe hingegen gibt es zu Schweden, Belgien, Portugal und Norwegen. Item

Nächstgelegene Länder

Zustimmung zu Demokratie

Italien, Griechenland

Zufriedenheit mit Demokratie

Finnland, Niederlande

Starker Führer (ohne Parlament und Wahl)

Spanien, Frankreich

Politisches Interesse

Deutschland, Dänemark

Elitenherausfordernde Partizipation

Irland, Niederlande

Vertrauen in Parlament und Regierung

Italien, Griechenland

Unerwünschtheit MigrantInnen

Italien, Finnland

Unerwünschtheit Muslime

Finnland, Deutschland

Unerwünschtheit Minoritäten

Italien, Griechenland

EU-Erweiterung

Finnland, Großbritannien

Tabelle 16  : Österreichs Einstellungsnachbarn. Quelle  : EVS 2008.

Die empirischen Ergebnisse im Einzelnen zeigen, dass Österreichs deklarierte Meinungen zu nationaler Politik und Demokratie im westeuropäischen Konzert eher durchschnittlich gelagert sind. Herausragend ist jedoch das relativ hohe politische Interesse – allerdings könnte dieses auch durch die parallel zur Erhebung zur EVS stattfindenden Nationalratswahlkämpfe induziert sein. Sie zeigen weiters, dass sich einige Besonderheiten neu herausgebildet haben. Dazu gehört (1) vor dem Hintergrund einer traditionell hohen Konsenskultur und hoher Zustimmung zu etablierten Institutionen – Stichwort Hyperstabilität – die rasch erodierende Unterstützung für bzw. das wachsende Misstrauen gegenüber Parteien, Parlament und Regierung und (2) die hohe Unerwünschtheit von MigrantInnen. Bei allen behandelten Themenblöcken waren die Veränderungen in Österreich zwischen 1999 und 2008 besonders hoch, zwischen 1990 und 1999 ist eine wesentlich geringere Dynamik in den Orientierungen zu beobachten. Insbesondere fand zwischen 1999 und 2008 eine große Zunahme der Zustimmung zum „starken Führer“, ein großer Anstieg des Misstrauens gegenüber Regierung und Parlament und eine große Zunahme der Unerwünschtheit von MigrantInnen und Minderheiten statt. Kurzum, das Meinungsklima hat sich erst in den 2000er-Jahren drastisch geändert, nicht bereits schon in den 1990er-Jahren.

188

Sieglinde Rosenberger/Gilg Seeber

Mit diesen veränderten, stets die demokratischen Institutionen und Prozesse weniger unterstützenden Meinungen und Einstellungen gehen einige Herausforderungen der österreichischen Politik einher. Die Einstellungen der BürgerInnen deuten zwar nicht auf eine Gefährdung demokratischer Prozesse und Institutionen hin, sie machen Österreich aber zunehmend schwieriger regierbar. Eine der großen politischen Herausforderungen Österreichs im europäischen Kontext resultiert aus der nationalstaatlichen und ethnischen Selbst-Bezogenheit. Diese betrifft sowohl die Einstellungen der Bevölkerung als auch die Diskurse der politischen EntscheidungsträgerInnen. Einerseits scheint eine offensive, liberale, Grenzen überschreitende Politik rasch an Einstellungsgrenzen zu stoßen, gleichzeitig liegt eine hohe Korrespondenz zwischen BürgerInnen und Politik insbesondere in den Feldern der EU-Erweiterung und Migration vor. Diese Übereinstimmung kann die realpolitische Erklärung für die Verengung der national-ethnischen Einstellungen im Gegensatz zu liberalen, offenen Haltungen sein. In diesem Zusammenhang kommt Russel J. Dalton’s These zum Tragen, wonach Meinungen und Einstellungen im politischen Prozess relevant werden können, weil sie sich in Haltungen der politischen Parteien und der Regierung niederschlagen.

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Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration

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Regina Polak/Christoph Schachinger

Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa

1. Einleitung 1.1 Zum religionssoziologischen Kontext

Die religionssoziologische Forschung ist in Europa in den vergangenen zwanzig Jahren in Bewegung geraten. VertreterInnen der Theorien fortschreitender Säkularisierung1, der Respiritualisierung2, umfassender Pluralisierung3 und Globalisierung4 sowie multipler Modernisierungsprozesse5 führen Kontroversen um leitende Theorien und Paradigmen zum Verständnis der umfassenden sozioreligiösen Transformationsprozesse im religiösen Feld. Dabei ranken sich die Diskussionen um folgende Fragen  :

1 Z.B. Davie, Grace  : Religion in modern Europe. A Memory Mutates, Oxford 2000  : Säkularisierung bedeutet dabei keinesfalls Bedeutungsverlust der Kirchen  ; diese verändern vielmehr ihre gesellschaftliche Rolle hin zu Institutionen der Freiwilligenarbeit und zur „Stellvertretungs“religion  ; Pollack, Detlef  : Rückkehr des Religiösen. Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II, Tübingen 2009  : Er spricht sich gegen eine generelle Verabschiedung der Säkularisierungsthese aus und überprüft die empirische Reichweite anderer Theorien zum religiösen Wandel  ; Höhn, Hans-Joachim  : Krise der Säkularität  ? Perspektiven einer Theorie religiöser Dispersion, in  : Höhn, Hans-Joachim/Gabriel, Karl (Hg.)  : Religion heute öffentlich und politisch. Provokationen, Kontroversen, Perspektiven, Paderborn u.a. 2008, 37–58  : Für ihn ist das „Comeback“ der Religion nur eine andere Form der Säkularisierung. 2 Z.B. Bochinger, Christoph  : „New Age“ und moderne Religion. Religionswissenschaftliche Perspektiven, Gütersloh 1995  ; Knoblauch, Hubert  : Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt am Main u.a. 2007  ; Zulehner, Paul M.  : Spiritualität – mehr als ein Megatrend. Ostfildern 2004. 3 Z.B. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas  : Modernität, Pluralismus und Sinnkrise. Die Orientierung des modernen Menschen, Gütersloh 1995  ; Berger, Peter L./Davie, Grace/Fokas, Effie  : Religious America, Secular Europe  ? A Theme and Variations, Ashgate 2008  ; Taylor, Charles  : Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt am Main 2002. 4 Z.B. Berger, Peter/Huntington, Samuel (eds.)  : Many Globalizations. Cultural Diversity in the Contemporary World, New York 2002. 5 Z.B. Casanova, José  : Global religious Trends at the Turn of the Millenium, in  : Almqvist, Kurt/ Wallrup, Erik (eds.)  : The Future of Religion. Riga 2005, 13–27.  ; Joas, Hans  : Welche Gestalt von Religion für welche Moderne  ?, in  : Reder, Michael/Rugel, Matthias (Hg.)  : Religion und die umstrittene Moderne. Stuttgart 2010, 210–223.

192

Regina Polak/Christoph Schachinger

– Wie ist die sogenannte „Rückkehr des Religiösen“ auf der Mikroebene zu interpretieren  ? Auf der Ebene der subjektiven Religiositäten lassen sich umfassende Veränderungsprozesse erkennen. Empirische Studien beobachten seit Ende der 90erJahre steigende Zustimmungsraten zu religiösen Selbstverständnissen.6 Traditionell kirchlich gebundene Religiosität erodiert  ; Religiosität verliert dabei aber keinesfalls vollständig an Bedeutung. Man spricht von einer „Entkoppelung“ 7 subjektiver Religiositäten von institutionalisierter Religion. Mit Labels wie „Spiritualität“, „Esoterik“, „unsichtbare“, „alternative“ oder „fluide“ Religiosität werden diese neuen religiösen Sozialformen beschrieben.8 Menschen suchen in Distanz von religiösen Institutionen nach erfahrungsgesättigter und lebensnaher „Spiritualität“. Diese kann, muss aber nicht immer religiös interpretiert werden. Die Suche nach Werten spielt dabei eine zentrale Rolle. Quantität und Qualität des Phänomens sind bis heute umstritten. – Welche Rolle kann, darf oder soll Religion in der Öffentlichkeit Europas spielen  ? Die Individualisierungsprozesse der Religiosität forcieren deren Pluralisierung – innerhalb wie außerhalb von Kirchen und Religionsgemeinschaften.9 Diese Pluralität führt zu einer verstärkten Sichtbarkeit von „Religion“10 im öffentlichen Raum. Insbesondere Migration beschleunigt diesen Prozess. Zuwanderer bringen ihre „Religion“ mit, verändern die religiöse Landschaft einer Gesellschaft und gründen religiöse   6 So zeigte die EVS 2000 in den westeuropäischen Städten (mit Ausnahme von Paris) eine signifikante Zunahme bei allen religiösen Parametern  : vgl. Zulehner, Paul M.  : Wiederkehr der Religion  ?, in  : Denz, Hermann (Hg.)  : Die europäische Seele. Leben und Glauben in Europa, Wien 2002, 23–41. Vgl. auch Polak, Regina  : Die Religion kehrt wieder. Handlungsoptionen in Kirche und Gesellschaft, Ostfildern 2005  ; Zulehner, Paul M./Hager, Isa/Polak, Regina  : Kehrt die Religion wieder  ? Religion im Leben der Menschen 1970–2000, Ostfildern 2001.  7 Höllinger, Franz  : Volksreligion und Herrschaftskirche. Die Wurzeln religiösen Verhaltens in westlichen Gesellschaften, Opladen 1996.   8 Vgl. Bochinger, Christoph/Engelbrecht, Martin/Gebhardt, Winfried  : Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur, Stuttgart 2009  ; Hödl, Hans Gerald  : Alternative Formen des Religiösen, in  : Figl, Johann (Hg.)  : Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, Innsbruck 2003, 485–524  ; Knoblauch, Hubert  : Soziologie der Spiritualität, in  : Baier, Karl (Hg.)  : Handbuch Spiritualität. Zugänge, Traditionen, interreligiöse Prozesse, Darmstadt 2006, 91–111  ; Lüddeckens, Dorothea/ Walthert, Rafael (Hg.)  : Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel, Bielefeld 2010  ; Martin, Ariane  : Sehnsucht – der Anfang von allem. Dimensionen zeitgenössischer Spiritualität, Ostfildern 2005.   9 Diese Pluralisierungsprozesse zeigen sich in der EVS auch für Österreich  : vgl. Zulehner, Paul M./ Polak, Regina  : Von der „Wiederkehr der Religion“ zur fragilen Pluralität, in  : Friesl, Christian/Polak, Regina/Hamachers-Zuba, Ursula (Hg.)  : Die Österreicher/-innen. Wertewandel 1990–2008, Wien 2009, 143–206. 10 Der Begriff „Religion“ ist hier ein Sammelname für alle religiösen Phänomene.

Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa

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Vereine sowie Orte religiöser Praxis (Tempel, Moscheen, Gebetsräume, Kirchen). Die größte gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfahren dabei in Europa die MuslimInnen.11 Im europäischen Diskurs ist Religion im Kontext der Erarbeitung des EU-Verfassungsvertrages als Faktor der kulturellen und politischen Identität wieder ins Spiel gekommen und hat zu heftigen Kontroversen geführt.12 In Gesellschaft, Politik und Wissenschaft wird diskutiert, wie öffentlich oder privat Religion in Europa sein soll.13 Wissenschaftler betonen in jüngster Zeit den Beitrag von Religion zur sozialen Kohäsion und zum Gemeinwohl.14 Spätestens mit 9/11 wird Religion zum politischen Faktor. Rund um die Auseinandersetzung mit dem Islam in Europa kommt es zu einer Politisierung religiöser15 und einer Religionisierung16 sozialer Fragen. Kirchen und Religionsgemeinschaften treten im öffentlichen Raum wieder selbstbewusster auf und reagieren mit Prozessen der Identititätsvergewisserung und Neupositionierungen in der Gesellschaft17 auf die religiösen Veränderungen. Dabei rekurrieren die Akteure der Diskussion auf allen Seiten vielfach auf Werte. – Wie verhalten sich Religion und Moderne zueinander  ? Seit den 70er-Jahren schreitet die Erosion kirchlich-gebundener Religiosität in Westeuropa rasant voran. Im Kontext der Säkularisierungstheorie schloss man daraus, dass Religion und Moderne unverträglich sind und Religion in Europa bedeutungslos werden würde. 11 Übrigens auch in der Wissenschaft  : Die Religiosität der christlichen Zuwanderer ist im deutschsprachigen Raum selten Gegenstand der Forschung. 12 Detailliert dazu  : Mandry, Christof, im Kapitel  : „Werte und Religion im europäischen Wertediskurs“, 63ff. 13 Auslöser solcher Diskussionen sind u.a. Publikationen wie Dawkins, Richard  : Der Gotteswahn. Berlin 2007  ; Hawking, Stephen/Mlodinow, Leonard  : Der große Entwurf – Eine neue Erklärung des Universums. Hamburg 2010. Vgl. die europaweiten Debatten und Gerichtsurteile zu Kopftuch, Burka und Moscheenbau  ; die Rechtsverfahren zwischen Italien und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte rund um das Kreuz in Klassenzimmern  ; in Österreich  : Initiativen wie die „Atheistische Religionsgesellschaft in Österreich“, Stand  : 07.04.2011, URL  : http  ://www.atheistische-religionsgesellschaft.at/   ; das „Volksbegehren gegen Kirchenprivilegien“, Stand   : 17.04.2011, URL  : http  ://www.kirchen-privilegien.at/. 14 Casanova, José  : Europas Angst vor der Religion. Berlin 2009  ; Michalski, Krzysztof (ed.)  : Religion in the New Europe. Budapest 2006  ; Michalski, Krzysztof (Hg.)  : Woran glaubt Europa  ? Religion und politische Kultur im neuen Europa, Wien 2007  ; Nolte, Paul  : Religion und Bürgergesellschaft. Berlin 2009. 15 So punkten europaweit Parteien mit islamophoben Parolen, vgl. Rosenberger, Sieglinde/Seeber, Gilg, im Kapitel  : „Kritische Einstellungen  : BürgerInnen zu Demokratie, Politik, Migration“, 165ff. 16 Soziale Probleme, die auch die Einheimischen betreffen – Armut, Arbeitslosigkeit, Bildungsferne, politische Radikalismen – werden als Probleme der Muslime beschrieben und mit „dem Islam“ begründet. 17 So setzen christliche Kirchen verstärkt auf das Thema „Mission“ und äußern sich vermehrt zu gesellschaftspolitischen Fragen.

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Regina Polak/Christoph Schachinger

Mehrere Faktoren führen zu einer kritischen Revision dieses Leitparadigmas  : (1) Die sozioreligiösen Transformationsprozesse widersprechen dieser Vorstellung  ; (2) Die Erweiterung der EU um die ehemals kommunistischen Länder, insbesondere die Wahrnehmung der Orthodoxie, werfen die Frage nach dem Zusammenhang von Religion und Modernisierungsprozessen neu auf  ;18 (3) Ein Vergleich mit sozioreligiösen Entwicklungen in anderen Weltregionen19 zeigt, dass Modernisierungsprozesse Religion keinesfalls verschwinden lassen müssen, sondern zur Entwicklung pluraler religiöser Modernen führen. Das Säkularisierungsparadigma steht so zur Disposition  ; um neue Theorien wird gerungen. 1.2 Fragestellungen des Beitrages

Um ein Ergebnis unserer Forschung vorwegzunehmen  : (Christliche) Konfessionalität spielt in den sozioreligiösen Entwicklungen in Europa eine entscheidende Rolle. Diese Dimension wird in vielen empirischen Studien wenig berücksichtigt. Daher konzentrieren wir uns in unserem Beitrag auf die Situation konfessionsnaher Religio­ sität in Europa und der Positionierung Österreichs im europäischen Vergleich. Der Begriff „konfessionsnahe Religiosität“ ist Resultat der empirischen Ergebnisse. Er berücksichtigt folgendes  : • Religiosität ist in Europa nicht (mehr) zwangsläufig an die Praxis innerhalb einer kirchlichen Institution gebunden. Konfessionalität ist aber ein wesentliches Merkmal europäischer Religiositäten. • Langzeitentwicklungen, Länderunterschiede sowie Ausmaß und Art von Kirchenbindung lassen sich ohne Berücksichtigung konfessioneller Traditionen eines Landes nicht angemessen verstehen. • Die Erosion kirchlich-gebundener Religiosität schreitet fort. Ausmaß und Qualität hängen aber eng mit den konfessionell verschiedenen Kirchenverständnissen und Traditionen zusammen. Deshalb führt die Erosion institutionell gebundener Religiosität nicht zwangsläufig zum Bedeutungsverlust der Kirchen. • Religiosität lässt sich in Europa auch abseits der Kirchen finden, ist aber in vielen Ländern nach wie vor maßgeblich beeinflusst von konfessionellen Traditionen. 18 Zulehner, Paul M./Tomka, Miklós/Naletova, Inna  : Religionen und Kirchen in Ost(Mittel)Europa. Entwicklungen seit der Wende, Ostfildern 2008. 19 Z.B. Joas, Hans/Wiegandt, Klaus (Hg.)  : Säkularisierung und die Weltreligionen. Frankfurt am Main 2007  ; Müller, Johannes/Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.)  : Religionen und Globalisierung. Stuttgart 2007  ; Wuthnow, Robert  : America and the Challenges of Religious Diversity. Princeton – Oxford 2005. Vgl. FN 1, 4, 5.

Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa

195

Näherhin leiten uns in den einzelnen Kapiteln des Beitrages folgende Theorien und Fragen  : • Kapitel 2  : Bestätigt sich im longitudinalen Vergleich der EVS-Daten die Säkularisierungsthese im engsten Sinn, der zufolge kirchlich-gebundene Religiosität gesellschaftlich an Bedeutung verliert  ? • Kapitel 3  : Bestätigt sich die sogenannte „Entkoppelungsthese“, der zufolge sich die subjektiven Religiositäten von der Bindung an Kirche, Konfession und traditionell gelebter Alltagsreligion lösen und dabei eine „neue Religiosität“ entsteht  ?20 • Kapitel 4  : Lassen sich im Horizont der Pluralisierungsthese bestimmte „religiöse Typen“ innerhalb konfessionsnaher Religiosität beobachten  ? • Kapitel 5  : Bestätigt sich die Säkularisierungsthese im weiteren Sinn, der zufolge Religion und Politik als getrennte Lebensbereiche wahrgenommen werden  ? Auf der Ebene der Personen ist dazu zu fragen  : Wie hängen religiöse und politische Einstellungen zusammen  ? Die Konzentration auf die Dimension der Konfession begründet sich durch das eingeschränkte Instrumentarium der Items der EVS zum Bereich Religion. Diese Items sind in einer Zeit entstanden, in der Religion und Kirchlichkeit noch nahezu deckungsgleich identifiziert wurden. So ermöglicht der Langzeitvergleich – dies ist die Stärke der Items – einen Überblick über die Entwicklung kirchlich-gebundener, konfessioneller Religion. Über die Entwicklungen genuiner Christlichkeit in Europa lässt sich mittlerweile leider nichts mehr aussagen, da zahlreiche Religionsitems im Zuge der Fragebogenüberarbeitung gestrichen wurden, u. a. 2008 die Frage nach dem Auferstehungsglauben. Andere Fragestellungen wie z. B. die nach der Religio­ sität von MuslimInnen in Europa lassen sich ebenfalls nicht zufriedenstellend beantworten. Dazu fehlen die Items. Zudem sind andersreligiöse Gruppen in vielen nationalen Stichproben unterrepräsentiert. Ebenso wenig lässt sich das inhaltliche und praktische Profil der sogenannten „neuen Religiositäten“ fundiert beschreiben. Die EVS bekommt also nur einen sehr eingeschränkten Teil des religiösen Feldes in den Blick. Sie muss sich für die Zukunft fragen, wie sie sicherstellt, den sozioreligiösen Transformationsprozessen gerecht zu werden. Aufgrund dieser Einschränkungen befragen wir das Datenmaterial mit traditionellen religionssoziologischen Theorien. Dabei wurde im Zuge der explorativen Ersterkundung die Bedeutung von Konfessionalität sichtbar. Da in den nationalen Stichproben allerdings fast ausschließlich die jeweilige Mehrheitskonfession der 20 Vgl. FN 7, 8.

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Länder repräsentativ vorhanden ist, sind unsere Ergebnisse – so nicht eigens anders ausgewiesen – als Aussagen über Ländertendenzen, nicht über Individuen zu verstehen. Wir beschreiben daher die großen Entwicklungslinien der Länder – nicht die individuelle Pluralisierung innerhalb der Länder. Religiöse bzw. konfessionelle Minoritäten bleiben ebenso unsichtbar. 1.3 Daten und Methoden

Die empirischen Befunde in diesem Beitrag sind das Resultat von Analysen der Umfragedaten aus drei Wellen der Europäischen Wertestudie (EVS 1990, 1999/2000, 2008). Um die Positionierung Österreichs in Europa zu beschreiben, vergleichen wir sowohl die zeitlichen Entwicklungen in den einzelnen Ländern als auch einzelne Länder miteinander. Aus den Individualdaten des EVS bilden wir Indikatoren auf der Ebene der Länder bzw. des Gesamtdatensatzes. Die Konzentration auf die Frage nach konfessionsnaher Religiosität führte zur Auswahl folgender kontinentaleuropäischer Länder.21 „Katholische“22 Länder  : Österreich, Italien, Kroatien, Slowakei, Slowenien, Polen23 „Protestantische Länder“  : Schweden, Dänemark, Finnland, Niederlande „Katholisch-Protestantische“ Länder  : Ungarn, Schweiz, West-Deutschland „Orthodoxe“ Länder  : Rumänien, Griechenland „Laizistisch-säkulares Land“  : Frankreich „Atheistisch-säkularisierte Länder“  : Tschechien, Ost-Deutschland

2. Langzeit-Entwicklungen  : Länderspezifisch verschiedene, aber stabile Religiosität Bestätigt sich im longitudinalen Vergleich der EVS-Daten die Säkularisierungsthese im engsten Sinn, der zufolge kirchlich-gebundene Religiosität gesellschaftlich an Bedeutung verliert  ? 21 Das anglikanische Großbritannien haben wir ausgespart, da es dazu zu komplexe statistische Verfahren gebraucht hätte. Für die protestantischen und orthodoxen Länder haben wir uns aus Darstellungsgründen bei den Grafiken auf eine Auswahl beschränkt. Ost- und West-Deutschland werden aufgrund verschiedener historischer Entwicklungen gesondert angeführt. 22 Diese und die folgenden Bezeichnungen beziehen sich auf die jeweiligen konfessionellen Mehrheitsverhältnisse in einem Land. 23 Spanien und Portugal fehlen, da wir uns auf die katholischen Länder des gemeinsamen Geschichtsraumes konzentrieren wollten.

Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa

197

Um Religiosität zu messen, beschreiben wir die Langzeitentwicklung von drei traditionellen Indikatoren für kirchlich-gebundene Religiosität im Ländervergleich  : die Zustimmung zum Glauben an Gott, die Kirchgangsfrequenz und die Gebetshäufigkeit. 2.1 Gottesglaube in Europa

Der Glaube an Gott gilt in Europa, einer monotheistisch geprägten religiösen Kultur, als zentraler Indikator für Religiosität. Grafik 18 stellt die Zustimmung zu diesem Glauben nach Ländern im Zeitvergleich dar.

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Glaube an Gott nach Ländern im Zeitvergleich

100 %

96,3

96,0 90,5

88,6

90 % 82,9

86,0

83,7

80 %

76,9

71,0

62,2

60,9

60 %

65,8

63,1 63,5

70,2

58,6

58,6

58,1 55,2

50 %

46,5

72,3

68,0 63,7

63,5

57,1 57,1

89,1

75,9 76,7

75,3 68,0

70 %

94,6 87,1

85,7

95,1

92,5

92,0

61,0

58,5

56,5

55,0

50,5

40 % 33,6

32,2

37,9

30,8

28,9

30 %

34,9 30,7

20 % 19,7

10 %

0%

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1999

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1999

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1999

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1999

2008

Glaube an Gott bejaht, Angaben in %

Grafik 18  : Glaube an Gott nach Ländern im Zeitvergleich, geordnet nach %. Quelle  : EVS 1990–2008.

Mit einigen Ausnahmen24 hat sich der Gottesglaube über den Zeitraum von 20 Jahren auf einem länderspezifisch konstanten Niveau gehalten.25 Es lassen sich drei Gruppen unterscheiden  :26 (1) Länder, in denen 2008 unter 50 % der Befragten an 24 Die „Sprünge“ in einzelnen Ländern bedürfen gesonderter Analysen, auf die wir hier nicht eingehen. 25 Die geringeren Anteilsdifferenzen lassen sich mit einem unvermeidlichen Erhebungsbias erklären. 26 Unter Zuhilfenahme von Konfidenzintervallüberschneidungen, auf deren Darstellung wir aus Grün­ den der optischen Nachvollziehbarkeit verzichten.

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Gott glauben  ; (2) Länder, in denen über 75 % an Gott glauben  ; (3) die große Mehrheit der Länder, in denen mehr als die Hälfte bis drei Viertel an Gott glauben. Diese Gruppierungen sind weitgehend charakteristisch für das Antwortverhalten bei allen religiösen Items. Im „hochreligiösen“ Bereich finden sich so gut wie immer (1) die orthodoxen Länder, in denen Kirche und Nation eng verbunden sind27 und Religion zum kulturellen Grundbestand gehört sowie (2) jene katholischen Länder, in denen Religion und Nationalität eng verbunden sind bzw. (noch  ?) eine intensive Volksfrömmigkeit anzutreffen ist. Im „mittelreligiösen“ Bereich siedeln sich die übrigen katholischen sowie die katholisch-protestantischen Länder an  ; am unteren Ende das laizistisch-säkulare Frankreich. „Niedrigreligiös“ sind die protestantischen Länder sowie die Länder jener ehemals kommunistischen Regionen, in denen schon vor dem Kommunismus massive Säkularisierungsprozesse stattfanden.28 Der Protestantismus, selbst ein zentraler Motor der Moderne, ist dieser gegenüber wesentlich aufgeschlossener als die beiden anderen Konfessionen. Dies und der Kulturprotestantismus des 19. Jahrhunderts, der den christlichen Glauben in die konkrete Kulturentwicklung einzubetten bemüht war, haben Säkularisierungsprozesse in diesen Ländern beschleunigt. Eine Folge dessen ist sicherlich die Tatsache, dass diese Länder in sozialpolitischen Fragen europäische Vorreiter sind.29 Deutlich sichtbar wird also bereits hier die Bedeutung von Konfessionalität, die als Leitkriterium bei der Länderauswahl gewählt wurde. Die Ländercluster widerspiegeln sich deutlich in den Ergebnissen. Konfessionszugehörigkeit hat eine deutlich stärkere Erklärungskraft30 für die Zustimmung zum Glauben an Gott als demographische Merkmale. Konkret steigt mit jedem zusätzlichen Lebensjahr die Wahrscheinlichkeit an Gott zu glauben an (um den Faktor 1,08). Wie sich später31 noch zeigen wird, liegt das aber vor allem an einem sprunghaften Anstieg ab dem 60. Lebensjahr. MigrantInnen der ersten Generation stimmen 1,6mal wahrscheinlicher dem Glauben an Gott zu als die ansässige Bevölkerung. Die Zugehörigkeit zur zweiten Generation wirkt sich bereits nicht mehr 27 Man spricht in der Orthodoxie auch von einer „Symphonie von Staat und Kirche“. 28 So hatten im vornehmlich protestantisch geprägten Ost-Deutschland schon vor dem Kommunismus Säkularisierungsprozesse eingesetzt. In Tschechien gibt es seit dem Prager Fenstersturz massiv antikirchliche (antikatholische) Tendenzen  ; die Habsburger und die katholische Kirche waren zudem gegen die Gründung eines tschechischen Nationalstaates, so dass in Tschechien Kirche und Nationalität nie verbunden waren. 29 Man könnte von einer „Ethisierung“ des christlichen Glaubens sprechen, der sich gleichsam in die Strukturen der Gesellschaft eingewoben hat, dabei als expliziter Glaube aber „verdunstet“ ist. 30 Das ergab eine Gegenüberstellung zweier logistischer Regressionsmodelle über alle ausgewählten Länder. Die demographischen Merkmale erhöhen die Erklärungskraft (Nagelkerkes R²) nur sehr geringfügig. 31 Vgl. Abschnitt 6 in diesem Beitrag.

Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa

199

signifikant aus. Menschen sowohl im ruralen (bis 5000 Einwohner) als auch im urbanen Raum (über 100 000 Einwohner) glauben häufiger an Gott als jene in den Übergangsgebieten dazwischen. Auf jeden Mann, der an Gott glaubt, kommen 1,5 Frauen. Mit steigender Bildung nimmt die Wahrscheinlichkeit an Gott zu glauben, stetig ab. Am deutlichsten aber wirkt sich die Konfessionszugehörigkeit der Befragten32 aus  : Sie ist der tragfähigste Erklärungsfaktor für den Glauben an Gott. Anschaulich  : Auf einen Katholiken, der an Gott glaubt, kommen 0,25 Protestanten und 2,5 Orthodoxe. Es lässt sich also eine Rangfolge der Intensität bilden  : Orthodoxe glauben signifikant häufiger an Gott als KatholikInnen, diese wiederum häufiger als ProtestantInnen. Am unteren Ende des Gottesglaubens finden sich die Menschen ohne Bekenntnis. Diese Reihenfolge ist ebenfalls konsistent mit den Länderunterschieden. Versuchte man eine Art Prognosemodell für den Glauben an Gott zu entwickeln, dann ließe sich allein mit Kenntnis des Landes und der Konfession bereits eine gute Abschätzung erzielen. 2.2 Kirchgang in Europa

Die Entwicklung der Kirchgangsfrequenz ist der klassische Indikator zur Überprüfung der engen Säkularisierungshypothese. Grafik 19 zeigt erneut die vertrauten länderspezifischen Unterschiede. Im Zeitverlauf ist dabei der Kirchgang in den einzelnen Ländern weitgehend konstant geblieben. Dargestellt wird in der Grafik nicht die mittlere Kirchgangsfrequenz, sondern werden die durchschnittlich angekreuzten Werte der Kategorien. Dies kann dann durchaus als indirekter Indikator für die Kirchgangsfrequenz des Landes verwendet werden.33 Erneut zeigt sich die Länderverteilung entlang unserer „Cluster“. Zugleich lässt sich im Unterschied zum Glauben an Gott hier eine deutliche Säkularisierung erkennen  : Wöchentlicher Kirchgang ist in allen Auswahlländern ein Minoritätenprogramm.34 Es lassen sich vier Gruppen erkennen  :35 (1) Die intensivsten Kirchgänger sind die PolInnen. (2) Danach folgen die orthodoxen Länder Griechenland und Rumänien sowie das katholische Italien. (3) Eine weitere Gruppe im mittleren Bereich 32 Wobei dies in dieser Stichprobe für KatholikInnen, ProtestantInnen, Orthodoxe und Personen ohne Bekenntnis gilt. 33 Ein Mittelwert von z. B. 4,28 heißt aber eben nicht, dass durchschnittlich nur an speziellen Feiertagen in die Kirche gegangen wird, sondern dass die Mehrzahl der Befragten eine Kategorie über 4 angekreuzt haben. D.h. der Mittelwert ist als Schwerpunkt bzw. Erwartungswert für die angekreuzte Kategorie zu interpretieren. 34 Die Sonntagspflicht ist allerdings ein katholisches Spezifikum und in den protestantischen und orthodoxen Kirchen so nicht vorgeschrieben  ; Rückschlüsse auf das Ausmaß der Säkularisierung sind also allein aufgrund dessen nicht unmittelbar zu ziehen. 35 Mittels Konfidenzintervallüberschneidungen.

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Häufigkeit des Kirchgangs nach Ländern im Zeitvergleich

7

6 5,42 5,22

5

5,06 4,45 4,13

4 3,46 3,49 3,02

2,92

3

2,76 2,52 2,24 2,29

2,51 2,34

2,21

2,23

2,15

2,41

2,61 2,67

2,20

4,47 4,52 4,34

4,12

3,82

3,86

3,74

3,38

3,86

3,25

3,18

3,14

2,70 2,85

2,55

3,56

4,55

4,28

3,82

3,12

4,40

4,28

2,80 2,84

2,48

2,19

2

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1 = Nie/Praktisch nie, 2 = Seltener als 1x/Jahr, 3 = Einmal im Jahr, 4 = Nur an speziellen Feiertagen, 5 = Ungefähr einmal im Monat, 6 = Einmal in der Woche, 7 = Mehrmals in der Woche

Grafik 19  : Häufigkeit des Kirchgangs nach Ländern im Zeitvergleich. 1 = Nie/Praktisch nie, 2 = Seltener als 1x/Jahr, 3 = Einmal im Jahr, 4 = Nur an speziellen Feiertagen, 5 = Ungefähr einmal im Monat, 6 = Einmal in der Woche, 7 = Mehrmals in der Woche. Der Mittelwert ist hier zu interpretieren als Maßzahl für die Tendenz höhere oder niedrigere Kategorien anzukreuzen. Geordnet nach Durchschnitt der Mittelwerte. Quelle  : EVS 1990–2008.

bilden West-Deutschland und die übrigen katholischen Länder wie Österreich. (4) Bereits relativ selten geht man in den katholisch-protestantisch gemischten Ländern sowie protestantischen Ländern in die Kirche. Die Langzeitentwicklungen in den einzelnen Ländern zeigen ein stabiles Niveau. Die Gruppen der intensiven KirchgängerInnen sind länderintern ebenso weitgehend gleichgeblieben wie die der Saison-, Selten- oder Nicht-KirchgängerInnen. Signifikante Zusammenhänge zeigen sich über alle Untersuchungswellen erneut mit der Konfession  : Orthodoxe sind die intensivsten KirchgängerInnen, gefolgt von den KatholikInnen an zweiter und den ProtestantInnen an dritter Stelle. 2.3 Gebetshäufigkeit

Als dritter Indikator wird die Gebetshäufigkeit herangezogen. Die hier verwendeten Mittelwerte sind wie bei der Kirchgangsfrequenz zu interpretieren. Die folgende Grafik zeigt erneut die bereits bekannten länderspezifischen Tendenzen und die weitgehende Stabilität im Zeitvergleich.

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Gebetshäufigkeit nach Ländern im Zeitvergleich

7

6 5,72

5,70 5,58 4,93

5

4,74 4,43

3,62

3,52

4,82

1990

2008

4,62

4,30

3,94

3,90

4

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4,53

3,71 3,59

3

3,15

3,17

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3,39

3,34

3,30

2,82 2,49 2,17

2,29

2,26

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2008

2,42

2,56

2,48

2,34

2 1,85

1

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1990

2008

1 = Nie, 2 = Seltener (als Mehrmals im Jahr), 3 = Mehrmals im Jahr, 4 = Mindestens einmal im Monat, 5 = Einmal in der Woche, 6 = Mehrmals in der Woche, 7 = Täglich

Grafik 20  : Gebetshäufigkeit nach Ländern im Zeitvergleich. 1 = Nie, 2 = Seltener (als Mehrmals im Jahr), 3 = Mehrmals im Jahr, 4 = Mindestens einmal im Monat, 5 = Einmal in der Woche, 6 = Mehrmals in der Woche, 7 = Täglich. Der Mittelwert ist hier zu interpretieren als Maßzahl für die Tendenz höhere oder niedrigere Kategorien anzukreuzen. Geordnet nach Durchschnitt der Mittelwerte. Quelle  : EVS 1990–2008.

Zu den eher selten betenden Ländern gehören Schweden, Dänemark, Tschechien und das laizistisch-säkulare Frankreich. In Slowenien, den Niederlanden, Ungarn, West-Deutschland, Finnland, Österreich und der Schweiz ist das Gebet zumindest nicht ganz bedeutungslos. Als durchaus verbreitete Praxis ist das Gebet in der Slowakei, Kroatien, Italien und Griechenland aufzufinden. Die europäischen VielbeterInnen finden sich in Polen und Rumänien. Die obigen Ländercluster zeigen sich hier also erneut. 2.4 Trends – und Österreich im Vergleich

Kirchlich-gebundene Religiosität im Sinne eines regelmäßigen, gar wöchentlichen Kirchbesuches ist in den europäischen Auswahlländern minoritär. In diesem Sinn bestätigt sich eine eng gefasste Säkularisierungsthese – allerdings nur für die katholischen Länder. Denn aus religionssoziologischer, theologischer und historischer Sicht ist ein niedriger oder zurückgehender Kirchgang kein ausreichender Indikator für Säkularisierung – nicht einmal für eine eng gefasste. Orthodoxe und protestantische

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Ekklesiologien messen ihm unterschiedliche Bedeutungen zu und in den orthodoxen Ländern ist der Kirchgang ohne kirchenrechtliche Vorschrift höher als in den anderen Ländern. Die Untersuchung der Langzeitentwicklung der beiden anderen Indikatoren – Gottesglaube und Gebetshäufigkeit – ziehen einer engen Säkularisierungsthese ebenso deutliche Grenzen. Modernisierungsprozesse führen in Europa in unterschiedlicher Weise zu Säkularisierungsprozessen. Länderspezifische Differenzen lassen sich durch diese Theorien allein nicht erklären. Diese Unterschiede und die relativ konstanten konfessionsabhängigen Rangfolgen verweisen darauf, dass bei der Interpretation sozioreligiöser Entwicklungen konfessionelle Traditionen und daher historische, kulturelle und regionale Faktoren verstärkt zur Interpretation heranzuziehen sind. Insbesondere die Ergebnisse zu Gottesglaube und Gebetshäufigkeit zeigen, dass von einer umfassenden Säkularisierung in Europa auf der Ebene der subjektiven Religiositäten 2008 –2010 nicht die Rede sein kann. Vielmehr zeigt sich selbst bei einem klassischen Frageinstrumentarium die konstante Bedeutung von Religiosität. Zugleich werden darin aber die Veränderungen sichtbar, die die EVS vor neue Fragen stellen. Österreich – meist in der mittleren Gruppe anzutreffen – gehört im Vergleich zu den Auswahlländern zu den überdurchschnittlich religiösen Ländern  : Zustimmung zum Gottesglauben und Kirchgangsfrequenz finden sich im Zeitvergleich konstant im vergleichsweise oberen Bereich, ebenso beim Beten liegen die Österreicher über dem europäischen Mittelwert. Die Ergebnisse zeigen, dass mit konfessionsnaher Religiosität gesellschaftlich auch in Zukunft zu rechnen sein wird. Religion bildet in vielen Ländern für viele Menschen einen wichtigen Lebensbereich. Die Säkularität bleibt aus der Sicht dieser Indikatoren länderspezifisch verschieden vorläufig auf konstantem Niveau. Konfessionelle Prägung spielt eine entscheidende Rolle. Die Ergebnisse der nächsten Kapitel weisen freilich darauf hin, dass dies nur der Fall bleiben wird, wenn es den Kirchen gelingt, den sozioreligiösen Transformationsprozessen gerecht zu werden.

3. Zusammenhänge  : Religiöse Dimensionen und konfessionsnahe (neue  ?) Religiosität Bestätigt sich die sogenannte „Entkoppelungsthese“, der zufolge sich die subjektiven Religiositäten von der Bindung an Kirche, Konfession und traditionell gelebter Alltagsreligion lösen und dabei eine „neue Religiosität“ entsteht  ? Dazu fragen wir vertieft nach (1) Religiosität und (2) dem Zusammenhang von religiösem Selbstverständnis und Konfessionalität.

Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa

203

3.1 Religiöse Dimensionen und ihr Zusammenhang

Wenn die Entkoppelungsthese stimmt, müsste der Zusammenhang des Indikators für Religiosität mit jenem für Kirchlichkeit gering sein oder sinken. Um diese These zu überprüfen, haben wir zunächst einen mehrdimensionalen Religiositätsbegriff entwickelt, der eine solche Unterscheidung ermöglicht. In den westeuropäischen Ländern wird Religion zwar primär als „Weltanschauung“ verstanden, empirische Vorgängerstudien36 zeigen aber, dass Religiosität erst dann lebensrelevant wird, wenn sie erfahrungsgesättigt ist, in den konkreten Alltag verwoben und auf irgendeine Weise institutionell angebunden ist. Für einen dichten und angemessenen Begriff von Religiosität müssen also die hochrelevanten Dimensionen der Praxis und Institution hinzugenommen werden. Die folgenden Fragen wurden den drei Dimensionen „Religiöse Praxis“, „Religiöser Glaube“ und „Religiöse Institution“ zugeordnet  : Religiöse Praxis

Religiöser Glaube

Religiöse Institution

– Ehrenamtliche Tätigkeit in einer religiösen Institution. – Wie oft gehen Sie in die Kirche  ? – Nehmen Sie sich Zeit für Gebet/ Meditation/innere Einkehr  ? – Wie oft beten Sie außerhalb des Gottesdienstes  ? – Ich habe meinen eigenen Weg, mit Gott in Verbindung zu treten (ohne Kirche). – Religiöse Feier ist wichtig bei der Geburt. – Religiöse Feier ist wichtig bei der Hochzeit. – Religiöse Feier ist wichtig beim Tod.

– Wie wichtig ist Religion in Ihrem Leben  ? – Glauben Sie an Gott  ? – Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod  ? – Glauben Sie an die Hölle  ? – Glauben Sie an den Himmel  ? – Glauben Sie an die Sünde  ? – Glauben Sie an Reinkarnation  ? – Sind Sie religiös  ? – Wie spirituell sind Sie  ? – Wie wichtig ist Gott in Ihrem Leben  ? – Ziehen Sie persönlich Trost und Kraft aus dem Glauben  ?

– Gehören Sie einem Religionsbekenntnis an  ? – Kirchenoberhäupter sollten die Entscheidungen der Bürger bei politischen Wahlen nicht37 beeinflussen. – Politiker, die nicht an Gott glauben, sind ungeeignet für ein öffentliches Amt.38 – Wie viel Vertrauen haben Sie in die Institution der Kirche  ? – Die Kirche bietet Antworten für moralische Probleme und Nöte des Einzelnen. – Die Kirche bietet Antworten für geistige Bedürfnisse. – Die Kirche bietet Antworten auf aktuelle soziale Probleme des Landes.

Tabelle 17  : Religiöse Dimensionen mit zugeordneten Items. 37 38

36 Zulehner/Polak, Von der „Wiederkehr Religion“ zur fragilen Pluralität, 191ff.  ; Polak, Regina  : Lebenshorizonte  : Religion und Ethik, in  : Friesl, Christian/Kromer, Ingrid/Polak, Regina  : Lieben. Leisten. Hoffen. Die Wertewelt junger Menschen in Österreich, Wien 2006, 126–213. 37 Diese Position wird europaweit von der großen Mehrheit der Befragten bejaht und die Anerkennung der Trennung von Kirche und Staat ist auch für religiöse Menschen weitgehend eine Selbstverständlichkeit. 38 Hier haben unsere Analysen signifikante Zusammenhänge mit dem Glauben an Gott gezeigt, vgl. Abschnitt 5, 211ff.

204

Regina Polak/Christoph Schachinger

Die folgende Grafik zeigt die Zusammenhänge der drei Dimensionen  :

Zusammenhänge der Länderindizes 1

1

1

0,9

0,9

0,9

PL

0,6 0,5 SE

0,4

DE-O

0,2

0,6

0,4 CZ

0

0 0,1

0,2

DE-O

0,2 0,1

0

0,3

0,4

0,5

0,6

0,7

0,8

0,9

Österreich Schweiz Tschechien

DE-W West-Deutschland DE-O Ost-Deutschland DK Dänemark

0,5 0,4 CZ

0,3 DE-O

0,2

0,2

0,3

0,4

0,5

0,6

0,7

0,8

0,9

1

0

0,1

0,2

Religiöse Institution

FI FR GR

CH HU DE-W NL SI FI FR DK SE

0 0,1

Religiöse Institution

AT CH CZ

0,6

PL

0,1

0

1

FR DK SE

0,3

0,1

GR HR IT SK AT

0,7

AT CH DE-W HU FI NL SI

0,5

RO

0,8

PL GR HR IT SK

0,7

CZ

0,3

RO

0,8

RO

GR IT HR AT SK CH DE-W FI HU DK SI NL FR

Religiöser Glaube

Religiöse Praxis

0,7

Religiöser Glaube

0,8

Finnland Frankreich Griechenland

HR HU IT

Kroatien Ungarn Italien

0,3

0,4

0,5

0,6

0,7

0,8

0,9

1

Religiöse Praxis

NL PL RO

Niederlande Polen Rumänien

SE SI SK

Schweden Slowenien Slowakei

Grafik 21  : Streudiagramme der religiösen Dimensionen im Verhältnis zueinander, Indexwerte. Die Länderindikatoren wurden jeweils gegeneinander aufgetragen. Quelle  : EVS 2008.

Die Werte in den Grafiken charakterisieren die Religiosität eines Landes und nicht einzelner Menschen. Aufgrund der Mischung qualitativer und quantitativer Fragestellungen ist außerdem ein wenig Vorsicht bei der Interpretation geboten. Es lässt sich damit aber sehr gut zeigen, wie eng die Antwortniveaus der einzelnen Dimensionen miteinander verknüpft sind. Hat ein Land einen niedrigen Wert bei der Dimension „Religiös Praxis“, hat es ebenfalls niedrige Werte bei den beiden anderen Dimensionen „Religiöser Glaube“ und „Religiöse Institution“. Dieser Zusammenhang zeigt sich bei allen drei Dimensionen. Glaube, Praxis und Institution sind also auf länderspezifischen Niveaus immer eng verbunden. Die Richtung und die Qualität des Zusammenhangs – welcher Faktor welchen wie bedingt – kann damit allerdings nicht geklärt werden. Die Länderreihenfolge entspricht der uns bereits bekannten Gruppierung von Ländern hoher, mittlerer und niedriger Religiosität. Die Religiosität ist also hoch in Rumänien und Polen  ; niedrige Religiosität findet sich in Ost-Deutschland, Tschechien, den protestantischen Ländern und Frankreich. Österreich findet sich in der Mitte. Der im Vergleich zum deskriptiven Teil etwas niedrigere Rang Österreichs lässt sich erklären durch eine geringere Bedeutung der Indikatoren für institutionelle Kirchenbindung. Die Entkoppelungsthese muss daher kritisch eingeschränkt werden. Wohl erfragt die EVS keine neuen religiösen Praxisformen, aber die engen Zusammenhänge der Dimensionen lassen doch nach dieser neuen Religiosität rückfragen. Wie weit ist

Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa

205

sie tatsächlich verbreitet  ? Wie zeigt sie sich konkret im Alltag  ? In Anbetracht der real existierenden Entkirchlichung muss aufgrund dieser Zusammenhänge ebenso gefragt werden  : Wie stellt sich die Anbindung an die Institution gegenwärtig dar  ? Welche Transformationsprozesse finden hier statt  ? 3.2 Konfessionsnahe (neue  ?) Religiosität

Ein genauerer Überblick über den Zusammenhang von Konfessionszugehörigkeit und religiösem Selbstverständnis bietet eine weitere Möglichkeit, die Leitfragen dieses Kapitels zu überprüfen. Stimmt die Entkoppelungsthese, sollte der Zusammenhang von Religiosität und Konfessionszugehörigkeit niedrig oder sinkend sein. Die Grafik 22 zeigt diese Zusammenhänge. Die dargestellten Typen ergeben sich aus der Verbindung konfessioneller Zuordnung (ja/nein) mit dem religiösen Selbstverständnis (religiöser Mensch/kein religiöser Mensch/überzeugte/r AtheistIn). Es ergeben sich sechs Typen  : (1) konfessionelle Religiöse, (2) konfessionelle Unreligiöse, (3) konfessionelle AtheistInnen, (4) konfessionslose Religiöse, (5) konfessionslose Unreligiöse, (6) konfessionslose AtheistInnen. Grafik 22 zeigt – mit den vertrauten Länderunterschieden – die Verteilung dieser Typen  : Erneut wird – diesmal auf der Ebene der Individuen – der enge Zusammenhang von hoher Religiosität und Konfessionalität vor allem in den orthodoxen und traditionell-katholischen Ländern sichtbar. Doch auch in diesen – (noch  ?) hochreligiösen – Ländern sieht man, dass Konfessionalität nicht mit einem religiösen Selbstverständnis gedeckt sein muss. Konfessionalität kann bloße kulturelle Tradition sein. Aus einem Selbstverständnis als „unreligiös“ ist nicht automatisch auf Atheismus zu schließen, weil Religiosität oft der – abgelehnten dominanten – kirchlichen Religiosität des Landes gleichgesetzt wird. Weiters sind die Gruppen erkennbar, in denen möglicherweise jene Personen zu finden sind, deren Religiosität von einer institutionalisierten Anbindung an die Kirchen entkoppelt ist  : die Gruppe (2) der konfessionell Unreligiösen sowie die Gruppe (4) der konfessionslosen Religiösen, die ihre Religiosität – vielleicht – „anders“ oder „neu“ suchen oder leben. Die konfessionellen Unreligiösen sind in fast allen Ländern zu finden (zwischen 5 und 35 % groß), besonders groß ist diese Gruppe in Schweden (wo über 70 % der Bevölkerung zur Schwedischen Staatskirche gehören) und WestDeutschland (wo konfessionelle Zugehörigkeit staatlich erfasst wird und diese zum kulturellen Erbe gehört). Auch in Österreich mit seiner katholischen Dominanz ist die Gruppe schon größer als 20 %. Ihre Anbindung an kirchliche Institutionen dürfte fragil sein, da bei mangelnden Gratifikationen durch die Institution Kirche Religiosität ein zentraler Faktor ist, diese nicht zu verlassen. Religiosität gehört zu den star-

206

Regina Polak/Christoph Schachinger

Konfession und Religiosität (in Ländern)

Polen Griechenland Rumänien Italien Kroatien Slowakei Dänemark Slowenien Österreich WestDeutschland Schweiz Finnland Niederlande Ungarn Frankreich Tschechien Schweden OstDeutschland 0%

10 %

20 %

30 %

40 %

50 %

60 %

70 %

80 %

90 %

konfessionelle/r Religiöse/r

konfessionelle/r Unreligiöse/r

konfessionelle/r Atheist/in

konfessionslose/r Religiöse/r

konfessionslose/r Unreligiöse/r

konfessionslose/r Atheist/in

Grafik 22  : Typen von Konfession und Religiosität nach Ländern, Angaben in %. Quelle  : EVS 2008.

100 %

Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa

207

ken Bindungskräften.39 Die religiöse Zukunft dieser Gruppe ist offen und hängt u.a. davon ab, wie die Kirchen auf diese Gruppen reagieren. Inwieweit sich diese Gruppe religiös anders entwickelt, ist offen. Entgegen den vielen Theorien über „Neureli­ giöse“ ist die Gruppe der konfessionslosen Religiösen – die potentiellen „Neureli­ giösen“  ? – klein, wenngleich überall, außer in Polen und Griechenland, zu finden. Die Gruppe der konfessionslosen Unreligiösen ist da weitaus breiter vertreten. In einigen Ländern gibt es große Gruppen der konfessionell Unreligiösen und konfessionellen AtheistInnen, die sich – noch – zugehörig wissen, aber diese Zugehörigkeiten sind – aus der Perspektive der Kirchen – „ungedeckte Schecks“  : Nicht religiös gedeckte Konfessionalität tendiert zur „Auswanderung“ aus den Kirchen. Die Thesen von der entkoppelten Religiosität lässt sich so klarer präzisieren  : Sie ist länderspezifisch verschieden stark belegt. Entkoppelung findet – noch  ? – innerhalb einer konfessionellen Zugehörigkeit statt. Möglicherweise erfolgen die religiösen Transformationsprozesse auch innerhalb konfessioneller Zugehörigkeiten und sind viele der „Neureligiösen“ zugleich konfessionell gebunden. Hier besteht Forschungsbedarf. 3.3 Trends – und Österreich im Vergleich

Zusammenfassend ist nun differenzierter festzustellen  : Konfessionsnahe Religiosität ist vor allem in den hoch- und mittelreligiösen orthodoxen und katholischen Ländern Europas weit verbreitet. Damit werden die Kirchen in Europa weiterhin eine bedeutsame Rolle spielen. Ob sich die Situation so halten kann, ist offen. Von einer umfassenden Entkoppelung und einem großen „neureligiösen“ Feld kann derzeit noch keine Rede sein. Der starke Zusammenhang religiöser Dimensionen belegt, dass Religiosität als Praxis eng an kirchliche Institution gebunden ist. Ob dies so bleibt, ist allerdings fraglich  : Denn die Zusammenhänge zwischen Konfessionszugehörigkeit und Religiosität zeigen, dass relevante Gruppen in nahezu allen Ländern ihre Religiosität zwar konfessionell angebunden wissen, sich aber zunehmend loslösen. Kirchen werden weiterhin bedeutsam sein, aber möglicherweise aus einer minoritären Position heraus oder mit neuen Formen der Partizipation, die freilich noch zu entwickeln wären. Bei der Suche nach der neuen Religiosität ist die konfessionelle Tradition eines Landes ebenso zu berücksichtigen wie die Möglichkeit, dass sie auch innerhalb der Kirchen und/oder konfessionell gebunden stattfindet. Die Stichhaltigkeit der überprüften Thesen hängt von mehreren Faktoren ab. „Entkoppelung“ von Religiosität und Kirchlichkeit sowie das Aufkommen neuer Religiosität sind europaweit empirisch belegte Realitäten. Allerdings sind Ausmaß und 39 Vgl. Zulehner, Paul  M. : Verbuntung. Kirchen im weltanschaulichen Pluralismus, Ostfildern 2011, 21ff.

208

Regina Polak/Christoph Schachinger

Qualität dieser Phänomene länderspezifisch verschieden. Quantität und Intensität konfessionsnaher Religiosität spielen dabei eine zentrale Rolle  : je höher die Konfessionszugehörigkeit noch ist, umso weniger greift diese Theorie. Allerdings zeigen die innerkonfessionellen Entwicklungen, dass sich diese Theorie in Zukunft verstärkt bestätigen könnte, je nachdem wie sich die Kirchen in Zukunft gesellschaftlich und im religiösen Feld positionieren. Österreichs Situation entspricht der des Durchschnitts unserer Auswahlländer. Die Gruppe der konfessionell Religiösen umfasst noch an die 60 % der Österreicher, aber die knapp über 20 % konfessionell Unreligiösen zeigen, dass Konfessionalität in Österreich nicht mehr stark religiös gedeckt ist. Berücksichtigt man dazu die vergleichsweise niedrigen Werte bezüglich institutioneller Bindung, lässt sich sagen  : Die ÖsterreicherInnen haben im Europavergleich eine überdurchschnittlich hohe subjektive Religiosität, aber diese entkoppelt sich von Kirche und Konfession.

4. Religiöse Typologie Lassen sich im Horizont der Pluralisierungsthese bestimmte „religiöse Typen“ innerhalb konfessionsnaher Religiosität beobachten  ? Die folgenden Überlegungen ermöglichen nun einen Blick auf die Ebene der Individuen. Der Spielraum, den die Fragen der EVS eröffnen, ist allerdings sehr beschränkt. Klassische Clusteranalysen schienen uns unangemessen angesichts z. B. der Unmöglichkeit, das inhaltliche Profil von ChristInnen oder „Neureligiösen“ sichtbar zu machen. Wir haben uns daher entschieden, selbst Gruppen zu definieren. Angesichts der hohen Bedeutung von Konfessionalität versuchen wir sowohl die Intensität der subjektiven Religiosität sichtbar zu machen als auch deren Nähe zur Kirche. Die Gruppen selbst wurden so gebildet, dass für jede Gruppe aus den Dimensionen der gelebten Religiosität zwei Merkmale herausgenommen wurden. Eines der Merkmale beschreibt das Selbstverständnis, das andere den Stärkegrad. Bei Zustimmung wurden die Befragten der entsprechenden Gruppe zugeordnet. Die Gruppen  : Religiöse Personen  : Jene, die sich selbst als religiöse Menschen bezeichnen und die Frage „Wie wichtig ist Religion in Ihrem Leben“ zumindest mit „wichtig“ beantworten. KirchensympathisantInnen  : Jene, die der Kirche mindestens drei von vier Kompetenzen zuschreiben  : Antwort zu geben auf moralische, geistige und soziale Fragen so-

Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa

209

wie Familienfragen. Außerdem beantworten sie die Frage „Wie viel Vertrauen haben Sie in die Kirche  ?“ mit mindestens „ziemlich viel“. TheistInnen  : Jene, die angeben, an Gott zu glauben und die Frage nach der Wichtigkeit Gottes im Leben mindestens mit einem Stärkegrad 7 von 10 beantworten. Betende KirchgängerInnen  : Jene, die mindestens einmal im Monat in die Kirche gehen, religiöse Angebote und Services nützen und außerhalb religiöser Gottesdienste bzw. Services zu Gott beten. Diese Gruppen schließen sich per definitionem nicht aus, sondern jede Person kann einer, keiner oder mehreren Gruppen angehören. So sind z. B. Religiöse Personen deutlich häufiger in der Gruppe der KirchensympathisantInnen anzutreffen. Besonders auffallend ist, dass in den niedrigreligiösen Ländern Ost-Deutschland, Tschechien und Finnland sich Religiosität ganz eng an Kirchlichkeit gekoppelt erweist. Grafik 23 zeigt die Verteilung der einzelnen Gruppen in den einzelnen Auswahlländern. In den niedrigreligiösen Ländern zeigt sich die erwartete Tendenz, dass den hier definierten Gruppen nur geringe Bevölkerungsanteile zugeordnet werden können. In den hochreligiösen Ländern Rumänien, Polen und Griechenland ist dies anders. Die Mehrheit dieser Bevölkerungen gehört zu den Religiösen Personen oder TheistInnen – es zeigt sich also eine intensive subjektive Religiosität. Die Zahl der KirchensympathisantInnen und betenden KirchgängerInnen ist jedoch im Vergleich zu den beiden ersten Gruppen wesentlich kleiner, obwohl sie wiederum im Europavergleich größer sind. Beginnen die Menschen in diesen Ländern den Kirchen ihr Vertrauen zu entziehen  ? Ein ähnliches Bild ist in Kroatien, Italien und der Slowakei zu finden, wobei das Zustimmungsniveau zu jenen Fragen bereits niedriger ist, die eher die subjektive Religiosität messen. Bei den anderen Ländern fallen die Religiösen und die TheistInnen unter 50 %, der Anteil der Kirchennahen ist noch geringer. Und Österreich  ? In Österreich lassen sich jeweils um die 40 % den Religiösen und den TheistInnen zuordnen, während zu den KirchensympathisantInnen knappe 20 % bzw. zu den betenden KirchgängerInnen 25 % gezählt werden können. Der Fokus auf die Individuen lässt die Entkoppelungsthese nochmals zuspitzen. Unsere Typologie zeigt deutlich das Ausmaß des Bedeutungsverlustes der Kirchen und kirchlicher Praxis. Die subjektiven Religiositäten sind in einigen Ländern noch deutlich höher und konfessionsnahe geprägt. Der Ländervergleich lässt folgende Vermutung formulieren  : Entkoppelung erfolgt in einem ersten Schritt noch unsichtbar bei durchaus hohem subjektiv-religiösen Niveau in einem Land. In einem wei-

210

Regina Polak/Christoph Schachinger

Religiöse Personengruppen im Ländervergleich 7,7

OstDeutschland

11,9 13,8

10,0 6,1

15,9

Schweden

21,6

4,9 10,9

15,5

Tschechien 12,2

18,9

6,7

Dänemark

27,5

19,4

10,7 9,6

27,4 25,6

Frankreich 17,1 9,3

27,6

Finnland

37,4

19,2 20,5

Niederlande

33,5

16,8

37,1

18,4

Slowenien

34,5

23,8 20,6

WestDeutschland

37,4

33,0

41,6

19,8 14,6

37,5

Ungarn

22,4 17,9

Schweiz

40,5

36,9

44,3

16,4 25,6

Österreich

39,9

18,9

43,1

41,0

51,4 52,2

Slowakei 34,1 37,5

63,8 62,6

Kroatien 23,4 34,1

Griechenland

79,4

69,2

23,5 44,0

Italien

70,6

63,2

32,9 43,9

72,1

Rumänien

81,7

42,5 61,5

67,7

Polen

75,7

38,5

0%

10 %

20 %

30 %

40 %

Betende KirchgängerInnen

Religiöse Personen

TheistInnen

KirchensympathisantInnen

50 %

60 %

70 %

80 %

90 %

geordnet nach durchschnittlichen %

Grafik 23  : Religiöse Personengruppen im Ländervergleich, geordnet nach %. Quelle  : EVS 2008.

100 %

Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa

211

teren Schritt bleiben die Religiositäten über längere Zeit konfessionell geprägt, da dies zum kulturellen Bestand gehört. Sobald die Erosionsbewegungen dann sichtbar werden, beginnen die subjektiven Religiositäten ebenso deutlich zu sinken. Diese Entwicklungen stellen wichtige Rückfragen an die Praxis der Kirchen  : Welche Rolle spielen sie bei diesen Prozessen  ? Müssen neben den gesellschaftlichen Transformationsprozessen nicht auch die Erfahrungen der Menschen mit ihren Kirchen als Veränderungsfaktor einbezogen werden  ? In Österreich verweist das Gefälle der Gruppengrößen zwischen den subjektiven Religiositäten der Religiösen Personen und TheistInnen einerseits und den beiden kirchennahen Gruppen andererseits auf die Rolle der Katholischen Kirche.

5. Sozial, aber unpolitisch

Bestätigt sich die Säkularisierungsthese im weiteren Sinn, der zufolge Religion und Politik als getrennte Lebensbereiche wahrgenommen werden  ? Auf der Ebene der Personen ist dazu zu fragen  : Wie hängen religiöse und politische Einstellungen zusammen  ? Generell ist festzustellen  : Mit wenigen Ausnahmen gibt es hier keine Zusammenhänge. So beteiligen sich z. B. unsere religiösen Typen weder stärker noch schwächer an politischen Aktionen (nur in Polen und Griechenland etwas schwächer als die Restpopulation). Bezüglich der Sorge um Menschen in sozialer Nähe, in sozialer Ferne, um sozial Schwache gibt es – mit Ausnahme von Ost-Deutschland – ebenfalls keine signifikanten Unterschiede zwischen den religiösen Typen und der Restpopulation. In Bezug auf zuwanderungsfeindliche Einstellungen finden sich ebenso wenig Unterschiede. Gravierende Unterschiede lassen sich allerdings bei zwei Fragen feststellen  : Wer zu den „Betenden KirchgängerInnen“ gezählt wird, betätigt sich in allen Ländern mit signifikant erhöhter Wahrscheinlichkeit in einer kirchlichen oder andersartigen gemeinnützigen Organisation. Religiöse Praxis begünstigt demnach soziales Engagement. Außerdem hält die Gruppe der betenden KirchgängerInnen Politiker für ungeeignet für ein öffentliches Amt, wenn sie nicht an Gott glauben. Werden die Kirchen zu Orten weltanschaulicher Intoleranz  ? Generell lässt sich die These also bestätigen. Säkularisierung im Sinne der Trennung von religiösen und politischen Einstellungen gehört zum Inventar der europäischen BürgerInnen. (Wobei diese Tendenz in den orthodoxen Ländern nicht als Folge der Säkularisierung zu deuten ist, sondern mit dem orthodoxen Selbstverständnis zu erklären ist. Die Orthodoxie kannte bis vor kurzem keine sozialethischen

212

Regina Polak/Christoph Schachinger

Ehrenamtliche Arbeit: Betende KirchgängerInnen im Vergleich zur restlichen Bevölkerung 100 %

90 %

80 %

70 %

60 %

50 %

40 %

30 %

20 %

10 %

Restliche Bevölkerung

nd nla

de er

ed Ni

Fin

lan

en

rk

ed hw

Sc

eiz

ma

ne Dä

n

nd

nie

hw Sc

we

Slo

ich es

t-D

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tsc

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ich

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Ös

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Os

t-D

eu

tsc

Ita

ga

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he iec

Gr

Un

n

i

tie

n

ke

oa Kr

wa

nie

Slo

mä Ru

Po

len

0%

Betende KirchgängerInnen

Grafik 24  : Betende KirchgängerInnen und Ehrenamt im Verhältnis zur restlichen Bevölkerung. Prozentsatz derjenigen, die in einem Ehrenamt engagiert sind. Quelle  : EVS 2008.

Ansätze). Religiosität gilt als eigenständiger Lebensbereich und verbindet sich mit sozialem Engagement. Für politische Fragen spielt sie kaum eine Rolle – das gilt ebenso in Österreich.

6. Und die Zukunft  ? Die Frage nach der Zukunft soll mit einem Blick auf die Zustimmungsraten zum Glauben an Gott beantwortet werden.40 Wie bereits gezeigt, steht das Alter in ei40 Wir wählen diese Frage als Indikator, da wir aus Studien zum Verhältnis Jugend und Religion wissen, dass der Gottesglaube in der Regel der Indikator für Religiosität ist, der die meiste Zustimmung erfährt und im Vergleich zu anderen Kennzahlen für Religiosität am langsamsten zurückgeht, vgl. z. B.

Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa

213

nem signifikanten Zusammenhang mit dem Glauben an Gott. Die folgende Grafik zeigt – mit den ländertypischen Unterschieden – die Altersabhängigkeit des Glaubens an Gott für das Jahr 2008. Glaube an Gott nach Alter und Ländern

96,8 98,7 95,5

93,2

95,5 86,9 88,7 90,3

90,7 85,9

86,0 83,1

77,0

81,6

84,0 75,8

70,6 65,1 60,1

65,5

64,8 57,8

60,2 62,4

56,8

60,2

61,3 62,4

64,2

66,4 55,6

53,4

51,8

51,5 36,1

14,2 14,9

18,0

21,1

20 %

26,4 26,9

29,4

30 %

27,4

32,9 35,7

39,5

46,3

43,3

46,1 40 %

47,4 48,2

50 %

59,8

62,3 64,4

55,9

60 %

49,1

63,6

66,7

70 %

72,0

73,9

76,3

82,0

82,9

85,1

80 %

87,2 88,3 86,1 86,8

90 %

93,1 94,0 96,0 97,6

100 %

10 %

n

len

nie mä Ru

Po

he iec Gr

Kr

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nla

n

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ei

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eu

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d

n

0%

18 – 29

30 – 44

45 – 59

60+

Glaube an Gott bejaht

Grafik 25  : Glaube an Gott nach Alter und Ländern. Prozentsatz derjenigen, die den Glauben an Gott bejahen, geordnet nach %. Quelle  : EVS 2008.

Sofern das Landesniveau nicht selbst bereits hoch ist (wie in Rumänien, Polen, Griechenland und Kroatien), unterscheiden sich die Gruppen der 18- bis 29-Jährigen und der +60-Jährigen stets signifikant voneinander. Die ältere Gruppe hat durchgehend deutlich höhere Werte als die jungen Erwachsenen. Studien zum Verhältnis Jugend und Religion41 machen bereits seit einigen Jahren auf den Wandel jugendlicher Religiosität aufmerksam und thematisieren den Rückgang des Glaubens an Gott – und noch deutlicher der institutionell verankerten Religiosität – als weitgehend neues Phänomen. Unsere Analyse macht eine Differenzierung dieser SituatiDammayr, Dagmar  : „Losing my religion …  ?“ Religion, Glaube, Kirche bei 15–18jährigen Jugendlichen  ; Ergebnisse einer empirischen Projektstudie in oberösterreichischen Schulen, Linz 2010  ; Oertel, Holger  : „Gesucht wird  : Gott  ?“ Jugend, Identität und Religion in der Spätmoderne, Gütersloh 2004  ; Polak, Lebenshorizonte  : Religion und Ethik. 41 Vgl. FN 40.

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onsanalyse erforderlich  : Insgesamt betrachtet unterscheidet sich nämlich nicht die jüngste Gruppe von den älteren Gruppen, sondern die ersten drei Alterskohorten stellen eine weitgehend homogene Gruppe42 dar, während sich die Gruppe +60 eindeutig nach oben hin absetzt. Die sozioreligiösen Umbruchsprozesse haben demzufolge vermutlich bereits bei jenen Menschen begonnen, die nach 1948 geboren wurden und nicht erst bei der derzeitigen jungen Generation. Diese setzt „nur“ eine Entwicklung fort, die in der Nachkriegszeit begonnen hat und zum Rückgang des Gottesglaubens und der Religiosität führt. Ist dies ein Zeichen, dass es den Kirchen mit Beginn der Nachkriegszeit zunehmend weniger gelingt, den Veränderungen in Alltag und Gesellschaft gerecht zu werden  ? Dafür spricht, dass die Alterskohorte zwischen 30 und 59 Jahren in allen Ländern – mit Ausnahme von Österreich – eine homogene Gruppe bildet. In Österreich – bezüglich des Glaubens an Gott auf hohem Niveau in Europa – gibt es zwischen den Gruppen der 30- bis 44-Jährigen und der 44- bis 59-Jährigen einen deutlichen Bruch. Die jüngere der beiden Gruppen, vielfach noch traditionell kirchlich sozialisiert, ist jene Generation, die in der Zeit der Krisen der österreichischen Kirche erwachsen geworden ist. Dies hat die Erosionsprozesse offenbar verschärft. Für die Zukunft ist mit Blick auf die junge Generation mit gravierenden sozioreligiösen Veränderungen zu rechnen. Ob sich die bisher stabile Säkularisierung im engeren Sinn dadurch beschleunigt – d.h. ob die Kirchen in Zukunft rasant an Bedeutung verlieren werden – kann nicht vorhergesagt werden. Dies hängt davon ab, ob und wie sich die Kirchen angesichts dieses Befundes verhalten und welche Rolle (institutionalisierte) Religion zukünftig in Europas Gesellschaften spielen wird. Besonders spannend wird es sein, die diesbezüglichen Entwicklungen in den hochreligiösen orthodoxen und katholischen Ländern zu beobachten. Dort unterscheiden sich die jüngeren Personen (noch  ?) nicht so deutlich von den älteren. Sollten sich die bisherigen kirchen- und gesellschaftspolitischen Tendenzen allerdings fortsetzen, ist mit weiterer Säkularisierung zu rechnen – auch in Österreich. Dies trifft ebenso für die Tendenz der Entkoppelung kirchlich-gebundener Religiosität hin zu einer neuen Religiosität zu, die bei tieferen Analysen deutlich sichtbar geworden ist. Welche Quantität und vor allem Qualität diese „neuen Religiositäten“ dann haben werden, hängt wesentlich von bildungspolitischen Maßnahmen ab  : Kirchen und Religionsgemeinschaften sowie die gesellschaftlichen Bildungsinstitutionen werden für die religiöse Bildung in einer religiös sich transformierenden Gesellschaft gemeinsam Verantwortung übernehmen müssen. Was ist zu erwarten  ? 42 Sie weisen in den meisten Ländern keine signifikanten Unterschiede auf.

Stabil in Veränderung  : Konfessionsnahe Religiosität in Europa

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Kirchlich-gebundene Religiosität reduziert sich möglicherweise auf kleine und Kleinstgruppen, mittelfristig erodiert die konfessionsnahe Religiosität – und langfristig der Glaube an Gott. Traditionelle Religiositäten verlieren an Bedeutung. Damit enden Traditionen, die in den Kirchen und Religionsgemeinschaften auf eine lange Erfahrung und Reflexionsgeschichte verweisen können. Damit gehen zugleich wesentliche soziale und gesellschaftspolitische Potentiale für die Gesellschaft verloren. Wie kann es den Kirchen gelingen, diese Traditionen im Horizont gesellschaftlicher Veränderungen für die Gegenwart fruchtbar zu machen  ? Wenn dies nicht gelingt  : Was tritt an ihre Stelle  ? Was bedeutet die sozioreligiöse Transformation für die Gestaltung der Zukunftsherausforderungen, vor denen junge Menschen stehen  ? Im Rahmen des internationalen Forschungsprojektes „Youth in Europe“ (seit 2002/2003 – 2009)43 wurden u.a. die Zukunfts- und Lebensperspektiven junger Menschen erforscht („Life Perspectives“). Quantitativ-Empirische Studien dazu wurden in neun Ländern durchgeführt  : Deutschland, England und Wales, Polen, Niederlande, Schweden, Finnland, Irland, Kroatien und Israel. Trotz zum Teil mitunter großer nationaler Unterschiede ähneln sich die Werthaltungen in elementaren Fragen auffallend.44 So findet sich in allen Ländern eine hohe Zustimmung zu den Menschenrechten ebenso wie eine nicht besonders hohe Wertschätzung demokratischer Institutionen wie Parteien, Regierungen und Parlamente. Bezüglich der Lebensziele besteht ebenfalls internationale Übereinstimmung  : In allen befragten Ländern werden vier Lebensziele als prioritär genannt  : Autonomie45, gute Bildung und Ausbildung, Einsatz für eine humane Welt46 und der Wunsch, in Zukunft eine Familie zu gründen. Schließlich schätzen die Befragten in allen neun Ländern das Leben als äußerst unsicher ein. Sie sind durchwegs kaum in der Lage, klare Ideen für die Zukunft zu entwickeln. Woher 43 Die Ergebnisse der Langzeitstudie, die als Leitfrage den Zusammenhang von Lebensorientierung und Religiosität erforscht, sind publiziert in 3 Bänden  : Ziebertz, Hans-Georg/Kay, William K. (eds.)  : Youth in Europe I. An international empirical Study about Life Perspectives. (International Practical Theology, Vol. 2), Münster 2005  ; Dies. (eds.)  : Youth in Europe II. An international empirical Study about Religiosity (International Practical Theology, Vol. 4), Münster 2006  ; Dies. (eds.)  : Youth in Europe III. An international empirical Study on the impact of Religion on Life Orientation. (International Practical Theology Vol. 10), Münster 2009. 44 Ziebertz u.a. (eds.), Youth in Europe I, 7–8. 45 „Autonomy“ bedeutet Zustimmung zu folgenden Aussagen  : unabhängig denken und handeln  ; den Mut zum Nein sagen haben  ; sich von Schwierigkeiten nicht unterdrücken lassen  ; zur eigenen Meinung stehen, auch wenn diese gegen die Mehrheitsmeinung steht  : Ziebertz u.a. (eds.), Youth in Europe I, 35. 46 „Humanity“ bedeutet Zustimmung zu folgenden Aussagen  : Bereitschaft, anderen zu helfen  ; etwas für die Gesellschaft tun  ; mit anderen teilen und etwas von sich selbst hergeben  ; Ebd., 35.

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beziehen sie ihre Deutungs- und Handlungsorientierungen, wenn die Kirchen dabei nur mehr eine marginale Rolle spielen  ? Auch wenn keinesfalls nur die Kirchen Sinnquellen sein können, ist zu überlegen, woher und wie junge Menschen Sinn und Zukunftsperspektiven gewinnen können. Junge Menschen wenden sich jenen spirituellen und religiösen Kleingruppen (außer­halb wie innerhalb der Kirche) zu, die die religiösen Bedürfnisse zu stillen versprechen, aber wenig Wert auf Reflexion und Bildung legen.47 Dabei kann es im religiösen Feld durchaus zu Vitalisierungsprozessen kommen. Die Trennung zwischen religiösen und politischen Einstellungen, die bestätigt werden konnte, erweist sich dabei als potentiell problematisch, insbesondere bei ungebildeter Religiosität. Die enge Verknüpfung der drei religiösen Dimensionen  ; der Umstand, dass zuerst die institutionalisierte Religion zurückgeht, verweisen auf die Notwendigkeit der Stützung und Reform der institutionellen Gegebenheiten. Religiöse Bildung als gemeinsame Verantwortung von Kirchen, Religionsgemeinschaften sowie Gesellschaft und Politik sind angehalten, reflektierte und gebildete Religion/Religiosität zu fördern. Die Kirchen bedürfen einer Reform, um als Raum konkret gelebter religiöser Praxis erfahrbar zu werden, die die Lebensherausforderungen bestehen hilft. Sie sind ebenso angefragt, worin ihre gesellschaftspolitischen Beiträge in Zukunft bestehen können. Migration ist ein stark zunehmend relevanter Faktor, der die sozioreligiöse Landschaft – auch der Aufnahmegesellschaften – relevant verändern und gestalten wird. Dazu können vorläufig noch keine Szenarios formuliert werden, da es zu wenig Forschung gibt. Z.B. spielen die Religiosität der sogenannten Menschen mit Migrationsgeschichte und die Werte, die sich darin kundtun – ebenso wenig ausreichend erforscht – eine wichtige Rolle. Für die Frage nach den Werten, die Religiosität einbringen kann, sind die Studienergebnisse ein wichtiger Hinweis, verstärktes Augenmerk auf die sozioreli­giöse Entwicklungen – insbesondere bei den jungen Menschen – zu richten, um die entsprechenden Schlüsse ziehen zu können. Insbesondere die Ergebnisse zum Zusammenhang religiöser Einstellungen mit sozialem Engagement verweisen auf die Bedeutung von Religion für die Gesellschaft. Vertiefte interdisziplinäre Forschung und intensive Diskurse zwischen Kirchen, Religionsgemeinschaften, Gesellschaft und Politik sind erforderlich, um den Zusammenhang von Religion, Religiosität und Werten in Zeiten sozioreligiöser Transformationsprozesse entsprechend auszuloten.

47 Dafür sprechen die Entwicklungen im spirituellen Feld, vgl. Knoblauch, Populäre Religion  ; Knoblauch, Soziologie der Spiritualität  ; Martin, Sehnsucht – der Anfang von allem.

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Joas, Hans/Wiegandt, Klaus (Hg.)  : Säkularisierung und die Weltreligionen. Frankfurt am Main 2007 Knoblauch, Hubert  : Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt am Main u.a. 2007 Knoblauch, Hubert  : Soziologie der Spiritualität, in  : Baier (Hg.), Handbuch Spiritualität, 91– 111 Lüddeckens, Dorothea/Walthert, Rafael (Hg.)  : Fluide Religion. Neue religiöse Bewegungen im Wandel, Bielefeld 2010 Michalski, Krzysztof (ed.)  : Religion in the New Europe. Budapest 2006 Michalski, Krzysztof (Hg.)  : Woran glaubt Europa  ? Religion und politische Kultur im neuen Europa, Wien 2007 Martin, Ariane  : Sehnsucht – der Anfang von allem. Dimensionen zeitgenössischer Spiritualität, Ostfildern 2005 Müller, Johannes/Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.)  : Religionen und Globalisierung. Stuttgart 2007 Nolte, Paul  : Religion und Bürgergesellschaft. Berlin 2009 Oertel, Holger  : „Gesucht wird  : Gott  ?“ Jugend, Identität und Religion in der Spätmoderne, Gütersloh 2004 Polak, Regina  : Die Religion kehrt wieder. Handlungsoptionen in Kirche und Gesellschaft, Ostfildern 2005 Polak, Regina  : Lebenshorizonte  : Religion und Ethik, in  : Friesl/Kromer/Polak, Lieben. Leisten. Hoffen, 126–213 Pollack, Detlef  : Rückkehr des Religiösen. Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II. Tübingen 2009 Reder, Michael/Rugel, Matthias (Hg.)  : Religion und die umstrittene Moderne. Stuttgart 2010 Taylor, Charles  : Die Formen des Religiösen in der Gegenwart. Frankfurt am Main 2002 Wuthnow, Robert  : America and the Challenges of Religious Diversity. Princeton – Oxford 2005 Ziebertz, Hans-Georg/Kay, William K. (eds.)  : Youth in Europe I. An international empirical Study about Life Perspectives. (International Practical Theology, Vol. 2), Münster 2005 Ziebertz, Hans-Georg/Kay, William K. (eds.)  : Youth in Europe II. An international empirical Study about Religiosity (International Practical Theology. Vol. 4), Münster 2006 Ziebertz, Hans-Georg/Kay, William K. (eds.)  : Youth in Europe III. An international empirical Study on the impact of Religion on Life Orientation (International Practical Theology, Vol. 10), Münster 2009 Zulehner, Paul M.  : Spiritualität – mehr als ein Megatrend. Ostfildern 2004 Zulehner, Paul M.  : Verbuntung. Kirchen im weltanschaulichen Pluralismus, Ostfildern 2011 Zulehner, Paul M.  : Wiederkehr der Religion  ?, in  : Denz, Hermann (Hg.)  : Die europäische Seele. Leben und Glauben in Europa, Wien 2002, 23–41 Zulehner, Paul M./Hager, Isa/Polak, Regina  : Kehrt die Religion wieder  ? Religion im Leben der Menschen 1970–2000, Ostfildern 2001

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Zulehner, Paul M./Polak, Regina  : Von der „Wiederkehr der Religion“ zur fragilen Pluralität, in  : Friesl/Polak/Hamachers-Zuba, Die Österreicher/-innen, 143–206 Zulehner, Paul M./Tomka, Miklós/Naletova, Inna  : Religionen und Kirchen in Ost(Mittel) Europa. Entwicklungen seit der Wende, Ostfildern 2008

Internetquellen Atheistische Religionsgesellschaft in Österreich, Stand  : 07.04.2011, URL  : http  ://www.atheistische-religionsgesellschaft.at/ Volksbegehren gegen Kirchenprivilegien, Stand  : 17.04.2011, URL  : http  ://www.kirchen-privilegien.at/

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(Groß-)Städte in der Wertelandschaft1 1. Stadt und Land – ein Kontinuum der Moderne und der Interpretationen „Die Stadt“ ist gegenwärtig in aller Munde. Im internationalen Maßstab ist dies auf die Tatsache zurückzuführen, dass im Jahr 2007 ein historischer Wendepunkt stattgefunden hat  : Erstmalig lebten auf der Erde mehr Menschen in Städten als außerhalb von ihnen, bei weiter stark zunehmendem Verstädterungsgrad.2 Rasches Stadtwachstum hat jedoch neben Wirtschaftswachstum und Wohlstandsfortschritten auch immer wieder Verunsicherungen, Ängste, Des-Integrationserscheinungen, soziale Unruhen und Diskurse über Wertewandel und -verfall in den Städten hervorgerufen, in der die Dynamik und die Heterogenität des sozialen Wandels als „Untergang des Abendlandes“, als Verfall von Sitten und Ordnung, als Schaden am Volkskörper angesehen wurden.3 Der Stadt – insbesondere der „Europäischen Stadt“ – werden jedoch meist eine Reihe von positiven Attributen zugeschrieben  :4 Sie gilt als Vorreiterin in einem als Fortschritt verstandenen sozialen Wandel, als offen und tolerant, sie sei eine „Inte-

1 Ich danke Tobias Troger für die statistischen Auswertungen und sein Engagement bei den Überlegungen zum Auswertungsprogramm. 2 Dieses Phänomen ist jedoch von der europäischen Entwicklung weitgehend unabhängig. Erstens liegt der Urbanitätsgrad in (West-)Europa schon seit ca. 100 Jahren über diesem Wert (er variiert gegenwärtig zwischen etwa 70 % und 80 % – Belgien ist mit 92 % Spitzenreiter, siehe Grafik 26). Zweitens weisen die europäischen Städte andere Tendenzen auf als die der BRIC- und Tiger-Staaten  : Die meisten von ihnen schrumpfen, während die letzteren eher „explodieren“ (wie in Europa in der Phase der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts). Drittens stellen die Dynamiken und absoluten Zahlen des Stadtwachstums in den aufkommenden Wirtschaftsnationen die Fachleute vor extreme Herausforderungen technologischer, organisatorischer, finanzieller, städtebaulicher und kultureller Art, so dass das Wachstum der Städte in diesen Regionen vor allem als Problem angesehen wird. 3 Vgl. beispielsweise Riehl, Wilhelm H.  : Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik, Band 1  : Land und Leute, Stuttgart9 1894. 4 Vgl. Bagnasco, Arnaldo/Le Galès, Patrick (eds.)  : Cities in Contemporary Europe. Cambridge 2000  ; Siebel, Walter  : Einleitung. Die europäische Stadt, in  : Siebel, Walter (Hg.)  : Die Europäische Stadt. Frankfurt am Main 2004, 11–50  ; Kazepov, Yuri  : Cities of Europe. Changing Contexts, Local Arrangements and the Challenge to Social Cohesion, in  : Kazepov, Yuri (ed.)  : Cities of Europe. Changing Contexts, Local Arrangements and the Challenge to Urban Cohesion, Oxford 2005, 3–42.

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grationsmaschine“, die allerdings zunehmend ins Stocken geraten sei.5 Sie wird da­ rüber hinaus als anonym, blasiert, von Rationalität beherrscht angesehen,6 sie mache die Menschen frei, aber auch sozial isoliert. „Stadt“ sei – so von Louis Wirth7 auf den Punkt gebracht – ein spezifisches Zusammenspiel aus Größe, Dichte und Heterogenität. Die „Europäische Stadt“ ist also ein spezifisches sozialräumliches Setting, geprägt durch Werte und Lebensführungsstile der bürgerlichen Mittelschicht, Ort der technologischen, ökonomischen (und sozialen  ?) Innovation, des spannungsreichen Wechselverhältnisses aus Fremdem und Vertrautem. Dazu verfügt sie über unterschiedliche Bühnen  : den öffentlichen Raum, auf dem sich die sozialen Gruppen des Mainstreams der Stadtgesellschaft in einem subtil einstudierten Laisser-Faire in Raum und Zeit bewegen und voreinander promenieren.8 Dem stehen die Rückzugsräume ins Private gegenüber, die privaten Grundstücke, die exklusiven Zugänge zu Clubs und Events, die “gated communities“.9 Dazwischen die Orte der In-Besitznahme einzelner Gruppen – in Stadtteilzentren, in den Parks und auf den Plätzen sowie in den Wohnquartieren. Diesem schillernden Bild von Stadt wurde bis in die 1930er-Jahre hinein „das Land“ gegenübergestellt. Alles, was die Stadt nicht hatte oder war – das war „am Land“  : Sozial homogen, ein wenig einfältig, im Tages- und Jahreszeiten-Rhythmus der Natur und nicht der objektiven Uhr angepasst, wobei die Informationen noch im unmittelbaren Austausch weitergegeben werden.10 Umzüge ins suburbane Umland   5 Vgl. Heitmeyer, Wilhelm  : Versagt die Integrationsmaschine Stadt  ? Zum Problem der ethnischkulturellen Segregation und ihrer Konfliktfolgen, in  : Heitmeyer, Wilhelm/Dollase, Rainer/Backes, Otto (Hg.)  : Die Krise der Städte  : Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-kulturelle Zusammenleben. Frankfurt am Main 1998, 443–465  ; Heitmeyer, Wilhelm/ Anhut, Reimund (Hg.)  : Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnischkulturelle Konfliktkonstellationen, Weinheim/München 2000.   6 Vgl. Simmel, Georg  : Die Großstädte und das Geistesleben, in  : Simmel, Georg  : Brücke und Tür. Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst und Gesellschaft, Stuttgart 1957 (1903), 227–242.   7 Vgl. Wirth, Louis  : Urbanism as a Way of Life, in  : The American Journal of Sociology 44 (1938), 1–24.   8 Vgl. Frey, Oliver/Koch, Florian  : Einführung  : Die Zukunft der Europäischen Stadt, in  : Frey, Oliver/Koch, Florian (Hg.)  : Die Zukunft der Europäischen Stadt. Stadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel, Wiesbaden 2011, 11–20.   9 Vgl. Häussermann, Hartmut  : Was bleibt von der europäischen Stadt  ?, in  : Frey/Koch (Hg.), Die Zukunft der Europäischen Stadt, 23–35  ; Helbrecht, Ilse  : Die „neue Intoleranz“ der Kreativen Klasse  : Veränderungen in der Stadtkultur durch das Arbeitsethos der flexiblen Ökonomie, in  : Frey/ Koch (Hg.), Die Zukunft der Europäischen Stadt, 119–135. 10 Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben.

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und die Verbreitung von Medien veranlassten SozialwissenschaftlerInnen, zunächst von einem Stadt-Land-Kontinuum auszugehen. Durch die Internationalisierung und weitere Ablösungsprozesse vom konkreten Ort seit den 1980er-Jahren wird immer wieder das „Verschwinden der Stadt“ als Gegenbild zum ländlichen Raum thematisiert.11 An dieser Stelle muss innegehalten werden, weil es vor allem darum geht, genauer zu beschreiben, was mit „Stadt“ eigentlich gemeint ist. Wenn Georg Simmel12 von „Stadt“ oder Walter Benjamin13 über die „Passanten in der Großstadt“ schreibt, dann ist eindeutig die Innenstadt, sind noch nicht einmal die innenstadtnahen Wohngebiete gemeint. Städte sind – auch und gerade nach den Kategorien von Louis Wirth – beileibe nicht durchgängig groß,14 dicht oder heterogen (für die Heterogenität gibt es keine statistischen Messungen). Städte weisen interne Unterschiede nach Lage- und Ausstattungs-Kategorien, nach Konzentrationsmustern sozialer Gruppen, nach der Qualität der öffentlichen Räume auf. In (Groß-)Städten finden sich Bürotürme aus Stahl und Glas, vor-industrieller Geschosswohnungsbau, eingemeindete dörfliche Siedlungskerne, Arbeiterwohnungen der Industrialisierungsphase, Großsiedlungen und Einfamilienhaus-Gebiete – das alles ist „Stadt“! Sie ist also so vielgestaltig, dass sie kaum als eine sozialwissenschaftliche Kategorie taugt. Stadtsoziologische und humangeografische Analysen werden daher meist auf der Quartiersebene durchgeführt, in spezifischen Siedlungstypen oder sozial-strukturellen Konfigurationen. Ein Teil der Stadtsoziologie hat sich zudem von der engen Sichtweise gelöst und betrachtet als „Siedlungssoziologie“ die sozialräumlichen Settings, in denen die Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungsprozesse stattfinden.15 Allenfalls in Ausnahmefällen wurde „Stadt“ mit Wertemustern verbunden oder gar die ungleiche Verteilung sozialer Gruppen auch als eine urbane Wertelandschaft verstanden.16 11 Vgl. Krämer-Badoni, Thomas/Petrowsky, Werner (Hg.)  : Das Verschwinden der Städte. Bremen 1997. 12 Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben. 13 Benjamin, Walter  : Gesammelte Schriften. Band V. Das Passagenwerk, Frankfurt am Main 1992. 14 Die kleinste Stadt Österreichs, Rattenberg (Bez. Kufstein), hatte im Jahr 2011 nur 463 EinwohnerInnen (vgl. Website  : Stand: 20.04.2011, URL  : http  ://www.wir31.at/rattenberg.html). 15 Vgl. Dangschat, Jens S./Frey, Oliver  : Stadt- und Regionalsoziologie, in  : Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian/Maurer, Susanne/Frey, Oliver (Hg.)  : Handbuch Sozialraum. Wiesbaden 2005, 143–164  ; Dangschat, Jens S.  : Städte, Regionen, Siedlungsräume, in  : Forster, Rudolf (Hg.)  : Forschungs- und Anwendungsbereiche der Soziologie. Wien 2008, 235–249. 16 Robert E. Park (Park, Robert E.  : The Urban Community as a Spatial Pattern and a Moral Order, in  : Publications of the American Sociological Association 20 (1925), 1–14) schrieb über die “moral order“, welche die einzelnen ethnisch geprägten Grätzl in Chicago gekennzeichnet habe und auch

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Die Raumsoziologie basiert vor allem auf einem Paradigmenwechsel  : Der Raum wird von den AutorInnen nicht mehr als ein Behälter angesehen, der mit Anzahlen und Anteilen sozialer Gruppen, mit Infra- und Wohnbaustrukturen angefüllt ist, der auch losgelöst von seinem Inhalt existiert  ; er wird als „relationaler Raum“ betrachtet, bei dem die physischen Elemente in engem, allenfalls analytisch trennbarem Zusammenhang mit den sozialen Prozessen stehen. Mit diesen Ansätzen gehen die AutorInnen zudem insofern einen Schritt weiter, indem sie ihre Fragestellungen weniger auf „objektive Raumstrukturen“ richten, sondern auf (gruppenspezifische) Konstruktionen von sozial-räumlichen Phänomenen.17 In einem größeren Forschungsverbund (LOEWE) wird zudem die These vertreten, dass Städte „Individuen“ seien, ausgestattet mit einem „Eigensinn“.18 In diesem Aufsatz wird die (Groß-)Stadt in ihrer Bedeutung als Vorreiterin des sozialen Wandels angesehen. In großen Großstädten – so die generelle These – finden gesellschaftliche Modernisierungsprozesse früher und intensiver statt als anderswo. D.h. hier werden – so die Annahmen – die neuen Aspekte des sozialen und Wertewandels früher und intensiver sichtbar. Dieses soll in einem ersten Schritt anhand von Städten in Österreich überprüft werden, die nach ihrer Einwohnerzahl (Gemeindegrößenklassen) zusammengefasst sind (s. Abschnitt 2, 3 und 4). Da der gegenwärtige soziale Wandel jedoch sehr intensiv ist, in verschiedenen, sich ergänzenden Dimensionen unterschiedlich dynamisch stattfindet und von unterschiedlichen sozialen Gruppen getragen wird, kann jedoch von einer eindeutigen Linearität entlang von Gemeindegrößenklassen kaum ausgegangen werden. Zudem ist die Hypothese zu stark vereinfachend, dass soziale Innovationen, die sich im Sinne einer (bürgerlich geprägten) Klammer, welche die Stadtgesellschaft zusammenhält. Siebel (Siebel, Walter  : Die Stadt und die Zuwanderer, in  : Häussermann, Hartmut/Oswald, Ingrid (Hg.)  : Zuwanderung und Stadtentwicklung. Leviathan Sonderheft 17 (1997), 30–41) schreibt über das labile Gleichgewicht zwischen Auseinanderstreben und Zusammenhalt als „binnenintegrativer Segregation“. Dangschat (Dangschat, Jens S.  : Geld ist nicht (mehr) alles – Gentrification als räumliche Segregierung nach horizontalen Ungleichheiten, in  : Blasius, Jörg/Dangschat, Jens S. (Hg.)  : Gentrification – Die Aufwertung innenstadtnaher Wohngebiete. Frankfurt am Main 1990, 69–91) verweist auf unterschiedliches „kulturelles Kapital“ in der Auseinandersetzung im Zuge der Gentrifizierung oder später vom „Habitus des Ortes“ als mit dem physischen Ort verbundenen Wertemuster als Ergebnis kognitiver Prozesse (vgl. Dangschat, Jens S.  : Raumkonzept zwischen struktureller Produktion und individueller Konstruktion, in  : Ethnoscripts 9 (2007), 24–44). 17 Vgl. Löw, Martina  : Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001  ; Löw, Martina/Steets, Silke/Stoetzer, Sergej  : Einführung in die Stadt- und Raumsoziologie. Opladen2 2008  ; Dangschat, Jens S.  : Raumkonzept zwischen struktureller Produktion und individueller Konstruktion. 18 Vgl. Berking, Helmuth/Löw, Martina (Hg.)  : Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt am Main – New York 2008.

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in Wertemustern niederschlagen, immer von den gebildeten Mittelschichten der Großstädte, von jungen Generationen oder der technologischen Entwicklung ausgehen. Gerade Österreich dürfte mit seiner regional differenzierten Kultur und mit der „Versäulung“ der Gesellschaft durch spezifische regionale und kulturelle Modernisierungsprozesse gekennzeichnet sein. In einem zweiten Schritt (s. Abschnitt 5) werden die Wertemuster in ausgewählten europäischen Groß- und Hauptstädten miteinander verglichen. Hier wird von zwei generellen Thesen ausgegangen  : Dass erstens die (großen) Großstädte der Entwicklung ihres Landes vorauseilen und dass sich zweitens innerhalb des Vergleichs untereinander noch immer die Bedeutung des Beginns der Industrialisierung und der Höhe des Urbanisierungsgrades zeigt.

2. Die Analyse nach Gemeindegrößenklassen – ein Kompromiss mit weit reichender Bedeutung Die sehr breit angelegte Europäische Wertestudie ist so konzipiert, dass sie Aussagen auf den jeweiligen nationalen Ebenen zulässt. Damit kann belegt werden, welche Werte „die Menschen, die in Österreich leben“ teilen resp. welche nicht. Da dieser „Durchschnitt“ jedoch wenig aussagekräftig ist, ist es auch von höchstem Interesse zu wissen, wer welche Werte teilt und wer welche ablehnt. Das setzt erstens voraus, dass die Stichprobe repräsentativ ist, d.h. dass die Wohnbevölkerung nach wesentlichen Kategorien angemessen abgebildet wurde.19 Dazu reicht es aber nicht aus, den passenden Anteil an Frauen und Männern, Jungen und Alten, besser und schlechter Gebildeten zu repräsentieren, es müssen auch die „richtigen“ Kombinationen sein.20 Wenn man nun die Unterschiede der Wertelandschaften in unterschiedlichen Gemeinden analysieren soll, muss auch die Repräsentativität auf niedrigerer Ebene (Bundesland, politischer Bezirk, Gemeindegrößenklassen) gegeben sein. Ist diese 19 Das ist für einige Länder zumindest fragwürdig. So wurden beispielsweise in Deutschland keine Interviews in Städten über 500.000 Einwohnern gemacht – das sind immerhin 14 Städte mit etwa 13,2 Mio. E (entspricht etwa 18,1 % der Wohnbevölkerung Deutschlands). Das wirkt sich unmittelbar auf die nationalen Ergebnisse aus, weil bestimmte „großstädtische“ Muster der Verarbeitung des sozialen Wandels, wie er sich in den Wertemustern niederschlägt, stark unterrepräsentiert sind. Auch dieser Aufsatz ist mittelbar davon betroffen, weil deutsche Städte im Vergleich zu Wien ausfallen (s. Abschn. 5). 20 Wenn beispielsweise eher unterdurchschnittlich gebildete Männer und überdurchschnittlich gebildete Frauen befragt wurden, kann es „unter dem Strich“ zwar stimmen  ; dass aber die Ergebnisse verzerrt sind, weil die Bevölkerung „schief abgebildet“ wurde, kann kaum entdeckt werden.

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„schief “, besteht der Verdacht, dass die Stichprobe auf nationaler Ebene ebenfalls nicht stimmt, weil zu viele resp. die nicht Repräsentativen der unterschiedlichen räumlichen Einheiten befragt wurden. Als territoriale Zuordnung sind die Gemeindenamen aller Befragten erfasst worden. Die jeweiligen Besetzungszahlen sind allerdings so gering (außer in Wien), dass sie hier nach der Gemeinsamkeit vergleichbarer Einwohnerzahlen für Österreich zusammengefasst wurden (Gemeindegrößenklassen) (Fortschreibung 2007). In Österreich gibt es 2.357 Gemeinden, davon 200 Städte, 762 Marktgemeinden und 1.395 sonstige Gemeinden, die sich wie folgt nach Größe aufteilen  : 21 • • • • • • • •

unter 2.000 E (14 Städte), 2.000 E bis unter 5.000 E (56 Städte), 5.000 E bis unter 10.000 E (66 Städte), 10.000 E bis unter 20.000 E (40 Städte), 20.000 E bis unter 50.000 E (15 Städte), 50.000 E bis unter 100.000 E (Klagenfurt, Villach, Wels, St. Pölten), 100.000 E bis unter 500.000 E (Graz, Linz, Salzburg, Innsbruck) und 500.000 E und mehr (Wien).

Die durchschnittliche Gemeindegröße beträgt 3.557 E (ohne Wien  : 2.835 E)22, d.h. Österreich ist vor allem durch kleine Gemeinden geprägt und hat mit ca. 100 E/ km2 23 einen in Westeuropa eher geringen Verstädterungsgrad von 69 %. Die Bevölkerungsdichte ist in den Großstädten und den großen Mittelstädten jedoch sehr viel höher, variiert aber innerhalb dieser Kategorien deutlich (Tabelle 18). Wie bereits oben erwähnt, sind Großstädte hinsichtlich der sozialen Gruppierungen in sich strukturell und damit wohl auch bezüglich der Wertemuster nicht homogen. Das gilt in noch stärkerem Maße für Größenklassen von Gemeinden. Denn neben der in etwa gleichen Zahl an EinwohnerInnen sind sie eher von internen Unterschieden geprägt, die sich für die Wertemuster als relevant erweisen dürften  : Nach ihrer Lage im Siedlungssystem (im suburbanen Raum einer Großstadt, als Bezirkshauptstadt, als Stadt in einem Netzwerk eher gleich großer weiterer Städte), was mit bestimmten infrastrukturellen Ausstattungen verbunden ist. Dieses 21 Stand  : 20.04.2011, URL  : http  ://www.statistik.at/web_de/statistiken/regionales/oesterreichs_sta edte_in_zahlen/index.html. 22 Stand  : 13.03.2011, URL  : http  ://de.wikipedia.org/wiki/Gemeinde_( % C3 % 96sterreich). 23 Bezieht man die Einwohnerzahl auf den Dauersiedlungsraum (Siedlungsdichte), steigt der Wert auf 250 E/km2 und liegt damit im westeuropäischen Mittelfeld  ; Stand  : 13.03.2011, URL  : http  ://www. aeiou.at/aeiou.encyclop.b/b420550.htm.

(Groß-)Städte in der Wertelandschaft

229

schlägt sich wiederum in einem spezifischen Angebot an Arbeitsplätzen und Dienstleistungsangeboten sowie in der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung nieder. Bedeutsam ist es auch, ob die jeweilige Stadt in einer ökonomisch und demografisch wachsenden oder schrumpfenden Region liegt.24 Weiters ist die großräumige Verteilung relevant, denn die Wohnbevölkerung im Westen Österreichs ist deutlich jünger als die des Südens, des Burgenlandes und des Waldviertels. Stadt

Bevölkerungsdichte nach Quelle A25

Bevölkerungsdichte nach Quelle B26

Wien

3.711 E/km2

4.025 E/km2

Salzburg

2.193 E/km

2

2.288 E/km2

Linz

2.116 E/km

2

1.971 E/km2

Graz

1.865 E/km2

1.960 E/km2

Steyr

1.481 E/km2

Wels

1.145 E/km2

Innsbruck

1.126 E/km2

Klagenfurt

745 E/km2

Wiener Neustadt

576 E/km2

St. Pölten

461 E/km2

Villach

405 E/km2

1.124 E/km2

Tabelle 18  : Groß- und große Mittelstädte in Österreich, nach Bevölkerungsdichte (ohne Jahresangabe). 25 26

Die Folge ist, dass jede der Größenklassen hinsichtlich der ökonomischen, sozioökonomischen und soziodemografischen Merkmale sehr heterogen sein dürfte. Da SoziologInnen davon ausgehen, dass solche Strukturmerkmale ein entscheidendes Erklärungspotenzial für die Ausrichtung der Wertemuster besitzen, ist nicht zu erwarten, dass Gemeindegrößenklassen sehr häufig ausgeprägt homogene Wertemuster ihrer BewohnerInnen aufweisen. Es ist sogar nicht auszuschließen, dass die Unterschiede innerhalb einer Größenklasse größer sind als zwischen einigen Größenklassen. Aufgrund der hoch differenzierten (und weitgehend unbekannten) Modernisierungsprozesse ist zudem nicht davon auszugehen, dass sich die Wertemuster entlang auf- und absteigender Einwohnerzahlen der Gemeindegrößenklassen zeigen werden.

24 Vgl. Dangschat, Jens S.  : Stadtentwicklung zwischen Wachsen und Schrumpfen, in  : Stadtdialog. Schriftenreihe des Österreichischen Städtebundes 1 (2009). 25 Stand: 13.03.2011, URL: http://burkina.at/images/5/56/Oesterreich.jpg. (ohne Jahresangabe). 26 Stand: 13.04.2011, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Bev % C3 % B6lkerungsdichte; (ohne Jahresangabe). Statistik Austria gibt hier keine Angaben.

230

Jens S. Dangschat

3. Thesen Es soll dennoch im Sinne einer H0 hier von der generellen These ausgegangen werden, dass große Großstädte eine Vorreiterrolle im Modernisierungsprozess einnehmen. Diese sehr allgemeine Aussage dürfte jedoch für die einzelnen Wertedimensionen nicht durchgängig gelten. Darüber hinaus ist es aufgrund der sehr kleinräumigen österreichischen Siedlungsstruktur und vor allem regionaler Eigenständigkeiten denkbar, dass in den mittleren Gemeindegrößenklassen eigene Vorreiterrollen aufgrund der variierenden Kontexte27 bestehen resp. dass sie einen “cultural lag“ aufweisen. Unterschiede zwischen großen Großstädten und kleineren Städten zeigen sich insbesondere in der Demografie – dem Geschlechts- und Altersaufbau, der Haushaltsgröße und dem Familienstand. Hierbei unterscheidet sich Wien von den anderen vier österreichischen Großstädten, weil sich die Landeshauptstadt in einer weiter fortgeschrittenen Entwicklungsstufe befindet (Re-Urbanisierung). Während die Städte Graz, Linz, Salzburg und Innsbruck noch immer Wohnbevölkerung ins Umland verlieren und das Umland stärker wächst als die Kernstädte (Suburbanisierung), liegt in Wien das Wachstum (wieder) deutlich höher als in dessen Umland.28 Das Wachstum beruht hierbei auf zwei spezifischen Gruppen  : internationale Zugewanderte und junge Erwachsene – beides liegt vor allem am polarisierten Arbeitsmarkt, am ausgeweiteten Bildungssystem und damit im Zusammenhang stehend einer veränderten Wertestruktur, die sich u.a. in veränderten Wohnstandortpräferenzen zeigt. Damit überlagern sich in der europäischen Städteentwicklung zwei Prozesse  : die nachlassende Suburbanisierung und die zunehmende „Renaissance“ der (Innen-)Städte.29 In den Großstädten ist also zu erwarten, dass die Gruppe der jungen Erwachsenen überdurchschnittlich groß und das Bildungsniveau überdurchschnittlich hoch ist, während in kleineren Gemeinden der Anteil der Älteren und der niedrigeren Bil27 Beispielsweise zentrale Funktionen der Bezirkshauptstädte, Profitieren innerhalb suburbaner Zonen von Kernstadt-Effekten (insbesondere im Umfeld von Wien) oder grenzüberschreitenden Zusammenhängen (insbesondere im Umfeld von Salzburg) oder aufgrund funktionierender Netzwerke (insbesondere in Vorarlberg, wo auch grenzüberschreitende Effekte wirksam sind). 28 Statistik Austria  : Volkszählungen 1991 und 2001. 29 Diese „Renaissance“ ist in Europa noch nicht auf ein „back to the city movement“ (wie in den USA) zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass gerade die gut gebildeten BürgerInnen tendenziell zunehmend in der Stadt verbleiben. Dahinter stehen „neue Standortpräferenzen“ aufgrund veränderter demografischer Strukturen (keine und wenige Kinder, Abkehr von der Ehe) und Wertemuster (eine zunehmende Orientierung an beruflicher Karriere, vor allem von Frauen) sowie einer verbesserten Wohnqualität der innerstädtischen Grätzl.

(Groß-)Städte in der Wertelandschaft

231

dungsabschlüsse den nationalen Durchschnitt überschreiten. Das bedeutet als Folge, dass in kleinen Gemeinden eher traditionelle Wertemuster dominieren, während in den (großen) Großstädten moderne, flexible und „zusammengebastelte“ Wertemuster sichtbar werden. Die unterschiedlichen Kontexte der Regionen liegen allerdings hierzu „quer“, denn sie determinieren letztlich den Arbeitsmarkt und die sozial selektiven Migrationen, was sich wiederum im Altersaufbau und in den Bildungsniveaus niederschlägt („brain drain“).30 Alter (in Jahren)*

Geschlecht***

Bildung*

Gemeindegrößenklasse 18–29

30–44

45–59

60+

m

w

n

m

h

14,2

25,1

26,4

34,2

44,9

55,1

27,5

64,7

 7,8

5.000 E

16,9

28,6

27,1

27,4

49,2

50,8

20,2

73,1

 6,6

5.000 E bis u. 10.000 E

14,7

27,1

23,7

34,5

45,2

54,8

20,3

68,4

11,3

10.000 E bis u. 20.000 E

12,5

22,7

32,0

32,8

50,0

50,0

14,0

69,0

17,1

20.000 E bis u. 50.000 E

14,3

42,9

19,0

23,8

42,9

57,1

19,3

74,7

  6,0

50.000 E bis u. 100.000 E

20,0

30,0

22,5

27,5

47,5

52,5

10,1

83,5

 6,3

100.000 E bis u. 500.000 E

16,2

23,1

28,2

32,5

53,0

47,0

16,1

66,1

17,8

500.000 E und mehr

32,0

32,0

16,8

19,2

50,2

49,8

13,1

77,4

 9,4

Gesamt

18,7

28,3

24,4

28,6

48,0

52,0

18,8

71,5

 9,7

bis unter 2.000 E 2.000 E bis u.

Tabelle 19  : Stichprobe, Gemeindegrößenklassen Österreich, nach Alter, Geschlecht und Bildungsniveau, Werte in %, grau unterlegt  : Höchstwerte  ; hellgraue Schrift  : niedrigste Werte, Bildung  : n = niedrig, m = mittlere Abschlüsse, h = hohe Bildung, * signifikant auf dem 0,001-Niveau, *** nicht signifikant. Quelle  : EVS 2008.

Betrachtet man die demografische Struktur der Befragten der Wertestudie für Österreich, bestätigen sich die oben gemachten Annahmen hinsichtlich der Altersverteilung (Tabelle 19). Der hohe Anteil an jungen Erwachsenen in Wien macht deutlich, dass die allgemeine Debatte einer „Ageing society“ für die österreichische Hauptstadt kaum eine Relevanz besitzt (im Gegensatz dazu jedoch für die anderen Großstädte, obwohl auch diese Universitätsstädte sind) – hier wird der „Entwicklungsrückstand“ der Hauptstädte der Bundesländer gegenüber Wien deutlich. Die 30 Vgl. Dangschat, Jens S.  : Die „neue“ Gesellschaft  : Auswirkungen auf die bestehenden Planungsverfahren, in  : Österreichische Raumordnungs-Konferenz (ÖROK) (Hg.)  : Raumordnung im 21. Jahrhundert – zwischen Kontinuität und Neuorientierung. 12. ÖROK-Enquete zu 50 Jahre Raumordnung in Österreich, in  : ÖROK-Sonderserie „Raum & Region“ 2 (2005), 20–29.

232

Jens S. Dangschat

Verteilung der Geschlechter zeigt keine Auffälligkeiten  ; hier werden auch kaum Unterschiede nach Gemeindegrößenklassen erwartet – die Unterschiede dürften zudem eher Ergebnis ungleicher Ausschöpfung der Stichprobe sein. Die Verteilung der Bildungsgruppen zeigt jedoch gegenüber der Hypothese überraschende Ergebnisse, denn der Anteil höherer Bildungsgruppen liegt in Wien sogar unter dem durchschnittlichen nationalen Ergebnis und weist nur etwas mehr als die Hälfte der Werte der sonstigen Großstädte und der Städte zwischen 10.000 E und 20.000 E auf.31 Der zudem sehr geringe Anteil an niedrigen schulischen Qualifikationen weist nur vordergründig auf die Tendenz relativ hoher Bildungsabschlüsse in Großstädten hin, denn diese sind im europäischen Maßstab zugleich auch von einem relativ hohen Anteil sehr niedriger Qualifikationen geprägt. Damit lässt sich die Bildungsstruktur (der Stichprobe) Wiens kaum mit solchen europäischer Metropolen vergleichen, welche eine eher polarisierte Struktur aufweisen. Überraschend ist insbesondere der deutlich höhere Anteil an besser Gebildeten in den kleineren Großstädten und in der Größenklasse zwischen 10.000 E und unter 20.000 E (insbesondere für Letzteres fehlt es an plausiblen Erklärungen32). In Tabelle 20 wird der Migrationshintergrund unter den Befragten abgebildet, welches im Wesentlichen die Annahmen bestätigt  : geringste Anteile an Menschen mit Migrationshintergrund in kleinen Gemeinden, höchste in den Großstädten. Deutlich wird auch, dass Wien bereits über eine längere (und intensivere) Zuzugstradition verfügt, weil hier die Mehrheit aller Zugewanderten bereits in der zweiten Generation in Österreich lebt, während in den vier kleineren Großstädten noch die erste Generation dominiert . Ob diese daher besser integriert sind, lässt sich aus diesen Zahlen nicht ableiten, denn dazu wären Informationen über die Nationalität, die Ethnie und das Bildungsniveau sowie die soziale Mobilität innerhalb der Familien notwendig.

31 Hier liegen ganz offensichtlich massive Verzerrungen zumindest der Österreichischen Stichprobe vor (d.h. das Marktforschungsinstitut hat an dieser Stelle unzureichend gearbeitet), denn alle Studien weisen aus, dass die Wiener Wohnbevölkerung über das höchste Bildungsniveau in Österreich verfügt (vgl. beispielsweise Volkszählungsdaten von 2001, Stand  : 15.03.2011, URL  : http  ://www.wien. gv.at/statistik/daten/pdf/vz2001ausbildung.pdf  ; oder Schneeberger, Arthur/Petanovic, Alexander  : Bildungsstruktur und Qualifikationsbedarf in Wien. ibw-Forschungsbericht Nr. 159, Wien 2010. Problematisch ist aber auch, dass die amtliche Statistik hinsichtlich der Angaben über Städte sehr schlecht ist (Daten liegen in der Regel ausschließlich für Bundesländer und politische Bezirke vor). 32 Denkbar wäre es, wenn in dieser Klasse nahezu ausschließlich Städte versammelt wären, die im suburbanen Umland liegen und zudem über eine historische Bausubstanz verfügen – davon kann jedoch nicht ausgegangen werden.

(Groß-)Städte in der Wertelandschaft

Gemeindegrößenklasse bis unter 2.000 E

233 Migrationshintergrund* keiner

erste Generation

zweite Generation

96,6

1,4

2,0

5.000 E

95,8

2,7

1,5

5.000 E bis unter 10.000 E

93,2

3,4

3,4

10.000 E bis unter 20.000 E

91,4

7,0

1,6

20.000 E bis unter 50.000 E

89,2

7,2

3,6

50.000 E bis unter 100.000 E

90,0

6,3

3,8

100.000 E bis unter 500.000 E

89,0

7,6

3,4

500.000 E und mehr

85,5

4,7

9,8

Gesamt

92,1

4,1

3,8

2.000 E bis unter

Tabelle 20  : Stichprobe, Gemeindegrößenklassen Österreich, nach Migrationshintergrund. Werte in %, grau unterlegt  : Höchstwerte  ; hellgraue Schrift  : niedrigste Werte, * signifikant auf dem 0,001-Niveau. Quelle  : EVS 2008.

Entlang der Gemeindegrößenklassen werden sich die Auswirkungen der Modernisierung der Arbeitsmärkte auf die Wertemuster vermutlich am deutlichsten zeigen.33 Gerade für Frauen haben sich aufgrund verstärkter beruflicher Karriereorientierung erhebliche Umwertungen ergeben, was wiederum die Geschlechterverhältnisse und die „privaten Werte“ beeinflusst. Die Arbeitsmärkte erfordern also ein höheres (hoch)schulisches Bildungsniveau, pro-aktive Einstellungen zur Erwerbsarbeit, zur beruflichen Karriere, zur geistigen und kreativen Beweglichkeit. Die Erwerbsarbeit soll mehr leisten, als sich ausschließlich vom Einkommen einen entsprechenden Lebensstandard erlauben zu können  ; sie soll Selbstverwirklichungen ermöglichen, Kreativität zulassen und eine tägliche Herausforderung empfinden lassen, was sich unmittelbar in spezifischen Wertemustern niederschlagen sollte. 4. Stadt-Land-Gegensätze der Wertemuster in Österreich 4.1 Einstellungen zur Erwerbsarbeit, zur Familie und zu Freunden & Bekannten

Aufgrund der Entwicklungen der Zunahme moderner Dienstleistungsberufe in urbanen Arbeitsmärkten nehmen nach generellen Annahmen auch die Bildungsanforderungen zu, in deren Folge sich die Einstellungen zur Erwerbsarbeit und zur Familie (insbesondere bei Frauen) verändern müssten. Wie in Tabelle 20 bereits ge33 Moderne urbane Arbeitsmärkte verlangen eine höhere intellektuelle Ausbildung, was zum einen die Ausbildungsdauer verlängert, womit Kinder später oder nicht mehr in Frage kommen, denn der Arbeitsmarkt verlangt nach räumlicher und zeitlicher Flexibilität, was wiederum dazu führt, dass Bindungen an Familie und Partnerschaften die notwendigen Freiheitsgrade einschränken.

234

Jens S. Dangschat

zeigt wurde, ist das Bildungsniveau der kleineren Großstädte zumindest in der (wohl verzerrten) Stichprobe höher als das in Wien. Die Erwerbsarbeit ist insbesondere den Menschen in den kleineren Gemeinden sehr wichtig, in den mittleren Größenklassen ist sie hingegen eher unwichtig – doch diese Unterschiede können sehr unterschiedliche Ursachen haben. Dass die Familie in Wien als nicht so wichtig wie in kleineren Städten und Gemeinden angesehen wird, kann nur vordergründig mit dem deutlich höheren Anteil an Ein-PersonenHaushalten erklärt werden, denn diesen kann ja umgekehrt aufgrund des Alleinlebens die eigene Familie besonders wichtig sein. Aber auch Freunden und Bekannten räumen die Wiener den geringsten Stellenwert im Vergleich zu den anderen Gemeindegrößenklassen ein – warum aber die beiden nächst größeren Städten das „Gegenmodell“ liefern, muss an dieser Stelle offen bleiben. Erwerbsarbeit*34 Gemeindegrößenklasse bis unter 2.000 E 2.000 E bis u.

5.000 E

Freunde & Bekannte**

Familie*

sehr recht nicht sehr recht nicht sehr recht nicht wichtig wichtig wichtig wichtig wichtig wichtig wichtig wichtig wichtig 62,0

29,2

 8,8

83,8

14,5

1,7

55,4

37,5

7,1

60,4

29,6

10,0

82,1

13,3

4,5

57,5

35,8

6,6

5.000 E bis u. 10.000 E

52,8

38,6

 8,6

79,1

15,3

5,1

55,9

35,0

9,0

10.000 E bis u. 20.000 E

49,2

37,5

13,3

83,6

11,7

4,7

60,9

29,7

9,4

20.000 E bis u. 50.000 E

59,5

22,6

17,9

74,1

20,0

5,9

53,6

44,0

2,4

50.000 E bis u. 100.000 E

34,6

46,2

19,2

80,0

18,8

1,3

65,0

30,0

5,0 11,1

100.000 E bis u. 500.000 E

47,9

41,0

11,1

81,4

12,7

5,9

64,1

24,8

500.000 E und mehr

45,6

43,6

10,8

66,4

30,5

3,0

47,1

48,1

4,7

gesamt

53,6

35,4

11,0

78,6

17,7

3,8

55,9

37,3

6,9

Tabelle 21  : Stichprobe, Gemeindegrößenklassen Österreich, nach Wichtigkeit von Arbeit, Familie, Freunden & Bekannten, Werte in %, grau unterlegt  : Höchstwerte  ; hellgraue Schrift  : niedrigste Werte, * signifikant auf dem 0,001-Niveau, ** signifikant auf dem 0,005-Niveau. Quelle  : EVS 2008.34

Die Erziehungsziele unterscheiden sich nach Gemeindegrößenklassen deutlich (Tabelle 22) – insbesondere hier wird die „Sonderstellung“ Wiens deutlich  : In den für Öster­reich sechs wichtigsten Kategorien liegen die Werte für die Hauptstadt deutlich unter dem Bundesdurchschnitt – hierbei handelt es sich durchgängig um kon34 Zum einen ist die Frage nach der Wichtigkeit der Arbeit sehr unklar. Für die Einschätzung innerhalb einer Wertestudie wäre es unumgänglich, nach „wichtig für den ökonomischen Lebensunterhalt“ oder „wichtig, um den Alltag zu organisieren“ oder „wichtig für mein Selbstwertgefühl“ zu unterscheiden. Man könnte die These aufstellen, dass die Absicherung der Materialität in kleineren Gemeinden wichtiger ist, während bei den Nennungen in Wien die Selbstverwirklichung bedeutsamer ist. Es ist zusätzlich problematisch, dass offensichtlich diese Frage an alle Befragten gerichtet wurde, also auch an Menschen, die keine Erwerbsarbeit durchführen. Rechnet man die Nicht-Erwerbstätigen heraus, dann sind die Fallzahlen oftmals zu gering.

(Groß-)Städte in der Wertelandschaft

235

bis unter 2.000 E 2.000 E bis u.

5.000 E

Hart arbeiten**

Gehorsam**

Fester Glauben & religiöse Bindung**

Phantasie**

Energie & Ausdau­ er***

Sparsamkeit*

Unabhängigkeit & Selbständigkeit***

Andere achten & tolerant sein*

Gemeindegrößenklasse

Gute Manieren*

Wichtige Werte der ­Erziehung

Verantwortungsgefühl*

servative Werte. Umgekehrt sind die hedonistischen Werte (Phantasie gepaart mit harter Arbeit) für Wien sehr hoch. Der relativ hohe, gleichwohl unter dem Bundesdurchschnitt liegende Wert für die religiöse Bindung dürfte zu einem großen Teil auch auf Menschen mit Migrationshintergrund zurückzuführen sein. Umgekehrt stehen für die beiden kleinsten Gemeindegrößenklassen die kleinbürgerlich-konservativen Werte im Mittelpunkt  : Sparsamkeit und fester Glaube/feste religiöse Bindung.

79,6

81,7

67,1

64,6

54,3

26,6

17,6

23,0

17,8

13,9

76,6

80,1

68,8

67,7

49,1

34,3

16,1

21,2

12,2

13,2

5.000 E bis u. 10.000 E

84.7

80,1

73,3

66,5

41,1

31,2

21,3

17,4

21,7

12,2

10.000 E bis u. 20.000 E

82,7

76,2

75,8

61,6

50,0

38,0

15,6

16,3

8,9

  8,4

20.000 E bis u. 50.000 E

85,7

85,7

70,2

65,1

55,3

35,7

22,9

18,1

10,7

13,1

50.000 E bis u. 100.000 E

84,8

87,5

68,4

66,3

41,8

32,9

25,3

16,3

12,7

  6,5

100.000 E bis u. 500.000 E

82,1

77,8

79,5

74,4

37,6

32,5

28,1

 7,6

  7,7

  5,9

500.000 E und mehr

68,3

64,5

56,9

58,1

23,5

24,1

27,4

12,7

13,8

19,4

Gesamt

78,4

77,6

68,2

64,9

43,4

30,6

21,0

17,5

14,1

13,1

Tabelle 22  : Stichprobe, Gemeindegrößenklassen Österreich, nach Erziehungszielen, Werte in %, grau unterlegt  : Höchstwerte  ; hellgraue Schrift  : niedrigste Werte, * signifikant auf dem 0,001-Niveau, ** signifikant auf dem 0,005-Niveau, *** signifikant auf dem 0,05-Niveau. Quelle  : EVS 2008.

Warum sich allerdings das Muster der kleineren Großstädte von dem Wiens so deutlich unterscheidet, ist für mich nicht plausibel. In den vier Landeshauptstädten werden vor allem bürgerliche Werte vermittelt  : Verantwortungsgefühl und gute Manieren, während die drei am seltensten als wichtig genannten Werte Religiosität, Gehorsam und hart arbeiten noch deutlich seltener verfolgt werden. 4.2 Einstellungen zur Wichtigkeit von Freizeit, Religion und Politik

Die „weicheren“ Themen dürften aufgrund größerer Freiheitsgrade stärker von sozialen Milieus, also von Wertegemeinschaften, die zur Gruppenbildung führen, als von Aggregationen über Gemeindegrößen geprägt sein. Inwieweit Gemeindegrößenklassen eine regionale Segregation nach Milieus widerspiegeln können, muss hier offen bleiben, allerdings lassen die in Tabelle 23 dargestellten Ergebnisse eher Zweifel aufkommen.

236

Jens S. Dangschat Religion**

Freizeit*** Gemeindegrößenklasse bis unter 2.000 E 2.000 E bis u.

5.000 E

Politik*

sehr recht nicht sehr recht nicht sehr recht nicht wichtig wichtig wichtig wichtig wichtig wichtig wichtig wichtig wichtig 38,5

46,6

14,9

19,9

35,5

44,6

 9,8

29,8

60,3

43,8

43,8

12,4

22,0

30,3

47,7

 8,5

24,5

67,0

5.000 E bis u. 10.000 E

46,6

46,6

6,8

18,4

32,2

49,4

10,3

31,4

58,3

10.000 E bis u. 20.000 E

51,6

38,3

10,1

20,3

28,9

50,8

16,4

29,7

53,9

20.000 E bis u. 50.000 E

49,4

39,8

10,8

19,0

19,0

61,9

  6,0

25,3

68,6

50.000 E bis u. 100.000 E

42,5

45,0

12,5

  8,8

22,5

58,8

10,0

23,8

66,3

100.000 E bis u. 500.000 E

50,4

41,9

  7,7

13,7

25,6

60,6

15,3

39,0

45,8

500.000 E und mehr

41,4

47,1

11,4

16,0

25,2

58,8

13,9

35,8

50,4

gesamt

44,0

44,6

11,4

18,3

29,0

52,7

11,2

30,2

58,7

Tabelle 23  : Stichprobe, Gemeindegrößenklassen Österreich, nach Wichtigkeit von Freizeit, Religion und Politik, Werte in %, grau unterlegt  : Höchstwerte  ; hellgraue Schrift  : niedrigste Werte, * signifikant auf dem 0,001-Niveau, ** signifikant auf dem 0,005-Niveau, *** nicht signifikant. Quelle  : EVS 2008.

Die Freizeit wird von den meisten der Befragten als wichtig angesehen – es gibt daher keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gemeindegrößenklassen. Hinsichtlich der Religion gibt es – mit Ausnahme der Städte zwischen 20.000 E und 50.000 E – einen gewissen Sockel an Befragten, die Religion für wichtig halten. Am anderen Ende – Religion ist nicht wichtig – zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede zwischen den größeren Städten und den kleineren Gemeinden. Politik wird nur von etwas mehr als jedem Zehnten als sehr wichtig angesehen. 35 Das Muster der Antworten ist jedoch kaum zu interpretieren, denn die Befragten in den vier kleineren Großstädten messen ihr eine höhere Bedeutung bei als die WienerInnen. 4.3 Vorbehalte gegenüber Nachbarn

Die Befragten der Europäischen Wertestudie konnten sich auch darüber äußern, wen sie sich nicht als Nachbarn wünschen. Dabei wurde ihnen eine lange Liste möglicher „Unerwünschter“ vorgelegt (was immer die Zahl der Nennungen erhöht). In Tabelle 24 sind die zehn Gruppen mit den stärksten Zurückweisungen aufgelistet, wobei in der ersten Spalte (Drogenabhängige) die am stärksten abgelehnte Gruppe 35 Es kann unterstellt werden, dass mit der Frage nach „Politik“ die Befragten „Politik der politischen Parteien“ oder die PolitikerInnen selbst verstehen. Die Angaben in der Tabelle sollten zudem vor dem Hintergrund einer offensichtlich recht hohen Unzufriedenheit mit der Politik in Österreich (46,6 % der Befragten sind nach eigenen Angaben unzufrieden) und einer recht kritischen Position gegenüber der nationalen Regierung (34,0 % halten sie für schlecht und nur 11,6 % für gut, während mehr als die Hälfte sich auf ein „weder noch“ verständigt) interpretiert werden (beide Kriterien ergeben hinsichtlich des Unterschiedes zwischen Gemeindegrößenklassen keine signifikanten Unterschiede).

(Groß-)Städte in der Wertelandschaft

237

bis unter 2.000 E

Homosexuelle**

Leute, die AIDS haben**

Muslime*

Roma & Sinti*

psychisch insta­ bile Menschen*

Personen, die vorbestraft sind*

Linksextre­ misten*

Leute, die oft be­ trunken sind***

Gemeindegrößenklasse

Rechtsextre­ misten***

abgelehnte soziale Gruppe37

Drogenabhän­ gige*

aufgeführt ist und in der zehnten Spalte (Homosexuelle), welche die geringste Ablehnung der aufgeführten Gruppen erfährt.36

60,8

59,2

57,0

47,9

39,7

28,1

34,0

33,1

23,9

24,2

5.000 E

73,2

63,5

64,2

56,4

49,8

37,5

36,5

36,1

31,1

28,7

5.000 E bis u. 10.000 E

57,5

63,4

54,5

48,9

40,9

31,6

38,2

37,8

29,1

33,7

2.000 E bis u.

10.000 E bis u. 20.000 E

60,2

66,1

61,6

52,1

36,4

33,1

16,4

29,5

18,4

17,9

20.000 E bis u. 50.000 E

73,8

62,2

64,3

53,7

48,1

53,7

36,4

29,6

21,8

25,3

50.000 E bis u. 100.000 E

78,2

78,5

67,9

64,1

48,0

42,1

41,3

40,0

32,9

20,8

100.000 E bis u. 500.000 E

63,2

61,7

64,1

49,6

34,5

37,9

23,9

22,6

13,9

14,7

500.000 E und mehr

59,0

61,4

58,4

38,8

56,2

42,8

27,3

22,8

28,3

21,1

gesamt

64,6

63,0

60,5

49,7

45,6

36,9

32,0

31,3

26,1

24,3

Tabelle 24  : Stichprobe, Gemeindegrößenklassen Österreich, nach nicht akzeptierten Nachbarn, Werte in %, grau unterlegt  : Höchstwerte  ; hellgraue Schrift  : niedrigste Werte, * signifikant auf dem 0,001-Niveau, ** signifikant auf dem 0,005-Niveau, *** nicht signifikant. Quelle  : EVS 2008. 37

Auffällig ist, dass die „Intolerantesten“ in Gemeinden mit Einwohnerzahlen zwischen 50.000 und 100.000 leben  : Nur die Ablehnung der Homosexuellen liegt unterhalb des Bundesdurchschnitts – in sieben Kategorien liegen die Werte deutlich höher. Umgekehrt überrascht die Toleranz in den kleinsten Gemeinden. In vier Kategorien liegt diese Kategorie deutlich unterhalb des Bundesdurchschnitts (gegen Rechtsextreme, Alkoholiker, Vorbestrafte und Menschen mit Verhaltensauffälligkeiten). Daraus zu folgern, dass es auch daran liege, dass diese vier Gruppen eher selbstverständlich zum Alltag gehören, kann als diskriminierend aufgefasst werden, ist aber andererseits nicht ganz unplausibel.38 36 Hier werden nur die zehn Gruppen aufgeführt, die als Nachbarn am wenigsten gewünscht wurden  : Es folgten auf den weiteren Plätzen  : „Gastarbeiter“ (23,5%, nicht signifikant), Menschen anderer Rasse (17,9%, nicht signifikant), Juden (17,8%, hoch signifikant) und große Familien (15,7%, hoch signifikant). 37 Warum in der österreichischen Version des Fragebogens in dieser Frage gleich drei Begriffe für das Gleiche gewählt wurden – Leute, Personen und Menschen – bleibt mir rätselhaft; ich halte insbesondere den Begriff „Leute“ zudem für diskriminierend und „Personen“ ist zumindest distanzierend. Dass allein durch die Wortwahl bereits unterschiedlich intensive Abneigungen suggeriert werden, ist zwar nicht zu belegen, ist aber sicherlich auch nicht ganz unplausibel. 38 Nach der Kontakthypothese ist es notwendig, um gegenüber „Fremden“ die bestehenden Vorurteile abzubauen, dass man sich im Alltag „über den Weg“ läuft (beispielsweise Wohnumgebung, Arbeitsplatz, Schule).

238

Jens S. Dangschat

Aber auch der Blick nach Wien zeigt offensichtlich ebenfalls einen gewissen Gewöhnungseffekt an soziale Gruppen, die im Alltag Vieler vorkommen, denn es wird die Nachbarschaft zu Drogenabhängigen, Linksextremen und Muslimen deutlich weniger als in den anderen Gemeinden genannt. Mit der Zunahme an ModernisierungsgewinnerInnen und -verliererInnen ist jedoch zu erwarten, dass gerade in großen Großstädten polarisierte und polarisierende Tendenzen hinsichtlich der Toleranz und festgefahrener Vorurteile bestehen. Das bedeutet, dass erst Merkmale der sozialen Lage (Schicht, Haushaltstyp) und der sozialen Milieus die Variation innerhalb der Großstädte erklären könnten. BürgerInnen mit unterschiedlicher sozialer Lage und/oder Milieuzugehörigkeit sortieren sich zudem in einer Großstadtregion aufgrund der Logiken der Wohnungsmärkte zu spezifischen sozialräumlichen Mustern (Segregation), so dass die Wahrscheinlichkeit, andere soziale Gruppen zum Nachbarn zu haben, in einer Großstadt stark variiert. Zusammenfassend kann die These, dass sich in Österreich die Modernisierungsprozesse hinsichtlich der Werte entlang der Gemeindegröße zeigen, nicht bestätigt werden. Dazu gibt es eine Reihe von Gründen  : Erstens ist diese Annahme eines einzig dominanten Modernisierungspfades, der zudem einem ganz bestimmten sozialen Milieu zugeschrieben werden kann, zu vereinfachend, denn der Modernisierungspfad ist nicht linear  ; erfasst soziale Gruppen unterschiedlich und es gibt darüber hinaus Teil-Modernisierungen, die jeweils andere “early adopters“ haben. Zweitens ist die Gemeindegrößenklasse offenkundig keine soziologisch sinnvolle Kategorie, da die Klassen eine viel zu hohe Binnenheterogenität aufweisen. Drittens bildet die österreichische Stichprobe die räumlich differenzierte „Realität“ schlecht ab, was wiederum die Güte des Hypothesen-Tests entsprechend einschränkt. 5. Wien im europäischen Vergleich39

Für einen Vergleich von großen Großstädten und Hauptstädten ist der nationale Kontext von besonderer Bedeutung. Dangschat u. a.40 konnten einen engen Zusammenhang in den Veränderungen des Arbeitsmarktes, des demografischen Wandels und der technologischen Entwicklung zwischen den Nationalstaaten und ihren Hauptstädten nachweisen. Dabei ist es bemerkenswert, dass sich der Beginn und 39 Die Auswahl der Vergleichsstädte ist weitgehend pragmatisch vorgenommen worden  : Alle Städte, in denen zumindest 100 Befragte interviewt wurden. Auf inhaltlich argumentierte Unterschiede wird bei jedem Werte-Aspekt eingegangen. 40 Dangschat, Jens/Friedrichs, Jürgen/Kiehl, Klaus/Schubert, Klaus  : Phasen der Landes- und Stadtentwicklung, in  : Friedrichs, Jürgen (Hg.)  : Stadtentwicklungen in Ost- und Westeuropa. Berlin 1982, 1–148.

(Groß-)Städte in der Wertelandschaft

239

die Intensität der Industrialisierung und Urbanisierung bis heute in Vorreiterrollen auswirkt  : Die Urbanisierung und die Tertiarisierung des Arbeitsmarktes beginnen in den früh industrialisierten Ländern ebenso früher wie der demografische Übergang. Mangels unzureichender Forschungsförderung lassen sich jedoch parallele Formen des Wertewandels nicht nachweisen, obwohl sie als sehr plausibel erscheinen. Die großen Großstädte und die Hauptstädte Europas haben auf der einen Seite eine zentrale Funktion in den jeweiligen Nationalstaaten, stehen andererseits jedoch in einem Netzwerk aus Kooperation und Konkurrenz auf mehreren regionalen Niveaus.41 5.1 Urbanisierungsgrad in Europa Land

Urbanisierungs­ grad (in %)

Stadt

Einwohnerzahl4

Bevölkerungsdichte (E/km2)4

Finnland

851

Helsinki

585.752

3.035

Schweden

811

Stockholm

829.417

4.164

Spanien

771

Madrid

3.255.944

5.190

1.233.211

2.392

10.563.038

9.772

Tschechische Republik

70–752

Prag

Russland

70–752

Moskau

Österreich

671

Wien

1.712.903

4.127

Bulgarien

673

Sofia

1.402.227

1.158

Ungarn

641

Budapest

1.721.556

3.231

Griechenland

601

Athen

729.137

18.713

Zagreb

780.097

1.215

Kroatien

55–602

Tabelle 25  : Modernisierungsgrad europäischer Hauptstädte in Analogie zum Urbanisierungsgrad des Landes, Quelle 1  : http  ://www.geteilt.de/forum/viewtopic.php  ?f=25&p=39828  ; Stand  : 26.3.2011, Quelle 2  : “Urbanisierung Europa 2006”, Stand  : 13.3.2011, URL  : http  ://de.wikipedia.org/w/index.php  ?title=Datei  :Urbanisierung_Europa_2006. jpg&filetimestamp= 20101123011306, Quelle 3  : http  ://www.uni-protokolle.de/Lexikon/Bulgarien.html, Stand  : 19.4.2011, Quelle 4  : http  ://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_gr  % C3 % B6 % C3 % 9Ften_St  % C3 % A4dte_der_ Europaeischen_Union, Stand  : 19.04.2011. (ohne Jahresangabe).

Eine stadtsoziologische These lautet, dass ein positiver Zusammenhang zwischen dem Urbanisierungsgrad eines Landes und der Modernisierungsstufe der jeweiligen Hauptstadt und der großen Großstädte bestehe. In einer vereinfachenden Annahme wird hier davon ausgegangen, dass die Modernisierung in einem engen Zusammenhang mit dem Urbanisierungsgrad steht (daher sind in allen folgenden Tabellen die Städte in der Reihenfolge des Urbanisierungsgrad des Landes genannt). Weitere Einflüsse sind die Größe der Stadt und die Bevölkerungsdichte. 41 Wien beispielsweise innerhalb der Centrope als eindeutige „Hauptstadt“  ; als „gatekeeper“ für den Balkan und innerhalb der zentraleuropäischen Region auf der „Südostschiene“ in Konkurrenz zu Prag und Budapest.

240

Jens S. Dangschat

Urbanisierung in Europa 2006

> 85%

75% – 85%

65% – 75%

55% – 65%

< 55%

Grafik 26  : Urbanisierungsgrad nach Nationalstaaten, Europa, 200642.

42 Eigene Grafik, nachgebildet nach „Urbanisierung Europa 2006”, Stand  : 13.3.2011, URL  : http  ://de. wikipedia.org/w/index.php  ?title=Datei  :Urbanisierung_Europa_2006.jpg&filetimestamp=2010112 3 011306.

(Groß-)Städte in der Wertelandschaft

241

5.2 Demografische Struktur

Wie im Vergleich nach Gemeindegrößenklassen in Österreich (Tabelle 19), soll auch hier die Güte der Stichproben danach eingeschätzt werden, inwieweit sie ein plausibles Abbild der jeweiligen Stadtgesellschaft liefern (Tabelle 26). Da für große Städte eine sehr unterschiedliche statistische Lage vorherrscht, muss ich mich allerdings auf einfache Plausibilitäten vor dem Hintergrund großstädtischer demografischer Trends in europäischen Städten verlassen. Städte Helsinki

Alter (in Jahren)*

Geschlecht***

Bildung*

18–29

30–44

45–59

59+

m

w

n

m

h

26,5

25,7

26,5

21,2

45,6

54,4

  9,8

25,0

65,2

Stockholm

26,7

35,3

21,0

17,1

55,8

44,2

  9,6

40,4

50,0

Madrid

18,0

34,0

23,0

25,0

49,5

50,5

41,8

33,7

24,5

Prag

39,0

15,6

23,4

22,0

59,5

40,5

  9,9

64,5

25,6

Moskau

26,1

42,3

27,9

 3,6

46,4

53,6

 0,9

50,9

48,2

Wien

32,0

32,0

16,8

19,2

50,2

49,8

13,1

77,4

 9,4

Sofia

26,2

30,0

25,7

18,1

44,5

55,5

 3,9

51,7

44,4

Budapest

23,2

24,2

24,8

27,6

43,0

57,0

13,1

53,8

33,1

Athen

28,2

30,0

19,2

22,5

45,8

54,2

21,9

50,2

27,9

Zagreb

25,4

21,0

29,3

24,3

55,6

44,4

 2,8

49,7

47,5

Gesamt

28,0

28,0

23,3

20,8

49,4

50,6

12,1

54,0

33,9

Tabelle 26  : Stichproben, Europäische Großstädte nach Alter, Geschlecht und Bildungsniveau, Werte in %, grau unterlegt  : Höchstwerte  ; hellgraue Schrift  : niedrigste Werte, Bildung  : n = niedrig, m = mittlere Abschlüsse, h = hohe Bildung, * signifikant auf dem 0,001-Niveau, *** nicht signifikant. Quelle  : EVS 2008.

Wie die Verteilungen in den einzelnen Städten zeigen, sind die Stichproben teilweise sehr „schief “.43 Das heißt im Umkehrschluss  : Gemessen an den Kategorien Alter, Geschlecht und Bildung scheinen nur die Stichproben von Helsinki, Madrid, Budapest und Athen im wesentlichen der Grundgesamtheit zu entsprechen – die verzerrten Stichproben wirken sich sicherlich in eher unkontrollierter Weise auf die berichteten Wertemuster aus.44 43 Wien  : Zu wenige 45 bis 59-jährige und zu viele 18 bis 29-jährige und viel zu wenige mit höherer Bildung und viel zu viele mit mittlerer  ; Moskau  : Zu viele 30 bis 44-jährige und viel zu wenige über 59-jährige, deutlich zu wenige mit niedriger Bildung, dafür zu viele mit höherer Bildung  ; Zagreb  : Viel zu wenige mit niedriger und zu viele mit höherer Bildung sowie eine falsche GeschlechtsRelation  ; Prag  : Zu wenige 30 bis 44-jährige und zu viele 18 bis 29-jährige sowie eine extrem falsche Geschlechts-Relation  ; Stockholm  : Falsche Geschlechts-Relation  ; Sofia  : Zu wenige mit niedriger Bildung und zu viele mit höherer Bildung. 44 Ein weiterer Hinweis, dass in den einzelnen Ländern vermutlich sehr Unterschiedliches gemessen

242

Jens S. Dangschat

5.3 Einstellungen zur beruflichen Karriere, zur Familie und zu Freunden & Bekannten

Analog zur Reihenfolge der Städte sollte auch die Bedeutsamkeit der Erwerbsarbeit in den skandinavischen Städten hoch sein, dafür die der Familie eher niedrig, während es für Freunde und Bekannte kaum signifikante Unterschiede geben dürfte (Tabelle 27). Erwerbsarbeit* Städte

sehr wichtig

recht wichtig

Freunde & Bekannte*

Familie*

nicht wichtig

sehr wichtig

recht wichtig

nicht wichtig

sehr wichtig

recht wichtig

nicht wichtig

Helsinki

33,3

45,0

21,6

82,5

14,9

2,6

57,9

36,8

5,3

Stockholm

91,3

  6,7

  1,9

66,7

30,4

2,9

57,4

36,6

5,9

Madrid

67,3

25,7

  7,0

91,1

  8,9

0,0

32,7

65,3

2,0

Prag

46,0

45,0

  8,9

79,7

16,8

3,5

43,6

49,5

6,9

Moskau

49,5

39,4

11,0

83,6

14,5

1,8

41,4

55,0

3,6

Wien

45,6

43,6

10,8

66,4

30,5

3,0

47,1

48,1

4,7

Sofia

47,3

43,4

  9,3

77,9

21,6

0,5

44,7

52,4

2,9

Budapest

57,4

34,7

  8,0

91,2

  8,0

0,8

44,2

47,8

8,0

Athen

62,0

30,5

  7,5

81,2

18,8

0,0

58,9

39,7

1,4

Zagreb

53,1

40,6

  6,3

76,5

22,3

1,1

40,0

55,6

4,5

Gesamt

53,6

37,3

  9,1

79,1

19,3

1,6

46,8

48,5

4,6

Tabelle 27  : Stichproben, Großstädte in Europa, nach Wichtigkeit von Arbeit, Familie, Freunden & Bekannten, Werte in %, grau unterlegt  : Höchstwerte  ; hellgraue Schrift  : niedrigste Werte, * signifikant auf dem 0,001-Niveau. Quelle  : EVS 2008.

Wie schon oben ausgeführt, sind die Antworten auf die Frage nach der Wichtigkeit von Erwerbsarbeit schon allein deshalb schwierig zu interpretieren, weil auch Nicht-Erwerbstätige und Arbeitssuchende einbezogen wurden. Dass in Stockholm der Erwerbsarbeit eine sehr hohe Bedeutung beigemessen wird, entspricht den Annahmen, dass aber in Helsinki nur ein Drittel diesem Statement zustimmt (und die Verneinung doppelt so hoch wie im Durchschnitt ausfällt), widerlegt nun wieder diese These. Auch Madrid und Athen haben entsprechend höhere Werte in der Zustimmung – das wiederum mag auf den angespannten Arbeitsmarkt dieser beiden Städte zurückzuführen sein. Auch die Wichtigkeit der Familie zeigt starke Gegensätze in Stockholm und Helsinki, die nur schwierig zu erklären sind, während die worden ist, zeigt sich in der Tatsache, dass alle Kreuztabellen ein Signifikanzniveau von chi2=0,000 aufweisen (auch viele, in diesem Aufsatz nicht kommentierte), worüber man sich eigentlich freut, was aber extrem ungewöhnlich ist. Es verstärkt sich also die Vermutung, dass hier bestehende Werte-Unterschiede zwischen den Städten mit dem Messen von „Äpfeln und Birnen“ überlagert wurden.

(Groß-)Städte in der Wertelandschaft

243

Gehorsam*

Phantasie*

Selbstlosigkeit*

Sparsamkeit*

Energie & Aus­ dauer*

Hart arbeiten*

Unabhängigkeit & Selbständigkeit*

Andere achten & tolerant sein*

Stadt

Gute Manieren*

Wichtige Werte der Erziehung

Verantwortungs­ gefühl*

hohen Zustimmungen in Madrid und Budapest schon eher plausibel sind. Die hohe Bedeutung von Freunden und Bekannten in Skandinavien verweist auf die Tatsache, dass dort die Menschen ihre privaten Beziehungen bereits stärker aus den Verwandtenkreisen gelöst haben, während in Athen noch stark geschlechtshomogene Verkehrskreise eine entscheidende Rolle spielen dürften. Die Ziele der Erziehung folgen nur in wenigen Teilen plausiblen Mustern (Tabelle 28). Neben den (ver)einfach(t)en Annahmen, dass der Urbanisierungsgrad wirksam ist, spielen hier sicherlich die sehr unterschiedlichen nationalen Kontexte und entsprechende (sub-)kulturelle Muster eine entscheidende Rolle. Am auffälligsten ist das Muster von Wien, wo nur in zwei Fällen die Werte des Durchschnitts (knapp) übertroffen werden (Unabhängigkeit und Phantasie) – in sieben Fällen liegt Österreichs Hauptstadt deutlich unterhalb der Durchschnittswerte über die ausgewählten zehn europäischen Städte.45 Auch Moskau zeigt hier eine ähnliche Tendenz, denn die Stadt liegt in vier Bereichen deutlich unter dem Durchschnitt der zehn Städte (dafür aber auch in drei Bereichen deutlich darüber).

Helsinki

89,4

86,7

91,2

54,0

 3,6

48,2

15,0

33,0

25,9

16,8

Stockholm

87,6

70,5

84,6

69,5

 7,7

34,6

35,2

34,3

44,8

 7,7

Madrid

97,0

99,0

99,0

24,8

 5,0

18,8

48,5

 0,0

19,8

48,5

Prag

73,0

79,0

57,3

75,5

62,9

39,0

27,2

40,4

31,5

 6,6

Moskau

81,1

57,1

55,9

41,8

75,0

52,3

45,0

12,7

35,5

20,9

Wien

68,3

64,5

56,9

58,1

19,4

24,1

23,5

17,6

27,4

13,8

Sofia

86,0

71,4

64,7

54,7

77,9

69,8

26,5

32,7

32,0

 8,4

Budapest

77,2

83,9

67,5

70,4

71,2

32,4

46,0

38,2

23,6

42,8

Athen

70,6

76,1

55,9

52,6

39,9

59,3

22,5

25,8

10,4

21,6

Zagreb

79,9

68,5

74,6

51,8

60,5

46,2

29,9

34,4

18,8

27,0

Gesamt

78,5

74,8

67,2

57,6

46,2

42,4

31,0

28,2

26,0

21,1

Tabelle 28  : Stichproben, Großstädte in Europa, nach Erziehungszielen, Werte in %, grau unterlegt  : Höchstwerte  ; hellgraue Schrift  : niedrigste Werte, * signifikant auf dem 0,001-Niveau. Quelle  : EVS 2008. Quelle  : EVS 2008.

45 Auch hier liegt eher die Vermutung nahe, dass die Feldforschung selbst – in dem Fall die österreichische – für die Unterschiede verantwortlich ist, denn warum sollten die WienerInnen so deutlich weniger Wert auf Erziehungsorientierungen legen als Menschen in den anderen Großstädten  ?

244

Jens S. Dangschat

Am ehesten im Mainstream der zehn Städte liegt Athen mit nur zwei Auffälligkeiten nach unten (Sparsamkeit und Phantasie). Überhaupt nicht plausibel erscheint mir, dass die Werte für die „modernsten“ Städte (Helsinki, Stockholm, Madrid) für die ersten drei Kategorien so hoch liegen (insbesondere für Madrid in zwei Fällen – gute Manieren und Toleranz – bei 99,0 %) – hier ist der Einfluss der sozialen Wünschbarkeit sicherlich kaum von der Hand zu weisen. 5.4 Einstellungen zur Wichtigkeit von Freizeit, Religion und Politik

Hinsichtlich der Bedeutung von Freizeit dürften die Unterschiede zwischen den betrachteten europäischen Großstädten nicht allzu groß sein, während die Religion – vor allem abhängig vom nationalen Kontext – gegenwärtig eine noch stärker differenzierende Rolle spielt. Auch die Bedeutung von Politik dürfte eher lokal spezifischen Mustern folgen – insbesondere, hinsichtlich dessen, was man darunter versteht und auch der Kulturen im öffentlichen Raum – hier müssten „südländische“ Städte die Nase vorn haben. Religion*

Freizeit* Stadt

sehr wichtig

recht wichtig

nicht wichtig

sehr wichtig

recht wichtig

Politik* nicht wichtig

sehr wichtig

recht wichtig

nicht wichtig

Helsinki

63,1

33,3

  3,6

  8,9

17,0

74,1

  3,5

31,9

64,6

Stockholm

  8,7

46,4

44,6

  4,9

11,8

83,3

51,0

40,2

  8,8

Madrid

29,7

66,3

  4,0

  6,9

31,4

61,8

  1,0

20,8

78,3

Prag

32,0

56,7

11,3

  3,0

12,1

84,9

  9,9

15,8

74,4

Moskau

50,0

42,9

  7,1

  6,1

50,5

43,5

  5,7

28,6

65,7

Wien

41,4

47,1

11,4

16,0

25,2

58,8

13,9

35,8

50,4

Sofia

26,1

60,4

13,5

10,3

31.5

58,2

  5,1

19,2

75,7

Budapest

46,0

44,4

9,5

13,4

18,6

68,0

  8,5

21,4

70,1

Athen

53,1

44,6

2,3

27,1

51,9

21,0

  8,0

51,9

40,1

Zagreb

31,8

57,4

10,8

14,7

44,6

40,7

  6,2

23,6

70,2

Gesamt

39,0

50,0

11,0

12,6

29,2

58,2

10,4

29,0

60,6

Tabelle 29  : Stichproben, Großstädte in Europa, nach Wichtigkeit von Freizeit, Religion und Politik, Werte in %, grau unterlegt  : Höchstwerte  ; hellgraue Schrift  : niedrigste Werte, * signifikant auf dem 0,001-Niveau. Quelle  : EVS 2008.

Erneut sind alle Zusammenhänge höchst signifikant – aber eben erneut nicht in der erwartbaren Abfolge. So lässt beispielsweise die Präferenz für Freizeit kein Muster erkennen, denn die BewohnerInnen von Helsinki finden Freizeit deutlich am wichtigsten, während die Befragten in Stockholm dieser kaum eine Bedeutung beimessen – auch hier dürften die Fragen unterschiedlich verstanden worden sein. Bei der

(Groß-)Städte in der Wertelandschaft

245

Bedeutung der Religion zeigen sich hingegen vertraute Muster  : In Skandinavien und den ehemalig sozialistischen Ländern, in denen weder die katholische noch die orthodoxe Kirche eine hohe Bedeutung hat, sind die Werte der Zustimmung extrem gering. Hinsichtlich der Bedeutung von Politik erscheint wieder das polarisierende Muster zwischen Helsinki und Stockholm, das aus meiner Sicht überhaupt nicht plausibel ist – umgekehrt ist die Einschätzung der Bedeutungslosigkeit von Politik für Madrid und für Helsinki für mich unverständlich. 5.5 Vorurteile gegenüber potenziellen Nachbarn

Hinsichtlich der Vorbehalte gegenüber spezifischen sozialen Gruppen überlagern sich unterschiedliche Annahmen  : Zum einen besteht in der klassischen Theorie (beispielsweise bei Karl Mannheim, Norbert Elias, Max Weber) die Annahme, dass mit zunehmender Modernisierung auch die Toleranz zunehme (und auf diese Weise mit der überwiegenden Fremdheit in Städten souveräner umgegangen werden kann)  ; diese Tendenz hatte in Westeuropa offensichtlich lange bestanden, kehrte sich jedoch in den 1990er-Jahren wieder um. Eine zweite These besagt, dass Städte spezifische „Kulturen“ aufweisen (Habitus des Ortes), also über einen „Eigensinn“ verfügen, wodurch es „tolerantere Städte“ gibt und „spießige“, „skeptische“ und „offene“. Drittens wird in der Stadtsoziologie immer wieder betont, dass es in jeder Großstadt unterschiedlich offene Grätzl gibt, d.h. dass die Einschätzung unterschiedlicher sozialer Gruppen von Quartier zu Quartier schwankt – die Städte weisen also eine teils erhebliche Binnenvariation auf.46 In allen Kategorien gibt es hoch signifikante Unterschiede (s. Tab. 31) – aber erneut nicht entlang der vermuteten Hierarchie. Vergleicht man die Städte untereinander, fällt auf, dass in Moskau für alle Kategorien die deutlich höchsten Ablehnungen genannt wurden  ;47 auch in Sofia gibt es bis auf die Zugewanderten durchgängig überdurchschnittliche Ablehnungen, in sieben Fällen in der extremen Spitze.48 Die Tatsache, dass es sich hierbei um ex-sozialistische Städte handelt und daraus mög46 Hinzu kommt, dass für jede der am stärksten abgelehnten Gruppen von Stadt zu Stadt unterschiedliche kollektive soziale Konstruktionen bestehen, die sich entweder an ihrer Zahl resp. ihrem Verhalten und nicht zuletzt im Ausmaß der Diskriminierung durch den Staat widerspiegeln. 47 Dieses würde auf den ersten Blick bedeuten, dass die eindeutig größte Stadt keineswegs im Modernisierungsprozess am weitesten fortgeschritten ist (diese These gilt aber eben nur unter der Annahme gleicher Kontexte). Hinsichtlich der oben bereits genannten Skepsis gegenüber dem Fragebogen und der Feldarbeit, ist es jedoch nicht auszuschließen, dass solche Einflüsse auch auf die inhaltlichen Ergebnisse „durchschlagen“. 48 Ob diese ein Artefakt der nationalen Erhebungen ist oder die Langzeit-Auswirkung einer staatlichen Doktrin, muss an dieser Stelle offen bleiben.

246

Jens S. Dangschat

Zuwanderer/ Gastarbeiter*

36,7

38,0

54,6

32,1

22,9

13,0

  4,6

12,8

45,2

37,1

22,1

52,9

34,3

  5,8

  1,0

1,0

Linksextre­ misten*

72,5 53,3

Rechtsextre­ misten*

85,3 72,4

Sinti & Roma*

Helsinki Stockholm

Stadt

Drogenabhän­ gige*

Homosexuelle*

Leute, die AIDS haben*

psychisch insta­ bile Personen*

Personen, die vorbestraft sind*

abge­ lehnte soziale Gruppe

Leute, die oft be­ trunken sind*

licherweise ein „cultural lag“ gegenüber neu auftretenden sozialen Gruppen resp. Erscheinungsformen des Handelns entstanden sei, resp. die „sozialistische Vergangenheit“ und die „Transformation in Demokratie und Marktwirtschaft“ diese ablehnenden Haltungen hervorgerufen habe, kann ebenfalls nicht bestätigt werden, denn Prag, Budapest und Zagreb liegen – wie im übrigen auch Wien – meist im unauffälligen Mittelfeld. In Wien werden vor allem die politisch extremen Haltungen abgelehnt – überraschend insofern, als sie weder als politische Parteien präsent sind noch durch Aktionen auffallen.49

Madrid

56,6

31,3

35,4

15,2

49,0

18,2

15,2

  6,1

  1,0

2,0

Prag

68,2

69,3

53,3

24,4

41,3

47,5

38,6

24,6

18,8

29,6

Moskau

94,6

92,7

70,9

84,4

73,0

61,0

60,2

64,5

72,9

64,5

Wien

59,0

58,4

56,2

42,8

27,3

61,4

38,8

28,3

21,1

21,1

Sofia

75,4

77,8

79,2

77,8

65,1

47,3

46,2

32,4

36,0

13,6

Budapest

62,3

61,5

44,3

12,6

34,1

12,1

11,7

21,1

17,8

16,6

Athen

53,8

37,3

45,9

68,1

32,9

5,7

  1,9

27,3

15,1

  9,5

Zagreb

70,2

61,8

60,6

36,8

14,8

27,7

23,1

25,3

33,5

  8,4

Gesamt

67,5

61,3

53,8

43,4

39,2

36,2

28,3

25,6

22,3

17,8

Tabelle 30  : Soziale Gruppen, die als Nachbarn abgelehnt werden, Werte in %, grau unterlegt  : Höchstwerte  ; hellgraue Schrift  : niedrigste Werte, * signifikant auf dem 0,001-Niveau. Quelle  : EVS 2008.

Umgekehrt liegen die Werte für Madrid (immer deutlich unterdurchschnittlich bis auf die sehr hohe Ablehnung der Sinti und Roma), Athen (fünfmal stark unterdurchschnittlich und nur die „psychisch instabilen Menschen“ werden deutlich abgelehnt), Stockholm (viermal deutlich unterdurchschnittlich, lediglich die Rechtsextremen werden deutlich abgelehnt) und Helsinki (dreimal deutlich unterdurchschnittlich, während die Drogenabhängigen, die starken Alkoholiker und die Sinti 49 Wenn unter den Rechtsradikalen allerdings die FPÖ und die BZÖ verstanden wird, dann sollten die Ergebnisse der letzten Gemeinderatswahlen ins Gedächtnis gerufen werden, denn beide Parteien kommen zusammen auf etwa ein Drittel der abgegebenen gültigen Stimmen.

(Groß-)Städte in der Wertelandschaft

247

und Roma deutlich abgelehnt werden) oftmals am unteren, dem toleranteren Ende. Zusammenfassend hat sich gezeigt, dass der Urbanisierungsgrad eines Landes kein guter Prädiktor für die relative Position im Wertewandel ihrer Hauptstädte ist. Hier spielen also sicherlich eine Reihe weitere Faktoren eine große Rolle (Wirtschaftsund Arbeitsmarktentwicklung, nationale Kontexte der Sozialstaatlichkeit, Dynamiken der Transformationsprozesse, die Bedeutung von Berufskarrieren, Familie und Religion, etc.). Zudem gelten die Vorbehalte hinsichtlich der Erhebungsqualität, die auch am Ende des Vergleichs innerhalb Österreichs angeführt wurden. Hier kommt noch hinzu, dass es vermutlich massive Unterschiede im „Verstehen“ der gemeinten Inhalte (Inhalts-Validität) gibt, sonst wären die Unterschiede zwischen Helsinki und Stockholm nicht so gravierend und Moskau nicht so häufig in einer Sonderrolle.

6. Zusammenfassung Es ist ohne Zweifel sehr wichtig, breite und vergleichende Informationen zur Wertestruktur in Ländern Europas über mehrere Zeitpunkte zu erhalten, denn es gibt kaum einen Gegenstands-Bereich der statistisch und wissenschaftlich so schlecht erfasst ist, wie die Wohnbevölkerung in ihren Strukturen jenseits der Demografie (eigentlich sollte jedoch alles Verwaltungshandeln einer positiven Weiterentwicklung der BürgerInnen gelten). Die Ursachen dafür liegen in verschiedenen Institutionen  : Zum einen in der amtlichen Statistik  : Hier werden fast ausschließlich soziodemografische Daten erhoben, von denen aber hinlänglich bekannt ist, dass sie am wenigsten dafür geeignet sind, unterschiedliche Einstellungen und Verhaltensweisen in der Bevölkerung zu beschreiben, zu verstehen, zu erklären oder gar zu prognostizieren. Es fehlen sozioökonomische Daten50 und soziokulturelle Kategorien werden noch nicht einmal in Erwägung gezogen, obwohl diese nach dem aktuellen Stand der Ungleichheitsforschung die zentralen Merkmale sozialer Schließung sind. Seitens der Sozialwissenschaften sind die Versäumnisse nicht geringer. Es herrscht eine Larmoyanz vor, auch wenn – leider richtig, gerade in Österreich – der Sparstift vor allem an die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften gelegt wird. In der Grundlagenforschung wurde es jedoch bislang verabsäumt, sich auf eine Konvention multivariater sozialer Lage zu einigen, welche soziale Ungleichheit jenseits von Klasse und Schicht messbar macht. Stattdessen wird von gender gesprochen 50 Einkommens- und Verbrauchserhebungen arbeiten wie der Mikrozensus mit viel zu geringen Fallzahlen, welche weder kleinräumige Aussagen, noch eine ausreichende Differenzierung nach einer Kombination mehrerer Merkmale zulässt – damit sind sie für eine differenzierte Analyse wertlos.

248

Jens S. Dangschat

(und meist das biologische Geschlecht erhoben und diskutiert) oder es werden absolut sinnlose Kategorien wie der „Zuwanderungshintergrund“ als „political correct“ erklärt.51 Bislang sind die Bemühungen, Kategorien wie soziales Milieu, Lebensführung und Lebensstil sauber gegeneinander abzugrenzen und verbindlich zu operationalisieren noch sehr am Anfang. Hier wäre eine konsensuale Weiterentwicklung jedoch dringend notwendig, denn unterschiedliche Wertemuster ließen sich am besten über soziale Milieus erklären. Diese sind in der Europäischen Wertestudie jedoch nicht berücksichtigt und es werden teilweise in hanebüchener Weise Wertekategorien abgefragt. Hinzu kommen offensichtliche Fehler im Fragebogen und offensichtliche Schlampereien in der Feldforschung. Das zentrale Problem ist aber die mangelhafte Abbildung der Realität im Datensatz, bei der Abweichungen bei Analysen auf der nationalen Ebene noch nicht einmal auffallen müssen. An dieser Stelle kommt das Problem der hoch und als „objektiv“ eingeordneten quantitativen Sozialforschung nach dem kritischen Rationalismus ins Spiel. Nach deren immanenter Logik versucht man, auch mit der jeweiligen Stichprobe zu bestätigen, was sich an anderer Stelle zu einem anderen Zeitpunkt auch so ähnlich gezeigt hat (als einem aus der empirisch basierten Theorie abgeleiteten Hypothesensatz), oder man versucht, zumindest plausible Annahmen zu treffen. Erweist sich dieses als zutreffend, nickt man zufrieden, wenn nicht, kommt man in Erklärungsprobleme (insbesondere dann, wenn die Vorzeichen anders sind, Rangplätze eine völlig andere Ordnung finden oder ansonsten starke Zusammenhänge sich als nicht signifikant erweisen). Ob man tatsächlich auf ein neues Phänomen gestoßen oder nur einer Unzulänglichkeit aus der Erhebung zum Opfer gefallen ist – das muss offen bleiben. Besonders deutlich zeigt sich dieses Phänomen, wenn die statistischen Zusammenhänge in der betrachteten Stichprobe sich ganz anders darstellen als erwartet – was dann  ? Ich habe dieses immer wieder auf die heterogenen Gemeindegrößenklassen zurückgeführt. Wenn man als Stadt-, Siedlungs- oder Raumsoziologe einen entsprechenden Teilbericht verfassen soll – auf welche Kategorien kann und sollte man sich stattdessen stützen  ? Dass es das Bundesland, der politische Bezirk und eben auch die Gemeindegrößenklasse nicht sein kann, ist seit mehr als 20 Jahren in der Stadtsoziologie hinlänglich bekannt (wird aber gleichwohl immer wieder verwendet). Aggregationen, die nach administrativen Grenzen ausgerichtet sind, sind sozialwissenschaftlich wertlos – der Beleg wurde für die Gemeindegrößenklassen wohl hin51 Zur ausführlichen Diskussion dieses Begriffs vgl. Perchinig, Bernhard/Troger, Tobias, im Kapitel  : „Migrationshintergrund als Differenzkategorie“, 285ff.

(Groß-)Städte in der Wertelandschaft

249

länglich erbracht (was nicht ausschließt, dass bisweilen doch ein plausibles Ergebnis vorlag). Reichweiten von Verwaltungseinheiten stellen eben für soziale Prozesse keine Grenzen dar und führen nicht zu homogenen Binnenstrukturen. Die gängige Soziologie geht überwiegend über solche Fragestellungen hinweg, weil sie noch immer der Fehleinschätzung Émile Durkheims von vor 130 Jahren glaubt, dass Soziales nur durch Soziales zu erklären sei – und Materie und insbesondere der Raum gehöre nicht dazu (sic!). „Raum“ ist daher aus dieser Sicht auch keine Kategorie sozialer Ungleichheit, obwohl jedes Kind weiß, wie wichtig es ist, wo man wohnt, wie die Wohn- und Wohnumfeld-Bedingungen sind, wen man sich als Nachbarn „vom Halse halten“ kann oder wie man über das Mobilitätssystem in die Gesellschaft eingebunden ist.52 Die aktuelle Raumsoziologie stellt Durkheim vom Kopf auf die Beine und thematisiert den Raum explizit als theoretisches Konstrukt (wie von Anthony Giddens gefordert, aber schlecht umgesetzt). Ein soziologischer Ansatz in der Raumforschung ist ein qualitativ-verstehender, mit dem nach individuellen und subjektiven Raum-Konstruktionen geforscht wird,53 weil nicht die „objektiven Raumstrukturen“, sondern deren Wahrnehmungen und Bewertungen handlungsleitend sind. Dazu müssten die Konstruktionsleistungen an spezifischen Orten erhoben werden (relativ aufwändig), wobei unterstellt wird, dass die Wertemuster sozialer Gruppen einen Einfluss auf den (konstruierten) Raum haben. Dabei bleibt jedoch die Frage, welche Orte für das Herausbilden und Verfestigen von Wertemustern relevant sind  : Der Wohnstandort54, der Arbeitsplatz, der Lieblingsort, der Ort, wo man „seine Leute“ trifft“, das Internet, facebook  ? Und  : Wodurch hat der Ort einen Einfluss  ? Aus sich selbst heraus (genius loci), über die Wertemuster, die dem Ort konsensual zugerechnet werden (Habitus des Ortes) oder den Kompositionseffekt der Zusammensetzung der gerade Anwesenden  ? Das berührt die Frage, wie individuelle Wertemuster im Zuge der Sozialisation entstehen und sich verfestigen – doch  : Welche Rolle kommt hierbei welchem Raum zu  ? Das erfordert – will man über Einzelfallanalysen hinausgehen – eine Typologie, um kleinere funktional und sozial relativ homogene Gebiete abzugrenzen („natural area“), um nach Rangplätzen sortierte Aussagen treffen zu können. Die höchste 52 Vgl. Bourdieu, Pierre  : Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in  : Wentz, Martin (Hg.)  : Stadt-Räume. Frankfurt am Main 1991, 25–34 und Dangschat, Jens S  : Räumliche Aspekte der Armut, in  : Dimmel, Nikolaus/Heitzmann, Karin/Schenk, Martin (Hg.)  : Handbuch Armut in Österreich. Innsbruck u.a. 2009, 247–261. 53 Vgl. Löw, Raumsoziologie. 54 Es ist schon verblüffend, wie selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass der Wohnstandort relevant sei. Es ist traditionell, so zu denken (weil es ausschließlich hierfür Statistiken gibt – sic!) – doch traditionelles Denken ist laut Max Weber ein irrationales Denken.

250

Jens S. Dangschat

Erklärungskraft für unterschiedliche Wertekonfigurationen der Orte dürfte hierbei jedoch den sozialen Milieus zukommen (These  : Kompositionseffekt und kollektives Gedächtnis). Ein weiterer Zugang ist ein geografisch-technischer, nämlich der Versuch, eine Typologie der Qualität der Lage im Raum durch objektive Ausstattungs- und Erreichbarkeits-Parameter zu entwickeln.55 Die These ist, dass Lage und Ausstattung von Orten Umzüge beeinflussen und die daraus entstandenen Segregationsmuster u.a. auch segregierte Wertemuster abbilden, d.h. dass es deutliche Korrelationen von Merkmalen der Wohnstandorte und der BewohnerInnen gäbe (räumliche “hard facts“ und ganz bestimmte Menschen hinsichtlich demografischer oder sozioökonomischer Strukturen, aber auch von Wertemustern). In diesen räumlichen Konzentrationen ähnlicher Wertemuster – so die Kontakt-Hypothese – verstärken und vereinheitlichen sich die Werteprofile durch Vorbilder und soziale Kontrolle. Man geht hier also von Ortseffekten aus, die jedoch bislang empirisch noch nicht belegt wurden.

Literatur Bagnasco, Arnaldo/Le Galès, Patrick (eds.)  : Cities in Contemporary Europe. Cambridge 2000 Benjamin, Walter  : Gesammelte Schriften. Band V. Das Passagenwerk, Frankfurt am Main 1992 Berking, Helmuth/Löw, Martina (Hg.)  : Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt am Main – New York 2008 Blasius, Jörg/Dangschat, Jens S. (Hg.)  : Gentrification – Die Aufwertung innenstadtnaher Wohngebiete. Frankfurt am Main 1990 Bourdieu, Pierre  : Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in  : Wentz, Martin (Hg.)  : Stadt-Räume. Frankfurt am Main 1991, 25–34 Dangschat, Jens S.  : Die „neue“ Gesellschaft  : Auswirkungen auf die bestehenden Planungsverfahren, in  : Österreichische Raumordnungs-Konferenz (ÖROK) (Hg.)  : Raumordnung im 21. Jahrhundert – zwischen Kontinuität und Neuorientierung. 12. ÖROK-Enquete zu 50 Jahre Raumordnung in Österreich, in  : ÖROK-Sonderserie „Raum & Region“ 2 (2005), 20–29

55 Dieser Ansatz wird in einer Mobilitätsstudie (Stand  : 13.04.2011, URL  : http  ://isra.tuwien.ac.at/ mobility2know/contact.html) verwendet, bei der das unterschiedliche Mobilitätsverhalten aus vier Faktorbündeln erklärt werden soll  : die Qualität der Ausstattung, die Erreichbarkeit, die soziale Lage und die sozialen Milieus.

(Groß-)Städte in der Wertelandschaft

251

Dangschat, Jens S.  : Geld ist nicht (mehr) alles – Gentrification als räumliche Segregierung nach horizontalen Ungleichheiten, in  : Blasius/Dangschat (Hg.), Gentrification – Die Aufwertung innenstadtnaher Wohngebiete, 69–91 Dangschat, Jens S  : Räumliche Aspekte der Armut, in  : Dimmel/Heitzmann/Schenk(Hg.), Handbuch Armut in Österreich, 247–261 Dangschat, Jens S.  : Städte, Regionen, Siedlungsräume, in  : Forster, Rudolf (Hg.)  : Forschungs- und Anwendungsbereiche der Soziologie. Wien 2008, 235–249 Dangschat, Jens S.  : Raumkonzept zwischen struktureller Produktion und individueller Konstruktion, in  : Ethnoscripts 9 (2007), 24–44 Dangschat, Jens S./Frey, Oliver  : Stadt- und Regionalsoziologie, in  : Kessl/Reutlinger/ Maurer/Frey (Hg.), Handbuch Sozialraum, 143–164 Dangschat, Jens/Friedrichs, Jürgen/Kiehl, Klaus/Schubert, Klaus  : Phasen der Landesund Stadtentwicklung, in  : Friedrichs (Hg.), Stadtentwicklungen in Ost- und Westeuropa, 1–148 Dimmel, Nikolaus/Heitzmann, Karin/Schenk, Martin (Hg.)  : Handbuch Armut in Österreich. Innsbruck u.a. 2009 Forster, Rudolf (Hg.)  : Forschungs- und Anwendungsbereiche der Soziologie. Wien 2008 Frey, Oliver/Koch, Florian (Hg.)  : Die Zukunft der Europäischen Stadt. Stadtpolitik, Stadtplanung und Stadtgesellschaft im Wandel, Wiesbaden 2011, 11–20 Friedrichs, Jürgen (Hg.)  : Stadtentwicklungen in Ost- und Westeuropa. Berlin 1982 Häussermann, Hartmut  : Was bleibt von der europäischen Stadt  ?, in  : Frey/Koch (Hg.), Die Zukunft der Europäischen Stadt, 23–35 Heitmeyer, Wilhelm/Dollase, Rainer/Backes, Otto (Hg.)  : Die Krise der Städte  : Analysen zu den Folgen desintegrativer Stadtentwicklung für das ethnisch-kulturelle Zusammenleben. Frankfurt am Main 1998 Heitmeyer, Wilhelm  : Versagt die Integrationsmaschine Stadt  ? Zum Problem der ethnischkulturellen Segregation und ihrer Konfliktfolgen, in  : Heitmeyer/Dollase/Backes (Hg.), Die Krise der Städte, 443–465 Heitmeyer, Wilhelm/Anhut, Reimund (Hg.)  : Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen, Weinheim – München 2000 Helbrecht, Ilse  : Die „neue Intoleranz“ der Kreativen Klasse  : Veränderungen in der Stadtkultur durch das Arbeitsethos der flexiblen Ökonomie, in  : Frey/Koch (Hg.), Die Zukunft der Europäischen Stadt, 119–135 Inglehart, Ronald F.  : Modernisierung und Postmodernisierung. Kultureller, wirtschaftlicher und politischer Wandel in 43 Gesellschaften, Frankfurt am Main 1998 Kazepov, Yuri (ed.)  : Cities of Europe. Changing Contexts, Local Arrangements and the Challenge to Urban Cohesion, Oxford 2005, 3–42 Kessl, Fabian/Reutlinger, Christian/Maurer, Susanne/Frey, Oliver (Hg.)  : Handbuch Sozialraum. Wiesbaden 2005 Krämer-Badoni, Thomas/Petrowsky, Werner (Hg.)  : Das Verschwinden der Städte. Bremen 1997 Löw, Martina  : Raumsoziologie. Frankfurt am Main 2001

252

Jens S. Dangschat

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Birgit Pfau-Effinger

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und ­Kinderbetreuung 1. Einleitung Ein wesentliches Kennzeichen des Wertewandels des letzten Jahrzehnts in Europa, vor allem in den westeuropäischen Gesellschaften, betraf die Geschlechter-Dimension. Soweit sie sich auf das Zusammenleben von Frauen und Männern in der Familie beziehen, überschneiden sich die kulturellen Werte zum Geschlechterverhältnis mit denen zum Zusammenleben von Eltern mit ihren Kindern. Vor diesem Hintergrund untersucht das vorliegende Kapital in einer vergleichenden Perspektive die Differenzen zwischen europäischen Gesellschaften im Hinblick darauf, wie sich die kulturellen Werthaltungen zur Geschlecht und Elternschaft entwickelt haben. Der Beitrag geht dabei den folgenden Fragen nach  : • Inwieweit lassen sich verschiedene Typen von Ländern mit differierenden Werthaltungen zu Geschlecht und Elternschaft unterscheiden  ? • Wie lassen sich die Differenzen in den Werthaltungen erklären  ? • Welche Rolle spielt die Pfadabhängigkeit des Wandels entlang unterschiedlicher Entwicklungspfade für die Erklärung  ?1 Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Frage, wie die kulturelle Entwicklung in Österreich im internationalen Vergleich einzuordnen ist. Es ist zu erwarten, dass die Zustimmung zur Gleichstellung der Geschlechter infolge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse langfristig angestiegen ist. Es stellt sich aber die Frage, ob sich dabei auch die Werte im Hinblick auf die Kinderbetreuung angeglichen haben. Diesem Beitrag liegt die Annahme zugrunde, dass wesentliche Differenzen zwischen Ländern in Bezug auf die Vorstellungen darüber fortbestehen, welches die wünschenswerten Formen der Verbindung von Elternschaft und Kinderbetreuung sind. Weiter wird vermutet, dass sich solche Unterschiede vor allem vor dem Hintergrund erklären lassen, dass die Entwicklung im Kontext unter1 Ich bezeichne den kulturellen Wandel dann als „pfadabhängig“, wenn langfristig trotz der Veränderung bestimmter Elemente eines kulturellen Leitbildes bestimmte Grundzüge des Leitbildes erhalten bleiben.

254

Birgit Pfau-Effinger

schiedlicher kultureller Entwicklungspfade pfadabhängig verläuft. Es werden Länder aus unterschiedlichen geografischen Regionen Europas einbezogen  ; diese umfassen aus dem kontinentalen Westeuropa Österreich, Frankreich, Deutschland und die Schweiz, aus Nordeuropa Dänemark, Schweden und Finnland. Aus dem Bereich der zentral- und osteuropäischen Länder beziehe ich Polen, Tschechien und Ungarn mit ein. Diese Länder sind für den Vergleich insofern von besonderem Interesse, als hier bestimmte historische Gemeinsamkeiten mit Österreich und Deutschland bestehen. In Bezug auf Österreich ergeben sich damit zwei Vergleichsperspektiven  : • der Vergleich mit den anderen Ländern innerhalb derselben Länder-Gruppe  ; • der Vergleich der Gruppe der kontinentalen westeuropäischen Länder, denen Österreich zugerechnet wird, mit den anderen Länder-Gruppen.

2. Theoretischer Rahmen  : Der theoretische Ansatz der Geschlechterkultur

Der Analyse wird der theoretische Rahmen der „Geschlechterkultur“ zu Grunde gelegt, der von der Verfasserin entwickelt wurde.2 Demnach kann man davon ausge­ hen, dass es in jeder modernen Gesellschaft bestimmte dominierende Werte und Leitbilder in Bezug auf die Verknüpfung der Geschlechterbeziehungen mit der Verantwortung in den Generationenbeziehungen in der Familie gibt. Diese sind im Allgemeinen auch in der Form von Normen im institu­tionellen System verankert und des­halb oft relativ stabil. Solche Leitbilder werden hier als „Familienmodelle“ bezeichnet. Sie sind Teil der „Geschlechterkultur“ einer Gesellschaft, die kohärent oder widersprüchlich sein kann und wandelbar ist. Bei den kulturellen Leitbildern zur Familie, die in diesem Zusammenhang interessieren, handelt es sich um diejenigen Leitbilder, in denen kulturelle Werte zur Kinderbetreuung, zur geschlechtlichen Arbeitsteilung von Eltern betreuungsbedürftiger Kinder und zum Verhältnis der Familie zur Erwerbsarbeit gebündelt sind. Das jeweils in einer Gesellschaft dominierende Familienmodell (es können auch mehrere sein) beeinflusst das Verhalten der Akteure wie auch die wohlfahrtsstaatlichen Politiken maßgeblich. Dabei ist es möglich, dass sich verschiedene gesellschaftliche Ebenen im Hinblick darauf unterscheiden, welches kulturelle Familienmodell 2 Pfau-Effinger, Birgit  : Development of Culture, Welfare States and Women’s Employment in Europe. Ashgate 2004  ; Pfau-Effinger, Birgit  : Family Childcare in the Cultural and Institutional Context of European Societies, in  : Pfau-Effinger, Birgit  : Historical paths of the male breadwinner family model – explanation for cross-national differences, in  : British Journal of Sociology 55 (2004), 377–399.

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung

255

jeweils dominiert. So stimmen etwa die in der Bevölkerung vorherrschenden kulturellen Orientierungen gegenüber der Familie nicht notwendigerweise mit den Werten und Leitbildern überein, auf denen die wohlfahrtsstaatlichen Familienpolitiken beruhen. Die Geschlechterkultur kann somit auch widersprüchlich sein, sie kann zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen und Konflikten zwischen relevanten Akteursgruppen werden und sich – möglicherweise in widersprüchlicher Art und Weise – wandeln. Ich habe in früheren Veröffentlichungen einen theoretischen Ansatz zur Klassifizierung von in Europa vorherrschenden „geschlechterkulturellen Modellen“ bzw. „Familienmodellen“ in die internationale Diskussion eingeführt. Die zentralen Dimensionen, die in einem kulturellen Familienmodell gebündelt sind, umfassen (1) die ideale Beziehung der Familienmitglieder zum Erwerbssystem, (2) die ideale geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im Hinblick auf die Kinderbetreuung und (3) die Frage, welche Art der Betreuung gut für die Kinder ist.3

3. Zur praktischen Relevanz kultureller Familienleitbilder Internationale Differenzen im Erwerbsverhalten von Frauen, die kleine Kinder haben, werden häufig mit Differenzen in den wohlfahrtsstaatlichen Politiken erklärt  : Demnach trägt insbesondere ein entwickeltes Angebot an öffentlicher Kinderbetreuung dazu bei, dass Frauen im Zusammenhang mit der Kinderbetreuung keine biografischen Nachteile erfahren und dass sie ihre Karriere in gleicher Weise wie Männer verfolgen können. Generöse Elternzeitregelungen verleihen den Eltern kleiner Kinder Rechte, ihre Erwerbstätigkeit zeitweise auf der Basis eines finanziellen Ausgleichs zu unterbrechen oder eine finanzielle Aufstockung für eine vorübergehende Teilzeitbeschäftigung zu erhalten. Diese gelten in diesem Zusammenhang eher als Beitrag zur Stabilisierung der Benachteiligung von Frauen, da sie, so das Hauptargument, falsche Anreize für das Verhalten von Müttern kleiner Kinder setzen und für diese nachteilige Folgen haben.4 In international vergleichenden empirischen Analysen hat sich allerdings herausgestellt, dass das Verhalten der Mütter kleiner Kinder keineswegs nur oder im Wesentlichen eine Reaktion auf die Familienpolitik darstellt. Die Differenzen lassen sich nicht allein mit den Unterschieden in der Familienpolitik erklären. Vielmehr tragen 3 Pfau-Effinger, Development of Culture, Welfare States and Women’s Employment in Europe. 4 Z.B. Leira, Arnlaug  : Working Parents and the Welfare State. Family Change and Policy Reform in Scandinavia, Cambridge 2002.

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Birgit Pfau-Effinger

auch kulturelle Differenzen in den Werten und Leitbildern zur Familie zwischen Ländern erheblich zu Verhaltensdifferenzen im Ländervergleich bei. Wohlfahrtsstaatliche Politiken können ohne Zweifel einen Einfluss auf die kulturellen Orientierungen haben. Die in einer Gesellschaft verbreiteten kulturellen Werte und Leitbilder zur Familie sind aber keineswegs per se das Ergebnis wohlfahrtsstaatlicher Politiken. Sie können sich auch schneller oder in anderer Weise als die Politiken verändern und sind diesen gegenüber zum Teil relativ autonom. Die Politiken leisten aber einen wichtigen Beitrag zu der Frage, inwieweit und mit welchen Risiken sich die kulturellen Familienmodelle, die in der Bevölkerung verbreitet sind, auch in der Praxis realisieren lassen.

4. Historischer Wandel der Familie im Kontext differierender kultureller ­Familienmodelle In einer Gesellschaft gibt es jeweils ein oder mehrere kulturelle Leitbilder zur Familie, an denen die Menschen ihr Verhalten gegenüber der Familie mehr oder weniger ausrichten. In diesen Leitbildern sind Ideen dazu gebündelt, welches die „richtigen“, „angemessenen“ Bereiche für die gesellschaftliche Integration und die Arbeitsfelder von Frauen und Männern sind. Sie sind mit kulturellen Werten über die Generativität und die Generationsbeziehungen verknüpft und beinhalten damit auch Annahmen darüber, wie die Familie im Hinblick auf die Betreuungsaufgaben mit anderen gesellschaftlichen Institutionen wie dem Wohlfahrtsstaat und dem Erwerbssystem verbunden sein soll. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich in den westeuropäischen Gesellschaften ein gravierender Wandel in den kulturellen Grundlagen der Kinderbetreuung vollzogen. Im Zusammenhang mit der zunehmenden Akzeptanz der Erwerbstätigkeit von Frauen und der Idee der Gleichstellung der Geschlechter wurde die Kinderbetreuung zu einem erheblichen Anteil aus der Familie hinaus auf andere gesellschaftliche Institutionen verlagert. Dabei gibt es allerdings noch immer deutliche Differenzen in Bezug darauf, welche Familienmodelle jeweils dominieren. Diese betreffen besonders auch die Frage, inwieweit die familiale Kinderbetreuung heute noch auf kulturelle Wertschätzung trifft.5 Die Entwicklung in den zentral- und osteuropäischen Gesellschaften vollzog sich auf der Grundlage ihrer gemeinsamen Geschichte als staatssozialistische Gesellschaften teilweise in einer anderen Phasenabfolge. Insgesamt lassen sich in den einbezogenen Regionen Europas drei verschie5 Pfau-Effinger, Development of Culture, Welfare States and Women’s Employment in Europe.

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung

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dene Entwicklungspfade von Familie und Kinderbetreuung unterscheiden, deren Unterschiede in erster Linie auf kulturelle Differenzen zurückgehen.6 Dazu zählen • ein Entwicklungspfad auf der Grundlage einer starken Tradition der Hausfrauenehe, • ein Entwicklungspfad auf der Grundlage einer schwachen Tradition der Hausfrauenehe, • und ein Entwicklungspfad auf der Grundlage einer staatssozialistischen Tradition der Familie. Ich stelle im Folgenden jeden der drei Entwicklungspfade exemplarisch anhand eines europäischen Landes dar, das die für diesen Pfad typischen Züge aufweist. 4.1 Entwicklungspfad auf der Grundlage einer starken Tradition der Hausfrauenehe

Der erste Entwicklungspfad ist durch einen grundsätzlichen kulturellen Wandel gekennzeichnet, den ich als „Modernisierung der männlichen Versorgerehe“ bezeichne. Dieser weist eine relativ hohe Veränderungsdynamik auf. Dies fand vor allem in denjenigen Ländern statt, in denen – wie in Österreich, Westdeutschland und der Schweiz – bis in die 1960er-Jahre dem „Hausfrauenmodell der männlichen Versorgerehe“ eine starke kulturelle Vormachtstellung als Familienleitbild zukam.7 Dieses traditionelle Modell beruhte auf der Annahme einer grundsätzlichen Trennung der gesellschaftlichen Sphären von „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“ und einer entsprechenden Verortung beider Geschlechter  : Als angemessener Bereich des Ehemanns galt die Erwerbsarbeit in der „öffentlichen“ Sphäre. Der entsprechende Bereich für die Ehefrau bestand in der Hausarbeit und Kinderbetreuung im privaten Haushalt, wobei sie finanziell vom männlichen Familienernährer abhängig war. Damit war eine spezifische Konstruktion der Kindheit als „private“ Kindheit verbunden, die auf der Annahme beruhte, dass Kinder eine spezifische Betreuung und Förderung durch ihre Mutter im Privathaushalt benötigen.

6 Pfau-Effinger, Birgit/Jensen, Per H./Flaquer, Lluis  : Formal and informal work in European societies – A comparative perspective, in  : Pfau-Effinger, Birgit/Jensen, Per H./Flaquer, Lluis (eds)  : Formal and Informal Work in Europe. The Hidden Work Regime, London – New York 2009, 193–214  ; dort wird ein vierter Typ der Entwicklung analysiert, der die mediterranen Länder wie Spanien und Italien betrifft und in diesem Beitrag ausgeblendet wurde. 7 Pfau-Effinger, Birgit  : Entwicklungspfade und Zukunft der Kinderbetreuung, in  : Zeitschrift für Familienforschung (Journal for Family Research), (special issue) 6 (2009), 237–254.

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Birgit Pfau-Effinger

Die kulturelle Bedeutung dieses Modells ist seit den 1970er-Jahren in den drei Ländern (Österreich, Westdeutschland, Schweiz) stark rückläufig. 8 Der Wandel war vor allem auch darin begründet, dass die Konstruktion von Abhängigkeit und Ungleichheit in der Hausfrauenehe zunehmend mit dem kulturellen Konstrukt der autonomen und gleichen BürgerInnen in Widerspruch geriet, das in der Nachkriegszeit schnell an Bedeutung gewann. Dieser Widerspruch wurde von der sich neu formierenden Frauenbewegung mit dem Ziel aufgegriffen, neue kulturelle Werte der Gleichstellung der Geschlechter zu verankern, die die Anerkennung des Rechts von Frauen auf die Beteiligung am Erwerbsleben beinhalten. Als Folge etablierte sich in breiten Teilen der Bevölkerung das „Vereinbarkeitsmodell der männlichen Versorgerehe“ als neues Familienleitbild.9 Dabei geht man prinzipiell davon aus, dass Frauen und Männer voll am Erwerbsleben partizipieren. Wenn ein Kind geboren wird, wird aber von Frauen erwartet, dass sie ihre Erwerbsarbeit vorübergehend unterbrechen und diese dann auf der Basis einer Teilzeitbeschäftigung fortsetzen, bis ihre Kinder nicht länger als betreuungsbedürftig angesehen werden. In diesem Rahmen wird die familiale Kinderbetreuung durch Mütter mit externen Formen der Kinderbetreuung kombiniert. Das Modell stellt sozusagen einen Kompromiss zwischen Ideen der Gleichstellung der Geschlechter auf der Basis der Erwerbsarbeit einerseits und der Idee, dass Zeiten der „häuslichen Kindheit“ Bestandteile einer „guten“ Kindheit sind, andererseits dar. In Deutschland und der Schweiz hat diese Veränderung allerdings nicht alle Groß-Regionen in gleicher Weise erfasst  ; in Deutschland betrifft die beschriebene Entwicklung im Wesentlichen nur Westdeutschland, wie ich weiter unten ausführen werde, und in der Schweiz war die Tradition des Hausfrauenmodells stärker in den deutsch- als in den französischsprachigen Regionen ausgeprägt.10 Auf der Grundlage dieser Veränderungsprozesse haben sich die Strukturen der geschlechtlichen Arbeitsteilung in den Ländern in spezifischer Weise gewandelt. Typisch für die Erwerbstätigkeit von Müttern ist in diesen Ländern, dass sie ihre Erwerbstätigkeit nach der Geburt eines Kindes reduzieren und nach einer Erwerbsunterbrechung einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen. Dementsprechend ist hier im  8 Kreimer, Margareta/Schiffbänker, Helene  : Informal family-based care work in the Austrian care arrangement, in  : Pfau-Effinger, Birgit/Geissler, Birgit (eds.)  : Care and Social Integration in European Societies. Bristol 2005, 173–194  ; Wecker, Regina  : Gender und Care  : Veränderungen und Traditionen in der Sozialpolitik der Schweiz, in  : Carigiet, Erwin/Opielka, Michael/SchulzNieswand, Frank (Hg.)  : Wohlstand durch Gerechtigkeit. Deutschland und die Schweiz im sozialpolitischen Vergleich, Basel 2006, 65–83.  9 Pfau-Effinger, Development of Culture, Welfare States and Women’s Employment in Europe. 10 Bühler, Elisabeth  : Zum Verhältnis von kulturellen Werten und gesellschaftlichen Strukturen in der Schweiz – Das Beispiel regionaler Gemeinsamkeiten und Differenzen der Geschlechterungleichheit, in  : Geographica Helvetica. Swiss Journal of Geography 2 (2001), 77–89.

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung

259

europäischen Vergleich der Anteil der Kinder besonders hoch, die zuhause durch ihre Eltern betreut werden.11 Auch wenn das Vereinbarkeitsmodell der männlichen Versorgerehe bestimmte kulturelle Elemente der Hausfrauenehe tradiert, ist es nicht ohne Weiteres angemessen, es als besonders „traditionell“ zu bezeichnen. Denn die familiale Kinderbetreuung wurde in ihrer kulturellen Bedeutung teilweise aus dem Kontext der traditionellen Hausfrauenehe herausgelöst und mit neuen Bedeutungen versehen. Ein neuer Typ von Elternschaft ist entstanden, in dem Eltern – noch immer meist die Mütter – im Rahmen einer ansonsten auf eine dauerhafte Erwerbstätigkeit ausgerichteten Lebensplanung bestimmte Phasen dafür vorsehen, ihre eigenen Kinder temporär in Vollzeit und dann in Teilzeit zu betreuen, ohne dabei aber prinzipiell die Anbindung an die Erwerbsarbeit aufzugeben. Dabei gelten die Zeit, die mit den eigenen Kindern verbracht wird, sowie die private Kinderbetreuung weniger als Pflichterfüllung, sondern eher als Möglichkeit der Sinnerfüllung und Selbstverwirklichung und erhalten in dem Kontext ihre besondere Bedeutung. Traditionelle Strukturen der Ungleichheit im Geschlechterverhältnis werden in diesem Modell dann gefördert, wenn es dazu führt, dass die Kinderbetreuung einseitig von Frauen durchgeführt wird und Frauen bei der Umsetzung des Modells in die finanzielle Abhängigkeit von einem „männlichen Familienernährer“ oder auf diskriminierende Formen der Sozialhilfe verwiesen werden.12 4.2 Entwicklungspfad auf der Grundlage einer schwachen Tradition der Hausfrauenehe

Dänemark, Frankreich, Schweden und Finnland gehören zu den Gesellschaften, in denen sich die kulturellen Grundlagen der Familie in den letzten Jahren entlang des zweiten Entwicklungspfades verändert haben. Die kulturelle Bedeutung des Hausfrauenmodells der männlichen Versorgerehe war in diesen Gesellschaften im Allgemeinen eher schwach ausgeprägt. Stattdessen dominierte schon zu Beginn des untersuchten Zeitraums vorwiegend ein „Doppelversorgermodell mit außerhäuslicher Kinderbetreuung“.13 Das Modell beruht auf der Idee, dass Frauen wie Männer 11 Pfau-Effinger, Birgit/Smidt, Maike  : Differences in Women’s Employment Patterns and Family Policies  : Eastern and Western Germany, in  : Community, Work & Family 14 (2011), (forthcoming)  ; Plantenga, Janneke/Remery, Chantal  : The provision of childcare services. A comparative review of 30 European countries. European Commission’s Expert Group on Gender and Employment Issues (EGGE), Brussels 2009. 12 Pfau-Effinger/Jensen/Flaquer, Formal and informal work in European societies. 13 Die kulturellen Gemeinsamkeiten lassen sich mit Ähnlichkeiten in der historischen Entwicklung, bezogen auf die Bedeutung der agrarischen Produktionsweise und die Sozialstruktur der ländlichen

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grundsätzlich in Vollzeit erwerbstätig sind  ; die Kinderbetreuung gilt vorwiegend als Verantwortungsbereich von Institutionen außerhalb der Familie.14 Die Mehrheit der Bevölkerung in diesen Ländern orientiert sich an diesem kulturellen Leitbild der Familie. Die Erwerbsquote von Frauen ist dementsprechend seit Jahrzehnten überdurchschnittlich hoch, und der Anteil der Frauen niedrig, die aus familienbedingten Gründen Teilzeit arbeiten.15 Der Wandel in den kulturellen Grundlagen von Familie und Kinderbetreuung war in diesen Ländern insgesamt deutlich geringer ausgeprägt als in denen, die sich dem ersten Entwicklungspfad zurechnen lassen. 4.3 Entwicklungspfad auf der Grundlage einer staatssozialistischen Tradition der Familie

In den postsozialistischen Ländern wie Polen und Tschechien sowie in Ostdeutschland war die Kinderbetreuung zur Zeit des Staatssozialismus vorwiegend staatlich organisiert. Von Frauen und Männern wurde gleichermaßen erwartet, dass sie in der industriellen Produktion tätig waren. Das hegemoniale kulturelle Familienleitbild war nicht Ergebnis öffentlicher Diskurse unter Beteiligung der Zivilgesellschaft, sondern wurde von der Staatspartei und der Regierung propagiert  ; dessen Realisierung wurde oftmals auch mithilfe von Sanktionen durchgesetzt  : ein „Doppelversorgermodell mit öffentlicher Kinderbetreuung“. Dieses Leitbild war produktivistisch ausgerichtet, d.h. es beruhte auf der Annahme, dass die volle Integration von Frauen in die Erwerbsarbeit auch politisch und in der Familie zur Gleichstellung der Geschlechter führen würde. Studien zeigen jedoch, dass in dieser Zeit die traditionelle Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern in der Familie weitgehend aufrechterhalten wurde.16 Im Übergang zur postsozialistischen Gesellschaft wurde in diesen Ländern die öffentliche Infrastruktur für die Kinderbetreuung weitgehend abgebaut. Ein starker (Wohlfahrts-) Staat und öffentliche Kinderbetreuung galten als staatlicher Eingriff in die Familie und ließen sich nun nicht länger legitimieren. Gleichwohl blieben Frauen weiterhin voll in den Arbeitsmarkt integriert, wenn nicht als Erwerbstätige, dann als Arbeitslose. Die Kinderbetreuung wurde nun im Wesentlichen in Bevölkerung erklären. Zu einem sozio-historischen Erklärungsmodell vgl. Pfau-Effinger, Birgit  : Historical paths of the male breadwinner family model – explanation for cross-national differences, in  : British Journal of Sociology 55 (2004), 377–399. 14 Anttonen, Anneli/Sipilä, Jorma  : Comparative approaches to social care  : diversity in care production modes, in  : Pfau-Effinger/Geissler (Hg.), Care and Social Integration in European Societies, 115–134  ; Pfau-Effinger, Birgit  : Welfare State Policies and the development of care arrangements, in  : European Societies 7 (2005), 321–347. 15 Pfau-Effinger, Family Childcare in the Cultural and Institutional Context of European Societies. 16 Rosenfeld, Rachel A./Trappe, Heike/Gornick, Janet C.  : Gender and work in Germany  : Before and after reunification, in  : Annual Review of Sociology 30 (2004), 103–124.

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der erweiterten Familie geleistet, vor allem durch die Großeltern.17 Das Familienmodell, das nun vorrangig praktiziert wurde, entspricht dem Familienleitbild, das ich als „Gleichstellungsmodell mit Kinderbetreuung durch die erweiterte Familie“ bezeichne. Es beruht auf der kulturellen Orientierung von Frauen und Männern auf eine vollzeitige und relativ kontinuierliche Erwerbstätigkeit, auch wenn kleine Kinder im Haus sind. Gleichzeitig werden die Hausarbeit und die Kinderbetreuung aber als informelle Arbeit angesehen, für die in erster Linie die weiblichen Haushaltsmitglieder zuständig sind. Dabei wird aber auch akzeptiert, dass andere Familienangehörige anstelle der Mutter des Kindes diese Aufgaben übernehmen. Die Realisierung dieses Familienmodells ist deshalb möglich, weil in den Ländern strukturell oftmals die Familienform der „erweiterten Familie“ vorherrscht, die auf dem Zusammenleben von mehr als zwei miteinander verwandten Erwachsenen in einem privaten Haushalt beruht und aus der Zeit der Agrargesellschaft mit in die Moderne transferiert wurde.18 Dass dieses Modell in der Praxis weit verbreitet ist, bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass es sich dabei auch um ein besonders populäres Leitbild handelt. Saxonberg19 kam auf der Grundlage von Einstellungsdaten des ISSP von 2002 zu dem Ergebnis, dass die Einstellungen gegenüber der Erwerbstätigkeit von Müttern kleiner Kinder in den postsozialistischen Gesellschaften besonders konservativ sind. Der Autor führt das darauf zurück, dass in der Bevölkerung auch durch die Zeit des Staatssozialismus hindurch Elemente eines konservativen Familienleitbildes aufrechterhalten wurden, das sich an das Familienleitbild der männlichen Versorgerehe anlehnt. Das betrifft insbesondere die Länder, die bis zum frühen 20. Jahrhundert dem Österreichisch-Ungarischen Kulturkreis angehörten. Es zählen dazu u.a. Tschechien und Ungarn. Allerdings erlaubt es das vergleichsweise geringe Wohlstandsniveau in diesen Ländern den Eltern kleiner Kinder oftmals nicht, sich zugunsten einer Familienzeit für die Betreuung des eigenen Kindes oder für eine Verbindung von Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung auf der Grundlage von Teilzeitarbeit zu entscheiden. Eine Ausnahme könnte in dem Zusammenhang Ungarn bilden, wo eine großzügige Elternzeitregelung eingeführt wurde, auf deren Grundlage Mütter bzw. Eltern kleiner Kinder sich für 14 Monate von der Erwerbsarbeit 17 Saxonberg, Steven/Szelewa, Dorota  : The Continuing Legacy of the Communist Legacy, in  : Social Politics  : International Studies in Gender 14 (2007), 42–55  ; Surdej, Aleksaner/Slezak, Ewa  : Formal and informal work in a post-communist welfare regime – the case of Poland, in  : PfauEffinger/Jensen/Flaquer (eds.), Formal and informal work in European societies, 169–192. 18 Surdej/Slezak, Formal and informal work in a post-communist welfare regime – the case of Poland. 19 Saxonberg/Szelewa, The Continuing Legacy of the Communist Legacy.

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freistellen lassen können und in dieser Zeit eine monatliche Zahlung von mindestens zwei Drittel ihres Einkommens erhalten.20 Anders als in den anderen postsozialistischen Gesellschaften hat in Ostdeutschland das kulturelle Familienleitbild aus der Zeit des Staatssozialismus  : das „Doppelversorgermodell mit staatlicher Kinderbetreuung“ bis heute Bestand. Insofern divergieren auch die Einstellungen der westdeutschen und der ostdeutschen Bevölkerung zur Frage der Gleichstellung und der Verbindung von Geschlechter- und Generationenbeziehungen teilweise deutlich.21 Da dieser Beitrag sich auf gesamtdeutsche Daten beschränkt, drückt sich darin stärker die westdeutsche Sichtweise aus, da die westdeutsche Bevölkerung deutlich größer ist als die ostdeutsche. Vor dem Hintergrund der differierenden Entwicklungspfade lassen sich die folgenden Erwartungen an die Ergebnisse der vergleichenden Analyse geschlechterkultureller Werte formulieren  : • In Österreich, Deutschland und der Schweiz sind Einstellungen zu erwarten, die tendenziell wesentliche Merkmale des „Vereinbarkeitsmodells der männlichen Versorgerehe“ reflektieren. • In Dänemark, Finnland, Frankreich, Schweden sind Einstellungen zu erwarten, die tendenziell wesentliche Merkmale des „Doppelversorgermodells mit öffentlicher Kinderbetreuung“ reflektieren. • Für Polen, Tschechien, Ungarn sind tendenziell Einstellungen zu erwarten, die ein „Doppelversorgermodell mit Kinderbetreuung durch die erweiterte Familie“ reflektieren.

5. Methodologischer Ansatz Der vorliegende Beitrag beruht auf Daten der European Values Study für die Jahre 1990, 1999 und 2008. Die Darstellung der Ergebnisse der Datenanalyse erfolgt im Wesentlichen auf der Grundlage von Häufigkeitstabellen, sofern das entsprechende Item in dem Land in der Welle abgefragt wurde. Da nur zehn Länder in den Vergleich einbezogen werden, sind komplexe statistische Analysen als Auswertungsverfahren nicht geeignet. 20 Pfau-Effinger, Family Childcare in the Cultural and Institutional Context of European Societies. 21 Lee, Kristen Schultz/Alwin, Duane F./Tfis, Paula A.  : Beliefs about women’s labour in the Reunified Germany, 1991–2004, in  : European Sociological Review 23 (2007), 487–503  ; Rosenfeld/ Trappe/Gornick, Gender and work in Germany, 103–124

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung

263

Eine gängige Praxis beim Vergleich von Werthaltungen zu Familie und Geschlecht ist die der Indexbildung. Auf der Grundlage werden dann im Hinblick auf die Einstellungen zur Geschlechtergleichstellung stärker „traditionelle“ und stärker „fortschrittliche“ Gesellschaften unterschieden.22 Tatsächlich umfassen kulturelle Familienmodelle aber unterschiedliche Wertedimensionen, die sich nicht als Punkte auf einer Geraden zwischen den Polen „Traditionalität“ und „Fortschrittlichkeit“ in den Einstellungen zur Gleichstellung der Geschlechter abbilden lassen. Es ist plausibel anzunehmen, dass kulturelle Werte zur Gleichstellung einerseits und kulturelle Werte dazu, welcher gesellschaftliche Bereich als besonders geeignet für die Betreuung von Kindern angesehen wird, damit sie eine „gute Kindheit“ verleben, nicht notwendigerweise in der gleichen Art und Weise zwischen Ländern differieren. So ist es denkbar, dass in einem Land der Wert der Gleichstellung der Geschlechter stark unterstützt wird, dass man aber gleichzeitig als eine „gute Kindheit“ von Kindern bis zu einem bestimmten Lebensalter (z. B. bis zu zwei Jahren) eine Kindheit definiert, in der Kinder im Wesentlichen durch ihre Eltern betreut werden. Um verschiedene Dimension kultureller Familienleitbilder zu erfassen, differenziere ich im Folgenden zwischen drei zentralen Dimensionen  : • Einstellungen zur Erwerbstätigkeit von Frauen, • Einstellungen in Bezug auf eine „gute Kindheit“ und Kinderbetreuung, • Einstellungen zur Gleichstellung von Frauen und Männern im Familienhaushalt. Die Items des EVS werden den drei genannten Dimensionen zugeordnet. Für jedes der Items wird die Zustimmungsrate für die drei Wellen 1990, 1999 und 2008 ausgewiesen, soweit die Daten vorliegen. Weiters werden die Differenzen in der Zustimmungsrate zwischen weiblichen und männlichen Befragten für die Welle von 2008 dargestellt. Schließlich wird für jedes Item und Land für 2008 ein Wert für die „Veränderung über die Alterskohorten“ gebildet, der in Prozentpunkten gemessen wird. Dieser wurde auf der Grundlage der Differenz zwischen der Zustimmungsrate in der jüngsten und der in der ältesten Alterskohorte berechnet. Ein negativer Wert zeigt an, dass die Zustimmung zu dem Item zur jüngeren Alterskohorte hin abnimmt. Die Alterskohorten verteilen sich wie folgt  : 18–29, 30–44, 45–59, 60+. Auf dieser Grundlage lassen sich mit aller Vorsicht Aussagen über die längerfristige Stabilität bzw. Veränderungsdynamik der Zustimmung zu einem Item ableiten. Es ist dabei allerdings einschränkend zu berücksichtigen, dass es sich anstelle solcher Kohorteneffekte in 22 Hofaecker, Dirk/Lück, Detlev  : Values of work and care among women in modern societies, in  : Oorschot, Wim van/Opielka, Michael/Pfau-Effinger, Birgit (Hg.)  : Culture and Welfare State. Values and Social Policy in a Comparative Perspective, Cheltenham – Northampton 2008, 289 – 314.

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Birgit Pfau-Effinger

einigen Fällen auch vorrangig um einen Alterseffekt handeln könnte, sich mit zunehmendem Alter die Zustimmung zu einem bestimmten Item also verändert. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Einstellungsdaten der EVS nur einen Teil der Indikatoren abdecken, die notwendig wären, um das jeweils vorherrschende kulturelle Familienmodell in vollem Umfang zu erfassen. Für die verschiedenen Dimensionen ergeben sich jeweils bestimmte Annahmen, die die Differenzen zwischen den einbezogenen Ländern betreffen  : Vereinbarkeitsmodell der männlichen Versor­ gerehe

Doppelversorgermodell mit öffentlicher Kinder­ betreuung

Doppelversorgermodell mit Kinderbetreuung durch die erweiterte Familie

1. Dimension  : Erwerbstätigkeit von Frauen

weniger wichtig

wichtig

wichtig

2. Dimension  : Angemessene Form der Kinderbetreuung

Mutter

öffentliche Kinderbetreuung

Familie

3. Dimension  : Gleichstellung im Familienhaushalt

eher ungleich

eher gleich

eher ungleich

Länder

Österreich, Deutschland, Schweiz

Dänemark, Finnland, Frank- Polen, Tschechien, Ungarn reich, Schweden

Dimensionen

Tabelle 31  : Annahmen zu den Einstellungen zu Gleichstellung, Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung in den einbezogenen Ländern.

Die ausgewählten Items werden den drei Dimensionen in der folgenden Art und Weise zugeordnet  : Dimensionen ­kultureller Famili­ enmodelle Erwerbstätigkeit von Frauen

Indikatoren Item 1

Item 2

Berufstätigkeit ist der beste Weg für eine Frau, um unabhängig zu sein (stimme zu)

Ein Beruf ist gut, aber was die meisten Frauen wirklich wollen, ist ein Heim und Kinder (stimme zu)

Angemessene Form Eine berufstätige Mutter kann der Kinderbetreuung ihrem Kind genauso viel Wärfür Kleinkinder me und Sicherheit geben wie eine Mutter, die nicht arbeitet (stimme zu)

Ein Kleinkind wird wahrscheinlich darunter leiden, wenn die Mutter berufstätig ist (stimme zu)

Gleichstellung im Familienhaushalt

Beide, Mann und Frau, sollten zum Haushaltseinkommen beitragen (stimme zu)

Männer sollten genauso viel Verantwortung für Haushalt und Kinder übernehmen wie Frauen (stimme zu)

Tabelle 32  : Die den drei Dimensionen zugeordneten Items.

Item 3

Im allgemeinen sind Väter genauso geeignet, sich um die Kinder zu kümmern, wie Mütter (stimme zu)

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung

265

6. Einstellungen zur Gleichstellung und zur Familie in Österreich im europäischen Kontext 6.1 Dimension 1  : Erwerbstätigkeit von Frauen

Die nachfolgende Tabelle zeigt, dass in den westeuropäischen Ländern 1990 die Auffassung darüber, ob die Berufstätigkeit die beste Grundlage für die Autonomie von Frauen ist, nicht sehr stark differierte (zwischen 74 % und 80 %). In all diesen Ländern wurde diese Meinung von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Deutlich geringer war diese Auffassung in der Bevölkerung der zentral- und osteuropäischen Länder verbreitet. In Polen und Tschechien wurde sie nur von knapp zwei Dritteln der Bevölkerung geteilt, in Ungarn nur von ca. der Hälfte. Es gibt zwei mögliche Erklärungen für die Differenz. Möglicherweise ist die geringere Unterstützung für die Aussage in der Bevölkerung in den Ländern vor allem darin begründet, dass man in den Zeiten des Staatssozialismus generell nicht die Erfahrung gemacht hat, dass Erwerbsarbeit zu persönlicher Autonomie führt. Alternativ wäre auch eine Interpretation möglich, wonach Frauen generell die Erfahrung von Autonomie gemacht haben, auch außerhalb der Erwerbstätigkeit. Seit 1990 ist der Anteil der Bevölkerung in fast allen Ländern gestiegen, der die Aussage unterstützt. Dabei ist es zu einer deutlichen Annäherung zwischen den Ländergruppen gekommen. Während 1990 die Differenz zwischen dem höchsten (80 %) und dem niedrigsten Anteil (48 %) noch 32 Prozentpunkte umfasste, betrug sie 2008 nur noch 17 %. Land

Welle 1990

Geschlecht

1999

2008

m

w

Veränderung über Alterskohorten

Österreich

74

85

81

88

0

Deutschland

75

81

84

81

87

5

83

82

85

5

79

84

87

84

90

1

Schweiz Frankreich Dänemark

80

84

88

87

89

–12

Schweden

74

83

79

75

82

–22 –9

Finnland

77

63

61

56

64

Polen

64

76

79

77

80

6

Tschechien

62

76

79

79

80

2

Ungarn

48

72

81

77

85

–10

Tabelle 33  : Einstellung zur Erwerbstätigkeit von Frauen, „Berufstätigkeit ist der beste Weg für eine Frau, um unabhängig zu sein“, Anteil derjenigen, die zustimmen, in %, Veränderung über Alterskohorten  : Positive Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 18–29, negative Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 60+ im Verhältnis zueinander. Quelle  : EVS 1990–2008.

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Birgit Pfau-Effinger

Auffällig ist vor allem, dass die postsozialistischen Länder, in denen die Anteile 1990 noch deutlich unter denen in den westeuropäischen Ländern lagen, sich diesen inzwischen in der Hinsicht angeglichen haben. Dabei differieren die Einstellungen von Frauen und Männern zu der Frage in vielen Ländern ein Stück weit, wobei Frauen tendenziell in der Berufstätigkeit eher als Männer die Grundlage für die Möglichkeit zur Autonomie von Frauen sehen. In Finnland hat allerdings, entgegen dem Trend, der Anteil derjenigen abgenommen, die meinen, die Berufstätigkeit sei das beste Mittel für eine Frau, unabhängig zu sein. Statt 77 % im Jahr 1990 sind heute nur noch 61 % dieser Meinung. Dabei zeigt sich, dass die wesentliche Veränderung schon in den 1990er-Jahren stattgefunden hat. Die Sonderentwicklung in Finnland ist erklärungsbedürftig. Eine mögliche Erklärung liegt darin, dass der finnische Wohlfahrtsstaat schon seit mehreren Jahrzehnten zu den relativ generösen Wohlfahrtsstaaten zählt, die Esping-Andersen23 dem „sozialdemokratischen Wohlfahrtsregime“ zugerechnet hat. Frauen (und Männer), die ihre Erwerbstätigkeit nach der Geburt eines Kindes unterbrechen möchten, sind durch staatliche Transferzahlungen im Rahmen von Elternzeit und Kinderbetreuungszeit für einen Zeitraum bis zu drei Jahren finanziell gut abgesichert. Frauen sind daher nicht auf die finanzielle Unterstützung durch ihren Ehepartner angewiesen, wie das etwa in Österreich und Deutschland teilweise noch heute der Fall ist.24 Nicht nur aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit, sondern in ihrer Stellung als Sozialbürgerinnen sind Frauen demnach in Finnland autonom. Dabei zeigt sich zudem auch für Finnland, dass die Annahme, die Erwerbsarbeit sei die wesentliche Grundlage für die Autonomie von Frauen, in der jüngsten Alterskohorte deutlich weniger geteilt wird als in der ältesten Alterskohorte  : Die Differenz beträgt immerhin neun Prozentpunkte. Denselben Effekt finden wir auch in den anderen beiden westeuropäischen Ländern, die eine schwache Tradition des Hausfrauenmodells aufweisen, in Dänemark und Schweden  ; hier ist er sogar noch stärker ausgeprägt (12 % bzw. 22 %). Zusätzlich zu der oben angeführten Erklärung könnte noch eine andere Erklärung greifen  : Es ist denkbar, dass die jüngeren Kohorten ein Stück weit von der feministischen Vorstellung ihrer Großmütter (und Mütter) Abschied genommen haben, die Teilnahme von Frauen an der Erwerbsarbeit könnte zur „Befreiung“ von Frauen beitragen. Es gibt auch einige Items in der EVS, die sich auf die Frage nach der Bewertung der Erwerbstätigkeit von Frauen im Verhältnis zu ihrer Zuständigkeit für Familienauf23 Esping-Andersen, Gøsta  : The Three Worlds of Welfare Capitalism. Princeton 1990  ; Esping-Andersen, Gøsta  : Social Foundations of Postindustrial Economies. New York 1999. 24 Pfau-Effinger, Family Childcare in the Cultural and Institutional Context of European Societies.

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung

267

gaben beziehen. Dazu zählt das Item „Ein Beruf ist gut, aber was die meisten Frauen wirklich wollen, ist ein Heim und Kinder“. Tabelle 34 zeigt die longitudinalen Entwicklungen der Zustimmungsraten. Es erscheint allerdings etwas problematisch, die Antworten angemessen zu deuten. Denn es wird in der Vorgabe nicht ganz deutlich, ob gemeint ist, dass Frauen im Entscheidungsfall „Heim und Kinder“ der Erwerbstätigkeit vorziehen, oder ob gemeint ist, dass Frauen zusätzlich zur Erwerbstätigkeit auch eine Familie haben möchten. Man kann die Antworten vermutlich in jedem Fall so deuten, dass sie die traditionellen Annahmen unterstützen, die mit dem Hausfrauenmodell der männlichen Versorgerehe verbunden sind, wonach der private Familienhaushalt den „eigentlichen“ Lebensbereich von Frauen ausmacht. In Westeuropa war 1990 die Zustimmung zu dieser traditionellen Annahme in denjenigen Ländern am höchsten, in denen eine starke Tradition des Hausfrauenmodells besteht, darüber hinaus auch in Frankreich. In Frankreich war sie sogar am höchsten (68 %), gefolgt von Österreich (62 %) und Deutschland (51 %). Die Zustimmung in den Ländern mit einer schwachen Tradition der männlichen Versorgerehe, Dänemark (25 %) und Finnland (41 %) war deutlich geringer. Die höchsten Werte erzielten hier die postsozialistischen Länder Polen (88 %), Tschechien (84 %) und Ungarn (76 %), deren Bevölkerung in der Hinsicht, trotz der Zugehörigkeit dieser Länder zum sozialistischen Lager, besonders konservativ war. Im Zuge der Entwicklung bis 2008 kam es zu einem deutlichen Rückgang des Anteils der Bevölkerung, der diese traditionelle Auffassung teilt. Die Differenzen zwischen den Ländergruppen blieben dabei aber erhalten. In den westeuropäischen Ländern mit einer starken Tradition der männlichen Versorgerehe und in Frankreich ist noch immer etwa die Hälfte der Bevölkerung der Auffassung, dass es sich bei „Heim und Kindern“ um den „eigentlichen“ Lebensbereich von Frauen handelt. In den postsozialistischen Ländern sind sogar ca. zwei Drittel der Bevölkerung dieser Auffassung. Nur in den Ländern mit einer schwachen Tradition des Hausfrauenmodells beschränkt sich die Unterstützung zu der Aussage in der Bevölkerung auf ca. ein Drittel (31 % in Schweden, 36 % in Finnland) bzw. 11 % in Dänemark. In den meisten Ländern sind die Differenzen in den Werthaltungen zu der Frage zwischen Frauen und Männern nicht sehr ausgeprägt, wobei im Allgemeinen der Anteil der Männer höher ist, die dieser Aussage zustimmen. Einzig in Finnland gibt es gravierende Unterschiede  : Nur 27 % der Frauen sind der Auffassung, dass Frauen sich vor allem auf den Familienbereich hin orientieren, während es unter den Männern ein fast doppelt so hoher Anteil ist und dieser Wert eher dem in den Ländern mit einer starken Tradition der Hausfrauenehe entspricht. Offensichtlich gibt es hier deutliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern im Hinblick darauf, wie sie die Geschlechterdifferenz interpretieren.

268

Land

Birgit Pfau-Effinger Welle 1990

Geschlecht

1999

2008

m

w

Veränderung über Alterskohorten

Österreich

62

49

51

47

–24

Deutschland

51

44

41

43

38

–17

51

57

46

–16

Frankreich

68

65

54

56

53

–20

Dänemark

25

Schweiz

Schweden

18

11

12

11

–1

40

31

35

27

–15

Finnland

42

50

36

47

27

–21

Polen

88

74

68

69

67

–24

Tschechien

84

72

71

74

68

–15

Ungarn

76

70

66

68

64

–21

Tabelle 34  : Gewichtung von Erwerbstätigkeit und Familie bei Frauen, „Ein Beruf ist gut, aber was die meisten Frauen wirklich wollen, ist ein Heim und Kinder“, Anteil derjenigen, die zustimmen in %, Veränderung über Alterskohorten  : Positive Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 18–29, negative Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 60+ im Verhältnis zueinander. Quelle  : EVS 1990–2008.

6.2 Dimension 2  : Angemessene Form der Kinderbetreuung

Im Folgenden vergleiche ich die zehn europäischen Länder unter dem Aspekt, wie hoch der Anteil derjenigen ist, die der Aussage zustimmen  : „Eine berufstätige Mutter kann ihrem Kind genauso viel Wärme und Sicherheit geben wie eine Mutter, die nicht arbeitet“. Tabelle 36 zeigt, dass in einigen Ländern 1990 die Ansicht noch weit verbreitet war, dass erwerbstätige Mütter ihren Kindern nicht die Wärme und Sicherheit geben können, die sie von einer Mutter erhalten, die zuhause bleibt. Vor allem in Österreich und Deutschland, also in den Ländern, die eine starke Tradition der Hausfrauenehe aufweisen, war nur die Hälfte der Bevölkerung oder ein noch geringerer Anteil der Auffassung, dass in der Hinsicht zwischen berufstätigen und nicht berufstätigen Müttern kein Unterschied besteht (Österreich 51 %, Deutschland 44 %).25 Das ist insofern besonders bemerkenswert, als ja in diesen beiden Ländern Frauen mit Kindern ohnehin meist nur halbtags erwerbstätig waren. Besonders in Polen fürchtete man Nachteile für Kinder, wenn ihre Mütter erwerbstätig waren. Die Einstellungen haben sich seit 1990 deutlich gewandelt. In allen einbezogenen Ländern ist der Anteil derjenigen deutlich gestiegen, die keinen Unterschied zwischen 25 Im Kontext der historischen Entwicklung zur bürgerlichen Gesellschaft in europäischen Gesellschaften war dies durchaus ein emanzipatorischer Gedanke, da er u.a. auch die Individualität des Kindes und dessen Bedürfnisse zur Grundlage für die Organisation der Familie machte, wie der Kindheitsforscher Ariès herausgearbeitet hat  : Ariès, Philippe  : Geschichte der Kindheit. München – Wien 1975.

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung

269

der Fähigkeit erwerbstätiger und nicht erwerbstätiger Frauen sehen, ihren Kindern Wärme und Sicherheit zu geben. Heute teilt in fast allen Ländern die große Mehrheit diese Auffassung. Sie stößt bei 72 % der ÖsterreicherInnen, bei 73 % der Deutschen und bei 71 % der Schweizerinnen auf Zustimmung, also in den Ländern mit einer starken Tradition der Hausfrauenehe. Das bedeutet zugleich, dass noch immer etwa ein Viertel der Bevölkerung eine Erwerbstätigkeit der Mütter als nachteilig für die emotionale Situation von Kindern ansieht. In Polen stimmen sogar nur 65 % der Aussage zu. Die Anteile in den anderen beiden postsozialistischen Gesellschaften, Tschechien (78 %) und Ungarn (79 %), liegen zwischen denen der anderen beiden Gruppen. Land

Welle 1990

Geschlecht

1999

2008

m

w

Veränderung über Alterskohorten

Österreich

51

72

69

75

14

Deutschland

44

67

73

70

76

11

71

66

75

–3

73

77

87

84

89

11

Schweiz Frankreich Dänemark

83

86

91

90

93

–2

Schweden

73

84

91

88

95

–2

Finnland

94

95

96

96

96

0

Polen

38

54

65

64

66

14

Tschechien

63

81

78

77

79

3

Ungarn

70

78

79

76

81

0

Tabelle 35  : Mütterliche Eignung erwerbstätiger Frauen, „Eine berufstätige Mutter kann ihrem Kind genauso viel Wärme und Sicherheit geben wie eine Mutter, die nicht arbeitet“, Anteil derjenigen, die zustimmen, in %, Veränderung über Alterskohorten  : Positive Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 18–29, negative Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 60+ im Verhältnis zueinander. Quelle  : EVS 1990–2008.

In der Mehrzahl dieser Länder ist aber auch die Veränderungsdynamik hier besonders stark  : In der jüngsten Alterskohorte ist der Anteil der Befragten deutlich höher als in der ältesten Kohorte, die die Erwerbstätigkeit von Müttern nicht als nachteilig für die Kinder ansehen  ; die Differenz beträgt in Österreich und Polen 14 % und in Deutschland 11 %. Einzig in der Schweiz findet sich kaum eine Veränderung über die Kohorten hinweg. In den westeuropäischen Ländern, die eine schwache Tradition des kulturellen Familienmodells der Hausfrauenehe haben, zweifelt demgegenüber kaum jemand daran, dass Kinder erwerbstätiger Mütter von diesen ebenso viel Wärme und Zuwendung erhalten wie Kinder von Müttern, die nicht erwerbstätig sind. Die Zustimmung liegt in Frankreich bei 87 % und in den skandinavischen Ländern zwischen 91 % (Schweden) und 96 % (Dänemark und Finnland). In den meisten Ländern sind

270

Birgit Pfau-Effinger

dabei Männer etwas skeptisch im Hinblick auf die Möglichkeit von Frauen, ihren Kindern trotz ihrer Erwerbstätigkeit Wärme und Zuwendung zu geben. Noch weiterreichend ist die Frage, ob man der Auffassung ist, dass ein Kleinkind wahrscheinlich leidet, wenn die Mutter erwerbstätig ist. Dabei ist zu beachten, dass Differenzen in der Auffassung darüber, ob ein Kleinkind leidet, wenn seine Mutter erwerbstätig ist, nur teilweise kulturelle Werte reflektieren. Sie können auch länderspezifische Unterschiede im Hinblick darauf widerspiegeln, wie gut die öffentlichen Betreuungsangebote für kleine Kinder sind, deren Mütter erwerbstätig sind. So ist es denkbar, dass diese Auffassung in Ländern besonders populär ist, in denen öffentliche Angebote zur Betreuung von Kleinkindern wenig verbreitet sind. Wie Tabelle 36 zeigt, differierten die Einstellungen zu dieser Frage 1990 im Ländervergleich ganz erheblich.26 In den Ländern der Gruppe, in denen die Hausfrauenehe eine starke Tradition hat, stieß diese Aussage 1990 auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung  : In Österreich und Deutschland stimmten jeweils 83 % zu. Hier wird deutlich, dass in diesen Ländern die Betreuung kleiner Kinder in der Familie als die Form der Kinderbetreuung angesehen wurde, die für die Kinder besonders vorteilhaft ist. Land

Welle 1990

1999

Geschlecht 2008

m

w

Veränderung über Alterskohorten

Österreich

83

 

65

67

62

–24

Deutschland

83

66

58

64

53

–20

 

 

60

65

55

1

Frankreich

Schweiz

65

56

39

46

32

–26

Dänemark

32

18

9

11

6

–13

Schweden

74

38

19

23

16

–16

Finnland

52

41

22

28

17

–22

Polen

94

77

62

63

61

–16

Tschechien

70

47

41

43

40

–4

Ungarn

70

63

55

56

55

–7

Tabelle 36  : Bedeutung der Erwerbstätigkeit von Müttern für ihre Kinder, „Ein Kleinkind wird wahrscheinlich darunter leiden, wenn die Mutter berufstätig ist“, Anteil derjenigen, die zustimmen, in %, Veränderung über Alterskohorten  : Positive Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 18–29, negative Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 60+ im Verhältnis zueinander. Quelle  : EVS 1990–2008.

26 Es gibt ein gewisses Problem mit der Formulierung des Items, das hier zu beachten ist  : Es ist nicht genau definiert, welche Altersgruppen von Kindern der Begriff „Kleinkind“ umfasst. Es ist deshalb möglich, dass Befragte aus den verschiedenen Ländern jeweils unterschiedliche Vorstellungen über die Altersgruppen hatten, die das betrifft.

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung

271

Noch höher war die Zustimmung zu der Aussage in Polen (94 %), das 1990 gerade dabei war, sich von der staatssozialistischen Ära zu verabschieden. Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass sich dort auch in Zeiten des Staatssozialismus die Einstellung in der Bevölkerung gehalten hatte, dass kleine Kinder von ihren Müttern zuhause betreut werden sollten.27 Aber auch in denjenigen westeuropäischen Ländern, in denen die Tradition der männlichen Versorgerehe eher schwach ausgeprägt war, befürchtete eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung im Jahr 1990, dass Kleinkinder unter der Berufstätigkeit ihrer Mütter leiden. Das betraf Finnland (52 %) und Frankreich (65 %) in deutlich geringerem Maß als Schweden (74 %). Dabei waren aber zu dieser Zeit zumindest in Finnland und Schweden die öffentlichen Angebote zur Betreuung kleiner Kinder schon gut ausgebaut.28 Auch in Tschechien und Ungarn war diese Befürchtung relativ weit verbreitet (jeweils 70 % Zustimmung). Die Annahme, die Berufstätigkeit der Mütter sei schädlich für ihre Kinder, hat seit 1990 überraschend stark an Popularität verloren. Vergleichsweise am stärksten trifft sie dabei immer noch in den Ländern auf Zustimmung, die eine starke Tradition des Hausfrauenmodells aufweisen – Österreich (65 %), Deutschland (58 %) und die Schweiz (60 %), und darüber hinaus auch in Polen (62 %). Es handelt sich um Länder, in denen die öffentlichen Angebote zur Kinderbetreuung bisher auch noch relativ schwach entwickelt sind. Man kann deshalb davon ausgehen, dass sich in den Einstellungen kulturelle Werte wie auch die institutionellen Beschränkungen ausdrücken. Für das Eingehen kultureller Werte in das Antwortverhalten spricht, dass die Einstellungen über die Alterskohorten hinweg in diesen Ländern heute stark differieren, obwohl ja alle Altersgruppen heute mit denselben institutionellen Beschränkungen im Angebot an öffentlicher Kinderbetreuung konfrontiert sind. So ist der Anteil derjenigen, die meinen, kleine Kinder leiden unter einer Erwerbstätigkeit ihrer Mütter, in diesen Ländern in der jüngsten Kohorte weitaus geringer als in der ältesten Kohorte. Die Differenz beträgt 24 Prozentpunkte in Österreich und 20 Prozentpunkte in Deutschland  ; auch in Polen beträgt sie immerhin 16 Prozentpunkte. In der Schweiz ist die Einstellung dagegen in der Bevölkerung unabhängig von der Alterskohorte sehr stabil. In den Ländern, die eher eine schwache Tradition des Hausfrauenmodells aufweisen, ist man deutlich weniger skeptisch, was die Folgen der mütterlichen Erwerbstätigkeit für Kleinkinder betrifft. In Schweden (19 %), Dänemark (9 %) und 27 Vgl. auch Surdej/Slezak, Formal and informal work in a post-communist welfare regime – the case of Poland. 28 Kaufmann, Franz-Xaver  : Zukunft der Familie im vereinten Deutschland  : Schriftenreihe des Bundeskanzleramtes. Bd. 16, München 1995  ; Pfau-Effinger, Welfare State Policies and the development of care arrangements.

272

Birgit Pfau-Effinger

Finnland (22 %) sind die Zustimmungsraten relativ gering. Offensichtlich trifft die gut ausgebaute öffentliche Infrastruktur zur Betreuung kleiner Kinder auf breite Zustimmung. Dabei entwickelt sich auch hier die Zustimmung mit einer relativ großen Dynamik weiter fort  ; sie liegt in der jüngsten Generation zwischen 13 und 22 Prozentpunkten über der in der ältesten Generation. Noch stärker ist der Kohorteneffekt in Frankreich (26 %), das in seiner Ländergruppe die höchste Zustimmungsrate aufweist (39 %). Es ist demnach zu erwarten, dass sich die französische Bevölkerung in den Einstellungen hier zukünftig noch stärker der der skandinavischen Länder angleichen wird. Die postsozialistischen Länder Tschechien (41 %) und Ungarn (55 %) liegen auch hier wieder zwischen den anderen beiden Gruppen. Dabei ist die Einstellung über die Alterskohorten hinweg relativ stabil. Es ist insgesamt auffällig, dass in allen westeuropäischen Ländern unter den Männern die Ansicht stärker verbreitet ist, dass Kinder unter der Erwerbstätigkeit ihrer Mütter leiden, als unter den Frauen. In den postsozialistischen Ländern gibt es dagegen in dieser Hinsicht kaum geschlechtsspezifische Differenzen. Land

Welle 1999

Geschlecht 2008

m

w

Veränderung über Alterskohorten

Österreich

 

79

77

80

13

Deutschland

74

73

73

73

15

 

84

78

88

 6

Schweiz Frankreich

80

89

86

91

12

Dänemark

84

88

83

93

13

Schweden

92

93

90

95

 7

Finnland

86

93

90

96

 5

Polen

86

83

82

84

 8

Tschechien

67

67

67

67

12

Ungarn

71

73

75

70

 1

Tabelle 37  : Eignung von Vätern für die Kinderbetreuung, „Im allgemeinen sind Väter genauso geeignet, sich um die Kinder zu kümmern, wie Mütter“, Anteil derjenigen, die zustimmen, in %   ; Veränderung über Alterskohorten  : Positive Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 18–29, negative Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 60+ im Verhältnis zueinander. Quelle  : EVS 1990–2008.

Für die Frage der Gleichstellung von Frauen und Männern in der Familie ist besonders auch von Bedeutung, inwieweit der Beitrag von Vätern zur häuslichen Kinderbetreuung in der Bevölkerung gewünscht und akzeptiert wird. Tabelle 37 zeigt, dass schon in der Welle von 1999, in deren Rahmen die Frage das erste Mal gestellt wurde, die Aussage, Väter seien genauso wie Mütter geeignet, sich um die Kinder zu kümmern, in den westeuropäischen Ländern auf breite Zustimmung stieß. Die Werte waren ins-

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung

273

besondere in den Ländern mit einer relativ schwachen Tradition des Hausfrauenmodells, also in Frankreich (80 %), Dänemark (84 %), Schweden (92 %) und Finnland (86 %) sehr hoch, seitdem sind sie noch weiter angestiegen. In Deutschland war die Zustimmung etwas geringer (74 %), und sie hat sich seitdem auch nicht erhöht. Hier erweist sich Österreich als etwas progressiver im Vergleich zu Deutschland (79 % Zustimmung). Die beiden postsozialistischen Länder Tschechien und Ungarn ähneln im Hinblick auf den Anteil der Zustimmung in der Bevölkerung und die Entwicklung sehr den Ländern mit einer starken Tradition des Hausfrauenmodells. In Hinblick auf die Einstellungen zur Rolle der Väter ähnelte Polen (86 %), das sonst doch eher noch konservativere Werte als Österreich und Deutschland aufwies, 1990 stärker den westeuropäischen Ländern mit einer schwach ausgeprägten Tradition des Hausfrauenmodells. Seitdem ist aber, anders als in den anderen Ländern dieser Gruppe, der Anteil der Bevölkerung, der Väter für genauso geeignet für die Kinderbetreuung ansieht wie Mütter, leicht gesunken (auf 83 %). 6.3 Dimension 3  : Gleichstellung im Familienhaushalt

Das Item „Männer sollten genauso viel Verantwortung für Haushalt und Kinder übernehmen wie Frauen“ kann als ein zentraler Indikator dafür angesehen werden, inwieweit in den europäischen Ländern die Gleichstellung von Frauen und Männern im Haushalt befürwortet wird. Es wurde 2008 erstmals in die EVS einbezogen. Tabelle 38 zeigt, dass 2008 insgesamt die Zustimmung dazu sehr hoch ist. Land

Welle 2008

Geschlecht m

w

Veränderung über Alterskohorten

Österreich

85

82

87

5

Deutschland

89

88

90

1

Schweiz

90

91

89

–1

Frankreich

95

95

96

3

Dänemark

98

97

98

0

Schweden

97

96

98

1

Finnland

97

94

98

1

Polen

93

91

96

3

Tschechien

87

83

90

3

Ungarn

98

98

98

0

Tabelle 38  : Verantwortung von Frauen und Männern für den Haushalt, „Männer sollten genauso viel Verantwortung für Haushalt und Kinder übernehmen wie Frauen“, Anteil derjenigen, die zustimmen, in %, Veränderung über Alterskohorten  : Positive Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 18–29, negative Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 60+ im Verhältnis zueinander. Quelle  : EVS 1990–2008.

274

Birgit Pfau-Effinger

Die Zustimmung differiert nur relativ schwach zwischen den verschiedenen Ländergruppen. Die Ergebnisse sind überraschend, da ja aus zahlreichen Studien bekannt ist, dass Männer faktisch allenfalls in den nordischen Ländern einen relevanten Beitrag zu der Zeit aufwenden, die für den Haushalt und die Kinder anfallen.29 Das würde bedeuten, dass die kulturellen Werte zur Gleichstellung der Geschlechter im Haushalt in den meisten europäischen Gesellschaften sehr viel weiter entwickelt sind als die tatsächlichen Strukturen der häuslichen Arbeitsteilung. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass sich die hohen Zustimmungsraten daraus ergeben, dass die Aussage missverständlich formuliert ist. Es wird nicht danach gefragt, ob sich die Männer mit dem gleichen Anteil an Zeit an der Hausarbeit und Kinderbetreuung beteiligen, sondern ob sie in gleichem Maß Verantwortung tragen sollen. In einer Reihe europäischer Länder könnte die Zustimmung eines Teils der Befragten darauf beruhen, dass sie die Frage in den kulturellen Kontext des Familienmodells der männlichen Versorgerehe gestellt und eine entsprechende Antwort gegeben haben. Es könnte also sein, dass ein Teil der BefürworterInnen meint, dass Männer sich an der Verantwortung beteiligen sollen, indem sie mit ihrem Erwerbseinkommen zum Haushalt beitragen, während Frauen eher auch durch ihre direkte Arbeitsleistung im Haushalt Verantwortung tragen sollen. Tabelle 40 gibt Aufschluss darüber, welche Einstellung die Bevölkerung in den ausgewählten europäischen Ländern dazu hat, welchen Beitrag Frauen wie Männer zum Haushalt leisten sollen. Allgemein findet die Ansicht eine große Zustimmung, dass beide Geschlechter zum Haushaltsbudget beitragen sollen. Allerdings wird nicht danach gefragt, wie hoch der Anteil jeweils sein soll. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass viele BefürworterInnen aus den Ländern mit einer starken Tradition der Hausfrauenehe der Auffassung sind, dass Männer in ihrer Eigenschaft als „Familienernährer“ den größten Teil des Haushaltseinkommens bestreiten sollen. Dabei zählte Österreich (74 %) im Jahr 1990, ebenso wie Deutschland (69 %) und Dänemark (71 %) zur Gruppe der Länder, in denen die Auffassung, beide Geschlechter sollten einen Beitrag zum Haushaltseinkommen leisten, noch immer am wenigsten verbreitet war. Dies lässt sich zumindest für Österreich und Deutschland so interpretieren, dass hier noch der Anteil derjenigen am höchsten war, die das Leitbild der traditionellen Hausfrauenehe unterstützen. In den anderen Ländern lag der Anteil höher, zwischen 78 % in Finnland und 91 % in Tschechien. Bis 2008 ist die Zustimmung in 29 Grunow, Daniela  : Wandel der Geschlechterrollen und Väterhandeln im Alltag, in  : Mühling, Tanja/Rost, Harald (Hg)  : Väter im Blickpunkt. Perspektiven der Familienforschung, Leverkusen 2007  : 102–135  ; Rostgaard, Tine/Eydal, Guðný Björk  : Childcare in the Nordic Countries, in  : Pfau-Effinger, Birgit/Rostgaard, Tine  : Care between Work and Welfare in European Societies, Book Series of the Network of Excellence RECWOWE, London – Chicago 2011 (forthcoming)

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung

275

den Ländern mit einer stärkeren Tradition des Hausfrauenmodells deutlich gestiegen (Österreich und Deutschland 83 %, Schweiz 81 %). Sie liegt aber immer noch unter der in Schweden (93 %) und Frankreich (90 %) und den postsozialistischen Ländern (Polen 87 %, Tschechien 91 %, Ungarn 94 %), die insgesamt eine eher schwache Tradition des Familienmodells der Hausfrauenehe aufweisen. Jedoch sind die Differenzen relativ gering. Anders als in Österreich zeigt sich darüber hinaus in Deutschland auch eine deutliche Veränderungsdynamik, da die Aussage in der jüngsten Alterskohorte deutlich stärker befürwortet wird als in der ältesten Alterskohorte (+12 %). Auffällig ist aber, dass auch in Dänemark (79 %) und Finnland (80 %) die Aussage, Männer und Frauen sollten zum Haushaltseinkommen beitragen, nicht in dem gleichen Maß auf Zustimmung stößt wie in den anderen Ländern, die eine schwache Tradition des Hausfrauenmodells aufweisen. Für diese Länder ist zu berücksichtigen, dass hier der Anteil der Bevölkerung, der sich im Bildungssystem für die primäre Bildung und in Phasen der Weiterbildung befindet, schon seit den späten 1980er Jahren deutlich höher ist als etwa in Österreich und Deutschland.30 Es ist zu vermuten, dass man bei den Antworten stärker berücksichtigt, dass Frauen wie auch Männer bestimmte Lebensphasen im Bildungssystem verbringen und in dieser Zeit nicht zum Haushaltseinkommen beitragen können. Land

Welle 1990

Österreich

74

Deutschland

69

Geschlecht 2008 83

81

85

0

74

83

79

86

12

81

77

84

3

Schweiz

m

w

Veränderung über Alterskohorten

1999

Frankreich

80

81

90

89

91

2

Dänemark

71

68

79

77

80

8

Schweden

87

89

93

92

93

1

Finnland

78

71

80

82

78

7

Polen

81

87

86

86

86

4

Tschechien

91

93

91

91

91

–1

Ungarn

83

89

94

92

95

–2

Tabelle 39  : Beitrag von Frauen und Männern zum Haushaltseinkommen, „Beide, Mann und Frau, sollten zum Haushaltseinkommen beitragen“, Anteil derjenigen, die zustimmen, in %, Veränderung über Alterskohorten  : Positive Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 18–29, negative Werte zeigen höhere Zustimmung der Generation 60+ im Verhältnis zueinander. Quelle  : EVS 1990–2008.

30 Jensen, Per H./Rathlev, Jakob  : Formal and informal work in the Danish Social Democratic welfare state, in  : Pfau-Effinger/Jensen/Flaquer (eds.), Formal and Informal Work in Europe, 39–61.

276

Birgit Pfau-Effinger

7. Österreich im Vergleich – und in Zukunft Die Ergebnisse der Auswertung zeigen, dass in der österreichischen Gesellschaft traditionelle Elemente des Hausfrauenmodells noch immer eine stärkere Rolle spielen als teilweise in anderen europäischen Ländern. Das hat Österreich mit jenen Ländern gemeinsam, die eine starke kulturelle Tradition des Familienleitbildes der Hausfrauenehe aufweisen, wie Deutschland und die Schweiz. Die österreichische Gesellschaft hat in den letzten beiden Jahrzehnten einen erheblichen Wandel erfahren, der die kulturellen Werte zur Gleichstellung von Frauen und Männern und zu ihrem Zusammenleben als Eltern kleiner Kinder betrifft. Der Wandel betrifft alle Dimensionen, die in der Analyse im Zentrum standen. So wird heute, anders als noch vor 20 Jahren, von der großen Mehrheit der Bevölkerung erwartet, dass Frauen und Männer zum Haushaltseinkommen beitragen. Dabei hat die Auffassung stark zugenommen, dass die Erwerbstätigkeit Frauen zur Autonomie verhilft. Der Anteil der Österreicherinnen und Österreicher, die davon ausgehen, dass Frauen ihren eigentlichen Schwerpunkt im Leben auf die Familie und Kinder anstatt auf die Erwerbstätigkeit legen, ist deutlich geschrumpft. Er umfasst freilich noch immer die Hälfte der Bevölkerung. Allerdings machen die großen Differenzen, die sich in dieser Wertehaltung zwischen der jüngsten und der ältesten Alterskohorte finden, deutlich, dass sich die Einstellung zu dieser Frage rasant ändert. Insgesamt deuten die Ergebnisse darauf hin, dass die Erwerbstätigkeit von Frauen inzwischen zur Normalität geworden ist und zunehmend weniger in Frage gestellt wird. Ein deutlicher Wandel hat auch im Hinblick auf die Wertehaltungen zur Frage stattgefunden, inwieweit es möglich ist, dass Mütter betreuungsbedürftiger Kinder erwerbstätig sind, ohne ihren Kindern damit zu schaden. Immerhin gehen fast zwei Drittel der Bevölkerung davon aus, dass eine erwerbstätige Mutter ihrem Kind genauso viel Zuneigung und Wärme geben kann wie eine nicht erwerbstätige Mutter. Hier zeigt sich eine deutliche Abkehr von den Wertehaltungen, die früher mit dem Familienmodell der Hausfrauenehe verbunden waren. Allerdings ist noch immer ca. ein Drittel der Auffassung, dass ein Kleinkind leidet, wenn die Mutter erwerbstätig ist. Jedoch verliert diese Einstellung weiterhin mit einer großen Dynamik an Bedeutung, wie der Vergleich der Wertehaltung der jüngsten mit der ältesten Alterskohorte deutlich macht. Auch ist der Anteil derjenigen, die der Auffassung sind, dass Väter sich ebenso gut wie Mütter um ihre Kinder kümmern können, stark gestiegen und umfasst heute ca. ein Drittel der Bevölkerung. Da diese Auffassung in der jüngsten Kohorte deutlich stärker verbreitet ist als in der ältesten, ist zu erwarten, dass sich der Wertewandel im Hinblick auf die Rolle der Väter bei der Kinderbetreuung weiter fortsetzt.

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung

277

In den Einstellungen zur Stellung von Frauen und Männern im Familienhaushalt schließlich wird deutlich, dass die große Mehrheit der Bevölkerung an die Männer genauso wie an die Frauen die Erwartung richtet, dass sie sich an der Verantwortung für den Familienhaushalt beteiligen. Die Art der Fragestellung ließ hier allerdings Raum für eine Interpretation, bei der man im Sinn des traditionellen Hausfrauenmodells den Beitrag der Männer in Geld und den der Frauen in Zeit bemisst. In all diesen Punkten weist das Profil der Wertehaltungen in Österreich weitgehende Gemeinsamkeiten mit dem Deutschlands und der Schweiz auf. Tabelle 40 zeigt diese Entwicklungen  : Item

Österreich

Deutschland

Schweiz

Polen

„Berufstätigkeit ist der beste Weg für eine Frau, um unabhängig zu sein“

85

84

83

79

„Ein Beruf ist gut, aber was die meisten Frauen wirklich wollen, ist ein Heim und Kinder“

49

41

51

68

„Eine berufstätige Mutter kann ihrem Kind genauso viel Wärme und Sicherheit geben wie eine Mutter, die nicht arbeitet.“

72

73

71

65

„Ein Kleinkind wird wahrscheinlich darunter leiden, wenn die Mutter berufstätig ist“

65

58

60

62

„Im allgemeinen sind Väter genauso geeignet, sich um die Kinder zu kümmern, wie Mütter“

79

74

84

83

Dimension  : Erwerbstätigkeit von Frauen

Dimension  : Angemessene Form der Kinderbetreuung

Dimension  : Stellung von Frauen und Männern im Familienhaushalt „Männer sollten genauso viel Verantwortung für Haushalt und Kinder übernehmen wie Frauen“

85

89

90

93

„Beide, Mann und Frau, sollten zum Haushaltseinkommen beitragen“

83

83

81

86

Tabelle 40  : Österreich im Kontext der Länder, die eine starke Tradition des Hausfrauenmodells der männlichen Versorgerehe aufweisen, Anteil derjenigen, die den Items zustimmen, Angaben in %. Quelle  : EVS 2008.

Von den Ländern, die eine schwache Tradition des Hausfrauenmodells aufweisen, unterscheidet sich Österreich vor allem im Hinblick auf die Frage danach, welche Art der Kinderbetreuung man als angemessen ansieht. Tabelle 41 verdeutlicht, dass der Anteil derjenigen größer ist, die das Kindeswohl gefährdet sehen, wenn die Mutter erwerbstätig ist. Man verbindet die Vorstellung über eine „gute Kindheit“ noch immer mit der Familienkindheit statt mit der öffentlichen Kinderbetreuung. Auch wird die Rolle der Väter in der Familie in Österreich deutlicher anders definiert als die der Mütter, was in den westeuropäischen Ländern mit einer schwach ausgeprägten Tradition des kulturellen Hausfrauenmodells weniger der Fall ist. So wird der Vater in Österreich seltener als ein gleichwertiger Ersatz für die Mutter bei der

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Birgit Pfau-Effinger

Betreuung der Kinder angesehen. Der Anteil der Bevölkerung ist auch etwas kleiner, der von Männern das gleiche Engagement im Familienhaushalt erwartet wie von Frauen. Item

Österreich Frankreich

Dänemark

Schweden

Finnland

Dimension  : Erwerbstätigkeit von Frauen „Berufstätigkeit ist der beste Weg für eine Frau, um unabhängig zu sein“

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„Ein Beruf ist gut, aber was die meisten Frauen wirklich wollen, ist ein Heim und Kinder“

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Dimension  : Angemessene Form der Kinderbetreuung „Eine berufstätige Mutter kann ihrem Kind genauso viel Wärme und Sicherheit geben wie eine Mutter, die nicht arbeitet.“

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„Ein Kleinkind wird wahrscheinlich darunter leiden, wenn die Mutter berufstätig ist“

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„Im allgemeinen sind Väter genauso geeignet, sich um die Kinder zu kümmern, wie Mütter“

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Dimension  : Stellung von Frauen und Männern im Familienhaushalt „Männer sollten genauso viel Verantwortung für Haushalt und Kinder übernehmen wie Frauen“

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„Beide, Mann und Frau, sollten zum Haushaltseinkommen beitragen“

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Tabelle 41  : Österreich im Vergleich zu den Ländern mit einer schwachen Tradition des Hausfrauenmodells der männlichen Versorgerehe, Anteil derjenigen, die den jeweiligen Items zustimmen, Angaben in %. Quelle  : EVS 2008.

Der Vergleich Österreichs – Tabelle 43 – mit den postsozialistischen Ländern ergibt ein wenig klares Bild, da es sich hinsichtlich der kulturellen Werte um eine relativ heterogene Ländergruppe handelt. Hinsichtlich ihrer Einschätzung zur Frage, inwieweit der Familienhaushalt der Lebensbereich ist, auf den sich Frauen schwerpunktmäßig hin orientieren, sind die Bevölkerungen der postsozialistischen Gesellschaften deutlich konservativer als die Österreichs. Was die Fragen des Kindeswohls betrifft, findet sich in den Einstellungen der polnischen Bevölkerung ein ähnliches Einstellungsprofil wie in Österreich  : Fast zwei Drittel der Bevölkerung haben Sorge, dass Kleinkinder leiden, wenn ihre Mütter erwerbstätig sind. In Tschechien und Ungarn ist diese Sorge weniger verbreitet, obwohl eine öffentliche Kinderbetreuung für Kleinkinder hier weit weniger als in Österreich angeboten wird. In diesen Ländern erwartet man auf der anderen Seite eher einen gleichwertigen Beitrag von Männern im Hinblick auf die Übernahme von Verantwortung für den Familienhaushalt und einen finanziellen Beitrag von Frauen zum Familien-Budget. Insgesamt finden sich

Familienkulturelle Modelle zu Geschlechterrollen und Kinderbetreuung

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in der Geschlechterkultur Tschechiens und Ungarns, anders als in Polen, kaum Elemente des traditionellen Hausfrauenmodells. Item

Österreich

Tschechien

Ungarn

Polen

„Berufstätigkeit ist der beste Weg für eine Frau, um unabhängig zu sein“

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„Ein Beruf ist gut, aber was die meisten Frauen wirklich wollen, ist ein Heim und Kinder“

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„Eine berufstätige Mutter kann ihrem Kind genauso viel Wärme und Sicherheit geben wie eine Mutter, die nicht arbeitet.“

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„Ein Kleinkind wird wahrscheinlich darunter leiden, wenn die Mutter berufstätig ist.“

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„Im allgemeinen sind Väter genauso geeignet, sich um die Kinder zu kümmern, wie Mütter.“

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Dimension  : Erwerbstätigkeit von Frauen

Dimension  : Angemessene Form der Kinderbetreuung

Dimension  : Stellung von Frauen und Männern im Familienhaushalt „Männer sollten genauso viel Verantwortung für Haushalt und Kinder übernehmen wie Frauen.“

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„Beide, Mann und Frau, sollten zum Haushaltseinkommen beitragen.“

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Tabelle 42  : Österreich im Vergleich zu den postsozialistischen Ländern  ; Anteil derjenigen, die den jeweiligen Items zustimmen, Angabe in %   ; Quelle  : EVS 2008.

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Bernhard Perchinig/Tobias Troger

Migrationshintergrund als Differenzkategorie 1. Vorwort der Herausgeberin Im Rahmen der EVS wird das Phänomen Migration nicht angemessen wahrgenommen  ; insbesondere werden Personen mit Migrationsgeschichte zu wenig beachtet. Dies ist in ihrer Entstehungszeit begründet. In den späten 70er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts konzipiert, 1981 erstmals in der „Zwölfer-Gemeinschaft“ durchgeführt, konnte deren Bedeutung nicht vorausgesehen werden. Damals war Migration weder in der europäischen Politik noch in den Sozialwissenschaften ein zentrales Thema. Zeitbedingt geht die Konzeption der EVS von einer relativen Stabilität der Herkunft der Bevölkerung in einem nationalstaatlichen Horizont aus, Diversität ist nicht in ihrem Blick, die Modernisierungsthese, ein universalistischer und auf Homogenisierung ausgerichteter Ansatz war ihr Pate. Abgesehen von der europäischen Binnenmigration ist aus einem Europa der Auswanderung mittlerweile ein Kontinent der Einwanderung geworden. Die Zukunft Europas ist entscheidend von Migration abhängig. Aus einem Thema der einzelnen Staaten wird Migration immer mehr Teil der gemeinsamen Politik im Rahmen der EU, die eigene Instrumente für Migration (und Integration) geschaffen hat. Daher ist die Auseinandersetzung mit diesem Thema im Rahmen dieser Studie unverzichtbar. Der Beitrag von Bernhard Perchinig und Tobias Troger führt in die Grundfragen ein und erörtert die Schwierigkeit, Migration als Phänomen sozialwissenschaftlich angemessen zu erforschen. Dazu wird die Fragwürdigkeit der einzelnen „Lösungen“, Personen mit Migrationsgeschichte zu erfassen über Kategorien wie “keine Staatsbürgerschaft des jeweiligen Landes“, „Geburt im Ausland“, „Migrationshintergrund“ etc. beleuchtet. Er macht sensibel für die gesellschaftlichen Folgen sozialwissenschaftlicher Begriffe und regt zu einem kritischen Umgang mit diesen an. In nach den klassischen Indikatoren repräsentativen Erhebungen wird nicht darauf geachtet, wie weit diese auch Menschen mit Migrationsgeschichte angemessen berücksichtigen. Folglich sind in den EVS-Daten Menschen mit Migrationsgeschichte nicht repräsentativ vertreten, wie der Vergleich der einzelnen Länderauswertungen mit den amtlichen Statistiken zeigt. Die Autoren haben daher auf einen anderen Datensatz zurückgegriffen, um aufzuzeigen, was durch die Kategorie „Migrationshintergrund“ in Bezug auf Werthaltungen erklärt werden kann und was nicht. Diese Forschungsfrage wurde mir im Zuge meiner Studien zur Rolle und Bedeutung von Religion im Kontext von Migration zunehmend wichtiger. Im Kontext einer Studie zu Werten in Europa halte ich die Wahrnehmung des

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Bernhard Perchinig/Tobias Troger

Phänomens Migration für ebenso unabdingbar wie die kritische Rückfrage an deren Erklärungswert. Von Gesellschaft und Politik wird Migration primär als Problem und nicht auch als Chance wahrgenommen. Die damit einhergehende Fremdenfeindlichkeit, die an der Islamophobie sichtbare Religionisierung sozialer und kultureller Transformationen und die Einschränkung des Zugangs zu Menschenrechten zeigen die Schwierigkeit, anthropologischen Grundkonstanten wie Sesshaftigkeit und Wanderung in konkreten Kontexten gerecht zu werden. Von daher scheint mir mit Blick auf die Würde und Einzigartigkeit des Menschen die Reflexion von Begriffen wie „AusländerIn“, „MigrantIn“, „Mensch mit Migrationshintergrund“ für unverzichtbar. Der folgende Beitrag leistet diese aus einer sozialwissenschaftlichen Sicht. Auch die Bibel kennt diese Schwierigkeiten, tritt für den „Fremden“ ein und sieht in „Weg“ und „Wanderung“ das Bild menschlicher Existenz. Migration gehört konstitutiv zur menschlichen Lebenserfahrung und wird in ihrer Ambivalenz als „Fluch“ und „Segen“ interpretiert. Die Sorge um eine gerechte Gesellschaft, zu der die biblische Tradition ihre Gläubigen verpflichtet, betrifft auch den humanen Umgang mit „Fremden“. Wenn im nachfolgenden Beitrag Religion eine besondere Aufmerksamkeit erfährt, liegt dies an der – oft zu wenig beachteten – Bedeutung von Religion im Kontext von Migration und am spezifischen, zu wenig genutzten Potential, das die Religionen haben, um aus dem Horizont ihrer Verheißungen eine menschenwürdige gesellschaftliche Praxis angesichts von Migration zu stärken. Ich danke den beiden Autoren, sich auf diese Anfragen eingelassen zu haben. Für die weitere Forschung, welche Bedeutung Migration für die Transformation der europäischen Wertelandschaft hat und zukünftig haben wird, formuliert der Beitrag wesentliche Grundlagen und weiterführende Fragen. Regina Polak 2. Einleitung Der folgende Text ist ein Experiment, das aus einer Einladung bei der Mitarbeit der Publikation zur Europäischen Wertestudie entstand. Die an mich gestellte Forschungsfrage lautete  : Welche Erklärungskraft hat die Kategorie „Migrationshintergrund“ im Vergleich zu anderen soziodemographischen Kategorien  ? Zu diesem Zeitpunkt beschäftigte ich mich verstärkt mit der Geschichte der Kategorienbildungen in der internationalen Migrationsforschung und entwickelte einen immer kritischeren Zugang zu dem im deutschen Sprachraum überhandnehmenden Begriff des „Migrationshintergrundes“. Gleichzeitig fand ich in verschiedenen Datensätzen dennoch Hinweise auf die Relevanz von Migration und Herkunft aus einer zugewanderten Familie für verschiedene Merkmalsausprägungen. Ich beschloss daher, diesen Widerspruch im Text zu behandeln, indem zuerst eine Kritik des Begriffs entwickelt wird und diese dann empirisch getestet wird. Dieser Teil der Arbeit wurde von To-

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bias Troger anhand des Datensatzes der Studie „Religion im Leben der ÖsterreicherInnen 2010“1 durchgeführt. Wie sich dabei zeigt, haben beide Blickwinkel ihre Pros und Contras. Es bedarf sowohl eines sensibleren Umgangs der empirischen Forschung mit ihren Grundbegriffen wie ein größeres Ernstnehmen der empirischen Forschung durch die Theoriebildung  : Man kann von einem notwendigen Konflikt zwischen Theorie und Empirie in der Migrationsforschung sprechen. Ob das Experiment gelungen ist, müssen die Lesenden entscheiden.

3. Sozialwissenschaftliche Kategorienbildung und Differenzordnungen Sozialwissenschaftliche Kategorien zur Analyse und Erklärung gesellschaftlicher Zusammenhänge stehen immer in Bezug zu der Gesellschaft, die sie erklären wollen. Eine kontextfreie Sozialwissenschaft gibt es nicht. Die in amtlichen und wissenschaftlichen Statistiken verwendeten Variablen sind immer auch Ausdruck eines institutionellen Konsenses von Wissenschaft und Behörden, welche Aspekte des menschlichen Lebens Bedeutung für das Verständnis der jeweiligen Gesellschaft haben und welche vernachlässigbar sind. Damit sind sie sowohl zeit- wie wertgebunden  : Einerseits geben sie weitgehend außer Streit gestellte Grundannahmen über soziale und ökonomische Zusammenhänge wieder, andererseits sind sie Ausdruck von grundlegenden Wertvorstellungen  : „Moderne“ Gesellschaften verstehen sich als leistungs- und bildungsorientiert, die berufliche Position und das Einkommen des/r Einzelnen sollten von Ausbildung, Fleiß und Einsatz abhängen, nicht jedoch von Herkunft, Geschlecht, Partei- oder Vereinszugehörigkeit. Eine auf Bildungsstand und Berufstätigkeit zurückführbare Schichtung gilt als legitim, eine auf Abstammung beruhende nicht. Die in der empirischen Sozialforschung gängigen Variablen belegen diese Grundannahme. Indem z. B. Meinungsumfragen nach Bildungsstand, Geschlecht oder Einkommensgruppen ausgewertet werden, wird implizit deutlich gemacht, dass diese Kategorien relevante Strukturmerkmale darstellen, aus denen sich auf Gemeinsam1 „Religion im Leben der ÖsterreicherInnen 1970–2010“ ist ein religionssoziologisches Langzeitprojekt am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, das im 10-Jahresabstand unter der Leitung von Paul M. Zulehner die sozioreligiöse Lage in Österreich erforscht  : z. B. Zulehner, Paul M./Hager, Isa/Polak, Regina  : Kehrt die Religion wieder  ? Religion im Leben der Menschen 1970–2000, Ostfildern 2001. Für diesen Beitrag wurde der Datensatz der Erhebungswelle 2010 ausgewertet. Wir danken Paul M. Zulehner für die Bereitschaft, die Daten zur Verfügung zu stellen. Zur Gesamtauswertung dieses Datensatzes vgl. Zulehner, Paul M.  : Verbuntung. Kirchen im weltanschaulichen Pluralismus, Ostfildern 2011.

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keiten der Lebensführung, Lebenserfahrung und Werte schließen lässt. Der Fokus auf das Geschlecht der Befragten ist z. B. relativ neu und ein Ergebnis der sozialen Kämpfe der Frauenbewegungen. Noch in den 70er- und 80er-Jahren spielte diese Kategorie nur eine untergeordnete Rolle  ; befragt wurde zumeist der (männliche) Haushaltsvorstand, die im Haushalt lebenden Frauen hatten keine eigene Stimme. Erst indem die Frauenbewegung das Recht auf Gleichberechtigung einforderte, wurden Frauen – und damit die Kategorie „Geschlecht“ – auch in der Statistik sichtbarer. Die Aufnahme der Kategorie „Geschlecht“ als demografisches Grundcharakteristikum in die Umfragen ist nun einerseits Ausdruck eines Konsenses, dass Gesellschaften Geschlechterhierarchien aufweisen und daher gesellschaftswissenschaftliche Aussagen ohne „gender-breakdown“ defizitär sind. Andererseits stellt sich damit auch die Frage nach der Realisierung des Wertes Gleichberechtigung  : Der „gender-breakdown“ der Einkommensstatistik beschreibt nicht nur die Einkommensdifferenzen, sondern ist auch eine Anklage des Nicht-Erreichens des gesellschaftlichen Ziels der Leistungsorientierung unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit. Sozialwissenschaftliche Kategorien sind daher nie „objektiv“, sondern Ausdruck zeittypischer Paradigmen. So war z. B. die Kategorie „Rasse“ seit dem 18. Jahrhundert eine gängige, wissenschaftlich weltweit anerkannte Form der Kategorisierung von Menschen. Die „Rassenlehre“ war ein in der Medizin wie der Geschichte anerkannter Zweig der Naturwissenschaften, und die von ihr entwickelten Kategorien galten als wissenschaftlicher „state of the art“.2 Die auf der Rassenlehre beruhende Eugenik, die Idee der Verbesserung der Gesellschaft durch eine staatlich gesteuerte Bevölkerungspolitik, fand sowohl in konservativen und nationalen Kreisen wie bei der Sozialdemokratie Unterstützung und inspirierte unter anderen auch den Mitbegründer der Sozialpolitik des „Roten Wien“, Julius Tandler.3 Heute gilt die Kategorie „Rasse“ in der Biologie als überholt und als ungeeignet zur Beschreibung der die Menschheit charakterisierenden Vielfalt genetischer Ausprägungen. 4 Dennoch fand ein biologisch verstandener Rassebegriff als „objektive“ und „wissenschaftliche“ Analysekategorie bis weit in die 80er- und 90er-Jahre noch Verwendung in den Sozialwissenschaften – zuletzt etwa von Charles Murray und Richard Hermstein im 1994 erschienenen Buch „The Bell Curve“5  : Darin wurde argumentiert, dass die schwarze Bevölkerung der USA aus genetischen und umweltbedingten Gründen 2 Vgl. Geiss, Immanuel  : Geschichte des Rassismus. Frankfurt am Main 1988, 158ff. 3 Vgl. McEwen, Britta  : Welfare and Eugenics  : Julius Tandler’s Rassenhygienische Vision for Interwar Vienna, in  : Austrian History Yearbook 41 (2010), 170–190. 4 Vgl. Cavalli-Sforza, Luigi-Luca  : Verschieden und doch gleich. München 1994. 5 Murray, Charles/Hermstein, Richard  : The Bell Curve. Intelligence and Class Structure in American Life, New York et al. 1994.

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eine um fünfzehn Prozentpunkte niedrigere Intelligenz aufweise als die weiße. Die für derartige Studien genutzten Daten stammen aus amtlichen Datenbeständen, die bestimmte Ordnungskategorien durchaus in einem kritischen Sinn verwenden  : Die Erfassung von „race“ als demografische, auf der Hautfarbe beruhende Kategorie in der amerikanischen sowie der britischen Volkszählung wird vor allem in Großbritannien als wichtiges Element bei der Messung und Bekämpfung von Diskriminierung verstanden. Die britischen Sozialstatistiken schlüsseln Einkommens- oder Bildungsdaten nach zehn Subkategorien der Kategorie „race“ auf (z. B. White, Asian, Black mit dem Subkategorien Black-Carribean, Black-African etc. 6)  ; die amerikanischen Statistiken verwenden eine ähnliche Begrifflichkeit.7 Damit verankert die amtliche Statistik – unabhängig von der möglicherweise kritischen Intention – ein biologistisches Gesellschaftsverständnis im öffentlichen Bewusstsein und befördert einen rassistischen Diskurs. Von der Forschung und der amtlichen Statistik verwendete sozialwissenschaftliche Kategorien sind Ausdruck von Differenzordnungen. Dieser von Paul Mecheril geprägte Begriff beschreibt die in einer Gesellschaft als relevant erachteten und akzeptierten Kategorien zur Konstruktion von Zuordnungen(en) und Sinnstiftung  : „(Wir können festhalten, B.P.), dass diese Ordnungen eine im Innenraum von gesellschaftlicher Realität angesiedelte, projizierte und wirkende Macht darstellen, die dort, also intern, Sinn schaffen. Sie führen Unterscheidungen ein, die das gesellschaftliche Geschehene symbolisch und materiell, diskursiv und außer-diskursiv für Mitglieder von Gesellschaften begreifbar machen. Erfahren, begriffen und verstanden wird mit Hilfe von Differenzordnungen gesellschaftliche Realität und die eigene Position in ihr. Differenzordnungen strukturieren und konstituieren Erfahrungen, sie normieren und subjektivieren, rufen, historisch aufklärbar, Individuen als Subjekte an.“8

Differenzordnungen, so Mecheril weiter, sind „Ordnungen hegemonialer Diffe­ renz“9, die ein Verständnis der sozialen Welt und der eigenen Position vermitteln  : 6 Office for National Statistics  : Harmonised Concepts and Questions for Social Data Sources. Primary Standards  : Ethnic Group, Fareham 2008, Stand  : 09.08.2010, URL  : http  ://www.statistics. gov.uk/about/data/harmonisation/downloads/p3.pdf. 7 White, Black African American, or Negro, American Indian or Alaska Native und zwölf weitere Subkategorien.Vgl Population Reference Bureau  : The 2010 Census Questionnaire, Washington 2009, Stand  : 21.01.2011, URL  : http  ://www.prb.org/Articles/2009/questionnaire.aspx. 8 Mecheril, Paul  : “Diversity”. Differenzordnungen und ihre Verknüpfungen, in  : Heinrich Böll Stiftung (Hg.)  : Dossier Politics of Diversity. Bonn 2008, 63–88. 9 Mecheril, „Diversity“, 64.

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„In ihnen wird folgenreich unterschieden, in ihnen lernt man sich kennen, in ihnen bilden sich Routinen des Körpers, der Sprache, des Denkens aus, die den eigenen Platz in einer sicher nicht starren, aber gut gesicherten Reihe von hierarchisch gegliederten Positionen wiedergeben.“10 Differenzordnungen sind Machtordnungen, die identitäre Kategorien zur Selbsteinordnung anbieten, Zuschreibungen habitualisieren und Konformität mit diesen durchsetzen. Sie setzen binäre Unterscheidungen fest und stellen eine hierarchische Ordnung von Identitätspositionen her, indem sie die niederrangige Position als – weniger geachteten – Gegenpol der höherrangigen Position konstruieren, also z. B. „das rationale Europa“ als Gegenpol zur „irrationalen muslimischen Welt“. Indem sie mit einer exklusiven Logik operieren, zwingen sie den/die Einzelnen zur Einnahme einer eindeutigen Position, normieren Verhalten und delegitimieren eine Handlungsvielfalt jenseits binärer Zuordnungen.11 Dieser Prozess des „Othering“ konstruiert eine essentielle Differenz zwischen „Innen“ und „Außen“, wobei das „Eigene“ als dem „Anderen“ überlegen vorgestellt und damit die Differenz hierarchisiert wird.12 Die Struktur von Differenzordnungen ist historisch wandelbar und reflektiert die Deutungshoheit sozialer Bewegungen, die Differenz politisieren. War „Religion“ in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ein wenig hinterfragtes und als relevant angesehenes Merkmal von Gesellschaftserklärung, verlor es in der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts im Kontext der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und einer allgemeinen Säkularisierung an Bedeutung. Schichtzugehörigkeit („class“) und Geschlecht („gender“) reflektieren die zentralen Referenzkategorien der Arbeiter- und Frauenbewegung. Auch die Differenzkriterien Ethnizität, Herkunft, sexuelle Orientierung, Alter oder Behinderung sind eng mit den „neuen sozialen Bewegungen“ der 1970er- und 1980er-Jahre verknüpft, die jedoch – in Europa – nie dieselbe Bedeutung gewannen wie die Arbeiter- oder die Frauenbewegung. Im Gegensatz zu Europa wurde die Kategorie „race“ in den USA deutlich früher zu einer relevanteren politischen Differenzkategorie als „gender“.13

10 Mecheril, „Diversity“, 65. 11 Mecheril, „Diversity“, 64. 12 George, Jim  : Discourses of Global Politics. A Critical (Re)Introduction to International Relations, Boulder 1994, 205. 13 Vgl. Peters, Anne  : Women, Quotas and Constitutions  : A Comparative Study of Affirmative Action for Women in American, German, European Community and International Law. Dordrecht et al. 1999.

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4. Der Bedeutungsverlust der Differenzordnung Staatsbürgerschaft Während die angeführten innergesellschaftlichen Differenzordnungen in starkem Kontrast zum Gleichheitsversprechen der Moderne stehen, ist das Differenzkriterium Staatsangehörigkeit konstitutives Merkmal der internationalen und binnenstaatlichen politischen Ordnung der Moderne. Damit nimmt es im Kontinuum der Differenzordnungen einen spezifischen Platz ein, der nun kurz zu diskutieren ist. Die Entwicklung der Staatsbürgerschaft („citizenship“) wird zumeist in der Tradition Thomas Humphrey Marshalls als ein Prozess der Inklusion durch die Ausweitung von Teilhaberechten beschrieben. Marshall, einer der Gründerväter der britischen Soziologe, zeichnete in seinem berühmten, im Jahr 1950 erstmals publizierten Essay „Citizenship and Social Class“14 die Entwicklung moderner Demokratien nach und beschrieb eine Trias von bürgerlichen, politischen und sozialen Rechten als Kern moderner Zugehörigkeit zu einem Staat. In seinem in vielen Punkten vereinfachenden und empirisch zu optimistischen Modell entwarf er eine Stufenfolge bei der Entwicklung von Teilhaberechten. In seiner Darstellung sind die „Civil Rights“ – die Gleichheit vor dem Gesetz – der erste Teil einer Trias aus zivilen, politischen und sozialen Rechten. Der Begriff steht für die Abschaffung der Adels- und Standesgerichtsbarkeit, die Entwicklung eines für alle gültigen Zivil- und Strafrechts sowie die Niederlassungsfreiheit im Staatsgebiet, die das Recht des Feudalfürsten beendete, über den Aufenthaltsort der Untertanen zu entscheiden. Als zweite Stufe von Teilhaberechten wurden laut der idealtypischen Darstellung Marshalls die politischen Rechte erkämpft  : das allgemeine und gleiche Wahlrecht und die Ausweitung der politischen Gleichheit. Bereits angelegt in der Französischen Revolution, dauerte die Umsetzung der politischen Gleichheit sehr weit ins 20. Jahrhundert hinein. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kann man tatsächlich europaweit von der Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechtes sprechen. In der Praxis, so Marshall, waren jedoch sowohl zivile Gleichheit, Gleichheit vor dem Gesetz wie die politische Gleichheit abhängig vom sozialen Status und den ökonomischen Ressourcen. Erst mit der Umsetzung sozialer Teilhaberechte in Form moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit wurde Demokratie konkret, da erst eine verpflichtende Schulbildung und Einkommensersatz bei Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter jene Fähigkeiten und jenen Freiraum schaffen, sich am politischen Geschehen zu beteiligen. Die staatliche Schulpflicht wird von Marshall als Recht der Erwach14 Marshall, Thomas H.  : Citizenship and Social Class. The Development of Citizenship on the End of the Nineteenth Century, in  : Marshall, Thomas H./Bottomore, Tom  : Citizenship and Social Class. London 1987 (Reprint der Ausgabe von 1950).

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senen verstanden, eine Bildung genossen zu haben  : Erst die allgemeine Schulpflicht durchbrach das absolute Bildungsprivileg der Oberschichten und sicherte einen gemeinsamen Verständnishorizont. Sozialleistungen lockerten die einseitige Abhängigkeit der Menschen vom Markt und schufen einen gemeinsamen Minimalstandard der materiellen Kultur als Voraussetzung gesellschaftlicher Inklusion. Mit dieser Entwicklung wurde die Staatsbürgerschaft von einem einseitigen Machtverhältnis zwischen BürgerInnen und Staat, der Steuern, Militärdienst und das Befolgen der Gesetze forderte, zu einem rechtlich festgeschriebenen Schutzverhältnis, das den Staat dazu verpflichtete, den BürgerInnen Zugang zu sozialen Ressourcen zu verschaffen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Bei allen Unterschieden der regionalen Ausprägungen des Wohlfahrtskapitalismus15 zeichnete sich der nach dem Zweiten Weltkrieg überall im kapitalistischen Europa entwickelte Wohlfahrtsstaat dadurch aus, dass er den Arbeitsmarkt politisch steuert und für seine BürgerInnen durch Steuern oder Versicherungssysteme finanzierte soziale Leistungen, Fördermaßnahmen und andere Unterstützungen zur Verfügung stellt. Damit wurde die Staatsbürgerschaft zu einem wesentlichen Schlüssel nicht nur für politische Teilhabe, sondern auch für die materielle und soziale Inklusion in die Gesellschaft. Die materielle Aufladung der Staatsbürgerschaft als Schlüssel zum Zugang zu öffentlichen Ressourcen machte diese bis in die 1980er-Jahre zu einer zentralen Kategorie der Differenz zwischen In- und AusländerInnen, die mit dem Beginn der Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte in den 1960er-Jahren an innergesellschaftlicher Bedeutung gewann. Mit Ausnahme der postkolonialen Staaten Großbritannien und Frankreich sahen die meisten europäischen Länder die ins Land geholten ArbeitsmigrantInnen als temporär aufhältig an und begriffen sie nicht als Teil der eigenen Gesellschaft.16 Die in den späten 1970ern und 1980ern beginnende dauerhafte Niederlassung und der Familiennachzug aktualisierte die Differenz zwischen In- und AusländerInnen  : Der privilegierte Zugang der StaatsbürgerInnen zum Arbeitsmarkt, zu sozialen Leistungen und zu öffentlich gefördertem Wohnraum schuf eine klare, nicht nur symbolische, sondern für den persönlichen Alltag relevante hierarchische Abstufung zwischen dem „Wir“ der StaatsbürgerInnen und dem „Anderen“ der AusländerInnen. Vor allem in den mitteleuropäischen Ländern, die einer strikten „Gastarbeiterpolitik“ folgten, hielten das Prinzip des „ius sanguinis“ im Staatsbürgerschaftsrecht 15 Esping-Andersen, Gøsta  : The Three Worlds of Welfare Capitalism. Princeton, N. J. 1998 (1990). 16 Craig, Parsons/ Smeeding, Timothy M.  : What’s unique about immigration in Europe, in  : Craig, Parsons/Smeeding, Timothy M.  : Immigration and the Transformation of Europe. Cambridge (CUP) 2006, 1–30, 8.

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sowie restriktive Einbürgerungsbedingungen auch die Zahl der Zugewanderten niedrig, die eingebürgert wurden. Auch statistisch blieben daher die meisten Zugewanderten „AusländerInnen“, die einem restriktiven Fremdenrecht unterlagen und sonst kaum Rechte hatten. Diese scharfe Trennung der Rechtsstellung von In- und AusländerInnen wurde seit den 1980ern zunehmend in Frage gestellt.17 Mit der Niederlassung der „Gastarbeiter“ konnte die Illusion nicht mehr aufrechterhalten werden, dass diese kein Teil der Gesellschaft wären. Vor allem im skandinavischen Bereich setzten die Gewerkschaften in den 1980er-Jahren sukzessive die Gleichbehandlung von ArbeitsmigrantInnen im Arbeits- und Sozialrecht durch. Höchstgerichtsentscheidungen, die auch niedergelassenen AusländerInnen den menschenrechtlichen Schutz des Privat- und Familienlebens sicherten, wiesen in den 1980er und 1990ern vor allem in Deutschland und Österreich die Polizeibehörden in die Schranken.18 Der Migrationsforscher Tomas Hammar analysierte als erster diese Veränderung des Status des „Fremden“ und leistete mit seinem 1990 erschienenen Buch „Democracy and the nation state  : aliens, denizens and citizens in a world of international migration“19 einen entscheidenden Beitrag zur Citizenship-Debatte, indem er darauf hinwies, dass die strikte Trennung zwischen In- und AusländerInnen nicht mehr durchgängig bestehe und sich ein Zwischenstatus des „Denizen“, eines/r langansässigen AusländerIn mit bestimmten zivilen und sozialen Rechten durchgesetzt hätte. Eine weitere wesentliche Triebkraft für die Schwächung der Trennung zwischen StaatsbürgerInnen und AusländerInnen war in den 1990er-Jahren die Weiterentwicklung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zur Unionsbürgerschaft, die Staatsangehörigen anderer EU-Staaten im EU-Ausland einen staatsbürgerschaftsähnlichen Status gab.20 Diese Zurückdrängung der Bedeutung der Staatsbürgerschaft betraf nicht alle europäischen Staaten im gleichen Maß. Man kann vereinfachend sagen, dass dort, wo sich ein Staat als Abstammungsgemeinschaft versteht – um eine vom deutschen Poli17 Vgl. u.a. Bauböck, Rainer  : Transnational Citizenship. Membership and Rights in International Migration, Surrey 1994  ; Soysal, Yasemin Nuhoglu  : Limits of Citizenship. Migrants and Postnational Membership in Europe, Chicago 1994. 18 Bauböck, Rainer/Perchinig, Bernhard  : Migrations- und Integrationspolitik, in  : Dachs, Herbert/ Gerlich, Peter/Gottweis, Herbert u.a. (Hg.)  : Politik in Österreich. Das Handbuch, Wien 2006, 726 – 743, 741. 19 Hammar, Tomas  : Democracy and the Nation State. Aliens, Denizens and Citizens in a World of International Migration, Aldershot 1990. 20 Guild, Elspeth  : The legal framework of citizenship in the European Union, in  : Cesarani, David/ Fulbrook, Martin (eds.)  : Citizenship, Nationality and Migration in Europe. London et al. 1996, 30–57.

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tikwissenschafter Dieter Oberndörfer geprägte Terminologie zu verwenden –, auch langansässige NichtstaatsbürgerInnen nur wenig Rechte haben, während dort, wo sich ein Staat als Abstimmungsgemeinschaft versteht, der Rechtsstatus von lang ansässigen Eingewanderten stärker ist. Die österreichische „Gastarbeiterpolitik“ mit ihrer scharfen Trennung zwischen In- und AusländerInnen in Bezug auf die Aufenthaltssicherheit, den Zugang zum Arbeitsmarkt und sozialen Leistungen blieb allerdings bis zum EU-Beitritt 1995 von diesen Entwicklungen weitgehend unberührt.21 Zwar war es in den 1980ern auch in Österreich zu einer Reihe von Höchstgerichtsurteilen gekommen, die die Rechtsstellung von AusländerInnen verbesserten, doch vor allem der Zugang zum Arbeitsmarkt wie zum Wohlfahrtsstaat blieb an die Staatsbürgerschaft gebunden. Die in anderen europäischen Ländern bereits schrittweise vollzogene Stärkung der Rechte langansässiger ArbeitsmigrantInnen wurde in Österreich erst durch den Beitritt zur EU realisiert und stieß daher im politischen System auf deutlichen Widerstand.22 Nachdem bereits Ende der 1990er-Jahre die Umsetzung der aus dem Assoziationsvertrag der EG mit der Türkei resultierenden Besserstellung langansässiger türkischer ArbeitnehmerInnen erst durch die Höchstgerichte erzwungen werden musste, beendete die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Gaygusuz gegen Österreich (1999)23 den Ausschluss von AusländerInnen vom Bezug der Notstandshilfe bei langanhaltender Arbeitslosigkeit. Damit war ein wesentliches Element des österreichischen Gastarbeitersystems gefallen  : der Ausschluss von ausländischen ArbeitnehmerInnen von Teilen der Arbeitslosenversicherung. Der im Jahr 2000 verabschiedete EU-Antidiskriminierungsacquis verbot schließlich die Diskriminierung am Arbeitsmarkt und beim Zugang zu Sozial­ leistungen, Gütern und Dienstleistungen und Wohnraum aufgrund der ethnischen Herkunft. Die im Jahr 2006 umgesetzte „Langansässigenrichtlinie“24 führte weiters zu einer weitgehenden Angleichung der Rechte von zugewanderten „Drittstaatsangehörigen“ an die der StaatsbürgerInnen  : InhaberInnen dieses Status unterliegen keiner Kontrolle beim Zugang zum Arbeitsmarkt und sind beim Zugang zu Bildung, 21 Perchinig, Bernhard  : Ein langsamer Weg nach Europa. Österreichische (Arbeits)migrations- und Integrationspolitik seit 1945, in  : Leibnitz Institut für Sozialwissenschaften (Hg.)  : Sozialwissenschaftlicher Fachinformationsdienst (SoFid) 1 (2010), Migration und ethnische Minderheiten, Mannheim 2010, 11–32, 22f. 22 Perchinig, Ein langsamer Weg nach Europa, 24f. 23 EGMR 31.8.1996, Gaygusuz gegen Österreich , 39/1995/545/631. 24 Richtlinie 2003/109 EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen.

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Gesundheit, sozialen Rechten und zu Gütern und Dienstleistungen, einschließlich dem öffentlich geförderten Wohnraum, mit StaatsbürgerInnen gleichgestellt.25 Auch wenn die Umsetzung dieser Richtlinie in einigen Mitgliedsstaaten schleppend vor sich geht, darunter auch in Österreich, sind die Privilegien der Staatsbürgerschaft seit der Implementierung dieser Richtlinie auf das uneingeschränkte Aufenthalts- und Einreiserecht, den Besitz eines EU-Reisepasses mit den damit verbundenen Vorteilen bei der Einreise in eine große Zahl von Staaten, den Zugang zum Beamtenstatus und den Zugang zum Wahlrecht reduziert. Die für das Alltagsleben deutlich bedeutsameren Trennlinien – freier Zugang zum Arbeitsmarkt und Gleichberechtigung beim Zugang zu den Leistungen des Wohlfahrtsstaates und zum geförderten bzw. Kommunalwohnbau – sind nun der Staatsbürgerschaft vorgelagert und betreffen den Zugang zum Status des langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen. Durch politisches Lobbying von Deutschland, den Niederlanden und Österreich wurde den Mitgliedsstaaten der EU die Möglichkeit eingeräumt, den Zugang zu diesem Status vom Erfüllen von Integrationsbedingungen abhängig zu machen.26 Dort, wo diese eingeführt wurden, ist eine kontinuierliche Verschärfung der Zugangsbedingungen zu beobachten. Es entsteht der Eindruck, dass diese Staaten bewusst versuchen, möglichst wenig Zugewanderten diesen sicheren Status zu gewähren.27 Mit diesen Entwicklungen verlor die Staatsbürgerschaft als Differenzkriterium an Bedeutung. Sie ist heute in viel größerem Maß ein symbolischer Marker für Zugehörigkeit denn ein Schlüssel für den Zugang zu Ressourcen. Diese Entwicklung verlief parallel mit einer Zunahme der Zahl der Eingebürgerten  : Etwa ein Drittel der im Ausland geborenen und in Österreich auf Dauer lebenden Menschen hat bereits die österreichische Staatsbürgerschaft, auch in demografischer Perspektive ist die Gruppe der „AusländerInnen“ schon lange nicht mehr deckungsgleich mit der der Zugewanderten. Noch größer ist die Differenz in jenen Ländern, in denen das „ius soli“ das „ius sanguinis“ ergänzt und demnach die im Land geborenen Kinder ausländischer StaatsbürgerInnen mehr oder minder automatisch zu Staatsangehörigen werden. 25 Perchinig, Ein langsamer Weg nach Europa, 26f. 26 Guild, Elspeth/Groenendijk, Kees/Carrera, Sergio  : Understanding the Contest of Community  : Illiberal Practices in the EU  ?, in  : Guild, Elspeth/Groenendijk, Kees/Carrera, Sergio (Hg.)  : Illiberal Liberal States. Immigration, Citizenship and Integration in the EU. Surrey 2009, 1–29, 4f. 27 Strik, Tineke/Böcker, Anita/Luiten, Maaike/Van Oers, Ricky  : The INTEC Project  : Integration and Naturalisation tests  : The new way to European Citizenship. A Comparative study in nine Member States on the national policies concerning integration and naturalisation tests and their effects on integration. Synthesis Report, Nijmegen 2010, 109.

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Doch ein Blick auf die Strukturlogik der Staatsbürgerschaft erzählt nur einen Teil der Geschichte. Ebenso bedeutsam ist die Entwicklung der Zugangsregeln und deren Einbindung in das Völkerrecht. Nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Aberkennung der Staatsbürgerschaft sowohl in den faschistischen wie den kommunistischen Diktaturen ein zentrales Element der Entrechtung von religiösen oder ethnischen Minderheiten und politischen Gegnern war und im Nationalsozialismus den Auftakt für den Holocaust bildete, entwickelte sich in Europa seit den 1950erJahren ein völkerrechtlicher Rahmen, der die Entscheidungsmacht der Staaten beim Zugang zur und dem Entzug der Staatsbürgerschaft zurückdrängte. Beginnend mit dem UN-Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen 195428 bis hin zum Europäischen Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit 1997 29 entstand ein internationales Regelwerk, das das Recht auf eine Staatsbürgerschaft als Menschenrecht definierte und die Zugehörigkeit zum Staat von jeder ethnischen oder religiösen Konnotation löste.30 Damit wurde die zweite historische Wurzel der Staatsbürgerschaft, der Nationalismus, der Zugehörigkeit über die Konstruktion einer „imagined community“ versprach, gegenüber dem Rechtsstaatsprinzip zurückgedrängt. Staatsbürgerschaft durfte nicht mehr aufgrund ethnischer oder religiöser Zugehörigkeit vergeben oder entzogen werden  ; die Vergabeprinzipien mussten der Idee der Gleichbehandlung aller Individuen Rechnung tragen. Zwar blieb in den meisten Staaten den Regierungen noch die Möglichkeit, einzelne Personen außerhalb der formalen Prozeduren einzubürgern, doch dieses Vorgehen wurde zur kritisch zu hinterfragenden Ausnahme. Bei allen bis heute bestehenden Unterschieden in den Einbürgerungsbedingungen kam es doch zu einer weitgehenden Durchsetzung eines individualrechtlichen Prinzips, das Staatsbürgerschaft als Rechtsverhältnis des Einzelnen gegenüber dem Staat begreift.31 Zwar ist

28 United Nations Organisation  : Übereinkommen über die Rechtsstellung der Staatenlosen, 28.9. 1954. 29 Europarat  : Europäisches Übereinkommen über die Staatsangehörigkeit. Straßburg, 6.11.1997. 30 Bauböck, Rainer/Ersbøll, Eva/Groenendijk, Kees/Waldrauch, Harald  : Nationality Policy in Public International Law and European Law, in  : Bauböck, Rainer/Ersbøll, Eva/Groenendijk, Kees/Waldrauch, Harald (eds.)  : Acquisition and Loss of Nationality. Policies and Trends in 15 European Countries. Volume 1  : Comparative Analysis, Amsterdam 2006, 35–105, 49f  ; Stiller, Martin  : Eine Völkerrechtsgeschichte der Staatenlosigkeit. Rechtswissenschaftliche Dissertation, Universität Wien 2010, 186–218. 31 Bauböck/Ersbøll/Groenendijk/Waldrauch, Nationality Policy in Public International Law and European Law, 37f.

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die Einbürgerung bis heute in Griechenland32 und Zypern33 an die Zugehörigkeit zu den im Staat anerkannten Religionen geknüpft, und in einigen osteuropäischen Staaten kommt es zur Ausdehnung der Staatszugehörigkeit auf in den Nachbarländern lebenden „Co-ethnics“34, doch diese Politiken werden primär als problematische Ausnahme wahrgenommen. Gesamt gesehen löste sich der Zugang zur Staatsbürgerschaft aus der Umklammerung eines abstammungs- oder kulturorientierten Natio­nalismus und wurde zum Ausdruck der individuellen Zugehörigkeit des einzelnen Individuums zum Staat.

5. Die Erfindung des Migrationshintergrunds Im Zuge der oben beschriebenen Entwicklungen kam es zu einem wachsenden Bruch zwischen der alltäglichen Bedeutung des Begriffs „Ausländer“, der als Differenzkategorie eine hierarchische Unterordnung der Zugewanderten benannte, und der rechtlichen Dimension der Staatsbürgerschaft. Andererseits hatte sich aber der Ausländerbegriff nicht nur in der amtlichen Statistik, sondern in Deutschland auch im Schulbereich als zentrale Differenzkategorie niedergeschlagen. Diese wurde nun nicht nur für die Bezeichnung einer Gruppe verwendet, sondern in vielen Bundesländern war der Anteil der ausländischen Kinder bzw. der Kinder „nichtdeutscher Herkunft“ der Schlüssel für die Abrechnung von Zusatzstunden für Sprach- und Lernförderung und bestimmte die Höhe der für Integrationsmaßnahmen ansprechbaren zusätzlichen Fördermittel.35 Das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht beruhte bis zu seiner Reform im Jahr 2000 auf einem unbeschränkten „ius sanguinis“. Jeder Mensch deutscher Abstammung hatte das Anrecht auf die deutsche Staatszugehörigkeit. Dieses unbeschränkte „ius sanguinis“ war eine logische Konsequenz des Selbstverständnisses der Bundesrepublik, der einzige legitime deutsche Staat zu sein und à la longue die Wiederver32 Christopoulos, Dimitris  : Greece, in  : Bauböck/Ersbøll/Groenendijk/Waldrauch (eds.), Acquisition and Loss of Nationality, 253–289. 33 Trimikiniotis, Nicos  : Nationality and citizenship in Cyprus since 1945  : Communal citizenship, gendered nationality and the adventures of a post-colonial subject in a divided country, in  : Bauböck, Rainer/Perchinig, Bernhard/Sievers, Wiebke (Hg.)  : Citizenship Policies in the New Europe. Amsterdam2 2009, 389–419. 34 Kovács, Mária M./Tóth, Judith  : Kin-state responsibility and ethnic citizenship. The Hungarian case, in  : Bauböck/Perchinig/Sievers (Hg.), Citizenship Policies in the New Europe, 151–177. 35 Instruktiv dazu die Länderberichte in Gogolin, Ingrid/Neumann, Ursula/Reuter, Lutz (Hg.)  : Schulbildung für Kinder aus Minderheiten in Deutschland 1989–1999. Schulrecht, Schulorganisation, curriculare Fragen, sprachliche Bildung, Münster 2001.

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einigung mit dem Territorium der DDR anzustreben. Wäre das „ius sanguinis“ eingeschränkt worden, hätte der Anspruch auf eine spätere Wiedervereinigung nicht aufrechterhalten werden können.36 Mit dem Ende des Kalten Krieges in den 1980er-Jahren wurden die auf dem Gebiet der damaligen Sowjetunion lebenden „Russlanddeutschen“ vermehrt zum Thema von Verhandlungen zwischen Deutschland und der UdSSR. Gegen entsprechende Zahlungen der Bundesrepublik erleichterte die Sowjetunion deren Ausreise aus ihrem Territorium. In Deutschland angekommen, hatten sie sofortigen Anspruch auf die Staatsbürgerschaft und alle damit verbundenen Rechte. Die meisten dieser „SpätaussiedlerInnen“ sprachen kein oder kaum Deutsch und waren mit den Lebensverhältnissen in Deutschland nicht vertraut. Insbesondere benötigten ihre Kinder in den Schulen ähnliche Sprach- und Lernförderung wie etwa neu zugewanderte Kinder ex-jugoslawischer oder türkischer Eltern.37 Der Öffentlichkeit wurde zunehmend bewusst, dass die zur Beschreibung und Analyse der Migration verwendete Kategorie der Staatsbürgerschaft den Gegebenheiten nicht mehr entsprach – viele AusländerInnen sprachen besser Deutsch als die neu zugewanderten Deutschen. Ebenso schwer zu legitimieren war, warum die Kinder von seit Jahren im Land lebenden türkischen Zuwanderern Ausländer blieben, während die in der Sowjetunion aufgewachsenen jungen „SpätaussiedlerInnen“ sofort die Staatsbürgerschaft bekamen. Für viele Schulen gab es ein weiteres Problem  : Da in vielen Bundesländern der Zugang zu Fördermitteln am Anteil der Kinder „nichtdeutscher Herkunft“ oder ausländischer Eltern festgemacht wurde, die Spätaussiedler jedoch keine AusländerInnen und sehr wohl „deutscher Herkunft“ waren, wurde es unmöglich, die für den Unterricht nötigen Ressourcen zu organisieren. In diesem Kontext schlug die deutsche Pädagogikprofessorin Ursula Boos-Nünning im Kinder- und Jugendbericht 1998 den Begriff „Migrationshintergrund“ vor, um darauf hinzuweisen, dass der Ausländerstatus immer weniger mit Zuwanderung korreliert, sondern einerseits im Land geborene Kinder als „AusländerInnen“ gelten, während andererseits Neuzugewanderte aus der Sowjetunion Deutsche seien. Die kritische Absicht, mit der Boos-Nünning den Begriff etablierte, schlug bald ins Gegenteil um. Der deutsche Journalist Sandro Mattioli beschreibt die folgende Enttäuschung  : „Doch was sie bekam, sagt Boos-Nünning, war eine Abschottung nach außen und einen erhöhten Druck nach innen, sich zu assimilieren. Inzwischen wird der Migrationshinter36 Hailbronner, Kay  : Germany, in  : In  : Bauböck/Ersbøll/Groenendijk/Waldrauch (eds.), Acquisition and Loss of Nationality, 213–253, 218f. 37 Ebd., 223f.

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grund in der Forschung auch darüber definiert, ob die fremde Sprache zu Hause gesprochen wird. Die Pädagogin erinnert sich noch, wie viele ihrer Gesprächspartner aus der Politik zusammenschreckten, wenn auf einmal nicht mehr die Rede von neun Prozent Ausländern war, sondern davon, dass in manchen Kommunen vierzig Prozent der Jugendlichen einen Migrationshintergrund haben. Auch im Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung von 1998, für den die Professorin einige Kapitel verfasste, verwendete sie das Wort. Sogar Bundespräsident Johannes Rau ließ nachfragen, wie sie darauf komme, dass dreißig Prozent der Kinder und Jugendlichen einen Migrationshintergrund hätten.“38

Mit der Reform des deutschen Staatsbürgerschaftsrechts im Jahr 2000 traten die Kategorien Migration und Staatsbürgerschaft noch einmal weiter auseinander. Deutschland verabschiedete sich vom strikten „ius sanguinis“ und etablierte ein eingeschränktes „ius soli“ mit dem Ziel der besseren Integration von in Deutschland geborenen Kindern ausländischer Eltern  : Seit 2000 haben in Deutschland geborene Kinder ausländischer Eltern das Recht auf die deutsche Staatsbürgerschaft, sofern zumindest ein Elternteil zumindest acht Jahre legal in Deutschland lebte. Sie dürfen die von den Eltern ererbte Staatsangehörigkeit zusätzlich behalten und müssen sich erst mit der Volljährigkeit für eine der Staatsbürgerschaften entscheiden. Zudem wurde die Einbürgerung von lang in Deutschland lebenden Jugendlichen und Erwachsenen erleichtert.39 Dieser integrationspolitische Meilenstein führte zu einer weiteren „Erosion des Staats­angehörigkeitskriteriums“40 und löste sie weiter deutlich von der Einwanderung ab. Da nunmehr ein wachsender Teil der Kinder der zugewanderten Bevölkerung die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, sind die auf Basis der Staatsbürgerschaft erhobenen Daten nicht mehr geeignet, die Situation der zugewanderten Bevölkerung auch nur ansatzweise zu erfassen. Dazu kommt, dass auch die Einbürgerung sozial selektiv erfolgt und vor allem soziale AufsteigerInnen umfasst. Da jedes Jahr ein Teil der Bessergestellten aus der Gruppe der ausländischen StaatsbürgerInnen abgeht, zeichnen die auf Basis der Staatsangehörigkeit erhobenen Daten ein deutlich pessimistischeres Bild der sozialen Integration der Zugewanderten, als dies der Realität entspricht. 38 Mattioli, Sandro  : Die Deutschen erster und zweiter Klasse. Stuttgarter Zeitung, 9. September 2009, Stand  : 14.06.2010, URL  : http  ://www.sandromattioli.de/component/content/article/35-jour nalismus-kategorie/97-die-deutschen-erster-und-zweiter-klasse-artikel. 39 Hailbronner, Germany, 227. 40 Gogolin, Ingrid  : Förderung von MigantInnen in der beruflichen Bildung durch sprachbezogene Angebote. Expertise für das Good Practice Center des Bundesinstituts für Berufsbildung, Bonn 2001, Stand: 31.07.2010, URL  : http  ://www.good-practice.de/17_expertise.pdf, 36.

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Aufgrund dieser Entwicklungen begannen die Statistischen Ämter in Deutschland seit Mitte des neuen Jahrtausends, eine neue Kategorie zur Erfassung der Migration einzuführen  : den „Migrationshintergrund“. Erstmals amtlich verwendet wurde die Kategorie in der Auswertung des deutschen Mikrozensus 2005. Die Definition des Begriffs zeigt deutliche politische Einflussnahmen  : So wurde das Jahr 1949 – das Jahr der Gründung der DDR und das Jahr, in dem die im Potsdamer Abkommen geregelt „Rückführung“ der „Volksdeutschen“ endete – als zeitliche Grenzlinie gezogen, um die rund 12 Millionen „Volksdeutschen“, die nach 1945 nach Deutschland gekommen waren, nicht zu Personen mit Migrationshintergrund zu machen. In Deutschland als Deutsche geborene Kinder mit zumindest einem nach dem 1.1.1950 zugewanderten oder als Ausländer geborenen Elternteil hatten nun einen „Migrationshintergrund“. Damit wurde auch ein Teil der „Dritten Generation“ umfasst – jedoch nur jener, die einen als Ausländer geborenen Elternteil hatten. Der Zufall des zeitlichen Abstands von Einbürgerung und Geburt der Eltern war entscheidend, nicht die Bedeutung der Zuwanderungsgeschichte für die Biografie  : Kam die Mutter/der Vater zur Welt, bevor sich deren Eltern mit ihren Kindern einbürgern ließen, hatte das Kind Migrationshintergrund  ; erfolgte die Einbürgerung vor der Geburt der Eltern, dann nicht. „Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund handelt es sich um Personen, die nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland zugezogen sind, sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer/-innen und alle in Deutschland Geborenen mit zumindest einem zugezogenen oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil. Der Migrationsstatus einer Person wird hierbei aus seinen persönlichen Merkmalen zu Zuzug, Einbürgerung und Staatsangehörigkeit sowie aus den entsprechenden Merkmalen seiner Eltern bestimmt.“41

Im Jahr 2010 wurde der Begriff erweitert und umfasst nun auch die Kinder von Eingebürgerten, also die gesamte „Dritte Generation“. Dadurch werden auch Personen, die weder selbst, noch deren Eltern zugewandert sind, in einen Migrationskontext gestellt  : „Als Person mit Migrationshintergrund gilt, wer eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt, oder im Ausland geboren wurde und nach 1949 zugewandert ist. Oder auch wer

41 Statistisches Bundesamt Deutschland  : Personen mit Migrationshintergrund. Methodische Erläuterungen, Berlin 2008, Stand  : 22.07.2010, URL  : http  ://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/ Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund/Aktuell.psml.

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in Deutschland geboren ist und eingebürgert wurde, oder ein Elternteil hat, das zugewandert ist, eingebürgert wurde oder eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt.“42

Doch auch dieser Begriff wird nicht von allen deutschen Bundesländern geteilt. Das Land Nordrhein-Westfalen verwendet aufgrund der pejorativen Untertöne des Begriffs die Formulierung „Zuwanderungsgeschichte“ und will insbesondere nicht die Kinder von Deutschen, die ihre Staatsbürgerschaft geerbt haben, anders zählen als Kinder von Eingebürgerten.43 Im Gegensatz zum Begriff „Migrationshintergrund“, der Zuwanderung automatisch zu einem relevanten Differenzkriterium macht, lässt der Begriff „Zuwanderungsgeschichte“ offen, welche Bedeutung die eigene oder die Zuwanderung der Eltern für das persönliche Leben haben. Soziologische Studien aus der Berufsbildungsforschung wie die PISA-Tests verwenden wiederum eigene, abweichende Definitionen.44 Auch zwischen den Staaten, die mit diesem Begriff statistisch operieren, gibt es keine Vergleichbarkeit  : Mit dem Mikrozensus 2008 kam der Migrationshintergrundbegriff auch nach Österreich. Anders als die Definition des deutschen Statistischen Bundesamtes kennt die österreichische Definition kein „Jahr Null“. Zudem werden nur Personen mit zwei zugewanderten Eltern in die Kategorie aufgenommen – heiratet z. B. ein im Ausland geborener und als zweimonatiges Kleinkind mit seinen Eltern nach Österreich gezogener Mann eine ebenso im Ausland geborene und ebenso als zweimonatiges Kleinkind nach Österreich gezogene Frau, haben die aus dieser Verbindung stammenden Kinder „Migrationshintergrund“. Wurden die Frau oder der Mann bereits in Österreich geboren, nachdem die Eltern zuwanderten, fällt ihr Kind nicht in diese Kategorie. Dass die Eltern in beiden geschilderten Fällen ihre schulische Sozialisation in Österreich durchlebten, wird hier völlig ausgeblendet und dem Geburtsland eine massiv überhöhte Bedeutung zugeschrieben. Mit dieser undifferenzierten Bewertung des Geburtsorts als relevante Ordnungskategorie bewegt sich die Migrationsstatistik gefährlich in die Nähe der Astrologie, die aus dem Geburtsdatum wesentliche Schlüsse für das Leben abzuleiten vermeint  : 42 Statistisches Bundesamt Deutschland  : Definition des Begriffs Migrationsintergrund. Berlin 2010, Stand  : 22.07.2010, URL  : http  ://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Statistiken/Sozialleistungen/Sozialberichterstattung/Begriffserlaeuterungen/ Migrationshintergrund.psml. 43 Newsletter Migration und Bevölkerung 10/2008, Stand  : 22.7.2010, URL  : http  ://www.migrationinfo.de/mub_artikel.php  ?id=081002. 44 Settelmayer, Anke/Erbe, Jessica  : Migrationshintergrund. Zur Operationalisierung des Begriffs in der Berufsbildungsforschung. Schriftenreihe des Instituts für Berufsbildungsforschung, Wissenschaftliche Diskussionspapiere, Heft 112, Bonn 2010.

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„Als Personen mit Migrationshintergrund werden hier Menschen bezeichnet, deren beide Elternteile im Ausland geboren wurden. Diese Gruppe lässt sich in weiterer Folge in Migrantinnen und Migranten der ersten Generation (Personen, die selbst im Ausland geboren wurden) und in Zuwanderer der zweiten Generation (Kinder von zugewanderten Personen, die aber selbst im Inland zur Welt gekommen sind) untergliedern.“45

Die Stadt Wien erweitert in ihrem „Integrationsmonitoring“ den Begriff noch einmal, indem sie alle Personen mit zumindest einem im Ausland geborenen Elternteil einschließt. Da es auch hier keine zeitliche Grenzlinie gibt, haben z. B. auch alle jene in Wien lebenden Senioren „Migrationshintergrund“, deren Eltern noch in der Donaumonarchie in Ungarn oder der Tschechischen Republik zur Welt kamen – auch wenn diese Länder damals als Teile der Donaumonarchie keineswegs „Ausland“ waren  : „Als Personen mit Migrationshintergrund werden Menschen bezeichnet, die selbst im Ausland geboren wurden* (eine fremde Staatsangehörigkeit besitzen oder eingebürgert wurden = die sogenannte 1. Generation bzw. Personen mit aktiver Migrationserfahrung) und die in Österreich geborenen Personen mit österreichischer oder fremder Staatsangehörigkeit, wo zumindest ein Elternteil im Ausland geboren wurde (= die sog. 2. Generation bzw. Personen mit passiver Migrationserfahrung). * In den Daten zum Geburtsland ist auch jene Gruppe enthalten, die von Geburt an österreichische StaatsbürgerInnen sind, ihre Zahl ist unbekannt, da bei den (derzeitig verfügbaren) Angaben zur Staatsbürgerschaft nicht hervorgeht, ob es sich um eingebürgerte oder per Geburt ÖsterreicherInnen handelt.“46

Dass selbst in einem Land unterschiedliche Begriffsbestimmungen verwendet werden und zwischen Deutschland und Österreich massive Unterschiede in der Begriffsdefinition bestehen, zeigt sehr deutlich, dass die Bildung und Etablierung der Kategorie „Migrationshintergrund“ wenig mit wissenschaftlicher Erkenntnis, aber viel mit politischer Kommunikation zu tun hatten  : Während in Deutschland das politische Interesse dominierte, die nach 1945 nach Deutschland verbrachten „Volksdeutschen“ nicht, die „Dritte Generation“ aber sehr wohl noch in die Kategorie „Migrationshintergrund“ aufzunehmen, hielt man sich in Österreich auf Bundesebene an 45 Statistik Austria  : Definition des Migrationshintergrunds, Stand  : 22.07.2010, URL  : http  ://ww w.statistik.at/web_de/statistiken/bevoelkerung/bevoelkerungsstruktu9r/bevoelkerung_nach_mig rationshintergrund/index.html. 46 Magistratsabteilung für Integration und Diversitätsangelegenheiten der Stadt Wien 2009  : Monitoring Integration Wien, Stand: 22.07.2010, URL  : http  ://www.wien.gv.at/integration/pdf/monito ring-integration.pdf.

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die Empfehlungen der UNO und schloss Kinder aus Partnerschaften mit nur einem zugewanderten Elternteil aus. Die Stadt Wien hingegen wollte mit einer Aufblähung der Kategorie die Selbstverständlichkeit der Zuwanderung kommunizieren und verwies in der Vorstellung des Berichts immer wieder darauf, dass bereits mehr als ein Drittel der Wiener Bevölkerung „Migrationshintergrund“ habe, ohne die extreme Kategorienbreite auch nur ansatzweise anzusprechen. Dieses Spiel mit ständig steigenden Zahlen erinnert an die Beobachtung von Elias Canetti über die „Lust an der springenden Zahl“47 – der fast mythischen Überhöhung, die in der politischen Propaganda der Vervielfachung von Bevölkerungszahlen als Angst- oder Erfolgsmetapher zukommt. Im Gegensatz zur politischen Propaganda haben wissenschaftliche Kategorien jedoch die Aufgabe, zur Erkenntnis beizutragen, indem sie die von ihnen umfassten Phänomene trennscharf und genau charakterisieren. Kategorien, die wie der Begriff „Migrationshintergrund“ in der amtlichen Statistik eine derart breite Vielfalt von heterogenen Lebenslagen umfasst, sind wissenschaftlich kaum nützlich. Es ist auch verwunderlich, dass ein Themenbereich, die Migrationsforschung, von der allgemeinen Entwicklung in den Sozialwissenschaften, soziale Phänomene multikausal zu erklären und möglichst viele Einflussfaktoren zu identifizieren, kaum berührt wird. Während heute kein/e ernstzunehmende/r WahlforscherIn mehr Wahlentscheidungen allein auf die soziale Lage, Schicht oder Bildung zurückführen würde, wird in der Migrationsforschung der methodische Reduktionismus der 1970er-Jahre fortgeführt. Die seit einigen Jahren in einer Vielzahl von Publikationen präsentierten Statistiken über Berufspositionierung, Einkommensverteilung oder Bildungsabschlüssen nach Migrationshintergrund sind aufgrund der übergroßen Kategorienbreite zudem kaum aussagekräftig – in der so beschriebenen Gruppe befinden sich sowohl die Enkel der Südtiroler „Optanten“, die in den 1940ern von Italien nach Österreich umgesiedelt wurden, wie tschetschenische Flüchtlinge, die vor kurzem ins Land kamen. Die Validität derartiger Statistiken ist kaum höher als etwa eine Aufschlüsselung der Bildungsabschlüsse nach Körpergröße, Gewicht oder Augenfarbe. Mit wenigen Ausnahmen – etwa die Sinus-Sociovision Studie zu Einwanderermilieus in Deutschland48 – wird in der Forschung kritiklos davon ausgegangen, dass der eigene Geburtsort oder der Geburtsort der Eltern eine zentrale Einflussgröße für die soziale Positionierung ist und sich Daten über Migration auf diese Art sinnvoll ord47 Cannetti, Elias  : Masse und Macht. Frankfurt am Main 1980, 204. 48 Sinus Institut  : Lebenswelten von Migranten in Deutschland. Heidelberg et al. 2008, Stand: 22.07. 2010, URL  : http  ://www.sinusinstitut.de/uploads/tx_mpdownloadcenter/MigrantenMilieus_Zen trale_Ergebnisse_09122008.pdf.

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nen ließen. Wäre es nicht klüger, sich empirisch stattdessen zu fragen, welche Rolle Geburt im Ausland oder Abstammung von im Ausland geborenen Eltern tatsächlich für die Erklärung von z. B. Arbeitslosigkeit oder Bildungsbeteiligung spielen, nachdem man andere relevante Variablen kontrolliert hat, anstatt ihre Erklärungskraft vorauszusetzen  ? Eine mechanistische Erklärung sozialer Sachverhalte allein mit Hilfe sozialstatistischer Variablen gilt in praktisch keinem Forschungsfeld in den Sozialwissenschaften mehr als ausreichend. Einer Sozialwissenschaft am Stand der Forschung geht es vielmehr darum, die Interaktion von sozialen Milieus, Orientierungen und Werthaltung mit „harten“ Faktoren wie Bildungsstand, Einkommen oder Alter und dem Handeln der Einzelnen, der „Agency“ zu verstehen. Umso erstaunlicher ist es, wenn nun das Gros der Migrationsforschung in einer Art räumlicher Wendung eines vulgärmarxistischen sozialen Determinismus das Geburtsland zur dominanten Erklärungsvariable stilisiert, anstatt nach der Bedeutung zu fragen, die Migration oder Herkunft aus einer zugewanderten Familie in Zusammenhang mit anderen erklärenden Variablen für die jeweilige Fragestellung haben. Denn ebenso wenig wie Ethnizität ist der Migrationshintergrund eine selbstevidente Definitionskategorie für die Abgrenzung von Beobachtungs- und Analyseeinheiten. Während die am überkommenen „Herder’schen Commonsense“ 49 anknüpfende Kategorie der Ethnizität Homogenität und Binnensolidarität aufgrund kultureller Charakteristika unterstellt und damit jene sozialen Prozesse voraussetzt, die Sozialwissenschaft zu erklären hätte, konstruiert der „Migrationshintergrund“ Gruppenbezüge und soziale Relevanz entlang von generationsübergreifender Sesshaftigkeit und dem Zufall des Geburtsorts. Migrationsforschung, die derartige Kategorien unreflektiert übernimmt, stellt sich weit jenseits minimaler methodologischer Qualitätsstandards und des theoretischen Reflexionsniveaus, das im Europa des 21. Jahrhunderts zu verlangen ist. Warum schweigen die wissenschaftlichen Gesellschaften, die Universitäten und Akademien zu diesen Defiziten  ?

6. Rassismus des Migrationshintergrunds  ? Trotz seiner wissenschaftlichen Fragwürdigkeit hat der Begriff rasch massiven Eingang nicht nur in die Migrationsforschung, sondern auch in die Alltagssprache ge49 Wimmer, Andreas  : Ethnische Grenzziehungen in der Immigrationsgesellschaft. Jenseits des Her­ der’schen Commonsense, in  : Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 48 (2008), 57–88.

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funden. Dort entwickelt er sich zurzeit zu einer neuen Differenzordnung, die die Staatsbürgerschaft als Ausgrenzungskriterium ablöst. Nachdem durch die wachsende Zahl der Einbürgerungen der Besitz der Staatsbürgerschaft des Wohnsitzlandes keinen Hinweis mehr auf die Abstammung liefert, kommt mit dem Begriff „Migrationshintergrund“ wieder das vormoderne Zugehörigkeitskriterium der Abstammung ins Spiel. Anders als die Staatsbürgerschaft, die durch rechtliche Verfahren erworben und gewechselt werden kann, ist der „Migrationshintergrund“ ein lebenslanger Begleiter seiner TrägerInnen, der diese zudem in die Generationenfolge rückbindet und damit eine Form der Generationenhaftung in die Wissenschaft einführt. Die Kategorie fällt damit hinter das aufklärerische Moment der Staatsbürgerschaft zurück, die ein individuelles Rechtsverhältnis zwischen Individuum und Staat beschreibt, und reaktiviert feudale, an der Abstammung anknüpfende, nahezu biologistische Zugehörigkeitskategorien. Diese Form des „Othering“ konstruiert einen neuen „inneren Fremden“, der zwar rechtlich gleichgestellt ist, aber dennoch nicht wirklich dazugehört. Damit wird auch das „Wir“ der Zugehörigkeit von der rechtlichen auf die biologische Ebene der Abstammung rückverwiesen, die Legitimität der rechtlichen Gleichstellung durch die Staatsbürgerschaft bestritten und eine Kategorie von zweitklassigen Staats­bür­ gerIn­nen geschaffen. Diese Tendenz der Rebiologisierung von staatsbürgerschaftlicher Zugehörigkeit zeigt sich auch in der internationalen Diskussion, etwa im – von der Nationalversammlung letztlich doch zurückgewiesenen – Vorschlag des französischen Präsidenten Sarkozy, eingebürgerten Franzosen bei Verurteilungen wegen schwerer Verbrechen die Staatsangehörigkeit wieder zu entziehen. Die Biologisierung gesellschaftlicher Verhältnisse ist ein Wesenselement von stereotypisierenden Machtdiskursen, in denen über die einseitige Zuschreibung von Merkmalen und Verhaltenscharakteristika das sprechende „Wir“ als hierarchisch höherwertig definiert wird. Diese für den Kolonialismus und die historischen Rassismen typische Diskursstruktur findet sich auch in der alltäglichen und medialen Verwendung des Begriffs „Migrationshintergrund“, der sich trefflich für rassistische wie exotisierende Strategien des Othering eignet  :50 In einem Fall steht der Migrationshintergrund als Chiffre für Rückständigkeit, Frauenunterdrückung und Islamismus, im anderen für besondere interkulturelle Fähigkeiten, Sprachkenntnisse und bei der eigenen Referenzgruppe angeblich längst verlorene Menschlichkeit und Herzlichkeit. Zu Recht spricht daher Lalon Sander vom „Rassismus des Migrationshintergrunds“  : 50 Sander, Lalon  : Der Rassismus des Migrationshintergrunds, in  : Heinrich Böll Stiftung (Hg.)  : Her­kunft als Schicksal  ? Der Hürdenlauf zur Inklusion. Dossier, Bonn 2009, 8–12, 8, Stand: 22.07.2010, Stand: URL  : http  ://www.migration-boell.de/downloads/integration/Dossier_Huerdenlauf.pdf.

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Beide Strategien sprechen über die Anderen, lassen diese nicht selbst zu Wort kommen und konstruieren damit nicht mehr hinterfragte, in sich geschlossene Kollektive des „Wir“ und der „Anderen“ ohne interne Differenzierungen, deren Mitgliedern von der Gruppenzugehörigkeit abgeleitete Eigenschaften zugeschrieben werden. Durch die Defizitkonnotierung des Begriffs „Migrationshintergrund“ werden zudem Migrationsbiografien als prinzipiell problematisch konstruiert und damit die Sesshaftigkeit diskursiv überhöht. Während eine österreichische Abstammung über Generationen hinweg deren TrägerInnen offenbar jeglichen Zweifels enthebt, müssen Zugewanderte erst zeigen, dass sie Leistungen erbracht haben, etwa die deutsche Sprache gelernt haben, um sich zu integrieren und das Defizit der Gebürtigkeit am fremden Ort zu überwinden.51 Doch ganz gehören sie deshalb noch lange nicht dazu, und der Pass kann jederzeit wieder entzogen werden  : „Der Begriff ‚Deutscher mit Migrationshintergrund‘ wird so zu einem politisch korrekten ausgedrückten „Nicht-Deutscher“, der sich so gut benommen hat, dass wir ihm mal einen deutschen Pass gegeben haben.“52 In diesem Kontext kann die Sozialwissenschaft die Frage der gesellschaftlichen Resonanz der von ihr verwendeten Begriffe nicht ausblenden, sickern diese doch als Sinnstiftungsangebote in den allgemeinen Diskurs. Die Etablierung eines aufgrund seiner Unschärfe kaum erklärungsrelevanten Begriffs des Migrationshintergrunds als wissenschaftliches Ordnungskriterium durch statistische Ämter, Universitätsinstitute und -professorInnen ist allzu leicht dazu nutzbar, der Etablierung einer hinter die Aufklärung zurückkehrenden abstammungsbezogenen Differenzordnung Vorschub zu leisten. So wie in anderen Bereichen der sozialwissenschaftlichen Forschung auch, ist auch dieser Begriff zu kontextualisieren und mit anderen Variablen in Zusammenhang zu bringen, will man die Rolle von Migration für die Sozialisation und soziale Positionierung untersuchen. Gerade sozialwissenschaftliche Migrationsforschung bedarf dringend der Kombination verschiedener Methoden und der Triangulation. Geschieht dies nicht, ist eine begriffsunkritische Migrationsforschung heute gefährlich nahe daran, einen Diskurs der Biologisierung gesellschaftlicher Zugehörigkeit zu unterstützen.

7. Zur Empirie des „Migrationshintergrunds“ Theoretische Überlegungen müssen sich an der Empirie bewähren. Anders als Darstellungen, die den „Migrationshintergrund“ unhinterfragt als Ordnungskategorie nut51 Sander, Der Rassismus des Migrationshintergrunds, 9. 52 Sander, Der Rassismus des Migrationshintergrunds, 10.

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zen, soll hier gefragt werden, wie viel Erklärungskraft die Kategorie „Migrationshintergrund“ für die Erklärung von Werthaltungen und die Verteilung von Einstellungen hat. Testfeld ist die fünfte Erhebungswelle der Langzeitstudie „Religion im Leben der ÖsterreicherInnen“53, die für diesen Beitrag von Tobias Troger ausgewertet wurde. 7.1 Definitionen, Forschungsfragen, Vorgehensweise

Die Stichprobe der Studie umfasst insgesamt 2105 Personen und ist für die österreichische Bevölkerung repräsentativ. Die Erhebungsphase dauerte vom 12. 4. 2010 bis zum 7. 7. 2010. Der Fragebogen enthält Fragebatterien zur Bedeutung der Religion für das eigene Leben, zu Werthaltungen sowie zu Einstellungen gegenüber sozialen Minderheiten und Zuwanderern. Die Langzeitstudie „Religion im Leben der ÖsterreicherInnen“ wurde für die vorliegende Untersuchung herangezogen, da einerseits Wertvorstellungen in verschiedensten Bereichen detailliert abgebildet werden, andererseits im Unterschied zu thematisch ähnlichen Studien in der Stichprobe auch eine angemessene Anzahl von Personen mit Migrationshintergrund enthalten ist. Dies erlaubt eine aus inhaltlicher Perspektive unabdingbar wichtige Unterscheidung in unterschiedliche Herkunftsregionen. Seitens des erhebenden Instituts54 wurde der Begriff „Migrationshintergrund“ wie folgt operationalisiert  : 1. Generation  : Befragter ist nicht österreichischer Staatsbürger oder wurde nicht in Österreich geboren (N = 202). 2. Generation  : Mutter und/oder Vater ist nicht österreichischer Staatsbürger oder wurde nicht in Österreich geboren (N = 173). Eine ähnliche Definition in Bezug auf die zweite Generation wird von der United Nations Economic Comission for Europe vorgeschlagen.55 Da mit einer derartigen Operationalisierung auch Menschen, die im (früh)kindlichen Alter nach Österreich kamen und ihre gesamte schulische Sozialisation in Österreich verbrachten, der 1. Generation zugerechnet werden, was dem Geburtsort allein eine zu hohe Bedeutung zuschreibt, wurde der Begriff „Migrationshintergrund“ für die in der Folge vorgestellten Interpretationen wie folgt definiert  : 53 Vgl. FN 1. 54 GfK Austria GmbH, Stand  : 30.04.2011, URL  : http  ://www.gfk.at/. 55 UNECE  : Recommendations for the 2010 Censuses of Population and Housing. In Cooperation with EUROSTAT, New York – Genf 2006.

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1. Generation  : nicht österreichischer Staatsbürger oder nicht in Österreich geboren (unter dem zusätzlichen Vorbehalt, dass mindestens ein Elternteil im Ausland geboren ist) und bei der Migration älter als sechs Jahre (N=142). 2. Generation  : ein Elternteil nicht in Österreich geboren, selbst in Österreich geboren oder bei der Migration maximal sechs Jahre alt (N=221). Differenziert nach Herkunftsregion und Generation ergibt sich die Verteilung in Tabelle 43  :56 Migrationshintergrund

1. Generation

2. Generation

Total

EU-15*

39

72

111

EU-10

22

42

64

Türkei

21

33

54

Ex-Jugoslawien**

36

31

67

Sonstige Nicht-EU

30

43

73

148

221

369

0

0

1736

Total Kein Migrationshintergrund

Tabelle 43  : Fallzahlen für Personen mit Migrationshintergrund. Ungewichtete Analyse  ; *In der Kategorie „EU-15“ sind 70 % der Ersten Generation in Deutschland geboren, 57 % der Zweiten Generation haben in Deutschland geborene Eltern  ; **Die Kategorie „Ex-Jugoslawien“ enthält alle Nachfolgestaaten der ehemaligen SFR Jugoslawien mit Ausnahme Sloweniens, das zu den EU–10 gezählt wurde. Quelle  : RILÖ 2010.

Für eine begriffskritische Analyse sind folgende Fragen von zentraler Bedeutung  : –– Ist „Migrationshintergrund“ per se ein in sich konsistentes Unterscheidungskriterium  ? In diesem Fall dürfte es innerhalb der Gruppe der Personen mit Migrationshintergrund in Bezug auf zentrale Werthaltungen keine signifikanten Unterschiede geben. Bestehen Unterschiede, machte die Nutzung der Kategorie „Migrationshintergrund“ ohne weitere Differenzierungen keinen Sinn, die aufgefundenen Differenzierungen wären weiter zu untersuchen. –– Hat die Kategorie „Migrationshintergrund“ überhaupt einen Einfluss auf zentrale Werthaltungen und Orientierungen  ? Ist dieser Einfluss eigenständiger Natur oder lässt er sich auf andere Merkmale zurückführen (z. B. Alter, sozioökonomischer Status oder Religiosität)  ? –– Welche Erklärungskraft hat die Kategorie „Migrationshintergrund“ im Vergleich zu anderen soziodemographischen und Einstellungsmerkmalen  ? 56 Im Fall der Zweiten Generation wurde das Geburtsland des Vaters herangezogen.

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Als abhängige Variablen in Bezug auf Werthaltungen wurden die Themenbereiche „Autoritarismus und Gehorsam“, „Solidarität in der Familie“, „Frauenrolle“ und „Religiöse Community-Orientierung“ gewählt. Zur Beantwortung der Forschungsfragen war es nötig, mehrere Merkmale in ihrem Einfluss auf Werthaltungen gleichzeitig zu betrachten. Zu diesem Zweck wurden lineare Regressionen verwendet. Dabei wurde in einem ersten Schritt nur der Migrationshintergrund als erklärende Variable berücksichtigt (Modell 1). Auf diese Weise war es möglich zu überprüfen, ob es grundsätzlich Unterschiede nach Migrationshintergrund gibt und welche internen Unterschiede sich nach Herkunftsregion und Generation zeigen. In einem zweiten Schritt (Modell 2) wurden zusätzlich verschiedene soziodemographische Variablen in das Modell aufgenommen (u.a. Alter, Geschlecht, sozioökonomischer Status57 und Ortsgröße). In einem dritten Schritt wurden die politische Selbstverortung und der Grad der Religiosität einer Person hinzugezogen (Modell 3). Dadurch konnte überprüft werden, ob sich der Einfluss der Kategorie „Migrationshintergrund“ auf andere Merkmale, beispielsweise auf Unterschiede hinsichtlich des sozioökonomischen Status oder der Religiosität zurückführen lässt. 7.2 Autoritarismus und Gehorsam

Die folgenden Items ließen sich zur Dimension „Autoritarismus und Gehorsam“ zusammenfassen  :58 –– Wo strenge Autorität ist, dort ist auch Gerechtigkeit. –– Das Wichtigste, was Kinder lernen müssen, ist Gehorsam. –– Mitreden und mitentscheiden soll man erst, wenn man durch harte Arbeit eine Position erreicht hat. –– Die viele Freiheit, die heute die jungen Menschen haben, ist sicher nicht gut. Autoritarismus und Gehorsam werden meist als „traditionelle“ Wertorientierungen angesehen. Bei Betrachtung der Ergebnisse aus der Regressionsanalyse (siehe Tabelle 44) zeigt sich folgendes Bild  : Alter, Geschlecht und sozioökonomischer Status haben den größten Einfluss auf die Haltung gegenüber Autorität und Gehorsam. Je älter eine Person und je niedriger ihr sozioökonomischer Status, desto pro-autoritä57 Die Variable „sozioökonomischer Status“ wurde aus den Merkmalen Haushaltsnettoeinkommen, Berufsmilieu und Bildungsniveau generiert. 58 Anhand einer Hauptachsenfaktorenanalyse wurden zuerst relevante Einstellungsdimensionen identifiziert. Für die weitere Analyse wurden die Faktorwerte der Dimensionen „Autorität und Gehorsam“ sowie „Mikrosolidarität“ verwendet.

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rer ist sie eingestellt. Dasselbe gilt auch für Männer (Modell 2–3). Dies heißt jedoch nicht, dass die Kategorie „Migrationshintergrund“ keinen Erklärungsbeitrag leisten würde. Modell 1, das nur migrationsspezifische Variablen berücksichtigt, hat zwar mit 1,5 % einen relativ geringen Erklärungsanteil, im Vergleich zu Modell 2, das zusätzlich eine Reihe von soziodemographischen Variablen enthält (10,6 %). Es lassen sich aber durchaus Einstellungsunterschiede nach Migrationshintergrund feststellen. Autoritarismus und Gehorsam, Erklärende Variablen

Modell 1

Modell 2

Modell 3

Beta

Beta

Beta

Migrationshintergrund (Referenz  : Personen ohne MH*) Türkei, 1. Generation

0,066**

0,054*

0,046*

Türkei, 2. Generation

0,033

0,078***

0,071**

Ex-Jugoslawien, 1. Generation

0,067**

0,073**

0,087*** 0,046*

Ex-Jugoslawien, 2. Generation

0,022

0,046*

EU–10, 1. Generation

0,015

0,033

0,038°

EU–10, 2. Generation

–0,015

–0,003

0,002

EU–15, 1. Generation

–0,071**

–0,066**

EU–15, 2. Generation

–0,025

–0,001

Sonstige Nicht-EU, 1. Generation Sonstige Nicht-EU, 2. Generation

0,057* –0,032

–0,048* 0,008

0,056** 0,007

0,056** 0,011

Soziodemographische Variablen Alter (in Jahren)

0,153***

0,131***

Geschlecht (Referenz  : Frauen)

0,101***

0,110***

Sozioökonomischer Status (1=niedrig bis 5=hoch)

–0,175***

–0,157***

Ortsgröße (1=klein bis 9=groß)

–0,133***

–0,075***

–0,024

–0,025

Kinder (Referenz  : nein) Einstellungsvariablen

 

 

Politische Selbstverortung (1=links bis 10=rechts)

  0,042*

Mischindikator Religiosität (niedrig bis hoch)

0,093***

N

2105

2105

2105

Korrigiertes R²

0,015

0,106

0,139

Tabelle 44  : Autoritarismus und Gehorsam  ; lineare Regression, abhängige Variable  : Faktorwerte ‚Bedeutung von Autorität und Gehorsam‘ (niedrig bis hoch)  ; ungewichtete Analysen  ; Signifikanzniveaus  : ° p