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German Pages 278 Year 2021
Nushin Hosseini-Eckhardt Zugänge zu Hybridität
Pädagogik
Meinem Bruder Babak
Nushin Hosseini-Eckhardt, geb 1982, lehrt und forscht in der Fakultät Erziehungswissenschaft, Psychologie und Bildungsforschung an der TU Dortmund. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in bildungsphilosophischen und interkulturellen Fragen um die Aktualität kritischer Theorien, dem Verhältnis von Neuhumanismus und Transhumanismus und Hybridität in der Gesellschaft. Einen großen Raum gibt sie dabei der Forschung an partizipativen Lehr-Lern-Formaten, wie den von ihr entwickelten und regelmäßig veranstalteten "SCIENCE-JAMS". Außerdem ist sie Gründungsmitglied von FRAPPANZ e.V., einem künstlerischwissenschaftlichen Think Tank.
Nushin Hosseini-Eckhardt
Zugänge zu Hybridität Theoretische Grundlagen – Methoden – Pädagogische Denkfiguren
zugl. Dissertation, Technische Universität Dortmund 2019
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2021 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Donja Nasseri, Kunstakademie Düsseldorf Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5153-9 PDF-ISBN 978-3-8394-5153-3 https://doi.org/10.14361/9783839451533 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Danksagung .............................................................................. 7 Vorwort .................................................................................. 9 Kapitel 1: Einleitung ...................................................................... 11 Kapitel 2: Die Hybridität der Grenze – Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen ....................................................... 29 2.1. Hybridität als »Signatur ihrer jeweiligen Zeit« ....................................... 30 2.2. Hybridität als negativer Begriff zu Identität und Nation .............................. 33 2.3. Hybridität in den vielfältigen Bildern der Vergangenheit.............................. 37 2.3.1. Ambivalenzen der Geschichte: Hybridität als positiver Begriff der Mehrdeutigkeit und Mehrwertigkeit ....................................... 40 2.3.2. Hybridität als Spielraum der Unschärfe....................................... 45 2.4. Die Vergessenheit der Anderen in der Welt .......................................... 49 2.4.1. Hybridität in den Grundlagen postkolonialer Theorieverläufe ................... 51 2.4.2. Die Ambiguität des Post in der Geschichtsschreibung ........................ 62 2.5. Hybridität als Metapher in der Kultur ................................................ 67 2.5.1. Hybridisierung als Problematisierung des ›traditionellen‹ Kulturbegriffs ...... 69 2.5.2. Die produktive Kraft der innewohnenden Spannungen ......................... 78 2.6. Anwendungen: Die Hybridisierung der Grenze......................................... 81 Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität......... 113 3.1. Die hybride Rolle der Vermittlung.................................................... 114 3.2. Wirkung von Bhabhas Schriften ..................................................... 119 3.2.1. Bhabhas Hybridität im Diskurs der deutschen Erziehungswissenschaft(en): Eine exemplarisch Darstellung .............................................. 120 3.2.2. Bhabhas Hybridität mit Blick auf die Bildungsphilosophie und Bildungsforschung ..................................................... 125 3.2.3. Einordnungen der Rezeption von Bhabhas Hybridität......................... 130 3.3. Doing Theory nach Bhabha ........................................................ 134
3.4. 3.5.
3.6. 3.7. 3.8.
3.3.1. Historische Wirklichkeit als Ausgangspunkt für kritisch theoretische Einsätze Bhabhas und der Frankfurter Schule ............................... 134 3.3.2. Hybridität als interventionistisches Einsetzen in Denktraditionen der Moderne ................................................................ 141 3.3.3. Verbundenheit in der Fragilität .............................................. 150 3.3.4. Hybridität als Konstitution des Subjekts im Spannungsfeld machtvoller Diskurse ....................................................... 153 Kultur als Zone der Verhandlung von Differenz ...................................... 161 Figuren der »arbiträren Abgeschlossenheit« ........................................ 177 3.5.1. Kopf über in die Tropen ..................................................... 180 3.5.2. Darüberhinaus als Trope der fortlaufendenn Jetztzeit ........................ 193 Der Dritte Raum ................................................................... 198 Diskussion von Hybridität als Methode und Stragie bei Bhabha ...................... 207 Kritik an (Bhabhas) Hybridität als Symptom unserer Zeit – ihre Leerstellen, Gefahren und Potenziale .......................................... 220 3.8.1. Eine Aktualisierung der Gefahren von Hybridisierungen am Beispiel der »Neuen Rechten« und zersplitterter digitaler Debatten .................. 228 3.8.2. Einige Folgerungen aus der Untersuchung von Hybridität nach Bhabha ....... 233
Kapitel 4: Rückwärts gelesen… zu Ergebnissen und Folgerungen....................... 237 4.1. Die erste Folgerung: Die Kunst des Werdens – eine Bildungsfigur?................... 244 4.2. Über die arbiträre Abgeschlossenheit von Denkfiguren ............................. 249 Literaturverzeichnis.................................................................... 259
Danksagung »Es ist […] geworden« Max Horkheimer und Z.K.R.1
Zu dem Werden dieses Buches haben viele Menschen auf Ihre Weise beigetragen, daher möchte ich allen, die mich in dieser Zeit begleitet haben, an dieser Stelle danken. Meinen Dank aussprechen möchte ich Professor Lothar Wigger, der mir über die Frage nach den Grenzen der Kritik den Zugang zum Promotionsstudium gewährt hat. Er hat mich die Wege gehen lassen, die bedeutend für ein auseinandersetzendes Zusammenwachsen mit einer solchen Arbeit waren. Auch die intensiven Oberseminare haben den Geist dieses Studiums maßgeblich geprägt und mich meine Liebe zu philosophischem Denken und Erfahren entdecken lassen. Frau Professorin Mietzner danke ich besonders für die inspirierenden inhaltlichen Gespräche, die mich stets daran erinnert haben, warum Hybridität als Thema wichtig ist und mich somit für weitere Schritte motiviert hat. Ihr akademisches Selbstverständnis, über enge inhaltliche Strukturen hinauszublicken, sowie auch Ihr Umgang mit Studierenden und der Anspruch mit ihnen gestaltend zu arbeiten, haben meine Vorstellung von einem gemeinsamen Denken und einer solchen Didaktik maßgeblich geprägt. Es gibt Menschen, die der lebende Beweis dafür sind, wie das Zusammenspiel von Theorie und Praxis in chiasmatischer Verschränkung gelingen kann. Durch Barbara Platzer, mit der ich das Glück habe, über Jahre das Büro teilen zu dürfen, erfuhr ich, wie sehr verantwortungsvolles Handeln allen Lebensbereichen Tiefe und Würde verleiht. Liebe Barbara, Danke für so Vieles, Raschel, Raschel, Klirr, Klirr. Ein herzlicher Dank gebührt meinen geschätzten KollegInnen, die mich in den Jahren durch den geistigen und menschlichen Austausch geprägt und den Arbeitsplatz zu einem Ort gelebter Kollegialität und Freundschaft gemacht haben. Die Reihenfolge der genannten Namen ist ohne Wertung zu lesen und wird der Vollständigkeit nicht Genüge tun: Claudia Equit, Lena Leimköter, Lukas (S.) Schildknecht, 1
›You need a lot of context to seriously examine anything‹ (vgl. in diesem Buch S.29): Max Horkheimer über Walter Benjamins Vermächtnis »Zum Begriff der Geschichte« (2010: 316/317) und Z.K.Rs. Ausspruch, wenn das Essen fertig ist.
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Lena Naydowski-Friedrich, Miguel Zulaica y Mugica, Sonja Herzog, Dilek Dipcin, Stefan Will, Julia Lampka, Anna Curic, Lisa Pink, Dana Kaldeuer, Helena Drescher und Patrick Zebedies. Besonders danken möchte ich Philippe Marquardt, dessen Unterstützung über meine Elternzeit hinaus ragte. Auch Carsten Bünger möchte ich herzlich danken für den stets bereichernden geistigen und menschlichen Austausch. Professor Walter Grünzweig hat uns in der Studienzeit vorgelebt, wie das akademische Leben auf gesunde Weise mit dem privaten Leben verwoben werden kann. An dieser Stelle ein Whitmansches O Democracy! Tief geprägt haben mich meine KollegInnen Janina Somasundaram, Nermina Ahmic und Petula Neuhaus, deren Blick auf die Welt mehr als nur meine Arbeit maßgeblich beeinflusst haben. Meiner Familie, die stets ihre Grenzen gedehnt hat, um mir den tatsächlichen und geistigen Freiraum zu verschaffen für die Arbeit an diesem Buch, sage ich mit den Worten meiner Tochter, die wiederum den Maulwurf zitiert: »Ich weiß gar nicht, wie ich Euch danken soll!« Meinem Ehemann Pete, meiner Mama, meinem Papa, meinem Bruder, meinen Kindern sowie meiner Eckhardt՚schen Familie Danke für Eure Liebe und Unterstützung.
Vorwort
So bekannt und umstritten der Begriff der Hybridität in bestimmten wissenschaftlichen Disziplinen ist, so unbekannt und teilweise abschreckend kann er für viele andere Menschen sein, die wenig Berührungspunkte damit haben. Kommt man ins Gespräch über Hybridität, so eröffnet sich Vielen bald ihre subjektive und gesellschaftspolitische Relevanz. Lässt sich vielleicht in unser aller Hybridität das Potenzial von Verflechtungen und Migration als genuine Wurzel jeder Gesellschaft erahnen? Denn Hybridität kann sowohl ganz banal als auch komplex hergeleitet werden, nur einseitig ist sie niemals. Als Erklärungskonzept für gesellschaftliche Entstehungs- und Entwicklungsprozesse birgt Hybridität ein großes pädagogisches Potenzial. Diesem Potenzial möchte ich in diesem Buch, das auf meiner Dissertation an der TU Dortmund basiert, nachgehen. Wir sind verflochtene und komplexe Wesen – genauso wie die Welt, in der wir leben. Die historische und gegenwärtige Realität ist jedoch voll an Beispielen davon, wie unsere Verflochtenheit stets für eine machtvolle Vorstellung eines ›das ist so‹ gewaltsam durchgesetzt wurde. Gerade in Zeiten global wirkender Krisen zeigt sich wie wichtig es ist auch in solchen Zeiten, einen besonnenen Umgang mit Uneindeutigkeit, Vielschichtigkeit, Verflochtenheit, Unübersichtlichkeit und auch Ungewissheit mindestens ›ertragen‹ zu lernen. Wir Menschen haben bei aller interner und externer Verflochtenheit auch einen Hang zum ›Kontroll-Griff‹ nach dem Halm des Begreifens, der ohne Reduzierungen fast nicht auszukommen scheint. Meine Frage ist dabei: Wie können wir üben, unsere Denkstrukturen dehnbarer zu machen für Verflechtungen in uns und der Welt? Nicht weit sind nämlich die Fallen in Form der ’Gewalt in der Vereindeutigung’, aber auch die ›Gefahren in der Orientierungslosigkeit‹. Vor dem Hintergrund eines kritisch- emanzipatorischen Wissenschaftsverständnisses suche ich in diesem Buch nach pädagogischen Formen, Wegen und Räumen, in denen durch Übung Umgangsweisen mit Verflochtenheit und Uneindeutigkeit zur Gewohnheit werden können. Vielleicht können diese uns langfristig eine
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Denkstütze sein, wenn Zeitnot und Informationsflut zur Aporie leiten und Überhand zu nehmen drohen. Die virulente Seite der Orientierungslosigkeit zeigt sich nunmehr auch, wenn Verflechtungsnarrative auf einer subjektiven und postfaktischen Begründungsbasis aufgebaut werden und durch technologische Entwicklungen eine zunehmend schnelle Verbreitung finden, wie im Fall von fake news und Verschwörungstheorien. Die wachsende Zahl und Pluralität an Informationen, die verschwimmenden Grenzen zwischen begründetem Wissen, Information und Meinung scheinen auch Effekte wie Gleichgültigkeit, Handlungsunfähigkeit oder Radikalisierung nach sich zu ziehen. Auch in diesen Fällen ist eine Anfälligkeit für ›das ist so‹- Rhetoriken nicht fern. Der Blick auf schnelle und einfache Zugriffe im Gebrauch digitaler (sozialer) Medien, sowie die schnelle Verbreitung von Inhalten kann auf die besondere Notwendigkeit einer Aufmerksamkeit für Umgangsweisen und Verflechtungen verweisen. Diese sollten über bisherige Konzepte der digital literacy hinaus ein Denken darüber anstoßen, wie geübt werden kann, den Sogkräften manipulativer Strategien nicht mittellos ausgeliefert zu sein. Vereinfacht formuliert, schlage ich als Gegentendenz zum ›Click-ismus‹ (pointiert ausgedrückt) Denkmodelle vor, die uns zu einer Hingabe an die Sache durch Zeit und eigene Arbeit an das Abwägen und Reflektieren gewöhnen. Es geht um Denkmodelle, mit denen wir Zutrauen in unsere eigene Denkleistung üben können. Diese Form des Nachdenkens über die Dinge der Welt sehe ich unter anderem in Denkfiguren der arbiträren Abgeschlossenheit und ihrem philosophisch-pädagogischen Potenzial. Effekte dieser Art des Umgangs mit Pluralität und Komplexität können wiederum Einfluss darauf haben, wie wir (digitale) soziale Räume gestalten und somit mit weiteren Inhalten und Umgangsweisen beschreiben. Da der Begriff der Denkfiguren in der Forschung eine Diskrepanz aufweist zwischen der Verwendung des Begriffs und einer begründeten theoretischen Herleitung, werde ich in diesem Buch in einer Doppelstrategie das theoretische Potenzial von Denkfiguren am Beispiel von Hybridität herleiten. Das heißt: Am Beispiel des Potenzials von Hybridität werde ich grundlagentheoretisches Wissen über Denkfiguren herleiten. Diese Doppelstrategie ist möglich, da sowohl Hybridität als auch Denkfiguren das epistemologische Potenzial besitzen für ein Zusammendenken von Ansätzen des Rationalen und des Leiblichen. Denn gerade die aktive Nutzung von sogenannten Fake News als Instrument der Diskursmacht deutet auf die Notwendigkeit einer proaktiven Betonung der Ratio und des Faktischen hin, jedoch explizit in Verbindung mit der leiblichen Erfahrungsdimension als besonderes Potenzial von Bildung. Dieser Ansatz wird über das Konzept von Hybridität und die Erarbeitung theoretischer Grundlagen von Denkfiguren in diesem Buch verfolgt werden.
Kapitel 1: Einleitung
Zugänge durch mehr als Worte Worte, Bilder und Gegenstände prägen die Strukturen unserer Sprache, unseres Sehens, unserer Erinnerungen und unseres Denkens. In diesem Zusammenhang beeinflussen sie in gewisser Weise auch das Handeln (bzw. nicht- Handeln) und unseren Zeitgeist. Eine Beobachtung unserer Zeit ist, dass die medial vermittelte Flut an Bildern, Schlagworten, Informationen und Desinformationen eine neue Dimension von Vielfalt und Komplexität1 sichtbar macht, die vielerlei Effekte nach sich zieht. Einer der Effekte, die im aktuellen öffentlichen Diskurs angekommen ist, ist das Umschlagen des Umgangs mit Komplexität in ihr Gegenteil. Neben der zunehmenden Vernetzung und dem Schaffen kleiner und großer global organisierter Gemeinschaften und Gruppen treten Tendenzen der Isolation, Fragmentierung und Spaltung immer offener zu Tage. Die Journalistin Ingrid Brodnig beschreibt in ihrem Buch Lügen im Netz. Wie Fake News, Populisten und unkontrollierte Technik uns manipulieren Phänomene der Zersplitterung, die vor allem durch Strukturen im Internet potenziert worden seien.2 Effekte dessen können sich in der ›Potenzierung‹ von z.B. Unübersichtlichkeit, Irrationalismus, politischer Orientierungslosigkeit, Fetischisierung von Identiätspolitiken, Radikalisierung und kurzweiligen Allianzen zeigen. Das Wort Filterblase hat es dabei nicht zufällig zu einem gewissen Ruhm gebracht. In seinem im Jahr 2017 erschienenen Werk Gesellschaft der Singularitäten konstatiert auch der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz, dass in unserer von Spaltung und Fragmentierung geprägten Zeit der (Spät-)Moderne Aspekte des Besonderen zunehmend Bedeutung gewinnen würden demgegenüber das Verbindende an Bedeutung verliere. Die Praxis der Profilierung (potenziert durch die
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Durch eine entgrenzte globalisierte Welt entstehen ebenso vielfältige Zugangsmöglichkeiten dazu, zumindest virtuell. Die damit einhergehende ökonomisch motivierte Effektivitätssteigerung durch Einsparungen von Zeit, Strukturen in der Verwaltung bis hin zur Sprache sind mögliche Effekte dieses Prozesses. Vgl. Brodnig 2017: 60ff.
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vorgegebenen Strukturen in sozialen Netzwerken) würde Fragen der Allgemeinheit tendenziell als randständig erscheinen lassen und somit Sphären des Öffentlichen, des Allgemeinen und des Universalen in die Krise stürzen.3 Auch in hypernationalen Institutionen, Gemeinschaften und Abkommen ist der Diskurs zunehmend von einer Erstarkung isolationistischer, autokratischer und nationalistischer Tendenzen gekennzeichnet, die sich zum Beispiel im Brexit und im Streit um die Aufnahme Geflüchteter zeigen. Öffentlich werden in diesen Auseinandersetzungen vermehrt Schlagworte verwendet, deren Begriffe und bildhafte Symbolik dazu dient, einfache Antworten zu suggerieren oder emotionale Effekte (wie Angst, Wut, Freude etc.) auszulösen.
Welchen Grenzbegriff haben Sie? Ein prägnanter Begriff ist vor diesem Hintergrund die Grenze, die in ihrer Bekanntheit, Zugänglichkeit und Bildhaftigkeit ein Wort ist, welches sowohl als vereinfachtes Bild der Abschließung dienen kann als auch als für die Infragestellung dieser Abschließung. Beispiele für ihre Verwendung gibt es unzählige, die unser Denken prägen und in das kollektive Gedächtnis übergehen. Mit dem Begriff der Grenze wird oft das jeweilige Welt- und Menschenbild transferiert. Der Blick der Geflüchteten auf Grenzen ist ein ganz eigenes Thema. Ob die Festung Europa gegen Nicht-Europäer aus sogenannten Entwicklungsländern ›verteidigt‹ wird oder ob sich No Border-Organisationen, wie die Ärzte ohne Grenzen, Reporter ohne Grenzen, Unteilbar- Demonstrationen und weitere mit der Verneinung von Grenzen gegen eine Politik der Abschottung positionieren – beides verdeutlicht, wie sehr Worte, Begriffe und ihre Bildsymbolik Teil unserer Sprachpolitik sind. Ihre psychologische Wirkmacht liegt in ihrer verkürzten, griffigen Ausdrucksform, sowie im Anstoßen von Assoziationsketten, die jedem das Gefühl geben, die eigene Haltung zu einer komplexen Gemengelage in der Welt auf formelhafte Ausdrücke reduzieren zu können. Diese Praxis erscheint mit Blick auf menschliche Denkstrukturen und ihre gesellschaftspolitischen Effekte einerseits nachvollziehbar, wie auch andererseits in dieser Tendenz zur Vereinfachung brand gefährlich. Das Denken über Worte, Begriffe und Bilder zeigt zudem ihre Verstärkung durch Verbreitung von Informationen. Was die Wörterbücher als Struktur des Suchens vorgegeben haben, scheint von Suchmaschinen im Internet potenziert zu werden. Die Aussicht, allgegenwärtig schnellen Zugang zu weltweiten Datenbanken und Quellen zu erhalten, ist im Sinne der Informations- oder sogar Wissensakkumulation so vielversprechend wie (mit Verweis auf Brodnig und Reckwitz) trügerisch. Auf der einen Seite haben wir, in der besonderen Lage eines ökonomisch privilegierten demokratisch organisierten Staates, scheinbar alle Möglichkeiten, auf
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Vgl. Reckwitz 2017: 434.
Kapitel 1: Einleitung
der anderen Seite führt eben dieser allgegenwärtig schnelle Zugang zu einer unzählbaren Menge an sogenannten Ergebnissen zu Effekten, die sich auf unsere Art des Suchens und Denkens auswirken können. Notwendig ist es also, Möglichkeiten zu finden, die synergetischen Effekte von Worten und ihre Bildsymbolik nutzen, ohne die damit einhergehenden Probleme und Gefahren der Vereinfachung und ihrer einseitigen Instrumentalisierung zu übernehmen. Mit Rekurs auf Reckwitz und Brodnigs Diagnose, dass immer weniger gemeinsame öffentliche Räume für eine immer gespaltenere Gesellschaft zur Verfügung stehen, gilt es – im Sinne der Stiftung von Ebenen der Verbindung – zunächst Räume des Gemeinsamen in der Gesellschaft zu finden, in denen der sogenannten Spaltung begegnet werden kann. Mit der Erfahrung der sogenannten Corona- Pandemie und der ›lock downs‹ kommen diese Spaltungen in der Gesellschaft noch deutlicher an die Oberfläche und werden auch leiblich spürbarer. Eine Erfahrung, die die meisten Menschen für eine gewisse Zeit miteinander teilten, wurde durch die jeweiligen Ausgangspositionen unterschiedlich stark abgefedert und scheint die Unterschiede größtenteils verstärkt zu haben. Zugleich zeigen aber auch die kreativen Wege des digitalen und nicht- digitalen ›In-Verbindung-Tretens‹ die Suche des Menschen nach Sozialität und gemeinsamer Räume. Vor dem Beginn der Corona- Pandemie konnte man diese Räume der Verbindung vornehmlich in Institutionen finden, im Besonderen in denen, die Bildung betreffen. Bildungsinstitutionen wie Kindergärten, Schulen, Berufsschulen, Universitäten und kulturelle Einrichtungen waren als Orte und Räume für solch einen Anspruch prädestiniert, da sie bereits über ihren inhärenten Bildungsauftrag inhaltlich wie formal die dafür notwendigen Strukturen zur Verfügung stellten. Die globale Erfahrung mit der Pandemie lässt dabei die Missstände und Unzulänglichkeiten in digitalen Lehr- Räumen zu Tage treten, wie auch die Möglichkeiten eines anders strukturierten Arbeitens, aber auch die Besonderheit der leiblichen Anwesenheit für Diskussionen u.Ä. sichtbarer werden. Die Notwendigkeit von Überlegungen zu Bedingungen und Formen Dritter Räume treten in ihrer Notwendigkeit noch stärker zu Tage. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Tendenzen der Fragmentierung, der Ver-Besonderung und der Krise des Allgemeinen und Öffentlichen gilt es nach Formen zu suchen, die ein Gegengewicht zu den beschriebenen Tendenzen schaffen können. Anders ausgedrückt, wird gefragt: Welche inhaltlichen Unterstützungsstrukturen und Räume braucht es, die einerseits Offenheit und Momente des Zugangs für jede und jeden und andererseits Einblick in Komplexität, Vielschichtigkeit und auch Kritik an herrschenden Machtstrukturen fördern können? Zugegeben, ein hoher Anspruch. Ich begebe mich dennoch auf den Weg dahin. Die oft konstatierte Diskrepanz zwischen dem Stand wissenschaftlicher Diskurse und dem medial vermittelten Stand der Diskussion des sogenannten ›OttoNormal-Bürgers‹ verweist nicht nur auf eine sozial und institutionell bedingte Dif-
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ferenz, sondern gerade in gesellschaftlich relevanten Fragen auf eine gesellschaftlich bedenkliche Diskrepanz zwischen abstrakter Theoriebildung und einfachen Antworten auf komplexe Vergesellschaftungsformen. Eine kritische Pädagogik, die sich mit diesen Problemen befasst, sollte nach der Analyse des Status quo einen Schritt weiter gehen und Wege finden für eine gemeinsame Basis von Komplexität epistemologischer Zusammenhänge und zu einer einfacheren Zugänglichkeit zu komplexen Fragen der Welt führen. Aus der oben formulierten Problemlage werden zwei Fragen von Bedeutung sein: 1. Welcher Begriff und Ausdruck kann ein Gegengewicht zu Worten und Tendenzen der Spaltung, Isolation und Profilierung des Besonderen mit Blick auf schnelle und allgegenwärtige Konsumierung des Wissens darstellen? 2. Welche theoretischen Bedingungen sollte ein solcher Begriff bzw. Ausdruck mit dem doppelten Anspruch – zum einen der Zugänglichkeit, zum anderen der Nicht-Vereinseitigung – auf etwaige Anwendungen in pädagogischen Kontexten erfüllen?
In der Beantwortung dieser Fragen scheint mit »Hybridität« die Pointe im Titel bereits vorweggenommen zu sein. Doch auch hier wäre die Antwort in einem Wort zu einfach um wahr zu sein. Die wahre Pointe liegt nicht im Wort selbst, sondern im Nachdenken darüber, über seine Kontexte, seine Anwendungsfelder, seine Widersprüche, seine Methoden und Strategien, die Kritik an ihm, sowie über das Weiterdenken (in einem Darüberhinaus). Sowie Hybridität als Moment der Kreuzung in einem banalen und auch einem nicht banalem Sinne für das Werden steht, so ist auch diese Arbeit nicht nur über ihre einzelnen Aussagen, Pointen oder den Schluss zu erschließen. Ein wichtiger Aspekt von Hybridität zeigt sich in dem »Wie« und dieses wird in diesem Buch sowohl in Kapitel 2 explizit diskutiert als auch in einem quasi performativen Akt im gesamten Buch durchgeführt. In diesem Sinne gilt es sich auf ein Lesen einzulassen, das das Werden von Hybridität im Laufe des Buches verfolgt und so Hybridität in gewisser Weise als Leseerfahrung vollzieht und demonstriert. Anders ausgedrückt: In diesem Buch wird Wissen über Hybridität dargelegt, Hybridität wird zudem erfahren und rückwärts nachvollzogen. Für die Beantwortung der beiden Oben genannten Fragen wird dies über eine Doppelstrategie verfolgt: Während Hybridität einerseits in ihren interdisziplinären theoretischen Kontexten, Anwendungen, Methoden und gesellschaftspolitischen und pädagogischen Bedeutung diskutiert wird, dienen ebendiese Zugänge zu Hybridität und Folgerungen aus der Auseinandersetzung mit ihr andererseits als (ge-
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schaffene) theoretische Grundlagen für die von mir vorgeschlagenen Denkfiguren Die Hybridität der Grenze und Die Kunst des Werdens. So umfassen die Überschriften des zweiten und dritten Kapitels dieses Buches sowohl die Benennung des Vorgehens als auch die Folgerungen aus den Ergebnissen: • • •
Die Hybridität der Grenze als Bestimmung des Begriffs der Hybridität über ihre Kontexte und Anwendungen (im zweiten Kapitel) Hybridisierung als Die Kunst des Werdens im Sinne einer Analyse von Hybridität als Methode und Strategie (im dritten Kapitel) Folgerungen aus einer solchen Untersuchung von Hybridität für das pädagogische Forschungsfeld (im vierten Kapitel)
Für beide Lesarten wird kurz dargelegt, wie vielfältige Zugänge zu Hybridität hergeleitet werden und welche Schlussfolgerungen zu der Gliederung des Buches führten: Zunächst wird der Terminus Hybridität als Bezeichnung für ein Denken vorgeschlagen, das entgegen der Spaltung und Fragmentierung die verflochtene Zusammengehörigkeit von bestehenden Differenzen betont. Dabei verweist Hybridität auf eine Bedeutungsvielfalt und Einsatzmöglichkeit, was in diesem Buch sowohl produktiv diskutiert als auch problematisiert wird. Um zudem der Gefahr zu entgehen, in Kategorien von Schlagwörtern zu verbleiben und ebenjene beschriebenen Tendenzen zum schnellen allgegenwärtigen Konsum von Informationen zu verstärken wird der Hybridität (hier und im zweiten Kapitel) als Begriff ein großer Raum zugestanden, in welchem sie über ihre Kontexte in Diskursen der Philosophie, ihre Anwendungsfelder und ihre sprachphilosophischen Potenziale (zum Beispiel Grenze als Gegenbegriff und begriffliche Schärfung, aber auch die Anwendung durch eine dekonstruktive Metaphorisierung der Grenze) dargelegt wird. Dabei erfolgt über die Diskussion der historisch theoretischen Kontexte und Rahmungen von Hybridität zugleich auch eine nähere Bestimmung von Hybridität als ein negativer Begriff zu theoretischen Gegenstandsbereichen und Diskursen um Moderne, Identität, Nation, Kultur, Hierarchie und dem Begriff der Grenze und als einem positiven Begriff zu Diskursen um Postmoderne, Ambivalenz, Opazität, Leiblichkeit, postkoloniale kritische Interventionen, Cultural Turn und Grenze als Metapher. Im dritten Kapitel (Hybridisierung als Die Kunst des Werdens) wird eine weitere Ebene von Hybridität eruiert. Am Beispiel des Schreibprojektes des postkolonialen Theoretikers Homi K. Bhabha erfährt Hybridität als Konzept eine empirische Annäherung. Die Relevanz der Beschäftigung mit Bhabhas Hybriditätsbegriff ist in Bhabhas Schreibprojekt selbst zu begründen, welches sich, sich selbst als kulturellen Zwischenraum verstehend, dem Zugang über Eindeutigkeiten, festen Kategorien, einem bestimmten Logos und einer bestimmten Schreibweise entzieht.
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Zugänge zu Hybridität
Wenn es nicht nur ein Postulat bleiben soll, dass Diskurse nicht verengend eurozentrisch oder gar nationenzentriert bleiben sollen, so gilt es, dies konsequent weiterzudenken und Perspektiven nicht nur als Pointen darzustellen, sondern auch in ihrer Werdung zu untersuchen. Die sich daraus zuspitzenden Fragen führen dazu, Zugänge zu diesen komplexen Zwischenräumen zu finden. Diese Zugänge erschließen sich einerseits über den Begriff der Hybridität, der sich dem Phänomen des Zwischen annähert, sowie auch weiterer Begriffe und epistemologischer Metaphern, wie Grenze und Ambivalenz, die über die Art und Weise des Verhältnisses differente und differenzierte Aussagen über das Zwischen ermöglichen. Entlang der Untersuchung von Bhabhas Werk wird insbesondere die Frage im Vordergrund stehen, ob und wie Hybridität als Methode verwendet wird. Als notwendiger Teil der Frage nach der Methode von Hybridität ist die Besprechung der Ergebnisse dieser Analyse so unerlässlich, wie eine kritische Beurteilung derselben mit Blick auf aktuelle Tendenzen in der Gesellschaft anzuschließen ist. Im vierten und letzten Teil dieses Buches werden die Folgerungen aus Schlüssen des dritten Kapitels mit Blick auf ihre Relevanz für erziehungswissenschaftliche Fragen zur Bildungsphilosophie und Bildungsforschung gestellt und pädagogische Praxisfelder diskutiert. Vor allem die Diskussion um Denkfiguren der Differenz als Gelegenheit für ein abwägendes Denken zeigt das Potenzial von Figuren der arbiträren Abgeschlossenheit, die in ihrer doppelten Eigenschaft Unterstützung und Identifikation ermöglichen und doch durch ihren in sich differenten Charakter der Arbitrarität eine vereinseitigende Wahrnehmung erschweren sollen. Die Ambivalenz des pädagogischen Anspruchs lässt sich anders so auf den Punkt bringen: Denkfiguren sollen als niedrigschwelliges Angebot einerseits Zugänglichkeit anbieten und andererseits durch ihren differenten Charakter ein Mittel für ein intellektualisierendes Denken sein, über die sich ein Umgang mit Differenz und ihren Zusammenhängen auf dem Boden demokratischer Werte üben lassen. Im Vorwort zu Homi K. Bhabhas Hauptwerk The Location of Culture (deutsch: Die Verortung der Kultur) stellt die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Elisabeth Bronfen im Jahr 2000 es als zentrales Postulat heraus, im Zeitalter von »Emigration, Migration und ethnischer Hybridität zunehmend mit Hilfe von Denkfiguren (wie ›Zwischenräumen‹, ›Spalten‹ ›Spaltungen‹ oder ›Dopplungen‹) zu operieren, um die Frage der kulturellen Differenz als produktive Desorientierung und nicht als Festschreibung einer vereinnehmbaren Andersartigkeit zu verhandeln«4 . Das Ziel dieser Forschungsarbeit kann es weiterhin nicht sein, Hybridität abschließend positiv oder negativ zu beurteilen, sondern sie als Analysefolie der jeweiligen
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Bronfen in Bhabha 2000: IX.
Kapitel 1: Einleitung
Zeit und Diskurse zum Umgang mit Differenz zu verwenden. Zudem wird Hybridität als sprachliches Phänomen im Sinne der Hybridisierung als Methode hergeleitet und (im dritten Kapitel) am Beispiel des Schreibprojektes Homi K. Bhabhas besprochen. Dabei werden die aus dieser Analyse erfolgten Leerstellen, Gefahren und Potenziale von Hybridität (im vierten Kapitel) mit Blick auf Folgerungen für mögliche verantwortungsvolle Einsatzmöglichkeiten von Hybridität in pädagogischen Räumen diskutiert werden. Die methodische Vorgehensweise mag selbst unorthodox erscheinen. Sie ist darin begründet, dass die theoretischen Diskurslinien und Gegenstandsbereiche, innerhalb derer Hybridität eingeordnet wird, sich in ihrem Denken und teilweise auch in ihrem Wissenschaftsverständnis stark unterscheiden. Nicht nur diese Differenzen machen eine ebenso vielfältig angelegte Methodenauswahl notwendig, sondern auch der Effekt der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Konzepten, Theorien und Gegenstandsbereichen zeigt seine Wirkung auf mein Denken und Schreiben als Autorin dieses Buches. Die methodische Vorgehensweise wird zudem dadurch geprägt sein, dass, im Sinne von Hybridität als Zusammengehörigkeit von scheinbar Nicht-Zusammengehörigem, unterschiedliche Theorietraditionen über den indirekten und den direkten Bezug zu Hybridität in einen Diskursraum gebracht werden. Dabei ist die Vielfalt und Differenz der Theorien, aber auch die explizite Auseinandersetzung mit Rezeptionen dieser Theorien ein programmatischer Aspekt, um den LeserInnen wiederum vielfältige und differente Zugangsmöglichkeiten anzubieten. Der Erkenntnisgewinn wird sich daran messen lassen, wie mit diesen differenten Theorien und ihre sprachlichen, methodischen und strategischen Herangehensweisen eine so definierte Hybridität letztlich für ihrer gesellschaftlichen Anwendungen produktiv weitergedacht werden kann. In der Annäherung zu Bestimmungen des Phänomens der Hybridität wird dieses im weiteren Vorgehen dieser Einleitung über ihre semantische Positionierung im Zwischen diskutiert. Im Sinne eines Phänomens, in dem Differenz und Zusammengehörigkeit in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander gedacht werden, liegen die Einsatzpunkte von Hybridität nicht in Fragen nach eindeutigen Bestimmungen, deren notwendige Funktion in der Gesellschaft unbestritten ist, sondern in Aspekten des Zwischens, die auf Bedingungen und Prozesse des Werdens in der Gesellschaft verweisen. Hybridität kann insofern sowohl auf einen epistemologischen Raum der Begegnung von Differenzen hinweisen als auch auf eine vermittelnde Herangehensweise an unterschiedliche, sich gar scharf voneinander distanzierende (theoretische und politische) Positionen. Dieses Zwischen ist daher nicht als harmonisch zu denken, vielmehr kennzeichnet es einen spannungsgeladenen Raum, da verschiedene Positionen, die vor dem Hintergrund unterschiedlicher gesellschaftlicher Machtkontexte aufeinanderstoßen, in bestem Fall verhandelt wer-
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den müssen. In diesem Buch werden dem folgend Fragen diskutiert werden, wie solch ein Raum des Zwischen gedacht werden kann – und wie Zugänge geschaffen werden können, die Menschen in ihrer Verschiedenheit ansprechen und dazu bringen, ihre Erfahrungen in notwendiger Abhängigkeit zu Erfahrungen anderer zu sehen. Ausgangspunkte von Hybridität können auch wieder in Worten identifiziert werden, durch die Geschichte, Theorien, Zeiten und Phänomene eingeteilt und beurteilt werden. Im Sinne der schnellen Aufmerksamkeit und Zugänglichkeit werden Begriffe als Schlagworte in einen Rahmen gefasst, der meistens von dramatisierender Binarität und Gegensätzlichkeit geprägt ist: Wir und die, Identität und Spaltung, Orient und Okzident, Allgemeinheit und Singularitäten. Sprachtheoretisch verdeutlicht das Bindewort »und« zwar ein gewisses Verhältnis, konstatiert jedoch auch die einzelnen Entitäten. Wie in der Überschrift des zweiten Kapitels (»Die Hybridität der Grenze«) steht Hybridität für die Betonung des Verhältnisses, des Zwischen, das durch Verflechtungen, Spannungen, Ambivalenzen und Spaltung gekennzeichnet sein kann. Ein darauf aufbauender elementarer Ansatz ist die Betonung machtvoller materieller Bedingungen und Strukturen, in denen Wörter, Begriffe und Metaphern eingebettet sind. Schlagwörter und Metaphern weisen zwar in griffiger Weise auf Trends und Tendenzen in der Gesellschaft hin, jedoch stellen sie auch immer eine Reduktion dar. In diesem Sinne können sie als Hinweis genutzt werden, auch für weiterführende Spielarten mit Sprache, jedoch benötigen sie umso mehr eine Analyse der Hintergründe, ihrer theoretischen Annahmen und Konsequenzen im Sinne einer Einbettung dieser in materielle gesellschaftspolitische Bedingungen. Vereinfacht gesagt benötigen Gegenstandsbereiche und Einheiten die Frage nach den Prozessen im DaZwischen. Ebenso zeigt sich, dass diese Prozesse nicht ohne die begrifflichen Feststellungen, von denen sie sich teilweise distanzieren möchten, gedacht werden können. Hybridität ist zudem ein Phänomen, das durch seine Bedeutungsvielfalt und Anschlussstellen viele Bereiche des Lebens betrifft und dementsprechend in vielen wissenschaftlichen Disziplinen besprochen wird. Der folgende Forschungsstand wird daher von einer transdisziplinären Rezeption geprägt sein. Dem Erziehungswissenschaftler Paul Mecheril zufolge weist Hybridität »auf Phänomene der Zusammensetzung hin« und beschreibt »einen Mischzustand, eine Art Zusammensetzung aus Unvereinbarem, eine Zusammenfügung aus als unvereinbar Angesehenem, die die Trennung der Identitäten durch Neuformierung überwindet«.5 Der Begriff der Hybridität ist demnach einer, der dem Wortsinn nach für einen Zusammenhang steht, der ersten allgemeinen Annahmen zuwiderläuft, indem er vermeintlich bestehendes Wissen durch hybride Tatsachen in Frage
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Mecheril 2011: 45.
Kapitel 1: Einleitung
stellt. Er beinhaltet somit das Moment des Zusammengehörigen eines scheinbar nicht Zusammengehörigen. Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz bespricht Das hybride Subjekt in seinem gleichnamigen Werk im Kontext von Transformationsprozessen und der Moderne. Er konstatiert, dass selbst das »›neue Subjekt als historische Hybridbildung nicht neu«6 sei, da sich in ihm kulturelle Spuren der vormodernen und modernen Subjektgeschichte »akkumulieren und neu arrangieren«7 . Diesen Prozess überträgt er ebenso auf bisherige Konstellationen organisierter Moderne, bürgerlicher Moderne und der Postmoderne. Diese Ergebnisse von Transformationsprozessen aus der Vergangenheit der Moderne in ihre Zukunft sieht Reckwitz als mögliche Projektionen und Anzeichen von Hybridbildungen. So sorgten die permanenten Selbsttransformationen der hybriden Kultur der Moderne im Sinne eines befremdeten Blicks auf sich selbst für den beständigen Umsturz eigener kultureller Fixierungen.8 Der befremdete Blick auf sich und seine Bedingtheit erscheint als ein wesentlicher Aspekt. Obwohl einige oben skizzierte Differenzlinien zwischen beiden Denkschulen, zum Beispiel im Umgang mit den Lehren der Geschichte und Diskursen, markiert werden können, so teilen sie doch gemeinsame Gegenstände der Referenz, die sie auf ambivalente Weise verbinden. Hybridität erhält ihre Prominenz und Relevanz im Zusammenhang mit wahrheitspolitischen Diskursen der internationalen Kulturwissenschaften um Fragen der Mischung, Mehrdeutigkeiten und Unreinheiten. Auch zunehmend andere wissenschaftliche Disziplinen, zum Beispiel die Soziologie sowie die Erziehungswissenschaft nehmen sich dieser Begrifflichkeit in ihrer sprachlichen und gesellschaftspolitischen Dimension an. Mit Rekurs auf Ulrich Beck stellen sie heraus, dass die Soziologie eine Denkweise des Sowohl-als-auch benötige. Ihre Methodologie folge insofern einer doppelten Logik, die das Sowohl-als-auch und das Entweder-oder umfasse.9 Die inhaltliche Füllung der Begriffssemiotik der Hybridität in Hinblick auf ihre soziale Komponente schafft Frank Hillebrandt, indem er die Verwobenheit von Kommunikation und Materialität, ähnlich wie die Verschränkung von Sinn und Körper, als per se gegeben ansieht. Daraus leitet er ab, dass »jede soziale Praxis von Grund auf hybrid ist«.10 Christoph Laus Ausführungen zu Hybridität wird als die Anerkennung des Einzugs einer »Politisierung der Unsicherheit« gelesen, die als »entscheidendes Merkmal reflexiver Modernisierung […] eine Reaktion auf zunehmende Hybriditätskonflikte [sei], die sich mit klassischen Verteilungskämpfen
6 7 8 9 10
Reckwitz 2006: 628 und vgl. auch ebd. 2015:187ff. Reckwitz 2006: 628. Vgl. Reckwitz 2006: 642. Vgl. Kron/Berger 2015: 7ff. Hillebrandt 2015: 151.
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Zugänge zu Hybridität
überlagern«11 . Damit verweist er auf die epistemisch-diagnostische Ebene von Hybridität und ihre politisch normativen Effekte, da damit einhergehende Unsicherheiten als probates Mittel zur Grundlage für Beschwichtigungs- und Dramatisierungsstrategien genutzt würden.12 In diesem Sinne wird Hybridität von Alexander Bullik und Markus Schroer in einen Zusammenhang mit geschaffenen Zwischenräumen gestellt, indem sie Hybridität beschreiben als ein »Etwas, das den Kategorien des zuvor Getrennten zuwider läuft«.13 Aus Sicht einiger Kultursoziologen wie Bernhard Giesen, Francis Le Maitre und Nils Meise wird Hybridität im Sinne von »Zwischenlagen« als »eine sozialkonstruktivistische Funktion als Urgrund der gesellschaftlichen Wirklichkeit«14 verstanden. In der Frage über den Zusammenhang von Hybridität und Grenze konstatiert der Soziologe Athanasios Karafillidis, dass gerade Elemente, die sich der Eindeutigkeit entziehen, dem ordnenden Element in der Welt die Grundlage und Dynamik liefern würden. Die Eindeutigkeit steht hierbei in direkter Abhängigkeit zu den Zwischenlagen, da diese sich immer wieder bedingen. Karafillidis zufolge sind »Unterscheidungen als Bedingung der Möglichkeit zum Erkennen von Hybridität« notwendig sowie auch die Gewissheit, dass »Grenzen nicht nur trennen, sondern auch verbinden«.15 Zwischenräume16 siedeln sich nämlich zwischen zwei Entitäten an. Begriffsphilosophisch wird Hybridität als »epistemische Entgrenzung«17 geltender Dichotomien verstanden, die Vermischungen und Verknüpfungen als eine immer schon dagewesene reale Perspektive anerkennt. Es geht dabei um eine Perspektive auf die Welt, die eine andere Beschreibung dieser bereithält, indem sie darauf hinweist, dass unterhalb der »bisher gültigen Sphäre getrennter Welten […] immer schon die Sphäre der Hybriden, der Verknüpfungen und Monster«18 existiere. Die Ambivalenz des Hybriditätsbegriffs zeigt sich zwischen dem semantischen Spagat einer rassistisch pejorativen Konnotation und einem verheißungsvollen Zukunftsversprechen19 . Die konsultierte Fachliteratur zum Hybriditätsbegriff führt ihre bedeutsamen Anfänge dabei zumeist auf das 19. Jahrhundert zurück.20 In diese Zeit wird das aus der Antike hergeleitete Adjektiv »hybrid« (aus dem lat. hybrida: Mischling; Zwitterwesen, Bastard) im Kontext einer sich als aufgeklärt und naturwissenschaftlich verstehenden Fachterminologie der Biologie eingeordnet. Gleichzeitig wird sein Potenzial von der biologischen Ebene hinsichtlich einer postkolo11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
Kron/Berger 2015:10. Vgl. Lau 2015: 113. Bullik/Schroer 2015: 202. Giesen/Le Maitre/Meise 2015: 55. Karafillidis 2015: 18. Eine bemerkenswerte Perspektive auf das Zwischen siehe auch Adelson 2015:125ff. Lau 2015: 112. Lau 2015: 112. Kroesen 2018: 45ff. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005, Mecheril 2011, Struve 2011.
Kapitel 1: Einleitung
nialen Kritik an der Ideologie der Reinheit von Rassen (als rassistische Imagination und real existierende Kategorie der Diskriminierung) erweitert. Seine Entwicklungsmöglichkeiten werden im postkolonialen Diskurs gerade in der Loslösung vom traditionellen Reinheitsanspruch der Materialien aufgenommen. Als kritische Intervention wendet sich der neu konnotierte Hybriditätsbegriff gegen sogenannte ›natürliche‹ Kategorien, deren realpolitische Konsequenzen in den Mittelpunkt des Rassendiskurses gerückt wurden. Vor diesem Hintergrund verortet der Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha den Hybriditätsbegriff in der sozialen Praxis als exotische Lust auf das Fremde und zugleich als »Angst vor der Infragestellung von soziokulturellen Herausforderungen«.21 Die postkoloniale Perspektive dehnt den Hybriditätsbegriff auf die Frage nach hegemonialen Verhältnissen, kulturellen Dynamiken und performativen Handlungsmöglichkeiten aus. Bedingt durch englischsprachige Kolonien und das Verhältnis zu den sogenannten Mutterländern beginnt der postkoloniale Diskurs um Hybridität deutlich früher im angelsächsischen Raum als im deutschsprachigen Raum, das seit fast zwei Jahrzehnten (um das Jahr 2000) und nicht zuletzt durch das Buch Kien Nghi Has zum Hype um Hybridität (2005) eine Konjunktur erfährt. Dieser Hype wird auf verschiedene Ursachen und Phänomene zurückgeführt. Dabei wird Hybridität als Phänomen der Überschreitung des »universellen Anspruch[s] binär unterscheidender Schemata«22 verstanden, sowie auch als Abwendung von Konstruktionen und Deskriptionen sozialer Prozesse, welche an antagonistischen Denkschablonen des ›Entweder-Oder‹ orientiert sind.23 Ein aktuelles gesellschaftspolitisches Beispiel hierfür wäre, dass die oftmals in selbstverständlicher Weise gestellten Frage danach, ›wo ein Mensch herkommt‹, dessen äußeres Erscheinungsbild nicht dem der Majorität entspricht, zunehmend kritisiert und die darin liegende Diskriminierung offengelegt wird. Bemerkenswerter Weise gibt es Parallelen zwischen dieser aktuellen Diskussion um den Umgang mit Identität und Hybridität und Beispielen aus der Antike zur sogenannten Minderwertigkeit, Diffamierung bis hin zum Ausschluss von Redefreiheit und politischer Macht im Fall hybrider Identitäten. Platon bescheinigte hybriden Identitäten als sogenannten Bastarden gar in ihrem angeblich »falschen Charakter eine Unfähigkeit zur Wahrheitssuche«24 . In Bezug auf Identitäts- und Beziehungsformen hat Hybridität immer mehr eine dekonstruktive Funktion, die als Denkmodell auf feste Denkschemata aufmerksam macht und dabei vielfältige Elemente der Identitätskonstruktion aufdecken kann.
21 22 23 24
Ha 2015: 129 und Ha 2005: 15 und weiterführend ist hier Ha 2010. Mecheril 2011: 47f. Vgl. Mecheril 2011: 47f. Vgl. Kroesen 2018:46.
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Zugänge zu Hybridität
Die zentrale und notwendige Herausforderung der interkulturellen Pädagogik sehen Wissenschaftler wie Mecheril daher in der Anerkennung und Untersuchung von »sprachlichem Grenzgängertum, multiplen Identitäten und Mehrfachzugehörigkeiten«25 . Bevor die pädagogischen Konsequenzen von Konzepten wie Hybridität diskutiert werden, soll zunächst der Diskurs um Hybridität als Phänomen umrissen werden. Der Hype um Hybridität lässt sich jedoch nicht bloß, wie oben ausgeführt, damit begründen, dass dieser als Analysebegriff für pädagogisch soziologische Beobachtungsverfahren nützlich ist, sondern weil er auch als diskutierenswertes Modewort der global kapitalistisch orientierten anything goes-Gesellschaft dient. Das von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule beschriebene Phänomen der Kulturindustrie richtet sich über Medien, Mode, Werbung, Geschäftsleben und das Internet an ein Publikum, welches Charakteristika der Hybridität wie Kreativität, Kreuzung, Neuschöpfung und Rekreation zunehmend in Bereichen des Konsums auslebt. Das »Spiel mit Differenz«, »kulturellen Synergien« und »betörenden Inszenierungen der Differenz als Code« werden nunmehr zu »sexy« »Waren mit Bedeutung und Bedeutung mit Produkten«26 . Es wird deutlich, dass scheinbar neue Konzepte, wie Hybridität, welche zur Wiedergabe des Zeitgeistes dienlich sind, nicht isoliert, sondern vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Entwicklungen auch auf ihre Gefahren und Potenziale zu untersuchen sind. Gerade für die Arbeit an Konzepten mit pädagogischer Verantwortung scheint eine Verbindung von zeitgenössischen Phänomenen, wie Hybridität, mit einem kritischen Blick auf gesellschaftliche Tendenzen unabdingbar zu sein. Aus der kulturwissenschaftlicher Perspektive heraus versteht Thomas Schwarz Hybridität darüber hinaus als einen Zustand, der aus der Hybridisierung entstehe. Hybridisierung würde demnach einen diachronen Prozess kultureller Fusionierung beschreiben.27 Mit Rekurs auf die Germanistin Gabriele Dürbeck wird Hybridität in ihrer Funktion als Brückenkonzept konstatiert, welches sich für die Analyse differenter »Korpora wie Kolonial- und Migrationsliteratur eignet«.28 So, wie der Begriff der Hybridität semantisch Zusammenhänge in ihrer Widersprüchlichkeit und Brüchigkeit darstellt, so sehr wird Hybridität als epistemologischer Raum des Zwischen und als Dritter Raum (Bhabha) signifiziert. Der Begriff der Hybridität macht also nicht nur auf begrifflicher Ebene auf die Zusammengehörigkeit von scheinbar Differentem aufmerksam, sondern verweist viel mehr auf das Potenzial von Synergien und das Erschaffen von Neuem, das über das Konzept des Raumes
25 26 27 28
Mecheril 2011: 46. Mecheril 2011: 47. Vgl. Schwarz 2015: 163. Dürbeck in Schwarz 2015: 163.
Kapitel 1: Einleitung
gefasst wird. Vor diesem Hintergrund wird der Begriff besonders interessant, da er dadurch einerseits für pädagogische Anwendungen, vor allem in Fragen von Differenz und Migrationsgesellschaft, verheißungsvoll erscheint, andererseits seine steile Karriere, vor allem als Code der Differenz und der Singularität als »sexy« Bild des globalen Kapitalismus einer Kritik zu unterziehen ist. Eine besondere Rolle hat Hybridität in der Rezeption mit Bezug auf die Werke des postkolonialen Kulturund Literaturwissenschaftlers Homi K. Bhabha, wie im folgenden Abschnitt kurz skizziert wird. Der Begriff der Hybridität wird seit den 1990er Jahren in den internationalen geisteswissenschaftlichen Disziplinen zumeist mit Bezugnahme auf Homi K. Bhabhas Ansatz diskutiert.29 Als Vorläufer des Hybriditätsbegriffs nach Homi K. Bhabha werden teilweise die Literatur karibischer Intellektueller wie Edward K. Brathwaite (1971) und Wilson Harris (1967) gesehen, deren Verwendung der Hybridität im Sinne der Kreolisierung sich durch dialektische Teleologie und Synthetisierung kennzeichnet.30 Bhabha selbst führt seine Vorstellung von Hybridität unter anderem auf den russischen Literaturwissenschaftler Michail Bachtin zurück, der Hybridisierung als eine ideologiekritische Formel für einen subversiven kulturellen Austausch ansieht. Bachtin identifiziert die Literatur, im Besonderen den Roman, in seiner »synkretische[n], gemischte[n] Form als ›hybrides Gebilde‹«31 , in dem die Differenz über die Vielfalt der Formen, des Stils und der Wertungshorizonte einen Raum erhalte und dadurch weitere Räume für soziale Sprachen erschaffe.32 Bhabhas Konzept der Hybridität baut auf diesem ideologiekritischen Ansatz auf und stellt Möglichkeiten und Räume der Handlungsmacht und Widerständigkeit ins Zentrum seines Hybriditätsverständnisses. Vor dem Hintergrund der Diagnose von zunehmenden Spaltungen und Fragmentierungen in unserer Zeit erscheint Hybridität in ihrer spannungsvollen Semantik zwischen Differenz und Zusammengehörigkeit ein vielversprechender Terminus zu sein. Seine Verwendung von vielfältigen Disziplinen mit Bezug auf ähnliche, aber auch differente Gegenstandsbereiche wird mit Blick auf ihre gesellschaftliche Relevanz als Signum ihrer Relevanz und Allgegenwärtigkeit interpretiert. Die Bedeutsamkeit von Hybridität als Verflechtungsfigur zeigt sich nicht zuletzt durch ihre strukturelle Nähe zu den Erziehungswissenschaften, die durch die Breite des Forschungsfeldes ebenso vielfältige Anschlussmöglichkeiten eröffnen, sondern auch durch sie als paradoxale Figur, die einen zentralen Aspekt pädagogischer Räume betrifft. 29 30
31 32
Vgl. Huddart 2006: 149, Byrne 2009: ix, Struve 2013: 7. Bhabha grenzt sich in diesem Punkt explizit davon ab, indem er auf inkommensurable Aspekte kultureller Differenz beharrt, die Minoritäten gerade vor Assimilation durch die hegemoniale Kultur schützen würde. Vgl. dazu Castro Varela/Dhawan 2005: 94. Bachtin 1979: 162. Vgl. Bachtin 1979: 244ff.
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Zugänge zu Hybridität
Der Bildungsauftrag pädagogischer Einrichtungen ist ein notwendiges Kriterium für die Bedeutung pädagogischer Räume für die Auseinandersetzung mit Hybridität. Dieser beinhaltet mindestens zwei Aspekte: Zum einen darf und soll er gesellschaftspolitisch relevante Themen vor dem Hintergrund demokratischer Werte der Differenz und Verschiedenheit bereitstellen, zum anderen stehen eben diese pluralistischen Werte auf dem historisch gewachsenen Boden allgemeiner Menschenrechte, von wo aus Differenzen verhandelt werden können. Zu den prägnantesten Charakteristika von Hybridität gehören Differenzen, aber auch die Zusammengehörigkeit von Differenzen. Diese paradoxale Figur wird jedoch nicht im Sinne einer dialektisch harmonischen Auflösung begriffen, sondern vielmehr als eine ständige und reibungsvolle Verhandlung dieser Differenzen. Anders als in homogenisierten und abgeschlossenen Räumen bzw. sogenannten Filterblasen im Netz kennzeichnen sich Auseinandersetzungen mit Themen, die Polemik und Spaltung provozieren, in staatlichen Bildungseinrichtungen durch autorisierte ModeratorIinnen, die in ihrer pädagogischen Verantwortung letztlich das Zusammengehören von scheinbar Nicht-Zusammengehörigem im Sinne einer Hybridität von Gesellschaften herausstellen können. Bevor es jedoch um Fragen der Anwendung und Techniken von Hybridität in der Gesellschaft gehen kann, wird in diesem Buch eine grundlagentheoretische Beschäftigung mit Hybridität für das Fach der Erziehungswissenschaft erfolgen, aus der heraus Vorschläge für einen anwendungsbezogenen Umgang mit Hybridität in der Gesellschaft entwickelt werden Die Erziehungswissenschaft kennzeichnet sich, ähnlich wie der Terminus der Hybridität, wie kaum eine andere Disziplin durch eine große Breite an unterschiedlichen Fachbereichen und Untersuchungsgegenständen aus, die einerseits bei einer oft geforderten Schärfung des Profils versagt und Streit um Begriffe, wie z.B. Bildung, Kultur, Theoriekanon usw. provoziert, andererseits aber in der breiten Aufstellung von Themen und differenten, gar widersprüchlichen Denktraditionen über eine große Stärke verfügt. Als Disziplin hat sie zwischen Belangen der Gesellschaft (und diesbezüglichen Theorien) und ihrer Übertragung auf die Frage von Bildung, Lernen und Erziehung eine bedeutungsvolle Zwischenposition inne, die die Bedeutung ihrer Theoriearbeit für gesellschaftliche Institutionen unabdingbar macht. Vor dem Hintergrund des oben genannten wird die Erziehungswissenschaft als Bereich zwischen wissenschaftlicher Theorie und ihrem Ziel verortet, wissenschaftlich gesicherte Grundlagen für Anwendungsbereiche im Bildungssektor und in anderen öffentlichen Orten der Gesellschaft zu schaffen und Übersetzungsmöglichkeiten zu bieten. Hybridität ist im Rahmen ihrer Relevanz für die Erziehungswissenschaft und Pädagogik aber nicht nur über ihr analytisches Potenzial für Verhältnisbestimmungen von Bedeutung, sondern kann zudem als Figur der Verflechtung eine selbst-
Kapitel 1: Einleitung
bewusste Konstatierung von Positionen im Zwischen repräsentieren, die den erkenntnistheoretischen Wert im Moment der Verbindung von zuvor Getrenntem betont. Vor dem Hintergrund der Frage nach Theoriebildung bzw. einer Doing Theory ist danach zu fragen, welche theoretischen und praxeologischen Gegenstandsbereiche globale Perspektiven, wie zum Beispiel die Postcolonial Studies, zur Erweiterung und Differenzierung diskursiv etablierter Wissensbestände und -logiken jenseits nationaler Grenzen deutschsprachiger Erziehungswissenschaften beitragen können. Hybridität ist daher vor dem Hintergrund ihrer Rahmung in den Postcolonial Studies die begriffliche Fassung eines Denkens und einer Wissenschaftsethik mit dem Ziel, nationale oder disziplinäre Abgrenzungen, die in einem machtvoll konkurrierenden Geltungsverhältnis zueinanderstehen, zu überwinden. In diesem Sinne kann sich die Pädagogik in mehrfacher Hinsicht auf einen selbstbewussten Stand stellen. Die Erziehungswissenschaftlerin Kerstin Jergus argumentiert, dass die Pädagogik aus ihrer »universalistisch konzipierten Form des menschlichen Subjekts und dessen pädagogischer Hervorbringung ihren Anlass und ihre Rechtfertigung«33 ziehen kann. Mit Bezug auf María do Mar Castro Varela zitiert sie: »Die Geschichte der Pädagogik, ihre Praxen, ihre dominanten Paradigmen und ihre Institutionen gewähren uns einen Einblick in Erziehung als soziale Technik und Bildung als politische Strategie«.34 Die beschriebene universelle Verankerung der Pädagogik und ihrer Untersuchungsgegenstände in den Institutionen der gesamten Welt sind zudem ein Argument für eine Disziplin wie die Erziehungswissenschaft, sich weniger über die theoretische Abgrenzung zu anderen disziplinären und transnationalen Zugängen zu definieren, sondern vielmehr in ihre unabdingbaren Position im Zwischen zu begreifen. Ein bedeutsamer Einsatzbereich der Erziehungswissenschaften ist es, gesellschaftspolitische Fragen für zukünftige Weichenstellungen auf die Analyse von Bildungsinstitutionen, Bildungstheorie oder -empirie zu übertragen. Ihre Zugänge über geschichts-, kultur-, sozial-, ökonomie-, technologie-, schulpädagogisch-, literatur- oder medientheoretische Ansätze können in ihrer theoretischen Breite Anlässe und theoretische Zugänge bieten, um über ihren verantwortungsbewussten Einsatz in der Gesellschaft nachzudenken und für andere Kontexte und institutionelle Ebenen aufzubereiten. Die Stärke dieser Zwischenposition in ihrer Vermittlungsarbeit auf verschiedenen Ebenen ist den Erziehungswissenschaften und der Pädagogik immanent. Mit Blick auf die zunehmende Verflechtung einer globalen Welt und der Überforderung Vieler mit diesen Entwicklungen braucht es Instanzen der Vermittlung dieser machtvollen Konstruktionen, die – im Sinne der Hybridität –einen Umgang mit Differenz,
33 34
Jergus 2017: 298. Jergus 2017: 298 nach Castro Varela 2016: 48.
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Zugänge zu Hybridität
Paradoxien,35 der subjektiven Bedingtheit und der Potenziale darin aufzeigen können. Möchte man sich Hybridität als negatives Konzept zu binärem Denken und Abschließungen sowie als positives Konzept des Zwischens und dem Prozess des Werdens annähern, so gilt es, sich der Bedingtheit der eigenen Perspektive bewusst zu machen und aktiv Sichtweisen zu wählen/einzunehmen, die sowohl über die eigenen Setzungen und Kategorien hinausgehen als auch andere Diskurse einschließen. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, sollte also einerseits ein größerer transnationaler Kontext in den Blick gerückt werden. Andererseits braucht es eine Annäherung an Zwischenräume über die Analyse des ›Wie‹. Das bedeutet nicht nur die Zurkenntnisnahme anderer Perspektiven, sondern auch das Hineinversetzen in andere Perspektiven und das Verfolgen dieser über Inhalt und Form. Die These der vorliegenden Forschungsarbeit ist, dass die Beschäftigung mit Begriffen und Konzepten wie Hybridität vor dem Hintergrund wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Entwicklungen so problematisch wie notwendig ist. Die Unter- bzw. Überbestimmtheit von Hybridität als Begriff sollte nicht zu ihrer Verwerfung führen, sondern einerseits eine inhaltliche Schärfung und Erweiterung erfahren (in ihrer Geschichtlichkeit im globalen Rahmen begriffen), andererseits aber auch das Potenzial eines solchen paradoxalen Phänomens über ihre Methoden und Strategien offenlegen. Vor dem Hintergrund eines solchen Anspruchs werden die Ergebnisse des Vorgehens kritisch eingeordnet und im Sinne von produktiven Anwendungen mit Folgerungen bedacht. Das Ziel ist die Übersetzung von Hybridität als Verflechtungsfigur in eine verständlichere und doch nicht vereinfachende Logik, die in ihrer gesellschaftlichen Relevanz (im Umgang mit dem Anderen), ihrem philosophischen Gehalt (in Bildung als Kategorie der Unschärfe) und ihrem Potenzial (durch künstlerische Ansätze) für die Pädagogik fruchtbar gemacht werden soll. Daher gilt es, an exemplarischen Begriffen und Metaphern der Differenz wie Hybridität, Grenze, Dopplung und weitere einen Ausschnitt ihrer Bedeutungsvielfalt und des Zusammenhangs im Sinne ihres erkenntnistheoretischen Potenzials für gesellschaftlich relevante Themen zu besprechen und sie für pädagogische Räume weiterzudenken. Pädagogische Räume werden als kulturelle Räume der Vermittlung zwischen Bildung und Gesellschaft verstanden. Diesen Zwischenraum gilt es insofern zu sehen und zu gestalten. Der analytische Gehalt zeigt sich in einem doppelstrategischen Vorgehen über eine sukzessive Kontextualisierung und nähere Bestimmung von Hybridität im Verlauf des Buches, aber auch in der exemplarischen Herleitung der Denkfigur Die Hybridität der Grenze oder Die Kunst des Werdens aus den Ergebnissen des gesamten Buchs selbst. Am Beispiel dieser Denkfigur der Differenz soll die Übung 35
Vgl. Wimmer 2017: 345ff.
Kapitel 1: Einleitung
eines Denkens im Zwischen diskutiert werden und inwiefern solche Figuren des Denkens und der Erfahrung als erkenntnistheoretische Folien und pädagogische Unterstützungsstruktur zu einer Urteilsfindung beitragen können, die auf einer Denkbewegung beruht, welche die Aspekte der Differenz als prinzipielle Verbindung zwischen Subjekten der Welt begreift.
27
Kapitel 2: Die Hybridität der Grenze – Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Aus der Serie The Wire: Redaktionsgespräch zur geplanten Serie über Probleme von Schulen: City Editor (Gus) Hayes: »You want to look at who these kids reallyare, you got to look at the parenting or lack of it in the city, the drug culture, the economics of the neighborhoods. I mean, it’s like you’re up on the corner of a roofand you’re showing some people how a couple of shingles came loose, and meanwhile a hurricane wrecked the rest of the damn house.« Scott Templeton: »You don’t need a lot of context to seriously examine anything.« Executive Editor James C. Whiting III: »I think Scott is on the right track. We need to limit the scope, not get bogged down in details.« Haynes: »To do what? To address the problem or to win a prize? I mean, what are we doing here?« Whiting: »Look, Gus, I know the problems. My wife volunteers in a city school, but what I want to look at is the tangible, where the problem and solution can be measured clearly. I don’t want some amorphous series detailing society’s ills. If you leave everything in, soon you’ve got nothing.«1 Das Ziel dieses zweiten Kapitels ist es, eine nähere Bestimmung des Phänomens der Hybridität zu formulieren. Dieses erfolgt über ein doppeltes Vorgehen, in dem Hybridität zunächst explizit als Begriff zum einen eine Kontextualisierung in differente theoretische Diskurse erhält und zum anderen über die Diskussion der Bedeutung der Hybridität in diesen Diskursen eine eingehende Bestimmung erfährt. In dieser Beschäftigung erhält Hybridität als negativer und positiver Begriff eine inhaltliche Schärfung. Zudem wird seine Verwendung über die nationale und eurozentrische Perspektive hinaus mit Bezug auf die Postcolonial Studies in eine größere Rahmung gefasst. Neben ihrer besonderen Bedeutung für das Konzept der Kultur
1
Ahrens 2011:170.
30
Zugänge zu Hybridität
wird Hybridität zuletzt von der begrifflichen Ebene weg als paradoxale Metapher besprochen und findet eine dekonstruktive Anwendung in Bezug auf »Grenze«. Die Grenze wird hybridisiert. Unter Einbezug historischer und diskursiver Verläufe wird am Beispiel des Terminus der Hybridität dargelegt, wie Termini in ihrer semantischen Bestimmung auch immer in Abhängigkeit von machtvollen Zuschreibungen und Ordnungssystemen stehen. Darüber hinaus soll deutlich werden, inwieweit Hybridität nicht nur in der Geschichte verschieden rezipiert wurde, sondern auch in ihrer semantischen Uneindeutigkeit und ihrem Prozesscharakter direkt und indirekt immer schon Teil eines epistemologischen Diskurses gewesen ist. Im wissenschaftlichen Diskurs wird Hybridität in diesem Kapitel im Anschluss an postmoderne, postkoloniale und poststrukturalistische Theorien als kritischer Einsatz gegen ein Denken in eindeutigen Unterscheidungen eingeordnet, dessen Effekte historisch in der Barbarei des Nationalismus, des Kolonialismus und in hegemonialen Machtstrukturen verortet werden. In dieser Auseinandersetzung um hybride Verläufe der Weltgeschichte hat die Kultur eine bedeutende gesellschaftspolitische Rolle inne. Hybridität findet im Diskurs um Kultur nicht nur häufige Verwendung, vielmehr spiegelt auch die Verwendung des Kulturbegriffs die Frage von Feststellung und Weiterentwicklung innerhalb machtvoller Ordnungen wider.2 Zur weiteren Bestimmung von Hybridität wird diese (in poststrukturalistischer Manier) in den Kontext ihres scheinbaren Gegenbegriffs (Grenze) gestellt. Während Hybridität traditionell als Bezeichnung der Uneindeutigkeit und der Verbindung von bisher Unzusammengehörigem gilt, wird die Grenze als Begriff der Festlegung und Differenzierung eingeordnet. Über eine differenziertere Darlegung des Grenzbegriffs wird herausgestellt werden, inwieweit auch diese Rezeption eine verkürzte ist und sich bei näherer Betrachtung als durchaus konstruiert und fragil herausstellt. Hierfür wird er (der Begriff der Grenze) in seiner ganz eigenen metaphorischen Vielfalt und Widersprüchlichkeit entfaltet und somit nicht mehr als Gegenbegriff, sondern als ein der Hybridität immanenter Begriff diskutiert.
2.1.
Hybridität als »Signatur ihrer jeweiligen Zeit«
Im ersten Kapitel wurde bereits konstatiert, dass in der Mehrheit der aktuellen Fachliteratur zum Hybriditätsbegriff seine Ursprünge auf seine biologischen Verwendungszusammenhang zurückgeführt werden. Die Verflechtung von zwei unterschiedlichen Entitäten erhielt zunächst den Ausdruck »Bastardisierung«, der 2
Kultur wird jedoch auch hier frei nach Theodor W. Adorno in ihrem Doppelcharakter begriffen, durch welchen sie nicht nur auf Vergesellschaftung hinweist, sondern auch auf das Potenzial der Veränderung.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
vor dem Hintergrund rassistisch orientierter Ansätze mit einem hierarchisch kolonialistischen Weltbild zu lesen ist.3 Im 19. Jahrhundert wird diesem Ausdruck im Anschluss an eine zunehmende »Rationalisierung und Verwissenschaftlichung des Sozialen«4 eine gänzlich andere positive normative Beurteilung an die Seite gestellt. Was über den Begriff der Bastardisierung als »Inkompatibilität und kulturelle Unreinheit«5 stilisiert worden ist, ist mit Hybridität zur Formel für evolutionäre Entwicklung und Leistungssteigerung geworden. Schon an dieser Differenz zwischen diesen beiden Ausdrücken und Beurteilungen wird deutlich, dass die Entstehungsgeschichte von Hybridität vor dem Hintergrund der jeweiligen Zeitgeschichte und ihres Menschen- und Weltbildes situiert und konstituiert ist. Der Ausdruck selbst und seine Semantik enthalten somit ebenfalls über ihre Verwendung Aussagen über die jeweilige Zeit und die (auch politisch gewollten) dominanten Konzepte, die sich im historischen Narrativ unter vielen anderen durchgesetzt haben. Entlang der Rezeptionsgeschichte des Hybriditätsbegriffs gibt es neben der pejorativen »Bastardisierung«6 , bis hin zur steilen Karriere im biologisch-technischen Bereich als technologische »Leistungssteigerung« und medizinische »Heilsofferte«7 , eine weitere Herleitung des Begriffs. In seinem Standardwerk Hype um Hybridität führt der Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha den Begriff der Hybridität auf seinen Kontext in der Antike zurück. Im Folgenden wird diese Verortung von Hybridität mit Bezug auf Has Aussage8 zur Hybridität als »Signatur ihrer jeweiligen Zeit«9 weitergedacht. Die altgriechische Bedeutung von Hybridität wird etymologisch auf ihre Beziehung zur griechischen »Hybris« zurückgeführt und verweist auf ein spezifisches Verhältnis zwischen Menschen und Göttern. Ihre negativ konnotierten Bedeutungen als Frevel, Schändung, Verblendung, Hochmut oder Vermessenheit werden auf die angeblich sündhafte innere Natur des Menschen zurückgeführt, welche sich im Akt der Infragestellung einer göttlichen Ordnung bzw. höheren Metaphysik äußert.10 Diese Substantive weisen nicht nur auf eine Form des Umgangs mit bestehenden Dingen, sondern betonen vielmehr eine Verhaltensweise des Menschen in Bezug auf Autorität (in diesem Fall der Götter). Die negative Bewertung dieses Verhaltens (als hochmütig, zügellos) deutet auf eine damals bestehende Norm im Verhältnis von Mensch und Autorität, welches als jenseitig des Gesetzten, das
3 4 5 6 7 8 9 10
Schwarz 2015:166. Ha 2005: 15. Ha 2005: 15. Ha 2005: 14. Mecheril 2011: 48. Im Anschluss an Schneider (2000). Ha 2005: 14. Vgl. Kluge 1989: 322.
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Zugänge zu Hybridität
heißt grenzüberschreitend gedeutet wird, und aus der Perspektive der ordnungsgebenden Autorität eine negative Bewertung erhält. Sprachtheoretisch kann die semantische Differenz zwischen den Begriffen »Hochmut«11 und »Mut« in der Überschreitung der bestehenden Erwartung gelesen werden. Der Sachbestand, der den gemeinhin als positiv konnotierten »Mut« von dem negativ bewerteten »Hochmut« unterscheidet, ist die Einschätzung des machtvoll Bewertenden. Diese Infragestellung der Legitimation von Autoritäten ist spätestens durch die Begründung der Vernunftbegabtheit des Menschen und Möglichkeiten ihrer Autonomie gegen die heilige Ordnung forciert worden. Diese Infragestellung jeglicher auch rationalistischer Autoritäten ist spätestens durch ein postmodernes und poststrukturalistisches Denken radikalisiert worden. Der konstruktive Charakter in der Semantik von Worten erschließt sich also nicht zuletzt durch die Substantivierung des deutenden Akts in »Bedeutung«. Der Weg vom Akt des Deutens eines Sachverhaltes hin zu seiner Bedeutung (ihrer Substantivierung) vollzieht sich demnach durch die Anerkennung und Autorisierung der Deutung des Deutenden selbst, was wiederum durch signifikante Andere geschehen muss. Mit diesem sprachtheoretischen und diskursanalytischen Zugang an die Herleitung und Konstruktion der Geschichte von Hybridität vor dem Hintergrund machtvoller Ordnungen wird die Frage virulent, was es über die jeweilige Zeit aussagt, dass eine bestimmte Rezeption aufgegriffen wird und eine andere schlichtweg nicht erwähnt wird. Auch in der Sichtung des aktuellen Forschungsstandes zu den Ursprüngen von Hybridität wird deutlich, dass es eine Dynamik gibt bestimmte Quellen und Narrative zu übernehmen, andere zu marginalisieren oder gar zu ignorieren. Die Gründe dafür mögen so vielfältig, wie auch Teil der wissenschaftlichen Praxis sein. Wichtig bleibt die Haltung der reflexiven Bescheidenheit in Bezug auf die eigenen Erkenntnisse und das Sichtbarmachen machtvoller Diskurslogiken, die mehr oder weniger Einfluss auf diese haben. Ziel dieser Ausführung war es, am Beispiel der Herleitung von Hybridität deutlich zu machen, dass selbst wissenschaftlich etymologische Herleitungen von ihrer Rezeption abhängig sind, welche selbst im Kontext von Zeitgeist, Macht und Autorität stehen. So wie Ha Hybridität als »Signatur ihrer jeweiligen Zeit«12 kennzeichnet, so kann sie weiter ausdifferenziert werden als Signatur des jeweiligen Umgangs mit Differenz innerhalb machtvoller Ordnungen in der jeweiligen Gesellschaft.
11
12
Interessant ist dabei, dass das Wort Hochmut (im Lateinischen superbia) die erste der 7 Todsünden im Christentum bezeichnet. Jenseits der Frage ob diese Begriffe in Verbindung stehen, zeigt der ›religiöse‹ Rahmen eine gewisse Parallele zwischen der antiken Hybris und Superbia als der ersten Todsünde. Ha 2005: 14.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Wenn in der Logik Schneiders und Has Hybridität eine Signatur der jeweiligen Zeit ist, so bedeutet dies, dass ihre semantische Aussagekraft sich erst vor dem Hintergrund der Denktraditionen der jeweiligen Zeiten und (geografischen) Räume entfaltet. Insofern wird diesen Kontexten in diesem Kapitel besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Hybridität wird sozusagen zum Synonym dafür, wie jeweils mit Differenz innerhalb machtvoller Ordnungen umgegangen wird.
2.2.
Hybridität als negativer Begriff zu Identität und Nation
G.W.F. Hegel und Johan Gottfried Herder werden im Anschluss an Descartes als Begründer und Weiterentwickler des modernen Subjekts rezipiert. Während Descartes’ Methode des Solipsismus einem rationalistischen Repräsentationsmodell als Begründungsfunktion des »Ich denke« (mit der Moral der Selbstbeherrschung) folgt, entgegnet Herder diesem mit der sich aus dem Unbehagen des Sturm und Drang nährenden Ausdruckstheorie.13 Herder setzt demnach der Entfremdung und Zerrissenheit im cartesischen Geist als erstem Merkmal der Moderne das zweite gegenüber, in dem das Selbst zur Einheit strebe; dieses Mal jedoch nicht in der Gerichtetheit nach innen, sondern nach außen. Im Streben nach der Einheit dient das Gefühl als Kraft für den Ausdruck des Selbst in der Welt. Als treffende Erweiterung dieses doppelten Ansatzes der Moderne wird Hegels Unterscheidung von Substanz und Subjekt, in der Bedeutung von Einheit und Unterschied konstatiert. Dabei stelle er die soziale Genese des Selbstbewusstseins durch das »Ich, das Wir, und Wir, das Ich [ist]«14 vor. Einen ähnlichen kulturpolitischen Geist legt die herdersche Metapher der nach Innen homogenen und nach Außen geschlossenen Kugeln nahe. Als ideale Lebensweise werden diese zum Ausdruck für eine zu erschaffene innere Einheit gegen ein Außen gelesen. Als mindestens widersprüchlich werden seine Aussagen gedeutet, in welchen er sich zwar für Toleranz und Pluralität unter den Völkern und gegen religiöse Bekehrungsversuche ausspricht, zugleich jedoch die Gleichwertigkeit unter den Einheiten untergräbt, indem er, ähnlich wie Hegel, von einer Überlegenheit der europäisch-christlichen Kultur ausgeht. Nach Herder sei es das Christentum, welches »die reinste Humanität auf dem reinsten Wege gebiete« und so sei dies »die Norm der Ausbreitung des moralischen Gesetzes der Menschheit«.15 Gerade die scheinbare Widersprüchlichkeit in der Humanitätsidee Herders oder die aufklärerischen Auffassungen beider von der Bildung des Menschen in der Logik der Steigerung des geistigen Niveaus schaffen mit Blick auf ihre
13 14 15
Schwarz 2015:166. Joosten 2005: 14 mit Bezug auf Hegel 1988: 14. Herder 1967: 301.
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Zugänge zu Hybridität
identitätszentrierten Ideen eines hegemonialen Denkens von »wir« und »andere« Raum für eine Skepsis gegenüber einem solchen Denken, welches die aufklärerischen Postulate von Toleranz, Humanität und Vernunft auf ihren instrumentellen Charakter reduziert und damit in gewisser Weise zumindest in Frage stellt. In aktuellen ideologiekritischen und postkolonialen Diskursen wird neben Hegel auch Herder als »verdrängter Vater der europäischen Moderne«16 in der Rezeption als exemplarisches Label für eine falsche Strategie der Identitätsschaffung angeführt. Die internationale Kritik an diesen identitätsfixierenden Ansätzen stützt sich auf die epistemologischen und welthistorischen Konsequenzen, die auf ideenlogische Setzungen von Hierarchien und Hegemonien in der Bestimmung von Kultur, Religion und Nation beruhen. Ebenso sehr, wie die ausgewählten Ansätze als radikale Erneuerer und Begründer des modernen Subjektbegriffs in der Sehnsucht nach Einheit und der dialektischen Verbindung von Einheit und Differenz erhoben worden sind, stehen die theoretisch wie historisch weitreichenden Konsequenzen eines solchen auf Einheit und Identifikation gerichteten Denkens in der Kritik.
Feuerbachs Hegelkritik und das »exotische Gewächs der alten orientalen Identität auf germanischem Boden« Die in der westlichen Philosophie des 19. Jahrhunderts praktizierte Methode der Differenzierung zeigt sich auch am Beispiel von Orient und Okzident. Das Verhaftetsein in der Logik der Differenz kann am Beispiel des Hegelschülers und Hegelkritikers Ludwig Feuerbach ausschnitthaft verdeutlicht werden. Er beginnt zu Beginn seines Aufsatzes »Zur Kritik der Hegelschen Philosophie« mit einem Aufriss der zeitgenössischen wissenschaftlichen Debatte entlang der allgemeinen Auffassung des »Gegensatz«-Paares der »alten Salomonischen Weisheit«17 und der Hegelschen Moderne. Die Differenz zwischen den beiden Philosophien erfährt durch eine zusätzliche Kennzeichnung beider, trotz der Kritik an der Abgeschlossenheit dieser Weltbilder, eine Art Begründung einer solchen Einteilung: »Während diese (die Salomonische Weisheit) nichts Neues, erblickt jene (Hegels Philosophie) nur Neues unter der Sonne; während der Orientale über die Einheit den Unterschied aus dem Gesicht verliert, vergisst der Okzidentale über dem Unterschied die Einheit.«18 Feuerbach bedient sich in der Kritik an den Leerstellen der jeweiligen Vorstellungen eines ideenlogischen Gegensatzes, der über Ausschließung und Ausschließlichkeit funktioniert. Im Weiteren richtet sich seine Kritik auf die Leerstellen und Inkonsistenzen in der Hegelschen Logik, die Differenz als Subordination und stufenlogische Hierarchisierung im Sinne eines höher-
16 17 18
Mancic nach Borsche 2012: 269. Feuerbach 1975: 7. Feuerbach 1975: 7.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
entwickelten okzidentalen Denkens gegenüber dem Orientalen auslegt. Feuerbach stellt den hinter dem Denken in Differenzen liegenden Wahrheitsanspruch Hegels als hegemoniale Logik heraus und schlägt eine andere, relativierende und gleichwertige Bewertung von Differenzen vor.19 Darüber hinaus begründet Feuerbach seinen Vorschlag mit der Betonung einer Leerstelle bei Hegel, welcher der »Koordination und Koexistenz«20 im Gegensatz zur Subordination von Differenzen wenig Raum gibt. Mit dem Fokus auf Gemeinschaften und Gemeinsamkeit unter den Menschen weltweit wird die aufklärerische Idee einer prinzipiellen Vernunftbegabtheit hochgehalten und um die gemeinsame sinnliche Verfassung ergänzt. In dieser Logik verweist Feuerbach auf die Ähnlichkeit und Abhängigkeit der Menschen untereinander.21 Eine hegelimmanente Kritik wird von Feuerbach an Hegels eigenen Maßstäben von Differenz als Methode der Unterscheidung, Bestimmung und des Fortschritts geübt, da dieser durch die Absolutsetzung der Vernunft in der Wirklichkeit den Wert der Totalität vor das Prinzip der Differenz setze und so die notwendige Weiterentwicklung verhindere.22 Die Ambivalenz in Feuerbachs kritischer Neubewertung des Hegelschen Differenzbegriffs zeigt sich im Bruch und zugleich einer logischen Weiterentwicklung des Ansatzes. So demonstriert er am Wirklichkeitsanspruch Hegels eine Engführung in dessen Voraussetzungen und gibt diesem Anspruch sogleich selbst eine breitere und materialistischere Grundlage: »So wird (nach Hegel) z.B. die christliche Religion und zwar in ihrer historisch dogmatischen Entwicklung, als die absolute Religion bestimmt und zum Behufe dieser Bestimmung nur die Differenz der christlichen Religion von anderen Religionen hervorgehoben, ganz außeracht gelassen das Gemeinschaftliche, die Natur der Religionen, die als das einzige Absolute allen verschiedenen Religionen zugrunde liegt«.23 Feuerbach konstatiert, dass der Differenzbegriff für Weiterentwicklung stehe und jede Absolutsetzung ihren Stillstand bedeute. Er richtet dagegen den Blick auf das Gemeinsame. Feuerbach bewertet die Differenz über eine hegemoniallogische Hierarchisierung in ihrer Gleichwertigkeit radikal anders als Hegel, doch bleibt er im Moment der Binarisierung und Identifizierung verhaftet, wenn er zum Beispiel die zeitgenössische Rezeption Schellings als Zwischenposition demonstrieren möchte und doch Differenzen festschreibt:
19 20 21 22 23
Vgl. Feuerbach 1975: 8. Feuerbach 1975: 8. …sowie auch die Abhängigkeit von Tieren und den Wert dieser für den Menschen. Vgl. Feuerbach 1975: 8. Feuerbach 1975: 10.
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»Wenn ich sage: die deutsche spekulative Philosophie, so verstehe ich in specie darunter die gegenwärtige herrschende – die Hegelsche Philosophie; denn die schellingsche Philosophie war eigentlich ein exotisches Gewächs – die alte orientalische Identität auf germanischem Boden«.24 Bewertet man Feuerbach vor dem Hintergrund seiner Zeit, so ist sein Ansatz aus heutiger Sicht kosmopolitischer und dem heutigen Humanitätsgedanken näher als die von Hierarchie und Identifizierung (zum Beispiel Konkurrenz der Nationalstaaten) gekennzeichnete Denklogik Hegels und Herders. Bewertet man aus heutiger Sicht Feuerbachs Sprachspiel mit dem Bild Schellings als des »exotischen Gewächs der alten orientalen Identität auf germanischem Boden«,25 so bedient er durch Differenzbegriffe den dominanten Diskurs seiner Zeit. Auf der anderen Seite verlagert Feuerbach zugleich die Differenz von »Wir« und »Andere« nicht in die Abgeschlossenheit von Identitäten und Nationalstaaten, sondern bringt mit dem »exotischen Gewächs der alten orientalen Identität auf germanischem Boden«26 die Frage der Differenz und Andersheit zumindest ein Stück ins ›Innere‹ (auf germanischen Boden). Anders gesagt, wird in einem Denken des einheitlichen Wir gegen die einheitlichen Anderen, die dem Wir untergeordnet werden, Schelling als Phänomen des Andersseienden im ›Heimischen‹, in weiterem Sinne des Hybriden im Innern repräsentiert. In der Rezeption von Fritz Haug (1984) wird Feuerbachs Hegelkritik hauptsächlich an dessen (an Descartes orientierter) Abstraktion von Sinnlichkeit und Gegenständlichkeit festgemacht, während Feuerbachs Denken als Hegelkritiker und -Schüler in Hegels Mustern verbleibe. Feuerbachs Realismus der Sinne erweitere zwar die Mittel des Bewusstseins im Erfassen der Wirklichkeit, doch die Praxis sei weiterhin ausgegrenzt. Das zu erfassende Geschehen bleibe weiterhin in der Anschauung, »sein Ort [sei] kein anderer als die bisherigen: Die Studienstube des Privat-Vereinzelten«.27 Dennoch wird die durch Feuerbach angestoßene Veränderung im interpretativen Diskurs, welche die Tätigkeit in der Grundlage begleite, als ein Schritt zum Wechsel des Diskurses gesehen, wobei man die Anlage mit derselben Grundartikulation nicht verlasse. Die darauf aufbauende marxistische Kritik sieht eine (sogar kritische) Fortführung der Hegelschen Diskursstruktur als irreführend für das Erfassen der Wirklichkeit. Demnach musste für Marx ein »radikaler Terrainwechsel«28 erfolgen, bei dem sowohl die »Innen-Außen-Anlage der Anschauung«29 als auch ein sensualistisch materialistischer Zugang aufgegeben
24 25 26 27 28 29
Feuerbach 1975: 7. Feuerbach 1975: 7. Feuerbach 1975: 7. Haug 1984: 34f. Haug 1984: 34f. Haug 1984: 34f.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
werden musste. »Aber der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät«.30 In der marxistischen Wendung sollte vielmehr das philosophische Interieur in Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Dispositiv begriffen werden. Dadurch könne sich zeigen, wie Kopfarbeit Herrschaftszusammenhänge einräume, diese mit »realimaginären Vergesellschaftungsfunktionen ausstatte, diese auf der anderen Seite aber auch ausschließt und in den Elfenbeinturm über sie schiebt«.31 Besonders ein darauf aufbauendes Geschichtsverständnis, das sich unabhängig von materiellen Verhältnissen entwickle und dessen Motor (bloße) Ideen sein sollen, wird als offensichtliche Spekulation und illusorisch in der bürgerlichen Ideologie besprochen.32 Gegen die »spekulativen Mysterien des Hegelianismus, gegen die Religion und Religionskritik,33 gegen die idealistische Philosophie und die vulgären und degenerierten Varianten der politischen Ökonomie«34 wendet sich Marx’ Kritik der bürgerlichen Ideologie.
2.3.
Hybridität in den vielfältigen Bildern der Vergangenheit
Mit Blick auf Hybridität als Signatur ihrer Zeit in Fragen nach dem Umgang mit Differenz hier (mit Bezug auf Geschichte und Wirklichkeit) verdeutlicht der Philosoph Walter Benjamin einen anderen Zugang dazu als die bisher aufgeführten Ansätze es erlauben. Benjamins Ausführungen zum Verhältnis des Historismus und einer materialistischen Geschichtsschreibung und der Frage der Zeit und Wirklichkeit geben einen kleinen Einblick, wie modernes und postmodernes, politisches und unpolitisches Denken sich vor allem durch ihren Bezug zueinander kennzeichnen. Den größten Unterschied zwischen dem Historismus und dem historischen Materialismus stellt Benjamin an Gottfried Kellers Ausspruch heraus: »Die Wahrheit wird uns nicht davonlaufen«.35 Diesem Sinn nach sei es gerade die Aufgabe eines Chronisten der Wahrheit, entlang der gleichwertig zu behandelnden großen und kleinen Ereignisse, Rechnung zu tragen und sicher zu stellen, dass nichts, was sich je ereignet hat, verloren zu geben ist, doch sei das wahre Bild der Vergangenheit auch eines, das vorbei »huscht«36 und unwiederbringlich sei. Das Bild der
30 31 32 33 34 35 36
Marx 1956: 378. Haug 1984: 34ff. Vgl. Hall 1984: 101. Vgl. Marx 1956: 378. Hall 1984: 101f. Benjamin 2010: 71. Benjamin 2010: 71.
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Vergangenheit stehe immer in der Abhängigkeit zu der Gegenwart, die sich »als in ihm gemeint«37 erkennt, ansonsten drohe sie zu verschwinden. »Der Historismus stellt das ewige Bild der Vergangenheit, der historische Materialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig dasteht […]. Er bleibt seiner Kräfte Herr: Manns genug, das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen«.38 Benjamin schreibt dieses Bewusstsein darüber, dass das Kontinuum der Geschichte aufzusprengen sei, den revolutionären Klassen zu, denen eben jenes im Augenblick der Aktion eigentümlich werde. Er kleidet seine Aussage über den konstruktiven Charakter von Geschichte, deren Ort nicht die »homogene und leere Zeit, sondern die von Jetztzeit erfüllte«, in die Metapher des Kalenders. Im Gegensatz zur Zeitrechnung mit Uhren, würden Kalender als historische Zeitraffer funktionieren, die ähnlich wie Feiertage das Wiederkehren des Eingedenkens wie Monumente eines Geschichtsbewusstseins und Einschreibung der Geschichte demonstrieren. Benjamin füllt diese Metapher mit einem Zwischenfall bei der Juli-Revolution in Paris. Während der Kämpfe sei »unabhängig voneinander und gleichzeitig«39 auf die Turmuhren geschossen worden. Benjamin füllt die epistemologische Metapher des Kalenders als Zeitraffer der Geschichte durch eine historisch überlieferte Episode, die wiederum als zusätzliches Bild die Einschreibung der Vergangenheit erweitert und verschiebt. Angespielt wird hier auf das Bild von Wahrheit und Vergangenheit, das von den Siegern auch in der Generationenabfolge in die Geschichte eingeschrieben werde und doch auch immer die Geschichte der Verlierer als Beute im Triumphzug mit sich trage. Die eigene Existenz sei damit nicht nur untrennbar verbunden mit »der Mühe der grossen Genien, die es geschafft haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen«40 . Diese Geschichte der Sieger bekämen den Namen Kulturgüter. Dem historischen Materialisten schreibt Benjamin die Rolle eines distanzierten Betrachters dieser Kulturgüter zu, denn diese Kulturgüter seien »niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei«41 zu sein. In dieser Rolle sei sich der historische Materialist darüber im Klaren, dass auch der eigene Blick in der Abfolge verübten Grauens stehe und so auch der Prozess der Überlieferung. Daher sei es die spezifische Aufgabe eines historischen Materialisten, »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten«.42 Bemerkenswert ist dabei der Begriff des »Bürstens«, welches im Gegensatz zum rein intellektuellen Lesen, nicht bloß eine andersartige oder gar gegensätzliche Lesart suggeriert, sondern auch im 37 38 39 40 41 42
Benjamin 2010: 71. Benjamin 2010: 80. Benjamin 2010: 79. Benjamin 2010: 73. Benjamin 2010: 73. Benjamin 2010: 73.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Akt des Bürstens ein fast körperliches Eingreifen in die Wahrheit und Vergangenheit, wenn auch in einem »Verfahren der Einfühlung«.43 Anders als die Geschichtsschreiber des Historismus, welche sich Benjamin zufolge in den Sieger einfühlten, soll der historisch geschulte Materialist sich der Konstruktion der Geschichte von Mächtigen gewahr sein, sowie beim Betrachten der Bilder des Siegeszuges den Blick auch auf die Verlierer und die Nicht-Abgebildeten richten. Zudem birgt die Metapher des Kalenders das Potenzial der Neueinschreibung von Geschichte oder gar der revolutionären Einführung eines neuen Kalenders.44 Nach Benjamin gipfelt der Historismus in der Konsequenz in der Universalgeschichte, denn ohne eine theoretische Armatur verfahre sie bloß additiv im Sammeln der massenhaften Fakten, um die homogene leere Zeit auszufüllen. Das konstruktive Prinzip präge wiederum den historischen Materialismus. Benjamin stellt den Zusammenhang zwischen diesen Betrachtungsweisen der Geschichte damit heraus, dass zum Denken grundsätzlich nicht nur die Bewegung der Gedanken gehöre, »sondern ebenso ihre Stillstellung«.45 Er beschreibt hierüber einen Bewegungsablauf im Denkvorgang, welcher »in einer von Spannung gesättigten Konstellation plötzlich einhält«46 und die Spannung aufgibt und sich »als Monade kristallisiert«.47 Der historische Materialist erkennt in dieser monadischen Struktur »Zeichen einer messianischen Stilllegung des Geschehens«.48 Die Vereinheitlichung und Abgeschlossenheit dieser nimmt der historische Materialist als revolutionäre Chance im »Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit«49 wahr. Dies tut er durch das »Sprengen« einer bestimmten Epoche aus dem homogenen Verlauf der Geschichte, so wie er »ein bestimmtes Leben aus der Epoche«50 und ein »ein bestimmtes Werk aus dem Lebenswerk«51 sprengt. Den Ertrag dieses Verfahrens sieht Benjamin darin, dass »im Werk das Lebenswerk, im Lebenswerk die Epoche und in der Epoche der gesamte Geschichtsverlauf aufbewahrt und aufgehoben ist«52 . Zur Bestimmung des Verhältnisses unter den Einheiten (zum Beispiel Leben und Lebenswerk) verwendet Benjamin die Hegelʼsche Figur der dreifachen Aufhebung als Moment der Bewahrung, der Negation und des tatsächlichen Hochhebens. Es scheint, als würde Benjamin das Verhältnis auf zwei Bedeutungen reduzieren, indem er dieses in die Begriffe »aufbewahrt« und »aufgehoben« unterteilt. Das dabei verwendete Partizip 2 stellt etwas Vergangenes 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52
Benjamin 2010: 72. Vgl. Benjamin 2010: 79. Benjamin 2010: 80. Benjamin 2010: 80. Benjamin 2010: 80. Benjamin 2010: 80. Benjamin 2010: 80. Benjamin 2010: 80. Benjamin 2010: 81. Benjamin 2010: 81.
39
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und eine passive Handlung dar. Es bleibt herauszufinden, ob das »aufgehoben« als Moment der Negation oder als tatsächliches »aufgehoben« gemeint ist. Es scheint, als stünde die Bedeutung der Negation hier im Vordergrund. Dies leitet sich zum einen daraus ab, dass die vorgenommene Zweiteilung auf einen dichotomen bzw. negativ dialektischen Zusammenhang verweisen möchte. Zum anderen lehnt sich die Interpretation, dass das »Aufheben« als Negation gedacht ist, an Benjamins wiederholter Wortwahl des »Sprengens« an. Das Aufheben als Aufbewahren und das Aufheben als Sprengen verweisen zudem auf ein pars pro toto-Verhältnis zwischen Epoche und einem homogenen Verlauf der Geschichte, dem Leben und der Epoche sowie dem Werk und Lebenswerk. Denn sowohl das Aufheben als Aufbewahren als auch das Aufheben als Sprengen des einen Elements hat eine Aussagekraft und Wirkung auf das andere Element. Benjamin demonstriert in der Konstruktion der unterschiedlichen Begriffsebenen nicht nur den Zusammenhang, sondern auch ihre Abhängigkeit von einander. Diese Abhängigkeit verweist somit auf ein gemeinsames Kontinuum, aber auch auf die revolutionäre Sprengkraft dieser durch die Möglichkeit der negativen Aufhebung des anderen. Mit Blick auf den Oben besprochenen Satz Benjamins greift sein Begriff der »Jetztzeit« eben diese Handlungsfähigkeit auf, die Wahrheiten, die Vergangenheit und Geschichte als Konstrukt von Mächtigen versteht, die als eben solches auch die Möglichkeit des Mitkonstruierens oder Sprengens dieser Ordnung offenbart.53
2.3.1.
Ambivalenzen der Geschichte: Hybridität als positiver Begriff der Mehrdeutigkeit und Mehrwertigkeit
Hybridität erhält als positiver Begriff der Uneindeutigkeit, Mehrdeutigkeit und Mehrwertigkeit spätestens mit der postmodernen Kritik an den Rationalismus der Moderne ihre Legitimation und normative Umwertung. Vor allem Lyotards Vorwurf an großen Erzählungen der – als kriselnd diagnostizierten – Moderne wird als Paradeausdruck für den Beginn der Postmoderne und des Poststrukturalismus genannt. Der Gegenstand jener Kritik ist ein »überheblicher«54 Anspruch spekulativer Philosophie, welcher in einem totalisierenden Gestus versuche, die Welt umfassend zu rationalisieren und zu strukturieren. In seinem Artikel »Ambivalenzen der postmodernen Geschichte«55 versucht der Soziologe Heinz-Günter Vester entlang des Konzeptes der Ambivalenz die Hauptdifferenzlinien zwischen einem modernen und einem postmodernen Denken zu ziehen.56 Der Versuch ist hier im Besonderen genannt, da der Aufsatz trotz des 53 54 55 56
Lohnenswert zum Begriff der Erinnerung bei Benjamin ist die Literatur von Platzer 2015 und Axer 2012. Münker/Roesler 2012: XI. (1997) Vgl. Vester 1997: 124.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Anspruchs einer distanzierten Darstellung und Kontextualisierung bedeutsamer Zusammenhänge und Unterscheidungen zwischen einem modernen und einem postmodernen Denken selbst eine tendenziöse Bewertungsunausgewogenheit aufweist. Im Folgenden wird Vesters Darstellung dieses vorgenommenen Unterscheidungsversuchs skizziert und die immanente Problematik der Darstellung thematisiert. Zunächst führt Vester am Beispiel des Umgangs mit der Geschichte vor, wie ausweisbare Katastrophen in der Geschichte den eigentlichen Bruch im Umgang mit ihnen zwischen dem modernem und postmodernem Denken hervorgebracht bzw. teilweise an die Oberfläche gebracht haben. Die moderne Erzählung unterscheide sich von der postmodernen dadurch, dass die Moderne den Nationalsozialismus, den zweiten Weltkrieg und den Holocaust als historischen »Unfall und Abweichung vom Pfad der Moderne«57 beschreiben. Demnach sei der »Rückfall in die vormoderne Barbarei«58 ein Marker, nach dessen Ende das Projekt der Moderne sich umso überzeugender durchgesetzt habe. Einige Errungenschaften in Fragen von Menschenrechten, internationalen Organisationen und Bünden (zum Beispiel das Projekt Europa) mögen als Beispiel hierfür dienen, doch Vester weist darauf hin, dass in gleicher Denkart weitere Kriege in Algerien, Indochina, Korea, Vietnam und Afghanistan nicht in ihrem Zusammenhang mit einer modernen Denkart gesehen werden, sondern weiterhin als Unfälle der Geschichte von der Erzählung der großen Geschichte separiert werden. Dem stellt Vester am Beispiel Zygmunt Baumans und Michel Foucaults, eine der prominentesten postmodernen Theoretiker, die Lesart der postmodernen Perspektive gegenüber, nach der die ausgesonderten Geschichten nicht in Haupt- und Nebengeschichten unterteilt werden könnten, sondern in ihrer Gleichwertigkeit als Geschichten und ihrem Zusammenhang betrachtet werden müssten. Demnach würden – radikal ausgedrückt – »Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Holocaust ebenso zur Moderne gehören wie der Kommunismus und der Archipel Gulag«.59 Vester spitzt die postmoderne Kritik am Zusammenhang zwischen einem neuzeitlich modernen Denken und den Katastrophen der Geschichte so zu, dass im Sinne der Verankerung und Differenzierung von Wissen und Bestimmungen versucht worden sei, die darin enthaltenen Ambivalenzen und Irrationalitäten zu »domestizieren, rationalisieren, kontrollieren und unterdrücken«.60 Diese Vorgehensweise der Säuberung von Bestimmungen hätte jedoch gerade den Geist und Gestus von heilsbringenden Weltformeln und Ideologien heraufbeschworen, der sich nicht gänzlich von »unbeherrschbaren Irrationalitäten«61 wie dem Holocaust und der Atombombe distanzieren könne.Vor 57 58 59 60 61
Vgl. Latour 1995 und Vester 1997: 133. Vester 1997: 133. Vester 1997: 134 nach Bauman 1992: 167. Vester 1997: 124. Vester 1997: 124.
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diesem Hintergrund sind auch Zygmunt Baumans zentrale Thesen zu lesen, der von einer »Tendenz der Moderne aus [-geht], in Wissenschaft, Verwaltung, Kunst und Politik ›klare und distinkte‹ Klassifikationsordnungen zu etablieren«62 . Bauman bezieht sich dabei auf »verschiedene Formen des Anomalien bereinigenden ›social engineering‹ – bis hin zum Versuch einer physischen Ausrottung der Ambivalenz im Holocaust«63 . In seinem Werk Unbehagen in der Postmoderne konstatiert Bauman, dass es der Moderne in geistig-seelischer Hinsicht um Identität gehe. Diese zeichnete sich dadurch aus, dass die Aufgabe im Vordergrund stünde, eine »wahre Existenz« zu finden, die »noch nicht erreicht und deshalb Aufgabe, Mission, Verpflichtung ist«64 . In dieser Logik heißt es weiter: »Bestimmungen werden mitgeboren, Identitäten werden gemacht«.65 Er führt aus, dass Bestimmungen einem sagen würden, wer man sei, während Identitäten einen damit locken würden, was man nicht sei, aber noch werden könne. Zygmunt Bauman geht – mit Rückgriff auf Hannah Arendt – dem Phänomen des unheimlichen Anderen in Gestalt des »Parvenüs« in der unfreiwillig gewählten Rolle des intellektuellen Fremden nach, der, obwohl er die Spielregeln der Mehrheitsgesellschaft lernen und sich daran anpassen kann, zugleich in seiner Anpassung auch immer begrenzt sei: »Sein Gesicht kann man nicht verwandeln; weder Denken noch Freiheit, weder Lüge noch Ekel noch Überfluß helfen aus der eigenen Haut heraus«.66 Anders als in Goethes Wilhelm Meister, der sich entscheiden kann, auf der geschützten Theaterbühne Rollen anzunehmen, zu ändern und wieder abzulegen, stünden Parvenüs im Leben unter dem »unaufhörlichen«67 Anpassungsdruck Rollen anzunehmen und so zu tun, als seien sie Identitäten. Der größte Unterschied zwischen Wilhelm Meister und dem Parvenü ist die Freiheit der Wahl im Annehmen und Ablegen von Rollen im Fall des Ersteren und der Verdammung zur ewigen Schauspielerei bei Letzterem. Das damit einhergehende Risiko der Missbilligung und Lächerlichkeit wird zum Lebensschicksal. Bauman signifiziert Parvenüs als moderne Nachfolger der Kunst der Schauspielerei, die »von Identitätssuche besessene Menschen«.68 Sie suchten nach Identitäten, »weil man ihnen Bestimmungen von Anfang an verweigert hatte«.69 Die Flüchtlinge, die sie oftmal auch sind, beschreibt Hannah Arendt gar als »neue Gattung von Menschen«, die durch die
62 63 64 65 66 67 68 69
Luthe/Wiedenmann 1997: 9f. Luthe/Wiedenmann 1997: 10. Vgl. Bauman 1997, ebd. 2005 und ebd. 1999: 127. Bauman 1999: 131. Bauman 1999: 133. Bauman 1999: 132 nach Arendt. Bauman 1999: 131. Bauman 1999: 131.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Zeitgeschichte geschaffen worden seien «- Menschen, die von ihren Feinden ins Konzentrationslager und von ihren Freunden ins Internierungslager gesteckt werden.«70 »Um reibungsloser zu vergessen« lege man großen Optimismus an den Tag und wolle, dass es nach so viel Unglück künftig »bombensicher« läuft.71 Es seien Versuche von Ordnungen, die darauf abzielten, Ambivalenz auszulöschen, das heißt. »die Universalisierung rational gebändigter Diskurse wie auch die fortschreitende Transparenz lebensweltlicher Ordnungen zu gewährleisten«72 . Nach Bauman sei es ein »Signum der Postmoderne, sich mit den Ambivalenzen zu arrangieren und den modernen Perfektionsidealen zu entsagen.73 Baumans Ansatz rehabilitiert eine Ambivalenz, die den »Traum der Vernunft mitsamt seinen Ungeheuern bannen soll«.74 Dass die Postmoderne ein ambivalentes Konzept bzw. Phänomen ist, wird von Vertretern der Postmoderne nicht geleugnet. Viel mehr wird Ambivalenz als epistemologisches Konzept gerade als Folie zur Dekonstruktion machtvoller Narrative verstanden, die als normative Agenda einer Gleichwertigkeit von Vielstimmigkeit jenseits hegemonialer Diskurse an die Oberfläche verhilft. Im Folgenden werden die Anlässe, Ziele, Methoden sowie die Kritik an diesem Ansatz dargelegt. Vor dem Hintergrund der postmodernen Kritik an der Moderne hinsichtlich der Schaffung großer Narrative zum Preis der Marginalisierung anderer Ansätze und Geschichten nimmt die postmoderne Perspektive eben diese Konzepte der Uneindeutigkeit, Differenz und des Widersprüchlichen als erkenntnistheoretische Folie der Dekonstruktion von machtvollen Narrativen. Im Abschied von teleologischen Geschichtsvisionen »in Gestalt des Hegelianismus, Marxismus, Avantgardismus, Evolutionismus«75 wird aus postmoderner Sicht eine Befreiung von einem gescheiterten und enttäuschenden Aufklärungs- und Emanzipationsanspruch gesehen. Gerade die Widersprüchlichkeit von Geschichten und Theorien sei ein normativer Wert, den es nicht zu glätten gilt und welcher mit Verweis auf die ungeheuren Irrationalitäten in der neuzeitlichen Geschichte nicht ignoriert oder verbannt werden sollte. In dieser Logik wird der Blick mit der Folie der Ambivalenz auf Diskurse und Epochen sowie auf historische Begebenheiten in der Moderne, Renaissance, Mittelalter oder Antike geworfen und so auf die interpretatorische Perspektive und
70 71 72 73 74 75
Arendt 2016:12. Arendt 2016:12ff. Luthe/Wiedenmann 1997: 9f und zu empfehlen als weitere Lektüre Zitko 1989 über Nietzsches Philosophie als Logik der Ambivalenz. Lohnenswert ist hier Schermair 1980 zu Methoden der Ambivalenz. Luthe/Wiedemann 1997: 10. Vester 1997: 130.
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Konstruiertheit dieser aufmerksam gemacht, die ihnen anhaftet.76 Der Habitus des postmodernen Intellektuellen will antiheroisch und mehr subversiv sein als sozialrevolutionär. Seine Entwürfe sind geprägt von Subversion herrschender Diskurse und vom Aufzeigen widerständiger Performanzen innerhalb von Gemeinschaften. Auch die moralische Haltung postmoderner Denker wird unter dem Begriff der Ambivalenz subsumiert, da solche Positionen von ironischem Quietismus bis hin zu subversivem Aktivismus ausgedehnt sind. Ihr gemeinsamer Nenner liegt in der Verweigerung der »Etablierung und Legitimierung eines autoritativen, universellen Diskurses. Er begnügt sich damit, Diskurse zu übersetzen«77 . Der Begriff der Übersetzung ist hierfür zentral, denn er beschreibt das Selbstverständnis des postmodernen Denkers und die Vorstellung seiner gesellschaftlichen Funktion. Als Dolmetscher zwischen Kulturen und Diskursen versucht er sowohl Kontexte von histories und stories als auch Bezüge und Verflechtungen zwischen den Texten herauszuarbeiten. Dem Konzept der Übersetzung ist das Verständnis inhärent, demzufolge es auch unübersetzbare Bereiche gibt, die es entgegen eines hegemonialen Gestus nicht zu ›erobern‹ gilt und die doch mit einem Wissen um die eigene Befangenheit zu umschreiben versucht werden. Als bloß ein Interpret und Übersetzer unter Anderen wird der wissenschaftliche so wie gesellschaftliche Anspruch des Verstehens nicht auf das Erfassen des Anderen bezogen, sondern auf ein In-Gang-Halten des Gesprächs zwischen den Standpunkten.78 Vor dem Hintergrund des biologischen Bezugs von Hybridität als Kreuzung erscheint die leibliche Dimension des Chiasmas (als medizinischer und philosophischer Begriff der Überkreuzung) von besonderer Bedeutung: Der Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty löst das dualistische Dilemma (Edmund Husserls) mit dem Argument der Figur der Leiblichkeit und dem behaftetsein in der Lebenswelt auf. Dabei greift er die Figur des Chiasma auf mehreren Ebenen auf, nämlich in der Unmöglichkeit der vollkommenen Trennung von Körper und Geist durch die Wahrnehmung, in der der leiblichen Perspektive immanenten Intentionalität und Opazität und in dem Verhaftetsein unseres Leibes im Chiasma der Zeitlichkeit,
76 77 78
Vgl. Vester 1997: 127. Vester 1997: 131. Der Soziologe Bruno Latour beschäftigt sich in seinem vielzitierten Werk Wir sind nie modern gewesen mit der Tatsache der Vielschichtigkeit, den komplexen Zusammenhängen sozialer Sachverhalte und dem Problem des Verlustes der Übersicht und der Einordnung nach dem »zweifachen Zusammenbruch« des Jahres 1989. Ohne die Mischwesen wären die Praktiken der Reinigung »leer und überflüssig« während die Übersetzungsarbeit mit Hybriden ohne die Praktik der Reinigung »verlangsamt, eingeschränkt oder sogar verboten« wäre. Latour bringt das zwiespältige Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Gegenstandsbereichen und Praktiken sozialer Sachverhalte auf den Punkt, dass diese in ihrer Verwobenheit nie klar zu distinguieren gewesen seien, vgl. Latour 1995.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
das Ausdruck unserer historischen, gegenwärtigen und zukünftigen Dimension ist. Bei aller Betonung der Opazität und Inkarniertheit des Leibes stellt MerleauPonty jedoch auch Möglichkeiten der Abstraktion heraus, die uns als Limesgestalten bis zu einem bestimmten Grad über unsere Bedingtheit hinausdenken lässt. Mit Merleau-Ponty lässt sich die Erkenntnis gewinnen, dass wir weder gezwungen sind, das Andere, Unbekannte, sogar Fremde uns in kolonialistischer Manier einzuverleiben, noch es auf ignorante Weise als nicht zu uns gehörig anzusehen, sondern vielmehr die Perspektive des Unbekannten als Erweiterungsraum unseres Selbst verstehen zu können.79 Merleau-Pontys chiasmatische Figur entspricht insofern der Idee der Hybridität, als dass sie Differenz nicht ohne ihre Überschneidungen denkt. Dabei geht es weniger um die Betonung von Parallelen oder Gemeinsamkeiten, sondern um die Unmöglichkeit der völligen Separierung. Merleau-Ponty geht davon aus, dass Menschen nur in der Lebenswelt gedacht werden können und dass diese Lebenswelt durchdrungen ist von inter-subjektiven Überkreuzungen in Blicken, Berührungen und Worten. Herauszustellen ist in diesem Sinnzusammenhang die von Merleau-Ponty geprägte ›Dritte Dimension‹, die auf das Dazwischen oder sogar einen Raum verweist.8081 Diese unauflösliche Verflochtenheit ist die wahrscheinlich unhintergehbarste Ebene von Hybridität, in der sowohl die Beschaffenheit als auch die Dynamik von Hybridität in der Lebenswelt nachvollzogen werden kann.
2.3.2.
Hybridität als Spielraum der Unschärfe
Im Verhältnis der Moderne und Postmoderne zur Ambivalenz wird letztere oft eine größere Toleranz und Akzeptanz für Spielräume zugesprochen82 . Diese Toleranz wiederum öffnet den Raum auch für Kritiker, die den Umgang mit Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit als beliebig und unscharf charakterisieren83 . Als Antwort auf die Kritik an Kategorien der Unschärfe wird zum einen auf die Ambivalenzen, in Gestalt von Widersprüchlichkeiten, Konflikten, entgegengesetzten Tendenzen und Unentschiedenheiten, in den jeweiligen scheinbar klaren Kategorien selbst hingewiesen, zum anderen werden Systematisierungsversuche eben jener unscharfen Konzepte, wie zum Beispiel dem der Ambivalenz, nicht ge-
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Zu weiteren Lektüre an dieser Stelle ist zu empfehlen Schäfer 2009:185ff. Vgl. Merleau-Ponty 1966: 3-18; 91-96; 239-243. Empfehlenswert ist hier die Lektüre von Toto 2002. Eine nähere Diskussion des Dritten Raums, seiner Annahmen und ethischen Konsequenzen, vor allem für die Pädagogik, erfolgt im dritten und vierten Kapitel dieses Buches. Melanie Reichert arbeitet hierzu die Frage der Ambivalenztoleranz (Reichert 2020:13ff.) an der Schnittstelle zwischen Kunst und Philosophie heraus. Weiterführend ist in dieser Diskussion Messerschmidt 2015 mit Rekurs auf Bauman.
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Zugänge zu Hybridität
scheut.84 85 Im Folgenden werden die von H.-G. Vester eingeteilten vier Ebenen der Ambivalenz erläutert und kritisch weitergedacht. Auf der ersten analytischen Ebene bezieht sich Vester auf Ambivalenzen im postmodernen Diskurs. Dieser sei jedoch nicht festgelegt auf den Postmodernismus, sondern auf alle Diskurse, in denen sich der Diskurs aus einer Vielstimmigkeit unterschiedlicher Herkünfte und Agenda konstituiert hat. Beispielhaft kann man hier die Cultural Studies oder den postkolonialen Diskurs nennen, die im Sinne eines ›the periphery strikes back‹ kritisch auf hegemoniale Diskurse und auf Ambivalenzen im kolonialen (und auch postkolonialem) Handeln verweisen.86 Den Grund für die Anknüpfungsmöglichkeiten verschiedener Diskursbereiche sieht Vester in geteilten Begriffen und Phänomenen, die gerade nicht klar definiert seien.87 In der Uneindeutigkeit sei so Raum für Interpretation. So könne die Vieldeutigkeit des Konzeptes der Ambivalenz als Ergebnis sprachlicher, begrifflicher und logischer Uneindeutigkeit weitere Räume schaffen für den Plural von Geschichten als Narrationen und somit wohlmöglich die Ausdehnung von Toleranz und Spielräumen der Unschärfe befördern.88 89 Eine weitere Ebene der Ambivalenz expliziert Vester auf der Gegenstandsebene aus dem Zusammenhang zwischen der Uneinheitlichkeit der zu bestimmenden Phänomene und einer damit einhergehenden begrifflichen und semantischen Ungenauigkeit. Dies zeigt sich in entgegengesetzten Tendenzen im Gebrauch von Begrifflichkeiten und Phänomenen. Während das Subjekt in vielen Ansätzen bis hin zur Auflösung dezentriert würde, erscheint das Individuum an anderen Stellen auf subversive Weise als Camouflage oder Mimikry.90 Ambivalenz gilt zudem als Paradebeispiel für gegenläufige Tendenzen in der Analyse von Globalisierungsphänomenen, die laut Vester einem Universalismus und weltweiten Vernetzung die Hinwendung zur Lokalität und Autonomie entgegensetzten.91
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Analysen und Systematisierungsversuche von Konzepten, Spielarten und Inhalten der Postmoderne sind jenseits eines feuilletonistischen Postmodernismus bei Welsch (1987), Bauman (1992, 2012), Rosenau (1992), Wagner (1992), Bertens (1995) und anderen zu finden. Empfehlenswert ist hier eine weiterführende Lektüre bei Waldenfels 1987. Ambivalenz wird auch von weiteren Vertretern des Postkolonialismus angewandt, wie Gabriel Garcia Marquez, Carlos Fuentes, Salman Rushdie und anderen (Vester 1997: 135 und Castro Varela/Dhawan 2005:93ff.). Auch für die Arbeiten Homi K. Bhabhas gilt Ambivalenz als signifikante Folie, auf die im dritten Kapitel dieses Buches näher eingegangen wird. Vgl. Vester 1997: 128ff. Vgl. Vester 1997: 128ff und vgl Lippitz 2003 und vgl. Lüders 2007. Weiterbringend ist an dieser Stelle die Literatur von Ma 2012. Diese ambivalente Umgangsweise mit Konzepten wie Subjekt und Individuum wird in ihrer Auflösung und subversiver Demonstration als widerständiges Subjekt im dritten Kapitel besprochen; vgl. auch Strohmeier 2012. Vgl. Vester 1997: 129.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Ambivalenz erhält bei Vester eine dritte Ebene der Unterscheidung. Darin wird die Agenda der Ambivalenz betont, in welcher eine Werthaftigkeit der Dinge an sich proklamiert wird. In der Dekonstruktion der wertenden Anerkennung von hegemonialen Strukturen wird eine »Umwertung aller Werte«92 vollzogen, indem diese nicht abgeschafft, sondern auf ein neu aufgeteiltes Feld gestreut werden. In der Fragmentierung großer Narrative und Handlungsanleitungen pluralisieren sich diese auf ein breites unbestimmtes Feld moralischer Positionen zwischen Eskapismus und entschiedenem Einmischen. Ironischerweise wird die Renaissance des Fundamentalismus, von dem sich alle Haltungen der Postmoderne distanzieren, als Symptom der programmatischen Unübersichtlichkeit und Unbestimmtheit der postmodernen Agenda diskutiert.93 Im Weiterdenken über Vesters Ausführungen und seinen Systematisierungsversuch des Konzeptes der Ambivalenz kann man herausstellen, dass diese Folie der Ambivalenz zwar eine gewisse Zustandsbeschreibung liefert, die einer monolithischen Denkweise entgegen wirkt und gerade in Zeiten der Renaissance von politischen, religiösen Fundamentalisten und autokratisch geführten Staaten zur geistigen Freiheit beitragen kann. Jedoch bleibt die Frage virulent, welche Antworten in einer Zeit angeboten werden, in der die Überforderung durch Unbestimmtheit und Fragmentierung Viele nach Halt suchen lässt. Die vierte Ebene von Ambivalenz markiert ein Signum der Postmoderne. Darin thematisiert sich die sprachliche Vermitteltheit von Geschichte und Geschichten, die eine »Mehrdeutigkeit und Mehrwertigkeit historischer Ereignisse und Prozesse«94 herausstellt. Weitergedacht kann die Ambivalenz auf dieser Ebene als Folie diskutiert werden, die als Trope oder Metapher auch eine spezielle Instanz der Interpretation darstellt. Darin wird die Bedingtheit der Erkenntnis, zum Beispiel eines historischen Ereignisses, in der Mittelbarkeit der Erzählung betont.95 In seinem Artikel zu Ambivalenzen der postmodernen Geschichte führt Vester vor, inwieweit sowohl die Moderne als auch die Postmoderne als Epoche und Denkrichtung von Ambivalenzen durchzogen sind. Dies sei zum Beispiel an Irrationalitäten zu sehen, die im rationalen Gestus der Moderne ausgetrieben werden sollten, doch in Form von Katastrophen der Geschichte auf ungeheuerliche und ebenso irrationale Weise durch die Hintertür zurückkommen. Ebenso sei für die um jeden Preis Eindeutigkeiten vermeidenden postmodernen Schriften kennzeichnend, wie sehr beide Denkrichtungen und Ansätze in einem Zusammenhang stehen und doch in ihren Antworten zu den Lehren aus der Geschichte antagonistisch erscheinen. 92 93 94 95
Vester 1997: 129. Vgl. Vester 1997: 129. Vester 1997: 129. Im Kapitel Vier wird über Sinn und Funktion von Ambivalenz als Denkfigur in pädagogischen Feldern der Vermittlung weiter diskutiert.
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Zugänge zu Hybridität
Kritisch ist Vesters Argumentationsführung im Verhältnis zu seinen Aussagen zu beurteilen. Vester bemüht sich einerseits um wissenschaftliche Objektivität, indem er Ambivalenzen sowohl im modernem als auch im postmodernen Denken aufzeigt, andererseits stellt er die Engführungen der jeweiligen Ansätze heraus. Letztlich richtet er aber seine Argumentationsführung auf relativ eindeutige Weise im Sinne eines postmodernen Denkens aus. Verkürzt könnte man sagen, dass Vester auf relativ ›eindeutig‹ moderne Weise gegen die Moderne argumentiert bzw. sich in wenig ›gleichwertig‹ postmoderner Manier für die Postmoderne ausspricht. Die Legitimation der Veränderung der Spielregeln von Wissenschaft, Literatur und Kunst wird von dem postmodernen Theoretiker Jean-Francois Lyotard aus der Krise großer Narrative hergeleitet.96 Auch der Erziehungswissenschaftler HansChristoph Koller lehnt im Jahr 2002 die Begründung von radikal pluralistischen Ansätzen an die Gegenwartsdiagnose Lyotards an, dessen Begriff des Widerstreits er in seiner Habilitationsschrift bespricht. Demnach würde die wachsende Vielfalt von Lebensstilen und Wertorientierungen insoweit sprachtheoretisch an der Vielfalt heterogener Sprachspiele oder Diskursarten verknüpft werden, dass neben der »friedlich koexistierender Qualitäten« auch der Konfliktcharakter dieser Pluralität von Diskursen zum Tragen kommt. Aus der festgestellten Verschiedenheit der Diskursarten sei in dieser postmodernen Logik auch die Möglichkeit des Widerstreits unabdingbar. Die daraus entstehende politisch-ethische Konsequenz wäre die Akzeptanz des Widerstreits als »prinzipiell unlösbaren Konflikt« und das Verhindern dieses Widerstreits auf die Zuspitzung hin zur rechtlichen Ebene.97 Koller zufolge wäre die Konsequenz daraus in Bezug auf die Bildung, diese Aufgabe zu übernehmen und damit dem Widerstreit auf doppelte Weise »gerecht« zu werden. Zum einen würde die Anerkennung dieses Widerstreits notwendig, da es für solche Arten von Konflikten keine universal gültige Norm gäbe, aus welcher eine gerechte Lösung hergeleitet werden könnte. Dieser Widerstreit würde jedoch aufgrund der unterschiedlichen Möglichkeiten der Konfliktparteien, ihr Anliegen »in der jeweils vorherrschenden Diskursart zur Sprache«98 zu bringen, nicht in einem offenen Konflikt zum Ausdruck gebracht werden. Eine daraus folgende Konsequenz für die Wissenschaft wäre es, Möglichkeiten der Artikulation von Perspektiven, Narrativen und Forderungen nicht nur nicht zu negieren, sondern als produktiven Prozess wissenschaftlichen Arbeitens anzusehen. Der postkoloniale Diskurs ist in diesem Sinne als andere Perspektiven auf nationale oder europäische Theoriediskurs eingeholt. Sie hebt die Perspektive
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Vgl. Lyotard 1984: 3ff und vgl. ebd. 1986, 1987 und 1988: 194ff. Vgl. Koller 1995 und 2002: 95. Vgl. Koller 2002: 95.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
auf Fragen des Umgangs mit Differentem und der Verflechtung von Theorie und Geschichte auf die globale Ebene. In dieser Logik werden im Folgenden einige Perspektiven, Narrative und Forderungen der postkolonialen Theorie in den Diskurs um Hybridität als Negativbegriff zu Identität, Hierarchie und Wahrheitsanspruch, sowie als positiver Begriff um Handlungsmacht und Verflechtungsfiguren in der Weltgeschichte berücksichtigt.
2.4.
Die Vergessenheit der Anderen in der Welt
Die Erziehungswissenschaftlerin Kerstin Jergus stellt mit Bezug auf Messerschmidt, Broden/Mecheril und Baquero Torres in ihrem Artikel Postkoloniale Erziehungswissenschaften heraus, dass bis zum Jahr 2017 eine »Verbindung und Umschreibung der Erziehungswissenschaft mit Mitteln der Postcolonial Studies […] so dringlich wie kaum erfolgt«99 sei. Des Weiteren betont sie die Bedeutung der postkolonialen Perspektive damit, dass mit dieser eingeholt würde, »inwiefern die Konstitution des westeuropäischen Vernunftsubjekts durch Abgrenzung und Projektionen eines als inferior und fremd konzipierten Anderen verläuft«100 . Ähnlich wie in der bisherigen Argumentationsführung, die sich am philosophischen Diskurs orientiert, macht Jergus mit Blick auf die Diskussion in den Erziehungswissenschaften sichtbar, dass die Postcolonial Studies gewisse Ansätze teilen mit »modernisierungskritischen Einwürfen gegen ›Illusionen der Autonomie‹ (Meyer-Drawe 1990), ›Machbarkeitsphantasien‹ (Schäfer/Wimmer 2003), die ›humanistische Illusion‹ (Schäfer 1996), den ›Widerspruch zwischen Bildung und Herrschaft‹ (Heydorn 1970) und die ›Anderenvergessenheit des pädagogischen Diskurses‹ (Wimmer 2014a)«.101 Diese Problematisierung der Prämissen neuzeitlicher Pädagogik und ihres hegemonialen Verständnisses für subjektivierungsanalytische und machttheoretische Perspektivierungen würde insofern in diesen Ansätzen behandelt werden, wenngleich diese die moderne Wissenschaft selten vor dem Hintergrund ihrer Kolonisierungsgeschichte stellen würden.102 Anknüpfend an die Warnung Florian von Rosenbergs und Lothar Wiggers vor der »Weltvergessenheit«103 – in der Auseinandersetzung mit der Frage der Bildung –, wird auch hier auf die Notwendigkeit eines Einholens von globalen Perspektiven
99 Jergus 2017: 297. 100 Jergus 2017: 297 nach Castro Varela/Dhawan 2015; Reuter/Karentzos 2012; Castro Varela/Mecheril 2016. 101 Jergus 2017: 297. 102 Vgl. Jergus 2017: 297. 103 Wigger äußert dies im Kontext der Beurteilung einer Überbetonung der Subjektperspektive in der Biographieforschung und einer Vernachlässigung der Weltverhältnisse (Wigger 2004, S. 489; »Weltvergessenheit«: von Rosenberg 2010, S. 71).
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auf die Konstruktion von epistemischen und epistemologischen Ordnungen hingewiesen. In dieser Konsequenz ließe sich ein Verständnis des modernen Wissens nicht ohne die machtvolle Konstruktion der Anderen (in der Welt) denken. Nimmt man nämlich die Abhängigkeit von Erkenntnisprozessen in der Frage der Differenzbildung und der Anderen (in der Welt) als Bestandteil von Theoriebildung, so kann die Inklusion postkolonialer Perspektiven im Umkehrschluss zu Bereicherung der (Erziehungs-)Wissenschaft beitragen. Auf der Spur des Begriffs der Hybridität wird er in diesem Kontext über die Verflechtungsfigur von Differenzen im Rahmen machtvoller Konstruktionen in konsequenter Weise auf eine globale Perspektive in Abhängigkeit zum Anderen (in der Welt) übertragen. Aufschlussreich ist die Perspektive der Postcolonial Studies nicht nur in Bezug auf das von Jergus vorgeschlagene Wissenschaftsverständnis des Doing Theory,104 sondern auch in Bezug auf die an den Poststrukturalismus angelehnte Herangehensweise an Diskurse und Texte. Vor dem Hintergrund von Hybridität als negativer Figur zu abgeschlossenen Konzepten von Nationalstaaten, zu einer in Hierarchien gefassten kämpferischen Konkurrenz zueinander und zu einem eurozentrischen, hegemonialen und imperialistischen Welt- und Geschichtsverständnis spielt die postkoloniale Perspektive eine bedeutende Rolle für das Konzept der Hybridität und ihre machtpolitischen Kontexte in der Welt. Angesicht der postkolonialen Kritik an den machtvollen Leerstellen im Erfassen von differenten globalen Zusammenhängen in Geschichte und Wirklichkeit werden im Folgenden Einblicke in die Entwicklung von postkolonialem Denken, darin enthaltene differente Diskurse und Positionen einiger ihrer Vertreter gegeben, die explizit keinen Anspruch auf Repräsentation des gesamten Diskurses erheben. María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan haben im Jahr 2005 als eine der ersten deutschsprachigen WissenschaftlerInnen ein Werk zur Postkolonialen Theorie geschrieben und beschäftigen sich seitdem mit diesem Thema. Die Bedeutsamkeit ihrer Schriften liegt nicht nur in der systematischen Darlegung der historischen und theoretischen Formen und Verläufe der Postcolonial Studies, sondern ist auch in ihrer breiten Rezeption in den Erziehungswissenschaften durch diejenigen, die sich mit den Postcolonial Theories beschäftigen, wie zum Beispiel Paul Mecheril, Kerstin Jergus und Michael Göhlich begründet. Insofern wird sich die folgende Darstellung insbesondere auf die Ausführungen von Castro Varela und Dhawan beziehen, da diese Forschungsliteratur sich als richtungsweisend zeigt.
104 Vgl. Jergus 2017: 298.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
2.4.1.
Hybridität in den Grundlagen postkolonialer Theorieverläufe
Eine offensichtliche Diskrepanz im Entwicklungsstand des Forschungsdiskurses der postkolonialen Theorien zwischen dem angelsächsischem und dem deutschen Sprachraum liegt in dem Selbstverständnis, mit dem Einführungen in die postkoloniale Perspektive von rechtfertigenden Einleitungen begleitet werden.105 Dies mag an vielen Faktoren liegen, unter anderem daran, dass die Auseinandersetzung aufgrund der Commonwealth-Zusammenhänge und Einwanderungspolitik im angelsächsischen Sprachraum früher begann oder die kolonialen Zusammenhänge dort schwerer von der Hand zu weisen sind106 . So zeigt sich zum Beispiel, dass sich aktuelle Einführungen in die postkoloniale Perspektive der älteren Herleitungen der Legitimation einer solchen Theorieperspektive bedienen. Wie auch der Literaturwissenschaftler Jochen Dubiel (2007), so stellt die Pädagogin María do Mar Castro Varela zu Beginn ihrer Ausführungen zum Postkolonialismus dar, wie und warum die postkoloniale Perspektive nicht nur Nationen mit einer im historischen Diskurs anerkannten prägnanten und langen kolonialen Vergangenheit betrifft. Mit den Worten Stuart Halls, einem der prominentesten Vertreter der postkolonialen Perspektive, begegnet sie zu Beginn ihres Einführungsessays (2016) und Einführungswerkes (zusammen mit Nikita Dhawan 2005) den erwarteten Einsprüchen vorauseilend, die die Relevanz der postkolonialen Perspektive für den Diskurs in Deutschland abstreiten. Mit Halls Worten stellen die beiden Autorinnen heraus, dass eine Beteiligung an kolonialen und imperialen Eroberungen und Unterwerfungen nicht auf die bloße Okkupation von Quadratkilometern reduziert werden könne.107 Stuart Hall zufolge würden sowohl Forschungen zu ›Kolonisierung‹ als auch ›Postkolonie‹ zwingenderweise auf ein »Kräftefeld verweisen, welches von Macht und Wissen regiert«108 würde. In diesem Sinne sei Hall zufolge ein Verständnis der »Kolonisierung als einem Herrschafts-, Macht- und Ausbeutungssystem« nur in einem direkten Zusammenhang mit »Kolonisierung als einem Erkenntnis und Repräsentationssystem«109 adäquat, da historische und strukturelle Bedingungen Teile hegemonialer Machtstrukturen seien und nicht isoliert betrachtet werden könnten. Im Sinne einer breiten historisch-materiellen Argumentationsführung werden in den Postcolonial Studies »Dekolonisierungstheorien in Theorie und Praxis«110 und kritische, zumeist westliche intellektuelle Ansätze, wie marxistische, kritisch diskursanalytische, feministische und dekonstruktivistische oftmals zusammengedacht. Castro Varela und Dhawan sehen die Beson105 106 107 108 109 110
Vgl. hierzu Hall 1994: 137ff. und Castro Varela/Dhawan 2005: 7ff. Vgl. Ashkroft et al. 1997/98 Vgl. Castro Varela 2016: 153 nach Hall 2002: 237. Castro Varela 2016: 153 nach Hall 2002: 237. Castro Varela 2016: 153 nach Hall 2002: 237. Castro Varela 2016: 153.
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derheit postkolonialer Theorieperspektiven darin, dass sie trotz der Vielzahl und Unterschiedlichkeit ihrer theoretischen Traditionen und Zugänge eine »kritische Intervention in die Geistes- und Sozialwissenschaften«111 darstellen. Dabei versuchen sie, hegemoniale Strukturen in eurozentrischen Narrativen sichtbar zu machen und zu transformieren. Im Sinne einer Kritischen Theorie112 werden Zusammenhänge zwischen hegemonialer Wissensproduktion und epistemischer Gewalt hergestellt und sichtbar gemacht sowie aktuelle Themen in Einwanderungsgesellschaften vor dem machtpolitischen Hintergrund dominanter Diskurse zu ›Rasse‹, Kultur, Klasse und Sprache dezidiert in den Blick genommen.113 Auf gesellschaftspolitischer Ebene zeigt der Leitspruch »We are here because you were there«114 im Diskurs um Migration und Flucht ein Selbstbewusstsein, das durch theoretische Mittel der postkolonialen Kritik aus der Defensive in die Offensive gebracht werden konnte. Wie man jedoch an älteren Hinführungen und Erklärungszusammenhängen sehen kann, hat auch dieses Selbstbewusstsein eine Entwicklung hinter sich und betrifft nicht alle Bevölkerungsschichten mit ihren jeweiligen Zugängen zum intellektuellen Diskurs. In diesem Sinne stellt sich sowohl die kritische Reflexion von epistemischer Gewalt in der Wissensproduktion und als auch ihre Vermittlung die unmittelbaren Berührungspunkte dieser postkolonialen Perspektive mit dem pädagogischen Feld (innerhalb von Einwanderungsgesellschaften) als unübersehbar heraus.
Postcolonial Studies als kritisch intervenierende Instanz in hegemoniale Diskurse Seine Wirkmacht zeigt der Hybriditätsbegriff vor allem im Kontext der Postcolonial Studies.115 Innerhalb dieses Diskurses wird die Hybridität im Sinne einer Hybridisierung als ambivalenter Prozess in der Beziehung zwischen den verschiedenen Kulturen und auch innerhalb eines Kulturraumes verortet. Die Ambivalenz des Hybridisierungsprozesses zeigt sich zum einen durch den damit einhergehenden Kontakt zwischen Sprachen, Körpern und Weltbildern unterschiedlicher Traditionen und Herkünften, zum anderen entsteht aus diesen verschiedenen Elementen eine neu zusammengesetzte Einheit.116 Über den Begriff der Vermischung 111 112 113 114 115
116
Castro Varela 2016: 152. Vgl. Castro Varela 2016: 152. Vgl. Castro Varela 2016: 153. Castro Varela 2016: 152. Zu der Frage, wer die postkoloniale Theorie vertritt, stellt Jochen Dubiel heraus, dass Eberhardt Kreutzer zwar dazu nur die »gesamte anglophone Literatur, die direkt oder indirekt auf die ehemaligen Kolonien Bezug nimmt« (Dubiel 2007: 18) zählt; in der Tat könne man aus der wissenschaftlichen und politischen Agenda der postkolonialen Literatur ableiten, dass dazu alle westlichen Literaturen zählen, »die entsprechende kritische Bezüge erkennen lassen« (Dubiel 2007: 18). Vgl. Ette 2014: 7 und Spivak 1997.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
hinaus wird die Hybridisierung in den Postcolonial Studies als von Herrschaftsordnungen durchdrungener Ort der Verhandlung und Konfrontation zwischen heterogenen Elementen der Kultur und Gesellschaft diskutiert. Von Bedeutung sind zwei Hauptstränge (der marxistische und der poststrukturalistische Strang) des postkolonialen Diskurses, die nicht klar voneinander abgegrenzt werden können, sondern vielmehr gerade in ihrer Unterschiedlichkeit eine festere theoretische Grundlage für die Postcolonial Studies bieten117 . Bis die 1970er Jahre beschäftigten sich die Postcolonial Studies im Rahmen der politischen Theorie mit der Situation der mittlerweile unabhängigen Kolonien und weiteten diesen Blick in den 1980er Jahren auf den Einfluss des Kolonialismus auf alle betroffenen Kulturen bis hin zu aktuellen Konsequenzen aus. Der Erkenntnisgegenstand der postkolonialen Theorie liegt in der Untersuchung von Prozessen der Kolonisierung in der Vergangenheit sowie der andauernden Dekolonisierung und Rekolonisierung. Kultur wird dabei oft als Diskussionsgegenstand für Fragen der Ethnizität, Klasse und Macht genutzt. Vor dem Hintergrund der Gleichzeitigkeit von Migrationsbewegungen als auch weltweiten Antiglobalisierungstendenzen wird die gezielte Auseinandersetzung mit dem Neokolonialismus virulent. Ein spezifisch kritischer Blickwinkel auf eine gewaltvolle und hegemonial übermittelte Weltgeschichte ist allen postkolonialen Denkern zu eigen. Den Ansätzen der postkolonialen Theorie ist zudem gemein, dass sie sich als eine interdisziplinär denkende und kritisch intervenierende Instanz zwischen Wissenschaft, Kultur und Politik im globalen Rahmen verstehen. Castro Varela und Dhawan beschreiben dies als eine Art theoretisches und politisches Engagement in der Pendelbewegung.118 Einerseits wird Theorie politisiert, auf der anderen Seite und in Folge dessen werden über theoretische Debatten neue Politisierungsformen eröffnet.119 Beispielhaft ist dies an der Bandbreite der Sicht auf den (Neo-)Kolonialismus zu sehen, welcher sich im Rahmen der postkolonialen Theorie von konkreten »militärischen Besetzungen und Ausplünderung geographischer Territorien« hin zu »Produktion epistemischer Gewalt«120 erstreckt. Die Verbindung von epistemischer und physischer Gewalt lässt sich besonders gut durch die Bedeutung des Kulturbegriffs demonstrieren. Fortwährend ist er semantisch besetzt und umkämpft für machtpolitisch motivierte Auseinandersetzungen um »Kultur« und »Rasse«. Der Diskurs um sie steht im Mittelpunkt postkolonialer Perspektiven, da beide Begriffe in ihrem realpolitischen, historischen und wissenschaftlichen Gehalt als Instrumente der Stabilisierung und Legitimation von Herrschaftsbeziehungen bis hin zur Kolonisierung (mit Mitteln epistemologischer und physischer Gewalt) betrachtet werden.
117 118 119 120
Vgl. Moore- Gilbert 1997 und 1997a: 13ff. Castro Varela/Dhawan 2005: 7f. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 7f. Castro Varela/Dhawan 2005: 8.
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Eine Vielzahl uneindeutiger Formen und Verläufe des kolonialen ›Worldings‹ Ein zusätzliches verbindendes Kennzeichen von Hybridität und den Postcolonial Studies ist ihre unbequeme Situierung zwischen Positionen, die als hegemoniale Festschreibungen konstatiert werden. Besonders an postkolonialer Theorie wird der Diskurs um marxistische und poststrukturalistische Ansätze virulent. Es gibt innerhalb der postkolonialen Theorie Positionen, die eher politisch-marxistisch orientiert sind und solche, die eher philosophisch-poststrukturalistisch angelegt sind. Die Differenz und teilweise Unvereinbarkeit der Positionen zeigt sich unter anderem darin, dass die marxistisch-materialistische Perspektive Bedingungen und Gegenstandbereiche des Lebens und ihrer Repräsentation in konkreten Feldern des Sozialen ins Zentrum rückt und sich dabei auf diesbezügliche Methoden und Theorietraditionen bezieht, während diese Perspektive sich auf dekonstruktivistische und poststrukturalistische Annahmen stützt und ihre Gegenstandsbereiche hauptsächlich in der Kulturtheorie und Sprachphilosophie sucht. Zur Beschreibung dieser Position zwischen einer »theoretisch-inspirierten, semiotisch- poststrukturalistischen« und der »politisch-motivierten, marxistischmaterialistischen«121 Achse verwenden Castro Varela und Dhawan die Metapher der »spannende[n] Pendelbewegung«122 . Gemessen an den differenten politischen Annahmen, Methoden, Zielen und der Schärfe der Kritik an der jeweils anderen Position (hierzu siehe u.a. Huddart, Byrne, Castro Varela, Struve) scheint diese Metapher allerdings nicht ganz zuzutreffen, da die Betonung vielmehr auf dem Moment der »Spannung« als einem unharmonischen, unvereinbaren und uneindeutigen Bewegungsablauf (statt einer Pendelbewegung) liegen müsste. Im Versuch einer Beschreibung der Geschichte des Kolonialismus kommt der Historiker Jürgen Osterhammel auf der Grundlage der damit einhergehenden komplexen und widersprüchlichen Praxen zu dem Schluss, dass der Kolonialismus ein »Phänomen kolossaler Uneindeutigkeit«123 ist. Eine kohärente Theoretisierung käme einer Banalisierung gleich, daher müsste vielmehr von einer »Vielzahl von Geschichten einzelner Kolonialismen«124 gesprochen werden. Mit dem Ziel, diese Heterogenität wenigstens grob darzustellen, unternimmt Osterhammel den Versuch, die Kolonisationsformen zu unterscheiden. Er bricht diese auf drei Kategorien herunter: Eine davon ist die Beherrschungskolonie, welche den Großteil der Infrastruktur im sogenannten »Mutterland« innehat und von dort aus gesteuert wird. Beispielhaft dafür wird British India genannt, das durch einen kleinen Apparat an
121 122 123 124
Struve 2013: 15. Castro Varela und Dhawan 2005: 8 und vgl. Nayar 2015. Castro Varela/Dhawan 2005: 12. Castro Varela/Dhawan 2005: 12.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Militärs, Verwaltung und Geschäftsleuten »zum Zwecke der wirtschaftlichen Ausbeutung und der strategischen Absicherung imperialer Politik […] unterjocht […] wurde«.125 Hispano América stellt eine weitere Ausprägung innerhalb der Beherrschungskolonie dar, denn dabei fand eine starke Einwanderung aus Europa statt, welche in Städten in »Mischgesellschaften« mündete und schließlich zu einer Dominierung der »kreolischen« Minderheit.126 Stützpunktkolonien als zweiter Typus charakterisieren sich durch gezielte Flottenaktionen, die der Machtentfaltung auf den Seewegen und ihrer Koordination diente, wie etwa in Malakka oder Shanghai. Als dritte Form gelten die Siedlungskolonien, in deren Fall Vorgehen und Ziel der Kolonisierung mit einer systematischen Eliminierung der indigenen Kultur und Bevölkerung, der systematischen sexuellen Ausbeutung und einer Veränderung der Umwelt im Sinne eines sogenannten Indigenozides gleichgesetzt werden.127 Klassische Beispiele für das Vereinnahmen von Territorien durch billigen Kauf, Enteignung, militärischen Einsatz und Import von Sklaven sind die USA, Kanada und Australien. Allen Kolonialisationsformen ist ein gewisses Selbstverständnis gemein, das alle Akte der Beherrschung und Ausrottung legitimierte. Es ist ein Selbstverständnis, das sich durch die Herabsetzung bis hin zur Entmenschlichung des ›Anderen‹ generiert. Nicht nur in Südafrika oder in karibischen Ländern wurde die Ausbeutung der autochthonen Bevölkerung mit der Konstruktion von ideologischen Gegensatzbildern motiviert und gerechtfertigt. Ganze zu erobernde Gebiete wurden zum »terra nullius« erklärt, also zu leerem Land. »Menschenleer« und »jungfräulich«128 konnte das Land jedoch nur sein, wenn die darin lebende Bevölkerung in ihrem Dasein als minderwertig oder als unmenschlich, somit als animalisch und gefährlich deklariert wurde. So konnte im moralischen Selbstverständnis die indigene Bevölkerung zur Beherrschung, Ausbeutung und sogar zum Abschuss durch die sogenannten Entdecker freigegeben werden. Ebenso legt die Metapher des »Mutterlandes« ein Gegenüber bestehend aus zu zivilisierenden, unreifen Kindern nahe. Zur Demonstration des »Welt-machens« (engl. worlding)129 durch die Kolonialisten wird in der postkolonialen Theorie das Bild von ›Original‹ und ›Kopien‹ am Beispiel der Bezeichnungen der Orte wie New York, New Amsterdam, New Zealand, New Orleans usw. herangezogen.130 Das worlding ist die kritische Perspektive auf die Produktion von Neuem (make-ing), jedoch mit Mitteln und Zielen gewalttätiger (rape-ing) Beherrschung. Charakteristisch hierfür sind dabei immer verschiedene Abhängigkeitsformen vom »Mutterland«.
125 126 127 128 129 130
Castro Varela/Dhawan 2005: 12. Castro Varela/Dhawan 2005: 12. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 13 nach Evans/Thorpe 2001. Castro Varela/Dhawan 2005: 13. Castro Varela/Dhawan 2005: 13 nach Spivak 1999a: 211f. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 13.
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Eine komplizenhafte Beziehung zwischen modernen Diskursen und der Kolonialisierung wird in der Deklarierung derselben als »zivilisatorische Mission«131 gesehen. Frei nach Ghandi ist dies ein zweischneidiges Ideal. In einem bestenfalls pater- oder maternalistischen (»Mutterland«)-Gestus wird der sogenannten ›unzivilisierten‹ Welt Freiheit in Form der europäischen Aufklärung und seinem ebenso geprägten Rationalismus nähergebracht.132 Im Glauben an den Sieg der Rationalität und der Wissenschaft über Unwissen und Aberglaube wurden Traditionen, kulturelle Güter, Kenntnis über das Zusammenspiel von Mensch und Umwelt (zum Beispiel in Form von Naturheilverfahren) und Sprachen oft pauschal für irrelevant und gefährlich erklärt und neue installiert. Vieles davon mag tatsächlich nicht mit humanistischen Idealen zu vereinbaren (gewesen) sein; so wie auch die verschiedenartigen Praktiken von Kolonialherren und Missionaren nicht simplifiziert dargestellt werden sollten. Darüber schwebt stets die alte Frage danach, wie wir mit einem ›Anderen‹, gar Fremden, umgehen möchten und dürfen. Stuart Hall zufolge basiert der koloniale Diskurs in seinen Grundfesten auf einer Bedeutungsfixierung der »ausnahmslosen Anderen«.133 Danach würde in der Konstruktion und Fixierung des unverrückbaren Unterschieds zum Anderen der gewalttätige Charakter jener Repräsentation durchscheinen. In notwendiger Abgrenzung dazu hätten die Europäer die Konstruktion eines »souveränen, überlegenen […] Selbst«134 erst wirklich ausbauen können. Nationalistische und wirtschaftliche Superioritätsphantasien haben wahrscheinlich einen großen Antrieb hieraus gezogen. Die kurze Darstellung von Beherrschungsnarrativen solcher Art ist für die Erarbeitung der theoretischen Grundlagen der postkolonialen Theorie, insbesondere für die historische und begriffliche Herleitung des Hybriditätsbegriffs relevant, weil diese dem Begriff der Hybridität vor dem Hintergrund der Kolonialgeschichte eine weitere begriffliche, historische und ethische Rahmung verleiht. Die Postkoloniale Theorie stellt Fragen der kulturellen Repräsentation, nicht ohne eine Analyse von globalen wirtschaftlichen Zusammenhängen auszukommen. So gilt es für die Beleuchtung des Zusammenhangs der Phänomene, die den Kolonialismus und Imperialismus betreffen, auch ihre Unterschiede deutlich zu machen. Gayatri C. Spivak stellt das grunsätzliche Problem der Repräsentation als ein doppeltes dar. Es gäbe einen Bruch zwischen der Repräsentation und der Repräsentation als »Darstellung« bzw. als »Vorstellung«. »Da Theorie auch nur »Aktion« ist, repräsentiert der Theoretiker nicht (spricht nicht für) die unterdrückte Gruppe.«135 Jemanden »Für- sich- selbst -Sprechen« zu lassen, wie es Theoretiker, 131 132 133 134 135
Castro Varela/Dhawan 2005: 15. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 13 nach Ghandi 1998: 32f. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 16 nach Hall 2002: 237f. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 16 nach Hall 2002: 237f. Spivak 2008: 29f.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
wie Gilles Deleuze und Michele Foucault vor hatten, offenbarten viel mehr eine »uneingestandene Geste der Selbsterhöhung« der westlichen Mittelklasse.136 Die fehlende Artikulation von Sachverhalten, beispielhaft im Fall von Frauen und Witwen in Indien, beruhe auf der Ordnung des Diskurses, die selbst auf Schweigen beruhe.137 Wie oben angedeutet, kann keines dieser beiden Phänomene als monolithische Herrschaftsform dargestellt werden, welche von einem Zentrum und mit ähnlichem Vorgehen agiert. Vielmehr kennzeichnen sich beide durch den Wechsel an Strategie und Art der Machtausübung. Die Unterschiede zwischen Kolonialismus und Imperialismus sind größtenteils fließend, wenn auch mit eindeutigen Brüchen, wie der formalen Aufhebung von kolonialen Herrschaftsformen.138 Castro Varela und Dhawan rekurrieren wiederum auf den Historiker Osterhammel, der den Imperialismus als »Praxis, Theorie und Haltung eines dominanten metropolitanen Zentrums, durch das ›transkoloniale Imperien‹ entfaltet wurden«139 umreißt. Der Kolonialismus dagegen sei ein Spezialfall des Imperialismus, bei dem weltweite Wirtschaftsräume von kapitalistisch gestützten Interessenswahrnehmungen durchdrungen würden140 . Mit Bezug auf Conrad/Randeria verständigen sie sich darauf, dass in der gegenseitigen Herstellung von Metropolen und Kolonien der Imperialismus als Rahmen hierfür fungiert.141 Dieser Logik folgend würde eine imperialistische Ideologie auch ohne Kolonien auskommen. Aus der Sicht des anti-kolonialen Theoretikers Walter Mignolo könnte die Expansionspolitik Europas zwischen 1500 und 1945 den Kolonialismus lediglich als eine ihrer Etappen verbuchen, gefolgt von der Hegemonie der USA nach 1945.142 In der marxistischen Tradition wird der Imperialismus als Arbeitsbegriff zur Analyse der Weltwirtschaft verwendet und später durch den Begriff der Globalisierung ersetzt. Dieser marxistischen Interpretation zufolge bedeutet Imperialismus allgemein die »Inbesitznahme von Gebieten außerhalb des eigenen Landes durch private Interessensgruppen mit Unterstützung des Staatsapparats«.143 In diesem Zusammenhang wird auch das Aufkommen des modernen westlichen Kapitalismus mit der Expansion europäischer Kolonialmächte in Amerika, Afrika und Asien betrachtet. In einem sogenannten »Dreieckshandel« wurden ab dem 17. Jahrhundert SklavInnen, Rohmaterialien und deren Re-Importe innerhalb eines kolonialen Systems hin und her verkauft und damit »vielfältige […] und verschachtelte […]
136 137 138 139 140 141 142 143
Steyerl 2016:10 in Spivak 2016. Steyerl 2016: in Spivak 2016. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 14 nach Young 2001: 41ff. Castro Varela/Dhawan 2005: 14 in Osterhammel 2003: 27. Weiterführend ist in dieser Debatte Sieber 2002:68ff. Vgl. Conrad/Randeria 2002: 10 in Castro Varela/Dhawan 2005: 14. Mignolo 1993 in Castro Varela/Dhawan 2005: 14. Altvater/Mahnkopf 2004: 63 in Castro Varela/Dhawan 2005: 14.
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Abhängigkeitsverhältnisse«144 etabliert. Im Buch des uruguayischen Journalisten Eduardo Galeano Die offenen Adern Lateinamerikas145 beruhe der Profit, der hauptsächlich dem sogenannten Mutterland zufiel und der so das Anwachsen des europäischen Industriekapitalismus ankurbelte, auf der Ausbeutung der Reichtümer anderer Länder und der Herstellung eines machtpolitischen Ungleichgewichtes.146 Den Zusammenhang von Kolonialismus und Imperialismus zementiert der kritische Orientalist Edward Said als eindeutig. Der Kolonialismus sei immer nur eine Konsequenz aus imperialistischem Denken und Handeln und nicht umgekehrt. Während die marxistische Theorietradition den Kolonialismus in seiner Analyse zumeist als bloße Begleiterscheinung des sich durchsetzenden Kapitalismus darstellte, sahen viele antikoloniale Intellektuelle im realen Leben eine Verwobenheit von Machtkonstellationen mit strukturellem Rassismus.147 Daraus abgeleitet entwickelten sich neue Notwendigkeiten für Theorien jenseits der klassischen eurozentrischen Perspektive. Denn der postkoloniale Blick ist durch seine Auseinandersetzung mit ›Befreiungstheorien‹ in Korrespondenz mit der eigenen Erfahrung gekennzeichnet. Die damit einhergehenden Themen erweitern sich um Aspekte der Produktion und Konstruktion von Identität, Kultur und Nation in Abhängigkeit vom kolonialen oder imperialen Anderen.148 Postkolonialismus ist ein Begriff, der sowohl auf eine Zeitlichkeit rekurriert als auch als eine semantische Weiterentwicklung bis hin zu Formen der Kritik und des Widerstandes in Bezug auf koloniale Herrschaft und ihre gegenwärtigen Konsequenzen verstanden werden kann. Die Kultur der intellektuellen Auseinandersetzung innerhalb des postkolonialen Theorierahmens zeigt sich schon allein an der Problematisierung des Namens. TheoretikerInnen wie Anna Loomba149 machen darauf aufmerksam, dass der Begriff Kolonialismus eine Ausgangssituation suggeriert, die alle vormals kolonisierten Länder auf ihre Kolonialgeschichte reduziert und damit den vorkolonialisierten Wert von Sprache, Tradition, Geschichten, Kultur usw. untergräbt. Mit dem Begriff würde man eben jene koloniale Rechtfertigungsmetapher von Ländern als Tabula rasa weiter evozieren. Auch das Präfix »post«, das auf ein Weiterdenken und auch Kritik der Kolonialherrschaft hindeuten solle, bestärke den Verweis auf die Kolonialisierung als Ausgangslage. Die Betonung präkolonialer Strukturen soll darauf hinweisen, dass auch eben diese einen Einfluss auf die kolonialen Herrschaftsstrukturen hatten. Diese Reziprozität der Geschichten und Einflüsse soll den Blick 144 145 146 147 148
Castro Varela/Dhawan 2005: 15. Galeano 1971 in Castro Varela/Dhawan 2005: 14. Teil der Dominanzverhältnisse ist die englische Sprache als verbreitetes Diskursinstrument. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 14 und 16. Siehe auch die Rolle der Nationalisierung als Instrument der Befreiung und Exklusion im antikolonialen Kampf. (Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 17f.). 149 Vgl. Loomba 1998: 17 in Castro Varela/Dhawan 2005: 17f.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
von der einseitigen Domininanz der besetzen Länder hin zu einer relationalen Perspektive verrücken, bei der der Gehalt der Geschichten sich in ihrer Verwobenheit entfaltet. In diesem Ansatz scheint der widerständige Charakter der postkolonialen Theorie durch, welcher einerseits in marxistischer Tradition kolonialistische und imperialistische Herrschaftsstrukturen anprangert, andererseits die weichere Kategorie der Kultur verwendet, um auf die immerwährende gegenseitige Beeinflussung, aber auch auf das doppelte Abhängigkeitsverhältnis zwischen Europa und den kolonisierten Gebieten hinzuweisen. Das hieße, dass die Geschichte Europas durch und durch mit den Geschichten der »Anderen« verflochten ist bzw. nicht ohne sie beschreibbar wäre. Die Verdeutlichung dieser gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnisse können als Formen der Widerständigkeit bzw. des theoretischen und politischen Engagements, die in den verschiedenen Ansätzen der postkolonialen Theorie zu finden sind, bezeichnet werden. Einige davon werden in diesem Buch, vor allem am Beispiel von Homi K. Bhabhas Schriften, vorgestellt und diskutiert werden. In der Untersuchung der »offenkundigen materiellen Seiten kolonialer Herrschaft […] und die gewaltvolle Macht der Repräsentation«150 geht der Ansatz der postkolonialen Theorie von der Notwendigkeit einer Verflechtung verschiedener Diskursbereiche aus. Kulturelle Güter, wie Literatur, würden als Untersuchungsgegenstände ihren Gehalt erst in einem Zusammendenken von »Geschichte, Philosophie, Sozialwissenschaften und anderen Disziplinen«151 offenbaren. Kennzeichnend für das postkoloniale Schreiben ist der Umgang der Theoretiker mit Theorietraditionen der sogenannten »hohen Theorie«.152 Dieser Umgang ist geprägt von einer kritischen Haltung, die sich auf der einen Seite durch ein ›Nichtvereinnahmen-lassen‹ durch eine bestimmte exklusive ›Schule‹ hervortut. Auf der anderen Seite hat sie umso mehr den Anspruch der Innovation. Gerade hier wird eine fast dilemmatische Verwobenheit der Theorien sichtbar, da auch postkoloniale Theorie sich in ihrer Kritik in einem phänomenologischen Sinne intentional auf die Objekte der Kritik beziehen muss und diese somit in ihrer Signifikanz teilweise bestärkt.153 Der methodologische Bezug auf den französischen Poststrukturalismus und die Kritik daran bringen dieses Problem auf den Punkt. Auffällig ist in der Auseinandersetzung mit den theoretischen Ansätzen, dass der in seinem 1995 herausgebrachten Werk zum Postkolonialismus oft zitierte Robert Young in seinem Standardwerk zur Postkolonialen Theorie Edward Said, Gayatri C. Spivak und Homi K. Bhabha als die ›Holy Trinity”154 der postkolonialen 150 151 152 153 154
Castro Varela/Dhawan 2005: 24. Castro Varela/Dhawan 2005: 24. Castro Varela/Dhawan 2005: 25. Im dritten Kapitel dieser Buches wird in der Kritik am Begriff der Hybridität näher darauf eingegangen. Young 1995: 163 und zur weiteren Lektüre ebd. 2001.
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Theorie benennt. Diese Metapher scheint in der Sichtung der Literatur auch bei anderen Theoretikern beliebt zu sein. In der Regel wird auch Stuart Hall zu der sogenannten Dreifaltigkeit gezählt.155 Es scheint ironisch, dass eine Theorieperspektive, die sich gegen hegemoniale Setzungen und Hierarchisierungen wendet, selbst nicht ohne eine solche Praxis auszukommen scheint. Dies mag der Vereinfachung der Darstellung und der Not der Entscheidung dienen, doch fehlt eine selbstkritische Distanzierung von dieser Praxis der Reduktion und Hierarchisierung im Sinne der eigentlichen postulierten Inhalte. In diesem Sinne wird im Folgenden mit Edward Said nur einer der vielen bedeutsamen TheoretikerInnen der Postcolonial Studies vorstellt, dessen Herleitung kolonialer Praxis und Macht über die Konstruktion kulturell vermittelter Bilder vor dem Hintergrund von Hybridität als gesellschaftlich vermittelte Metapher und Denkfigur für das dritte und vierte Kapitel dieses Buches von Bedeutung ist.
Edward Said: Zur Konstruktion hegemonialer Macht durch Bilder Edward Saids 1978 erschienenes Werk Orientalism gilt als das Gründungsdokument der postkolonialen Theorie. In der Gleichzeitigkeit seiner Tätigkeit als Literaturwissenschaftler und politischer Aktivist sah Said die Sinnhaftigkeit der Wissenschaft darin, in ständiger Korrespondenz mit der »aktuellen Alltagswelt«156 zu bleiben. Sein Leben und Werk kann als spannungsgeladener Raum zwischen Palästina und den USA beschrieben werden. Während er in den USA durch das Engagement für ein Selbstbestimmungsrecht Palästinas und eine differenzierte Kritik an der Rolle des ›Westens‹ aneckte, waren seine Schriften in der Golfregion wegen angeblich zu großer Nähe zum ›Westen‹ verboten. Theoretisch beschäftigt er sich mit Fragen, wie »dominante Kulturen so genannte andere Kulturen repräsentieren und damit erst erschaffen«.157 Dies machte er vor allem in seiner 1978 erschienenen Orientalismusstudie am Beispiel des Islams als Phänomen von imperialer Repräsentations- und Essentialisierungstechnik kenntlich. Said stellt durch die Auswertung und Analyse bekannter Gemälde, »Reiseberichte, journalistischer Schriften, Belletristik und religiöse[r] Texte«158 europäischer Ethnologen, Philologen, Historiker und Künstler ab Ende des 18. Jahrhundert zum sogenannten Orient
155
156 157 158
Bemerkenswert ist, dass Bhabha in allen Variationen der ›heiliggesprochenen‹ Theoretiker eine feste Säule zu sein scheint. Bevor ich jedoch zu Bhabhas theoretischem Beitrag komme, welcher diese Verflechtungsfigur nicht nur inhaltlich ausführt, sondern auch zur Methode macht, werden an dieser Stelle einige andere bedeutsame Ansätze in der postkolonialen Theorie besprochen. Diese geben entweder als Vordenker zu Bhabhas Ansatz oder als Erweiterung dieser eine Hinleitung zu dessen Theorie und den Bedeutungsdimensionen den Begriff der Hybridität. Castro Varela/Dhawan 2005: 30. Castro Varela/Dhawan 2005: 30. Castro Varela/Dhawan 2005: 32.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
heraus, inwieweit ein breiter Wissensbestand von heterogenen Geschichten, Sprachen und Kulturen auf einen Kontext reduziert und homogenisierend festgelegt worden war.159 Dies verdeutlicht er in den Grundzügen durch die Offenlegung der Diskrepanz eines heterogenen und in seinen Binnenstrukturen komplexen Raumes im Gegensatz zu seiner Repräsentation von sogenannten Orientexperten in westlichen Ländern auf ein im Sinne der Kohärenz reduziertes Bild vom ›Orient‹. Dieses Bild war in dieser Logik wiederum als pädagogische – und koloniale – Rechtfertigungsfigur im Einsatz zur Beeinflussung der eigenen Bevölkerung, aber auch als Rechtfertigungsfigur für die Eroberung und Besetzung ganzer Gebiete. Said prangert darüber hinaus an, dass dies zumeist in einem hegemonialen Akt geschah, welcher Kritik an der eigenen Superioritätsperspektive vermissen ließ.160 Saids Arbeiten werden für den akademischen Diskurs als bahnbrechend bezeichnet, da er in Bezug auf die Orientalismusdebatte die Perspektive von einer eurozentrischen auf die europäischen Kolonisatoren und »Wissensproduzenten« umdrehte, indem er diese als »geheime Agenten innerhalb des Orients« beschrieb.161 Im Fokus liegen für Said das Aufzeigen von Verbindunglinien zwischen scheinbar rein deskriptivem akademischen Wissen162 oder »Kennenlernen« des Anderen und den Diskursen der konstruktiven Repräsentation und »Strategien der Weltbeherrschung«.163 In seiner Analyse lehnt sich Said an die Foucault’sche Diskursanalyse an, indem er im historischen Orientalismusdiskurs eine epistemologische Vereinnahmung, Erschaffung und Unterdrückung durch Ordnung und Regulierung von Lehrmeinungen sieht.164 Dabei betont er, in der Foucault’schen Logik bleibend, dass es ihm nicht um die Entlarvung einer Lüge und die Richtigstellung von Wahrheiten ginge, sondern um die Vergegenwärtigung von Strukturen und Methoden als Symbol des asymmetrischen Verhältnisses vom sogenannten Orient und Okzident.165 In der Einleitung zu seinem Werk Orientalismus schreibt er: »Der Orient war fast eine europäische Erfindung […], eines seiner ältesten und am häufigsten wiederkehrenden Bilder des Anderen. Zusätzlich half der Orient Europa (oder dem Westen) sich als dessen kontrastierendes Bild, Idee, Persönlichkeit, Erfahrung zu definieren«.166 Saids Darstellung der Produktion des Orients im weltweiten imperialen Diskurs um die Frage des Anderen und der Legitimation von Hierarchien und hegemonialem Denken verdeutlicht die politische und pädagogische Macht von Mitteln kultureller Repräsentation des Anderen.
159 160 161 162 163 164 165 166
Vgl. Said 1993 und Said 2009: 11. Vgl. Said 2009: 17. Castro Varela/Dhawan 2005: 33 nach Said 1978: 223. Vgl. Said 2009: 11. Castro Varela/Dhawan 2005: 32. Vgl. Said 2009: 11. Vgl. Said 2009: 15. Said 1981: 8.
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Im Zuge der großen Resonanz auf Saids Anstoß der Orientalismusdebatte wird seine Sicht dahingehend kritisiert, dass auch sein »Versuch, die einzigartige Struktur kultureller Beherrschung aufzuzeigen, die sich in dem Dualismus von Orient und Okzident widerspiegelt, […] schließlich in der Stabilisierung eben dieses Dualismus«167 endet. In der Leistung der Umkehrung der Perspektive und Offenlegung von Strukturen der Kolonialisierung liegt – laut den KritikerInnen – auch eine Art der Reduktion und Homogenisierung des okzidentalen Anderen. Auch wenn die Vorwürfe der Totalisierung im Diskurs zumeist relativiert werden konnten, so bleibt der Vorwurf der argumentativen Schwäche, dass Diskontinuitäten, Brüche, Ambivalenzen und widerständige Potenziale von Said im Sinne einer kohärenten Systematisierung des kolonialen Diskurses ignoriert worden seien.168 Die Kritik am binär geprägten Denken und der angeblich daraus folgenden Stabilisierung derselben Blöcke ist der Anlass anderer vornehmlich postkolonialen Denker, allen voran Homi K. Bhabha, ein Denken und Schreiben jenseits von Dualismen zu erproben. In diesem Geiste soll Hybridität in ihrer etymologischen und diskursiven Herleitung auf Produktionsbedingungen von Bedeutung hinweisen, aber auch auf das Potenzial kultureller Mittel in der Gesellschaft. Frei nach Antonio Gramsci können kulturelle Mittel ebenso zur Herstellung einer Gegenmacht genutzt werden bzw. zur Dekonstruktion dieser Produktionsmechanismen. Diesen Ansatz verfolgt der im dritten Kapitel behandelte postkoloniale Theoretiker Homi K. Bhabha.
2.4.2.
Die Ambiguität des Post in der Geschichtsschreibung
Die Besonderheit des postkolonialen Theoriediskurses nach Bhabha (1997, 2000), Hall (2004) und Said (1990) liegt Bauschke-Urban zufolge darin, dass diese über die Kritik an homogenen Bezugsgrößen, wie nationale und kulturelle Einheit hinaus, die aktuelle Subjektposition von MigrantInnen, auch in ihren postkolonialen Geschichtlichkeit begreifen.169 Vor diesem Hintergrund bieten sie oft eine ebenso komplexe wie ambivalente Argumentationsführung an, die die historische und politische Bedingtheit des Subjekts auf theoretischer Ebene innerhalb gesellschaftlicher Machtstrukturen diskutiert und an historischen Beispielen demonstriert. Auf der anderen Seite werden Begriffe, Konzepte und Theorien (im Anschluss an ein postmodernes und poststrukturalistisches Theorieverständnis) in subversiver Manier als Setzungen in hegemonialen Diskursen aus ihren traditionellen, politischen, historischen Kontexten herausgelöst und so anders und neu besetzt und diskutiert. Anders als im Phänomen des ›lost in translation‹, welches in der Übersetzung eines Diskurses in einen anderen zu erwarten ist, wird die Bedeutungs-
167 Castro Varela/Dhawan 2005: 39. 168 Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 42f. 169 Vgl. Bauschke-Urban 2010: 93.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
verschiebung im postkolonialen Kontext auf Missrepräsentation zurückgeführt, da »durch die diskursive Einverleibung des ›Anderen‹ […] historische und politische Kontexte verloren zu gehen«170 drohen. Von diesem kritischen Standpunkt aus gesehen konstituieren und verfestigen Rezeptionsweisen dominanter Diskurse (zum Beispiel binäre, nationalistische, eurozentrische, männerdominierte) im Erfassen ›Anderer‹ ein beschränktes epistemologisches Bild, das vor dem Hintergrund bestehender Machtverhältnisse die Perspektive marginalisierter Gruppen und Völker ignoriert171 . Die Debatte um das Präfix »post-«172 greift ein Kernmoment der Hybridität auf. Im »post-« kulminieren sich chronologische und epistemologische Aspekte. Stuart Halls berühmte Frage »Wann war der Postkolonialismus«173 deutet bereits auf die doppelte Bedeutungsdimension hin. Versteht man Postkolonialismus als Nach-Kolonialismus, so ist damit die Auseinandersetzung mit fortdauernden Effekten und Strukturen nachkolonialer und imperialistischer Machtausübung und Geschichtsschreibung gemeint. Ihre Untersuchungsgegenstände sind demnach auf die Zeit nach dem europäischen Kolonialismus gerichtet, das heißt auf den Zeitraum zwischen der sogenannten ›Entdeckung‹ Amerikas (1492) und den Unabhängigkeitsbewegungen in den 1960er Jahren. Die zweite von Hall ausgesprochene Dimension174 des Postkolonialismus hat eine epistemologische Grundlage, die eine zeitwährend antikoloniale Kritik und Widerstand gegen Sklaverei, Ausbeutung, Unterdrückung ausdrückt. An den jeweiligen Positionen der Präfixdebatte ist problematisch, dass die diachrone Perspektive Gefahr läuft, den Kolonialismus »in einem teleologischen Narrativ zu historisieren und damit als abgeschlossene, überwundene Periode der Geschichte zu deklarieren«,175 während in einer synchronen Perspektive auf die postkoloniale Geschichte Zeitgeschichte dagegen ausschließlich als »Verarbeitungsphase des nachwirkenden Kolonialismus«176 erscheinen lässt. Vor dem Hintergrund dieser Kritik an der Einseitigkeit der jeweiligen Positionen schlägt Gaby Dietze vor, eine durch Gleichzeitigkeit und Verflechtung geprägte Auseinandersetzung beider Dimensionen und Gegenstandsbereiche aufrechtzuerhalten, indem aktuelle Phänomene und historische Ereignisse vor dem Hintergrund ihrer territorialen, kulturellen und ökonomischen Bedingtheit kontextualisiert werden.177 170 Ha 2005: 86. 171 Weiterführend ist hierzu u.a. der Ansatz von Spivak 1994 172 Siehe hierzu auch Jörn Rüsens Kritik am »Post«- . Post als Moment der Überwindung würde durch den fehlenden Bezug zur Geschichte in ihrer Breite und Vielschichtigkeit ein wichtiges Merkmal von Geschichte als Ort der Orientierung vernachlässigen 173 Vgl. Hall 1997: 237. 174 Hall 1997: 237f. 175 Struve 2013: 14. 176 Fauser 2008: 36. 177 Vgl. Dietze 2005: 304ff.
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Denn der Postkolonialismus kann sowohl als zeitliche als auch als kritische Folge der Geschichte der Kolonialherrschaft verstanden werden. Daraus resultiert der Anspruch des Postkolonialismus, der sich in dieser Logik als ein ebenfalls doppelter versteht, nämlich darin, historische Spuren und aktuelle Phänomene der »koloniale[n] und nach- und neokoloniale[n] Verflechtungen von kolonisierenden Gesellschaften mit ökonomisch, kulturell und territorial ehemals kolonisierten Bevölkerungen«178 zusammen zu denken. Prominente postkoloniale DenkerInnen wie Spivak, Hall und Bhabha beziehen Teile ihrer Theoriekonstruktion aus poststrukturalistischen Ansätzen von Jean-Francois Lyotard, Jacques Derrida, Gilles Deleuze und Michel Foucault. Aus dem historischen und politischen Problembewusstsein von Bildern und Sprache als konstruierenden und machtvollen Instrumenten in Bezug auf Weltbeherrschung (in Anschluss an Said) sehen Theoretiker wie Bhabha die Hinzuziehung poststrukturalistischen Denkens und Vorgehens, das einen kritischen und spielerischen Umgang mit (Be-)«Setzungen« postuliert, als notwendige Erweiterung der postkolonialen Theoriebildung an. Aufbauend auf ein breites vorhandenes Wissen zum Poststrukturalismus, zum Beispiel bei Stefan Münker und Alexander Roesler (2012) und der ersten umfassenderen Darstellung des poststrukturalistischen Diskurses (»Neostrukturalismus«) bei Manfred Frank (1984), wird an dieser Stelle seine Bedeutung für das postkoloniale Denken und Schreiben im Vordergrund stehen. Der Poststrukturalismus wird nicht nur aufgrund seiner namentlichen Bezeichnung, sondern auch aufgrund seiner ideenlogischen und methodischen Vorgehensweise mit der Marke der Ambiguität versehen, welche in seinen Potenzialen und Schwächen ebenso diskutiert wird.179 Aufgrund der bewussten Uneinheitlichkeit der Grenzen des Poststrukturalismus ist genauso unklar, inwieweit Jacques Lacan, Roland Barthes, Paul de Man oder Frantz Fanon180 zu der poststrukturalistischen Riege dazugezählt werden, zumal diese als wichtige Bezugspunkte des Poststrukturalismus und des Postkolonialismus gelten. Die Nähe dieser beiden Denkrichtungen offenbart sich unmittelbar bei der Lektüre ihrer Ideen und Methoden. Mit Verweis auf problematische Zusammenhänge von wissenschaftlichen Theorien und ihrer Spiegelung durch gesellschaftspolitische Tatsachen, wie etwa den Gräuel des Kolonialismus oder der Relativierung und Einordnung von Krieg oder Genoziden in eine gewisse historische Vernunft, sind
178 Struve 2013: 14 nach Dietze 2005: 304f. 179 Vgl. Münker/Roesler 2012: 156. 180 Vgl. Fanon 1985 und 1994.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
beide Ansätze geprägt von einer kritischen Haltung und einer sich im Stil zeigenden Suchbewegung nach Neuem. Der Poststrukturalismus deutet hier auf eine doppelte Kritik: Wie im Abschnitt zur Moderne und Postmoderne, aber auch in den Ausführungen zur postkolonialen Perspektive aufgezeigt, wendet er sich einerseits an Denksysteme, die durch Ausschluss funktionieren, und vollführt diese Kritik zum Anderen durch das Aufzeigen der Möglichkeiten eines Spiels mit Strukturen und ihren Regeln. Zu den bedeutendsten Ansätzen des Poststrukturalismus zählt neben den oben genannten unter anderem Jacques Derrida mit seinem Konzept der differance. Von Relevanz ist dieser Ansatz mit Bezug auf Hybridität insofern, als er auf ein besonderes Verständnis von Differenz und dem Umgang damit hinweist. Demnach macht die Sprache auf ein universelles Problemfeld aufmerksam, durch welches jeder Ursprung durch seine diskursive Herstellung in Frage gestellt wird und damit kein (originäres, transzendentales oder zentrales) Signifikat außerhalb eines Systems von Differenzen existieren kann. Daraus leitet Derrida ab, dass die Abwesenheit eines transzendentalen Signifikats zur unendlichen Erweiterung des Feldes und des Spiels des Bezeichnens einleiten würde.181 Bemerkenswerterweise weist Derrida selbst darauf hin, dass man die allgemeine Strategie dieser Logik nicht verstanden hätte, wenn man »völlig auf die Kontrolle der Anwendung dieser Feststellung verzichten«182 würde und sie »beispielsweise der Hand eines Beliebigen anvertraut, überlassen, und übergeben würde: der rechten oder der linken«183 . Derrida macht in dieser Warnung deutlich, dass seine Anwendung der Vervielfältigung von und sein Spiel mit dem Bezeichnen und der Bedeutung missbraucht werden könnten und warnt explizit davor, diese Anwendungen naiv Beliebigen zu überlassen, wel-
181 182 183
Vgl. Derrida 1972: 424ff. Derrida 1972: 420. Derriada 1972: 420.
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che sie für politische Interessen instrumentalisieren könnten.184 Eine Diskussion um die Aktualität dieser Warnung erfolgt zum Ende des dritten Kapitels. Im folgenden wird ein in den USA mittlerweile vielbesprochenes Beispiel für eine postkoloniale Perspektive und Umgang mit dem Kolonialismus vorgestellt: Die Frage nach dem Ursprung einer Sache gehört zu den großen Fragen in der Geschichte – nicht nur in den Geisteswissenschaften. Der Beginn der Kolonialgeschichte wird oftmals mit der eingängigen Aussage: »Die Entdeckung Amerikas« auf das Jahr 1492 datiert. Ein Beispiel für den Umgang postkolonialer Theoretiker mit der Geschichte des Kolonialismus erfolgt im Folgenden. Stuart Hall stellt in seinem Buch Rassismus und Identität aus dem Jahr 1994 ein Gedicht des afroamerikanischen Schriftstellers James Baldwins an den Beginn seiner Einleitung. »Imagination creates the situation and, then, the situation creates imagination. It may, of course, be the other way around: Columbus was discovered by what he found.«185 Im ersten Absatz wird die Frage danach wieder aufgenommen, ob die Vorstellungswelt (im Original: »imagination«) die Verhältnisse (im Original: »situation«) erschafft und diese dann wiederum die Vorstellungswelt erschaffen.186 Während der eben erwähnte erste Absatz auf die Denkweise der spekulativen Philosophie und eine eurozentrische Weltvorstellung anspielen mag, so dreht der zweite Absatz des Gedichts die Ausgangssituation um und eröffnet auf spielerische, spekulative
184 Besonders heftige Kritik an diesem poststrukturalistischen Denken kommt aus marxistischer Perspektive, zum Beispiel von Jean-Paul Sartres, da es in der Dekonstruktion des Subjekts auch dessen Relativierung einläuten würde. In der Analyse der Determiniertheit des Menschen bis ins Innerste zu einem komplexen System der »Konsumption, Distribution und Produktion« (vgl. Münker/Rösler 2012: 90) bleibt demgegenüber wenig Raum für ein starkes Subjekt. Damit würde auch das revolutionäre Potenzial eines jeden Subjektes untergraben werden, während das gerade im Mai ʼ68 das Potenzial der gesellschaftlichen Veränderung immer offener zu Tage trete (vgl. Münker/Rösler 2012: 90). Sartre richtet den Vorwurf der Ungeschichtlichkeit an Claude Lévi-Strauss sowie aufbauend darauf des Unpolitischen an Foucault, die die spezifische Rolle der Geschichtlichkeit für ihre Theorien zugunsten eines Denkens von Veränderung als bloße Transformation stets gleicher Grundlagen herunterspielen würden. Louis Althusser, Foucault und andere zeigen Versuche einer Reaktion auf diese Kritik, indem sie den Strukturalismus mit dem geschichtsbewussten Marxismus teilweise in ihre Analyse einschließen. 185 James Baldwin nach Hall 1984: 5. 186 Siehe dazu auch die Erläuterung der marxschen Auseinandersetzung mit der spekulativen Philosophie in diesem Buch.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
(»it may«) und doch entschlossene (»of course«) und vielleicht sogar revolutionäre (»be the other way around«) Art eine andere Interpretation der Rolle von Philosophie und Geschichte. In dieser Version differenziert Baldwin nicht nur zwischen Entdecken (»discovered«) und Finden (»found«), sondern schafft auch eine Bedeutungsverlagerung vom harmlosen, zufälligen Finden zum weitreichenden Entdecken. Die Position des Aktiven und Passiven wird in dem Sinne umgedreht, dass Columbus von dem entdeckt wird, was er findet. Die Macht wird in die Hand des Gegenstandes gelegt, durch den Columbus (bzw. sein Umgang mit dem Anderen, Neuen) entdeckt oder entlarvt wird. Vor dem Hintergrund der marxistischmaterialistischen, aber auch der poststrukturalistischen Theorienansätze, auf die sich postkoloniale Theorien und Geschichtsverständnis beziehen, kann dies mindestens in zweierlei Hinsicht interpretiert werden. Zum einen kann die Aussagekraft über Columbus durch das, was er gefunden hat, darin liegen, zu zeigen, wie einzelne Menschen, Menschengruppen oder gar ein hegemoniales Denken mit dem ihnen Neuen, Fremden in der Geschichte umgegangen sind. Zum anderen kann in postmoderner und poststrukturalistischer Manier die Form des Gedichts mit seiner subversiven und doch klaren Sprache als kritisch dekonstruktives Spiel mit Struktur und Geschichte gelesen werden. Die Möglichkeit der Geltung beider Interpretationen kennzeichnet den Ansatz dieser Denkschule, die sich als eine unbequeme Theorie zwischen marxistisch-materialistischen und poststrukturalistischen Positionen und Anwendungen versteht. Im Anschluss an den Begriff der Hybridität steht hier nicht nur die kritische Auseinandersetzung mit einem dominanten Geschichtsverständnis, sondern eine Vielfalt von Ansatzmöglichkeiten, die nicht im dialektischen Sinne als harmonisierend geltend sollen, sondern eine subversive und gar widerständige Art der Gegen-Beeinflussung, sogar Infizierung hegemonialer Machtstrukturen im Sinn haben.
2.5.
Hybridität als Metapher in der Kultur
Im Zuge der Diskussion um den Begriff der Hybridität wird dieser als Signatur der jeweiligen Zeit, des Raumes und der jeweiligen dominanten Diskurse besprochen. Gleichzeitig werden entlang dieser Kontexte weitere semantische Bestimmungen von Hybridität präsentiert, in welchen ein Denken entgegen abschließende Differenzziehungen, eindeutige Identifizierungen und Hierarchisierungen herausgestellt wird. Hybridität zeigt sich zunehmend als eine bestimmte epistemologische Perspektive auf die Welt in ihrer Differenz und in ihren verflochtenen Zusammenhängen von ordnenden und unterdrückenden Mächten. In der Darlegung der postkolonialen Agenda, deren Positionen gekennzeichnet sind durch Ambivalenz, Widerstreit und Spannungen, wird deutlich, dass der gemeinsame Nenner dieser Po-
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Zugänge zu Hybridität
sitionen in einem kritischen interventionistischen Denken in hegemoniale Diskurse vor dem Hintergrund einer postkolonialen und imperialistischen Weltordnung liegt. In folgendem Abschnitt dieses Kapitels wird Hybridität vor dem Hintergrund der Entwicklung bzw. des intellektuellen Kampfes um die Frage der Kultur gestellt. Sie gilt als Gegenstand und Mittel der Ausgrenzung, der Emanzipation und als Spielraum um gesellschaftliche Bedeutungssetzung. Die Relevanz der Kategorie »des Kulturellen«187 , der kulturellen Differenz und Zugehörigkeit kann dem Erziehungswissenschaftler Paul Mecheril zufolge auf mindestens drei Ebenen verstanden werden: Zum einen werden in der Pluralisierung sozialer Kontexte, Beziehungen, Selbstverständnisse und Stile, welche eine Folge weltweiter Wanderungsbewegungen sind, kulturelle Phänomene gesellschaftlicher Realität zum empirisch relevanten Gegenstand von Untersuchungen. Zum anderen hätten sich die kulturellen Teilaspekte in der Gesellschaft nicht nur an der Zahl vermehrt, nach Mecheril sei darüber hinaus eine zunehmend »kulturelle und kulturalisierende Auffassung«188 von gesellschaftlichen, institutionellen, organisatorischen und sozialen Bereichen zu beobachten, welcher jenseits der Bewertung dieser Tendenz auf einer analytisch-methodologischen Ebene begegnet werden kann.189 In den Sozial- und Geisteswissenschaften wird in Bezug auf aktuelle Diskussionen um Kultur immer mehr auf den Begriff der Hybridität rekurriert, der – wegen seines interventionistischen Charakters in hegemonialen Konzepten und Festschreibungen und wegen seines Verweises auf die Unterdrückung und auf das Potenzial von Ausgeschlossenen – als Symbol für Widerständigkeit und Vielfalt verwendet wird. Diese Zuordnung distanziert sich explizit von Kultur als ›engem‹ Begriff, dessen Entstehungsnarrativ auf das Ende des 18. Jahrhunderts datiert wird und der ausschließlich die sogenannte Hochkultur und künstlerische Institutionen umfasst. Seiner Bedeutungsmacht wird eine Privilegierung höhergestellter sozialer Schichten und des Bildungsbürgertums zugerechnet.190 Ein weiterer Ansatz von Kultur wird u.a. von Andreas Reckwitz vertreten, der Kultur als Ausdruck sozialer Praxis versteht und in diesem Sinne dem Subjekt eine prinzipielle Hybridität als Ausdruck des sozialen Werdens zuschreibt.191 192
187 188 189 190 191 192
Mecheril 2011: 27. Mecheril 2011: 38. Vgl. Mecheril 2011: 37f. Vgl. Saal 2007: 22. Vgl. Reckwitz 2006: 268ff. Siehe auch Reckwitz’ Einteilung des Kulturbegriffs in vier verschiedene systematische Unterscheidungen (Reckwitz 2008: 20).
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
2.5.1.
Hybridisierung als Problematisierung des ›traditionellen‹ Kulturbegriffs
Die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit Begriffen und Konzepten von Kultur, Cultural Turn und im Speziellen der Hybridität wird im wissenschaftlichen Narrativ mit der Problematisierung des ›traditionellen‹, engen Kulturbegriffs begründet. Seine Etablierung als moderner Begriff wird zeithistorisch zum Ende des 17. Jahrhunderts nach Pufendorf oder Ende des 18. Jahrhunderts nach Herder eingeordnet. Definitorisch beschreibt dieser heute als »eng«193 bewertete Kulturbegriff ausschließlich institutionalisierte Kunst im Sinne der Hochkultur, worunter klassische Musik, Literatur, Oper und Theater fallen. Eine weitere Dimension dieses herkömmlichen Kulturbegriffs ist die Klassifizierung von Menschengruppen zu Kulturen. Dies geschieht auf der Basis geteilter geopolitischer Räume oder geteilter Denkmuster, wie Geschichte, Religion, Sprache, Weltanschauung, Ethnie etc. Aus universalistischer Perspektive entsteht dann ein Problem, wenn die darin gesehenen kulturellen Gemeinsamkeiten im Sinne von »Identitäts- bzw. Selbstbehauptungsdiskurse[n]«194 verwendet werden. Der Romantiker Herder wird oftmals als »ideologischer Geburtshelfer«195 eines auf spezifische Eigenschaften hin konstruierten Kulturbegriffs genannt, welcher ihm zufolge vom »genetischen Geist und Charakter eines Volkes«196 umschlossen ist. Mit der Konstituierung von Gemeinsamkeiten geht auch die Praxis der Abgrenzung nach Außen und eine »Homogenisierung des Inneren«197 einher. Infolge dessen wird Kultur als einheitsstiftendes Mittel um die Kategorie der Ethnie gedehnt und erhält im Aspekt der Herkunft ihr Gründungsnarrativ. Bismarck soll zum Beispiel bei der Gründung der deutschen Nation 1871 im Sinne der politischen Agenda der Vereinheitlichung auf sogenannte kulturellen Eigenarten der Deutschen rekurriert haben, wohl wissend um die regionalen Unterschiede, Rivalitäten und Selbstbestimmungskämpfe zum Beispiel der frankophilen Elsässer.198 Bemerkenswert ist an diesem Beispiel die doppelte Konstruktion eines zeitlosen Kulturbegriffs. Kulturelle Eigenschaften werden im Sinne der Einheitsstiftung einerseits neu »erfunden«199 , aber gleichzeitig wird ihnen eine Ursprünglichkeit und Natürlichkeit zugesprochen, welche einen ewig währenden Geltungsanspruch trägt.200 Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass
193 194 195 196 197 198 199 200
Saal 2007: 22. Saal 2007: 22. Breidenbach/Zukrigl 1998: 22. Breidenbach/Zukrigl 1998: 22. Saal 2007: 22. Vgl. Breidenbach/Zukrigl 1998: 22. Breidenbach/Zukrigl 1998: 22. Vergleiche die Diskussion um Identität in diesem Kapitel und im dritten Kapitel um die sogenannte Neue Rechte/»Identitäre-Bewegung.«
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mit Verweis auf den traditionellen Kulturbegriff weiterhin viele dieser oben genannten kulturellen Eigenschaften in der öffentlichen Wahrnehmung, wie auch im Gesetz verankert sind. Dieser Definition nach gehört jemand zum deutschen Kulturkreis, wer deutschen Blutes ist (jus sanguinis). An diesem Beispiel wird deutlich, wie der Begriff der Kultur im politisch romantischen Sinne von Herder in einer fast schon antikolonialen Rhetorik gegen ›ein Frankreich im Innern‹ erschaffen wurde, von Bismarck mit dem Ansinnen einer Nationenbildung weiter gefüllt und polemisiert wurde und von den Nationalsozialisten als legitimierendes Instrument für die sogenannte Gleichschaltung (Unterdrückung und Ermordung) von als ›anders‹ und ›entartet‹ klassifizierten Menschen und Denkarten im Namen der kulturellen und rassischen Minderwertigkeit instrumentalisiert wurde. Die Karriere des Kulturbegriffs konstatiert auch zugleich ihre politische Macht. Denn durch sie wird im öffentlichen Raum darum verhandelt und gekämpft, wer nicht dazu gehört. Gerade vor dem Hintergrund von Flucht und Migration wird die Zugehörigkeitsfrage zur Kultur in diesem Sinn noch mehr zu einem Kampfbegriff. Er ist dann nicht nur Mittel der Grenzziehung zwischen Innen und Außen, sondern auch zwischen Oben und Unten, das heißt, er ist ein Mittel der Anerkennung und Verwehrung von Überlegenheit, Hegemonie und Ressourcen. Vor diesem theoretischen und historischen Hintergrund, aber auch mit Blick auf aktuelle Herausforderungen in Einwanderungsgesellschaften wie Deutschland, bezieht sich der Erziehungswissenschaftler Georg Auernheimer in seinem Zugang zu der Thematik der »Migration als Herausforderung für pädagogische Institutionen« auf kulturkonstruktivistische Ansätze Stuart Halls und Seyla Benhabibs, welche den Zugang über den Konstruktcharakter von Identitäten betonen.201202 Entscheidend an diesem Ansatz ist nach Auernheimer die Differenzierung der Beobachtungsstandpunkte, auch hinsichtlich der Traditionsbestände. Mit Schiffauer (1997) plädiert Auernheimer dafür, Kulturen weniger als geschlossene Systeme, denn als Diskursfelder zu betrachten.203 Die theoretische Herleitung dieses Denkens kann in den Kontext des Cultural Turns gestellt werden.
Im Rahmen von Cultural Turn und Cultural Studies Der Begriff der Hybridität ist also mit einem spezifischen Verständnis von Kultur verbunden. Eingebettet ist dieses in die angloamerikanische Tradition der Cultural Studies, welche sich im Kontext des Cultural Turn nicht über spezifische wissenschaftliche Disziplinen oder Gegenstandsbereiche oder Denkschulen definiert, sondern darüber, dass sie versucht, mit Bezug auf Defizite in der traditionellen, auf Referentialität ausgerichteten und eurozentrischen Wissensproduktion einen
201 Vgl. Auernheimer 2001: 10. 202 Zur weiteren Literatur empfehle ich Nohl 2006 und Nieke 2008. 203 Vgl. Auernheimer 2001: 10 und vgl. Ort 2008: 24ff.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Perspektivwechsel und eine Fokussierung auf Neues anzustreben. In dieser Logik wird Kultur in den Dimensionen ihrer Materialität und Medialität begriffen.204 Dem Selbstverständnis der Cultural Studies liegt eine bestimmte Herangehensweise zugrunde, die seit ihrer Gründung Mitte der 1960er Jahre in Birmingham im Centre for Contemporary Cultural Studies als Antwort auf kulturelle, gesellschaftliche und historische Auswirkungen von Homogenität, Festgeschriebenheit und Eindeutigkeit für ein »weltumspannende[s] Feld intellektueller Praxis«205 eintritt. Mit diesem idealistisch anmutenden Anspruch handeln sich VertreterInnen der Cultural Studies die Kritik ein, eben diesen Anspruch zu entleeren, indem der Begriff undefinierbar und zu allgemein bleibt. Nichtsdestotrotz verfolgen die Cultural Studies ihr Anliegen methodologisch, indem sie Widersprüche, Heterogenität und Diversität in den Blick nehmen. Dabei spielt die »Kultur« als Gegenstand und Mittel der Analyse eine besondere Rolle. Zum einen sei ihre Sphäre zwar »von ökonomischen und sozialstrukturellen Verhältnissen vermittelt und beeinflusst«206 , zum anderen würde sich ihre relative Autonomie durch ein doppeltes Potenzial bestimmen. In dieser Sphäre des Kulturellen würden sich Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse bestätigen können. Hinter den Differenzpraxen stehe die »ungleiche praktisch wirksam werdende symbolische Zuteilung von Ressourcen, Anerkennung und Positionen«207 . Das kritische reflexive Bewusstsein dafür, wie »Macht in die Möglichkeiten der Menschen, ihr Leben auf würdige und sichere Art zu verbringen, eindringt, sie beschneidet und sich ihrer bemächtigt«208 , verdeutlicht, inwiefern die Cultural Studies über das fachübergreifende akademische Projekt hinaus ihr Projekt als ein politisches Engagement begreifen. Ein solches Verständnis von Kultur lehnt sich an postmoderne und poststrukturalistische Denkund Vorgehensweisen an, die fixe Grenzen zwischen dominanten Kulturen, die zuvor separiert worden waren, »als ein spielerisch dekonstruktives Hin- und Herwechseln zwischen kulturellen Feldern«209 radikal überschreiten. Die Überschreitung ist nicht als einmaliger revolutionärer Akt des Ausbruchs aus rigiden Strukturen und Systemen zu verstehen, sondern als eine »permanente Subvertierung der Kultur von Innen«210 . Eine solche Grenzüberschreitung von separierten Diskursfeldern findet analog zu poststrukturalistischen Überlegungen insbesondere vom Bereich des Kulturellen und Ästhetischen in Feldern des Nicht-Kulturellen und Nicht-Ästhetischen statt. Die Materialität der Alltagswelt wird zum Gegenstand von Umdeutungen und Subversion. Unter dem Motto ›fringe interferences‹ werden 204 205 206 207 208 209 210
Vgl. Bachmann-Medick 2006: 9ff. Mecheril/Witsch 2006: 8.Nach Grossberg 1999: 47. Mecheril/Witsch 2006: 8. Mecheril/Witsch 2006: 14. Mecheril/Witsch 2006: 11 nach Grossberg 1999: 62. Reckwitz 2006: 469. Reckwitz 2006: 469.
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Alltagssituationen, Alltagsbilder, Alltagsgeräusche, Alltagstexte und Alltagsgegenstände durch Zweitbearbeitungen, Überschreibungen, Iterationen gekreuzt und verfremdet. Der Anspruch besteht darin, dass eine Gestaltung der Öffentlichkeit und des Allgemeinen zum Schnittpunkt gesellschaftlicher Ausdrucksweisen wird. Die Frage der Methodologie der Cultural Studies wird mit Blick auf die Komplexität der Untersuchungsgegenstände bewusst uneinheitlich beantwortet. Je nach Gegenstandsbereich und Kontext wird in der Wissenspraxis der Transdisziplinarität Methodenanleihe und -mischung zur Selbstverständlichkeit. Gegen den Vorwurf der Beliebigkeit hat Lawrence Grossberg, einer der prominentesten Vertreter der Birmingham-Tradition in den USA sechs grundsätzliche Leitlinien entwickelt, die durch den Kulturwissenschaftler Oliver Marchart aufbereitet und um weitere Erklärungen ergänzt worden sind, die im Folgenden kurz dargestellt werden: 1. Disziplin (Selbstverpflichtung zum »Wissen, Rigorosität und intellektueller Disziplin«211 als Notwendigkeit, institutionelles Wissen zu kennen, zu schützen und begründet zu kritisieren) 2. Kontextualismus: Ein Aspekt muss in seiner Relevanz für den Gegenstand und den vielfältigen Zugangsmöglichkeiten immer wieder eine Begründung erfahren. 3. Theoriearbeit: Eine theoretisch fundierte wissenschaftliche Arbeit kommt dem Anspruch der Kontextualisierung sowie dem interventionalistischen Einsatz in Fragen des Politisch-Sozialen näher. 4. Transdisziplinarität: Sie verfolgt eine Strategie, in der Grenzen den Disziplinen zugunsten der Gewinnung von Erkenntnis und politischen Kenntnissen durchbrochen zu werden. 5. Selbstreflexivität: Die reflexive Absicherung gegen die Illusion, dass die subjektive und wissenschaftliche Perspektive in der Analyse sozialer Machtverhältnisse eine allgemeine Metaebene repräsentieren könne. 6. Politik: Damit ist die über den Gedanken der Selbstreflexivität hinausgehende Rechenschaftspflicht angesprochen, welche die eigene politische, institutionelle und epistemische Verstrickung in Machtverhältnisse immer wieder offen zu legen hat. Die Verschiebung der Aufmerksamkeit hin zur kulturellen Dimension kann auch vor dem Hintergrund einer verlagerten Orientierung im postsozialistischen Zeitalter verstanden werden. Fragen darüber, inwieweit über den Begriff der Kultur Glaubensvorstellungen auf Klassenzugehörigkeit und Glaubensvorstellungen verweisen oder inwieweit kulturelle Ausdruckformen Rückschlüsse auf hegemoniale Medienstrukturen erlauben, mussten zunehmend Raum schaffen für Diskurse darüber, inwieweit zum Beispiel »weltweit 211
Marchart 2008: 38.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
ausgestrahlte Seifenopern für die Identitätsvorstellungen von Menschen« analytische Geltung besitzen.212 Den ›tödlichen Ernst‹ in der Notwendigkeit der Untersuchung pop-kultureller und subkultureller Gegenstandsbereiche sehen sie im gesellschaftspolitischen Einfluss dieser auf Gesellschaftsmitglieder und ihrer Zeit.213 Im Zuge der Diskussion um kulturelle Hegemonie wird teilweise auf Antonio Gramsci rekurriert, demzufolge man mehr wissen müsse als die andere Seite.214 Die politisch-normativen Belange werden demnach im Journalismus und in der Wissenschaft immer weniger über große Einheiten wie das Klasseninteresse und immer mehr in postmoderner Manier in kleineren Kategorien, zum Beispiel in der Gruppenidentität verhandelt. Es sind nun mehr die kleineren sozialen Bezugsgrößen, die sozial- und politisch Marginalisierten, die »kulturell Anderen«215 , die zur Beschreibung und Kritik an Missachtungsverhältnissen herangezogen werden. Das Medium der politischen Bewegung hat sich Mecheril zufolge von der großen Bühne auf viele kleinere Schauplätze verschoben. Andreas Reckwitz stellt den Bereich des Kulturellen als Ort des Counter Culture oder als Trainingsfeld postmodernistischer und poststrukturalistischer Kunst und Handlungsmacht216 dar. Reckwitz schreibt hybriden Subjektformen im Bereich des KünstlerischKulturellen »im Gewahrwerden der Unbestimmtheit von Grenzen zwischen scheinbar notwendigen separierten Daseinsfeldern«217 die Fähigkeit zur semiotischen Grenzüberschreitung zu. Die Bewegung des »Turns« wird von Reckwitz an die Metapher der Grenzüberschreitung angelehnt, die in einer stetigen Bewegung zwischen den Theorietraditionen, Untersuchungsgegenständen, sozialen Praxen und disziplinären Grenzen verläuft. Gesellschaftspolitisch kann man die Haltung der Cultural Studies dennoch als ambivalent bezeichnen. Trotz des »Engagements für eine bessere Welt«, und der (frei nach Grossberg) »theoretischen Einsichten als Werkzeuge«, »um die Dunkelheit des Offensichtlichen zu erhellen«218 charakterisieren sie sich durch eine inhaltlich zurückgenommene und vorsichtige Haltung zum Thema »Kritik«. Als Legitimationsfiguren hierfür dienen die »kritisch normative […] Orthodoxie und ihre […] unbarmherzige […] Gewissheit«219 . Dieses intellektuelle Denken, theoretisch vornehmlich von der Postmoderne und vom Poststrukturalismus geprägt, wird als ei-
212 213 214 215 216 217 218 219
Breidenbach/Zukrigl 1998: 18. Vgl. Hall 2000 in Marchart 2008: 38. Vgl. Gramsci in Marchart 2008: 38. Mecheril 2011: 38. Reckwitz 2006: 268ff. Reckwitz 2006: 469. Mecheril/Witsch 2006: 12 nach Hall 1999: 62 Mecheril/Witsch 2006: 12.
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Zugänge zu Hybridität
ne »enthaltsame« und inhaltlich unterbestimmte Variante der Kritik stilisiert.220 Die programmatisch negative Suchperspektive ohne Ziel legt somit sowohl die Stärke als auch die Schwäche der Cultural Studies offen. Erstere zeige sich in einer offenen Ausrichtung von Kritik.221 Die alte Frage der Normativität und des Umgangs damit bringt das Problem der Haltung der Cultural Studies zum Thema Kritik auf den Punkt. In ihrem Anspruch, der Unorthodoxie und der ergebnisoffenen »theoretischen Lernfähigkeit«222 untersuchen sie, wie Menschen durch kulturelle Alltagspraktiken im Kontext von Macht und Autoritätsverhältnissen subjektive Bewusstseinsprozesse durchlaufen und ihr Leben »meistern«223 . Doch selbst wenn die kritische Perspektive der Cultural Studies die Bedingungen analysieren will, unter denen ein Meistern nicht gelingt, so bleibt die Frage offen, an welche normativen Fixpunkte die Bedingungen des Gelingens, Scheiterns und Meisterns geknüpft sind. Die Nähe der Schwäche zu der Stärke des Normativitätsbegriffs in den Cultural Studies verdeutlicht sich in dem Urteil über das »Meistern« des Lebens. Denn so wenig man daran kein eindeutiges und endgültiges Urteil fällen kann, so sehr hilft dies dabei, den Menschen in seiner Komplexität und Unabgeschlossenheit und damit auch in seinen Potenzialen wahrzunehmen. Dies eröffnet den Raum für pädagogische Einflüsse. Der analytische Gehalt der Cultural Studies liegt in ihrer Doppelperspektive. Sie untersucht die durch die Kultur vermittelte Verschränkung von Subjektivität und Macht im Sinne von komplexen und umstrittenen Prozessen von sozial konstruierten Differenzen und Identitäten. Mit Mecherils und Witschs Worten soll durch die Kulturanalyse »die Verstrickung der Subjekte in und mit machtbestimmte[n] Schemata«224 ergründet werden. Auf gleiche Weise wohnt das Potenzial der Verschiebung und Verflüssigung den Cultural Studies inne.225 In der Doppelperspektive ist die Untersuchung kultureller Welterschließung in ihrem Potenzial für Reflexivität, Kreativität und Subversion gegen machtvolle Differenzpraxen ein ebenso wichtiger Analysegegenstand der Cultural Studies. Mecheril und Witsch sehen die grundlegende erziehungswissenschaftliche und pädagogische Relevanz der Cultural Studies in dem oben erwähnten Potenzial. Es könnte Möglichkeiten der Analyse von Bildungsprozessen eröffnen, sofern man diese auf Ermöglichungsbedingungen untersuchte, unter denen sich das Potenzial aktualisieren ließe.226
220 221 222 223 224 225 226
Mecheril/Witsch 2006: 12. Vgl. Mecheril/Witsch 2006: 12. Vgl. Mecheril/Witsch 2006: 12. Vgl. Mecheril/Witsch 2006: 12 nach Johnson 1999: 145f. Mecheril/Witsch 2006: 14. Vgl. Mecheril/Witsch 2006: 8f. Vgl. Mecheril/Witsch 2006: 14.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Hybridität und Differenz in ihrer Ambivalenz Die Frage danach, inwieweit Hybridität als Signatur ihrer jeweiligen Zeit und ihres Raumes in Bezug auf den Umgang mit Differenz aussagekräftig ist, kann zum Beispiel am dominanten Diskurs in der deutschen Erziehungswissenschaft zu kultureller Differenz abgelesen werden. Sowohl Paul Mecheril als auch Hans-Christoph Koller betonen die Notwendigkeit einer pädagogischen Grundhaltung, die bestehende kulturelle Differenz bejaht, dabei problematisieren beide zudem mögliche Konsequenzen und Nebeneffekte der Konzentrierung auf kulturelle Differenz. Koller sieht die Bedeutung der kulturellen Differenz im Rahmen theoretischer und empirischer Bildungsforschung in der Anerkennung von »Pluralität kultureller Orientierungen«.227 Diese seien als »grundlegende Bedingung für die Lebensgeschichte aller Gesellschaftsmitglieder«228 anzuerkennen. Für die Auseinandersetzung an empirischem Material zu diesem Aspekt stellt er heraus, dass die Erfahrung der kulturellen Differenz im Fall von MigrantInnen in »Fragen nach Bildungsprozessen in einer radikal pluralen Gesellschaft besonders aufschlussreich sei«229 . Auch Mecheril zufolge ist der Anerkennungsansatz hinsichtlich der Differenz als sozialwissenschaftliche Kategorie eine Grundbedingung pädagogischer Arbeit, gleichzeitig sei die Ambivalenz dieser Perspektive nicht zu ignorieren.230 Denn um Rechte und Privilegien zu gewähren, müssen diese erst festgestellt werden. Tut man dies jedoch, so schreibt man sie zugleich fest (analytisch-methodologische Ebene) und läuft Gefahr einen Raum zu öffnen, in dem Differenz produziert und verstärkt wird (politisch-normative Ebene). Mit Bezug auf Judith Butler (1991) und Stuart Hall (2000) stellt Mecheril Differenzordnungen als machtvolles Instrument vor, da jede Subjektwerdung immer im Rahmen vorgängiger Differenzordnungen stattfinde.231 Der Umgang mit kultureller Differenz sei eben aus diesem Grund problematisch, da ihre Assoziierung mit Kategorien wie Ethnizität und Nationalität eine Verstärkung der gezogenen Differenz bewirkt. Einer rassistischen oder nationalistischen Denkweise kann hiermit Tür und Tor geöffnet werden. Es wird als Grundproblem differenzbejahender Theorien genannt, dass der Versuch, Differenz anzuerkennen, zugleich den Akt der Unterscheidung voraussetzt. Zudem verhindert der Fokus auf eine einseitige kulturelle Identität gerade in ihrer Differenz zu einer anderen den Blick für einen größeren Raum, wie zum Beispiel in Mehrfachzugehörigkeiten, in denen sich die sogenannten AkteurInnen durch ihr »Alter, gender,
227 228 229 230 231
Koller 2002: 97; vgl. Koller 2002a und vgl. Koller 2002b. Koller 2002: 97. Koller 2002: 97. Vgl. Mecheril 2011: 39ff. Vgl. Mecheril/Plößer 2011a: 62 und Mecheril 2014.
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race, Klasse, Staatsangehörigkeit, sexuelle Orientierung«232 wiederfinden können. Vor dem Hintergrund, dass kulturelle Differenz in der Untersuchung tatsächliche »sozialstrukturelle […] Gegebenheiten und politisch- rechtliche Ausgrenzungsmechanismen« als »Kulturkonflikt«233 tarnen oder vielmehr durch diese Zuschreibungen erst herbringen würde, reagiert Koller in seinen Forschungsarbeiten darauf mit dem Versuch, die Fragen im Rahmen eines narrativen Interviews so offen wie möglich zu halten. So soll die Untersuchungsfrage nicht in eurozentrischer Manier auf bestimmte Perspektiven reduziert werden, viel mehr sollen mit dem Anspruch der Unvoreingenommenheit die lebensgeschichtlichen Erfahrungen von MigrantInnen erfasst werden.234 Ein weiteres Problem mit der Kategorie der »kulturellen Identität« ist der Umstand, dass sie laut Mecheril mehr als Erklärung, denn als »zu erklärendes Phänomen« verwendet wird.235 Das heißt, dass eben diese Kategorie als »Praxis des Unterscheidens«236 verwendet wird. Gerade in pädagogischen Kontexten wird die Kategorie »des Kulturellen« oder kulturelle Identität als »von bestimmten Bedingungen abhängige oder auf bestimmte Zusammenhänge zielendes Konstrukt« verstanden.237 Diese Auffassung von kultureller Identität als Konstruktion unterscheidet sich im Besonderen von der Vorstellung einer multikulturellen Gesellschaft darin, dass bei der Letzteren prinzipiell von einer kulturellen Identität und Differenz ausgegangen wird, die es vor allem in pädagogischen Situationen zu »verstehen und zu respektieren«238 gilt. Der Ansatz der kulturellen Konstruiertheit sieht die Angemessenheit einer pädagogischen Interaktion durch eine »Urteils- und Beobachtungskompetenz« gewährleistet. Dabei wird abhängig von der jeweiligen Situation entschieden, inwieweit die kulturelle Kategorie eine Rolle spielt und wie diese aussieht. Kultur als Konstrukt legt also nahe, seinen Einsatz und seine Verwendung auf seine Wirkung hin zu untersuchen.239 Ergänzend zu den Fragen, die mit der Kategorie »des Kulturellen« verbunden sind, beschäftigt sich Mecheril dem Aspekt von »natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen«.240 Gekennzeichnet sind diese von disziplinierenden und subjektivierenden Elementen wie (und Funktionen von) »Mitgliedschaft, Wirksamkeit und Verbundenheit«241 . Die Mitgliedschaft zeichnet sich dabei durch symbolische
232 233 234 235 236 237 238 239 240 241
Mecheril 2011: 41. Mecheril 2011: 41. Vgl. Koller 2002: S. 98 und vgl. Mecheril 2010 und 2013. Mecheril 2011: 41. Mecheril 2011: 41. Mecheril 2011: 42. Mecheril 2011: 42. Mecheril 2011: 42. Mecheril 2011: 45. Mecheril 2011: 45.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Zugehörigkeit auf formeller und informeller Ebene aus, in der ebenfalls symbolische Räume des »Wir« und damit des Nicht-Du kommuniziert werden, zum Beispiel durch Fragen wie: »Woher kommen Sie?«242 Über die symbolische Ebene hinaus geht die Zugehörigkeitskategorie der Wirksamkeit, in der Formen der Teilhabe, bestimmte Handlungen, Routinen des Handelns, bestimmte habituelle Praxen etc. von Machtverhältnissen beeinflusst sind.243 Die dritte Ebene der Zugehörigkeitsordnung erhält mit dem Begriff der »Verbundenheit« eine konkrete zwischenmenschliche Komponente, die eine Bindung emotionaler, moralischer, kognitivvertrauter und materieller Art einschließt. Bezeichnend für diesen Prozess der Verbundenheit ist für Mecheril das »Wechselspiel aus Identifikation und IdentifiziertWerden«244 . Die Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft dekliniert Mecheril entlang dieser Kategorien, zumal die Wirklichkeit einer Migrationsgesellschaft beherrscht sei von Mehrfachzugehörigkeiten und uneindeutigen Identifikationen. Eine solche »hybride« Zuordnung würde laut Mecheril aus der Sicht einer dominanten Mitgliedschaftskonzeption als eine »illegitime« bezeichnet, da sie »aus dem eindeutigen Schema natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit fällt«245 . Das Konzept der Hybridität wird nach Mecheril als Zusammenhang von Nichtzusammengehörigem und Hybridität als »Halb-halb«246 verstanden. Dabei bezieht er sich auf zwei Bezugsdimensionen, die jeweils reduziert wahrgenommen werden im Sinne der »Bistabilität«247 . Dabei verweist Hybridität auf ein Zugehörigkeitskonzept, das die Stärke über Ambivalenztoleranz, Multistabilitätsfähigkeit und Pluralitätskompetenz konstatiert und in Aussicht stellt. Der Ausschluss des Hybriden aus dem Kanon des Legitimen deutet auf einen herrschenden Umgang mit bestehenden Schemata und Kategorien. Auch hier kommt die alte Frage nach dem Umgang mit dem außenstehenden »Neuen«, der von einigen als anders, nicht dazugehörig, fremd und befremdlich verstanden werden will248 . Seine bloße Existenz ›droht‹, die Grenzen des eigens als legitim abgesteckten Raumes zu sprengen. Geht man von einem kohärenten und fixierten Bild aus, so ist jede In-Fragestellung der Grenzen dieser eine Bedrohung für das Bild, das sich aus der Abgrenzung legitimiert. Aus genau solchen bestehenden symbolischen wie handlungspraktischen Umgangsformen schlagen Wissenschaftler wie Paul Mecheril gerade in einer Migrationsgesellschaft neue Denk- und Umgangsweisen mit dem Logos der Eindeutigkeit vor. Die Ermittlung der komplexen Umstände und Notwendigkeiten kann daher in einer Migrationsgesellschaft nur mit 242 243 244 245 246 247 248
Mecheril 2011: 45. Vgl. Mecheril 2011: 45. Mecheril 2011: 45. Mecheril 2011: 46. Mecheril 2003: 281f. Mecheril 1997: 306. Fludernik 2001: 8.
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Mitteln geschehen, welche die Pluralität, die Differenz, Machtverhältnisse und hybride Zuordnungsschemata nicht nur dulden, sondern auch aktiv verwenden249 . Die Diskussion von Denkfiguren der Differenz und der Hybridität in diesem Buch von dem Doppelcharakter der Kultur wie im folgenden Abschnitt und von Metaphern wie die der »Grenze« bei Bhabha im dritten Hauptkapitel ist angelehnt an diese von Mecheril und anderen herausgestellte Notwendigkeit von Forschungsarbeiten, die Pluralität und Differenz auch selbst verwenden.
2.5.2.
Die produktive Kraft der innewohnenden Spannungen
Wenn man Hybridität als paradoxale Metapher der Kultur begreifen möchte, die einerseits als negativer Begriff auf die Verwendung von Kultur als abgeschlossene und identitätsstiftende Entität (vgl. Kritik an Hegel, Herder) und Kultur im Sinne der gesellschaftskritischen Auslegung des Cultural Turns, so ist ein kurzer Vergleich der Metaphern der Hybridität und des Doppelcharakters der Kultur nach Adorno weiterbringend. Adornos Verwendung des Kulturbegriffs in seinem Doppelcharakter verweist auf Kultur in ihrer ambivalenten Rolle der Vermittlung zwischen Bildung (als Aspekt der Emanzipation) und der Gesellschaft, die durch ihre Maschen die allgemeine Tendenz der Anpassung an sie befördert. Auch die Erziehungswissenschaftlerinnen Christiane Thompson und Kerstin Jergus sehen in der Weiterführung der Diskussion um Bildung und Kultur Möglichkeiten der analytischen Arbeit am Bildungsbegriff und der Bildungsforschung über kulturwissenschaftliche Perspektiven darauf. Eine wichtige theoretische Ausgangsposition hierzu situieren sie am engen und doch als problematisch wahrgenommenen Verhältnis zwischen »Bildung« und »Kultur« in der Theoriegeschichte der Bildungsphilosophie. Dabei rekurrieren sie auf die bei Friedrich Schiller geschilderten »gegenstrebigen Triebe« und dem von Theodor W. Adorno dargelegten »Doppelcharakter der Kultur«. Thompson und Jergus sprechen zwar nicht explizit von einem Spannungsverhältnis, charakterisieren die Funktionen von Emanzipation und Anpassung im Doppelcharakter aber als widersprüchlich. Die Kultur stellt dabei einen Ermöglichungsort dar – sowohl für Bildung als auch für ihren Untergang (in der Halbbildung) und hat dabei die Aufgabe der Vermittlung.250 In dieser Logik des doppelten Charakters der Kultur als Metapher der Kultur (und Bildung) wird im folgenden Unterkapitel die Kultur in ihrer Relevanz als (verwendetes) Mittel für gesellschaftliche Ausgrenzung, aber auch Instanz der Subversion und Teilhabe an gesellschaftlichen Fragen diskutiert.
249 Auch der intersektionale Ansatz, die z.B. Migration, Transkulturalität und Gender zusammendenkt kann bei Mae/Saal 2007 verfolgt werden 250 Vgl. Thompson/Jergus 2014b: 9.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Mit Blick auf die Oben beschriebene vierte Ebene von Ambivalenz nach Vester fällt ein Topos auf, der sowohl in postmodernen Ansätzen als auch in der Kritischen Theorie nach Horkheimer und Adorno prominent scheint. Es ist der bereits genannte Begriff der »Spannung«. Dieser verweist auf ein Moment der Verbindung zwischen unterschiedlichen, gar widerstreitenden Elementen. Diese Verbindung erhält ihre Besonderheit durch ihren Charakter, der nicht harmonisch angepasst oder in isolierter Differenz zu denken ist, sondern von Angespanntheit gekennzeichnet ist. Sowohl Ambivalenz, oder Definitionen per se (nach Horkheimer), als auch der »Doppelcharakter der Kultur« (nach Adorno) teilen als Metaphern das Charakteristikum der Spannung. Am Beispiel des Doppelcharakters der Kultur zeichnet Adorno ein Spannungsverhältnis, welches auf ein Subjekt hinweist, das mit dem Potenzial der Emanzipierung sich mitten im Geflecht und im »Druck der Verhältnisse«251 befindet und bewegt. Adorno rekurriert hier darauf, dass der prägnanteste Ausdruck in der Philosophie Friedrich Schillers es ist, die Spannung beider Momente von Anpassung und Widerstand gegen die Ordnung auszudrücken. Die Konsequenz einer nicht vorhandenen Spannung wäre eine »allherrschende« Anpassung.252 Die historische Kontextualisierung dieser theoretischen Aussage bringt die Brisanz der geteilten Kritik eines postmodernen Denkens sowie den Ansatz der Kritik an hegemonialen Narrativen zum Ausdruck und kann in dieser Logik für gegenwärtige Zeitdiagnosen weitergedacht werden.253254 Welches Potenzial hat demnach das sozialrevolutionäre oder subversiv agierende Subjekt im Geflecht von Machtverhältnissen vor dem Hintergrund ökonomischer, sozialer, politischer, genderspezifischer, rassistischer und diskurstheoretischer Aspekte? Eine zentrale Rolle in den Schriften Max Horkheimers und Theodor W. Adornos spielt der Begriff des Widerspruchs und der Umgang des Menschen mit ihm als lebensweltlicher Umstand. Wenn Horkheimer 1952 in seiner Immatrikulationsrede sagt: »Definitionen mögen widerspruchslos sein, die Wirklichkeit aber, in der wir leben und die von Begriffen getroffen werden soll, ist widerspruchsvoll«255 , so weist er auf ein Problem im Umgang mit dem Begriff des Widerspruchs hin. Er lenkt den Blick auf die Diskrepanz zwischen dem selbstgenügsamen szientistischen Anspruch auf Genauigkeit und Sauberkeit von Begriffen und der Tatsache, dass eben diese Begriffe für den Einzelnen ein Mittel dazu sein können, um in ihrer Anwendung auf die Gegenstände der Welt eine widerspruchsvolle, lebendige Wirklichkeit nachzuvollziehen.
251 252 253 254 255
Horkheimer 1985: 409. Adorno 1969: 95. Vgl. Adorno 1969: 95. Eine ergänzende Literatur zu diesem Ansatz wäre Mollenhauer 1883. Horkheimer 1985: 409f.
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»Wenn man dem Wesentlichen und Substanziellen nachgehen will, das in Begriffen sich anmeldet, dann muss man versuchen, des ihnen einwohnenden Lebens, ihrer Spannungen und Mehrdeutigkeiten inne zu werden, auf die Gefahr hin, daß man dabei auf Widersprüche stößt, ja, daß man sich selbst der Widersprüche schuldig macht.«256 Möchte man dem Wesentlichen und Substanziellen auf die Spur kommen, so sollte man Max Horkheimer zur Folge der Frage nach dem in Begriffen einwohnenden Lebens nachkommen. Das Lebendige der Begriffe charakterisiert sich durch »Spannungen und Mehrdeutigkeiten«,257 die u.a. in den verschiedenen Implikationen eines einzigen Begriffes liegen können. Das den Begriffen »einwohnende Leben« ist damit auch auf die lebendige Praxis bezogen, welches durch theoretische Begrifflichkeiten vermittelbar gemacht wird. Horkheimer verweist hierbei darauf, dass Begriffe einerseits ein ihnen einwohnendes spannungsreiches Eigenleben besitzen, das es zu eruieren gilt, andererseits jedoch auch Mittel und Instrumente des Verstehens und der Vermittlung der lebendigen Praxis sind. Neben der Frage nach der Art der Befassung mit Begriffen, gilt es demnach, die Art der Nutzung von Begriffen daran anzuschließen. Dazu sagt Horkheimer in seiner Rede an die Studierenden weiter: »Der Prozess der Klärung und der Bestimmung der Begriffe sind nicht etwas, was der Erkenntnis voran geht, die Begriffe sind nicht Instrumente, die man recht scharf schleifen muss, damit sie schneiden, sondern eben jener Prozeß vollzieht sich nur, indem Sie die Begriffe selber auf Gegenstände anwenden und Akte der urteilenden, inhaltlichen Erkenntnis selbst vollziehen.«258 Horkheimer wendet sich bei dem Ziel der »Klärung und Bestimmung« von Begriffen explizit gegen eine Herangehensweise, die Begriffe zu Werkzeugen der Abund Ausgrenzung macht. Weitergedacht würde dies bedeuten, dass die Werkzeuge ihren Sinn und Zweck verfehlen, wenn sie sich in der Klarheit von Form und Homogenität von Inhalt als unpassend für die widerspruchvolle Wirklichkeit herausstellen. Was für Konsequenzen lassen sich demnach aus dieser Inkompatibilität zwischen Werkzeug und Objekt ziehen? Wenn die Mittel zur Beschreibung und Veränderung der Welt also nicht reichen, so gilt es zu überdenken, ob es die richtigen sind. Horkheimer betont, dass es eines Prozesses bedürfe, in welchem die Subjekte, in diesem Fall die angesprochenen Studierenden, Begriffe auf tatsächliche »Gegenstände« der Welt anwenden. Denn gerade im Akt der Anwendung, im selbstständigen Vollziehen durch die Subjekte, im Urteilen und in der inhaltlichen
256 Horkheimer 1985: 409. 257 Horkheimer 1985: 409. 258 Horkheimer 1985: 410.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Erkenntnis würde die Bestimmung und Klärung von Begriffen stattfinden. Horkheimer spezifiziert die Auseinandersetzung mit dem Umgang mit Begriffen am Beispiel des »Begriff[s] der Bildung«, welchen er zugleich zum Titel seines Aufsatzes bzw. der Immatrikulationsrede macht.259 Mit der Diskussion der Metapher des Doppelcharakters der Kultur und Horkheimers Ausführung zur Funktion von Begriffen und Ausdrücken, die der Erkenntnis nicht vorausgehen, wird ein weiterführendes Denken zur erweiterten Funktion und Potenzial von Begriffen als Metaphern notwendig. Vor diesem Hintergrund soll sich auch das Potenzial des Phänomens der Hybridität von der Ebene des Begriffs zur metaphorischen Ebene erweitern.
2.6.
Anwendungen: Die Hybridisierung der Grenze
Für die Darlegung der aktuellen Rezeption und Bestimmung von Kultur kann über den Verweis auf sie als Containerwort auf die Differenz der Perspektiven und normativen Setzungen in gesellschaftlichen, politischen und wissenschaftstheoretischen Kontexten verwiesen werden. Durch diese wird sie konstituiert und verwendet, wirkt auf diese zurück und macht in ihrer medialen Objektivierung hegemoniale Diskurse sichtbar. Als gegenwärtig dominante Rezeption in der wissenschaftlichen Diskussion wird Kultur als »Bewegung der ›Übertragung‹ und ›Übersetzung‹ gefasst«260 , deren semantische Offenheit auf ihre metaphorisch begründete Vermitteltheit in der Sprache zurückgeführt wird.261 Weitergedacht kann die Metapher durch ihren übertragenden Charakter und den sich damit eröffnenden Raum epistemologische Beweglichkeit und Reflexion befördern. Thompson und Jergus knüpfen die Ausgansposition und das Ziel ihres theoretischen Anliegens an jenen Übertragungsraum an, den der gegenwärtige Kulturbegriff bereithält. Ihr argumentatives Vorgehen zeigt sich zum einen über das Infragestellen kategorialer Strukturen von Bildung und zum anderen in der Suche nach Möglichkeiten der Selbstbestimmung in diesen Räumen. Eine der Kultur unveräußerliche Unschärfe262 würde demnach auf produktive Weise einen Zwischenraum in den Blick rücken, welcher auf seine bildungstheoretische Bedeutsamkeit geprüft werden sollte. Thompson und Jergus sehen in Andreas Reckwitz’ Ansatz von Kultur und dem hybriden Subjekt hauptsächlich eine Darstellung kultureller Dynamiken und Überschreitungen, bei denen sich AkteurInnen in ihren Praktiken ›anderer‹ Schemata und Sinnzusammenhänge bedienen und Neues schaffen. Der Fokus seiner Arbeit wird 259 260 261 262
Vgl. Horkheimer 1985: 410ff. Thompson/Jergus 2014: 10. Konersmann 1996/2004: 327 und vgl. Jacobs 1995: 166ff. Vgl. Thompson/Jergus 2014: 9 nach Ralf Konersman 1996/2004: 327.
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von ihnen vor allem darin verstanden, Aussagen in den jeweiligen Bestimmungen von Kultur abschließend zu beurteilen, zumal Thompson und Jergus das Potenzial dieser kulturwissenschaftlichen Ansätze im Sinne einer öffnenden Diskussion um kategoriale Dynamisierung begreifen. In dieser Logik schlagen sie vor, im Sinne eines doppelten Anspruchs als einer theoretischen Schärfung des Bildungsbegriffs und einem Gerechtwerden der vielfältigen Untersuchungsgegenstände und ihrer sozialen Verflochtenheit Begriffe und Metaphern der Hybridität und des »Dritten Raums« nach Homi Bhabha produktiv zu verwenden. Bevor im dritten Kapitel näher auf diesen Vorschlag eingegangen wird, werden im Kontext der Kultur Nachbarmetaphern von Hybridität aufgeführt, die in gewisser Weise auch ihre sprachbildlichen Kontexte darstellen.
Hybridität und ihre Nachbarschaft So wie Hybridität eine bedeutsame Metapher im Feld der Kultur ist, so sehr lässt sie sich auch in der Nähe und Abgrenzung zu ihren Nachbarbegriffen in der Kulturwissenschaft näher bestimmen. Bauschke-Urban ordnet die folgenden Metaphern der kulturellen Hybridität vor dem Hintergrund eines postmodernen Denkens ein, das – mit Zygmunt Baumans Worten – als »heterophiles Zeitalter« zu verstehen sei, in dem Menschen und Identitäten in ständiger Bewegung seien.263 In dieser Logik kann transnationale Migration nunmehr weder gesellschaftlich noch entlang von Lebensbiographien als eine Randerscheinung verstanden werden. So versuchen theoretische Konzepte diese transnationalen Sozialräume zu fassen, wie etwa mit Begriffen wie »Nomadismus« nach Braidotti (1993), Deleuze und Guattari (1992), der »Kreolisierung« von Hannerz (1987) »Global Melange«264 , »Kosmopolitismus« (Hannerz 1996 und Beck 2004), den Diskurs um die Interkultur zum Beispiel von Auernheimer (2003), die verbreitete »Transkulturalität« nach Welsch (1997, 2004), sowie Lösch (2004) mit dem Begriff der Transdifferenz.265 Als einer der Protagonisten im Diskurs um Ansätze des Kulturellen im deutschsprachigen Raum gilt Wolfgang Welsch, der seit 1991 die Debatte um Konzepte der Multi-, Inter- und Transkulturalität mitbestimmt. Verflechtungsfiguren und Hybridisierung beschreibt er dabei in der Beschreibung seines epistemologischen Transkulturalitätsraumes.266267 Am Beispiel des Begriffs der Hybridität und ihrer Bestimmungsversuche in der Forschung wird demonstriert, inwieweit zur Begriffsbestimmung nicht nur Ab263 264 265 266 267
Bauschke-Urban 2010: 93. Neederven Pieterse 1998, 2004. Vgl. Bauschke-Urban 2010: 93 und vgl. Hühn et al. 2010. Vgl. Welsch 2000: 327. An dieser Stelle wird nicht auf die unterschiedlichen Bedeutungskonnotationen dieser Metaphern eingegangen. Diese sind eine kurze Abbildung der prominentesten kulturwissenschaftlichen Metaphern, in der Nachbarschaft zu Hybridität.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
grenzungen eine Rolle spielen, sondern vielmehr metaphorisch verwendete Bezüge zu anderen Begriffen, wie Grenze und Ambivalenz, eine produktive inhaltliche Füllung und Differenzierung des Hybriditätsbegriffs mit sich bringen können. Ralf Konersmann leitet aus dem Begriffsnamen der Metapher als einem »[V]erlegen, [W]egtragen, [W]egrücken sowie [A]nwenden, [Ü]bersehen, [Ü]bertragen«268 eine Rekursivität ab, die »weder Willkür, noch defekt, sondern ein erster Hinweis auf die Tragweite dessen [ist], worum es geht«269 . Ihr Hauptmerkmal sieht Konersmann, genau wie in der Sprache selbst, in ihrer verweisenden Funktion und in ihrem Dasein in Bezügen. Im Umkehrschluss haben Metaphern auch eine negative Funktion, denn »sie benennen nicht, sie sind keine Namen«270 . Sie verweisen vielmehr auf eine Unmöglichkeit des abschließenden Bestimmens und bilden daher Provisorien ab.271 Allein sprachtheoretisch wird dies in der Unterscheidung zwischen Begriff und Metapher konstatiert, welche sich grob dadurch unterscheiden, dass Ersterer sich durch Abgrenzung zu anderen Bedeutungen ausweist, während eine Metapher sich durch ihren oft bildlichen Zugang und ihren expliziten Bezug auf eine andere Bedeutungsebene kennzeichnet. Die Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick sieht in der Metaphorisierung der Begriffe das Entstehen einer methodischen Profilierung hin zu einem Erkenntnismittel und Erkenntnismedium.272 Ähnlich wie im Ansatz des Cultural Turns sei das Ziel einer solchen Methode »jenseits binärer Erkenntniseinstellungen und dichotomischer Grenzziehungen neue methodische Erschließungen von ›Zwischenräumen‹ zu erkunden«273 . »Wo wir es aber mit der reinen Grenze zu tun haben, sind Grad, Möglichkeit, Zwischenzeit und Zwischenraum gegeben und keinesfalls ausgeschlossen; es wird dort unendlich daran gearbeitet, jenes einzuholen und wieder zu erreichen, was vergangen, bereits gegeben und bereits signiert ist, eben hier, zwischen den Linien.«274 Insofern entspricht die Metapher in ihrer methodischen Verwendung mehr dem semantischen Sinn der Hybridität als Verflechtungsfigur, das immer auf ein Differentes und doch zu ihr Gehöriges verweist, als einer begrifflichen Feststellung über eine Differenzierung im Sinne der Abgrenzung. In ihrer begriffslogischen Verwendung wird der Begriff der Hybridität zumeist als Metapher für eine epistemische
268 269 270 271 272 273 274
Konersmann 2014: 267. Konersmann 2014: 267. Konersmann 2014: 267. Vgl. Konersmann 2014: 267. Vgl. Bachmann-Medick 2006: 26 und vgl. ebd. 2009: 2ff. Bachmann-Medick 2006: 246. Derrida 1995: 163.
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Entgrenzung von geltenden Dichotomien dargestellt, die eine Perspektive der Vermischung und Vernetzung in den Mittelpunkt rückt. Nicht nur in ihrer Funktion der Entgrenzung und dem Schaffen von Zwischenräumen wird Hybridität immer wieder mit Begrifflichkeiten der Grenze in Verbindung gebracht, sondern auch in der epistemologischen Annäherung an den Begriff selbst. Doch wie hängen die Begriffe Hybridität und Grenze in der Uneindeutigkeit ihrer metaphorischen Bedeutungen zusammen? Für eine tiefere Bestimmung des Hybriditätsbegriffs scheint es also notwendig zu sein, den Begriff der Grenze in der Bestimmung seiner Funktion(en) und metaphorischen Mehrdeutigkeiten zu eruieren. In Anschluss an die Ausführungen Konersmanns und Bachmann-Medicks wird Hybridität im Folgenden zuerst in doppelter Hinsicht als Negativbegriff zum abschließenden und bestimmenden Charakter des Begriffs im Allgemeinen (im Gegensatz zur Metapher) und im Speziellen des Begriffs der Grenze aufgeführt. Das Ziel der Besprechung von Hybridität und Grenze als Metaphern ist das Herausstellen der bildlichen und semantischen Differenz und Vielfalt von Grenze als Metapher und in dieser Konsequenz seine Nähe zur Metapher der Hybridität. Die analytische Funktion der Metapher im Gegensatz zum Begriff soll also demonstriert werden am Beispiel von Hybridität und Grenze als Negativbegriffen und auf der anderen Seite der semantischen Nähe dieser. Hybridität und Grenze sind als Begriffe im Diskurs der Wissenschaft und Kultur wohlbekannt, doch in ihrem Bezug aufeinander verweisen sie auf das Potenzial eines Denkens, das ordnende Systematisierung und fluide Verflechtungen nicht ohne einander existieren lässt. Gerade die Agenda von Hybridität als epistemologische Entgrenzung von Dichotomien und Eindeutigkeiten kann am Beispiel des Grenzbegriffs gezeigt werden. Der Begriff der Grenze wird in seiner semantischen Bestimmung zumeist in seiner räumlichen Sphäre verwendet. Dies wird auf den Grund zurückgeführt, dass er als sprachliches Mittel zur Orientierung in einer unübersichtlichen Welt ge- und missbraucht wird. Eine solche Orientierung brauche sprachliche Klarheiten, durch die jeder Begriff »ins Korsett der Eindeutigkeit gepresst«275 wird. Wenn Sprache jedoch nach Humboldt als Ausdruck und Spiegel der Mannigfaltigkeit der Welt und ihrer Situationen fungieren soll, dann müssen Begriffe wie Hybridität und Grenze gerade auch in der Vielfalt ihrer sprachlichen »Abschattungen, Unsauberkeiten und subtilen Widersprüchen«276 ein Beispiel für eine der Welt angemessene Sprache sein. Die Grenze ist ein beispielhafter Gegenstand der Erkenntnis, da sie neben ihrer begrifflichen Dimension auch eine räumliche Metapher darstellt, die zudem 275 Wokart 1995: 288. 276 Vgl. Wokart 1995: 288.
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im materiellen Sinne kognitiv erschließbar und leiblich erfahrbar ist. Sie hat als solche eine Bedeutung für soziale Strukturen, da sie ein Innen und Außen produziert, die zwar für beide Seiten gegeben ist, jedoch aus der Perspektive jeder Seite unterschiedlich wahrgenommen werden, ob aus individuellem, psychosozialem oder staatspolitischem Status. Ein aktuelles wie bekanntes Beispiel ist die Reisefreizügigkeit, die einem durch den Reisepass gewährt wird bzw. die verschlossenen Schranken, die man durch einen ›illegitimen‹ oder einen nicht vorhandenen Reisepass erfährt. Dazu gehören m.E. Staatenlose, die nur Grenzen vorfinden, die sie legal nicht überschreiten dürfen. Kennzeichnend und interessant für den Begriff der Grenze ist die Gleichzeitigkeit seiner Existenz in kognitiven und materiellen Sphären als auch die Gleichzeitigkeit seiner epistemologischen Dimension in der Eindeutigkeit und Differenz. Die verschiedenen Bedeutungsebenen der Grenze und ihre Bedeutung für pädagogische Räume werden im letzten Kapitel diskutiert. Zunächst soll dargelegt werden, wie unterschiedlich die Grenze als erkenntnistheoretische Metapher im Diskurs rezipiert wird.277
Der Begriff der Grenze als Instrument der Differenz und Bedingung des Verstehens Sucht man nach frühen Definitionen des Grenzbegriffs, so begegnet man diesen Definitionen zunächst im Bereich der antiken Philosophie. Platon interpretiert Grenze (gr. πέρας (peras)) als das Prinzip, welches u.a. Unüberschaubarkeit hin zu Schönheit, Gesetz und Ordnung wendet.278 Als begrenzendes Prinzip wurde in diesem Sinne von Philolaos die Zahl eingeführt, welche so »Unterscheidbarkeit und damit Erkennbarkeit«279 ermöglichen sollte. Aristoteles legt in seiner Perastheorie (Grenztheorie) gar fest, dass nur »Begrenztes erkennbar sei«280 und dass »Abgrenzung erst die Konstitution der Gegenstände ermögliche«281 . Der Terminus des Grenzbegriffs wird in der bildungsphilosophischen Tradition als eine von Immanuel Kant beschriebene Einschränkung der menschlichen Erkenntnis definiert. Weitergedacht wird der Grenzbegriff zur »unendliche Aufgabe« der Wissen277 Grenze als Metapher der Differenz und der Verbindung wird in diesem Buch genutzt, um auf immerwährende Versuche und Rezeptionen der Abgrenzung hinzuweisen, jedoch auch ebenso gearteten Versuchen und Potenzialen der Gemeinsamkeit, die in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen zum Tragen kommen. Als ähnliches wird auch der Begriff der Kultur zu einem späteren Zeitpunkt in diesem Kapitel und in weiteren Kapiteln angeführt. Im Folgenden wird am Begriff der Grenze exemplarisch vorgeführt, wie different und semantisch verschieden dieser in der Geschichte und im wissenschaftlichen Diskurs rezipiert wurde und wird. 278 Vgl. Gatzemeier 1974: 874. 279 Gatzemeier 1974: 874. 280 Gatzemeier 1974: 874. 281 Gatzemeier 1974: 874.
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schaft, sich mit dem Unlösbaren zu beschäftigen. Grenzbegriffe erfüllen hierbei die Rolle ›regulative(r) Prinzipien‹, welche »gerade das Unlösbare an Aufgaben geltend machen«282 . Der Grenzbegriff wird entgegen populärer Äußerungen nicht als quasi konfuse Terminologie stehen gelassen, sondern in seiner Bezeichnung einer »äußersten Sphäre« begriffen.283 Die Grenze wird in der Philosophie des 18. Jahrhunderts oft synonym mit »Schranke«284 verwendet, obwohl Letzteres als reiner Verstandesbegriff für ›Abschluss‹, Mangel oder Negation steht. J.G. Fichte sieht darüber hinaus ein Begreifen der »Grenze« einhergehen mit einem »vollendete[n] Sichbegreifen«.285 Eine eingehende Diskussion der Gründe für einen unübersichtlichen Gebrauch der Begriffe Grenze und Schranke in der Philosophiegeschichte erfolgt bei Wokart.286 Der Grenze wird zugeschrieben für die Bildung von Identitäten und Gruppenbeziehungen strukturbildend zu sein. Diese sogenannten sozialen sowie »Ichgrenzen«287 können jenseits von Gemeinsamkeiten im Extremfall nur im Sinne der Grenzziehung zu anderen vollzogen werden. In diesem Fall verlieren sie sowohl ihr Erweiterungs- und Umgestaltungspotenzial als auch ihre vermittelnde Funktion zwischen einem Innen und Außen.288 Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass Sprache selbst eine übertragende Funktion besitzt, die eine scharfe Trennung zwischen einem Denken in Begriffen und Metaphern erschwert.289 In dieser Konsequenz wird im Folgenden nicht mehr zwischen Begriff und Metapher der Grenze unterschieden, da deutlich ist, dass es sich hier um einen epistemologisch und metaphorisch aufgeladenen Begriff handelt, der insofern ein großes Potenzial für ein übertragendes Denken enthält290 .
Grenze als Abhängigkeit der einen Seite von der anderen Norbert Wokart zitiert in seiner Bestimmung des Grenzbegriffs G.W.F. Hegel mit den Worten: »das Ende des Einen ist da, wo ein Anderes anfängt«291 . Dies wendet er auf die Frage der Identität an, bei der sich der Mensch in einer dialektisch verstandenen Denkbewegung seiner selbst sowohl als Individuum als auch als Mitglied einer Gruppe erst mit Rückgriff auf die Anerkennung des Anderen versichert sein kann. Georg Simmel unterlegt diesen Gedanken mit dem Bild der Nachbarschaftsgrenze. Demnach sei die Grenze als Indifferenzzustand der räumliche Ausdruck eines einheitlichen Verhältnisses zwischen Nachbarn. Die Grenze ist der Ausdruck 282 283 284 285 286 287 288 289 290 291
Marquard 1974: 872. Marquard 1974: 873. Fulda 1974: 875. Fulda 1974: 876. Wokart 1995: 277ff. Anselm 1995: 199. Vgl. Anselm 1995: 199. Siehe auch dazu Reckwitz 2008. Vgl. Böckler 2003: 167f. und lohnenswert hierzu Reckwitz 2010 . Wokart 1995: 278.
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eines ruhenden latenten Spannungszustandes zwischen Defensive und Offensive, welcher sich jederzeit zu diesem oder jenem hin entwickeln kann.292 Sinnvoll erscheint Grenze in ihrer Funktion der Differenzierung und Festlegung in Bezug auf den Begriff der Hybridität insoweit, als dass sie immer ex negativo auf das verweist, was sie nicht ist, nicht-hybrid, das heißt eindeutig. Begreift man Grenze in dialektischem Sinne, so erhält sie zwar weiterhin die Funktion der Bestimmung und Bewusstwerdung über die ›eigene Seite‹, impliziert jedoch die Abhängigkeit zur anderen Seite der Grenze und die notwendige Anerkennung dieser. Der Blick verschiebt sich von der Notwendigkeit der Bestimmung und Identifizierung von Einheiten auf die Anerkennung von Binaritäten, die erst zusammengedacht einen Erkenntnisgewinn bringen.293
Ambivalenzen der Grenze als Merkmal von Mehrwertigkeit und sinntransformativer Eigendynamik Wie in einem früheren Teil dieses zweiten Kapitels bereits herausgestellt wurde, steht Hybridität als paradoxale Figur in einem engen semantischen Verhältnis mit dem Begriff der Ambivalenz. Der Begriff der Hybridität wurde als positiver Begriff zusammen mit Ambivalenz und Unbestimmtheit als kennzeichnende Begriffe der Postmoderne umfasst. Mit Blick auf den Begriff und die Metapher der Grenze hat die Folie der Ambivalenz eine besondere Funktion in der Dekonstruktion der Grenze in ihrer eindeutigen Funktion der Bestimmung. Ambivalenz tritt in unterschiedlichen Erscheinungen auf: »Phänomene, die oftmals durch verwandte Konzepte wie Mehrdeutigkeit, Mehrwertigkeit, Unbestimmtheit, Fremdheit, Unordnung, Kontingenz usw. umschrieben werden […] markieren einen Gegenstandsbereich, der eine exakte Grenzziehung und Zuordnung von konkreten Erscheinungen nicht zulässt, sondern jeweils die ›beiden‹, diesseits wie jenseits der definitorischen Grenzen zu findenden Bereiche, als Bekanntes und Unbekanntes, Altes und Neues, Fremdes und Eigenes miteinander in Beziehung bringt und damit Grenz- und Passage- (Liminal-)bereiche enthält bzw. eröffnet«294 . Nach Luthe und Wiedemann sind der Soziologie benachbarte Disziplinen wie Philosophie, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Volkskunde und Geschichtswissenschaft nicht nur in ihrer Zugangsart zu dem bereits facettenreichen Bereich der »Ambivalenz« gewinnbringend. Vielmehr ermöglichen sie über ihren illustrativen
292 Vgl. Simmel 1983: 227. 293 Siehe Grenzdestabilisierungen bei Reckwitz 2008: 301ff und Vgl. Husserl 1995. 294 Luthe/Wiedemann 1997: 11.
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Charakter hinaus (durch eben diese unterschiedlichen Zugänge) eine Systematisierung der Erkenntnisse.295 Ambivalenz und Ambiguität werden von Luthe und Wiedemann auch als »Zwillingskonzepte« bezeichnet, welche als »zentrales Konstituens der kognitiven, emotionalen und motivationalen Aspekte des intentionalen Bewusstseinslebens«296 den phänomenologischen Ansatz Maurice Merleau-Pontys, Paul Ricoeurs und Emmanuel Levinas prägen. Dabei ist bei Merleau-Ponty sowohl das Bewusstsein ein Ort der Zweideutigkeit als auch das Feld der wahrgenommenen und bezeichneten Phänomene ein »zweideutiger« Bereich. Merleau-Ponty betont, dass die Ambiguität (Zweideutigkeit) sich für ihn nicht durch »eine Unvollkommenheit des Bewusstseins oder der Existenz« kennzeichnet, sondern als »Wesensbestimmung« zu verstehen ist.297 Am Beispiel des Realen und Irrealen wird eine Sicht verdeutlicht, welche sich durch die »zweideutigen« Bezüge zwischen »Welt« und »Bewusstsein« zur »wechselseitigen Grenzüberschreitung anstiftet«298 . Aus der Sicht der Zweideutigkeit erhält der Bezug zum Fremden so einen Rückbezug zum Eigenen. Beides wird in seiner Gegensätzlichkeit zum Eigenen und äußert sich in der lebensweltlichen Erfahrung, die eine Verschränkung dieser Gegensätzlichkeit darstellt, ohne sie immer harmonisch auflösen zu müssen. Der Blick bleibt zweideutig und sucht doch auch immer die Auflösung und Vereinheitlichung. Sollen – nach MerleauPonty – »Mythos, Traum und Illusion überhaupt möglich sein, so muss Scheinbares und Wirkliches im Subjekt wie im Gegenstand zweideutig zu bleiben vermögen.«299300 Die Anerkennung der grundlegenden Ambivalenz des menschlichen Sozialverhaltens erhält spätestens in der Geschichte der Rollentheorie ihren Platz. Auch ist der Schluss, eine Rolle nicht ohne ihr Verhältnis zur Umwelt und damit sich überschneidenden Rollenerwartungen zu betrachten, naheliegend. Aus dieser zugrundeliegenden Differenz ist der Rollenkonflikt nicht nur mitzudenken, sondern darüber hinaus als gegeben und als ebenbürtiger Teil der Rolle selbst zu betrachten. Dieses dualistische Denken versucht also Ambivalenz als vermeintliche Ursache für »Abweichung und Instabilität«301 nicht nur aus dem defizitären Bereich zu rehabilitieren, sondern in seiner gegebenen und notwendigen Dimension zu verdeutlichen. Weitergedacht wird Ambivalenz als »konstitutive Vorbedingung eines kreativen Rollenhandelns überhaupt«302 und somit als »Chance zur kreativen 295 296 297 298 299 300
Vgl. Luthe/Wiedemann 1997: 13. Luthe/Wiedenmann 1997: 16. Luthe/Wiedenmann 1997: 17 nach Merleau-Ponty 1974: 383. Luthe/Wiedenmann 1997: 17. Luthe/Wiedenmann 1997: 17 nach Merleau-Ponty 1974: 383. In obigen Ausführungen zu Merleau-Pontys Denkbewegung gehört sein Weiterdenken dieser Ambiguität zu etwas Drittem, das in den Figuren des Chiasma und der Dritten Dimension mündet. 301 Luthe/Wiedemann 1997: 14. 302 Luthe/Wiedemann 1997: 14.
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Ausgestaltung oder Transformation der Situation«303 wiedergegeben. Ambivalenz wird aus soziologischer Perspektive als ein inhärentes »Spannungsmoment« sozialer Beziehungen verstanden, welches gänzlich voneinander unterschiedene Kategorien wie Nähe und Distanz in ihrer gemeinsamen Bestimmung für soziale Beziehungen aufzeigt.304 Mit den Worten Georg Simmels wird dieser Sachverhalt als »dualistische Bedingtheit der soziologischen Verhältnisse«305 zusammengefasst. Demnach sei für die Erfassung gesellschaftlicher Wirklichkeiten ein zusammengehöriges Denken von Harmonie und Streit vonnöten. Denn genau so wie Faktoren wie »Eintracht, Harmonie und Zusammenwirksamkeit« als »sozialisierende Kräfte« verstanden werden, so tragen solche wie »Distanz, Konkurrenz, Repulsion« dazu bei, ebenso auf bestehende gesellschaftliche Verhältnisse wie auf Konflikte und Ungleichheiten aufmerksam zu machen.306 Forschungen Gregory Batesons zu »double-bind« Phänomenen bringen zum Beispiel ans Licht, dass »sinnkontextbezogene« Ambivalenzen Verhaltensanpassungen bei Menschen und »höheren Tieren« in die destruktive, aber auch in eine konstruktive und kreative Richtung (ver-)formen können. Ambivalenz erhält so über ihre Identifizierung mit Triebvorgaben auch einen Platz bei sozialen »Funktionsbezügen«307 . Zum expliziten Bezug zwischen Hybridität und der Figur der Ambivalenz in ihren Dimensionen der Widersprüchlichkeit wird auf den Hybriditätsbegriff Ulrich Becks verwiesen, der Hybridität als paradoxe Figur diskutiert. Ihm zufolge wird dies in einer Denkweise des »Sowohl-als-auch« gekennzeichnet, die eine Methodologie erfordere, welche das Zusammendenken der Sowohl-als-auch-Logik (»inklusive Duale«) als auch der Entweder-oder-Logik (»exklusive Duale«) zulässt. Damit würde Begriffen der Verschmelzung und Ergänzung ansatzweise Genüge geleistet als auch solchen, die in ihrem dualen Charakter eine Unterscheidung ermöglichen oder erfordern.308 Die Paradoxie der Figur der Hybridität zeigt sich unter anderem an der Gleichzeitigkeit von komplexen sozialen Faktoren, die im Grad ihrer interdependenten Einflüsse im sozialen Leben undurchsichtig und uneinholbar sind und dennoch als Gegenstand von Sprache und Analyse beständig der Differenzierung bedürfen. Das Konzept der Ambivalenz findet so (in einer engen Verknüpfung mit Ambiguität) in verstärkter Weise in kultursoziologischen und kulturanthropologischen Kontexten Anwendung. Dort spielen soziologische Grenz-, Übergangs- oder liminale »Schwellenbereiche« (das »betwix- and between«) eine besondere Rolle sowie
303 304 305 306 307 308
Luthe/Wiedemann 1997: 14. Vgl. Luthe/Wiedemann 1997: 13. Luthe/Wiedenmann 1997: 13. Vgl. Luthe/Wiedenmann 1997: 13. Vgl. Luthe/Wiedenmann 1997: 15. Vgl. Beck 2004, 2007 in Kron/Berger 2015: 7.
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auch die differenzherausstellende Funktion des Konzeptes der Ambivalenz. In Victor Turners Schwellenpassage heißt es: »Es (das Subjekt) durchschreitet einen kulturellen Bereich, der wenig oder keine Merkmale des vergangenen oder künftigen Zustands aufweist. Mit dieser Art wird der Blick auf die »mehrwertige und sinntransformative Eigendynamik von kulturellen Zeichen- und Symbolprozessen«309 gelenkt und dabei der Fokus auf dichotomisierende »Klassifikationsordnungen des statischen Strukturalismus«310 eines Claude Leví-Strauss in Frage gestellt. Gerade in poststrukturalistischen, postmodernen und postkolonialen Theorien, welche sich explizit mit Migrationsgesellschaften und -Phänomenen befassen, stehen Fragen rund um Transformationen und ihre Problematiken in einem nicht klar zu erfassenden Raum von persönlichen Schicksalen und strukturbedingten Begrenzungen. In der Konsequenz ist es schwierig, Fragen danach zu stellen, ob jemand in der Ankunftsgesellschaft angekommen ist, sich integriert hat und Bildungserfahrungen gemacht hat oder nicht. Vielmehr eröffnen Fragen nach dem »wie« einen erkenntnistheoretischen Raum nach neuen, bisher unbekannten Lebens- und Denkweisen, die in den eigenen erfassten Kategorien nicht inbegriffen sind, aber auch nach den hegemonialen Bedingungen, die diese Lebens- und Denkweisen in ihrem Potenzial und Eingeschränktheiten umrahmen. Die Verschränkung des Konzeptes der Ambivalenz mit sozial-kulturellen Fragen wird in diesem Kapitel zu einem späteren Zeitpunkt und im dritten Kapitel weiter diskutiert werden. Ambivalenz soll zum einen »die Unbestimmtheitsproblematik sozialer Wirklichkeit« sowie die Unbestimmtheitsproblematik wissenschaftlicher Texte in den Vordergrund rücken.311 In diesem Geiste ist eine Abkehr von der Vorstellung einer »Unterwerfung unter das Diktat des Codes«312 eingeleitet, die sich davon distanziert, Begrifflichkeiten als starre und binäre Form zu verstehen und vielmehr ihre Zweideutigkeit herausstellt. Die explizite Beschäftigung mit diesem Zwischenreich wird Georg Simmel zugeschrieben, welcher sich mit der Frage nach dem Zwischen von binären Begriffen wie »Gelöstheit und Fixiertheit, Distanz und Nähe, Gleichgültigkeit und Engagement« etc. vom «,stahlharten Gehäuse […]‹ eindeutiger kategorialer Fixierung« zu lösen versuchte.313 Simmels Ausdrucksweise wird als Mimesis der angestrebt begrifflichen Zwischenwelt als »vorsichtig tastend ›erschließend‹« beschrieben, sodass er auch ohne den Schlüsselbegriff der Ambivalenz auskommt. Bemerkenswert ist in diesem Fall, dass hierdurch ein anderer Umgang mit Kritik an Fixierung deutlich wird. Es scheint in gewisser Weise konsequent, wenn man im Suchen nach einem Ausdruck für ein nicht festgelegtes Denken diesen nicht auf den Punkt bringen bzw. fixieren möchte. Andererseits könnte man 309 310 311 312 313
Luthe/Wiedenmann 1997: 16. Luthe/Wiedenmann 1997: 16. Vgl. Luthe/Wiedenmann 1997: 18. Luthe/Wiedenmann 1997: 19. Luthe/Wiedenmann 1997: 19.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
gerade im Begriff der Ambivalenz die Demonstration des ambivalenten Gehaltes von einem formal fixen Ausdruck und einer semantischen Differenz eine Widersprüchlichkeit bis hin zur offenen Unbestimmtheit sehen. Der Begriff der Ambivalenz stellt durch das oben demonstrierte inhärente Spannungsmoment jede semantische Fixierung und Vereinheitlichung in Frage. Ambivalenz kann daher als epistemologisches Instrument verstanden werden, durch welches widersprüchliche, gegenläufige und problematische Sachverhalte zu erfassen versucht werden. Luthe und Wiedemann nennen es ein »lehrreiches Paradox«, dass in »dem Augenblick, da der Ausdruck auftaucht, […] sich das von ihm bezeichnete Gegenstandsfeld«314 verengt. Diese Ausführung weist Parallelen auf zum Begriff der Bildung bei Theodor W. Adorno, der schreibt: »In dem Augenblick, in dem es Bildung gibt, gibt es sie nicht mehr«315 . Adorno begründet dies mit dem antinomischen Charakter der Bildung, auf welchen im dritten Hauptkapitel näher eingegangen werden wird.
Grenze als Übergang Jenseits der Absolutheit von Grenzen und ihrer Funktion der Trennung und Unterscheidung beschreibt der Philosoph Michel Foucault die Existenzbedingung der Grenzlogik nicht als ihre Funktion der Beschränkung, sondern kehrt sie quasi ins Gegenteil um. Erst in ihrer Überschreitung würde die Grenze ihre Existenzberechtigung zeigen. Im Sinne eines radikalen Schritts in Richtung Erkenntnis solle man Foucault zufolge für eine Grenzüberschreitung »diese aus ihren zweifelhaften Verwandtschaften mit der Ethik herauslösen und sie vom Skandalösen oder Subversiven befreien, das heißt von dem, was von der Macht des Negativen beseelt ist«316 . Aus der poststrukturalistischen Perspektive Foucaults soll im Sinne einer Erneuerung und Befreiung vom historisch ethischen Ballast der Akt der Überschreitung als Denkbewegung an sich betont werden. In seinem Essay zum »Spiel der Grenzen und der Überschreitung« diskutiert Michel Foucault die beiden Begriffe Grenze und Überschreitung in ihrer jeweiligen Wesensart und Bedeutung füreinander. Nichts weniger als die Dichte ihres Seins würden sie mit einander teilen. Demnach wäre eine Grenze inexistent, die absolut nicht überquert werden könnte,317 sowie auch eine Überschreitung nichtig, die eine bloß schattenhafte oder scheinbare Grenze durchbrechen würde. Foucault beschreibt das Verhältnis der Überschreitung und der Grenze wie folgt: »Die Überschreitung ist eine Geste, die die Grenze betrifft; dort, in dieser Schmalheit der
314 315 316 317
Luthe/Wiedenmann 1997: 19. Adorno 1959: 104. Foucault 2008: 1. Foucault 2008: 1.
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Linie, zeigt sie sich blitzartig als Übergang, vielleicht aber auch in ihrem gesamten Verlauf und sogar in ihrem Ursprung«318 . Zunächst stellt Foucault kurz und nüchtern fest, dass die Überschreitung eine Geste ist und die Grenze betrifft. Im Weiteren fällt auf, dass der Begriff der Überschreitung durch den symbolischen Begriff der Geste inhaltlich gefüllt wird. Bemerkenswert am Begriff der Geste ist ihr »blitzartig« unvorhergesehenes Auftreten sowie ihr gleichzeitiger Verweis auf etwas Großes (»gesamten Verlauf und sogar in ihrem Ursprung«). Mit der Präposition »dort« erweitert Foucault die erkenntnistheoretische Sphäre um die metaphorische. Die Überschreitung als Geste betrifft also nicht nur die Grenze, sie trifft sie auch bildlich »in dieser Schmalheit der Linie«. Foucault macht hier deutlich, wie eine epistemologische Aussage über Metaphern Räume der Erörterung und des Weiterdenkens öffnen könnte. In diesem erkenntnistheoretischen Raum charakterisiert er die Verbindung der Grenze und der Überschreitung durch eine produktive Ambivalenz. Er beschreibt, dass die Überschreitung die Grenze bis an die Grenze (im Sinne des Endes) ihres Seins treibe. Dieses Ende sei aber zugleich ein Moment der Bewusstwerdung und des Erkennens dessen, was die Grenze überhaupt ausmacht, das heißt »im Moment ihres drohenden Verschwindens aufzuwachen, um sich in dem wiederzufinden, was sie ausschließt«319 . Die tatsächliche Wahrheit der Grenze würde erst in der Bewegung ihres Untergangs erfahrbar sein. Dieses Verständnis von Grenze und Überschreitung distanziert sich von einer binären oder dialektischen Logik, zumal auch hier zwei epistemologische Metaphern aus ihrer Beziehung zueinander erkenntnisbringend sein sollen. Foucault betont, dass das Verhältnis von Grenze und Überschreitung nicht wie das Schwarze für das Weiße, das Verbotene für das Erlaubte, das Innere für das Äußere oder der geschützte Raum als feste Bleibe gegen das Ausgeschlossene sei. Das gemeinte Verhältnis äußere sich mehr durch das Bild des Blitzes in der Nacht. Die Überschreitung würde als Blitz die Dichte und das Schwarz der Nacht von innen heraus durchbohren und von unten bis oben erleuchten. Die ambivalente Rolle des Blitzes zeigt sich darin, dass durch ihr Dasein die Nacht die alleinige Souveränität über den Raum einbüßt und zugleich im Sichtbarwerden ihrer räumlichen Dimension eine Bestätigung dieser erfährt. In diesem Bild bleibend, verfällt der Blitz kurz nach seiner Sichtbarwerdung in »Schweigen, nachdem er dem Dunkel einen Namen gab«320 . Bemerkenswert ist an dieser Stelle der Ausdruck des Schweigens. Der Blitz erscheint nicht als heller Gegensatz jenseits der dunklen Nacht, der das Dunkel ex negativo bestätigt. In seiner zum Dunkel der Nacht kontrastreichen hellen Farbe
318 Foucault 2008: 1. 319 Foucault 2008: 1ff. 320 Foucault 2008: 2.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
wird er aus dem Dunkel heraus für einen Moment sichtbar. Auch nach dem Moment verfällt er nicht gänzlich, sondern verfällt in den Zustand des Schweigens. Ein Schweigen aber steht für ein weiteres Dabeisein, wenn auch in gewisser Distanz. Für Foucault bringt das Spiel der Grenzen und der Überschreitung mehr als nur die Demonstration eines Spiels der Elemente, viel mehr zeige die Beharrlichkeit der Überschreitung, wie sehr sie Grenzen in »eine Ungewissheit, in Gewissheiten, die sogleich verkehrt werden«321 versetzen kann. Damit ein Denken als »reine und so verwickelte Existenz«322 denkbar wird, schlägt Foucault vor, diese Begriffe von der »Macht des Negativen« zu lösen, damit die »zweifelhaften Verwandtschaften« mit Aspekten der Ethik, des Skandalösen und des Subversiven das Denken als Bewegung zu weiterem Erkenntnisgewinn nicht aufhalten. In seiner Agenda der Befreiung der Begriffe und des Denkens betont er, dass die Überschreitung »weder Gewalt in einer geteilten Welt ist (in einer ethischen Welt) noch Triumph über die Grenzen, die sie auslöscht (in einer dialektischen oder revolutionären Welt)«323 . Die Überschreitung sei eine Bejahung der ständigen Teilung im Sinne von Differenzierung der Dinge. Ihr sei das »Sein der Differenz«324 zu eigen. In der Bewegung an sich betrifft die Überschreitung in ihrem »Sein der Differenz« ständig Grenzen, die sich je auf ihre Weise zu ihr und zu dem durch ihre blitzartige Geste erhellten Raum verhalten müssen. Foucault setzt die Überschreitung als Ausdruck der Differenz als natürliches Element nicht jenseits der Grenze, sondern als inhärenten lauten, hellen und schweigsamen Bestandteil des Ganzen. Die Diskussion um die erkenntnistheoretische Metapher der Grenze wird sich von ihrer klassisch aufgefassten Funktion der Trennung und Bestimmung von Entitäten, ob nun Diesseits oder Jenseits, im Folgenden mi Blick auf den übertragenden Charakter der Metapher auf die Grenze als Moment des Übergangs verlagern.
Bewegung auf der Grenze Der Medienwissenschaftler Dirk Hohnsträter leitet in seinem Aufsatz »Ein Lob des Grenzgängers« (1999) den Grenzbegriff zunächst über drei Umstellungsmomente her: 1. Genese der Überschreitungsdynamik zu Beginn der Neuzeit, 2. Berechnung des Übertretungsoptionismus um 1800 und 3. Kollaps transgressiver Konzepte am Ende des 20. Jahrhunderts.325 Dem gegenüber betont er, dass sich durch das Losreißen des Subjekts, dem Streben nach Unbedingtem und den damit einhergehenden Tabubrüchen in der Neuzeit das Übertreten der Grenzen in der Postmodernen erschöpft hat.326 Damit betont er seine Ausgangsthese, dass es Zeit ist, auf den 321 322 323 324 325 326
Foucault 2008: 1. Foucault 2008: 2. Foucault 2008: 2. Foucault 2008: 3. Hohnsträter 1999: 233ff. Hohnsträter 1999: 234f.
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Grenzen zu gehen, anstatt sie bloß zu übertreten. Dies setzt implizit voraus, dass die Grenze sich auf einer Fläche befindet, die man betreten kann.327 Besonders deutlich wird hierbei auch seine Bezugnahme auf die Theorie des Liminalen. Diese sei mit der Rehabilitierung des Raumes verbunden, welche wiederum mit der posttransgressiven Kultur verbunden sei.328 In Rückbezug auf seine These wird deutlich, dass er die Postmoderne mit einer gänzlich unübertretbaren Schranke durch Dezentrierung beschreibt.329 Ausgehend von zwei Unterscheidungen: 1. Die Grenze als Schranke, die unüberschreitbar ist und 2. Die Grenze als Schwelle, die überschreitbar ist,330 sei – Hohnsträter zufolge – das Übertreten einer Schranke bei dem Gedanken an eine Grenze nicht wegzudenken, denn es sei das, was Grenzen ausmacht, sie bleiben teilweise unübertreten, um eine gewisse Spannung aufzubauen.331 Hohnsträter erweitert den Grenzbegriff um eine weitere semantische Ebene, indem er die Grenze als Metapher und ihre Überschreitung um den Aspekt von Akteuren ergänzt, die sich zu diesen Elementen verhalten müssen und können. »Er läßt sich ein, ist interessiert, was durchaus bedeuten kann, vorübergehend und unter Wahrung der Möglichkeit des Grenzganges in die Welt einer Seite einzutauchen332 «. Hohnsträter gibt dem Akteur Inhalt durch die Beschreibung seiner Handlung (»Er lässt sich ein«) und seiner Motivation (»ist interessiert«) und deutet auf Folgen dieser interessierten Handlung. Der Akteur könnte »vorübergehend« und in einem gewissen Rahmen der »Möglichkeiten des Grenzganges« in andere Welten »eintauchen«. Im folgenden Zitat kann eine pädagogische Lesart im Eintauchen in andere Seiten des Grenzgängers angeboten sein: »Einem Grenzgänger wäre es also darum zu tun, vielgestaltig zu werden und Übergänge zu lernen, zumindest der anderen Möglichkeit eingedenk zu bleiben, wenn er die eine wählt.«333
327 328 329 330
Hohnsräter 1999: 236. Hohnsträter 1999: 236. Hohnsträter 1999: 236. Eine Figur des Zwischen und des Übergangs ist die »Schwelle«, deren etymologische Herleitung in den Begriffen »gründen« (Grund) und Balken oder Brett als unterer Teil des Türgerüsts hergeleitet wird. Diese doppelte Ausgangssituation erlaubt eine doppelte symbolische Zuordnung als Fundament für die Tür und in weitestem Sinne die Stabilität des Hausgerüsts, aber auch als ein Gebäudeteil, welches als Passage des Übergangs zwischen einem Innen und Außen, also auch Bekanntem und Fremdem oder Neuem darstellt. Anwendung findet sie häufig in symbolischen Initiationsriten innerhalb von Gemeinschaften (Vgl. Hans-Gerald Hödl: »Schwelle«: In Günzel (Hg.): Lexikon der Raumhilosophie, 2012: 363ff.) Siehe hierzu auch später Bhabhas Ausführungen zur Schwelle in Kapitel 3. 331 Hohnsträter 1999: 240f. 332 Hohnsträter 1999: 243. 333 Hohnsträter 1999: 242.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
Der Grenzgang scheint sich nicht per se zu definieren, sondern erfordert Hohnsträters Erläuterung zufolge eine Handlungsempfehlung dafür, wie sich der Akteur im Grenzgang verhalten bzw. sein solle. Beginnend mit dem höchsten Ziel solle man »vielgestaltig werden«. Der Ausdruck, des Vielgestaltig zu werden wird nicht näher erläutert, jedoch in einen Kontext gesetzt mit »Übergänge zu lernen« und danach in der Minimalzielformulierung um »zumindest der anderen Möglichkeiten eingedenk zu bleiben, wenn er die eine wählt«. Denkt man diese Erklärungen zusammen, so scheint der Begriff der Gestalt eine Außenperspektive auf das Subjekt bzw, die Akteur_in zu geben, die Gestalt diesseits oder jenseits der Grenze. Hohnsträter macht aus der Entität der nach Außen geschlossenen Gestalt jedoch ein beschreibendes Adjektiv »vielgestaltig«, welches nicht nur eine das Innere kennzeichnende und zudem plurale (»vielgestaltig«) Eigenschaft besitzt. Dem Akteur wird nahegelegt, diese Eigenschaft der Vielgestaltigkeit, die er oder sie im Lernen des Übergangs erwirbt, zu seiner dominanten Wesensform werden zu lassen (vielgestaltig »werden«). Im »Eintauchen« und Kennenlernen einer anderen Seite oder Welt, bedingt durch die Überschreitung der Grenze, erhält der Grenzgänger durch die Existenz der anderen Seite eine alternative zum Bekannten und dadurch eine Möglichkeit und Wahl, die das Denken per se schon erweitert hat, allein im Akt sich mit seiner ganzen Gestalt für eine Seite entscheiden zu müssen. Am Beispiel des Grenzgängers und der Grenze macht Hohnsträter auf verschiedene Effekte des Aktes der Überschreitung auf die Akteur_in aufmerksam z.B. eines Vielgestaltig-Werdens. Wie oben beschrieben, sind Baumans Parvenüs dagegen nicht bloße ÜberschreiterInnen, die Transformation und Prozesshaftigkeit verkörpern, sondern sie sind durch existenzielle Bedrohung von außen und prekärem und stetigem Anpassungsdruck gezeichnet.334 Die Soziologin Bauschke-Urban transferiert die Ebene der erkenntnistheoretischen Metaphern auf konkrete realisierbare Möglichkeiten, welche außerhalb der Grenzen von lokal fixierten Lebens- und Arbeitsformen liegen. Eine Übertragung dieser theoretischen Möglichkeiten auf konkrete Entscheidungen führe dazu, dass die Bereitschaft zu einer mobileren Lebensführung ebenfalls steige.335 »Aus der Perspektive transnationaler Erfahrungs- und Handlungsräume wird es möglich, Optionen und Perspektivenwechsel, die sonst durch Grenzen ausgeklammert werden, zu erproben und kombinieren. Man wählt und gewichtet verschiedene sich überschneidende Identitäten und lebt sozusagen im Zwischenraum der Kombination und der in sie eingebauten Widersprüche.«336
334 Vgl. Bauman 1999: 133. 335 Bauschke-Urban 2010: 80. 336 Bauschke-Urban 2010: 29.
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Auch die Änderung der eigenen Perspektive wird zu einem wichtigen Werkzeug des Grenzganges. So müssen auch Perspektiven eingenommen werden, die im Normalfall durch die Grenzen ausgeklammert werden, um alle Möglichkeiten in Betracht ziehen zu können. Bauschke-Urban überträgt auch die Frage der Identitätsbildung entlang der Metapher der Grenze auf konkretere Ebenen wie die grenzüberschreitende Mobilität von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen sowie von Studierenden. Es »gilt an den Hochschulen als Qualitätsmerkmal und der Wille zum Erkunden wissenschaftlicher Räume außerhalb des Herkunftslandes in Verbindung mit der Bereitschaft zu hoher Flexibilität gehört sowohl zu den Imperativen als auch zu den inzwischen üblichen Passagen für eine Karriere in der Wissenschaft«337 . Die »andere Seite« ist also ständiger Begleiter beim Grenzgang. Zu jeder Zeit muss man sich der anderen Möglichkeiten bewusst sein, auch wenn man sich bereits für eine Seite entschieden hat. Zudem kontrastiert Hohnsträter positive und negative Aspekte in Bezug auf Entgrenzungen, denn er betont, dass ein Grenzgang auf der einen Seite von Zwang befreien kann und auf der anderen Seite auch zur völligen Auflösung ins Beliebige und Unlebbare führen kann.338 Honhnsträter nähert sich einer Definierung des Grenzbegriffs, indem er konstatiert, dass an den Grenzen »Fremdes und Eigenes, Innen und Außen, Gegenwart und Abwesenheit« auseinanderdriften und aufeinandertreffen.339 Er diskutiert die Grenze und ihre Überschreitung mit Verweis auf Gefahren und Potenziale, die mit einem Denken mit der Metapher der Grenze einhergehen. Damit zeigt sich die positive Seite der Grenzen, nämlich dass sie zu »Ergänzungen, Korrekturen und wechselseitigen Erhellung« beider Seiten führen können.340 So sei die Verlockung der unkomplizierten, stabilen Einseitigkeit sei zu groß.341 Grenzzustände blieben immer labil, könnten »umkippen«, da sie sich nur in Bewegung aufrechterhalten und ihr Gelingen unauflöslich mit Veränderung verknüpft sei.342 Hohnsträter erklärt: »Begrenzungen können vor zerstörerischen Kontakten und Einflüssen ebenso schützen, wie sie erneuernde, anregende Möglichkeiten und Chancen fernhalten können«343 . Zeitgleich aber können »Entgrenzungen […] befreien von Zwang und Einengung, aber sie können auch zur völligen Auflösung ins Beliebige und Unlebbare
337 338 339 340 341 342 343
Bauschke-Urban 2010: 9. Vgl. Hohnsträter 1999: 231. Hohnsträter 1999: 239f. Hohnsträter 1999: 240. Vgl. Hohnsträter 1999: 243. Vgl. Hohnsträter 1999: 244. Hohnsträter 1999: 231.
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führen«344 . Somit tritt die Notwendigkeit des Grenzdenkens in den Fokus, welches ein Denken der Ambivalenz darstellt, des Mangels eines blinden Flecks.345 Es wird davon ausgegangen, dass die für die Identitätsbildung konstituierenden und Differenz erzeugenden Grenzziehungsprozesse ebenfalls beweglich und von Instabilität gekennzeichnet sind.346 Demnach führe die Grenze auch immer das Versprechen des Endes, des Abschlusses mit sich. Eine andere Sicht auf die Grenze, die sowohl den Anfang als auch das Ende in Frage stellt zeigt sich in der Figur der Übersetzung.
Grenze und Übersetzung Wenn es um den Begriff der Übersetzung geht, so wird oft auf Walter Benjamins Aufsatz »Die Aufgabe des Übersetzers« Bezug genommen.347 Dies wird mit der Doppeltheit der Beschäftigung mit dem Begriff der Übersetzung begründet: »Benjamins Essay stellt – und darin ist er beispielhaft für seine Arbeiten – einen Akt der Übersetzung dar […]. Darin geraten Definitionen eher aus der Bahn, als daß sie festgesetzt würden, denn – und der Aufsatz ist selber eine Art unheimlicher Übersetzung – weder gilt die Sorge dem Verständnis durch die Leser, noch geht es dem Wesen nach um Mitteilung.«348 Inhaltlich stellt Benjamin die Übersetzung als einen Akt der »Verpflanzung« des Originals dar, das nicht einfach an einem anderen Ort fortleben soll, sondern durch die Verlagerung ihres Wurzelgrundes einen Bruch und Neuentstehung ihres Sinns zur Folge haben soll.349 In der In-Verhältnissetzung des Originals mit der Übersetzung stellt Benjamin das Verb »darstellen« im Gegensatz zu »herausstellen« oder »offenbaren« heraus, da ersteres den großen Abstand und die relative Unabhängigkeit zwischen diesen beiden umschreiben könne. Jede Übersetzung würde in ihren eigenen Bahnen verlaufen und an einem beliebigen Punkt das Original berühren und mit leicht veränderter Dynamik weiterrollen.350 Mit Bezug zu Benjamins Aufsatz: »Die Aufgabe des Übersetzers«351 wird der Titel als Tautologie vorgeschlagen. Während es die Aufgabe des Übersetzers ist, dem Original gerecht zu werden und die Übersetzung so nah wie möglich am Original zu belassen, so bleibt sie in gewisser Weise immer sekundär zum Original selbst.
344 345 346 347 348 349 350 351
Honsträter 1999: 231. Vgl. Hohnsträter 1999: 240. Vgl. Bauschke-Urban 2010: 96. Vgl. Derrida 1995; Jacobs 1995; De Man 1995. Jacobs 1995: 166. Vgl. Jacobs 1995: 168. Vgl. Jacobs 1995: 166. Benjamin 1972: 16f.
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Die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Übersetzung und der per se Unterscheidung zwischen dem Original und dem sekundären Rang der Übersetzung eröffnet die andere Bedeutung der Aufgabe, nämlich im Moment des »Aufgebens« als Kapitulation des Übersetzers. Geht man also vom absoluten Wert des Originals aus und misst den Wert der Übersetzung dessen an der Angleichung bestehender Differenz, so führt die Aufgabe zum unausweichlichen Scheitern im Sinne des Aufgebens. »Der Übersetzer muss aufgeben angesichts der Aufgabe, das wiederzufinden, was im Original gegeben war«.352 Benjamins Tautologie in der »Aufgabe des Übersetzers« wird als Kritik am klassischen Festhalten am absoluten Wert des Originals interpretiert. Derrida nimmt diesen Ansatz Benjamins auf und stellt aus dem unausweichlichen Moment des Scheiterns in der »Aufgabe des Übersetzers« eine der Übersetzung grundsätzlich innewohnende »Verwechslung« und »Verwirrung« her353 , die er mit der Geschichte des Turmbaus zu Babel diskutiert. Derrida wiederum verweist hierbei auf Voltaire, der der babylonischen Verwirrung eine mindestens zweifache Bedeutung zuschreibt. Eine Verwirrung, der die Sprachen ausgesetzt seien, aber auch einer Verwirrung, die im Angesicht der unterbrochenen Struktur die Architekten und Baumeister befällt. Der Zusammenhang und die Abhängigkeit von Sprache, Struktur und Handeln zeigt sich in diesem Beispiel besonders durch das Moment der Verwirrung, oder auch gänzlich des Scheiterns, um bei Benjamin zu bleiben. Jacques Derrida, der mit dem Begriff der différance Rubriken der Grenze, Beschränkung, Linie, Stufe, Teilung, Rand, Übersetzung als Ebene der Zerstreuung (dissemination) in den Mittelpunkt seiner Arbeitsarena stellt, schreibt in seinem Aufsatz »Living on Borderlines«, dass man nie von seiner eigenen Sprache oder in einer fremden Sprache schreibt. Demnach ist die »Vielfalt der Idiome (nicht) allein die Grenze einer ›wahren‹ Übersetzung, einer durchsichtigen und angemessenen Mit-Teilung, vielmehr begrenzt sie auch die Ordnung einer Struktur, den Zusammenhang und die Stimmigkeit des Konstruktums. An dieser Stelle stoßen wir (wenn wir übersetzen) auf eine Grenze, die das formale Aufreißen im Innern durchzieht, wir stoßen auf das Unvollendete und Unvollständige der Konstruktur.«354 Alle daraus abzuleitenden Konsequenzen müssen sich aus dem Wissen nähren, dass sie »jeden Ausdruck (oder token) des Vorhergesagten mit hinein«355 ziehen. Ähnlich konstatiert Levinas in Anlehnung an Husserl, dass im Sagen sich das »schon Gesagte«356 noch vor der Thematisierung schematisiert, jedoch ist 352 353 354 355 356
Benjamin 1972: 16f. Derrida 1997: 120. Derrida 1995: 120. Derrida 1979: 101. Hirsch 1997: 414.
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das Sagen im »Sich Aussetzen« verhaftet und wird zum Fundus und Archiv der Idiomazität der Sprachen. Alfred Hirsch bezieht sich auf eine Ethik des Übersetzens nach Levinas und Benjamin, indem er Bedeutung ihrer Seinsbestimmung zuschreibt, wenn sie sich in einem Geflecht von Beziehungen und »Verspannungen« zwischen Objekten, Sprache und Denken generiert.357 In diesem Fall würde im Gesagten auch immer schon einer Vielzahl an lateralen Verweisungen und Kontexten durchgelaufen sein. Eine vom Stadium des »Sagens« zu dem des »Gesagten« generierte Übersetzung lässt Idiomazitäten entstehen, die in der Verzahnung des Individuellen und Allgemeinen auch eine Verbindungslinie zum anderen schafft. Die historische Sprache schafft im Moment des Sagens durch das Individuum also sowohl die Verbindung zum zukünftig noch zu Sagendem als auch zur Welt. In diesem Moment der Verzahnung oder des Chiasmas nach Maurice Merleau-Ponty entsteht eine Art Verantwortlichkeit zwischen diesen Strängen358 . Auf den Aspekt der Verantwortung und Zivilisierung durch die Grenze wird im Folgenden am Beispiel der Leiblichkeit und Haut eingegangen.
Grenze als Raum der Zivilisierung zwischen Innen und Außen Sigrun Anselm bietet mit dem französische Psychoanalytiker Didier Anzieu (1991) einen Zugang zum Begriff der Grenze als Gegenstand sozialpsychologischer Konflikte, aber auch zugleich der Konfliktlösung. So geht sie mit Anzieu von der These aus, dass es einer Politisierung und Moralisierung des Grenzbegriffs bedürfe. Denn eine Grenzvorstellung, die sich in der Aneinanderreihung von Grenzüberschreitung als negative Bewegung erschöpfe, würde eine zunehmende Unfähigkeit der Subjekte fördern, die eigenen Grenzen wahrzunehmen. Eine Folge dessen könnte sich im Ich-Welt-Verhältnis äußern, das mit der gesellschaftlichen Unfähigkeit einhergehe, der Naturzerstörung, dem Wirtschaftswachstum, dem wissenschaftlichen Forschen etc. Grenzen zu setzen.359360 Vielmehr wird vorgeschlagen, die Grenze als Moment zu begreifen, welches alle Lebensbereiche durchdringt und als Kommunikationsgewinn zwischen nur scheinbar getrenntem Sein genutzt werden kann. Dieses sich entwickelnde Verhältnis zwischen dem Subjekt und seiner Welt macht Anselm entlang der Argu357 358 359 360
Vgl. Hirsch 1997: 415. Weiterbringend ist an dieser Stelle auch Mannheim 1980. Vgl. Anselm 1995: 199f. An diesem Ansatz wird deutlich, wie in der Wissenschaft Metaphern im Sinne ihrer epistemologischen Differenzierung auf andere Metaphern bezogen werden. In diesem Fall dient die Haut als Metapher für die nähere Erläuterung der inneren Grenzen moderner Gesellschaften. Es wird aufgezeigt, wie über individuelle und zwischen individuellen Grenzen im Sinne einer kommunikativen Ordnung soziale und moralische Grenzen entstehen und Identitäten sowie soziale Gefüge wesentlich konstruieren.
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mentation Anzieus am Beispiel der Grenzerfahrung von Kindern deutlich, anhand derer sie ihr Verhältnis zur Außenwelt organisieren und daraus ihre Innenwelt mit Inhalt füllen. Als Bedingung der Wahrnehmung des anderen und seiner selbst dient hierzu schon früh die Haut, die zudem als Medium des Austauschs mit der Außenwelt eine Trennung und Verbindung mit dieser darstellt. Die Haut wird hier als eine weitere materielle und metaphorische Grenze diskutiert, die allen Menschen als immanente Differenz und Verbindung zur Außenwelt zu eigen ist und in dieser Logik die Menschen allein durch dieses geteilte Element direkt und indirekt mit einander verbindet.361 Die Haut scheint eine dankbare Metapher für die strukturelle Verbindung der Menschen unter einander zu sein, die als Zone des Kontaktes, der Berührung und der Verletzung durch Impulse auf die psychologisch-kognitive Ebene überträgt. Anselm rekurriert auf Anzieu, wenn sie die unmittelbare, taktile Außenerfahrung des Kindes als Bedingung für seine kognitive und emotionale Weiterentwicklung versteht. Diese Grenzerfahrungen übertrage das Kind mit fortschreitender Entwicklung auf die soziale Sphäre. Seine »Ichgrenze«362 lerne das Kind somit aus der Spannung von Grenzerfahrungen und kommunikativer Überschreitung. Mit der psychoanalytischen Perspektive gilt ist es nach Anzieu jedoch unabdinglich für ein positives Verhältnis zwischen dem ich und seiner Umwelt, dass die Ichgrenzen positiv besetzt sein müssen. Hierfür bedarf es einer neutralen Zone, in der das Ich mit dem Neuen, Anderen, Fremden in Kontakt kommen kann, ohne dies als bedrohlich wahrzunehmen. Diese Zone des Kontaktes wird mit Bezug auf Donald Winnicotts Formulierung als Übergangsraum bezeichnet. Dieser wird bemerkenswerterweise nicht zwischen dem Innen und Außen verortet, sondern umschließt das Innen und Außen. Diese Übergangszone kennzeichnet sich dadurch, dass sie dem Subjekt ein zumutbares Außen anbietet, ein sogenanntes »äußeres Innen«363 , in das es sich situieren könne. Dies wird damit begründet, dass jedes Neue eine gewisse Repräsentanz und Bereitschaft im psychischen Innern benötige, damit von einem positiven Verhältnis zwischen Subjekt und Umwelt gesprochen werden kann. In diesem Sinne wird die Grenze als Ort gesehen, die sowohl Differenz und Neues als auch Gemeinsamkeit und Bekanntes enthalten muss. Sie soll als Ort angemessene Bedingungen dafür bereitstellen, dass das Subjekt ein Verhältnis zur Außenwelt aufbaut und sich beide infolgedessen weiterentwickeln. Es gilt daher, diesen Übergangsraum nicht nur als solchen wahrzunehmen, sondern auch in seinen Potenzialen und Gefahren zu begreifen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, den kindlichen Übergangsraum auch zunehmend als differenzierten Zivilisationsraum zu verstehen. Es braucht eine Gestaltung und Mitwirkung an diesen Zivilisationsräumen, die den Kindern die alltäglichen Grenz- und
361 Vgl. Anselm 1995: 199f. 362 Anselm 1995: 200. 363 Anselm 1995: 201.
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Fremdheitserfahrungen annehmbar machen. Instrumente hierfür seien zum Beispiel Symbole und Formen, die dem Identischen und dem Unterschied ihr Recht geben. Im Sinne der Annahme des Äußeren durch das Subjekt kann es eine harmonische Synthese zwischen der Grenzsetzung und der Grenzüberschreitung geben. Symbole und Formen seien förderlich für den kommunikativen Austausch, da sie zugleich einen strukturellen Rahmen bieten, innerhalb dessen das Subjekt und soziale Gruppen sich emotional wiederfinden und auch wieder aus sich heraus gehen können. An der Grenze würden sich Formen bilden, wie Verhaltenskodizes für geregelte Kommunikation, die lebendigen Austausch im gleichen Zug beschränken und zur Verwirklichung verhelfen würden.364 Den Übergangsraum als Raum der Zivilisierung im relativ freien Spiel der Kräfte gilt es als solchen auch zu gestalten und zu schützen. Über die Figur des Spiels soll das lebendige Üben und Distanzieren von äußeren Regeln sich in einem generierenden Verhältnis zum eigenen Willen und Wirken wiederfinden. Mit dem Ansatz Anzieus und Anselms kann die Grenze als Raum und in seiner Funktion des Schutzes und der Vermittlung zwischen dem Ich und dem Äußeren verstanden werden, die ein positives besetztes Verhältnis und Weiterentwicklung bedingen.
Grenze als Frage des Umgangs mit Zwischenräumen Die Grenze wird dabei als paradoxe Figur zur Bedingung der Möglichkeit der Überschreitung, der Begegnung und der Auseinandersetzung. Die Grenze ist also limes im Sinne von Grenzzäunen und Mauern, aber auch limen im Sinne von Schwelle, Kontaktzone, Begegnungsort, Zwischenraum. Der Literaturwissenschaftler Wolfgang Müller-Funk hebt die doppelte und unaufhebbare Funktion von Grenze hervor, die Trennung und Verbindung in einem sei. Dabei käme es darauf an, »beide Momente kreativ in einen kunstvollen Schwebezustand zu bringen«365 . MüllerFunk rekurriert in seiner Warnung auf den Philosophen Massimo Cacciari, demzufolge ein Verständnis von Grenze als limes durch ein Ein- oder Ausgesperrt-Sein die Wohnlichkeit gefährde, während Grenze als limen ebenfalls den Verlust der Wohnlichkeit einleite, indem durch das Fehlen der Grenze keine Geborgenheit und Schutzräume entstehen könnten. Vor diesen Hintergrund denkt Müller-Funk diesen Ansatz weiter, wenn er mit Bezug auf Derrida, Levinas und Waldenfels ein »Ethos von Grenzachtung und Grenzverletzung«366 benennt. Vor dem Postulat dieses Ethos erscheint die Übung des von Müller-Funk genannten Schwebezustandes in konstruktiver Weise hilfreich. Auch dieser wird im Bild der Grenze durch einen Gang auf der Grenze markiert.
364 Vgl. Anselm 1995: 201. 365 Müller-Funk 2012: 81. 366 Müller-Funk 2012: 81 nach Waldenfels.
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Die Grenze soll gedacht werden, »nicht als Linie zwischen zwei Seiten, sondern als Streifen, als Zwischenräume […]. Auf diesen Zwischenräumen können Grenzgänger navigieren und neue Konzepte und Formen der Existenz erproben«367 . Auf diesem Streifen soll der Grenzgänger gehen, da das Linienmodell nicht reiche, wenn es sich bei der Grenze um einen Ort kreativer Kombination und Transformation handeln solle.368 Nach Korte muss die Grenze als soziologischer Begriff zuerst an die Erfahrung von Grenze gebunden werden. »Erfahrung von Grenze bedeutet aber erstens die Überschreitung von Grenze. Erst wenn dies geschieht, kann ein erfahrungsbestimmtes Bewusstsein von Grenze entstehen.«369 Die Grenzen würden erst deutlich durch die jeweiligen sozialen Wechselwirkungen bei ihrer Überschreitung.370 Auch Korte greift die Denkfigur der Grenze nicht als Linie, sondern als Streifen auf. Hierbei »kann deutlich werden, dass die Grenze kein Strich ist, sondern im geographischen Bild – ein Streifen, mehr oder weniger breit, der als solcher nicht gekennzeichnet ist. Grenzerfahrung findet im Verhältnis zu diesem Streifen, diesem Feld, diesem Niemandsland statt und wird als solche erst deutlich, wenn in der sozialen Wechselwirkung die Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit erlebt wird«371 . Auch bei Korte ist somit die Grenze ein Streifen, auf dem ein Grenzgänger zwischen den Möglichkeiten navigieren kann. Genau wie Hohnsträter positioniert Korte das Zentrum der Aktivität auf der Grenze als einem »Dazwischen«, welches nach Hohnsträter einen Dritten Raum beschreibt. Hohnsträter bezieht sich dabei explizit auf Bhabhas Konzept des »third space«, auf das im dritten Kapitel dieser Arbeit eingegangen wird. Dieser Dritte Raum liegt Hohnsträter zufolge genau auf jenen Grenzen.372 In dieser Logik sei eine Grenze vielmehr der neutrale Boden zwischen den beiden Seiten373 , womit Hohnsträter betont, dass an ihr Kontraste festgestellt werden können. Mit einer Grenze ist auch immer ein Grenzgänger verbunden, welchen Hohnsträter in seinem Text als einen zentralen Aspekt hervorhebt. Ein Grenzgänger habe sich parasitär der beiden Seiten, zwischen denen er stehe und die Materialien seiner Identität entnehme, zu verhalten. Eine Interpretation des Parasitären könnte auf eine Schädigung der Grenze selbst hindeuten, die durch den andauernden Grenzgang niedergetreten wird. Die Grenzgänger_in bleibe immer am gleichen Ort, nämlich auf der Grenze.374 Hohnsträter zeigt da-
367 368 369 370 371 372 373 374
Hohnsträter 1999: 244. Vgl. Hohnsträter 1999: 241. Korte 2011: 127. Vgl. Korte 2011: 127. Korte 2011: 127f. Hohnsträter 1999: 232. Vgl. Hohnsträter 199: 242. Hohnsträter 199: 242f.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
mit, dass man beide Seiten der Grenze, mit denen man sich in einem Grenzgang konfrontiert, berücksichtigen und anerkennen muss, dass man ohne diese beiden Seiten ein einsamer Mensch wäre. Letztendlich sei aber zu bedenken, dass immer Differenz in der Welt bleibt, da die Ausdehnung des Grenzstreifens auf alles, die Grenze selbst zum Verschwinden bringen würde und damit die Erreichung des Zieles eben dieses aufheben würde.375 »Und der Grenzraum ist Spielraum, weil der Grenzgänger um die Berechtigung der Momente, Facetten, Seiten und Aspekte weiß, ihre Möglichkeiten anregt und nutzt und neue Verknüpfungen schafft«376 . Er entwickelt sich zu einem Symbionten. Somit gibt es immer einen Zwischenraum. Auch Emil Angehrn betont, dass in der Grenze eine Existenz stehe. Er überträgt dies auf die interkulturelle Ebene und bezieht sie auf die Frage der Konfrontation zwischen vermeintlichen Kulturen. »So bedeutet die Konfrontation mit einer fremden Kultur nicht nur eine Erfahrung des Begrenztseins, sondern eine Bereicherung. Sie drängt zur Erweiterung des eigenen Verstehens und zum Überschreiten der Grenze. Dies nicht nur gemäß der dialektischen hegelschen Figur, wonach die Wahrnehmung einer Grenze je schon über diese hinaus ist, sondern im direkteren Sinne, dass die in Frage stehende Grenze keine absolute ist.«377 Angehrn wendet die epistemologische Metapher der Grenze auf die Ebene konkret interkultureller Diskurse an und gibt der Grenze als einen Ort der Grenzüberschreitung eine neue Dimension. Zum beiderseitigen Verständnis diene die Grenze als Ort der Begegnung und Konfrontation, die sowohl auf die unwiderrufbare Zusammengehörigkeit beider Seiten hinweise als auch ein inhärentes Spannungsmoment aufrechterhalte. Man müsse sich demnach als ständiger Gänger auf der Grenze begreifen, der im Raum zwischen den vermeintlich abgeschlossenen Kulturen schreite. Angehrn betont die Möglichkeiten einer Erweiterung des eigenen Verstehens im Akt der Begegnung und Konfrontation mit einem signifikant anderen als Moment der Selbst- und Fremdwahrnehmung.
Grenze als Metapher des Nord-Süd-Flusses Wenn wir an der Metapher von wandernden Konzepten und Theorien ansetzen, so wird diese z.B. aus der postkolonialen Sicht bezüglich des Produktionsortes, ihrer Rezeption und ihrer Wanderungsrichtung diskutiert. Nikita Dhawan stellt folgende Ansätze als kritische Interventionen dar, die epistemologischen Austausch vor dem Hintergrund welthistorischer, machtpolitischer und sprachtheoretischer Bedingtheiten beurteilen.
375 Vgl. Hohnsträter 1999: 242. 376 Hohnsträter 1999: 242. 377 Angehrn 2014: 27.
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Dhawan nimmt Edward Saids (1983) Kritik an James Cliffords Ansatz eines theoretischen »Nord-Süd-Fluss[es]«378 auf und betont in der Kohärenz jener Darstellung, dass solche Reisen von migrierenden Theorien zwischen ›Erster‹ und ›Dritter‹ Welt vielmehr von ambivalenten Aneignungen und Widerständigkeiten gekennzeichnet seien.379 Dhawan zufolge stellt die feministische Kulturtheoretikerin Mieke Bal (2002) den Begriff der »reisenden Konzepte« explizit als Werkzeug des Dialogs und Austauschs in und zwischen Diskursen vor, ohne zu ignorieren, dass ihre Bedeutung und Aussagekraft immer als Moment der Verhandlung vor dem Hintergrund ihrer kulturellen Kontexte und historischen Abschnitte verstanden werden müsste. Die Kulturtheoretikerin Lydia Liu gehe der Frage von »wandernden Theorien« weiterführend nach, indem sie, vor einem chinesischen Hintergrund, auf Bedingungen der Übersetzung an der Kluft zwischen Ost und West aufmerksam macht. Gerade in Fällen von gemeinhin anerkannten Äquivalenzen sei eine Übersetzung von einer Sprache in einer andere geprägt von Erfahrungen und Konnotationen der einen Sprache, die den Repräsentationen, Übersetzungen und Interpretationen der Anderen nicht »unterworfen«380 sei. In dieser Logik fragt sie danach, was mit Normen im Prozess des Transports von der einen Sprache in eine andere passiert. Über die Frage nach dem Transportmittel selbst stellt sie die Überschreitung von Grenzen in ihrer Problembehaftung in den Mittelpunkt. Programmatisch nutzt sie dafür den Terminus der translated modernity, um im Sinne Mieke Bals über Formen linguistischer Vermittlung und Ansätzen der transkulturellen Interpretation den Diskurs »zwischen Osten und Westen« auszubauen. Mit der Frage, ob es auf »universellem und transhistorischem Boden«381 möglich sei, sichere Vergleichskategorien zu entwickeln, berührt sie die Bedeutungen von Überschreitungen von Sprachgrenzen und damit auch verbunden von Normgrenzen382 . Jacques Derrida beschreibt etwa die Grenze zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit nicht als Ort zwischen Sprache und Schrift, sondern als Ort im Inneren eines jeden383 und verweist auf die Moralisierung durch dilemmatische Verhandlungen im Innern. Derrida zufolge sind der Begriff und sogar das Wort »Struktur« so alt wie die »Episteme« selbst. Beide »wurzeln im Boden der natürlichen Sprache, auf deren Grund die ›Episteme‹ sie einsammelt und in einer metaphorischen Verschiebung an sich bringt«384 . In der Beschreibung des Bestimmungsverhältnisses zwi-
378 Dhawan 2011: 18. 379 Im dritten Kapitel dieser Arbeit werden diese ambivalenten Aneignungen und Widersprüchlichkeiten an Beispielen in Bhabhas Werken herausgearbeitet. 380 Dhawan 2011:18 nach Liu 1995: xv. 381 Dhawan 2011: 19 nach Liu 1995: xv. 382 Weiterführend ist hier auch die Literatur von Römhild 2015 zur Frage des Postmigrantischen. 383 Derrida 1972: 156. 384 Derrida 1972: 422.
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
schen der Struktur und dem Zentrum gibt Derrida dem Zentrum die Funktion, um der Struktur Orientierung, Gleichgewicht und Organisation zu verleihen. Darüber hinaus wird das Zentrum als grenzgebendes Element für den Spielraum jeder Struktur verstanden und dadurch eine Ermöglichungsfigur des Spiels im Innern der Formtotalität.385 Das Orientierung gebende Zentrum ist ambivalenterweise jedoch nicht nur Ermöglichungsfigur des Spiels, sondern stellt auch ihre Grenze dar. Im Zentrum ist die Substitution und Transformation von Elementen, Inhalten und von Termen (auch in sprichwörtlichem Sinne) untersagt.386 Inwieweit sprachliche Überschreitungen von Grenzen nicht auf den linguistischen Sektor oder den subjektivierenden Aspekt beschränkt bleiben sollten, verdeutlicht Dhawan selbst am Beispiel der Begriffe ›Menschenrechte‹, ›Gerechtigkeit‹ und ›Demokratie‹.387 Sie macht darauf aufmerksam, dass im Versuch der Übertragung und Anwendung dieser Begriffe oft die Frage wie selbstverständlich nach diesen Wörtern in der jeweiligen anderen Sprache gestellt wird. Eine Schwierigkeit im Finden eines äquivalenten Pendants werde oft als Mangel und Zeichen für die Rückständigkeit interpretiert oder man messe den betreffenden landesprachlichen Terminus an eigenen Counterparts und deren Konnotationen. Nikita Dhawan stellt das Konzept Amartya Sens aus seinem 2009 erschienenen Buch The Idea of Justice, das sich an Sanskritbegriffen aus der alten indischen Rechtslehre (»niti« – organisatorische Richtigkeit und »nyaya« – realisierte Gerechtigkeit) orientiert, mit Verweis auf seine eigene Agenda als »Gegenmittel zu nicht-europäischer intellektueller Provenienz dem Provenzialismus zeitgenössischer westlicher Gerechtigkeitstheorien«388 gegenüber. Dhawan kommentiert die Rezeption dieser Art von Konzepten mit dem derridaschen Kunstbegriff der »hostipitality«389 . Das darin enthaltene ambivalente Moment der Feindseligkeit in der Gastfreundschaft zeigt sich, indem der Andere lediglich für eine beschränkte Zeit ins eigene Haus (in den bekannten dominanten Diskurs) eingeladen wird, um ihn wieder auf seinen Status als wegzugehender Gast (Exot) zu verweisen. Allein durch die Metapher der Reise, wie auch der Metapher der Reise von Konzepten, erhalten solche Konzepte – vor dem Hintergrund postkolonial-historischer Kritik aus einer ideenlogisch naiven Position im Lichte einer euro-amerikanisch paternalistischen Position der »Überlegenheit« von »Normproduzenten«390 – eine weitere Konnotation. Betrachtet man Begriffe wie Aufklärung, Fortschritt und teleologische Geschichte vor dem historischen Kontext kolonialer und imperialistischer Diskurse, so zeigen sich tragischerweise vor allem humanistische Postula385 386 387 388 389 390
Vgl. Derrida 1972: 422. Vgl. Derrida 1972: 422. Vgl. Dhawan 2011: 19. Dhawan 2011: 19 nach Sen 2009: 20. Dhawan 2011: 18 nach Derrida 2000: 3. Dhawan 2011: 14.
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te teilweise als Inhalte von globalen Missionierungspraktiken (als »Verantwortung und Pflicht, den Rest der Welt zu ›retten‹ und zu ›erleuchten‹391 ). Dhawan warnt vor dem Rückschluss, dass nicht-europäische Sprachen per se einen Ort des Widerstandes gegen Eurozentrismus darstellen. Sie wolle vielmehr in der Historisierung und Dekolonisierung von Wissen und Normen den »asymmetrischen Fluss von Konzepten herausfordern und in Frage stellen«392 . Auch der Einsatz für Menschenrechte soll in diesem Sinne nicht in Abrede gestellt werden, sondern in ihrer historisch und epistemologisch dilemmatischen Position begriffen – und vor eine intersektionale Folie der Problemanalyse und Ermächtigungsarbeit gestellt werden.
»Zwischen« als Miss-Verhältnis in der Dynamik technologischer Entwicklung und dem Reifeprozess des Menschen im postindustrialisierten Zeitalter Die Übertragung der Perspektive Max Horkheimers (vor dem Hintergrund der Kritischen Theorie) auf sprachliche Metaphern wie der der Grenze kann mit einer kritischen Schärfung des Begriffs einhergehen. Betrachtet man »Grenze« und »Zwischen« als Metapher des In-Verhältnissetzens von isolierten Sachverhalten, Positionen und Reflexionen, so verweist Horkheimers Analyse eines »so schreienden Mißverhältnisses«393 zwischen dem hohen Stand der Wissenschaften und der Technologie auf der einen und der geistigen Urteilsfähigkeit der Bevölkerung auf einer historischen, gesellschaftlichen, sozialen, anthropologischen und normativen Ebene auf der anderen Seite. Dieser Ausdruck Horkheimers spiegelt auch das Hauptaugenmerk der Kritischen Theorie, das in der Offenlegung von Mechanismen, Strukturen und ihren Zusammenhängen mit dem Ganzen die Potenziale und Befangenheiten des Einzelnen und der Massen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen beleuchtet. In der Beschreibung universeller Vergesellschaftungsprozesse, sowie eines »Geformt- und Erfasstwerdens eines jeden Einzelnen durch die Totalität«394 warnt Horkheimer vor einer »allzu buchstäblichen und simplen« Einordnung dieser in unsere Vorstellungen davon. Die Andeutung der tatsächlich buchstäblichen Ebene eröffnet einen Interpretationsraum, den man zunächst auf simple Weise mit Vorstellungen von einer offenen Indoktrination (»Geformt« werden) und Gefangenschaft (»Erfasstwerden«) des Einzelnen füllt. In seiner Analyse führt Horkheimer die Totalität in der Erfassung des Einzelnen viel mehr auf ein grundlegendes Missverhältnis im Tempo zwischen technologischer Entwicklung und
391 392 393 394
Dhawan 2011: 14ff. Dhawan 2011: 20. Horkheimer 1985: 413. Horkheimer 1985: 412ff.
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dem Reifeprozess des Menschen zurück.395 Sein Argument setzt er daran an, dass mit fortschreitender Entwicklung der Technologie seit der Industrialisierung immer mehr Lebensbereiche zusammengelegt worden seien und damit auch eine stärkere Durchorganisation der Gesellschaft (in ihren Sektoren) stattgefunden hat. Dies hätte das Verhältnis des Menschen zur Welt als formend und geformt werden zu einem verarbeitenden und verarbeitetem Verhältnis verlagert, in dem vor allem der Aspekt der Zeit als Sinnbild für »Liebe«396 als »hingebendes«397 eine bestimmende Rolle spielt. Im Gegensatz zu einem Verhältnis, das durch »Hingabe«398 als selbstbestimmtes und ergebnisoffenes Moment (von Bildung) gekennzeichnet wird, stellt Horkheimer im postindustrialisierten Zeitalter den Prozess der Verarbeitung als einen dar, in den die Menschen auf einseitigere (mit dem einen Ziel der Kapitalakkumulation) und gewaltvollere Weise hin zur Seite der Vergesellschaftung »hineingerissen«399 werden. Die damit zusammenhängende Reduktion der Zeit in Kombination mit einer systematisch entfremdenden Fremdzweckorientierung in der Arbeit des Menschen wird das Verhältnis des Menschen zu seiner Welt über die reziproke Formung und Betonung des individuellen emanzipatorischen Potenzials zu einer einseitigen Formung machen, in der der Wert des Menschen in letzter Konsequenz über den Maßstab des Kapitalismus definiert wird. Horkheimer geht in seiner kritischen Analyse des Missverhältnisses zwischen dem Menschen als Einzelnen, aber auch als Gattung (in seiner anthropologischen und historischen Entwicklung betrachtend), und der technologischen Entwicklung noch weiter, indem er ihn (den Menschen) als prinzipiell »nicht reif dazu«400 bezeichnet und auf die daraus folgenden Konsequenzen hinweist. Der einseitige Anpassungsdruck des Menschen an die Technologie würde nämlich im Dienste kapitalistischer Produktionszusammenhänge »unendlich viel Krudes und Ungeformtes«401 hervorbringen. Während die Technologie und ihre Bedienung als Maßstab zur Erreichung der kapitalistischen Ziele die Sektoren des Lebens in der »allgegenwärtigen Formung« »dünn übersponnen«402 würden, blieben die darunterliegenden Sektoren des Lebens weitestgehend formlos, da sie nicht aus historisch gereifter Entwicklung einen gemeinsamen Sinnzusammenhang entwickelt haben, sondern durch die Maßstäbe der technischen Entwicklung und kapitalistischer Ideologie einen »dünn übersponnenen« Überbau erhalten haben. Die Maschen der
395 396 397 398 399 400 401 402
Vgl. Horkheimer 1985: 413. Horkheimer 1985: 411. Horkheimer 1985: 415. Horkheimer 1985: 415. Horkheimer 1985: 413. Horkheimer 1985: 413. Horkheimer 1985: 413. Horkheimer 1985: 413.
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Totalität würden sich in diesem Prozess der universalen Vergesellschaftung über einen einseitigen Anpassungsdruck des Menschen an die Maßstäbe der Technik als Heilsofferte und Hauptproduktionsmittel einer kapitalistischen Industrie äußern. Der Widerspruch im Entwicklungsstand zwischen den beiden Ebenen sei deswegen verheerend, da in diesem Prozess die »alten traditionalistischen Bildungselemente […] aufgelöst« werden würden, »ohne daß der neue Zustand des Geistes am Bewusstseinsstand der Subjekte seine Stütze hätte«403 . Vor dem Hintergrund des Missverhältnisses zwischen dem Reifungsprozess des Menschen und der Entwicklung der Technologie und den verheerenden Konsequenzen daraus, die den Menschen total erfassen und zum modernen Höhlenmenschen formen, bliebe der technologische Fortschritt ohne die Berücksichtigung sozialhistorischer Erkenntnisse roh und würde von »skrupellose[n] Mächtige[n]«404 als Instrument zur totalen Vergesellschaftung der Massen genutzt werden. Horkheimer erinnert daran, dass es der Einsicht in dieses Missverhältnis und seiner verhängnisvollen Widersprüche bedarf.
Die Grenze als Signatur von alten und neuen Ordnungen Sigrun Anselm diskutiert den Grenzbegriff mit Blick darauf, dass durch das Schwinden vieler offensichtlicher Grenzen, wie zum Beispiel den Klassenschranken, die bürgerliche Abgrenzung nach unten nicht nur nicht verschwunden sei, sondern sich trotz vielfältiger subkultureller Gegenbewegungen verallgemeinert hätte. Dies begründet sie damit, dass durch abstrakte Gleichheit (ein bekanntes Symbol ist die kapitalistische Formel ›Vom Tellerwäscher zum Millionär‹) bei gleichzeitiger realer sozialer Ungleichheit, die daraus entstehende Differenz auf einen persönlichen Mangel verlagert wird. Aus dieser »fortschreitenden Subjektivierung sozialer kränkender Grenzerfahrungen«405 würde das Gefühl des Mangels geschürt. Demzufolge würde das Bedürfnis des Einzelnen nach schützender Normalität und sozialer Abgrenzung größer. Schaffe man es aber nicht dem idealisierten Normaltypus zu entsprechen, so bestärke dies das Gefühl des Mangels. Die Effekte dessen können in der Abgrenzung nach unten und Stigmatisierung sozial Schwächerer münden. Erving Goffman beschreibt in seinem 1975 erschienenen Werk Stigma wie der sozial Schwächere in einer gesellschaftlichen Atmosphäre des Dazugehören-Wollens eine ständige offensichtliche Bedrohung für den eigenen Status quo darstellt und so eine latente Gefahr der Möglichkeit des eigenen Ausgeschlossen-Seins verkörpert. Die Homogenisierung von Lebensbereichen wird unter anderem darauf zurückgeführt, dass die Stigmatisierung sich jenseits derjenigen mit realem Mangel und Beeinträchtigungen auf jene ausweitet, mit
403 Horkheimer 1985: 413. 404 Horkheimer 1985: 413. 405 Anselm 1995: 205.
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denen niemand den Raum, den Stadtteil, die Schulklasse usw. teilen will. Goffman betitelt dies mit der »Unehre« des Gezeichnetseins.406 Anselm führt das Argument der Unterscheidung in Anlehnung an Bourdieus Ergebnisse in Die feinen Unterschiede fort. Ausgehend von einer gehegten Hoffnung, dass soziale Aus- und Eingrenzungskämpfe durch einen kommunikativen Austausch im Bereich der Kultur zu größeren subjektiven Gemeinsamkeiten beitragen könnten, stellt Bourdieu heraus, dass gerade in Sphären der Kultur Grenzziehungen als Modus der Unterscheidung und Abgrenzung nach unten zu verstehen seien.407 Der Elitismus des Geschmacks rückt einen grundsätzlichen Widerspruch des bürgerlichen Verständnisses in den Fokus: Einerseits wird Geschmack als etwas begriffen, den jeder theoretisch durch einen Bildungsprozess weiter entwickeln könnte, andererseits ist dies nicht möglich, da er durch die Sozialisation in der Familie geprägt und limitiert ist. Vor diesem Hintergrund wird der Aspekt der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit von Grenze als Radius der habituellen Festgesetztheit zur gläsernen sozialen Decke, aber auch zur unsichtbaren Gefahr.
Die Konstruktion des Grenzbegriffs als Signatur der jeweiligen Position zu Differenz und Abgeschlossenheit Verfolgt man den Grenzbegriff in seiner wissenschaftlichen Herleitung, so fällt auf, dass seine semantische Vielfalt zumeist im Sinne einer systematisierenden Ordnung in eine erkenntnistheoretische Chronologie gefasst wird.408 Vor dem Hintergrund aktueller Debatten um die Funktionen und Bedeutungen der Grenze zeigt sich, dass alle Bedeutungsdimensionen weiterhin Bestand haben und nicht abgelöst sind. Dieser Tatbestand rückt die Frage darüber in den Mittelpunkt, ob diese semantische Vielfältigkeit in Begriffen und Metaphern wie Grenze und Weiteren nicht immer schon vorhanden gewesen oder gar erkannt worden ist. Hier zeigt sich, dass auch in der Anerkennung historisch und wissenschaftlich relevanter Positionen machtvolle Prozesse eine Rolle spielen können. Die Betonung bestimmter Bedeutungen kann in der Anerkennung ihrer sachlichen Relevanz begründet sein und zugleich den Aspekt der machtvollen und politischen Zuschreibung in sich tragen. Geht man vom Zeitgeist oder von Moden aus, so kann auch hier die Frage nach realen Begebenheiten und Konstruktion dieser nicht eindeutig beantwortet werden. Im Gegensatz zu einem dialektischen Zusammendenken dieser unterschiedlichen Aspekte, wird der Begriff der Ambivalenz als Figur der Differenz in ihrer epistemologischen Verhältnisbestimmung diskutiert. Der Charakter der Öffnung rechtfertigt die Übertragung eines Begriffs auf eine Metapher des Raumes, die gerade in der Öffnung Zugänge erlauben soll, in bestem Fall Auseinandersetzung,
406 Goffman 1975: 9. 407 Vgl. Anselm 1995: 207ff. 408 Vgl. Gatzemeier 1974; Faber/Neumann 1995.
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Verhandlung oder Reflexion anregt und sich doch zugleich jeder Art der inhaltlichen Füllung aussetzt, bisweilen bis zur Zerstörung dieses freien Raumes durch seine Unüberschaubarkeit und Relativierung. Ein solcher epistemologisch offener Raum kann daher zur einer weiteren Fragmentierung und Beliebigkeit beitragen, die eine gesellschaftliche Spaltung und Homogenisierung von Diskursräumen vorantreibt und bedarf Haltepunkten, die durch Kontexte in historischen, politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Zusammenhängen zu suchen sind.
Die Hybridisierung von Grenzen Der Begriff der Hybridität ist in diesem Kapitel nicht nur durch eine Darlegung seiner historisch epistemologischen Entwicklung vor dem Hintergrund von machtvollen Zuschreibungen semantisch gefüllt worden, sondern auch über die philosophischen Theoriehintergründe, die ihr als Negativbegriff, das heißt einem sich davon distanzierendem Denken und ihrer indirekten begrifflichen wie kontextuellen Einordnung, dienen. Dem Aspekt unterschiedlicher Denkweisen in Bezug auf Kategorien der Unbestimmtheit, wie Ambivalenz, welches ebenfalls ein Charakteristikum des Zwischen ist, wurde im Weiteren über die Diskussion um Moderne und Postmoderne vor dem Hintergrund zeithistorischer Beurteilungen nachgegangen. Die Frage dahinter lautet: Wie zeigen sich ideenlogische Setzungen in Bezug auf welthistorische Beurteilungen? In der Darstellung der Debatte um modernes und postmodernes Denken ist auch indirekt die Etablierung eines Denkens mit Bezug auf Ambivalenzen und Paradoxien vor dem Hintergrund von Hybridität vorgestellt worden. Mit Blick auf den diskursiven Charakter von Hybridität als Verflechtungsfigur, wird sie im globaleren Kontext der Postcolonial Studies diskutiert. In der Logik dessen, dass der Hybriditätsbegriff nicht nur in der Einbettung im Diskurs um ein Denken in abgeschlossenen Konzepten oder Kategorien der sogenannten Unterbestimmtheit und hegemonialem Hierarchiedenken in globalem Kontext eine Rolle spielt, wird er vor dem Hintergrund seiner Verwendung in Fragen von Kultur und Gesellschaft diskutiert. Auch hier erfolgt eine epistemologische Historisierung des Kulturbegriffs, um deutlich zu machen, inwieweit der Begriff der Hybridität gerade in diesem Kontext so bedeutsam wie umkämpft ist, weil er bestimmte Öffnungen einfordert, wo keine gewollt sind und an anderer Stelle Offenheit suggeriert und Verhinderungsstrukturen überdeckt. Hybridität ist im Bereich der Kulturwissenschaften ein Begriff, der in seiner Bestimmung auf anderen Begriffen, wie Transkulturalität, Fluss und Kreolisierung aufbaut, sich daran anlehnt und davon abgrenzt. Gerade die kritische Abgrenzung des Hybriditätsbegriffs von anderen »wandernden Konzepten« erscheint vor dem Hintergrund postkolonialer Perspektiven auf einseitige Verläufe von hegemonialer Theorie- und Normproduktion unausweichlich. Im Sinne des Doppelcharakters der Kultur wird Hybridität als kultursprachliches Phänomen untersucht, das nicht
Kapitel 2: Zugänge zu Hybridität durch Kontexte, Bestimmungen und Anwendungen
nur durch Negativ- bzw. Nachbarbegriffe näher bestimmt werden kann, sondern über ihren metaphorischen Gehalt in Verbindung zur Metapher der Grenze seine dekonstruktive Handlungsmacht deutlich machen kann. Der Begriff der Grenze scheint für die nähere Bestimmung von Hybridität besonders fruchtbar zu sein, da er durch seinen finiten Charakter einerseits als Gegenbegriff zum offenen Zwischenraum der Hybridität funktioniert, andererseits jedoch in der großen Bandbreite seiner inhaltlichen Auslegung sich als Begriff der Differenz und Vielfalt entpuppt. Über die semantische Vielfalt des Grenzbegriffs wurde zum einen die Unterbestimmtheit von Hybridität als Kategorie des Zwischen inhaltlich gefüllt und differenziert, zum anderen verweist die differente inhaltliche Bestimmung der Grenze auf theoretische Positionen, die denselben Begriff als Zugang nutzen, um eine spezifische und in Relation zu anderen Bestimmungen von Grenze andere Denkweisen dieser zu verdeutlichen. In diesem Sinne ist der Grenzbegriff ein Paradebeispiel dafür, wie Begriffe und Zeichen bestimmend, begrenzend, abschließend und ausgrenzend sein können und aus anderen Perspektiven vorwiegend über Metaphern wie die der Nachbarschaft, des Grenzgangs, des Zwischenraums, des Zentrums oder als Blitz im Nachthimmel verstanden werden können. Ein Ziel dieses Kapitels war es, in Anbetracht der dargestellten Denk- und Herangehensweisen von Hybridität, Urteile über Geschichte und Geschichten (Moderne, Postmoderne), deren Zusammenhänge mit der globalen Geschichte (Postkolonialismus) und Kultur als gesellschaftspolitische Kategorie der Differenz als solche kenntlich zu machen, die immer schon im Kontext von Machterhalt (oder Implementierung von Ordnungssystemen) einem binären und hierarchisierenden Denken ausgesetzt waren. Hybridität macht als Signatur ihrer Zeit und des jeweiligen Raumes nicht nur als Negativbegriff auf hegemoniale Diskurse und binäres Denken aufmerksam. Dabei soll am Beispiel der Kritiker wie z.B. Feuerbach, Marx, Benjamin, Adorno, Horkheimer und ausgewiesenen postmodernen und postkolonialen Positionen herausgestellt werden, dass Hybridität über den Negativbegriff hinaus auch als Positivbegriff auf machtvollen Gegenpositionen aufbaut, denen ebenso als Signatur ihrer jeweiligen Zeit und Raumes in diesem Buch Geltung verschafft wurde. Die im letzten Teil dieses Kapitels zusammengestellten differenten begrifflichen, metaphorischen und epistemologischen Ansätze und Vorstellungen von Grenze sollten zudem sowohl in ihrer Gegensätzlichkeit als auch Nachbarschaft zu Hybridität das methodische Potenzial von Metaphern im Gegensatz zu reinen Betrachtung der begrifflichen Verwendungen demonstrieren. Im folgenden dritten Hauptkapitel wird Hybridität über das theoretische und empirische Schreibprojekt Homi K. Bhabhas eruiert. Bhabha ist dabei nicht nur einer der prominentesten Vertreter in Bezug auf die Konzepte der »Hybridität« und des »Dritten Raumes«, vielmehr wird sein bisheriges Hauptwerk The Location of Culture von Vielen als empirischer Beleg für die Anwendung von Hybridität
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gewertet. Diese Wertung zum Anlass nehmend, wird im folgenden Kapitel untersucht, inwiefern Bhabhas Arbeit(en) Aussagen über Hybridität als Anwendung oder Methode erlauben.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Im zweiten Kapitel dieses Buches wurde der Begriff der Hybridität über verschiedene wissenschaftstheoretische und sprachtheoretische Kontexte diskutiert. Dabei wurde Hybridität in ihrer semantischen Bestimmung direkt und indirekt entlang ausgewählter Beispiele in der Geschichte der Wissenschaft verortet. Zudem wurde die Auseinandersetzung mit Grenze als Gegenbegriff zu Hybridität und ihre metaphorische Anwendung in ihrem Handlungspotenzial offengelegt. Infolgedessen liegt das Ziel des vorliegenden Kapitels darin, sich dem Begriff der Hybridität über seine kontextuellen und begrifflichen Bestimmungen hinaus durch seinen Anwendungsbezug anzunähern. Die Arbeiten des Literatur- und Kulturwissenschaftlers Homi K. Bhabha werden in der Rezeption nicht nur oftmals in einem Atemzug mit dem Begriff der Hybridität genannt, sondern darüber hinaus als hybrides Schreibprojekt beschrieben. Die Bewertungen der Werke Bhabhas spalten sich bereits am Beispiel von Bhabhas Wahl der Verwendung gewisser theoretischer Ansätze bis hin zu seiner Schreibpraxis. Was von einigen als »innovative, originelle und hochtheoretisierte«1 Art des Umgangs ausgewiesen ist, wird von anderen scharf kritisiert, wie die Literaturwissenschaftlerin Karen Struve herausstellt. Im Sinne einer weiteren Eruierung des Hybriditätsbegriffs ist eine Untersuchung von Homi K. Bhabhas Schreibprojekt nicht nur wegen seiner oftmaligen Rezeption mit Bezug auf den Begriff der Hybridität unerlässlich, sondern auch wegen seines auffällig semiotischen Vorgehens. Einige RezipientInnen gehen noch einen Schritt weiter und beschreiben Bhabhas Arbeiten durch seinen Umgang mit Theorien, Texten und Strukturen als hybrides Schreibprojekt und ordnen eine Hybridität, wie sie Bhabha vorführt, vor dem Hintergrund gesellschaftspolitischer Tendenzen als Symptom unserer Zeit ein.2 Dieses Kapitel gilt also der Auseinandersetzung mit den Werken Bhabhas, im Speziellen seinem bisher als Hauptwerk geltenden Buch »Die Verortung der Kul1 2
Struve 2013: 9. In der kritischen Beurteilung von Bhabhas hybridem Schreibprojekt wird in diesem dritten Hauptkapitel zu einem späteren Zeitpunkt darauf eingegangen.
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tur«, um sich so dem Begriff der Hybridität als Charakteristikum seines Schreibprojektes anzunähern. Dahinter steht die Frage danach, ob Bhabhas Schreibprojekt Aussagen über eine Empirie von Hybridität zulässt.3 In fünf Schritten wird in diesem Kapitel der Frage nachgegangen, inwiefern Bhabhas Arbeiten nicht nur über explizite Aussagen zu einer semantischen Erweiterung und Differenzierung des Hybriditätsbegriffs beitragen können, sondern vor allem über ihre Anwendungen zu verstehen sind. Parallel dazu wird die Frage mitgeführt, ob Bhabhas Schreibprojekt sogar Aussagen über Hybridisierung als Methode zulässt. Im ersten Schritt wird Hybridität nach Bhabha über eine kurze Darlegung seiner Biographie und eine kurze Einführung in seine Werke kontextualisiert. Im zweiten Schritt wird Bhabhas Schreibprojekt über seine Rezeptionen im Kontext des internationalen, deutschsprachigen Diskurses und im Speziellen in der Erziehungswissenschaft dargelegt. Dem folgen im dritten Schritt eigene Analysen von Bhabhas Umgang mit Gegenstandsbereichen, die für das weitere Verstehen seines Hybriditätsbegriffs und vor allem seiner Methode unerlässlich sind. Im vierten Schritt werden exemplarisch einige seiner sprachlich-epistemologischen Tropen, wie ›Differenz‹, ›Grenze‹, ›Darüberhinaus‹, ›Das Hin-und Her im Treppenhaus‹, ›Dritter Raum‹ im Kontext der Hybridität diskutiert, wonach im fünften Schritt eine kritische Diskussion der Bhabha’schen Methode erfolgen wird. Im letzten Kapitel dieser wird dann zu fragen sein, wie die hier mit Bhabha erarbeitete methodische Dimension der Hybridität mit Blick auf pädagogische Anwendungen weitergedacht werden kann.
3.1.
Die hybride Rolle der Vermittlung
Bhabhas Denken und Schreiben werden in der Rezeption im Laufe seiner Karriere immer wieder in einen inhaltlichen Zusammenhang mit seinem biographischen Hintergrund gestellt, obwohl er selbst erst Jahre nach Erscheinen seiner ersten Schriften in Interviews und Vorworten zu seinen Texten dazu Stellung bezieht. Bhabha zeichnet darin seine eigene Identitätsformierung entlang der besonderen Rolle der Parsen in Indien. Er veranschaulicht, inwieweit das Hineingeborensein (1949 in Mumbay [Bombay]) und Aufwachsen in der Tradition der Parsen als religiöser Minderheit seine eigene Denktradition geprägt hat.4 3
4
Es wird hier nicht darum gehen, eine Darstellung des Gesamtwerks Bhabhas bis hin zu letzten aktuellen Bezügen zu bieten, sondern sein bisheriges Hauptwerk mit dem Blick auf Hybridität und ihre Anwendungen zu untersuchen. Für weiterführende Literatur zu weiteren Werken Bhabhas siehe: Huddart (2006), Byrne (2009), Struve (2013). Bhabhas Einordnung von Hybridität wird entlang der Historisierung seiner eigenen Identität zwischen Biographie und Theoriebildung am Beispiel der zoroastrischen Parsen skizziert,
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Der Legende nach folgten die Parsen im 7. Jahrhundert dem Propheten Zarathustra aus dem iranischen Chorasan (auch als Folge der Flucht vor arabisch-muslimischen Invasoren) in die heutigen Gebiete Indiens. Von Migration, Flucht, Diaspora und der Rolle als Minderheit geprägt, gelten die Parsen als eine »wohlhabende und weltoffene«5 Minderheit. Im Interview mit Klaus Stierstorfer (07.12.2017) portraitiert Bhabha die Parsen als kleine Minderheit, die sich als Vertriebene weder mit dem Hinduismus, noch dem Islam oder dem Christentum – den drei Hauptreligionen in Indien – identifizierte. Vielmehr hätten die Parsen die Zwischenräume für sich eingenommen und es außerdem geschafft, eine vermittelnde Rolle darin zu übernehmen. So seien sie zum »middle man in India«6 geworden. Bis heute gelten sie als eine Gemeinschaft, die, Bhabha zufolge, in der Kolonialzeit eine vermittelnde und übersetzende Position zwischen indischen Kleingruppen und britischen Kolonialherren innehatte. »[T]heir sense of a negotiated cultural identitiy«7 macht Bhabha an der vermittelnden Herangehensweise der Parsen aus, die ihre mitgebrachte ethnisch religiöse Identität auf undogmatische Art mit indischen Gewohnheiten verbanden, ohne diese an eine nationale Identität zu knüpfen. Bhabha zufolge hätte eben diese Not und Tugend, sich in den Zwischenräumen der gesellschaftlichen Differenzen einen Handlungsraum zu suchen, dazu beigetragen, die Lebenswelt der Parsen im modernisierenden und urbanen Sinne zu prägen und sie zu Kosmopoliten zu machen. In seiner Narration der parsischen Gemeinschaft setzt Bhabha die Betonung ihres von Flucht und Diaspora geprägten Weges bis hin zum Erkämpfen eines Lebensraums in Indien auf die dadurch gewonnenen Möglichkeiten der Handlungsmacht. »It’s not a paralyzing condition. It can be a condition of various, varied contingencies and interventions.«8 An dem erfolgreichen Beispiel der Parsen in Indien schreibt Bhabha den Umständen von Flucht, Diaspora und vor allem der Nichtdazugehörigkeit (»misfitting«9 ) in optimistischer Manier eine nicht notwendig paralysierende Erfahrung zu, sondern lediglich eine, die unterschiedliche und vielfältige Zufälle, Unvorhergesehenes und Eingriffe mit sich brächte.10 Die explizierte Handlungsmacht in den Zwischenräumen der Differenz ist ein wesentlicher Aspekt von Bhabhas Verständnis von Hybridität in Theorie, Geschichte, Gesellschaften und Kultur. Dabei baut eine solche machtvolle
5 6 7 8 9 10
deren Geschichte nicht in Griechenland als der Wiege Europas, sondern als diasporische Geschichte zwischen dem damaligen persischen Reich (zurückgeführt auf 500 v. Christus nach europäischer Lesart) und Indien verortet wird. Bhabha setzt dem dominanten eurpäischen Narrativ ein anderes zur Seite. Struve 2013: 11. Bhabha in Stierstorfer 2015: 2. Bhabha 1995: 195. Bhabha in Stierstorfer 2015: 3. Bhabha in Stierstorfer 2015: 3. Vgl. Bhabha in Stierstorfer 2015: 3.
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Zugänge zu Hybridität
Position im Zwischen, an die Bhabha seinen Hybriditätsbegriff anlehnt, auf eine durch Störung von binären Strukturen und auf die Vermittlung von scheinbar nicht Zusammengehörigem auf. Bereits zu Beginn seiner Karriere wird Bhabha trotz seines Geburtsortes als »non-Hindu«11 bezeichnet und im selben Zuge wird ihm eine gewisse Legitimation abgesprochen, über die indische Kultur zu schreiben, da diese vornehmlich von Hindus geprägt sei, welche er als Mitglied der parsischen Gemeinschaft nicht repräsentieren würde.12 Die nicht eindeutige Zugehörigkeits- und Klassifikationsmöglichkeit Bhabhas wird für manch anderen als Grund für die Störung der klaren positionierten nationalen Repräsentationsdiskurse verstanden, mit welcher Bhabha immer wieder konfrontiert wird. Auch die sozioökonomische Stärke der Gemeinschaft der Parsen wird aus klassisch marxistischer Perspektive unter dem Vorwurf der Privilegierung und machtvollen gesellschaftlichen Position als Schwächung der Legitimationsgrundlage von Bhabhas Anliegen gesehen. Seine Betonung der besonderen Rolle von Minderheiten in der kolonialen Geschichte und für gesellschaftliche Weiterentwicklungen müsste notwendigerweise mit einer Beleuchtung ihrer Unterdrückung und Präkarisierung einhergehen. Bhabha wendet in seinen Arbeiten den Blick auf uneindeutige und spannungsvolle Bilder von Minderheiten, die trotz viktimisierender und präkarisierender Erfahrungen von Migration, Flucht und Diaspora vornehmlich über kulturelle Orte und Mittel Macht ausüben können und auf kulturellem Feld Widerstand leisten. Zur Bedeutung von Bhabhas biographischem Hintergrund und seiner Positionen als Theoretiker stellt die Literaturwissenschaftlerin Karen Struve heraus, dass ebenso wenig, wie sich seine Werke auf biographische »Betroffenheit«13 reduzieren lassen, diese sich auch nicht ganz negieren ließen, zumal Bhabha selbst immer wieder eigene biographische Erfahrungen als Migrant explizit mit theoretischen Auseinandersetzungen verbinde.14 Sein wissenschaftlicher Werdegang beginnt am Elphinstone College der Universität in Mumbay mit einem Bachelorstudiengang, dem das Masterstudium am Christ Church College in Oxford in Englischer und Amerikanischer Literatur folgt. Seine Promotion schreibt Bhabha 1990 über das Werk des Nobelpreisträgers und postkolonialen Autors V.S. Nailpaul. Vier Jahre später erhält er an der Universität in Chicago die Professur für englische Literatur, bevor er im Jahr 2001 zum Anne F. Rothenberg Professor an der Universität Harvard ernannt wird und seit 2005 Leiter des renommierten Humanities Centers ist.15
11 12 13 14 15
Byrne 2009: 5. Vgl. Byrne 2009: 5. Struve 2013: 11. Vgl. Bhabha 2000: 207. Vgl. Struve 2013: 11.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
In der Rezeption wird Bhabha mehrheitlich als »einer der bedeutendsten Literatur- und Kulturtheoretiker der Gegenwart«16 weltweit und in verschiedenen Disziplinfeldern bezeichnet und wurde als solcher zum Ehrendoktor der FU Berlin17 ernannt. Als Ehrenmitglied des Leibnitz-Zentrums für Literatur und Forschung wurde sein Vortrag mit Blick auf die neuere Ausrichtung von Bhabhas Forschungsaufmerksamkeit »On Culture and Security« (2015) wie folgt angekündigt: »Die Besonderheit geisteswissenschaftlichen Wissens liegt demnach in der Aufmerksamkeit für Prozesse der Vermittlung, Rahmung, Darstellung und Übertragung sozialer Realitäten. Die Leistung etwa der Literatur- und Kunstwissenschaft sieht er darin, dass sie mithilfe ihrer Expertise für die figurative und technische Machart von Texten und Bildern in der Lage sind, Aussagen über das politische Bewusstsein (und Unbewusste), über religiöse Kultur, sozial wirksame Affekte und Wahrnehmungsweisen zu machen. Zugleich weist er darauf hin, dass geisteswissenschaftliches Wissen immer einen Abstand zur alltäglichen Erfahrung markiert und betrachtet diese Distanz zur Empirie als Schwellenposition, die die verschiedenen Fächer verbindet: zwischen wirklicher Welt und künstlichen, imaginierten, symbolischen Welten. Es ist diese Zwischenstellung, aus der Bhabha auf so ingeniöse wie überzeugende Weise Interdisziplinarität ableitet – als die den Geisteswissenschaften angemessene Existenzform im Bereich zwischen ansonsten separierten Kompetenzen und Zuständigkeiten.«18 Die biographische Herleitung der Macht von Zwischenräumen und Zwischenpositionen kann als zentraler Aspekt seines Denkens bezeichnet werden, deren Anwendungsbereiche Bhabha auf der Ebene einer universitären, kosmopolitischen Gemeinschaft von Intellektuellen sieht. Ihre gemeinsame Leistung läge in der »Aufmerksamkeit für Prozesse der Vermittlung, Rahmung, Darstellung und Übertragung sozialer Realitäten«19 , sowie dem Ernstnehmen dieser interdisziplinären Position für Erkenntnismöglichkeiten für die wirkliche Welt. Bhabhas Bedeutung zeigt sich nicht nur über die Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten in der academia, sondern darüber hinaus in »feuilletonistischen, in kulturellen, wirtschaftlichen oder politischen Debatten über Integration und Migration«20 . Struve fasst seine Rolle zusammen als
16 17
18 19 20
Vgl. ZfL 2015. Vortrag mit dem Titel: »Our Neighbors, Ourselves: Contemporary Reflections on Survival« (Unsere Nachbarn und wir: Zeitgenössische Betrachtungen über das Überleben) im Rahmen der Hegel-Lectures, an der FU Berlin im Jahr 2010 (Vgl. FU-Berlin 2010). ZfL 2015: 1. ZfL 2015: 1. Struve 2013: 151.
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Zugänge zu Hybridität
»gefragter Experte bei Kunstausstellungen, Podiumsdiskussionen, als Jurymitglied, Berater usw. im Rahmen gefragter Institutionen: Institute of Contemporary Art in London, Whitney Museum of American Art, Rockefeller Foundation, Mitglied des Asian Art Council im Guggenheim Museum in New York, Berater des Contemporary and Modern Art Perspectives Project am Museum of Modern Art in New York, Jurymitglied des Aga Khan Architektur-Preises, Trustee des UNESCO World Report zum Thema ›Cultural Diversity‹, Juror der Biennale und seit Jahren Fachberater des World Economic Forum in Davos«21 .
Eine Legion an Zugängen In ihrem 2013 erschienenen Einführungsband über die »Aktualität Homi K. Bhabhas« schreibt die deutsche Kulturwissenschaftlerin Karen Struve: »Zugänge zu Bhabhas Schreiben und Denken sind Legion«.22 Diese Aussage ist darin begründet, dass von Bhabha bis heute keine Monographie vorliegt, in welcher er seine Konzepte systematisch darlegt, was wiederum jeder LeserIn abverlangt, sich selbst einen Überblick über die seit den frühen 1980er Jahren entstandenen fragmentierten Essays und Interviews zu verschaffen. Zudem gibt es zwei zentrale Aufsatzsammlungen Bhabhas, von denen lediglich eine ins Deutsche übersetzt worden ist. Hierbei handelt es sich um die Bände Nation and Narration (1990) und The Location of Culture« (1994), ins Deutsch übersetzt als »Die Verortung der Kultur« von Michael Schiffmann und Jürgen Freundl im Jahr 2000. Trotz der fehlenden expliziten Kohärenz zwischen den einzelnen Aufsätzen wird Bhabhas Aufsatzsammlung »Die Verortung der Kultur« im wissenschaftlichen Diskurs als sein Hauptwerk aufgefasst und dienst als Hauptbezugsquelle der Rezeption.23 Auch die Diskussion des Schreibprojekts Bhabhas entlang seiner Theorietraditionen und Schlüsselkonzepte wird sich in dieser Arbeit im Wesentlichen auf die Aufsatzsammlung The Location of Culture (1994) und deren deutsche Übersetzung Die Verortung der Kultur (2000) beziehen. Das Werk wird in der englischen Originalsprache im Sinne der Analyse von Bhabhas Sprache und Sprachspiel an einigen Stellen eine Rolle spielen. Da Übersetzung selbst ein bedeutsames Thema in Bhabhas Denken darstellt, wird es zu einem späteren Zeitpunkt aufgegriffen werden. Die Legion an Zugängen24 zu Bhabhas Hauptwerk erhält eine neue Dimension, wenn man die fehlende Kohäsion nicht nur entlang des Gesamtwerkes sieht, sondern auch in Bhabhas Umgang mit Theorien, Begriffen und Sprache, welche einen
21 22 23 24
Struve 2013: 151. Struve 2013: 9. Vgl. Huddart 2005: 6; Bauschke-Urban 2010: 96; Struve 2013: Vgl. Struve 2013: 9.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Umgang mit ihnen zu einer Herausforderung machen. Die Frage der Darstellungsweise in Bhabhas Schriften und ihre Zugänglichkeit ist vor dem Hintergrund seines spezifischen Schreibprojektes bis zu einem bestimmten Grad auch ein Anspruch dieses Buches. Sein Umgang mit Theorietraditionen, seine Schreibmethode sowie die verwendeten voraussetzungsreichen Konzepte stellen als Zusammenhang ein innovatives wie schwierig zu lesendes Gesamtwerk dar, welches sich immer wieder einer (Kausal-)Logik entzieht. Sein Schreibprojekt, welches unter anderem den Begriff der Hybridität nicht nur epistemologisch angeht, sondern auch methodisch umsetzt, hat Bhabha zu einem der weltweit einflussreichsten und bekanntesten Kulturtheoretiker gemacht. Kennzeichnend für Bhabhas Arbeit ist die Verwendung von allgemein bekannten und auch traditionellen Theorieansätzen, Konzepten und Diskursen in einem untrennbar verflochtenen Zusammenhang mit Begriffen und Diskursen aus anderen Fachdisziplinen und Genres. Eben diese Herangehensweise Bhabhas an Theorie, Texte und Sprache spaltet die Rezeption zwischen Jubel und zum Teil scharfer Kritik, auf die im Folgenden und auch zu einem späteren Teil eingegangen wird. Die Herausforderung dieses Buches wird es sein, Bhabhas Schreibprojekt für das allgemeine Verständnis lesbarer zu machen und dennoch Raum für seine innovative Kraft zu lassen. Gerade mit der Idee ihrer pädagogischen Anschlussfähigkeit in pädagogischen Räumen wird der Fokus auf den für Bhabhas Arbeiten essentiellen Begriff der Hybridität gelegt.
3.2.
Wirkung von Bhabhas Schriften
Die Bedeutung von Bhabhas Denken ist in den USA »gigantisch«25 und wird auf die dort seit langem etablierten Postcolonial Studies zurückgeführt, während seine Werke unter anderem in Indien, Großbritannien und Deutschland durch das jeweilige Verhältnis zur postkolonialen Theorie zwar salonfähig sind, jedoch auf einer anderen Grundlage fußen.26 Auch die sprachliche Übersetzung von Bhabhas Arbeiten wird immer wieder als zeitliches und inhaltliches Problem herausgestellt, das einen Anschluss an den US-amerikanischen Diskurs verzögert. Neben dem schon erwähnten Einführungsband von Karen Struve liegen hauptsächlich einführende Aufsätze zu Bhabha vor, welche besonders in die Kultur- und Sprachwissenschaften Einzug gehalten haben.27 Die Anglistin Elisabeth Bronfen stellt bereits im
25 26 27
Struve 2013: 153. Vgl. Castro Varela/Dhawan 2005: 8ff. Vgl. Struve und Bonz 2006; Sieber 2012.
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Zugänge zu Hybridität
Jahr 1997 in ihrem Band Hybride Kulturen Bhabha und andere bedeutende Theoretiker der Cultural Studies vor und schreibt im Jahr 2000 das Vorwort zu Bhabhas (in die deutsche Sprache) übersetztes Werk Die Verortung der Kultur. María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan widmen Bhabha in ihrem Überblickswerk zur postkolonialen Theorie ein Kapitel: »Homi Bhabha – Von Mimikry, Maskerade und Hybridität.«28 Ebenso aufschlussreich ist in diesem Kontext der Aufsatz »postcolonial turn« von Doris Bachmann-Medick (2006), die sich mit Bhabhas Konzepten der Hybridität mit Bezug auf den Dritten Raum und Übersetzung beschäftigt. Im 2015 erschienenen Band zur Transkulturalität von Langenohl, Poole und Weinberg, mit dem Untertitel »Klassische Texte«, wird Bhabha als Klassiker für diesen Themenbereich aufgeführt. Unter den vier Obertiteln »Diaspora und Exil«, »Migration, Globalisierung, Transnationalisierung«, »Übersetzung« und »Wissen um das Fremde« wird Bhabha29 in einen Rahmen gestellt mit AutorInnen wie Hannah Arendt, Walter Benjamin, Michail Bachtin, Gayatri Chakravorty Spivak, Alexander García Düttmann, James Clifford, Naoki Sakai und anderen. Die Rezeption Bhabhas und seiner Konzepte der Hybridität und des Dritten Raumes ist durch ihren interdisziplinären Anklang gekennzeichnet. Auffällig für die Rezeption seiner Arbeit ist nicht nur die Breite ihrer Streuung im wissenschaftlichen und kulturellen Feld, sondern auch die Unübersichtlichkeit ihres Vorkommens in Aufsätzen. Ergänzend zu den oben genannten Fachdisziplinen wird dies exemplarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit durch ihre weitere Verwendung im Bereich der Architektur (Hernández 2010), Filmtheorie (Pisters 2009, Ikas/Wagner 2009), Kunstwissenschaften und Kunstpädagogik (Schnurr 2013, 2015), der Kulturwissenschaft (Ette/Wirth 2014), Literaturwissenschaft (Dubiel 2007) und der Soziologie (Kron/Berger 2015).30
3.2.1.
Bhabhas Hybridität im Diskurs der deutschen Erziehungswissenschaft(en): Eine exemplarisch Darstellung
In der deutschen erziehungswissenschaftlichen Rezeption werden Bhabhas Konzepte der Hybridität und des Dritten Raumes vornehmlich vor dem Hintergrund interkultureller und transkultureller, identitätskritischer Pädagogik sowie bildungsphilosophischer Beschäftigungsfelder diskutiert, wie im Folgenden exemplarisch vorgestellt wird. Die genannten Beispiele stellen keinen Anspruch auf 28 29
30
Castro Varela/Dhawan 2005: 83-109. Bhabha wird mit seinem Essay »Von Mimicry und Menschen. Die Ambivalenz des kolonialen Diskurses« aufgeführt. Dieser Essay ist der vierte von zwölf Essays in seinem bisher als Hauptwerk verhandelten Buch »Die Verortung der Kultur« und beschreibt Irritationen in der Geschichte kolonialer Autoritäten sowie die daraus ersichtlich werdende Handlungsmacht gegen aktuelle Erscheinungen von Kolonisierung und eurozentrisch hegemonialem Denken. Vgl. auch Struve 2012.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Vollständigkeit der bhabhaschen Rezeption in der Erziehungswissenschaft dar,31 doch sollen sie die Anknüpfungsansätze an Bhabha nicht bloß über verschiedene Einsatzpunkte für unterschiedliche Fächerdisziplinen verdeutlichen, sondern darüber hinaus über die Verschiedenheit der Zugänge und Verwendungsmöglichkeiten von Bhabhas Schriften selbst innerhalb einer Fachdisziplin, in diesem Fall eben in den Erziehungswissenschaften. Die Besonderheit der Erziehungswissenschaften als Fachdisziplin liegt gerade in ihren vielfältigen und differenten Schwerpunkten; dies könnte eine Hinführung dahin sein, warum gerade Homi Bhabhas Arbeiten, die ebenfalls einen breiten theoretischen Rahmen aufweisen, besonders interessant für die Erziehungswissenschaften ist. María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan (2005) schreiben in ihrem Standardwerk zur Postkolonialen Theorie Bhabhas Schreibprojekt eine dominierende Rolle darin zu und machte damit den Auftakt, die Perspektive postkolonialer Theoriezugängen für die deutsche Pädagogik darzulegen. Der deutsche Pädagoge Michael Göhlich schreibt im Jahr 2010 etwa im Band Schlüsselwerke der Identitätsforschung in seinem Artikel: »Homi K. Bhabha: die Verortung der Kultur. Kontexte und Spuren einer postkolonialen Identitätstheorie« eine Einführung in die Schriften Bhabhas mit spezifischem Augenmerk auf seine Ausführungen zum Problem der Identität. Die Erziehungswissenschaftlerinnen Christiane Thompson und Kerstin Jergus gehen in ihrem Artikel »Zwischenraum Kultur. ›Bildung‹ aus kulturwissenschaftlicher Perspektive«32 der Frage nach dem analytischen Gehalt von Kategorien der Unbestimmtheit nach, skizzieren dabei beispielhaft einige kulturwissenschaftliche Perspektiven und stellen Homi K. Bhabhas Konzepte der Hybridität, des Dritten Raumes sowie den postkolonialen Perspektivhorizont als fruchtbare Perspektive für die Bildungsphilosophie und Bildungsforschung heraus.
Bhabhas Rezeption im Feld der Migrationspädagogik und der kritischen Rassismusforschung Eine besondere Rolle erhält Homi K. Bhabha in den Darlegungen der postkolonialen Perspektive durch die Pädagogin María do Mar Castro Varela im Rahmen ihres (unter anderem) migrationspädagogischen und rassismuskritischen Forschungsfeldes. In ihrem zusammen mit Nikita Dhawan herausgegebenen Standardwerk Postkoloniale Theorie (2005) gibt sie eine kritische Einführung in den postkolonialen Theoriediskurs. Dabei widmen sie Homi K. Bhabha, neben Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak als bedeutenden VertreterInnen dieses Feldes, jeweils ein ganzes Kapitel.
31 32
Siehe auch Engel 2014. Thompson/Jergus 2014, 2016: 64ff.
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Als eine lohnenswerte Perspektive für die Pädagogik in Deutschland stellen Castro Varela und Dhawan postkoloniale Theorieansätze durch ihre theoretisch inhaltliche Differenzialität und Konflikthaftigkeit untereinander heraus, zugleich werfen sie alle einen kritischen Blick33 auf Weltgeschichte und die aktuelle gesellschaftspolitische Relevanz in Auseinandersetzung mit Phänomenen der Globalisierung. In ihrem 2016 veröffentlichten Artikel »Postkolonialität« im Handbuch für Migrationspädagogik konstatiert Castro Varela, dass die Perspektive der Postkolonialität in den meisten Handbüchern zur Pädagogik fehlen würde, ebenso wie es nur wenige Arbeiten gäbe, die Konzepte und Erkenntnisse der postkolonialen Theorie für das Feld würdigen würden.34 Das vorliegende Buch hat diese Leerstellen in der Erziehungswissenschaft im zweiten Kapitel als wissenschaftlich-politische Diskurse des Postkolonialismus in ihren historischen Kontexten dargelegt und diskutiert. Die postkoloniale Perspektive stellt auch für den Erziehungswissenschaftler Paul Mecheril eine lohnenswerte Perspektive auf aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse in der Einwanderungsgesellschaft dar. Dabei ist Hybridität eine nennenswerte Analysekategorie in seinen Arbeiten, die im Theorierahmen der interkulturellen Pädagogik und rassismuskritischen Ansätzen zum Tragen kommt. Mecheril erweitert den Begriff der Hybridität um den Kontext von legitimen und illegitimen Zugehörigkeiten. Castro Varela und Dhawan stellen Homi K. Bhabhas Werk entlang seiner Biografie, den thematisch verschiedenen Essays in seinem Werk »Die Verortung der Kultur« und bedeutsamen Schlüsselbegriffen wie »Stereotyp und Ambivalenz«, »Hybridität und Mimikry«, sowie »Verhandlungen an der Grenze« vor dem Hintergrund ihrer diskursiven Kontexte vor. Was Bhabha als postkolonialen Theoretiker auszeichne und von etwa Edward Said oder Frantz Fanon unterscheide, sei sein spezifischer Umgang mit Binaritäten.35 Statt wie diese Prozesse der Andersmachung und Unterdrückung offenzulegen, beziehe sich Bhabha auf diese Ansätze und wende sie so, dass er in diesen geteilten asymmetrischen Verhältnissen einen gemeinsamen Raum sieht, der durch Reziprozität und Möglichkeiten von widerständigem Handlungspotenzial bestimmt ist. Castro Varela und Dhawan geben zudem eine dezidierte Zusammenfassung der kritischen Rezeption zu Bhabhas Arbeiten, auf die im letzten Teil dieses Kapitels näher eingegangen wird.
Göhlichs ›Andeutung‹ einer Systematisierung von Bhabhas Schreiben Die Vorstellung der Auseinandersetzung des Erziehungswissenschaftlers Michael Göhlich mit Bhabhas Hauptwerk ist aus zweierlei Hinsicht interessant für dieses Kapitel, da er selbst zwei wichtige Aspekte für das Verständnis von Bhabhas
33 34 35
Vgl. Castro Varela 2016: 152. Vgl. 2005: 86.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Schreibprojekt benennt: zum einen die Schwierigkeit des Lesens und Systematisierens von Bhabhas Schriften, zum anderen seine spezifische Auffassung von Identität. Die Darstellung von Göhlichs Artikel zu Bhabha wird in diesem Sinne kurz seinen Versuch skizzieren, wie er unter besonderem Interesse einen Zugang und eine Leseschneise zu Bhabhas Werk findet, dem seine Einschätzung von Bhabhas Identitätstheorie folgen wird. Vor dem Hintergrund seiner Forschungsschwerpunkte in der Allgemeinen und in der Organisationspädagogik, nähert sich Michael Göhlich Homi K. Bhabhas Hauptwerk »The Location of Culture« aus einem identitätstheoretischen Blickwinkel. Obwohl sich Bhabhas Arbeit Göhlichs Analyse nach inhaltlich wie formal gegen eine »mit jeder Systematik erzeugte Fest-Stellung«36 wehrt, sei der Versuch einer Systematisierung vor dem Hintergrund einer »Fokussierung der Transkulturalität als pädagogische[r] Herausforderung«37 vertretbar. Göhlich beginnt seine Ausführungen zu Bhabhas Arbeit über die primäre Betonung einer zweifachen Schwierigkeit im Lesen seines Werkes. Dabei stellt er heraus, dass dies zum einen daran läge, dass man es nicht mit einer Monographie zu tun hätte, die Begriffe und Thesen systematisch entfalte, sondern um eine Sammlung von im Verlauf von zehn Jahren geschriebenen Aufsätzen, die unterschiedlichen Kontexten entsprungen seien. Die zweite Schwierigkeit in der systematischen Herangehensweise an Bhabhas Werk läge in der Tatsache, dass es keine explizit ausgewiesenen Passagen oder Theoriestränge zu einzelnen Themen gebe. Bhabhas Arbeit sei insofern als eine »Bricolage aus Kultur-, Identitäts-, Bildungsund Literaturtheorien«38 zu verstehen. Michael Göhlich versucht diesen genannten Schwierigkeiten in vier Schritten zu begegnen, indem er nach einer Kurzvorstellung von Bhabhas Biographie die aus seiner Sicht für identitätstheoretische Fragen besonders aufschlussreichen Aufsätze Bhabhas vorstellt und erörtert. Die vier beleuchteten Aufsätze sind dabei »Von Mimikry und Menschen« (1984), »Verortung der Kultur« (1994), »Die Frage der Identität« (1990) und »Die Frage des Anderen« (1992). Im dritten Schritt unternimmt Göhlich den Versuch einer Systematisierung von Bhabhas Aufsatzsammlung entlang zentraler Begriffe und Thesen. Hervorzuheben ist demnach Bhabhas Herleitung der Hybridität aus dem Diskursbegriff nach Foucault und Derrida. Des Weiteren behandelt Göhlich die für Bhabhas Werk signifikanten Begriffe Raum (im Speziellen der Dritte Raum) und Identität. Er weist darauf hin, dass er hierbei identitätstheoretischen Markierungen unter Einbezug ihrer Reflexion eine bedeutende Rolle geben wird, diese jedoch (unter den Bedingungen des bhabhaschen Schreibprojektes) als mit anderen Aspekten und Perspektiven verflochten verstanden werden müssen. Den letzten Schritt
36 37 38
Göhlich 2010: 321. Göhlich 2010: 322. Göhlich 2010: 315.
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nennt Göhlich eine ›Andeutung”39 der Standortbestimmung und eine kritische Einschätzung von Bhabhas Identitätstheorie. Das Ziel der Untersuchung dieser in weiterem und engeren Sinne identitätstheoretischen Aufsätze macht Göhlich daran fest, dass sie im Einzelnen nachvollziehend erörtert werden sollten, betont jedoch, dass der »Modus der Argumentation, die rhizomatische Denk- bzw. Schreibweise Bhabhas als Entfaltungskontext seiner Begriffe und Thesen kennen zu lernen«40 seien. Da der Fokus dieses Oberkapitels in der vorliegenden Arbeit auf eben dieser Eruierung der Methode der Hybridität in Bhabhas Schreibprojekt liegt, werden Göhlichs Analysen hierzu in die Besprechung dieser Frage zu einem späteren Zeitpunkt eingebunden. Im Rahmen seines 13-seitigen Aufsatzes liegt sein Interesse in der Einschätzung von Bhabhas Identitätstheorie. In seiner andeutenden Beurteilung von Bhabhas Werk konstatiert Michael Göhlich, dass die Bhabha-Rezeption im deutschsprachigen Raum erst seit der Übersetzung seines Hauptwerks im Jahr 2000 eine breitere Auseinandersetzung damit angestoßen hat. Selbst dabei wird er hauptsächlich vor dem Hintergrund von Kulturtheorien und nicht von Identitätstheorien gelesen. Vorwürfen des Eklektizismus und einer unklaren Begrifflichkeit in Bhabhas Vorgehen entgegnet Göhlich, dass eben diese »Unschärfe […] passend [sei] zu einer Zeit der Globalisierung, in der selbst das alte Europa nicht mehr am Faktum der Migration und seiner eigenen weltweiten Einbindung und Abhängigkeit vorbeikommt«41 . Als Kategorien würden »Hybridität, Dritter Raum, Dazwischensein und Andersheit«42 unseren Blick auf die »eigene Gesellschaft, auf den Diskurs zwischen Mehrheitsgesellschaft und Migranten, zwischen Christen und Muslimen, zwischen Legalen und Illegalen, zwischen Norden und Süden in unserer Gesellschaft und nicht zuletzt auf uns selbst wenn nicht im strikten Sinne schärfen, so doch erheblich bereichern können«.43 In Anschluss an die von Michael Göhlich herausgestellte Relevanz von Hybridität und dem Dritten Raum als Kategorien für unsere Zeit und für in globalen Zusammenhängen begriffene Gesellschaften, werden diese oben genannten Begriffe in diesem Kapitel entlang von Bhabhas Schreibprojekt näher eruiert und im letzten Kapitel in ihren pädagogischen Anwendungsmöglichkeiten diskutiert. Sie spiegeln nämlich nicht nur aktuelle Phänomene der Gesellschaft wieder, sondern könnten als Analysekategorien oder Techniken im Sinne eines sowohl von Zersplitterung als auch Vernetzung geprägten Zeitgeistes in der Gesellschaft beitragen.
39 40 41 42 43
Vgl. Göhlich 2010: 315. Göhlich 2010: 321. Göhlich 2010: 327. Göhlich 2010: 327. Göhlich 2010: 327.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
3.2.2.
Bhabhas Hybridität mit Blick auf die Bildungsphilosophie und Bildungsforschung
Im Folgenden wird eine kurze Zusammenfassung des Artikels der Erziehungswissenschaftlerinnen Christiane Thompson und Kerstin Jergus mit dem Titel »Zwischenraum Kultur. ›Bildung‹ aus kulturwissenschaftlicher Perspektive« erfolgen, bevor mögliche Strategien und Tendenzen in ihrer Argumentationsführung mit Bezug auf Bhabhas Werk und auch den Einsatzpunkt dieses Buches eingegangen wird. Die Bildungsphilosophinnen Thompson und Jergus bezeichnen Homi Bhabhas Kulturverständnis und den Begriff der Hybridität in seinem vielversprechenden Ansatz für ein kritisches und doch affirmatives Denken jenseits von Kategorien als »weiterführend«44 . Den Ausganspunkt ihrer These setzen sie an der Frage an, wie eine systematische Schärfung des Begriffs der Bildung im Sinne einer analytischen Arbeit daran gerade über die Unschärfe des Kulturbegriffs erkenntnisbringend sein kann. Hierzu wird Bhabhas Hybriditätsbegriff in der Radikalität und seiner kulturellen Medialität in Bezug auf erkenntnistheoretische Räume angeführt. Die grundsätzliche Bedeutung von »Bildung« und »Kultur« für die gegenseitige inhaltliche Bestimmung führen Thompson und Jergus am Beispiel der Ansätze Schillers und Adornos an, indem sie auf ein enges und auch spannungsvolles Verhältnis zwischen »Bildung« und »Kultur« in der Geschichte der Bildungsphilosophie verweisen.45 Thompson und Jergus systematisieren ihr weiteres Vorgehen durch vier Hauptstränge der Argumentation. Im ersten Punkt stellen sie ihre These über eine vergleichende Herleitung verschiedener Bestimmungen von Kultur dar. Zum diskursiven Vergleich der jeweiligen Kulturverständnisse werden die Ansätze des Soziologen Andreas Reckwitz (2006), der KulturwissenschafterInnen Karl H. Hörnig und Julia Reuter (2004) sowie des Philosophen Andreas Hetzel (2002) daraufhin besprochen, welche Aussagekraft in ihrer jeweiligen Darstellung und Repräsentierung von Kultur enthalten ist. Thompson und Jergus konstatieren, dass trotz der Verwendung gleicher Begriffe vielmehr im ›Wie‹ des Schreibens über Kultur (»Die Medialität des Kulturellen«)46 schon eine inhaltliche Setzung und Bedeutungsgenerierung stattfindet.47 Sie untersuchen, wie Kultur bei gemeinsamer Betonung der Offenheit des Konzeptes über eine greifbare Prozessualität oder in ihrer radikalen und uneinholbaren Medialität dargestellt werden kann. Vor diesem Hintergrund sehen 44 45
46 47
Thompson/Jergus 2014: 12. Vgl. Thompson/Jergus 2014: 22. Eine ausführlichere Darlegung dieses Ansatzes und der Relevanz des Kulturbegriffs sowie der Ertrag differenter Ansätze von Kultur ist im zweiten Hauptkapitel erfolgt. Thompson/Jergus 2014: 12. Thompson/Jergus 2014: 12.
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sie nicht nur den Begriff der Hybridität, sondern die Hybridisierung als prinzipiellen Ausdruck des Kulturellen.48 Ein Beispiel für vereinheitlichende und enthybridisierende Darstellungen von Hybridität sehen Thompson und Jergus gerade im wissenschaftlichen Versuch ihrer systematischen Einordnung, die von diesem Anspruch ausgehend die Besonderheit eines solchen Begriffs bzw. einer Kategorie der Unbestimmtheit, Verflochtenheit und Beweglichkeit etwas Substanzielles wegnimmt und sie in dieser Logik nicht angemessen zu repräsentieren vermag. Insofern stellen die Autorinnen heraus, wie manche Kulturbegriffe und ihre Darstellung einer Domestizierung ihrer Prozessualität (Reckwitz) entsprechen, während andere den prinzipiellen Status des Kulturellen als radikale Hybridisierung begreifen (Hetzel). Vor dieser Kritik wird Andreas Reckwitz’ Ansatz hauptsächlich als Darstellung kultureller Dynamiken und Überschreitungen beschrieben, bei denen sich AkteurInnen in ihren Praktiken ›anderer‹ Schemata und Sinnzusammenhänge bedienen und Neues schaffen. Die Autorinnen beschreiben Reckwitz’ Fokus vor allem als einen, in dem Aussagen in den jeweiligen Bestimmungen von Kultur abschließend bestimmt würden, was im Sinne einer öffnenden Diskussion um kategoriale Dynamisierung nicht weiterführend sei.49 Im zweiten Teil des Artikels wird entlang zweier bildungstheoretischer »Denkfiguren« (»Bildungsprozesse« und Bildung als »Problemlösung)« demonstriert, wie diese durch bestimmte Setzungen andere erkenntnistheoretische Zugänge verschließen können.50 Vor dem Hintergrund kategorialer und von Kohärenz ausgehender Strukturen von Bildung, wird im dritten Abschnitt an zwei Beispielen der Frage nachgegangen, wie Bildungsforschung ohne schließende Identifizierung stattfinden kann. Exemplarisch werden die Forschungsstrategien Rainer Kokemohrs und Alfred Schäfers diskutiert, die durch andere Analysekriterien schließenden Identifizierbarkeiten entgehen möchten, indem sie diese entlang der Unterscheidungsmerkmale von »eigen« und »fremd« oder als radikal heterologischen Diskurs anlegen.51
48 49 50 51
Vgl. Thompson/Jergus 2014: 12. Vgl. Thompson/Jergus 2014: 11. Vgl. Thompson/Jergus 2014: 14ff. Kokemohrs Ansatz wird als Verortung des Bildungsgedankens im diskursiven Potenzial dargelegt. Dieser wird in einer interkulturellen Gesprächssituation entlang der Unterscheidungsmerkmale von »eigen« und »fremd« herausstellt. Seine Bildungsprozesstheorie stelle sich gegen eine dichotomisierende Beurteilungsoption von identifizierbarer Transformation des Selbst-Weltverhältnisses. Es gehe ihm um Prozesse der Erzählfiguration und darin vorbehaltenen Refigurationen, die Bildungsmomente andeuten. Alfred Schäfers Ausgangssituation für die Analyse empirischer Interviews ist ein radikaler Diskurs- und Kulturbegriff in Anschluss an Michel Foucault. Beide begreifen den Diskurs als Operation von Differenzen und ihrer Äußerung und gerade nicht als beginnende und abschließbare Totalität. Daher sieht Schäfer die Untersuchung der inkommensurablen und heterologischen Äußerungen in
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Sowohl die Vorstellung der verschiedenen Ansätze von Kultur als auch die Problematisierung eines auf Identifizierung angelegten kategorialen Bildungsbegriffs können als theoretische Hinführung zu Bhabhas Begriff der Hybridität und des »Dritten Raums« gelesen werden. Thompson und Jergus stellen Bhabhas Konzepte als ein In-Bewegung-Setzen von geltenden Sinnelementen und Unterscheidungen vor. Diesem ist die prinzipielle Kritik an Binarisierung, an Identifizierung und an »machtvollen Sinnelementen und Unterscheidungen«52 inhärent. Die Autorinnen exponieren Bhabhas Ansatz durch den Verweis darauf, dass seine theoretische und praktische Arbeit im Anspruch über Feststellungen und Kritik hinausgeht, indem er theoretisch und exemplarisch (an historischen Ereignissen) die Medialität von Kultur in den Fokus rückt und daran immer wieder demonstriert, wie Sinnzusammenhänge in Bewegung geraten und prinzipiell veränderbar sind. Thompson und Jergus stellen die Konzepte Bhabhas in ihrer konstitutiven Offenheit und Unbestimmtheit bei gleichzeitigem Bewusstsein für machtvolle Schließungen als gewinnbringende Kategorie für die Bildungstheorie und Bildungsforschung heraus. Dabei betonen sie gleichzeitig, dass es für die weitere Arbeit an bildungstheoretischen Fragen vonnöten wäre, zum einen die genannten Theorien in ihrer Tragweite zu erforschen und zum anderen ihre Übertragung auf hegemoniale Bildungskonzeptionen kritisch weiterzudenken.53
Die Metapher der Grenze als strategische Anwendung Die im Artikel Thompsons und Jergus diskutierte These konstatiert programmatisch,54 dass eine Verwendung von Metaphern wie zum Beispiel einer radikal gedachten Hybridität im Sinne der spannungsvollen Öffnung kategorial bestimmter Diskurse von Bildung erkenntnisbringend sei. Meine These ist, dass sie dies durch ein doppeltes Moment der Argumentationsführung demonstrieren. Ähnlich wie auch Bhabha machen die Autorinnen auf inhaltlicher (durch die Thematisierung der Medialität von Kultur zum Beispiel über Metaphern) wie empirischer (in der Verwendung von Metaphern) Ebene in ihrem Artikel auf das erkenntnistheoretische Potenzial von Stilmitteln wie Metaphern als kulturelles Medium aufmerksam. Dies wird durch eine nachfolgende Analyse der möglichen Doppelstrategie im Artikel demonstriert.
52 53
54
den kleinen Diskursen jedes Interviews als Gegenstand der Analyse an (vgl. Thompson/Jergus 2014: 20). Thompson/Jergus 2014: 22f. Die Auseinandersetzung mit dem Hybriditätsbegriff in seinen vielfältigen Kontexten, aber auch über seine anwendungstheoretische in Bhabhas Arbeit möchte zumindest dem ersten Desiderat folgen und eine breitere Analysebasis bereitstellen für ihre weitere Übertragung auf hegemoniale Bildungskonzeptionen. Mit Verweis auf Konersmann 1996/2004: 327.
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Der Titel des ersten Abschnitts »Kultur als ›Möglichkeit‹ und ›Grenze‹«,55 welchen die Autorinnen zu einem späteren Zeitpunkt ihres Artikels als »Einsatzpunkt ihrer Überlegungen«56 bezeichnen, scheint signifikant und wird beispielhaft herangezogen, da er selbst mit einer doppelten Metaphorik zu arbeiten scheint. Die erste Metapher spielt auf eine semantische Gegensätzlichkeit zwischen den Begriffen »Möglichkeit« und »Grenze« an, die den Begriff der Kultur charakterisieren soll (»Kultur ›als‹ Möglichkeit und Grenze«).57 Inwiefern die Dynamik zwischen diesen beiden Polen durch eine letztlich harmonisierende Dialektik, Ambivalenz, Widerstreit, Verhandlung oder Kampf geprägt ist, bleibt offen. Diese gegensätzlichen Aspekte treffen im Begriff der Kultur aufeinander und spannen durch die Gegensätzlichkeit, Widersprüchlichkeit und auch Offenheit ihres Charakters den Begriff der Kultur als einen epistemologischen Raum auf. Setzt man die Ebene des Gesagten (die Postulierung eines offenen und übertragenden Charakters von Metaphern) und die Methode verdichteter Stilmittel im Artikel in einen Zusammenhang, so erscheint die Verwendung des Begriffs der »Grenze« als Synonym für Trennung und Unterscheidung gerade in der Rekontextualisierung dieser mit den Thesen des Artikels als auch im wissenschaftlichen Diskurs als zu einseitig und nicht hinreichend. Daraus ergeben sich mindestens zwei Fragen: Wollen Thompson und Jergus bloß auf Kultur als »Zwischenraum« (siehe Titel des Artikels) von gegensätzlichen Bewegungshorizonten innerhalb von »Möglichkeit« und »Grenze« verweisen und nehmen dafür in Kauf, dass sie sich dessen schuldig machen, ausgerechnet die Grenze als eine große Metapher in der (bildungs-)philosophischen Tradition funktionalistisch auf einen eindimensionalen Begriff zu reduzieren oder spielen sie mit einer doppelten Metaphorik und damit auch mit einer doppelten Bedeutungsebene? Sollte Letzteres der Fall sein, so kann man Indizien dafür aus dem Kontext ihrer weiteren Verwendung des Grenzbegriffs in Verbindung mit Kultur entnehmen. So arbeiten sie inhaltlich und sprachlich gerade entlang kulturtheoretischer Ansätze, die Dichotomisierungen und eindeutige Zuordnungen problematisieren und »Kultur als Ort der Grenzüberschreitung«58 verstehen möchten. Auch der zweite Untertitel des Artikels »Bildung als Grenzgang« suggeriert ein Bewusstsein von Grenze, welches nicht einseitig fixierend, sondern im Kontext von Dynamik und Bewegung stattfindet. Eine explizite Stellungnahme ihres betont unabgeschlossenen Nachdenkens über Grenze und Kultur wird durch den Rekurs auf Bhabhas
55 56 57 58
Thompson/Jergus 2014: 10. Thompson/Jergus 2014: 22. Thompson/Jergus 2014: 10. Thompson/Jergus 2014: 11 nach Reuter 2004: 243.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Aussage deutlich: »›Hybridität‹ [ist ein] Begriff, mit dem eben ›die selbstbefremdende Grenze‹ der Kultur herausgearbeitet werden kann«.59 Geht man davon aus, dass Thompson und Jergus den Begriff der Grenze als Metapher verwenden, so eröffnet sich ein Raum der epistemologischen Übertragungsmöglichkeiten, in dem sie im doppelten Spiel (ohne dass dies von ihnen als solches kenntlich gemacht wird) mit expliziter Aussage und Metaphern als Mittel einer zusätzlichen Bedeutungsebene als bereitgestellten Räumen für die Übertragung von Inhalten parallele Sinnzusammenhänge herstellen und demonstrieren. Im Akt der doppelten Argumentationsführung kann auch eine Vorführung dessen gesehen werden, wie verschiedene Metaphern auch im sogenannten Zwischenspiel (»Grenze«, »Kultur als Ort der Grenzüberschreitung«, »Grenzgang«, »schillernder Zwischenraum«) untereinander trotz oder wegen ihrer semantischen Offenheit zur Einordnung und Bestimmung der Inhalte beitragen können. Die Hypothese lautete, dass Thompson und Jergus zum einen inhaltlich auf die Metapher in ihrem Potenzial für erkenntnistheoretische Räume verweisen und in diesem Sinne über den Bildungsbegriff nachdenken, während sie zum anderen das vielschichtige erkenntnistheoretische Potenzial von Metaphern als kulturelles Medium teilweise in poststrukturalistischer Manier empirisch vorzuführen versuchen. Im Rahmen des Artikels erscheint die theoretisch anspruchsvolle Begründungslinie klar sowie auch der Versuch einer metaphorischen Anwendung über die Titel und Zwischentitel den Ansatz bestätigt. Doch erscheint der Artikel mehr als Anstoß zu einem weitergehenden Nachdenken über derartige Formen des Doing Theory zu sein, welches weitergehende Diskussionen und Anwendungen solcher theoretischen und praktischen Anwendungen zur Folge haben muss. Die Ergiebigkeit der medialen Verwendung von Metaphern zeigt sich vor allem durch ihren ›übertragenden‹ Charakter. In der kulturphilosophischen Arbeit an konkreten Metaphern eröffnet sich ein epistemologischer Raum, der durch Zugänglichkeit und Übertragungsmöglichkeiten geprägt dazu einlädt, die eigenen Gedanken daran anzuknüpfen und ein weiteres Nachdenken anzuregen. Hierdurch wird der Medialität von Zeichen ein expliziter kultureller Wert zugesprochen, der oft über die Metapher der »Übersetzung« das Moment des Zwischen, des Unbestimmten, des Unbesetzten repräsentiert und einem binären Denken als bloß notwendiges Instrument für die Übertragung von Bedeutung von ›a‹ nach ›b‹ zuwiderläuft. Darin kann auch eine Verlagerung des normativen Gewichts von Bedeutungen gesehen werden, weg von letzten abschließenden Wahrheiten, hin zu der Medialität als Moment der Unabgeschlossenheit und die Fähigkeit der Übertragung selbst.
59
Bhabha in Rutherford 1990: 210 in Thompson/Jergus 2014: 12.
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Zugänge zu Hybridität
Eine der Kultur jedoch unveräußerliche Unschärfe60 würde demnach auf produktive Weise einen Zwischenraum in den Blick rücken, welcher auf seine bildungstheoretische Bedeutsamkeit geprüft werden soll. Hier wird die produktive Unschärfe zwar nicht in Hinblick auf ihre bildungstheoretische Bedeutsamkeit überprüft, viel mehr wird über den Hybriditätsbegriff der Zwischenraum in den Mittelpunkt gerückt und als analytische Folie für weitere Verwendungen bereitgestellt. Für ein weiterführendes Nachdenken von Verwendungsmöglichkeiten für die Bildungstheorie und Bildungsforschung bedürfen Bhabhas prominente Konzepte der Hybridität und des Dritten Raumes einer tieferen Erforschung. Die Aufgabe dieses Buches, aber auch im Speziellen dieses Kapitels besteht deshalb darin, die Konzepte der Hybridität und des Dritten Raumes in ihren Kontexten, Methoden, Strategien, politischen Dimensionen, Leerstellen, Gefahren und Potenzialen für das Feld der Pädagogik im Sinne einer Grundlagenarbeit aufzubereiten.
3.2.3.
Einordnungen der Rezeption von Bhabhas Hybridität
Im Sinne der vielen Möglichkeiten, an Bhabhas Schreibprojekt anzuknüpfen, aber auch der programmatischen Not, dieses in seiner hybriden Beschaffenheit greifen zu können, wird der Versuch der Literaturwissenschaftlerin Karen Struve kurz umrissen, Bhabhas Hybriditätsbegriff in ihrem Einführungswerk Zur Aktualität Homi K. Bhabhas grob einzuordnen. In ihrer »Einleitung in sein Werk« (2013) betont Struve, dass in Bezug auf Bhabhas Werk das Problem seiner Einordnung eine bemerkenswerte Herausforderung darstellt. Die programmatische Schwierigkeit, seine Texte zu lesen, läge an Bhabhas Anspruch, dem komplexen Material in seinem Werk eine entsprechende Form einzuräumen.61 Sein Schreibstil reflektiere dabei die Komplexität und Verflochtenheit der Gegenstände in Theorie und sozialer Praxis, wie Struve konstatiert. Während ein Lesen von Bhabhas Arbeiten theoretisch »voraussetzungsreich« sei und profunde Kenntnisse in internationaler Theorie und Praxis erfordere (zum Beispiel in »der poststrukturalistischen Literatur- und Kulturtheorie, in den postkolonialen Theorien und der Psychoanalyse, in der Kolonialgeschichte Großbritanniens und Indiens sowie in der Literatur und Kunst des Subkontinents und der westlichen (Post-)Moderne«62 ), wird der Leser angehalten, von seinem eigenen Vorwissen Distanz zu nehmen und möglichst undogmatisch und voraussetzungsfrei Bhabhas Um- und Neuinterpretationen zu folgen.63 Struve klassifiziert Bhabha
60 61 62 63
Vgl. Konersmann 1996/2004: 327 in Thompson/Jergus 2014: 9. Vgl. Anfeng und Bhabha 2009. Struve 2013 : 7. Vgl. Struve 2013 : 7.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
als »Weiter-Denker«64 , der seinen Lesern ein »hohes Schritttempo und Lust auf ›scheinbare Um- und Abwege‹ abverlangt«65 . In ihrer Annäherung an Bhabhas Werk betont Struve zwar, dass die Konzepte der Hybridität und des Dritten Raumes für sein Denken zentral seien und am meisten rezipiert würden, doch gehe bei der Rekonstruktion von Bhabhas Gedankengebäude die Schwierigkeit der Systematisierung dieser einher. Bhabhas Werk widersetze sich inhaltlich wie strukturell jeglicher Determinierung über eine (Kausal-)Logik. So wie viele andere Bhabha-Interpreten66 betont Struve, dass die in Bhabhas Text ineinandergreifenden und sich wechselseitig aufeinander beziehenden Argumente, Strukturen und Schlüsselkonzepte von ihr zu heuristischen Zwecken herauspräpariert worden seien und daher nur als engführender Ausschnitt seines theoretischen und empirischen Schreibprojektes verstanden werden könnten.67 Die von allen Bhabha-Lesern konstatierte Schwierigkeit im Lesen und daraus abgeleitete Bescheidenheit der Interpretationsmöglichkeiten und der Mut, die eigene Perspektive darauf als eine legitime anzuerkennen, kann wiederum als eine von Bhabha provozierte wissenschaftliche Grundhaltung verstanden werden. Hierin findet sich auch der theoretische wie politische Anspruch der Postcolonial Studies wieder, der die Frage nach einem angemessenen, durch Selbstreflexivität gekennzeichneten Schreibens ins Zentrum wissenschaftlicher Auseinandersetzungen stellt.68
Das Problem der Herleitung Bemerkenswert ist Struves Herleitung des Hybriditätsbegriffs im Anschluss an Bhabha. Sie konstatiert, dass Bhabha dem Hybriditätsbegriff kein »sprachgeschichtliches und damit konnotatives Gepäck zugesteht bzw. diese schlicht nicht thematisiert«.69 Sie selbst möchte dem nachkommen, indem sie Hybridität als Terminus (mit Verweis auf Griem [2001]) dem Feld der Biologie im 19./20. Jahrhundert zuschreibt. Im zweiten Kapitel wurde bereits am Beispiel der etymologischen Herleitung und Bedeutungszuschreibung von Hybridität auf eine gewisse Konstruktivität und Selektivität im Prozess (auch) wissenschaftlicher Arbeiten hingewiesen. Während die einen (zum Beispiel Ha und andere- hier im zweiten Kapitel) den Begriff auf die Antike zurückführen, portraitiert Bhabha Hybridität vor dem Hintergrund seiner eigenen Biographie und der Flucht- und Integrationsgeschichte der Minderheit der Parsen im 7. Jahrhundert. Struve und Mecheril setzen bei der Herleitung dagegen auf dem semantischen Moment 64 65 66 67 68 69
Struve 2013 : 7. Struve 2013 : 7. Vgl. Huddart, Byrne, Castro Varela, Göhlich, Thompson/Jergus. Vgl. Struve 2013 : 7. Vgl. Struve 2013 : 12. Struve 2013 : 98.
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von Hybridität als Kreuzung in der Biologie an und entscheiden sich damit, die Geschichte der Hybridität auf diese Weise zu schreiben. Sie betonen dabei, dass selbst im naturwissenschaftlich-empirischen Feld die Beobachtung von Kreuzungen in der Pflanzenkunde auch vor dem Hintergrund der Zeit mit dem Begriff des Bastards eine sprachlich wertende, sogar pejorative Konnotation erhält. Beispielhaft für das Problem der eindeutigen Einordnung und Einschätzung, insbesondere in Bezug auf den Hybriditätsbegriff, sowie auch Bhabhas Werk (Theorietradition und Vorgehensweise) dient hier Struves Rekurs auf Göhlich. Karen Struve verweist auf die Einschätzung Michael Göhlichs, der aus der Position des Erziehungswissenschaftlers Bhabha hauptsächlich als Literaturtheoretiker liest, während sie (Struve) selbst als Literaturtheoretikerin Bhabhas Werk zwar als literaturwissenschaftlich fundiert liest, dieses jedoch »nicht als eine spezifisch literaturwissenschaftliche Theorie oder Methodologie verstehe«.70 Struve begründet ihren eigenen, nicht genuin literaturwissenschaftlichen Ansatz, mit der Erarbeitung von Bhabhas Werk aufgrund der »Vielschichtigkeit seiner Theoriebildung und der Diversität seiner Referenzen«71 , sowie seinem programmatischen Widersetzen gegen eine Klassifizierung als Literaturwissenschaftler oder Kulturtheoretiker. Bhabhas interdisziplinärer Zugang zu Theorien, Literatur, Kunstwerken und sozialer Praxis macht daher das Erfassen seiner Arbeit über herkömmliche Kategorisierungen und Systematisierungsversuche zum Problem und öffnet zugleich ein Feld für neue Arten des Lesens und Zusammendenkens von scheinbar Unvereinbarem, welches wiederum auf direktem Wege auf Hybridität als Begriff und Konzept verweist. Obwohl Hybridität und Dritter Raum die bekanntesten Konzeptmetaphern bzw. -theorien seien,72 erklärt Struve ihr Vorgehen damit, dass sie Bhabhas Werk aus systematisch-didaktischen Gründen zunächst über seine Theorieannahmen und der Kultur als Grundbegriff angeht, bevor sie dem einen Systematisierungsversuch der Konzepte der Hybridität und des Dritten Raumes folgen lässt. Da das vorliegende Buch durch das Herausstellen von Hybridität als Analysefolie der jeweiligen Zeit und Diskurse zum Umgang mit Differenz und einer ausführlichen Kontextualisierung dieser (im zweiten Kapitel) ein anderes Ziel verfolgt als, eine Einleitung in Bhabhas Werk zu geben, werden Struves Ergebnisse in die Analyseansätze dieses Hauptkapitels einfließen, jedoch nicht strukturgebend sein. Im Folgenden wird vielmehr Struves Systematisierung von Hybridität kurz dargelegt und in einem späteren Teil dieses Hauptkapitels weiter ausgeführt. Struve stellt in ihrer Analyse des Bhabhaʼschen Werkes unterschiedliche Dimensionen von Hybridität heraus, die ohne Hierarchien und Wertigkeit in der Dar-
70 71 72
Struve 2013 : 38. Struve 2013 : 13. Vgl. Struve 2013 : 37.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
stellung zu denken sind und im Text »stets ineinandergreifen und sich gegenseitig bedingen«.73 Hybridität kennzeichnet sich demnach durch drei Dimensionen: die strukturelle (»was liegt Hybridität zugrunde?«), die inhaltliche (»was macht Hybridität aus?«) und die funktionale (»welche Strategien der Hybridität gibt es?«74 ). Strukturell wird Hybridität im Sinne von Hybridisierung auf den Prozess der Differenzbildung zurückgeführt. Hybride Phänomene definieren sich über ihre Prozesshaftigkeit, De- und Neukonstruktion. Die stetige Dekonstruktion richtet sich insbesondere gegen »vermeintlich natürliche und Machtverhältnisse stabilisierende, koloniale Dichotomien«75 , während die Neukonstruktion sich oftmals auf (prekäre) kulturell kollektive wie »subjektive Identifizierungen«76 bezieht. Bhabhas Konzepte der Hybridität und des Dritten Raumes werden als Kategorien klassifiziert, über die man interne wie externe kulturelle Mischprozesse als Phänomene beschreiben kann, wogegen Strategien und Funktionsweisen von Hybridität über Konzepte wie Übersetzung und Mimikry erfasst werden. In der Analyse von Bhabhas Verwendung von Hybridität stellt Struve heraus, dass er mit dem Begriff der Hybridität auf unterschiedlichen Ebenen argumentiert. Hybridität als… 1. theoretische Perspektive 2. zentrales Merkmal der von Bhabha untersuchten Texte 3. eigenes Schreibprinzip
In der theoretischen Ebene verweist der Hybriditätsbegriff auf eine auf den Dekonstruktivismus zurückgehende Verquickung von unterschiedlichen theoretischen Zugängen, auch vor dem Hintergrund seiner politischen Implikationen. Auf der zweiten Ebene wird Hybridität als empirische Dimension in Bezug auf Phänomene des Kulturkontakts und Konstruktion von Identität in kolonialen und postkolonialen Texten (zumeist literarischer Art) verstanden. Die Ebene von Hybridität als Schreibprinzip verweist auf die für Bhabha spezifische »Verwischung von Metaund Objektsprache«77 . In Anlehnung an Struves Systematisierungsversuch von Bhabhas Begriff der Hybridität über die oben genannten drei Ebenen werden die angeführten Punkte im Folgenden mit Inhalten aus Bhabhas Schreibprojekt ausgeführt und in Hinblick auf Hybridisierung als Methode kritisch weitergedacht, bevor im vierten Kapitel über pädagogische Anwendungsmöglichkeiten von Hybridität als Denkfigur nachgedacht wird. 73 74 75 76 77
Struve 2013 : 99. Struve 2013: 100. Struve 2013: 100. Struve 2013: 100. Struve 2013: 97ff.
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3.3.
Doing Theory nach Bhabha
Wie den oben diskutierten Analysen von Bhabhas Werk zu entnehmen ist, ist eine Einordnung von Homi K. Bhabhas Werk in theoretische Ansätze nach üblichen Analyseschablonen erschwert. Wollte man ihm dennoch eine Zuordnung geben, so kann man seine Werke im Feld der Postcolonial Studies positionieren, die in ihren theoretischen Prämissen, interdisziplinären Zugängen und Untersuchungsgegenständen seinem Werk zwischen Theorie und Praxis am meisten entsprechen und von diesem wiederum auf eine eigene Weise weiterentwickelt werden. Die Beschreibung des Orientalisten Bart Moore-Gilberts der Postcolonial Studies als schwer zu definierende multiple Gemengelage an Gleichzeitigkeit und Dopplung von unterschiedlichen Dimensionen und Umgangsweisen mit kolonialer Geschichte sowie unterschiedlichen und teilweise oppositionellen theoretischen und politischen Konsequenzen, zeigt eine deutliche Parallele zur Rezeption des Hybriditätsbegriffs und auch zu den problematisierten Einordnungs- und Systematisierungsversuchen der Rezeption der Schriften Bhabhas. Homi K. Bhabha ist eine zentrale Figur in den teilweise unvereinbaren theoretischen und politischen Achsen der postkolonialen Studien, da sich an seiner Theorieauswahl und seinem Umgang damit die Positionen besonders entzünden. Im Folgenden erfolgt eine Heranführung an Bhabhas Ansatz einer Theorie des »Post« in doppeltem Sinne – der kritischen Intervention und einem konstruktiven Weiterdenken – entlang einiger Ansätze der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule.78 Der Grund für einen ausschnitthaften Vergleich zwischen Adorno/Horkheimer und Bhabha ist in zwei Aussagen Bhabhas begründet. Zum einen in dem Anspruch Bhabhas, kritische Theorie anders zu denken und zum anderen in dem Eingeständnis Bhabhas, ohne ein Eingehen auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule auszukommen.79
3.3.1.
Historische Wirklichkeit als Ausgangspunkt für kritisch theoretische Einsätze Bhabhas und der Frankfurter Schule
Der hier folgende Vergleich zwischen Adorno/Horkheimer und Bhabha dient einer Kontextualisierung von Bhabhas Anspruch auf eine kritische Theorie, die anders denken möchte. Das bloße Anders-Sein scheint hier zu allgemein und wenig aussagekräftig zu sein.80 Da Andersheit und Differenz ein dialektisches Moment des Gemeinsamen und der Abgrenzung davon beinhaltet, so gilt es, beide Momente 78
79 80
Der Sinn dieses Vorgehens liegt nicht in einem dezidierten Vergleich beider Theorieansätze, sondern im Aufzeigen von Bhabhas Anspruch einer kritischen Intervention durch Parallelen mit Ansätzen der Kritischen Theorie Max Horkheimers und Theodor W. Adornos. Vgl. Bhabha 2000: 30ff. Auch in Bhabhas Denken, wie später mit Bezug auf Differenz deutlich wird.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
darzulegen, um die Andersartigkeit von Bhabhas ›theoretischem Engagement‹ im Rahmen der kritischen Theorie zu verstehen. Begreift man das Post als Moment der Kritik, so eröffnen sich die Gemeinsamkeiten des Postkolonialismus als auch die der kritischen Theorie darin, dass ihre praktische Philosophie getragen ist von Ideen und Beispielen aus verschiedenen Fachdisziplinen und realhistorischen Bezügen. Wie im zweiten Kapitel dargelegt, ist auch der postkoloniale Diskurs in seinen Gegenständen, Mitteln und Zielen nicht als Einheit zu begreifen, doch verbindet ihn die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte. In diesem Abschnitt soll exemplarisch an einigen Texten der Vertreter der Kritischen Theorie, Max Horkheimer und Theodor W. Adorno und Homi K. Bhabha verdeutlicht werden, welche gemeinsame Basis sogenannte kritische Theorien haben und worin sie sich unterscheiden. Im Folgenden wird zunächst ein Ausschnitt der gemeinsamen Basis beider Positionen beschrieben, bevor über eine Diskussion des Bhabhaʼschen Werks ihre Unterschiede herausgestellt werden. Aufgrund der vorhandenen breiten Besprechung der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos wird keine umfassende Analyse dieser Position erfolgen, vielmehr wird sie als Pool für einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Bhabha genutzt werden, mit Blick auf Barbarei in der Geschichte als Ausgangspunkt für die Entwicklung kritischer Theorien. Nach Horkheimer und Adorno sind der Glaube an Instrumente der Aufklärung sowie das Wissenschaftsverständnis nicht zuletzt durch die Barbarei im sogenannten Dritten Reich in Frage gestellt, während Homi K. Bhabha in postkolonialer Manier die Geschichte des Kolonialismus zum Anlass nimmt, um ebendenselben Glauben an die Fortschrittlichkeit und die hegemonialen Ansprüche der sogenannten westlichen Welt, ihren hegemonial vermittelten Diskursregeln und in ihrem Umgang mit dem ›Anderen‹ anzuzweifeln. Kennzeichnenderweise halten beide Denkschulen diese Eckpfeiler der Geschichte nicht per se als Mahnmal hoch, sondern verfolgen deren Ursachen und Strukturen in der Feinmaschigkeit der menschlichen Psyche und des alltäglichen Handelns, dessen Spuren sich nicht in der vergangenen Geschichte erschöpfen, sondern sich in ihrem fortwährenden Charakter zeigen. Sowohl Bhabha als auch Adorno sehen die Verbindung von gesellschaftspolitischen Strukturen und psychologischen Mechanismen, welche der Freudʼschen Analyse angelehnt sind, als wichtige Analysefaktoren an. Die Werdung des Selbst in der Bedingtheit der Welt ist für beide Theorieansätze der Frage des »Anderen« wesentlich. Adorno und Bhabha verweisen auf ein Ich und eine Welt, die durch ihre Bedingtheit in komplexen, konflikthaften und machtdurchströmten Verwobenheiten bestimmt sind. Folglich eröffnet sich eine solche Welt auch erst durch einen Blick auf sie, der Ambivalenz, Brüche und einen Doppelcharakter der Dinge zulässt und erträgt. Auch im Aufzeigen der Verbindung von Strukturen des Denkens, der Denktraditionen, dem damit einhergehenden Selbstverständnis, einem wiederum
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oft daraus resultierenden Hegemonialdenken, das sich nicht nur in den Gräueltaten des Kolonialismus zeigt, sondern sich auch auf die Geschichte der Sklaverei, auf die Barbarei des Holocaust und auf weitere erstreckt. Adornos Beschäftigung mit Bedingungen der Entstehung und des Ausbruchs von Barbarei in Erziehung nach Auschwitz erhält mit Bhabhas Weiterdenken dessen im Kontext globaler Geschichte eine weitere Dimension sowie auch ein Weiterdenken über Formen der mahnenden Erinnerung. Eine Begründung dieses Denkens kann in Adornos Kritik daran erkannt werden, dass Bildung, statt ihren Sinn als »Kraftfeld« für die Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft zu haben, »zu[r] fixierten Kategorie […] erstarrt« sei.81 Dazu passt auch Horkheimers Warnung: »Definitionen mögen widerspruchslos sein, die Wirklichkeit aber, in der wir leben und die von Begriffen getroffen werden soll, ist widerspruchsvoll«.82 Mit der Erfahrung der Verbindung gewisser Denktraditionen und politischen Allmachtsansprüchen in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland mahnt Max Horkheimer im gleichem Sinne in seiner Immatrikulationsrede zum »Begriff der Bildung« dazu, am Sinn von begrifflicher Abgrenzung und Bestimmungen festzuhalten und warnt zugleich vor übertriebenen szientistischen Sauberkeitsbedürfnissen der begrifflichen Trennungen und Bestimmungen, die im universitären Betrieb zum Selbstzweck verkommen seien und verwendet würden, um recht scharf zu schneiden.83 Der programmatische Ansatz in ihrer Kritik an einer instrumentellen Vernunft und der Hinwendung zum Wahrnehmen, Ertragen und des Beschreibens von Widersprüchen ist eine zentrale gemeinsame Bestrebung dieser beiden Theorieansätze. Die Kritik an historischen Beispielen für die Barbarei in der Folge von rationalistischen Systematisierungsversuchen (die dafür in Kauf nehmen, scheinbar Unpassendes zu ignorieren oder gar zu bekämpfen,) ist ihr gemeinsamer prägender Ausgangspunkt. Horkheimer wendet den Blick von der großen Katastrophe des Holocaust auf seine Entstehungsbedingungen und die aufrechterhaltenden Strukturen84 . In der Psyche des Menschen selbst, wie auch den sozialen und ökonomischen Strukturen, innerhalb derer sich der Mensch bewegt, seien diese zu lokalisieren. Bedingung und Ergebnis eines totalitären Herrschafts- bzw. Wissensanspruchs ist demnach die Förderung von Unterwürfigkeit, Angepasstheit und des passiven Konsumismus eines Anderen, der sowohl im Faschismus als auch im Kapitalismus seinen 81
82 83 84
Adorno 1959: 96. Der programmatische Ansatz des Wahrnehmens, Ertragens und des Beschreibens von Widersprüchen ist eine zentrale gemeinsame Bestrebung dieser beiden Theorieansätze. Historische Beispiele für die Barbarei in der Systematisierung, die dafür in Kauf nimmt, scheinbar Unpassendes zu ignorieren oder gar zu bekämpfen, ist ihr prägender Ausgangspunkt. Horkheimer 1985: 409f. Vgl. Horkheimer 1985: 409f. Vgl. Adorno 1977: 674ff., Adorno 1984 und Adorno 1997
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Ausdruck findet. Es geht um ein Denken, das scheinbar harmlose Aspekte wie die Autorität von Definitionen und begriffliche Sauberkeitsansprüche als Tendenz zum Reinheitsfetischismus problematisiert und auf andere Bereiche des Lebens und der Gesellschaft überträgt. Ein Gegenstand beider Kritikansätze ist der Vorgang des Absolutsetzens von Dingen und Menschen, was das Potenzial und Antlitz einer Diktatur, einer Kolonialmacht oder von machtvollen Strukturen im Kapitalismus enthält. Kennzeichnend für beide Ansätze ist die programmatische Verbindung verschiedener wissenschaftlicher Fachdisziplinen und Ebenen für ihre Argumentation. Zudem verwenden sie teilweise ähnliche Theoriestränge als breite Analysefolie für das Erfassen gesellschaftlicher Phänomene. Horkheimer zufolge sollen Begriffe nicht für sich als absolut verstanden werden, sondern nur als Mittel für das Verstehen und Beschreiben der »Spannungen und Mehrdeutigkeiten«85 des Lebens selbst. Eine Begründungsgrundlage für die in diesem und im nächsten Kapitel besprochenen Denkfiguren Bhabhas, jedoch auch für den Vorschlag, Denkfiguren der Differenz auf ihre pädagogische Anwendbarkeit zu prüfen, baut auf die Forderung Horkheimers auf, sich mit »Spannungen und Mehrdeutigkeiten« zu befassen. Prägnante sprachliche Figuren Adornos sind zum Beispiel »Erziehung nach Auschwitz« und der »Doppelcharakter der Kultur«. Der Ausgangspunkt der kritischen Auseinandersetzung beider Ansätze mit geltenden Ordnungen in Wissenschaft und Gesellschaft entstammt historischen Ereignissen. Diese sind zwar auf unterschiedliche Zeiten und Umstände zurückzuführen, doch haben sie viel gemeinsam. Den Kolonialismus und den Holocaust verbindet aus dieser Sicht eine Barbarei, die im Namen und mit Mitteln moderner Erkenntnisse möglich gemacht wurden. Ob es die »Erziehung nach Auschwitz« ist oder die Bhabhaʼsche Kritik an einer nationalistisch geprägten Pädagogik im kolonialen Erbe, beide Positionen führen diese historischen Ereignisse auf erkenntnistheoretische Engführungen und hegemoniale Machtstrukturen86 zurück. Dieses Denken kann einen Umgang mit der Welt als einem Nicht-Ich, einem Anderen, einem Fremden, einem Beängstigenden, einem Bedrohlichen lehren, der in seinem Denken und Aussehen nicht in eine einzige Kategorie passt, auch nicht in fünf. Dies beinhalten die von Horkheimer genannten »Spannungen und Mehrdeutigkeiten« des Lebens, die der Mensch im Sinne der Bildung als diese als Teil der eigenen Beschaffenheit und der eigenen Welt verstehen lernt. Im Gegensatz zur Erziehung zur Härte dient der freudsche Ansatz der Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten des Menschen an sich als Moment der Uneinheitlichkeit jeder mensch-
85 86
Horkheimer 1985: 409f. Im Rahmen dieses Buches kann allerdings weder eine dezidierte Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen beiden Theorieansätzen erfolgen noch eine sprachliche Einzelanalyse der Figuren Adornos.
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lichen Psyche. Was Teil von mir ist, macht es mir evtl. schwerer, es aus meiner Welt ›auszuschneiden‹. Mit Blick darauf in wiefern beide Theorien der Kritik (Bhabhas und die Ansätze Adornos und Horkheimers) einem nicht trivialen Anspruch genüge leisten können, so sind die Ausführungen Carsten Büngers und Ralf Mayers weiterführend, wenn sie mit Rekurs auf Max Horkheimer und Peter Euler Kritik unterscheiden von einer den Grundsatz betreffenden Kritik und einer trivialen. Während Erstere eine Problematisierung des Allgemeinen anstrebt ist eine triviale Kritik eine Reduzierung ihres Wesens, indem sie »instrumentell auf die Behebung partieller Defizite durch konstruktive Vorschläge« gerichtet ist.87 Konsequenter Weise gehen die Autoren im Weiteren auf die Bedingungen der Möglichkeit einer solchen Kritik ein, die in diesem Buch zu einem Teil über verschiedene wissenschaftliche Positionen herausgearbeitet wird (z.B. die Bedingungen der Möglichkeit des leiblichen Menschen, der sprachlichen Mittel, der historischen und sozialen Positionierung in der Gesellschaft und der Welt, sowie eine intersektionale Perspektive auf diese Bedingungen der Möglichkeiten). Beide Theorieansätze (Bhabhas und die der Kritischen Theorie Adornos und Horkheimers) verwenden ähnliche grundsätzliche theoretische Annahmen für die Beschreibung der Konstitution von Mensch und Welt, unterscheiden sich dennoch unter anderem wesentlich in der Gewichtung einzelner Aspekte. Während der Kapitalismus für Adorno untrennbar mit dem Faschismus zusammenhängt und ihn sogar bedingt88 , verlagert Bhabha das Gewicht seiner Arbeit auf die Kritik und den Umbau von Strukturen im Bereich des mittelbar Politischen wobei Imperialismusund Kapitalismuskritik eine geringere Rolle spielen. Doch richten sich beide Stränge aus verschiedenen theoretischen Kontexten und historischen Ausgangssituationen heraus ihrer Kritik an epistemologische Setzungen, die das Infragestellen oder die Dekonstruktion in den Fokus ihres Denkens stellen. An Bhabhas Denken wird aus marxistischer Sicht bemängelt, dass er trotz seiner zentralen Instanzen von Macht und Autorität als Konstitutionsbedingungen des Subjekts wenig Bezug nimmt auf ökonomisch systemische Zusammenhänge, wie dies in der kritischen Theorie hervorgehoben wird. Bhabha scheint an diesem Punkt dem Strang der Cultural Studies zu folgen, der das »Post« als Verlagerung des Fokus vom marxistisch geprägten Denken hin zu einem Suchen nach fragmentierter kultureller Macht von Individuen und kleineren Gruppen vollzieht. Einen weiteren Ausgangspunkt seines Denkens setzt Bhabha mit Bezug auf die südafrikanische Literaturnobelpreisträgerin Nadine Gordimer, deren Werke ihr ganzes Leben lang das Leben innerhalb eines Apartheids-Regimes und Möglichkeiten des Widerstandes behandelten, im »Verlorengehen der absoluten Gewisshei87 88
Bünger/Mayer 2014:251ff. Vgl. Ahlheim 2012: 39ff.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
ten«89 in der Tauwetterperiode des Kalten Kriegs an und betont mit Gordimer die »Angst, als Verräter an unseren Brüdern dazustehen, wenn wir im Austausch für die kapitalistische Hölle nicht mehr das sozialistische Paradies in Aussicht stellen können«.90 Vor dieser politischen und theoretischen Situation lässt sich Bhabhas theoretisches Engagement besser einordnen, welches das doppelte Aufzeigen von Komplexität im Sinne von Verwobenheit der Untersuchungsgegenstände miteinander sowie die empirische Demonstration von angemessenen Formen der Umsetzung der Komplexität sucht. Für die Untersuchung von Gegenständen der sozialen Praxis in Gesellschaften braucht es demnach (globale) interdisziplinäre Zugänge, Ausdrucksmöglichkeiten und Orte für jenes, das schwer-, nicht artikulierbar ist und jene, denen die Artikulation unmöglich gemacht wird. Bhabha konstatiert, dass seine Vorstellung von Kritik insofern anders gedacht wird als das für ihn »die Sprache der Kritik […] nicht deshalb effektiv [ist; N. H.-E.], weil sie die Standpunkte des Herrn und des Knechts, des Merkantilisten und des Marxisten für alle Zeiten voneinander trennt, sondern sie ist es gerade in dem Maß, in dem sie die gegebenen einander gegenüberstehenden Territorien überschreitet und einen neuen Raum der Übersetzung eröffnet: figurativ gesprochen, einen Ort der Hybridität, an dem die Konstruktion eines politischen Objekts, das neu, weder das eine noch das andere ist, unsere poltischen Erwartungen dementsprechend entfremdet und notgedrungen unsere bisherigen Formen der Erkenntnis des politischen Moments verändert«.91 Bhabha rekurriert indirekt auf ein Denken, das über Methoden der Einteilung und der Dialektik funktioniert und distanziert seine Vorstellung von einer Sprache der Kritik davon. Der Fokus seines Ansatzes liegt nicht in der binären Struktur, sondern im Überschreiten dieser begrenzten Struktur, innerhalb derer sich das Neue erschafft, wofür es keine ›richtigen‹ Einordnungsmöglichkeiten gibt und die die Notwendigkeit der Entfremdung virulent machen hin zum Schaffen von Neuem oder im Gegensatz zur dialektischen Form: Dem Aushalten der Nicht-Einzuordnenden, ohne ihre Auflösung. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich Bhabha nicht nur mit Bereichen der Theorie, der Kultur, der Wissenschaft, der Literatur und der Kunst, sondern bedient sich auch der Methoden von Theoriebildung und erschafft daraus etwas Anderes, Neues, um bei seinen eigenen Worten zu bleiben: Kennzeichnend für Bhabhas Schreibprojekt ist einerseits ein ganz selbstverständlicher eigentümlicher Umgang mit Theorie, Texten und sprachlichen Strukturen, andererseits mit Momenten, in denen er seine Programmatik expliziert:
89 90 91
Bhabha 2000: 21. Gordimer in Bhabha 2000: 21ff. Bhabha 2000: 38.
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»Ich möchte mich an die wandernden Randgebiete kultureller De-platzierung, die jeden tiefgründigen oder authentischen Sinn von Begriffen wie nationale Kultur oder ›organischer‹ Intellektueller vereitelt, begeben und fragen, worin die Funktion einer engagierten theoretischen Perspektive bestehen könnte, wenn man die kulturelle und historische Hybridität der postkolonialen Welt zum paradigmatischen Ausgangspunkt nimmt«.92 Neuralgische Stellen der Gesellschaft sind nicht nur für Bhabha in der Kultur zu finden, sondern auch bei Horkheimer und Adorno, die das Verstehen des Doppelcharakters der Kultur (vor dem Hintergrund der Kulturindustrie) betonen. Der Doppelcharakter der Kultur stellt Adorno zufolge die gleichzeitigen und antagonistischen Eigenschaften von Kultur in den Vordergrund, wonach in der subjektiven Zueignung von Kultur einerseits auf Bildung verwiesen ist und doch gleichzeitig auf die Gesellschaft zurückverwiesen wird, das heißt, dass Kultur zwischen ihr (der Bildung) und der Halbbildung vermittelt.93 In dem teleologischen Zusammenhang von Bildung als doppeltem Moment der Freiheit und Autonomie sowie ihrem Ausdruck und ihrer Entwicklung in vorgegebenen und befangenen Strukturen macht nach Adorno das widersprüchliche Wesen der Bildung aus. Genau an dieser Stelle zeigt sich einer der größten Unterschiede zwischen Adornos und Bhabhas Ansatz: Als Potenzial des Individuums erhält Bildung durch die negativ dialektische Herangehensweise Adornos im Gegensatz zur allgegenwärtig sozialisierten Halbbildung einen relativ geringen Raum der Aktivität des Einzelnen innerhalb machtvoller Mechanismen wie zum Beispiel der Kulturindustrie. So ist es symptomatisch, dass für Adorno die Balance des Doppelcharakters der Kultur nur »augenblicksweise glückte«,94 da sie einen gesellschaftlichen Antagonismus repräsentiere, der Kultur heilen wolle, doch als bloße Kultur nicht heilen könne.95 Bhabha verwendet dagegen das Moment der Differenz und der Dopplung nicht im Sinne eines kulturpessimistischen Aufzeigens von Tendenzen des Verfalls und der Verfangenheit des Subjekts in Marktmechanismen oder einer »Selbsterhaltung ohne Selbst«.96 Für ihn ist im Moment der Differenz als Ergebnis hybrider Auseinandersetzungen die Kraft der Verschiebung und Neuschöpfung von Bedeutungen und Ordnungen gegeben, die er als »die Kunst des Werdens«97 bezeichnet. Die Gemeinsamkeit beider Ansätze zeigt sich in der Herleitung und teilweise theoretischen Begründung ihrer Positionen, die sich in Barbareien in der Ge-
92 93 94 95 96 97
Bhabha 2000: 32. Vgl. Adorno 1959: 94. Adorno 1959: 96. Vgl. Adorno 1959: 96. Adorno 1959: 96. Bhabha 2000: 81.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
schichte, auch in ihrer Verankerung in einem rationalistisch geprägten Denken der Moderne, in der Kultur als neuralgischer Stelle in der Gesellschaft, in der Bedeutung der psychischen Beschaffenheit des Subjekts, aber auch der Notwendigkeit von Figuren der Differenz für die soziologische Analyse wiederfinden. Im Versuch der Verortung von Bhabhas Hybridität vor dem Hintergrund einer Art kritischen Theorie, gilt es diese jedoch auch durch ihre Differenz zu den eben genannten Ansätzen darzulegen. Dabei geht es nicht darum, eine Antwort darauf zu geben, ob Bhabha seinen Ansatz als kritische Theorie bezeichnen darf oder nicht, sondern darum, in der Gemeinsamkeit, aber auch Differenz zur Kritischen Theorie der Frankfurter Schule Bhabhas Standort besser einzuschätzen und im Folgenden entlang seines Schreibprojektes zu erfahren, wie er sein »theoretisches Engagement« vor dem Hintergrund einer anderen kritischen Theorie als etwas Neues mit Inhalt füllt und umsetzt.
3.3.2.
Hybridität als interventionistisches Einsetzen in Denktraditionen der Moderne
Als wichtigen Bezugspunkt seines Denkens führt Bhabha den Kolonialismus an, der sowohl als historische Wirklichkeit eine konkrete Zeit und einen konkreten geopolitischen Raum kenntlich macht, darüber hinaus jedoch auch als anschauliches Beispiel für Macht- und Unterdrückungsverhältnisse im Namen kultureller, zivilisatorischer wie auch rassisch begründeter Überlegenheit in der westlichen Moderne herausgestellt wird. Es seien demnach jene Arten von Geschichtsschreibungen, die »totalisierende […] Konzepte […]«, »diskursive […] Abschließungen«, Machtgefälle und Sprachlosigkeit, sowie eine »Bedrohung der Handlungsfähigkeit«98 produzierten.99 Aus ebenjener untrennbaren Verbindung von historischen Gegebenheiten des Kolonialismus und der darin enthaltenen fortwirkenden Strukturen und Konsequenzen von Machtausübungen in Migrationsgesellschaften leitet sich die Aktualität und Notwendigkeit einer postkolonialen Perspektive ab.100 Dabei sieht Bhabha das Anliegen des Postkolonialismus in der Intervention in Ideologien der westlichen Moderne, die versuchen würden, »der ungleichmäßigen Entwicklung und den differenten, oft von Benachteiligung gekennzeichneten 98 99
Bhabha 2000: 258. Bhabha zitiert hierzu Habermas: »Der Westen begegnet ja anderen Kulturen allein mit der aufreizend banalisierenden Unwiderstehlichkeit einer materialistisch einebnenden Konsumgüterkultur« (Habermas 2004 in Bhabha 2012: 28). 100 »Der koloniale Diskurs, der eine interdiktorische Andersheit artikuliert, ist genau die ›andere Szene‹ dieses aus dem 19. Jahrhundert stammenden europäischen Verlangens nach einem authentischen historischen Bewusstsein« (Foucault in Bhabha 2000: 135), das das Ende der Entfremdung des Menschen in der um jeden Preis herbeigeführten dialektischen Versöhnung mit seinem Wesen hervorholt.
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Geschichten von Nationen, Ethnien, Gemeinschaften und Völkern eine hegemoniale ›Normalität‹ zu verleihen«.101 Die daraus entwickelten »Traditionen der Soziologie der Unterentwicklung oder der »›Dependenz‹-Theorie«102 hätten auf analytischer Basis zur Hervorbringung von »nationalistischen oder ›nativistischen‹ Pädagogiken«103 beigetragen. Ebenso seien ideologische Binarisierungen in der Beziehung zwischen Erster Welt und Dritter Welt auf holistische Erklärungen sozialer Lebenswelten zurückzuführen, deren Logik sich postkoloniale Perspektiven widersetzen würden. Bhabha plädiert für die Akzeptanz der vielfältigen Form politischen Schreibens, dessen »Effekte im Dunkeln bleiben«,104 wenn das Schreiben eine strikte Trennung von einem theoretischen und einem aktiven erfährt.105 Diese theoretische wie politische Intervention steht auch im Fokus der Werke anderer postkolonialer Theoretiker wie zum Beispiel Gayatri C. Spivak oder Stuart Hall, der sich mit dem Ausdruck der »ideologischen Intervention« 1987 in die britischen Wahlen einmischte. Bhabha verweist explizit auf Halls Einfluss, dem zufolge jede Hegemonie gekennzeichnet ist von einer Politik der »Bestimmung des Imaginären«106 , die sich zum Beispiel in der Frage zeigt, wer die Themen, Schlagzeilen und Bilder in der Öffentlichkeit platziert. Dem Imaginären spricht Hall einen diskursiven Raum zu, der zwischen den politischen Polaritäten, aber auch den Bereichen politischer Theorie und (kultureller) Praxis existiere. Für Bhabha hat die postkoloniale Kritik als eine doppelte Aufgabe: Zum einen besteht sie in der deutlichen Revision einer hegemonial normalisierten Überschreibung von Geschichten (von Nationen, Ethnien, Gemeinschaften und Völkern), die sich viel mehr durch ungleichmäßige Entwicklungen, Differenz und Benachteiligung kennzeichnen. Die zweite Aufgabe sei die Intervention in diesen Diskurs im »Umkreis von Fragen der kulturellen Differenz, der sozialen Autorität und der politischen Diskriminierung, um die antagonistischen und ambivalenten Momente innerhalb der ›Rationalisierungen‹ der Moderne bloßzulegen«107 . Er führt weiter aus: »Postkoloniale kritische Diskurse erfordern Formen des dialektischen Denkens, die die Andersheit (Alterität), welche den symbolischen Bereich psychischer und sozialer Identifikation konstituiert, nicht verleugnen oder aufheben«.108 Die Strategien hierfür werden von Bhabha im Aufzeigen unauflösbarer Antagonismen und Ambivalenz in immer schon differenten Geschichten und Theorien gesehen.
101 102 103 104 105 106 107 108
Bhabha 2000: 255. Bhabha 2000: 257. Bhabha 2000: 258. Bhabha 2000: 33. Vgl. Bhabha 2000: 33. Hall 1987: 30-35 in Bhabha 2000: 33. Bhabha 2000: 255. Bhabha 2000: 258.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Was Theorien des kulturellen Relativismus und Pluralismus von einer postkolonialen Perspektive unterscheide, sei gerade in den Momenten der »Unvereinbarkeit«, des Nicht-Harmonischen zu finden. Diese Kennzeichen von Differenz als allgemeiner Struktur und der Anspruch, ihr einen Rahmen zu geben, der sie nicht sinnbildlich ›vereinnahmt‹, zeigt die Perspektive von Konzepten wie Hybridität für postmigrantische Gesellschaften. Die Besonderheit der postkolonialen Theorie zeichnet sich bei Bhabha im Speziellen dadurch aus, dass sie darauf insistiert, dass »kulturelle und politische Identitäten durch einen Prozess der Alterität hindurch konstruiert werden«.109 Hierfür stellt er nicht den konstruktiven Charakter an sich in den Mittelpunkt, sondern rückt in diskurstheoretischer Manier die Art und Weise, wie Konstruktion ermöglicht wird, in den Vordergrund und beleuchtet somit die teilweise obskuren Prozesse der Konstruktion. Er betont also Prozesse der Alterität, die dadurch eine unabdingbare Bedingung jeder Konstruktion darstellen. Ebenso wie Subjekte in einer diskursiven Verfasstheit agieren, sieht Bhabha auch den Kulturbegriff als Aushandlung in einer stetigen machtvollen Auseinandersetzung mit dem Anderen. Der hybride Charakter der Subjekte wie auch der Kulturen offenbart sich somit in der im Werden begriffenen Verflechtung mit anderen zeitlich und räumlich differenten Geschichten. »Gerade von diesem hybriden Ort des kulturellen Wertes – des Transnationalen und des Translationalen – her versucht der postkoloniale Intellektuelle, ein historisches und literarisches Projekt zu entwickeln«.110 In diesem Satz bringt Bhabha die von ihm gedachte gesellschaftliche Relevanz von Hybridität als einem ›hybriden Ort des kulturellen Wertes‹, der sich über Transnationalität und Translationalität (Prozess der sprachlichen Übersetzungen und Kommunikation) definiert, auf den Punkt. Infolge dessen benennt Bhabha die Agenda der postkolonialen Theorie als das »[E]r-zwingen«111 der »Anerkennung der komplexeren kulturellen und politischen Grenzen, die am Berührungspunkt jener einander häufig entgegengesetzten politischen Sphären bestehen«.112 Die Radikalität im Ausdruck des »Erzwingens« spiegelt sich bei Bhabha keineswegs durch offen politische oder gar militante Vorstellungen von gesellschaftspolitischer Veränderung. Als radikal kann sein Ansatz insofern verstanden werden, als dass er in seinem Werk theoretisch wie empirisch durch Dekonstruktion und Neukonstruktion von Ideen, von Denk-traditionen, von dem Subjekt als psychologischem Wesen, von gesellschaftlicher Macht und Autorität, von Kultur und Sprache eine strategische Erschütterung der ›Wurzel‹ menschlicher Interaktion vorführt, um in diesen Brüchen Möglichkeiten der Handlungs-
109 110 111 112
Bhabha 2000: 261. Bhabha 2000: 258. Bhabha 2000: 258. Bhabha 2000: 258.
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macht zu demonstrieren. Dieser logischen Reihenfolge wird auch die Rekonstruktion von Bhabhas hybridem Schreibprojekt in diesem Kapitel entsprechen.
Bhabhas Verschiebung des Post-(Diskurses) Bhabha positioniert sich im Anschluss an Stuart Halls Frage danach, wann der Postkolonialismus war, und der damit einhergehenden Debatte um das doppelte Moment von diachroner (chronologisches »Nach«) und synchroner (im epistemologischen Sinne als »fortwährende Kritik/Widerstand«) Geschichtsauffassung, als Vertreter der letztgenannten Perspektive. Sein theoretisches wie praktisches Eintreten für ein synchrones Verständnis von Geschichte und Theorie spiegelt sich vor allem in seinem Konzept der Hybridität wider. »Unser Dasein ist heute […] geprägt, an einem Leben an den Grenzen der ›Gegenwart‹, für die es keinen anderen Namen als die geläufige und kontroverse Instabilität des Präfixes ,Post‹ zu geben scheint: Postmoderne, Postkolonialismus, Postfeminismus«.113 Die Verschiebung der Präfix »Post« findet in Bhabhas Logik dadurch statt, dass er die erste Auffassung (Geschichte als chronologischer Ablauf und abgeschlossene Ereignisse) nicht als gleichberechtigte Sicht neben der synchronen und epistemologischen stehen lässt, sondern als Problem behandelt, das zu überschreiben sei. Dem doppelten Moment des ›Post‹ wird durch Dekonstruktion und Neukonstruktion begegnet. Sein Vorgehen ist insofern durch eine kritische Dekonstruktion von ›feststellenden‹ Denkweisen in Theorien, Geschichte, Nation, Identität und Kultur vor dem Hintergrund hegemonialpolitischer Strukturen geprägt.114 Ein anderes Moment des »Post« kann durch Bhabhas Begriff des »Darüberhinaus« herausgestellt werden, welches auf Grundlage postmoderner und poststrukturalistischer Theorien das Erschaffen von Neuem im Sinne der emanzipativen Handlungsmacht in den Vordergrund stellt. Für Bhabha ist das »rastlose« Potenzial des »Post« selbst in postmodernen Konzepten nur dann nicht unterdrückt, wenn es als Bild des »Darüberhinaus« schafft, die »Gegenwart in einen erweiterten und ex-zentrischen Ort der Erfahrung und Machtaneignung zu verwandeln«.115
Hybridität als Dekonstruktion und Destabilisierung der theoretischen Grundfeste Die »kritische Denkhaltung«116 postkolonialer Perspektiven, wie z.B. Bhabhas, Spivaks, Halls und anderer, hat auch in den durch Menschen verursachten Ka-
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Bhabha 2000: 1. Dieses Vorgehen ist an Derridas Methode der Verschiebung angelehnt, die Bhabha wiederum in seinem Kapitel DissemiNation auf die Verschiebung des nationalistisch orientierten Denkens bezieht (vgl. Bhabha 2000: 207ff.) Bhabha 2000: 6. Struve 2013: 16.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
tastrophen des 20. Jahrhunderts einen gemeinsamen Gegenstandshorizont mit Ansätzen der Postmoderne, des Poststrukturalismus und der Frankfurter Schule. Mit Bezug auf Stuart Halls Äußerung, dass »materielle Interessen für sich genommen noch keine Klassenzugehörigkeit definieren«117 , zieht Bhabha zwei Schlussfolgerungen: Zum einen seien Akteure politischer Veränderungen »als diskontinuierliche, gespaltene Subjekte zu sehen, die in widersprüchlichen Interessen und Identitäten gefangen sind«118 . Zum anderen zeige der Einzug des Thatcherismus bei der Bevölkerung, dass sich die Bevölkerung mehrheitlich durch die Betonung von Elementen der Trennung und Unterscheidung, als von solidarisierenden Aspekten angesprochen fühlt. Den Effekt der Betonung von Differenzen sehen Bhabha und Hall in der Gefahr, in eine Aporie zu münden, die das politische Urteil dahingehend beeinflusse, dass in Fragen zum Beispiel danach, was für die arbeitende Frau an erster Stelle stehe, das heißt, welcher dieser Identitäten sie den Vorzug geben wolle, eine Unentscheidbarkeit entstünde.119 Dieser von Aporie bestimmte Boden der Differenz sei demnach offen bzw. anfällig für einen »durch eine politische Technologie der Produktion von Bildern bewirkten Prozess der symbolischen Identifikation, der im Kampf um Hegemonie einen sozialen Block der Rechten und Linken hervorbringt«.120 In Anlehnung an die Analyse Halls zu Effekten und Mechanismen der Spaltung und Differenzziehung im Prozess der politischen Produktion von Bildern sieht Bhabha nicht nur die Heterogenität innerhalb der sozialen Blöcke, sondern auch das Hervorbringen von Hegemonie im Prozess der Differenzierung und Iteration. Diese kennzeichnen sich durch das Erzeugen alternativer und antagonistischer Bilder die immerzu nebeneinander und in Konkurrenz zueinander produziert und (über die daraus hervorgehenden Signifikationen) eine Politik des Kampfes um Identifikationen provozieren würden. Bhabha verweist hier auf Antonio Gramscis Ausführungen zu einem »Stellungskrieg«, der im Sinne einer kulturellen und politischen Hegemonie für die Produktion von politischen Bevölkerungsschichten Methoden der Iteration und Alterität benötige. Bhabha rekurriert weiter auf Gramsci mit der These, dass ein solcher symbolisch-sozialer Block sich für eine progressi-
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Hall in Bhabha 2000: 44. Bhabha 2000: 44. Aktuell wird dieses Dilemma in der deutschen Gesellschaft virulent zum Beispiel über die Debatte um einen antiislamischen Feminismus (um Alice Schwarzer, der islamfeindliche und nationalistische Argumentationslogiken vorgeworfen werden) und der betont prinzipiell antirassistischen Haltung in den Gender Studies um Judith Butler (Vgl. dazu auch den Artikel: h ttps://www.zeit.de/2017/32/gender-studies-feminismus-emma-beissreflex). Zudem vgl. auch die Rhetorik der lesbisch lebenden Alice Weidel von der AfD vor den Hintergrund nationalfeministischer Argumentationslinien. 120 Bhabha 2000: 44.
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Zugänge zu Hybridität
ve Regierungsbildung in einem »solidarisch kollektiven Willen – einem modernen Bild der Zukunft – darstellen«121 solle. Bhabha macht seinen Ansatz der theoretischen, politischen und kulturellen Verhandlung unter anderem am Beispiel seines Umgangs mit Gramscis oben genannten Ausführungen zum Erlangen politischer und kultureller Hegemonie deutlich. Zunächst macht er seine Beurteilung der Argumentation Gramscis sichtbar, indem er die beiden Oben genannten Gegebenheiten als unabdingbar bezeichnet, jedoch einwendet, dass diese sich nicht umstandslos auseinander ergeben. Die Repräsentationsform (ein symbolischer sozialer Block in einem solidarisch-kollektiven Willen) und die Zeitlichkeit (ein modernes Bild der Zukunft) seien bei beiden jeweils verschieden. Gramscis Argumentationslogik sieht Bhabha zwar nicht als Widerspruch in sich, vielmehr verdeutlicht er daran sein eigenes Lesen gegen den Strich. Er behauptet, dass mit einem Fokus auf das »Dazwischen« der Zeilen und Argumente die Probleme der Identifikation und Urteilsfähigkeit im politischen Artikulationsraum sichtbar werden.122 Bhabha verortet seine Position dabei in der Verhandlung dieser konstruierten Logiken durch »vorerst« Fragen an diese Position. Bhabha stellt eine Form der Verhandlung mit dem Ansatz (dekonstruktiver) Fragen an diese Gedanken Gramscis vor, indem er, wie in einem offenen Brief, Fragen an dessen Position stellt. Als performativer Akt der Verhandlung fragt er zum Beispiel nach Möglichkeiten der Repräsentierung eines kollektiven Willens von gespaltenen Subjekten, nach ihren differenten sozialen Bewegungen und ihren ambivalenten Formen der Identifikation. Des Weiteren fragt Bhabha nach Implikationen einer auf dem rationalistischen Erbe der Aufklärung fußenden »modernen Zukunft« vor dem Hintergrund zeitlicher und situationaler Veränderungen.123 Zusammenfassend kann herausgestellt werden, dass Bhabha (am Beispiel des Thatcherʼschen Erfolgs in Großbritannien) den Erfolg der Instrumentalisierung von Differenz und dem Schüren von Konkurrenz (im Sinne der Spaltung und Identifizierung) für das Vorantreiben einer politischen Agenda beobachtet.124 Mit dem Bewusstsein der (ideologisch vereinnehmenden) Effektivität von Bildern in der Produktion von Identifikation wendet sich Bhabha in Anschluss an Laclau und Mouffe und an ihren Versuch, Hegemonie zu verstehen, der Sprache des Diskurses und der Textualität sowie der Derridaʼschen différance und der prinzipiellen Frage von Äußerungsmodalitäten und der damit einhergehenden Macht der Verhandlung zu.125 121 122 123 124
125
Bhabha 2000:44. Vgl. Bhabha 2000: 44. Vgl. Bhabha 2000: 45. Mit Adorno könnte man einwenden, dass eine solche Strategie auf Kosten einer ›falschen‹ Identifizierung gehen würde, die Solidarität nicht als Ausdrucksform von differenzierter Einsicht in politische Zusammenhänge versteht, sondern als eine dialektische Überwindung von Differenz und Ambivalenz als Formen sozialer Teilhabe zu einem ›Block‹. Vgl. Bhabha 2000: 45ff.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
In seinem Schreiben gegen Essenzialismen und Sinnfestlegungen bezieht sich Bhabha auf Gayatri C. Spivaks Verhandlung der postkolonialen Position als sinnvolle »Umkehrung, De-platzierung und Eroberung des Apparates zur Kodierung von Werten«126 . Er selbst vollführt diesen Ansatz durch eine katachretische Lektüre, welche im Schaffen produktiver Missverständnisse die »Handlungsmacht des sozialen Textes«127 zu demonstrieren bestrebt ist. Karen Struve umreißt dies so: »Diese ›Biegsamkeit‹ von Ideen und Konzepten ist Bhabhas Arbeitsgrundlage für den Umgang mit Referenz – aber auch seinen eigenen Texten«.128 Die Metapher der »Biegsamkeit« ist in der Tat eine, die Bhabhas Anders-Lesen und Neu-Schreiben von Begriffen, Ideen und Theorien bis zu einem bestimmten Grad gut beschreibt. In dieser Logik zeigt sich auch Bhabhas Auswahl an theoretischen Untersuchungsgegenständen, zum Beispiel postkoloniale, postmoderne und poststrukturalistische sowie psychoanalytische Ansätze. Die Erweiterung seiner postkolonialen Perspektive um die oben genannten erklärt Bhabha mit der Limitiertheit der großen verbindenden Geschichten vom Kapitalismus und Klasse, die aus marxistisch-materialistischer Perspektive die »Motoren der sozialen Reproduktion«129 beschrieben, jedoch keinen grundlegenden Rahmen böten für politische Haltungen und kulturelle Identifikation, die Themen wie Feminismus, Rasse, Sexualität, soziale Schicksale von AIDS-Kranken oder die Lebenswelt130 von Migranten und Flüchtlingen betreffen.131 Das von ihm behandelte Material besteht insofern nicht nur aus der spezifisch verwendeten Theorieauswahl, sondern auch in Untersuchungsgegenständen wie literarischen Texten, Kunstprojekten und Zeitzeugenaussagen zu historischen und zeitgenössischen Politiken der Vertreibung, Diskriminierung und Zerstörung sowie auch zu Geschichten des Widerstands. Gerade für das Aufzeigen des Widerstands als Potenzial von Handlungsmacht sieht Bhabha die Notwendigkeit postmoderner und poststrukturalistischer Theorieansätze, da sie jenseits traditioneller Kategorien und Antagonismen Phänomene des Zwischenraums zulassen. Dieser Kontext verweist wiederum auf Bhabhas Vorstellung von Widerstand. Bhabhas Schreibprojekt zeichnet sich dabei nicht nur durch die oben genannte Auswahl an Untersuchungsgegenständen und Theorien aus, sondern auch durch sein Vorgehen in einem ausgewiesenen ›Lesen gegen den Strich‹ und durch ein
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131
Spivak in Bhabha 2000: 274. Bhabha 2000: 274. Struve 2013: 18. Bhabha 2000: 8. Diesen Ansatz verdeutlicht Bhabha durch die Distanzierung vom Verständnis des ›post‹modernen Zelebrierens der Fragmentierung großer Geschichten des Rationalismus, oder des nächstfolgenden Schrittes im Sinne des Nach-Feminismus oder des Gegensatzes als AntiModern usw. Vgl. Bhabha 2000: 8.
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kulturell-politisches Schreiben, das in dekonstruktivistischer Manier Inhalte und Bedeutungen verschiebt und neu einschreibt.132
Ein »spezifisches« In-Verhältnis-Setzen Die Hybridisierung der von Bhabha verwendeten Theorien zeigt sich an drei kurzen Beispielen auf formaler und semantischer Ebene: (1.) Formalsprachlich und inhaltlich werden postmodernes Denken und poststrukturalistische Theorien von Bhabha immer wieder wie selbstverständlich synonym verwendet.133 Soweit könnte man Bhabha eine theoretische Schwäche vorwerfen, doch an anderen Stellen weist er (2.) sein Wissen um szientistische Logik und die kritische Erweiterung dieser als Vorgehen aus, wenn er die Begriffe Postkolonialismus und Postmoderne über eine deutliche Abgrenzung in ihrer Differenz expliziert. Hierfür hebt er unter anderem die politische Dimension postkolonialer Ansätze hervor, die sich nicht in ästhetischen und formalen Spielereien, bricolage oder dem »Feiern von Fragmentierung«134 erschöpften. In einem weiteren Punkt stellt Bhabha, (3.), den Postkolonialismus und den Poststrukturalismus in ein dezidiert »spezifisches«135 Verhältnis. Bhabha betont dabei, dass er dem Poststrukturalismus und der Postmoderne absichtlich eine spezifisch postkoloniale Herkunft zukommen lasse.136 Mit dem Blick auf seine Kritik an hegemonial konstituierten Diskursen kann man den Satz als Verdeutlichung einer »spezifisch[en]«137 Umkehrung des eurozentrischen Theorieflusses lesen. Allein auf die Frage danach, wer wen in Theorie und Praxis beeinflusste, öffnet sich ein erkenntnistheoretischer Raum, der Aspekte der Verflechtung von Geschichte und Ideen sowie hegemoniale Ansprüche darauf dekonstruiert. Am oben genannten Beispiel von Bhabhas Verwendung von Postkolonialismus, Postmoderne und Poststrukturalismus wird sein Lesen und Schreiben von Ideen, Konzepten und Begriffen deutlich138 . Über ihre (nicht hierarchisch zu verstehende) Nummerierung, nämlich 1. Synonymisierung, 2. Differenzierung und Abgrenzung und 3. Differenzierung durch In-Verhältnis-Setzung und Umkehrung der dominanten eurozentrischen Rezeptionserwartung, demonstriert er die verschiedenartigen und sich teilweise widersprechenden In-Verhältnis-Setzungen. Die gedankliche Nähe, Nachbarschaft und seine In-Verhältnis-Setzung dieser Theoriestränge beschreibt Bhabha wie folgt:
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Vgl. Bhabha 2000: 275. Vgl. Bhabha 2000: 88ff. Bhabha 2000: 357. Bhabha 2000: 17. Vgl. Bhabha 2000: 95 und 262. Bhabha 2000: 95. Vgl. Hárs: 121ff.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
»Die Art und Weise, wie ich die poststrukturalistische Theorie postkolonial wende, ergibt sich aus dieser postkolonialen Gegenmoderne. Ich versuche darzustellen, wie der ›Westen‹ mit seiner Autorisierung der ›Idee‹ der Kolonisation gewissermaßen, und möglicherweise sogar zwangsläufig, gescheitert ist. Indem ich meine Inspiration weniger vom Scheitern des Logozentrismus als von der subalternen Geschichte der Ränder der Moderne beziehe, habe ich versucht, zumindest in kleinem Maßstab das Bekannte zu revidieren, das Postmoderne aus der Position des Postkolonialen neu zu benennen«.139 Bhabha führt seine postkoloniale Perspektive auf Lyotards Projekt der Postmoderne als Teil der Moderne zurück, die im Sinne einer immerwährenden gegenmodernen Kritik und Widerstands am Werke war. Postmoderne, poststrukturalistische und psychoanalytische Theorieansätze bilden den Haupttheorierahmen von Bhabhas postkolonialer Perspektive. Sie bieten ihm differenz-, macht- und sprachphilosophische Zugänge zu Problematiken von Subjektivierung, Macht und Sprache. Psychoanalytische Ansätze des Un-heimlichen bei Freud und Lacan stützen dabei Bhabhas Vorstellung von Identifikationsprozessen über Instabilität und interner Differenz, während diskursanalytische Einwände und Kritik an Machtmechanismen auf Ideen von Michel Foucault gestützt werden, um den Machtradius kolonialer Autoritäten zu diskutieren. Eine wichtige Referenzquelle von Bhabhas Denken bildet vor allem Jacques Derridas Konzept der »différance« und der Dekonstruktion, die er entlang postkolonialer Denker wie Frantz Fanon, Edward Said, Fredric Jameson und anderen liest.140 Dass die Auswahl und der Umgang mit den oben genannten Theorieansätzen so vielfältig wie different (sogar widersprüchlich) sind, kann mit Blick auf Bhabhas Konzept der Hybridität als logisch konsequent verstanden werden. Das Potenzial des Hybriden zeigt sich dabei sowohl in der Differenz des Materials als auch in dem hybriden Ort, der damit geschaffen wird und eine Demonstration der Handlungsmacht von Subjekten sein kann. Wie dieses Vorgehen vor dem Hintergrund seiner politischen Agenda des »theoretischen Engagements« zu seiner Vorstellung des Politisch-Seins passt, verdeutlicht Bhabha in der folgenden Aussage: »Hybridität setzt das Projekt des politischen Denkens in Gang, indem sie ihm ständig die Probleme der Strategie und Kontingenz, das Entgegenstehende Denken seines eigenen Ungedachten vor Augen führt«.141 Bhabha stellt hier nicht nur seine inter139 Bhabha 2000: 261f. 140 Eine dezidierte Darlegung der Prämissen und Ansätze der jeweiligen Theorien wird in diesem Buch nicht erfolgen. Teilweise sind Kontexte dessen im zweiten Hauptkapitel zu entnehmen. Im Folgenden wird Bhabhas spezifische Umsetzung dieser im Rahmen seines Schreibprojektes diskutiert. 141 Bhabha 2000: 96.
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venierende Vorstellung eines politischen Denkens weiter vor, sondern schreibt Hybridität eine dezidiert politisierende Rolle zu. Durch ihre Existenz (als Konzept) und Vorgehen würde Hybridität Probleme der Strategie, der Kontingenz und des Ungedachten vor Augen führen und ein Denken »in Gang« setzen, das Bhabha zufolge als politischer Akt zu verstehen sei. Aus dieser Analyse wird immer deutlicher, dass Bhabhas Konzept der Hybridität eine dezidiert politisch ›engagierte‹ Agenda hat. Außerdem wird allerdings deutlich, dass seine Vorstellung von Politik sich inhaltlich von traditionellen Vorstellungen unterscheidet und dass seine dekonstruierende und verflechtende Vorgehensweise im Umgang mit Theorien den Blick von Hybridität als Begriff auf eine Methode der Hybridisierung verlagert. Im folgenden Kapitel werden weitere Gegenstandsbereiche vorgestellt, über die Bhabha sein Konzept der Hybridität inhaltlich füllt und differenziert, indem er in gewohnter Manier bestehende Ansätze zu etwas Neuem hybridisiert.
3.3.3.
Verbundenheit in der Fragilität
Die westliche Psychoanalyse, die sich Bhabha zufolge mitnichten mit dem kolonialen Subjekt beschäftigt habe,142 biete durch ihre Ansätze zu Angst vor dem Fremden als etwas Unheimlichen und der darin enthaltenen internen Brüchigkeit und Instabilität Zugänge zu einem kolonialen Subjekt, das jenseits von Metaphern von Opfer und Täter, Herr und Knecht, Kolonisator und Kolonisierter angesiedelt sei. Zu erkennen an seiner primären Aussage zur kolonialen Ignoranz der Psychoanalyse ist Bhabhas Akt der aktiven Verflechtung dieser unterschiedlichen Disziplinen jenseits einer dichotomisierenden Haltung des ›The West And The Rest‹ (Hall) bzw. dem Erkennen der immer schon bestehenden Verflechtung (bzw. der immer schon bestehenden Hybridität). Von einer Differenz, in diesem Fall der internen Differenz eines Menschen, geht Bhabha aus, wenn er die Frage der kulturellen Hybridität an die metaphorische Dialektik des ›Heims‹ und ›Unheimlichen‹ nach Freud anbindet. Ausgehend von Freuds Kritik an der Identität mit sich selbst, am »Sich selbst-gegenwärtigSein, dem »Sich-selbst-Innehaben«, beschreibt Freud das Unheimliche als alles, »was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist«143 . Die Unheimlichkeit dieses Umstandes kann darin liegen, dass zwei scheinbar getrennte Sphären Teile des anderen enthalten. Bhabha beschreibt die freudsche »Unheimlichkeit« (unhomeliness) als eine »De-Platzierung«144 , bei der die Grenzen zwischen Heim und Welt ebenso verschwimmen wie die Grenzen zwischen dem Privaten
142 Vgl. Byrne und Bhabha 2009: 141. 143 Freud 1919: 236. 144 Bhabha 2000: 14.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
und dem Öffentlichen und drängen uns demnach eine Sichtweise auf, die »gespalten und desorientierend«145 ist. Es ist ein Moment der Offenbarung der eigenen Gespaltenheit. Man wird sich nicht nur über das Drängen des verborgenen Geheimnisses an die Oberfläche bewusst, sondern auch darüber, dass das Subjekt die Trennung der Sphären nicht (immer) kontrollieren kann und einen Moment des Kontrollverlustes und der Entfremdung von sich selbst erlebt. Der Mensch entdeckt einen unheimlichen Ort in sich, in dem das Altvertraute durch den Akt der Verdrängung zu einem fremden Unbewussten wird. Das Subjekt begegnet im Raum des Unbewussten der eigenen internen Differenz und Fremdheit, die sich jedoch als »entstellende Umschrift des Bekannten, Heimischen entpuppt«.146 Der unheimliche Ort muss zwangsläufig als zum eigenen angehörig akzeptiert werden und bringt gerade durch diese Irritation bzw. diesen Bruch der eindeutigen Sphären Neues und Altes über uns selbst hervor. Aufbauend auf diesem Gedanken der internen Differenz und des Unheimlichen im Subjekt selbst führt Bhabha Lacans poststrukturalistisch psychoanalytische Vorstellung einer identifikatorischen Instabilität an. Lacan verschiebt den Blick von der internen Differenz zu ihren Bedingungen, indem er den menschlichen Prozess der Identifizierung als Grund für die Entstehung dieser Bedingungen heranführt. Lacan zufolge kann Identifizierung nur über die Integration des Konzeptes des Anderen in das Selbst stattfinden.147 Der Andere ist somit kein fremdes Element einer fremden Welt, sondern vielmehr ein unabdingbares Element des primären Identifikationsprozesses. In dieser Logik kann der Andere nicht über die Abgrenzung erfasst werden, sondern nur als Teil des Selbst. Ein Aufrechterhalten von stabilen kulturellen Differenzen wäre demnach durch den fortwährenden (unabgeschlossenen) Identifikationsprozess nicht möglich. Dieser Logik folgt zudem die Negation von (abgeschlossenen) Entitäten, da die Abhängigkeit von Beziehungen und die Gerichtetheit auf ein Anderes im Prozess der Werdung im Fokus dieses Denkens steht148 . Bhabha verwebt diesen psychoanalytisch poststrukturalistischen Ansatz mit der Lektüre des postkolonialen Denkers Fredric Jameson von Joseph Conrads kolonialem Text Lord Jim (1899). Daran kennzeichnet Bhabha ein Lesen gegen den Strich, das sich zum Beispiel in der Beschäftigung mit dem Satz äußert: »›Er ist einer von uns‹«.149 In seinem literaturanalytischen Lesen der Lektüre bezeichnet Bhabha den Satz als eine der wichtigsten Tropen der sozialen und psychischen Identifikation. Er begründet dies damit, dass die »den gesamten Text durchzie-
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Bhabha 2000: 14. Bronfen in Bhabha 2000: X. Vgl. Zizek 2011 und vgl. Struve 2013: 23ff. Vgl. Lacan 1957: 182ff. Bhabha 2000: 260.
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Zugänge zu Hybridität
hende Wiederholung des Satzes«150 »die fragilen Randbezirke der Konzepte westlicher Bürgerlichkeit und Kulturgemeinschaft [enthüllt], wenn sie der Spannung der Kolonialsituation ausgesetzt sind«.151 Das Problem manifestiert sich in diesem Satz durch mindestens zwei Momente: Einmal dem Moment der Identifizierung des Anderen mit einer Gruppe und nicht einem Subjekt. Das zweite Moment ist die Identifizierung des Anderen mit einer Gruppe, die in ihrer Konstitution bereits Bestand hat und wirkmächtig ist. Eine Identifizierung mit dem Anderen durch eine Gruppe weist die Ambivalenz aus, dass einerseits die Zugehörigkeit erkannt wird, andererseits die Frage von Macht und Autorität in der (Performativität der) Bestimmung des Anderen (vor allem aus der Wir-Gruppe) eine tragende Rolle spielt. Dies führt Bhabha vor, indem er betont, dass die Zugehörigkeit jederzeit wieder entzogen werden kann durch die Aussage »Er ist keiner von uns«. Damit wäre die exkludierende Gruppe nicht wesentlich destabilisiert und hätte in dieser Performanz an Macht gewonnen. Eine Begegnung würde in einer Eins- zu- EinsSituation allein schon aufgrund der körperlichen Verletzlichkeit und der internen Differenz (Möglichkeiten einer psychischen Destabilisierung) Möglichkeiten eröffnen, die bestehende Machtasymmetrien etwas ausgeglichener darstellen würde. Die Hybridität des Subjekts zeigte sich in dieser Hinsicht über seine prinzipiell interne Differenz und der Handlungsmacht im Schaffen von Räumen mit flacheren Machtasymmetrien. Dies hätte folglich Auswirkungen auf weitere Verhandlungen über bestehende Situationen. Es seien die »Diskontinuitäten, Ungleichheiten, Minderheiten«,152 so Bhabha, durch die unsere unmittelbare Selbstpräsenz und unser öffentliches Bild erst nach außen dringen und sichtbar werden würden. Durch die gespaltene bzw. unheimliche Verbindung von Psyche und Gesellschaft, Privatem und Öffentlichem, Vergangenheit und Gegenwart könnten diese nicht mehr wie so oft als binäre Trennungen sozialer Erfahrungen aufrechterhalten werden, sondern als Raum der »ZwischenIntimität«.153 Durch das Bild der »Zwischen-Intimität« schlägt Bhabha eine übertragende Brücke zwischen dem Heim und der Welt. Die freudsche Dialektik des Heimischen und Unheimlichen, des Bekannten und Fremden wird von Bhabha vor dem Hintergrund machtpolitischer Rahmungen durch seine Unumgänglichkeit und Unauflösbarkeit über den Begriff der Ambivalenz gefasst. Die Metapher der Differenz des Fremden und der Differenz wird so aus dem psychoanalytischen Denkapparat auf die Erfahrung »menschlicher geokultureller Räume«154 übertragen, verschoben und politisiert.
150 151 152 153 154
Bhabha 2000: 260. Bhabha 2000: 260. Bhabha 2000: 6. Bhabha 2000: 20. Bronfen in Bhabha 2000: X.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Vor dem Hintergrund seiner spezifischen politischen Agenda zu Fragen um kulturelle Differenz im Kontext der Kolonisierung und Migrationsgesellschaften überträgt Bhabha mit Rekurs auf Fanon, Freud und Lacan den Aspekt der rassistisch und hegemonial begründeten Differenz auf die interne Differenz des Menschen in seiner psychischen Instabilität und Abhängigkeit vom anderen.155 Kennzeichnend für Bhabhas Vorgehen ist somit die Verlagerung des bisherigen Diskurses von der Frage der Opfer-Täter-Rollen zu einer prinzipiellen Gemeinsamkeit der menschlichen Gattung, die sich durch ihre Instabilität und Vulnerabilität ausdrückt. Im Sinne von Bhabhas Verständnis des Politischen liegt im Moment des fragilen Subjekts etwas Entwaffnendes, das den Anderen nicht nur über den machtpolitischen Rahmen einordnet und beurteilt, sondern (zudem) als Mensch mit seinen internen Differenzen. Eine intersubjektive Begegnung könnte auf dieser Grundlage neue Arten der Kommunikation und ›Verhandlung‹ bieten. Der Ansatz über das Fragile des Subjektes offenbart über die leiblich psychologische Dimension das verbindende Moment zwischen Subjekten. Über Bhabhas Ansatz hinaus kann Fragilität aber auch darauf aufmerksam machen, wie sehr selbst diese letzte Fragilität und Vulnerabilität, bedingt durch materielle Differenzen, sich unterschiedlich auswirken kann. Als kleinster gemeinsame Nenner der Fragilität bleibt der Fakt der globalen Klimakrise.
3.3.4.
Hybridität als Konstitution des Subjekts im Spannungsfeld machtvoller Diskurse
Dass Bhabhas Verwebung von Theorieansätzen nicht durch ein Feiern der Fragmentierung motiviert ist, sondern als Argumentationsstütze rund um Fragen nach Handlungsmöglichkeiten und Widerstand im Angesicht von Macht und Autorität in der Gesellschaft dient, zeigt sich in seinem an Foucault angelehnten Ansatz der Offenlegung von Diskurs- und Machtmechanismen.156 Bhabhas diskursive Prämissen beruhen auf Foucaults Distanzierung vom Subjektbegriff sowie auf der Darlegung sprachlicher Strukturiertheit von epistemologischen Ordnungen und leiten den Fokus auf Diskontinuitäten und Brüche in Systemen. Auf diese theoretischen Herleitungen Foucaults stützen Positionen (wie vornehmlich die von Edward Said und Homi K. Bhabha) die Kritik an hegemonialen Geschichtskonstruktionen und der Autorisierung von Gewalt über epistemologische Mittel. Bhabha nutzt die Diskursanalyse zur Offenlegung von Ausschluss- und Einschlussmechanismen, die
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Vgl. Bhabha 2000: 132ff. Foucault beschreibt den Diskurs als Zusammenhang von legitimierter Rede und einer sich durch Machtgefälle und Hierarchisierungen charakterisierende Wissenssystematik (vgl. Fink-Eitel 1992 in Struve 2013: 20).
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Zugänge zu Hybridität
über die machtvolle Herstellung von Bedeutungen ermöglicht sind. Bhabhas Denkweise kennzeichnet sich darüber hinaus dadurch aus, dass er an diesem Punkt nicht stehen bleibt, sondern den dekonstruktivistischen Ansatz Derridas zum Anlass nimmt, um Strukturen nicht nur als ideologische Konstruktionen zurückzuweisen, sondern diese auch als Gelegenheit der entlarvenden Dekonstruktion dieser und vor allem als Möglichkeit einer Neueinschreibung von Bedeutung zu nutzen. Im Folgenden wird Bhabhas Verflechtung der oben ausgeführten Ansätze (der Psychoanalyse, der Frage von Macht und Autorität nach Foucault und dem Dekonstruktivismus Derridas) am Beispiel seiner Ausführungen zu Hybridität diskutiert. Ähnlich wie bei den oben erläuterten Begriffen Postmoderne, Poststrukturalismus, Postkolonialismus weist sich Bhabhas inhaltliches und formales Vorgehen (auch) in der Verwendung von Hybridität in konsistenter Weise als vielfältig, different und bewusst verflechtend aus. Während er Hybridität in seinen Werken zumeist wie selbstverständlich als Attribut verwendet und ihr einerseits kein wissenschaftliches oder historisches Gepäck zugesteht, umrahmt er Hybridität semantisch und formalsprachlich unter anderem wie folgt: »Der Begriff Hybridisierung nimmt zwar Bezug auf die Verfasstheit des Subjekts, es geht dabei aber nicht um die Konstitution von Subjektivität als solcher, sondern um die Konstitution von Subjektivität im Spannungsfeld von Macht und Autorität«.157 Zunächst fällt das für Bhabhas Vorgehen typische Sprachspiel in der Begrifflichkeit »Hybridisierung« auf. Der Begriff der Hybridität wird von Bhabha nicht als bloßes Substantiv verwendet, viel mehr zeigt er in der Verwendung des Begriffs als substantiviertes Verb bereits seine ›Anwendung‹ hin zu einer uneindeutigen Mischform im Sinne eines Verbs und eines Substantivs zugleich. So erhält der Begriff der Hybridisierung durch das Substantiv die festgeschriebene Form und durch das Verb die tätige und im Werden begriffene Form einer programmatischen Differenz, die Bhabha im Weiteren inhaltlich erläutert. Bhabha räumt ein, dass die Hybridisierung zwar einen Bezug zur allgemeinen Annahme hat, dass es hierbei um die Verfasstheit des Subjekts gehe. Doch gehe es nicht um die reine Beschreibung der »Konstitution des Subjekts als solcher«,158 sondern seiner Konstitution in einem sogenannten Spannungsfeld von Macht und Autorität. Hybridität wird also zum einen in ihrem prozessual methodischen Charakter repräsentiert, zum anderen werden in diskurstheoretischer und poststrukturalistischer Manier einige sie bedingende Aspekte in ihre Begriffsbestimmung hineingelegt, wie die Bedeutung und Rolle von Macht und Autorität.
157 158
Bhabha 2012: 61f. Bhabha 2012: 61f.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Die Konstitution des Subjekts Bhabha lenkt die Frage der Identität des Subjekts als Ontologie in Richtung einer Konstitution des Subjekts als doppelten Moments der Verfasstheit und Konstruktion des Subjekts. So deutet er auf eine Konstitution des Subjektes hin, die nicht einen Status quo beschreibt, sondern vor allem auch durch Andere gestaltet wird. Bhabha geht mit Verweis auf Foucault einen Schritt weiter in seiner Argumentation, indem er auf die Verfasstheit und Konstruktion des Subjektes deutet, welche nicht im luftleeren Raum, sondern in hierarchisch strukturierten Räumen stattfinden. In diesem logischen Strang bleibt Bhabha, wenn er das Subjekt in seiner Konstitution nicht nur Feldern von Macht als ›unsichtbarer‹ Disziplinarmacht ausgesetzt sieht, sondern hervorhebt, dass das Subjekt sich gleichzeitig innerhalb dieser Machtzentren verhalten muss. Die Verbreitung der Macht zeigt sich im davon durchdrungenen Körper des Individuums, dem Gesellschaftskörper, wie auch allen gesellschaftlich vermittelten Beziehungen, die sich nicht nur in seiner Konstitution widerspiegeln, sondern auch diese konstituieren.159
Flirten mit der Macht Kennzeichnend für Bhabhas Schreibmethode und auch die Agenda seines Schreibens ist der folgende Satz am Beispiel des Machtbegriffs, wie im Folgenden sprachanalytisch erläutert werden wird. Ihm zufolge ist es nämlich ohne die Problematisierung des Subjektbegriffs »unmöglich zu erkennen, wie Macht produktiv als erregende und versagende Instanz zugleich funktioniert«.160 Bhabha beschreibt zu Beginn die Notwendigkeit, einen scheinbar feststehenden Subjektbegriff zu problematisieren, um dann herauszustellen, dass die Problematisierung als aktiv tätiges Mittel der Wahl an der konstituierten Struktur des Subjekts rütteln kann. Und nur in der Folge dieses Vorgehens können die Einzelteile dieser Konstitution erkannt werden. Ein Teil davon ist zum Beispiel die Macht als »Instanz«. Diese Instanz steht zudem in einem produktiven Verhältnis zum Subjekt. Das produktive Verhältnis zwischen Macht und Subjekt offenbart sich jedoch erst in seiner ambivalenten Funktion als eine »zugleich […] erregende und versagende Instanz«.161 Bhabha führt seinen Machtbegriff weiter aus, indem er Macht eine »statische Qualität«162 zuschreibt, etwas, das »man hat oder das einem gegeben wird«.163 Der statische Charakter von Macht beinhaltet also nicht die Möglichkeit des selbst Erarbeiteten oder Erworbenen, sondern nur des vorhandenen oder gegebenen Besitzes.
159 160 161 162 163
Vgl. Bhabha 2000: 106. Bhabha 2000: 107. Bhabha 2012: 72. Bhabha 2012: 72. Bhabha 2012: 72.
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Zugänge zu Hybridität
Um wirksam, sichtbar oder »ermächtigt« zu werden, muss sie »mit den Rändern flirten, an denen sie sich befindet«.164 Dieser Aussage Bhabhas zufolge befindet sich Macht an den Rändern (der Gesellschaft) bzw. betrifft Menschen, die in der jeweiligen Situation oder gesellschaftlichen Instanz randständig sind. Zum einen spricht Bhabha diesen Positionen eine prinzipielle Macht zu, zum anderen verweist er auf die Bedingtheit ihres Besitzes. Macht braucht demnach eine performative Demonstration ihrer Ermächtigung, um als mächtig anerkannt zu werden. Wenn man Macht also nicht ausführt, verwirkt man seine Macht. Bemerkenswert ist Bhabhas Ausdruck des »Flirten[s]«, der auf den ersten Blick wenig mit einseitiger Machtausübung zu tun zu haben scheint. Vielmehr verweist dieser Ausdruck einerseits auf einen sehnsuchtsvollen Akt zwischen Menschen, aber auch ein interdependentes Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem, der Macht demonstriert und einem Anderen, der diese Macht erst anerkennen muss. Auch diese Demonstration und Anerkennung von Macht müssen von einer »Temporalität«165 geprägt sein, da sie in ihrer Wirksamkeit sonst erlöschen. Die Bedingungen für die Ermächtigung von Macht liegen also in ihrer Sichtbarmachung, in der Abhängigkeit und Anerkennung dieser durch die Ränder und in der Quantität und Fortdauer der Machtausübung. Als Beispiel zitiert Bhabha den großen afroamerikanischen Schriftsteller, Soziologen und Journalisten W.E.B. du Bois, dessen maßgebliches Mitwirken im frühen Civil Rights Movement in den USA auf Grundlage seiner Analysen der Unterdrückung entlang der Hautfarbe bis heute im Jahr 2020 bittere Aktualität (»Black Lives matter«- Bewegung) beweist. Auf die Frage, ob tatsächlich allerorts und immerzu in den Südstaaten der USA Unterdrückung stattfinden würde, sagte dieser: »Nein, natürlich nicht; nicht allerorts, aber überall, nicht die ganze Zeit, aber jederzeit«.166 Frei nach du Bois gehe es beim Rassismus als einer Form der Machtausübung nicht um Einzelschicksale und einzelne, gesonderte Orte (»nicht allerorts«) oder die Dauerhaftigkeit ihrer tatsächlichen Ausführung (»nicht die ganze Zeit«), sondern um ihre Allgegenwart, die sich »überall« und »jederzeit« ausdrückt. Bhabha schreibt, dass es die darin enthaltene Kontingenz sei, die seiner Auffassung nach als »Scharnier«167 zwischen der Macht und dem Potenzial ihrer Ausweitung auf Autorität fungiere. Die Kontingenz von Macht ermöglicht ihr demnach Legitimation ihrer Autorisierung. Im Aufzeigen der prinzipiellen Instabilität von Konstrukten und
164 165 166 167
Bhabha 2012: 72. Bhabha 2012: 72. Bhabha 2012: 72. Bhabha 2012: 73.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Strukturen macht Bhabha zudem am Beispiel von gesellschaftlichen Minderheiten auf die Macht von De- und Rekonstruktionen aufmerksam. Nun beschreibt Hybridisierung nach Bhabha die Konstitution des Subjekts im Spannungsfeld von Macht und Autorität. Bevor das Spannungsfeld eruiert werden kann, muss der Begriff der Autorität nach Bhabha näher beleuchtet werden.
Autorität Der von Bhabha umrissene Autoritätsbegriff steht in einem direkten Verhältnis zum Machtbegriff und ist bestimmt durch Gegensätzlichkeit und Abhängigkeit. Während Macht als statisch beschrieben wird, ist Autorität etwas, »das verhandelt werden muss«168 . Macht wird erst im Moment ihrer Performativität sichtbar und wirksam, während Autorität sichtbar ist, ob sie nun durch Zertifikate, Abschlüsse etc. auf staatlicher Ebene legitimiert ist oder durch die oben erläuterte Kontingenz von Macht autorisiert wurde. Signifikant ist ihre sichtbare Form, mit welcher sie den Erwerb und die Privilegien gesellschaftlicher Anerkennung demonstriert, wohingegen sie durch diese Sichtbarkeit auch zum Objekt der Verhandlung werden kann. Sie muss ihre Legitimation unter Beweis stellen, wird an allgemeinen Standards gemessen und kann Degradierung und Widerstand erfahren. Vielfach bezieht sich Bhabha in seinem Denken auf Hannah Arendt, wenn er die Verflechtung des Privaten und Öffentlichen anspricht und den Bereich des Politischen eruiert. Die Ambivalenz der Autorität zeigt sich Bhabha zufolge nicht nur durch Gehorsam und Hierarchie, sondern in Anlehnung an Arendt auch immer durch Räume, die sie der Freiheit biete. Wenn Arendt über Autorität sagt, dass es immer ihre Aufgabe gewesen sei, »die Freiheit zu begrenzen und gerade dadurch zu sichern«,169 so macht sie auf Politiken aufmerksam, in denen Freiheit in einem vertraglichen Verhältnis des Geben und Nehmen ausgelegt werden kann. Nach Reichenbach könnte man auch von einer selbstbewussten Entscheidungsfreiheit sprechen, wenn man legitimen Autoritäten Anerkennung schenkt.170 Durch den Autoritätsbegriff erweitert Bhabha die Perspektive von einem Subjekt mit relativ statischer »kultureller Macht«171 auf ein Subjekt, dessen Macht immer auch in Abhängigkeit zu gesellschaftlich bedingten Instanzen neu verhandelt wird. In seiner Argumentationslogik beschreibt Bhabha das Subjekt zuerst als fragiles und konstituiertes Wesen, dass in einem Spannungsfeld von Macht und Autorität nicht nur fremdbestimmt und dominiert wird, sondern prinzipiell Macht besitzt, diese verwirken, ausleben oder hin zur Autorisierung ausdehnen kann, sowie diese als Potenzial des Widerstands und Erschaffung von Neuem nutzen kann.
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Bhabha 2012: 72. Arendt 1955: 162. Vgl. Reichenbach 2011: 20. Bhabha 2012: 62.
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Zugänge zu Hybridität
Durch das Aufzeigen eines Spannungsfeldes, in dem die Konstitution des Subjekts bedingt ist von Macht und Autorität, verweist Bhabha auf Handlungsmöglichkeiten innerhalb dieses Feldes. In der Dekonstruktion und Neukonstruktion der Begriffe Subjekt, Macht und Autorität macht er auf die Einsatzmöglichkeiten innerhalb dieser aufmerksam, die sich über Kritik, Widerstand und neue Räume der Verhandlung ausdrücken können.
Hybride Verhandlungen auf der Basis von Instabilität, Macht und Autorität Für Bhabha sind diese historischen Auszüge Grundlage seiner Herleitung von Hybridität im Kontext von Macht und Autorität in der Geschichte.172 An einer Stelle konstatiert Bhabha die Arbeit mit Archivtexten und Zeugnissen der Zeit, aus denen er nicht nur Begriffe ableitet, sondern vor allem seine Theorie der Hybridität herleitet und zurückbezieht als seine »Methode«173 . Die Methode hat zwar zeithistorische Dokumente als Grundlage, die eigentliche Methode dahinter scheint jedoch ein ›anderes Lesen‹ zu sein. Dabei wird jenseits des Denkens und Lesens in Repräsentationen und der Fetischisierung von Stereotypen174 die Metonymie als Artikulation des »Denkens des Ungedachten«175 vorgestellt. In der »Metonymie der Substitutionskette von ethischem und kulturellem Diskurs«176 findet demnach ein »Prozess klassifikatorischer Vermischung«177 statt. Den Effekt dessen sieht Bhabha in der Spaltung des kolonialen Diskurses, die zwei Haltungen gegenüber der Realität aufzeigt. Während die eine die Realität in Betracht zöge, würde die andere diese verleugnen und »durch ein Produkt des Begehrens«178 ersetzen, wie die Konstruktion von Stereotypen, die auf legitimierte Kategorisierung aufbaut. Bhabha zufolge lässt sich die Produktion kultureller Differenzierung als Zeichen von Autorität definieren. Bei Hybridität handelt es sich somit weder um eine Identität noch um einen Identifikationsprozess an sich. Vielmehr ist es die Betonung eines nicht linear verlaufenden (sogar chaotischen) Prozesses der Identifikation in Verhandlungen mit notwendig Anderen vor dem Hintergrund von Macht und Autorität.179 In einem Interview über kulturelle Hybridität versucht Bhabha das korrelative Zusammenspiel zwischen kultureller Autorität und dem Prozess der Hybridität darzustellen. Er berichtet von christlichen Missionaren im Kontext
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Vgl. Bhabha 2012: 64. Bhabha 2012: 63. Vgl. Bhabha 2000: 134. Bhabha 2000: 134 nach Foucault. Bhabha 2000: 134. Bhabha 2000: 134. Bhabha 2000: 134. Vgl. Bhabha 2012: 66.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
der Kolonialisierung und ihren Versuchen, die Kleinbauern in Indien zu missionieren. Diese hätten selbst keine Macht gehabt, aber sie verfügten über die Autorität der semiotischen Werkzeuge. Sie besaßen diese Werkzeuge, konnten sie einsetzen, um ihre Interessen zu vertreten und konnten sich so mit der Macht der Missionare auseinandersetzen.180 Diese Möglichkeit in Kommunikation zu treten und zu verhandeln ist ein Einsatz des sich auftuenden Dritten Raumes. Bhabha betont, dass es in allen Kulturen gute und schlechte Praxen gibt, Autorität zu etablieren. Auch wenn man in einer zunächst fremden Gesellschaft ausgeschlossen und unterdrückt wird, habe man trotzdem die Möglichkeit, die kulturellen Autoritätsverhältnisse umzudrehen, einiges von ihnen anzunehmen und anderes wiederum abzulehnen. Hierdurch kommt es nach Bhabha zur Hybridisierung der Symbole der Autorität,181 wenn er aus seiner archivarischen Arbeit mit Missionarstexten des 19. Jahrhunderts in Indien zitiert, wie die ›Einheimischen‹ sagen: »Danke, was ihr sagt ist vollkommen richtig, euer Gott ist wundervoll und gütig, […] wir würden sehr gerne übertreten […] aber trotz alledem können wir nicht. Ihr esst Fleisch und das Wort Gottes kann nicht aus dem Mund von Leuten kommen, die Fleisch essen«.182 Die von Bhabha herausgestellte Macht, Dinge nur teilweise anzunehmen und andere zurückzuweisen und somit einer vollständigen Assimilation zu widersprechen, veranschaulicht die Basis jener Verhandlung, die im Moment der Vertretung von Interessen, Macht und Autorität gegenüber einem anderen eine Instabilität und Verunsicherung beider Positionen aufzeigt. Einen Nachweis dafür, dass der gemeinsame instabile Boden der Verhandlung jeden Teilnehmer betrifft und in den bestehenden Machtasymmetrien Möglichkeiten der partiellen Reformierung erlaubt, macht Bhabha auch am Beispiel der Perspektive der Missionare deutlich. Er arbeitet aus einem Artikel Charles Grants aus dem Jahre 1792 zur Einschätzung des Erfolgs der Missionserziehung in Indien heraus, dass dieser in einem Dilemma gesteckt haben muss zwischen dem Wunsch nach religiöser Reform der Sitten ihrer Untertanen und der Furcht vor aufrührerischen Freiheitsbestrebungen. Bhabha meint dies in Grants Vorschlag zu lesen, wenn dieser von einer notwendig nur »partiellen« Verbreitung des Christentums spricht, die sich aus dem geschlossenen christlich religiösen System löst und mit Formen des Kastensystems verbindet, um politisch machtvolle Allianzen zu verhindern und für sich zu gewinnen. Dieser Vorschlag einer gewissen Übersetzung im Sinne der Interpretation und Veränderung der ›reinen‹ Lehre in der missionarischen Agenda stellt einerseits einen Bruch mit demselben dar, andererseits eine Strategie des ›Überlebens‹, im Sinne der Geltung der Wirkmacht. Bhabha stellt mit diesem Bezug dar, wie
180 Bhabha 2012: 63f. 181 Vgl. Bhabha 2012: 72. 182 Bhabha 2012: 64.
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Methoden der Hybridisierung (Veränderung und Verbindung einer Sache mit einer anderen) in unterschiedlichen Kontexten als ›Strategie des Überlebens‹ in existenziellem Sinne, als Strategie des Überlebens der eigenen Wirkmacht verwendet wurden. Aus diesen unterschiedlichen Beispielen von Hybridisierung werden zwei Aspekte virulent, die Bhabha selbst nicht explizit benennt, erstens die historisch empirische Herleitung und Verankerung von Hybridisierung als Methode sozialer Praxis und zweitens die moralisch ethische Flexibilität dieser Methode. Doch Bhabhas Aufmerksamkeit gilt mehr den sich öffnenden Räumen der Verhandlung über diese Methoden der Hybridisierung als ihren moralisch ethischen Konsequenzen. So betont er in der Übertragung dieser Methode und den sich öffnenden Räumen auf die Situation von Minderheiten in der Gesellschaft die Artikulation von Differenz als einen Akt des fortlaufenden und komplexen Verhandelns. In diesen Verhandlungen komme kultureller Hybridität, die vor allem in Zeiten historischen Wandels besonders sichtbar wird, immer mehr Autorität zu.183 Auf der Ebene seines sogenannten ›theoretischen Engagements‹ ist Verhandlung für Bhabha der Ausdruck seiner wissenschaftlichen und politischen »Haltung« und seines »Eintretens« für das Verwischen traditioneller Grenzen zwischen Theorie und Politik und einem »Widerstand gegen das Ein-Schließen des Theoretischen«184 zu verstehen. Der Begriff der Verhandlung ist für Bhabha zentral, um einerseits auf das Problem der Festgefahrenheit von epistemologischen Polarisierungen aufmerksam zu machen und zugleich durch das Konzept des Verhandelns an eben diesen Festen, die er in poststrukturalistischer Denklogik als Konstrukte versteht, zu rütteln. Verhandlung stehe demnach für die Unmöglichkeit von finalen hegemonial eingebetteten diskursiven Theorien. Als konzeptioneller Ort im Dazwischen und der Agenda der Verhandlung, zum Beispiel zwischen Theorie und Politik, könne das Theoretische daher keinen allgemeingültigen Anspruch als umfassendes Metanarrativ erheben.185 Seinen Ansatz der Verhandlung begründet Bhabha in der Negativität zu einem Hin und Her zwischen Polen von richtig und falsch, gut und böse, die Bhabha zufolge eine Legitimation der eigenen Frömmigkeit und Reinheit in der Abgrenzung zum Anderen schafft. Diese eindeutige Polarisierung würde eine Abgeschlossenheit des Eigenen im Gegensatz zum Anderen benötigen und hervorbringen, die selbst nach einem Rollenwechsel und Umkehrung der Machtsituationen diese Verhärtung im Denken und Handeln gegen den Anderen weiter ausführt. Hierfür erklärt Bhabha seinen Ansatz des alten Verhandlungsmotivs. Der Ausgangspunkt seines spezifischen Verhandlungsbegriffs beruht auf der freudschen ›Unheimlichkeit‹
183
Siehe hierzu auch die Rolle der Figur der Mimikry in der Gesellschaft (vgl. Bhabha 2000: 134ff.). 184 Bhabha 2000: 47 und Hörning 2004. 185 Vgl. Bhabha 2000: 46.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
(unhomeliness) des Subjekts in seiner eigenen Haut. In der Anerkennung der Unsicherheit als Gemeinsamkeit aller Menschen kann ein Raum der Begegnung und Ermächtigung des Einzelnen und in letzter Konsequenz die Weiterführung der Sache an sich geschaffen werden. Bhabha redet von einer »Verhandlung, die erkennt, dass die Ebenen des Konflikts bzw. der Antagonismus tatsächlich sehr nah sind, nicht einfach polarisiert, sondern viel näher und viel chaotischer sind«.186 Der Boden der Verhandlung ist demnach gekennzeichnet von einer Differenz, die sich auf den ersten Blick zwischen Menschen und Menschengruppen zeigt. Geht man aber von der internen Differenz des Menschen aus und der allgegenwärtigen Möglichkeit seiner Erschütterung und Verletzlichkeit, so zeigt sich in diesem Moment die Nähe zwischen den Menschen, die in einem ständigen Prozess der Identifizierung mit dem Anderen (als Teil von sich) in der Welt stehen. Ihre Nähe zeigt sich jedoch nicht immer über klar zu sehende und zu benennende Merkmale, sondern ist in der Grundstruktur der menschlichen Konstitution und sozialer Praxis zu finden sowie in der chaotischen Gemengelage ihrer Überlappungen. Hybridität in Form der Liminalität des Subjekts, aber auch in der sozialen Praxis, sieht Bhabha als Bedingung weiterer sich ergebender Möglichkeiten mit Blick auf Handlungsmacht und Verhandlungsräume, die er vor allem in der Zone der Kultur verortet.
3.4.
Kultur als Zone der Verhandlung von Differenz
Mit der theoretischen Folie der postkolonialen Ansätze und ihrer spezifischen Perspektiven (materialistische, poststrukturalistische, eurozentrismus-kritische) auf gesellschaftliche Fragen vor dem Hintergrund von Herausforderungen, verbunden mit »Emigration, Migration und ethnischer Hybridität«187 macht Bhabha Kultur zum demonstrativen Ort der Verhandlung alter und neuer Fragen. Der Prozess kultureller Hybridität wird dabei als der Motor der Entstehung von Differenz und Neuem signifiziert, wie im Folgenden dargelegt wird. Bhabhas Verständnis einer hybriden Beschaffenheit von Kultur setzt sich von optimistisch angelegten Konzepten wie »kulturelle Vielfalt« und »Multikulturalität« ab. Statt Kultur mit anzustrebenden und wissenswerten Objekten gleichzusetzen, wird diese in der ihr innewohnenden Differenz verstanden (Wobei hier m.E. gemeint ist: der Ist-Zustand soll verstanden und als Definitionskriterium anerkannt werden, statt die Definition von Kultur an Soll-Zuständen auszurichten). Das Verständnis von der Differenz zwischen den Subjekten wie auch der internen Differenz des Subjekts hebt Bhabha auf diese Weise auf die Ebene der Kultur. Zur 186 Bhabha 2012: 72. 187 Bronfen in Bhabha 2000: IX.
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Zugänge zu Hybridität
Hinführung an seinen (an Derrida angelehnten) Differenzbegriff distanziert sich Bhabha von einem Differenzbegriff, der Differenz als Anlass für die Festschreibung und Kampf um unterschiedliche Entitäten begreift. Würde man kulturelle Differenz auf diese Weise verstehen, so könne der Ort kultureller Differenz sich zu einem »bloße[n] Phantom eines unheilvollen innerdisziplinären Kampfes«188 verwandeln, der dieser »Differenz weder Raum noch Macht zugesteht«189 – im Geiste Edward Saids, der in seinen Schriften (explizit im Diskurs um den Orientalismus) die Differenzperspektive als machtvolles Instrument für die aktive ›AndersMachung‹ (im Englischen: Othering) von Menschengruppen auswies. Signifikant an Saids Analyse ist das Aufzeigen an Bildern aus dem 18. und 19. Jahrhundert, wie über die Repräsentation des ›Fremden‹ mit Mitteln der Kunst nicht nur ein Bild des ›Anderen‹ produziert wurde, sondern auch als Moment der Macht (über den anderen), des Begehrens (als Ort der Entfaltung der kulturellen und sexuellen Fantasie) und der Abgrenzung (als Symbol des Unsittlichen und Amoralischen) im Gegensatz zur eigenen (in Frankreich und Großbritannien) protestantischen Ethik. Bhabha entwickelt diesen Ansatz Saids über Strategien der Eindämmung weiter, indem er weitere Beispiele aus politischen und philosophischen Schriften des Westens anführt: »Montesquieus türkischer Despot, Barthes’ Japan, Kristevas China, Derridas Nambikwara-Indianer, Lyotards Cashinahua-Heiden«.190 Solche Perspektiven der Differenz würden den ›Anderen‹ kulturalisieren, das heißt auf zugeschriebene kulturelle Merkmale reduzieren und als Moment der Differenz zu einem ›Eigenen‹ instrumentalisieren. Der Text des Anderen (Bhabha stellt im englischen Original das sonst kleingeschriebene »o« durch seine Großschreibung heraus: »The Other text«) »wird auf ewig zum exegetischen Horizont der Differenz statt zur aktiven Quelle der Artikulation«191 . Bhabha verweist damit auf einen »geschlossene[n] Interpretationszirkel«192 , der in der Perspektive der Essentialisierung von Differenz weitere Möglichkeiten der Artikulation und Erkenntnis verhindere. »Das Recht darauf, von der Peripherie autorisierter Macht und autorisierten Privilegs aus Bedeutung zu setzen, hängt nicht vom Fortbestand der Tradition ab; es speist sich aus der Tradition, durch die zufällige und widersprüchliche Bedingungen umgeschrieben zu werden, welche das Leben derer kennzeichnen, die ›in der Minderheit‹ sind. […] Indem sie die Vergangenheit neu inszeniert, führt sie andere, inkommensurable kulturelle Zeitlichkeiten in die Erfindung von Tradition ein. Dieser Prozeß läßt jeglichen direkten Zugang zu einer originären Identität oder einer ›Überkommenen‹ Tradition zum entfremdeten Akt werden. Die verbindenden Grenz-
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Bhabha 2000: 48. Bhabha 2000: 48. Bhabha 2000: 48. Bhabha 2000: 48. Bhabha 2000: 48.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
beziehungen der kulturellen Differenz mögen gleich oft Konsens oder von Konflikt geprägt sein; sie mögen unsere Definition von Tradition und Moderne durcheinanderbringen; […]; und normative Erwartungen in Bezug auf Entwicklung und Fortschritt in Frage stellen.«193 Aufbauend auf diese Argumentation scheint die Differenzperspektive zusammen mit einem auf Tradition, Einheitlichkeit, Reinheit und Abgeschlossenheit ausgelegten Denken eine gefährliche Verbindung einzugehen. Diese Aspekte können zu einer mehrfachen Verengung des Blicks und zu diskriminatorischen Praktiken führen.194 So interpretiert die Literaturwissenschaftlerin Kerstin Dallmann Bhabhas Verständnis von Kultur vor dem Hintergrund postkolonialer Kritik, bei dem Kultur kein Ort der ungezwungenen Wahlmöglichkeiten sei, sondern im »Austauschprozess zwischen Kulturen« ein »schmerzhafter und hart umkämpfter« Ort von Identifikationsprozessen.195 Dass das Kulturelle von Bhabha nicht als »die Quelle des Konfliktes, – im Sinne differenter Kulturen, sondern als Ergebnis diskriminatorischer Praktiken – im Sinne von kultureller Differenzierung als Zeichen von Autorität«196 verstanden wird, verdeutlicht folgendes Zitat: »Postcolonial perspectives emerge from the colonial testimony of Third World countries and the discourses of ›minorities‹ within the geopolitical divisions of East, west, North and South. […] It is from those who have suffered the sentence of history – subjugation, domination, diaspora, displacement – that we learn our most enduring lessons for living and thinking. There is even a rowing conviction that the affective experience of social marginality – as it emerges in non-canonical cultural forms – transforms our critical strategies. It forces us to confront the concept of culture outside objects d’art or beyond the canonization of the ›idea‹ of aesthetics, to engage with culture as uneven, incomplete production of meaning and value, often composed of incommensurable demands and practices, produced in the act of social survival.«197 Es sei die Zeugenschaft der Dritte-Welt-Länder aus der kolonialen Erfahrung heraus, die sich durch die Migrationsbewegungen in alle Teile der Welt getragen hätten. Es seien diejenigen, die das Urteil der Geschichte durch Unterwerfung, Dominierung, Diaspora und Verdrängung am eigenen Leib erfahren haben und nun 193 Bhabha 2003: 3. 194 Bhabhas Auswahl von postmodernen, poststrukturalistischen und postmodernen theoretischen Ansätzen fußt auf eben dieser Kritik an binärem Denken, das in dieser Denktradition in einem Zusammenhang mit Abgeschlossenheit, Abgrenzung und Hegemonialansprüchen gestellt wird. 195 Dallmann 2011: 38f. 196 Bhabha 2012: 14. 197 Bhabha 1994: 172.
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in den »Erste-Welt-Ländern« seien. Von ihnen könne man die nachhaltigsten Lehren zum Leben und Denken abgucken. Gerade die sozial randständigen Positionen von MigrantInnen und anderen Minderheiten in der Gesellschaft könnten durch ihre unbekannten, inkohärenten und affektiven Erfahrungsformen kulturellen Lebens und Ausdrucks zur einer Transformation kritischer Strategien beitragen. Die Anwesenheit der Anderen könnte die Erfahrung der Distanz und kritischer Entfremdung zu bisher bekannten »Ideen« herbeiführen und ein Verständnis von Kultur jenseits der Hochkultur motivieren. Diese würde sich jenseits der kanonischen Begriffstradition als ungleiche, inkomplette Produktion von Bedeutung und Wert, sowie hochgesteckten (unnachkömmlichen) Forderungen und Handlungen als Akt des Überlebens kennzeichnen. Demnach seien kollektive und politische Subjekte nicht über bestehende Gegebenheiten, sondern über diskursiv gestaltete Ereignisse zu begreifen. Kultur kann in diesem Denken ebenso wenig als abgeschlossene Entität verstanden werden, denn als Ort des Widerstreits zwischen Repräsentationen von Welt, Subjekt und Geschichte. MigrantInnen können insofern auch leibhafte Symbole von Hybridität in globalen Zusammenhängen von Geschichte, Politik und Sozioökonomie sein. Als kenntliches Moment der Differenz als Andersheit werden sie von manchen als bedrohlich wahrgenommen, da sie die bestehenden Kategorien und Gewissheiten zu dehnen drohen und als Symbole Beweise dafür sind, dass offensichtliche Brüche in Lebensläufen nicht notwendiger Weise zum Scheitern führen, oftmals sogar ganz im Gegenteil. Flucht und Migration kann zwar aus nationalen Interessen und durch verschiedenartige Grenzen teilweise aufgehalten bzw. umgeleitet werden, jedoch kann die Tatsache der Migration selbst nicht geleugnet werden, da ›sie‹ schon längst unter »uns« sind – und Teil von »uns« als Ergebnis der Entwicklung der Menschheitsgeschichte.
Hybride Subjekte in der Kultur Auf die Frage, ob eine Migrantin zwingend auch ein hybrides Subjekt sei, antwortet Bhabha in einem Interview: »Ja, die Migrantin ist ein hybrides Subjekt, jedoch ist es für den Nachweis der Hybridität nicht hinreichend zu sagen, dass die Person teils Hindu, teils Christin, teils Parsin, teils Österreicherin, teils Slowenin usw. ist – das ist für mich nicht Hybridisierung. Mir geht es vielmehr darum, wie die Teile miteinander und mit äußeren Kräften der Gemeinschaftsbildung in Verhandlung treten, wie diese Interaktion stattfindet«.198 Bhabha definiert seinen Hybriditätsbegriff in Bezug auf Subjektformierungen explizit in Abgrenzung zu der Annahme, dass es sich um die Vermischung einer Vielzahl von Identitäten als geschlossene Einheiten handle. Im Sinne eines Denkens 198 Bhabha 2012: 6.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
im Zwischen kennzeichnet er Hybridität als den Prozess in der Auseinandersetzung mit etwas Differentem/Neuem, der wiederum Differentes und Neues in die Welt bringt. Wollte man ein Subjekt in seiner kulturellen Positionierung erfassen, so müssten die Erzählungen darüber bestimmt sein von multiplen Perspektiven, welche seinen intersubjektiven Charakter wiedergeben könnten. Bhabha zufolge gilt es zunächst, das festgeschriebene Konzept des Subjekts als etwas Ethnisches zu spalten, indem die damit verbundenen verschiedenen Teilaspekte, wie Klasse, Geschlecht, Herkunft etc. mit angeführt werden, um auch diese Teilaspekte im nächsten Schritt als überwunden bzw. in ihrer Überschreitbarkeit zu sehen.199 Bhabhas Argumentationsführung setzt auch an dieser Stelle daran an, dass der Mensch nicht über große Kategorien bestimmt wird, sondern über grundlegende Strukturen des menschlichen Seins. Er setzt die Ausgangssituation in der Funktion von Sprache an. Dabei sei es als großer Fortschritt zu verbuchen, wenn klar würde, wie Sprache funktioniert und dass jegliche Form von Identitätsschreibung über »Differenz hinweg konstruiert wird«200 . Bhabha überträgt diese sprachtheoretische Ebene auf Politiken der Andersmachung. Dabei stellt er zur Diskussion, inwieweit der Akt des Abschließens, zum Beispiel am Ende eines jeden Satzes, einer Notwendigkeit nach Bedeutung folgen würde. Gleichzeitig führt er unter anderem am Beispiel der Begriffe »das Selbst«, »Gesellschaft« und »Politik« vor, wie sie unvollendete Abschlüsse und ebenso Teil der offenen Struktur von Sprache (auch in ihrer historischen Veränderung) und sprachlichen Mitteln sind. Die ambivalente Struktur der Sprache in ihrer Notwendigkeit des Abschließens und der Unmöglichkeit ihres Abschließens als Motor für Neues verbindet Bhabha mit der Ebene von Sprache als Prinzip der Denkbewegungen und des Weltverstehens. Mit dem Augenmerk auf kulturell hybride Subjekte setzt Bhabha in der Tradition Derridas, Heideggers und Freuds Konzepten wie dem der ›symbolischen Anrufung‹ nach Althusser entgegen, dass die symbolische Anrufung der Komplexität des Subjektes mit all seinen Untiefen und seinem Unbewussten und vor allem vor dem Hintergrund einer »multikulturellen postmodernen Welt«201 nicht gerecht werden würde, dass sie bisweilen »inkommensurabel« seien.202 Diese Differenz geht einher mit dem »sprechend-gesprochenen«203 Subjekt, welches gespalten ist in ein Ich, welches spricht, und ein Ich, »von dem«204 es spricht. Mit Rekurs auf Luhmann ist das Verstehen angesetzt an der Differenz zwischen der zu vermittelnden Information und der Mitteilung. Diese prinzipielle Kluft, in welcher Traditionslinien und 199 200 201 202 203 204
Bronfen in Bhabha 2000: IX. Bhabha 2012: 6. Bronfen in Bhabha 2000: IX. Bronfen in Bhabha 2000: IX. Bronfen et al. 1997: 12f. Bronfen et al. 1997: 12.
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Signifikantenketten sich vermischen und neu zusammengesetzt werden, ist der Raum der kulturellen Hybridität. In ihm sind Brüche keine Anomalien, sondern Bedingung für Neuentstehung. Versteht man diese Brüche nicht als etwas prinzipiell Negatives, das der Kommunikation im Wege steht, sondern als immer schon Teil jeder Kommunikation, so kann dieses Wissen ebenso den Raum eröffnen für mehr Verständnis für den Adressaten und sein immer etwas anderes Verständnis der Information.205 Dass die Differenz innerhalb von Subjekten, Gemeinschaften und Praktiken eine Ebene in Bhabhas Schreibprojekt ist, zeigt ein Blick auf global verstreute, differente und doch zusammenhängende Geschichten des Bruchs.
Aporie als (Irritations-)Macht Bhabha macht Kultur zum Paradegegenstand und zum Raum für den von ihm postulierten Prozess der Hybridität, in der machtvolle Ideologien und Diskurse der Subjektivierung ebenso am Werk sind wie schöpferisches Potenzial, Umbildung und Verhandlung als Ausdrucksformen gesellschaftlicher Widerständigkeit und Handlungsmacht, wenn er sagt: »Kultur wird also ebenso sehr zu einer ungemütlichen, verstörenden Praxis des Überlebens und der Supplementarität – zwischen Kunst und Politik, Vergangenheit und Gegenwart, dem Öffentlichen und dem Privaten –, wie ihr strahlendes Wesen zugleich ein Moment der Lust, Aufklärung oder Befreiung ist.«206 Dieser doppelte Ansatz von Kultur als Ausdruck gesellschaftspolitischer und ökonomischer Machtstrukturen und der pädagogischen Betonung individueller Potenziale darin, weist eine gewisse Nähe zum Begriff der Kultur in seinem Doppelcharakter bei Theodor W. Adorno auf.207 Bhabha arbeitet mit der epistemologischen Figur der Dopplung in Bezug auf den Gegenstand der Kultur, doch unterscheiden sich (wie oben besprochen) die getroffenen Aussagen in den jeweils daraus gezogenen theoretischen und gesellschaftspolitischen Konsequenzen. Gemeinsam haben sie das Moment der Distanzierung vom traditionellen Kulturbegriff und die Konstatierung der Handlungspotenziale des Subjekts. Doch während Kultur und Bildung für Adorno und Horkheimer (im Begriff der Bildung) in vorindustriellen Zeiten mehr der Natur der Umformung und Umbildung des Menschen und seiner Umwelt entsprachen und im Spätkapitalismus zur Kulturindustrie verkommen seien, sieht Bhabha Kultur einerseits als Ergebnis historisch machtvoller Prozesse und Konstruktionen und auf der anderen Seite ebenso immer schon als Mittel und
205 Vgl. Bronfen et al. 1997: 14. 206 Bhabha 2000: 261. 207 Auch Thompson und Jergus verweisen in ihrem (im zweiten und dritten Kapitel diskutierten) Artikel auf die Nähe der Figur des Doppelcharakters der Kultur bei Adorno und die besondere Rolle von Kultur und Hybridität bei Bhabha hin.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Objekt der Handlungsmächtigkeit, welche insofern weiterhin dekonstruiert und rekonstruiert werden kann. Vor diesem Hintergrund zeigt sich Bhabhas Kulturbegriff im Sinne einer »Konstruktion und […] Tradition als Erfindung«208 – weniger über das Aufzeichnen einer linearen Entwicklung von Geschichte, denn als Beispiel für ein immer schon bestehendes doppeltes Moment: als »Kampfplätze«209 , in denen ein Ringen um konkurrierende Bedeutung und Macht stattfindet und als Raum subjektiver und gemeinschaftlicher Handlungsmacht. Aporie als kulturelle Ungewissheit und Befreiung? In Anschluss an die bereits angesprochene Analyse Halls und Bhabhas des britischen Wahlkampfes (1987) und Thatchers Erfolg durch die Platzierung von Bildern der Trennung (statt der Solidarität) untersucht Bhabha die Produktion von Aporie im Rahmen kultureller Mittel mit Blick auf die Dekonstruktion und Neukonstruktion der (politischen) Urteilsfähigkeit. Diesen Diskurs nimmt Bhabha zum Anlass, um Fragen danach zu stellen, wie Strukturen gedacht werden können, die bestehende Differenzen nicht harmonisch auflösen und (durch Manipulation und Überzeugung) zu einem sozialen Block oder einer Entität gleichmachen müssen, und dennoch Möglichkeiten der Repräsentation und der Handlungsfähigkeit erlauben. Die von Hall kritisch diskutierte politische Aporie als Effekt der Identifikation mit Bildern der Trennung und Spaltung in der Gesellschaft nimmt Bhabha zum Anlass, um die Bilder der Spaltung als Figuren der Differenz in einem anderen Sinn zu nutzen210 . Im Rahmen eines Roundtable-Gesprächs (2007) erörtert Bhabha auf Nachfrage seinen Begriff der Dopplung wie folgt: Die Dopplung sei eine »Weise der Subjektformierung, die weniger als eines ist […], aber doppelt«.211 Der Aspekt des »weniger als eines« bezieht sich auf die interne Struktur des Subjekts im Sinne interner Differenzen als Ergebnis seiner psychologischen Verfasstheit, Verletzlichkeit und der Unheimlichkeit, die sich unter anderem durch ein verhaftet Sein in widersprüchlichen Interessen und Identitäten äußert.212 Darin sieht Bhabha die Bedingungen der Aporie, das Moment der »Einschreibung einer nichtrepräsentierbaren Differenz, eine Art Mangel«.213 Die aporetische Seite der Dopplung kann über unsagbare Erlebnisse (zum Beispiel Traumata) oder im Fehlen von Ausdrucksmöglichkeiten für das Nicht-Einordbare (zum Beispiel die Angst vor dem eigenen und dem fremden Unheimlichen) exemplifiziert werden. Die andere Seite der Dopplung steht für die Unumgänglichkeit einer Repräsentation bzw. für den Drang des 208 209 210 211 212 213
Bhabha 2000: 257. Struve 2013: 41. Vgl. Bhabha 2015b: 13. Bhabha 2012: 67. Vgl. Bhabha 2000: 44. Bhabha 2012: 67.
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Ausdrucks, der sich entweder über das Unterbewusstsein oder über eine andere Form offenbart. Im Gegensatz zu einer dialektisch gedachten Katharsis bleibt die harmonische Auflösung dabei aus, da die Repräsentation immer das doppelte Moment des Mangels, der Sehnsucht nach Identifikation und Abschluss beinhaltet. Deshalb, so stellt Bhabha klar, meint das Doppelte niemals zwei Dinge, sondern »eröffnet immer den Weg zu einem Denken des Iterativen und des Kontingenten«.214 In diesem Zitat Bhabhas zum Sinn der Figur der Dopplung wird deutlich, dass diese zum einen eine Irritation von Gewissheiten herbeiführen soll und andererseits gerade dadurch die Notwendigkeit provozieren soll, den irritierten Raum von Gewissheiten um das Neue und Differente zu erweitern. Seine »fundamentale Rekonzeptualisierung«215 von Kultur über die Figur der Differenz als »eine ungleichmäßige, unvollendete Produktion von Bedeutung und Wert«216 beschreibt Kultur insofern, im Gegensatz zur Auffassung von kultureller Identität, »as a way of articulating different kinds of times, spaces, ideas, and values«.217 Wie sehr Bhabhas Schriften als ›theoretisches Engagement‹ zwischen Theorie und Praxis angelegt sind, zeigt sich auch an der breiten und aus differenten Disziplinen entnommenen Auswahl der besprochenen Materialien. Diese sollen verdeutlichen, wie wenig Geschichten von Ausbeutung, Sklaverei, Apartheid, Flucht und Emigration sowie Möglichkeiten und Räume der Handlungsmacht von gesellschaftlichen Parias und Minderheiten bloße Angelegenheiten einzelner Nationen sind, sondern das sie in ihren Parallelen und in ihrer strukturellen Verflochtenheit auf eine globale Vernetztheit der Geschichten und Geschichte der Menschheit hinweisen. Über die Differenz als epistemologisches Objekt der Kritik an der Differenzperspektive hinaus bietet Bhabha eine konstruktive Hinwendung zu eben demselben Begriff der Differenz als »Äußerungsprozess von Kultur, Wissensfähigem, Autoritärem, zur Konstruktion von Systemen kultureller Identifikation«218 . Methodisch legt Bhabha auf den Begriff der Differenz die Folie der Ambivalenz. Er zeigt auf der einen Seite die dekonstruktiven Aspekte der Differenz in ihren verschiedenen Dimensionen auf und stellt auf der anderen Seite mit eben diesem Begriff der Differenz das subversive Potenzial zur Verfügung, um binäre Feststellungen zu problematisieren.219 Die Ambivalenz des Differenzbegriffs destabilisiert jede Form von »das ist so« und betont gleichzeitig ein »das könnte auch so sein«. Rekurrierend
214 215 216 217 218 219
Bhabha 2012: 67 und 2015b. Struve 2013: 41. Bhabha in Struve 2013: 41. Wright/Bhabha 1999: 40. Bhabha 2000: 53. Vgl. Bhabha 2000: 53.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
auf Fanon sieht Bhabha darin die Zeit der kulturellen Ungewissheit und damit der Befreiung.220 Die Aporie versteht Bhabha also im Moment der Ungewissheit insofern nicht nur als Aspekt der Schwäche und Hintergehbarkeit, sondern auch als mögliche Bedingung für eine »Befreiung« von festen vorgegebenen Konstrukten, die im Einüben der Dekonstruktion und Neukonstruktion den Prozess der kulturell und ästhetischen Urteilsfindung vorantreiben würde.221 »Dies ist das Moment der ästhetischen Distanz, welches die Geschichte zweischneidig macht, die wie das farbige südafrikanische Subjekt eine Hybridität darstellt«.222 Bhabha argumentiert vor dem Hintergrund des Doppelcharakters der Differenz, dass Theorien der Differenz gerade Metaphern für die Andersheit brauchen, »um die Auswirkungen der Differenz einzudämmen«.223 Diese Metaphern bieten der Differenz einen Ort, indem Differenz nicht im Sinne der theoretischen und methodischen hegemonialen Abgrenzung zu einem anderen, sondern als Bedingtheit des Subjekts und Bedingung für die Weiterentwicklung über soziale Kontaktsituationen mit einem anderen verstanden wird. Kennzeichnend für sein Schreibprojekt ist an dieser Stelle wieder die Überlappung dessen, was Bhabha über die befreiende Wirkung von Aporie sagt und seinem mit Opazität und ›Nichteinordbarkeit‹ spielenden empirischen Vorgehen in seinem Werk. Das Spiel mit der Aporie der LeserInnen scheint programmatisch, in diesem Fall durch seine Dekonstruktion des Differenzbegriffs hin zu etwas ›Neuem‹. Bhabha hebt dabei von Differenz (Gender, Rasse, Klasse, Nation, Kultur usw.) geprägte subjektive Geschichten (zum Beispiel im Kontext rassistisch und nationalistisch motivierter Apartheidsgesetze) auf die allgemeinere Ebene ähnlicher oder andersartiger Konstruktionen von Subjektivität und Gemeinschaft in der Geschichte der Menschheit ab. Kultur als globaler Raum transnationaler und translationaler Gemeinschaften Die Bedeutung des Kulturbegriffs als epistemologisches Objekt und Subjekt empirischen Wissens zeigt Bhabha nicht nur an den machtvollen Effekten und Auswirkungen in der Verwendung des Begriffs, sondern auch an sich auftuenden Räumen mit Mitteln der Kultur. Kultur ist sozusagen ein Paradebeispiel für seine Vorstellung von Verhandlung. Als Gegenstand seiner Studien dienen Bhabha daher nicht 220 Vgl. Bhabha 2000: 53. 221 Eine Diskussion der Nähe dieses Ansatzes mit Adornos Unterscheidung der Ungebildeten und Halbgebildeten (erstere seien offener für Bildung, da ihnen durch die Uninformiertheit auch nicht viel verbaut sei) könnte an dieser Stelle für bildungsphilosophische Überlegungen in Anschluss an den Aufsatz von Thompson und Jergus weiterführend sein, jedoch wird dies im Rahmen dieses Buches nicht erfolgen. 222 Bhabha 2000: 20. 223 Bhabha 2000: 47.
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nur soziale Praxen oder theoretische Texte, sondern eine Vielfalt differenter Repräsentationsformen der Kultur. Dazu verwendet er historische Zeugnisse aus der Kolonialzeit sowie literarische Texte, ebenso wie Kunstwerke mit Blick auf die Verarbeitung und Anprangerung der Sklaverei in den USA, auf das Apartheidsystem in Südafrika, den Landraub an der indigenen Bevölkerung in Süd- und Zentralamerika als Grundlage für seine vornehmlich literaturwissenschaftlichen Analysen von kulturellen Kontaktsituationen. Diese globalen Geschichten des Bruchs und der Unterdrückung übersetzt Bhabha in einen Zusammenhang mit historischen und aktuellen Phänomenen von Migration, Flucht und Diaspora. Eine Leistung der Metapher der Hybridität und ihrer methodischen Verflechtung zeigt sich an dieser Stelle, wenn Bhabha die Verschiedenheit globaler und transdisziplinärer Zugänge zur Artikulation von scheinbar kleinen Geschichten programmatisch zu einer großen Geschichte verbindet, ohne ihnen ihre spezifischen Differenzen zu nehmen. Zudem leitet er aus diesen Differenzen und Verflechtungen Übertragungsmöglichkeiten ab, die mehr als über das Aufzeigen historisch politischer Linien die Mittel der Kultur nutzen, um über Sprache und individuelle Geschichten weitere Identifikationsmöglichkeiten mit der globalen Gemeinschaft zu schaffen224 . Bereits in der Einleitung seines Werkes positioniert Bhabha Beispiele, die er als Belege für das transnationalere und »übersetzbarere« Phänomen der Hybridität imaginärer Gemeinschaften aufzeigt. Beispiele dafür sind das zeitgenössische Theater Sri Lankas, das den tödlichen Konflikt zwischen Tamilen und Singhalesen durch allegorische Verweise auf staatliche Brutalität in Südafrika und Lateinamerika darstellt, oder die Neueinschreibung des australischen anglo-keltischen Kanons in Literatur und Film »aus der Perspektive politischer und kultureller Imperative der Aboriginies«.225 Bhabha stellt die Schriften und Kooperationen einer international intellektuellen Gemeinschaft vor, die über ihre Romane als Dokumente ihrer Zeit und Geschichte eine größere Reichweite und Auseinandersetzung mit Themen um »ungleiche, asymmetrische Welten«226 fördert. Themen über gespaltene Subjekte und Gesellschaften – durch Auswirkungen der Apartheid in Südafrika (bei Richard Rive, Bessie Head, Nadine Gordimer und John Coetzee), Toni Morrisons Menschenkind über die unvergänglichen Spuren der Sklaverei in der U.S.amerikanischen Geschichte, Salman Rushdies Fabelgeschichten (Mitternachtskinder und Scham und Schande) zu den Folgen der Unabhängigkeit Indiens und Pakistans oder die instabile Doppelperspektive des Migranten als einzig verlässliche Quelle (in den Satanischen Versen) spielen dabei eine ebenso große Rolle wie künstlerische Gedichte des (unter anderem an der U.S.-mexikanischen Grenze lebenden)
224 Wenn man diesen Ansatz verfolgen möchte, empfiehlt sich Yildiz 2015, der postmigrantische Perspektiven in den Blick rückt. 225 Bhabha 2000: 7. 226 Bhabha 2000: 7.
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Performance-Künstlers Guillermo Gomez-Pena oder des nuyoricanischen Künstlers Pepon Osorios und weiteren.227 Im Speziellen wird Frantz Fanon von Bhabha prominent als Quelle für einen postkolonialen Denker angeführt, der durch das Anlegen seiner Arbeiten an der Schnittstelle von Psychoanalyse, Literatur und Politik die Fähigkeit zu machtaneignendem Handeln (agency of empowerment) ausgedrückt hat228 . Bhabha zitiert Passagen aus Fanons Schwarze Haut, weiße Masken, die Aspekte der subjektiven Begierde nach Anerkennung, einem Verlangen nach einem »Anderswo« und einem »Anderen« als das Schaffen von kulturellen Zwischenräumen und den Raum der Intervention als »kreative Erfindung in die Existenz einführt«.229 Dabei bekennt sich Bhabha zu Fanons Vorstellung von kultureller Präsenz als Ausdruck eines »negierenden Tun[s]«.230 Sein »Aufbrechen der Zeitbarriere einer kulturell zusammenhängenden ›Gegenwart‹«231 stimme im Sinne des Aufzeigens von Hybridität mit diesem Vorgehen überein. Bhabha sieht in Gegenständen der Kultur Räume und Mittel der Intervention im Sinne von Unterbrechung und Innovierung232 und führt diesen Ansatz, wie in folgendem Absatz diskutiert, auch über sprachlich kulturelle Metaphern fort. Vor dem Hintergrund seiner Distanzierung von einer Weltanschauung über eindeutige Identifizierung und binäre Kategorien wird Bhabhas Perspektive auch über seine Auswahl von Untersuchungsgegenständen und der von ihm ins Zentrum gerückten Passagen deutlicher: Über seine Interpretation der Figur der Aila (in Nadine Gordimers Die Geschichte meines Sohnes) schreibt er: »Sie [die Figur; N. H.-E.] verlangt ebenfalls, daß man seine Aufmerksamkeit verlagert von einer Sicht des Politischen als einer pädagogischen, ideologischen Praxis hin zu einer Anschauung von Politik, bei der der Nachdruck auf der Notwendigkeit des alltäglichen Lebens liegt – Politik als performativer Akt (performativitiy)«.233 Auch in diesem Satz wird Bhabhas Vorgehen in seinem gesamten Hauptwerk deutlich, wenn er die gewohnte Lesart und Blickrichtung in einem performativen Akt des Anders-Schreibens vom hegemonialen Zentrum auf die Ränder der Gesellschaft verschiebt. Viel mehr holt er diese Ränder (im Akt der Dekonstruktion von Grenzen) ins Zentrum hinein, quasi als untrennbaren und konstitutionellen Teil der großen hegemonialen Geschichte. Seine Ethik der Differenz lehnt Bhabha an 227 228 229 230 231 232 233
Vgl. Bhabha 2000: 9ff. Vgl. Bhabha 2015a: 54ff. und 2016a: 350ff. Bhabha 2000: 12. Bhabha 2000: 13. Bhabha 2000: 13. Vgl. Bhabha 2000: 11f. Bhabha 2000: 22.
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den Gedanken von Lévinas an, der in der »Äußerlichkeit des Inneren«234 die Kreuzung des historischen und narrativen Subjekts zur Sprechposition macht.235 Diese metaphorische Folie legt Bhabha auf seine Interpretation des Romans Menschenkind der afro-amerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison an. Darin diskutiert er über die Ethik des Kindesmordes im Kontext der Sklaverei als artikulatorischen Ort, an dem »die Innenseite der Sklaverei von außen gesehen wird«236 . Das Kind, das von seiner versklavten Mutter Sethe ermordet wurde, kehrt aus der toten Vergangenheit in geisterhafter Form zurück und zwingt der Gegenwart eine verstörende Auseinandersetzung mit ihr als Symbol der Geschichte der Gewalt auf. Bhabha interpretiert die Wiederkehr des ausgewachsenen und doch unreifen Kindes als Moment der Iteration und Dopplung des versklavten Subjekts in ihrer sich wiederholenden und ausdehnenden Bedeutung für die gesamte Weltgeschichte.237 Diese Wiederholung betrifft dabei nicht nur die Geschichte eines Subjekts, sondern eine kollektive Geschichte der Sklaverei, der Kolonialisierung, der Apartheid und viele weitere. Mit Lévinas’ Worten über den »Kunst-Zauber«238 , der im zeitgenössischen Roman liege, stellt Bhabha vor, »wie »Inneres von außen her gesehen wird«239 und »führt somit in das Herz der Subjektivität einen radikalen und anarchischen Verweis auf das andere ein, welches tatsächlich das Innere des Subjekts darstellt«.240 Dieser radikale und anarchische Verweis erinnert an Bhabhas Vorstellung von der internen Differenz des Subjekts durch das Heimische und Unheimliche, das auf eine »interpersonale Wirklichkeit«241 verweist. Diese interne Differenz stellt sich mit Bezug auf das ›Herz der Subjektivität‹ im Licht eines symbolisch ethischen Kerns des Gedankengebildes dar. Es ist eine Ethik, die sich nicht nur gegen die Härte des antagonistischen Kampfes um Macht und Autorität (mit Mitteln von Bildern und Sprache) richtet, sondern vielmehr Räume der Anerkennung von Differenz schafft. Bhabha zufolge sprechen »die Frauen […] in verschiedenen Zungen aus einem Raum, der zwischen ihnen liegt und der ein gemeinschaftlicher Raum ist«242 . Es bleibt offen, ob Bhabha mit »die Frauen« die Protagonistinnen der Romane meint, die Schriftstellerinnen derselben oder Frauen als Subjekte der Weltgeschichte, die auf eine bestimmte Weise immer der Gewalt ausgesetzt waren und doch nicht nur in dieser Erfahrung immer Teil einer globalen Gemeinschaft von Frauen sind, die
234 235 236 237 238 239 240 241 242
Bhabha 2000: 23. Vgl. Bhabha 2000: 23. Bhabha 2000: 25. Bhabha 2000: 25 und für die weiterführende Lektüre Bhabha 2017. Bhabha 2000: 23. Bhabha 2000: 23 nach Lévinas. Bhabha 2000: 23 nach Bernasconi zu Lévinas. Bhabha 2000: 26. Bhabha 2000: 26.
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trotz verschiedener Zungen in spezifischen Räumen einen Raum teilen, der zwischen ihnen liegt, sie trennt und verbindet. Mit der Analyse von Toni Morrisons Roman und der dezidierten Analyse der Rolle des Kindes und dem gleichnamigen Titel des Romans Menschenkind stellt Bhabha den Namen und den Titel zum Symbol für eine kollektive globale Geschichte, die immer vor dem jeweiligen Kontext etwas anders ist und doch ähnliche, verbindende Erfahrungen spiegelt: »Menschenkind ist meine Schwester, Menschenkind ist meine Tochter, ich bin Menschenkind, und sie gehört zu mir«.243 So sinnvoll die Verwendung von Menschenkind als Ausdruck von Weltgemeinschaften in der deutschen Übersetzung auch in Bhabhas Werk eingesetzt wird, so sehr ist die Notwendigkeit gegeben, den englischen Originaltitel »Beloved« (in Morrisons Roman) als Verständnisgrundlage für Bhabhas Interpretation und Aussagen heranzuziehen. Als wesentlichen Gesichtspunkt des Menschseins und der gemeinsamen Erfahrungsgrundlage für menschliche Gemeinschaften setzt Bhabha in Anschluss an Morrisons Geschichte im Kontext der Traumata der Sklaverei das »Geliebt« sein/werden, wenn er unter anderem zitiert: »mein Gesicht kommt ich muß es haben ich suche das Einswerden ich liebe mein Gesicht so sehr ich liebe mein Gesicht so sehr mein dunkles Gesicht ist mir nah ich möchte mit ihm einswerden«.244 In diesem Zitat drückt sich eine Sehnsucht, ein Verlangen nach Identifikation aus, jedoch nicht mit einem anderen, sondern mit sich selbst. Die Bekundung der Liebe zum eigenen Gesicht wird ebenso wiederholt wie das Possessivpronomen »mein«. Zudem wird das geliebte eigene Gesicht spezifiziert als »mein dunkles Gesicht«, das ihr nah ist. Dass einem die eigene Hautfarbe bloß nahe ist, verweist mit dem Ausdruck, etwas sei ›wie die eigene Haut‹ auf eine gewisse Distanz im Gegensatz zu einer eigenen unmittelbaren Haut, die Teil von einem selbst ist. Dieser Verdacht einer gewissen Entfremdung lässt sich mit der nachstehenden Aussage bestätigen, wenn Beloved/Menschenkind den Wunsch äußert, dass es mit »ihm« (als etwas anderem) einswerden möchte. Dass im Zentrum das Moment der Sehnsucht steht nach dem Einswerden mit dem geliebten dunklen Gesicht, zeigt sich vor allem darin, dass Beloved noch nicht eins ist mit der eigenen Haut, sondern nur »nah« und auch nicht bereits da ist, sondern erst »kommt«. Sinnbildlich für sein Denken und methodisches Vorgehen setzt Bhabha dieses Zitat aus Morrisons Beloved in die Schlusspassage seiner Einleitung wiederholt ein, jedoch in veränderter Version und im Kontext seiner eigenen Schreibagenda eines theoretischen Engagements, wie er sein direkt darauffolgendes erstes Kapitel nennt: »Wenn die historische Sichtbarkeit verblaßt ist, wenn die Gegenwart der Zeitzeugenschaft ihre Macht des Festhaltens verliert, dann offerieren die De-platzierun-
243 Bhabha 2000: 26. 244 Bhabha 2000: 27 nach Morrison.
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gen der Erinnerung und die Umwege der Kunst das Bild unseres psychischen Überlebens. In der unheimlichen Welt zu leben, ihre Doppelwertigkeit und Zweideutigkeiten im Haus der Fiktion inszeniert zu sehen oder ihre Entzweiung und Aufspaltung im Kunstwerk vorgeführt zu bekommen, heißt auch, ein tiefes Verlangen nach sozialer Solidarität zu bekunden: »ich suche das Einswerden ich möchte einswerden ich möchte einswerden«.245 Dieses Zitat aus der letzten Passage der Einleitung seines Werkes stellt aus der Analyse der von Bhabha behandelten Theorien, Romane und Kunstwerke heraus, 1. vor welcher historischen, politischen und pädagogischen Rahmung (Die Ausgansposition situiert Bhabha in einer verblassenden Historie und dem kraftlos werdenden Akt des Festhaltens durch Zeitzeugenschaft), 2. sein konzeptuell methodisches Vorgehen (Deplatzierung, Umwege, Bild des Überlebens, Doppelwertigkeit, Zweideutigkeiten, Fiktion, Inszenierung, Entzweiung und Aufspaltung), 3. die Funktion der Erweiterung von Artikulationsmöglichkeiten und Verhandlungsmöglichkeiten inne hat und doch auf ein 4. »tiefes Verlangen nach sozialer Solidarität«246 zurückgeht, das, Bhabha zufolge, dem psychischen Überlebensmodus eines jedes Menschen inhärent sei.
Die soziale Harmonie in der Solidarität sowie das Einswerden erinnern an die Figur der Dialektik, von der Bhabha seine Figur der Hybridität explizit unterscheiden möchte. Sprachlich tut er das durch das Spiel mit Differenz in sprachlicher Struktur durch die Differenz in der Schreibweise der Wiederholung und durch die expliziten Abstände zwischen den Ausdrücken, die, um in Bhabhas Logik zu bleiben, einen Zwischenraum bilden. Das Lesen wird dadurch verlangsamt, den einzelnen Aussagen wird in ihrer Differenz Raum gelassen und der Leser wird ermächtigt, in den Zwischenraum etwas wiederum anderes, eigenes zu legen. Gegen den Verdacht, die ›klassische‹ Figur der Dialektik anzuwenden, stellt Bhabha sich in eine Reihe mit Walter Benjamins »Erkenntnis von der gebrochenen Dialektik der Moderne«, bei der die Zweideutigkeit die bildliche Erscheinung der Dialektik sei: »das Gesetz der Dialektik im Stillstand«247 . Dieses spezifische Bild der Dialektik als eine Theorie der Geschichte in Bildern ordnet Bhabha in eine theoretisch historische
245 Bhabha 2000: 28. 246 Bhabha 2000: 28. 247 Bhabha 2000: 28 nach Benjamin. Ein weiterführendes Zitat Benjamins zu diesem Gedanken zeigt sich im Folgenden, das im Rahmen dieses Buches jedoch nicht weiter behandelt werden kann: »Zum Denken gehört ebenso die Bewegung wie das Stillstellen der Gedanken […]. Er ist identisch mit dem historischen Gegenstand; er rechtfertigt seine Absprengung aus dem Kontinuum des Geschichtsverlaufs.« (Benjamin 1991: 595)
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Metapher von einem Leben in der Moderne ein, das »anders […], aber nicht außerhalb von ihr«248 gedacht werden kann. Darin eröffnet sich das von Bhabha betonte Moment von Hybridität als die Gleichzeitigkeit einer ›Gegenmoderne‹, in der, um im Bild Benjamins von einer Dialektik im Stillstand zu bleiben, »das Gewesene mit dem Jetzt blitzhaft zu einer Konstellation zusammentritt«.249 Benjamin beschreibt die Dialektik im Stillstand über die Metapher des Blitzhaften als Ausdruck einer von Spannung geladenen Wirklichkeit und Materialität, die in von Spannung geprägten Momenten und Orten der größten materiellen Gegensätzlichkeit für einen Augenblick zum Stillstand kommt.250 Bhabha stellt zudem heraus, dass das »Bild – oder die metaphorische, fiktionale Tätigkeit des Diskurses im Sinne Levinas’ eine Unterbrechung der Zeit durch die Bewegung, die sich diesseits der Zeit, in ihren Zwischenräumen, vollzieht«251 sichtbar macht.252 Die Aufgabe der kulturellen Arbeit ist es, in dieser Logik sprachliche Mittel zu finden, um Räume des ›Eingeklammertseins‹ zu schaffen, in denen ein von der Wirklichkeit distanzierter, anderer Umgang mit Zeitlichkeit und Gegebenheiten ermöglicht wird und auf die Wirklichkeit selbst ausstrahlen kann. Bhabhas kulturpolitische Arbeit an ›Differenzen‹ In Anlehnung an Bhabhas biographisch verknüpfte Narration von der parsischen Minderheit in Indien als hybrider Kultur, die es geschafft hat, die gesellschaftlichen Zwischenräume und Ränder zu nutzen, setzt auch Bhabha die Kultur als einen solchen Handlungsraum an, in dem gekämpft, verhandelt und Neues erschaffen wird. Die Mittel sind dabei auf der Ebene der subjektiven Begegnung und Verschiebung und Vergrößerung von Strukturen als epistemologische Räume (der Verhandlung) sowohl weicher als auch versöhnlicher als in einem Denken, das Differenzen über Kategorien der Klasse und dem Kampf um ihre Überwindung anstrebt. Auch in der Logik eines intersubjektiven Charakters (des Subjekts) und der Mehrperspektivität würden Denkfiguren des Bruchs, der Ambivalenz und Differenz helfen, Normalität und Wirklichkeiten zwischen großen Geschichten zu sehen.253 Politisch und kulturell kann Bhabhas Ansatz als radikal reformerisch bezeichnet werden, da sein Einsatzpunkt in der Demonstration von Konstrukten als festen Entitäten liegt, aber auch in der aktiven Destabilisierung des Bodens und dem Vergrößern der Räume der Verhandlung. Darin extrahiert sich die Notwendigkeit von
248 249 250 251 252
Bhabha 2000: 28. Benjamin 1991: 576f. Vgl. Benjamin 1991: 596. Bhabha 2000: 22. Bhabha zufolge trennt solch ein ästhetisches Bild eine ethische Erzählzeit ab, da die »reale Welt im Bild sozusagen in Klammern erscheint« (Lévinas in Bhabha 2000: 23). 253 Vgl. Bronfen in Bhabha 2000: X.
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»Transnationalität und Translationalität in Kultur als Überlebensstrategie«.254 Es zeigt sich, dass für Bhabha Hybridität nicht per se ein kultureller ›Spiel‹-”Platz für Differenz ist ohne eine übernommene Hierarchie«.255 Vielmehr ist Hybridität ein Prozess nicht im Sinne eines »Vermischen[s], sondern strategische[r] und selektive[r] Aneignung von Bedeutungen, Raum schaffen für Handelnde, deren Freiheit und Gleichheit gefährdet«256 ist. Dass Differenz in der Auswahl von Bhabhas Theorie, seinem Subjektverständnis, den behandelten Gegenständen und seinem empirischen Schreiben bedeutungsvoll ist, zeigt sich nicht nur durch die Sichtbarmachung hegemonialer Strukturen des ›Otherings‹ oder der Herausstellung der Handlungsmacht derjenigen, deren Freiheit und Gleichheit gefährdet ist, sondern auch in seiner Betonung der Notwendigkeit, all dies zu tun, um die Auswirkungen von Differenz im Kontext globaler Machtzusammenhänge und der Produktion von Ungleichheiten einzudämmen. Bhabhas Einsatz, diesen genannten Ansprüchen zu begegnen, geht über diese hinaus, indem er Differenz in seinem Schreibprojekt über sprachliche Mittel, wie Metaphern usw. anwendet. Solche Metaphern, die der Differenz eine semantische und normative Stoßrichtung und Ort geben, sind zum Beispiel Hybridität, Grenze, Darüberhinaus, Verhandlung und Dritter Raum, die im folgenden Abschnitt näher diskutiert werden. In der Logik von Bhabhas Denken in Differenzen als notwendigem Aspekt von Hybridität müssen auch diese sprachlichen Mittel vor dem Hintergrund seines ›theoretischen Engagements‹ gedacht werden. Bhabha betont dabei selbst, dass dieses Vorgehen in einen Zusammenhang mit Strategien des Überlebens in der Gesellschaft gelesen werden sollte. Solche Strategien der subversiven Handlungsmacht und Widerständigkeit sind in Bhabhas bekannten Figuren der Differenz selbst angelegt. Seine an Hall angelehnte Idee der Auseinandersetzung mit Metaphern der ›arbiträren Abgeschlossenheit‹ implementiert bewusst Charakteristika des Bruchs und der Ambivalenz, da er darin die aktive ›Verunmöglichung”257 von Versuchen der Entdifferenzierung und Festschreibung sieht. Dem gegenüber führt Bhabha die Möglichkeit der Neukonstruktion innerhalb eines ethisch abgeschlossenen Rahmens ein, dessen Grenzen nichtsdestotrotz dem Prozess der Verhandlung ausgesetzt sind. Möchte man Bhabhas Vorstellung von Differenz in ihrer verflochtenen theoretischen, anthropologischen, ethischen und pädagogischen Stoßrichtung in Momenten der Hybridität aufzeigen, so stellt sie sich im vorläufigen Ergebnis der Analyse seines Werkes dar 254 255 256 257
Bhabha 2000: 256f. Bhabha 2000: 5. Bhabha 2000: 166. ›Verunmöglichung‹: Ein Neologismus durch die Autorin (N.H.-E.). Dies soll Bhabhas theoretisch und empirisch dekonstruktives Vorgehen ausdrücken.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität a) als kritische Intervention in epistemologisch gewaltvollen Festschreibungen, b) als fragile menschliche Konstitutionsbedingung im Angesicht von Macht und Autorität in der Welt, c) in konkreten und ideellen Gegenständen der Welt (Kultur, Literatur, Kunst, Wissenschaft, gesellschaftlichen und globalen Parias und Randfiguren usw.) und d) als performative Methode der produktiven Aporie bzw. Differenz als ›Dialektik im Stillstand‹, die darin auf bestehende und neue Alternativen und Möglichkeiten hinweist.
Aus dem Ansatz der Hybridität als strategisches Vergrößern und Schaffen von Räumen der Artikulation und Verhandlung für jene, die nicht an hegemonialen Diskursen beteiligt sind, werden im Folgenden sprachliche Methoden und Strategien für das Erreichen und Schaffen solcher Räume in der Gesellschaft am Beispiel einiger von Bhabha verwendeten Figuren der Differenz näher eruiert.
3.5.
Figuren der »arbiträren Abgeschlossenheit«
Vor dem Hintergrund von Bhabhas theoretischer Konzentration auf die »Äußerungsgegenwart als befreiende diskursive Strategie«258 , wird sich der Fokus dieses Buches im Folgenden, auf der Grundlage der oben diskutierten politischen und theoretischen (postkolonialen, poststrukturalistischen, psychoanalytischen) Ansätze und Gegenstandsbereiche in Bhabhas Werk und seinem (dekonstruktivistischen) Umgang mit ihnen, verstärkt auf sprachliche Figuren der Differenz richten. Wie bereits angesprochen, rekurriert Bhabha mit sprachlichen Figuren der Differenz auf Halls Gedanken der »arbiträre[n] Abgeschlossenheit«259 . Als Sprachmetapher der »Einheit […] in Anführungszeichen«260 soll damit auf Momente der kulturellen Identifikation am Rand der Identität aufmerksam gemacht werden, denen zugleich die Unmöglichkeit der vollkommenen Identifikation inhärent ist. Dahinter steht der Begriff der Ambivalenz, dessen semantischer Gehalt auf die Ebene eines politischen Begehrens nach jener »arbiträren Abgeschlossenheit« übertragen wird. In der Verflechtung der Ebenen von Sprache, Theorie und Politik wird diese Metapher als produktive Methode in kulturellen Räumen »für die Erschließung neuer Formen der Identifikation, die die Kontinuität historischer Zeitlichkeit verwirren, die Anordnung kultureller Symbole durcheinander bringen und die Tradition traumatisieren können«261 gehandelt. Bhabha schreibt Sprach258 259 260 261
Bhabha 2000: 266. Hall in Bhabha 2000: 267. Hall in Bhabha 2000: 266. Bhabha 2000: 267.
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Metaphern der Paradoxie eine Funktion der »theoretischen Aufschließung« (engl. Original: disclosure)262 zu, die mit mittels sprachlicher Differenz, wie zum Beispiel der Figur der Ambivalenz – als hybrider Figur der Zusammengehörigkeit von Differentem – einen Raum eröffnet für »die kontingente, indeterminierte Artikulation sozialer Erfahrung«.263 Infolgedessen kann Ambivalenz für die »Erfassung neu entstehender kultureller Identitäten von besonderer Bedeutung sein«264 . Vor dem Hintergrund der Diskussion im vierten Kapitel um mögliche pädagogische Anwendungsmöglichkeiten dieser Metaphern der »arbiträren Abgeschlossenheit« werden diese im Folgenden an einige Beispielen besprochen.
Tropen als Kennzeichen eines ›Darüberhinaus‹-Denkens Dass Bhabhas doing theory sich auf das breite und verwobene Feld des Postkolonialismus, der Postmoderne und des Poststrukturalismus erstreckt, ist mittlerweile bekannt und ist der Grund dafür, dass Michael Göhlich Bhabha als Literaturwissenschaftler liest und David Huddart ihn sogar als Poeten der Wissenschaft und seine Methode als Poetisierung verstehen möchte.265 Metaphern und Metonymien werden im Sinne einer dichterischen Redefigur in der sprachlichen Familie der Tropen verortet, die sich wiederum dadurch kennzeichnen lassen, dass ihnen das Moment des Verweises auf etwas Anderes, Weiteres immanent ist.266 Im folgenden Kapitel werden im Sinne einer Eruierung seiner Methode daher einige Tropen Bhabhas in ihren Differenzen und ihren Überschneidungen diskutiert. Die Relevanz von Tropen als sprachliche Mittel demonstriert Bhabha bereits über den Haupttitel (The Location of Culture) seines Werkes. Der Beginn ist vor diesem Hintergrund besonders zu berücksichtigen, da Bhabha seinen eigentlichen Texten Titelformationen, Zitate und Gedichte vorschaltet, ein Zitat aus Frantz Fanons »Schwarze Haut, weiße Masken«, ein Gedicht von Johnny Meyers »Ac-centtchu-ate the Positive« und ein Zitat aus Martin Heideggers Bauen – Wohnen – Denken.267 Diese können nicht nur als Kontexte und Hinführungen zu seinem Denken gelesen werden, sondern auch als Vermittler dichter Momente seines Werkes selbst. Zusätzlich führt Bhabha den Sinn dieser Kontexte durch das Füllen seiner Einleitung mit diesen und weiteren Tropen fort. Die Einleitung ist inhaltlich wie formal gekennzeichnet von epistemologischen Tropen, wie das »darüber Hinausgehende« (beyond) die »Grenze«, das »Zwischen«, die »Gegenwart«, die »Brücke«,
262 263 264 265 266 267
Bhabha 2000: 267. Bhabha 2000: 267. Bhabha 2000: 267. Vgl. Huddart 2007: 13ff. Vgl. Jakobson: 1983: 174 und Müller-Funk 2012: 132ff. Vgl. Bhabha 2000: 1.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
die »Schwelle« und das »Hin- und Her des Treppenhauses«268 . Im Rahmen dieses Buches werden diese Metaphern als sprachlich methodischer Ausdruck des oben beschriebenen Schreibprojekts Bhabhas verstanden, diskutiert und exemplarisch analysiert. Eine Begründung für dieses Vorgehen liegt an der Fragestellung dieses Kapitels, mit der untersucht wird, ob aus Bhabhas Verwendung dieser Tropen und seiner Vorgehensweise eine Aussage über hybride Methoden insgesamt hergeleitet werden kann. Insofern wird auffallen, dass die diskutierten Tropen eine doppelte Aussagekraft besitzen: zum einen sind sie kennzeichnend für Bhabhas Denken über Differenz, zum anderen verweisen sie durch ihren im Zusammenhang verwendeten Gebrauch auf Bhabhas Schreibmethode hin. Bei den vier exemplarisch herausgestellten Metaphern handelt es sich um, erstens, die »Grenze« (Ausgangssituation), zweitens die »Verortung der Kultur« (Gegenstandsbereich), drittens das »darüber Hinausgehen« (beyond; Vorgehen) und viertens den Dritten Raum (Agenda). Vor dem Hintergrund der Ausgangsfrage dieses Buches zu begrifflichen und theoretischen Kontexten, Methoden und Strategien und der Agenda von Hybridität bieten diese in der Auseinandersetzung mit Bhabhas Schriften weiterführende Ergebnisse an. Aus der Tatsache, dass Bhabha in der Diskussion um andere Tropen immer wieder als vermeintlichen roten Faden die Figur des »darüber Hinausgehenden (beyond)« aufzeigt, lässt sich nicht nur die besondere Bedeutung dieser Figur als immer wiederkehrend und damit als wichtig zu erachtend ableiten, sondern auch die Relevanz der anderen Tropen für ein besseres Verständnis des »darüber Hinausgehenden (beyond)« und somit auch des allgemeinen Konzeptes Bhabhas verstehen. Die metonymische Figur des »darüber Hinausgehenden« ist insofern nicht nur durch das semantische Moment der Erweiterung gekennzeichnet, sondern erhält durch das Spiel mit ihrer sprachbildlichen Ästhetik ein weiteres Moment, das in metaphorischer Manier auf Ähnlichkeit verweist. Die Wiederkehr des Begriffs in anderen Gestalten und Kontexten, als ›ähnlich, aber nicht dasselbe‹ erinnert nicht nur auf eine weitere Figur Bhabhas (die subversive Figur der Mimikry), sondern entspricht auch Bhabhas Vorgehen über Iteration, Metonymie und Metaphern als bewusste Methoden der Dehnung und Herstellung von Nachbarschaften des sprachlichen wie semantischen Raumes.
Bhabhas Arbeit an der Grenze Der Begriff der Grenze ist, wie im zweiten Kapitel diskutiert, als Begriff und Metapher in seiner wissenschaftshistorischen Dimension besonders interessant, da er 268 Vgl. Bhabha 2000: 1ff. Eine weitere wichtige Figur wie Mimikry wurde bereits ausführlich in anderen Schriften (Struve 2013; Dubiel 2007; u.a.) diskutiert und wird in diesem Buch randständig verwendet.
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auf den ersten Blick eine eindeutige semantische Aussage zu postulieren scheint, die sich in der weiteren begriffsphilosophischen und historischen Auseinandersetzung als differentes machtvolles Konstrukt herausstellt. Wenn es in diesem Kapitel darum geht, Hybridität als Methode von Bhabhas Schreibprojekt herauszuarbeiten, dann kann dies gut über seine Bedeutungssetzung und seinen Umgang mit dem Grenzbegriff herausgestellt werden. Um die Pointe an dieser Stelle vorweg zu nehmen, kann durch Bhabhas Werk verdeutlicht werden, das Hybridität hiernach als das Ergebnis eines Hybridisierungsprozesses von Grenzen innerhalb und zwischen machtvollen Ordnungen gedacht wird. Die Funktion der Grenze bestimmt Bhabha wie folgt: »Die verbindenden Grenzbeziehungen der kulturellen Differenz mögen unsere Definitionen von Tradition und Moderne durcheinanderbringen; die gewöhnliche Grenzlinie zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen, dem Hohen und dem Niedrigen neu ziehen; und normative Erwartungen in Bezug auf Entwicklung und Fortschritt in Frage stellen«.269 Am Beispiel seines Verständnisses und Umgangs mit Grenze demonstriert Bhabha in seinem Schreibprojekt sowohl die Kritik an hegemonial bedingten historischen sowie wissenschaftlichen Narrativen als auch die Möglichkeit der Verhandlung von Strukturen auf kultureller Ebene. In seinem dekonstruktiven Vorgehen erschüttert er den Boden von Theorien, Subjekten, Begriffen und Gesellschaften, diese Fragilität weist er als anthropologisches Moment aller Menschen in ihrer Geschichte aus, die sich durch beständige Hybridisierungsprozesse auszeichnen. Auf diesem unsicheren Boden zeigt Bhabha Möglichkeiten des Spiels und der Handlungsmöglichkeiten von »Grenzexistenzen«270 im Umgang mit machtvollen Ordnungen, wie etwa der Vorstellung von Kultur, auf.
3.5.1.
Kopf über in die Tropen
Homi K. Bhabha wählt für sein Hauptwerk den Titel The Location of Culture, im Deutschen Die Verortung der Kultur. Die Besonderheit beider Titel eröffnet sich einerseits durch das metaphorische Sprachspiel (indem Kultur als etwas Nicht-Materielles ›sinn‹-bildlich platziert bzw. ›ver‹-schoben wird. Andererseits stellt der deutsche Titel explizit ein Vorgehen, sogar konkret eine Tätigkeit in den Vordergrund, die im Kontext der Auseinandersetzung mit Bhabhas Arbeit auf die Programmatik seines
269 Bhabha 2000: 3. 270 Bhabha 2000: 1.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Schreibprojektes hinweisen kann, welches sich durch ein gleichfalls theoretisches und empirisches Vorgehen auszeichnet.271 Im englischen Titel heißt es nicht Locating im Sinne eines Vorgangs, sondern The Location, bei dem der Ort betont wird. Nach der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Gesamtwerk wird jedoch immer deutlicher, wie umkämpft und konstruiert dieser Ort in Bhabhas Denken ist und sein soll. Diese ebenso sprachanalytische Untersuchung des Buchtitels dient als Beispiel für Bhabhas Vorgehen in seinem Schreibprojekt, in dem er differente Strukturen auf verschiedenen Ebenen miteinander in Verbindung bringt. In derselben Logik werden Bhabhas semiotische Perspektive und seine sprachliche Dekonstruktion am Beispiel des Titels »Die Verortung der Kultur« in Bezug auf ihre Bedeutung vor dem Hintergrund seiner postkolonialen Agenda für sein ganzes Werk übertragen. Die Diskussion wird, ähnlich wie auch Bhabhas Schriften einen großen Fokus auf die Semiotik legen, größtenteils auf sprachanalytischer Ebene stattfinden. Vor diesem Hintergrund entscheidet sich die Autorin, vornehmlich die deutsche Übersetzung des Titels heranzuziehen, da diese in diesem Fall neben der begrifflichen Offenheit in »Location«, durch das Präfix »Ver«- im Deutschen auch die formalsprachliche und semantische Differenzierung betont, welche einen wesentlichen Aspekt in Bhabhas Denken einfängt.272 Im Folgenden wird am Beispiel des Haupttitels von Homi K. Bhabhas Werk Die Verortung der Kultur und dem Untertitel der Einleitung in derselben Arbeit »Verortungen der Kultur [Hervorhebung N. H.-E.]«273 untersucht werden, wie Bhabha erkenntnistheoretische Aspekte über eine räumliche Metapher diskutiert. Bhabhas Ansatz der Differenz zeigt sich bereits in der feinen und doch bewussten Unterscheidung der beiden Titel, indem er eine kleine Verlagerung des Haupttitels durch den Untertitel in der Einleitung vornimmt. Dies wird im Folgenden an der Verbindung von Syntax und Semantik erläutert und in Rekurs auf den Haupttitel Die Verortung der Kultur in den größeren Bedeutungszusammenhang von Bhabhas Werk gestellt. Bevor der Unterschied zwischen beiden Betitelungen herausgearbeitet wird, soll zunächst der Untertitel der Einleitung zu seinem Werk für sich diskutiert werden, da auf dieser Grundlage die Bezeichnung der gesamten Schrift besser zu verstehen sein wird.
271
In der Untersuchung des analytischen Gehalts von Begriffen, Metaphern, Satzstrukturen und Titeln werden sie zu einem späteren Zeitpunkt vor dem Hintergrund des Einsatzes von Denkfiguren in pädagogischen Räumen diskutiert. 272 Der Übersetzers hat Location statt mit »Ort«; »Ortung« mit »Verortung« (Locating) übersetzt 273 Bhabha 2000: 1.
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Die semiotische und semantische Verschiebung des Ortes der Kultur: Ein sprachanalytischer Zugang In dem Ausdruck »Verortungen der Kultur« fällt auf, dass der Begriff der »Kultur« im Singular verwendet wird, während »Verortungen« in pluraler Form dargestellt werden. Der Untertitel der Einleitung, »Verortungen der Kultur«, verweist auf der semantischen Ebene auf plurale Möglichkeiten im Umgang mit bzw. in der Einordnung der Kultur. Bhabha hätte »Kultur« ebenfalls in den Plural setzten können oder mit einem Zusatz »Kultur in der Postmoderne« oder »Kultur in Zeiten der Globalisierung« etc. versehen können. Die strukturelle und konzeptionelle Offenheit von Tropen bietet Bhabha den angemessenen Raum für das Zusammendenken und die Darstellung von Theorie und Methode. Dies wird zum Beispiel an dem verwendeten Verb »to locate« deutlich, welches im englischen Satz das Bindeglied zwischen Bhabhas Aussage über die allgemeinen Annahmen der gegenwärtigen Zeit und den von ihm spezifisch benannten Inhalt darstellt. Dabei ist das Verb, welches die Verbindung von theoretischer und methodischer Ebene aufzeigt, dasselbe, das er im Titel seines Gesamtwerkes benutzt, nämlich »verorten« bzw. »locate«274 . Dieses Verb kann in einer Reihe mit dem Titel des Gesamtwerkes und dem Einleitungssatz zu demselben gesehen werden. Die dreimalige Erwähnung dieses Wortes an solch prominenten Stellen, im Haupttitel, im Untertitel der Einleitung und im ersten Satz des Werkes, kann als besondere formale Betonung auf eine ebenso wichtige inhaltliche Komponente gedeutet werden. Mit »the location of culture« im englischen Haupttitel, »Locations of culture« im Titel der Einleitung und »to locate the question of culture« im ersten Satz weist Bhabha nicht nur auf eine formale und inhaltliche Verdichtung dieser Aussage hin, vielmehr geht diese mit einer pluralen und heterogenen Ausdrucksweise einher, die die besondere Konzeption Bhabhas widerspiegelt, Theorie und Methode zusammen zu denken. Dabei sind Tropen genau die Schnittstelle zwischen diesen beiden und können dabei neue erkenntnistheoretische Dimensionen schaffen, indem sie in der Nicht-Abgeschlossenheit ihres Konzeptes durch ihre assoziative und metonymische Struktur auf verbindende Momente setzen, statt auf Abgrenzung. Durch Bhabhas gesamtes theoretisches Konzept zieht sich die Linie der Verbindung von erkenntnistheoretischen Fragen mit Tropen, durch welche alten Fragen neue und offene Räume der Verhandlung gegeben werden. Implizit ist diesem Ansatz die ständige Notwendigkeit der Neuverhandlung inhärent. Gerade durch das Verb »to locate« wird ›die Verortung‹ explizit als eine Handlung ausgewiesen, welche der »Frage der Kultur« aktiv einen Ort gibt. Im Kontext des ersten Kapitels in Bhabhas Werk »Theoretisches Engagement« wird eben dieser handlungstheoretische Ansatz offensichtlich. Die Form des Singulars in der Bestimmung der »Kultur« 274 Bhabha 1997: 1.
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ist vor allem vor dem theoretischen Hintergrund Bhabhas beachtlich, wenn man bedenkt, dass sie von einem Theoretiker gewählt worden ist, welcher ein Problembewusstsein für eindeutige und scheinbar klare inhaltliche Bestimmungen vor allem in Fragen von Kultur und Zugehörigkeit aufweist. Eine Deutung dessen könnte sein, dass »Kultur« in diesem theoretischen Kontext nicht anders als im problembewussten Sinne im Singular genutzt werden kann. Es bleibt nun also zu untersuchen, mit welcher Absicht dies getan wird. Um das zu tun, muss der Ansatz der Gegenüberstellung der Substantive weiterverfolgt werden. Gerade aus dem Gegensatz zu dem im Plural und heterogen aufgestellten Wortgebilde »Verortungen« kann die Singularität von »Kultur« als syntaktisch und semantisch feste Einheit verstanden werden. Folgt man dem Motiv der Gegenüberstellung, so wird deutlich, dass »Verortungen« keinen vordergründig einheitlichen und geschlossenen Begriff darstellt, wie etwa »Kultur«, vielmehr bleibt der Eindruck des Konstruierten. Inwieweit der Eindruck sich bestätigt oder nicht, bleibt an der Syntax zu analysieren. Das Wortgebilde besteht aus dem Wortstamm »Ort«, dem durch das Präfix »Ver-« verschiedene Bedeutungsverschiebungen ermöglicht werden. Zum einen ist darin ein aktives Verb enthalten: »Ver-Orten«, welches eine semantische Doppeldeutigkeit mit sich bringt: Etwas verschieben oder/und einer Sache einen Ort geben. In diesem Kontext kann Ort ein Kennzeichen für Zuweisung oder Zugehörigkeit sein, gleichzeitig aber auch eine breite Fläche, welche die Zugehörigkeit nicht auf einen Punkt beschränkt, sondern sie auf einen größeren Ort ausweitet. Die Tatsache, dass »Ort« nur als Wortstamm dient und mehrfach transformiert wird, deutet auf seinen offenen und heterogenen Charakter hin. Der Wortstamm »Ort« erhält durch das Präfix »Ver-« also nicht nur eine Verschiebung im syntaktischen Sinne, sondern erhält dadurch einen neuen doppeldeutigen Sinn. Die Endung »-ung« verschiebt auf der syntaktischen Ebene das neu geschaffene Verb hin zu einem ebenfalls neuen Substantiv, der »Verortung«. Selbst dieses neu geschaffene Substantiv wird mit der Endung »-en« vom Status des Singulars in den Plural verschoben und ein weiteres Mal verändert. Dabei ist das Ende des explizit konstruierten und mehrfach transformierten Wortes gekennzeichnet durch den Plural. Der Plural kann in direkter Verbindung mit dem Ende (als Größe der Endgültigkeit) den ambivalenten Charakter desselben ausweisen. Aus diesem aufgezeigten Gegensatzpaar von »Verortungen« und »Kultur« kann also konstatiert werden, dass Kultur als Größe zwar, im Gegensatz zum Begriff der Natur, von Menschen geschaffen ist, sie jedoch als feste und eindeutige Größe dargestellt wird. Dem steht mit »Verortungen« ein explizit heterogenes Konstrukt gegenüber. Für das Herausarbeiten der Bedeutung dieser gegenübergestellten Begriffe gilt es nach der Untersuchung ihres jeweiligen Wortbaus das Verhältnis dieser beiden zu betrachten.
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Das oben angeführte Verhältnis von »Verortungen« und »Kultur« erweist sich durch den Genetiv anzeigenden Artikel in »Verortungen der Kultur [Hervorhebung: N. H.-E.]«275 nur auf den ersten Blick als oppositionell. Vielmehr stehen beide in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis, dadurch sichtbar wird, dass es die im Satzbau vorangestellten »Verortungen« sind, welche der Kultur ihre Bestimmung geben. Es heißt zum Beispiel nicht ›Verortungen und Kultur«. Wären beide durch ein ›und‹ verbunden, wären sie als unabhängiger voneinander zu verstehen als durch den zugehörigkeitsanzeigenden Artikel »der«. Betrachtet man nun die bisherigen Ergebnisschritte, so könnte man subsumieren, dass Bhabha in der wissenschaftlichen Tradition der Cultural Studies stehend mit dem Begriff der Kultur und dem Umgang mit ihr (»Verortungen«) auf einen wissenschaftlichen wie auch gesellschaftlichen Diskurs aufmerksam macht. Auf der rein semantischen Ebene deutet er darauf hin, dass es eine Pluralität an Möglichkeiten und Arten gibt, mit Kultur umzugehen bzw. ihren Inhalt zu bestimmen (»Verortungen der Kultur«). Die Analyse der Syntax bestätigt diese Deutung und zeigt doch auch weitere Ebenen. Die plurale Eigenschaft von »Verortungen« wird ergänzt durch eine Heterogenität an zusammengebrachten Wortarten: Substantiv (Ort), Verb (Verorten), Präfix (ver-), wieder Substantiv (Verortung), Kennzeichen des Plurals (Verortungen). Dem wird der Begriff der »Kultur« durch seinen nicht im Plural verwendeten, nicht-konstruierten Wortbau diesen Kriterien nach gegenübergestellt, um in einem weiteren Schritt durch das den Genetiv anzeigende Bindewort »Verortungen der Kultur [Hervorhebung: N.H.-E.]« eine direkte Abhängigkeit dieser gegensätzlich aufgebauten Begriffe zu konstatieren. Durch das Abhängigkeitsverhältnis beider Begriffe zeigt er jedoch auch auf, dass die zuvor aufgezeigten Gegensatzbegriffe als relativ zu betrachten sind, da sowohl die »Kultur« als feste und unverrückbare Größe durch seine Abhängigkeit vom heterogen, pluralistisch und dynamisch zu verstehenden Begriff der »Verortung« von ihm beeinflusst wird und auch anders herum. In dieser Konsequenz können weder Zuordnungen wie »Kultur« als etwas Einheitliches und Stabiles noch »Verortungen« als heterogenes Konstrukt und dynamische Wortbildung aufrechterhalten werden, da sie immer im Bedeutungsschatten des anderen stehen. Die Bedeutungszuordnungen beider Begriffe werden von Bhabha durch ihre vordergründige Gegensätzlichkeit und doch Nähe, verdeutlicht an ihrer Abhängigkeit voneinander, als instabil und somit insgesamt auch als konstruiert dargestellt. Damit werden nicht nur die Begriffe in ihrem konstruierten Charakter gezeigt, sondern auch die Messinstrumente und -kriterien in Frage gestellt, nach denen sie bestimmt und beurteilt werden. Dass eine Dekonstruktion von Begrifflichkeiten am Beispiel der Ver-Schiebung sprachlicher Strukturen auch symbolisch für eine subjektive Handlungsmacht 275 Vgl. Bhabha 2000: 1.
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steht, die eine »radikale Revision des Begriffs der menschlichen Gemeinschaft selbst zur Folge«276 haben soll, wird politisch, wenn hinterfragt »und neu bestimmt wird, was dieser geopolitische Raum als lokale oder transnationale Wirklichkeit sein mag«.277 Auf die historisch-politische Ebene übertragen sieht Bhabha am Beispiel eines serbischen Nationalismus, der auf der Idee einer rein »ethnisch gesäuberten« nationalen Identität beruhe, nur die Möglichkeit der Aufrechterhaltung dieser »Psychose des patriotischen Enthusiasmus«278 durch die Ermordung von » – im wörtlichen und übertragenen Sinn – der komplexen geschichtlichen Verflechtung und der kulturell kontingenten Grenzen der modernen Erscheinungsform der Nation«.279 Im Original verwendet Bhabha den Begriff des ›nationhood‹, der durch das ›hood‹ das Moment der Identifizierung mit der Nation noch stärker betont280 . Überträgt man Bhabhas Argumentation auf den Kontext des Vorgehens der Nationalsozialisten in Deutschland (ab 1933), so kann der damals verwendete Ausdruck der »Gleichschaltung« auch als Bhabhas benanntes Phänomen der Negation bis hin zur Ermordung von bestehender Hybridität gelesen werden. Denn nicht zuletzt im Sehen einer ›Notwendigkeit‹ der »Gleichschaltung« wird das Bestehen von Hybridität als Moment der Differenz und Verflechtung zementiert. Stellt man das oben Ausgeführte wieder in den Kontext der Titel-Metapher »Die Verortung der Kultur«, so zeigt sich die strategische Verflechtung der theoretischen, historischen, politischen und kulturellen Kontexte mit sprachlichen Bildern. Extrahiert werden können an dieser Stelle zum Beispiel Momente der Intervention (in der Ver- Ortung), welche vor dem Hintergrund von Bhabhas ganzem Werk die Möglichkeit einer aktiven Verschiebung der Sprache und machtvoller Ordnung implizieren, die wiederum als distanzierender, kritischer Akt der Intervention in bestehende Diskurse gelesen werden kann. Zudem macht der Neologismus (in Ver-Ortung)281 auf den Konstruktcharakter des Wortes und seine doppelte, sogar ambivalente Semantik der Trope »Verortung« (über zwei scheinbar differente und unvereinbare Aspekte) aufmerksam: Zum Einen auf ein aktives und kritisches Eingreifen im Akt der Ver-Schiebung (oder Dekonstruktion), zum Anderen auf das Schaffen eines Ortes, eines (dritten) Raumes für »Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie«282 als Antwort auf Lehren aus epistemologischer
276 277 278 279 280
Bhabha 2000: 8. Vgl. Bhabha 2000: 8. Bhabha 2000: 7. Bhabha 2000: 7. Lohnenswert ist an dieser Stelle eine weiterführende Literatur zur Hybridität und Nationenbildung bei Scheunemann 2016. 281 Im Deutschen durch das »Ver-« und das »-orten«, im Englischen durch die Verschiebung des ortsbestimmenden Substantivs zu einem Verb als Akt der Handlung in »The Location«. 282 Bhabha 2000: 5.
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Gewalt und Barbarei in der Geschichte am Beispiel des Kolonialismus, des Holocaust und Genoziden (in Ruanda und anderswo). Bhabhas Auseinandersetzung mit dem Begriff der Differenz stellt den Diskurs um den Umgang mit dem Anderen ins Zentrum der Frage nach Möglichkeiten der Entbarbarisierung und eines zivilgesellschaftlichen Lebens in Einwanderungs- und postmigrantischen Gesellschaften283 . Hybridität zeigt sich in diesem Sinne als theoretisches, kulturelles und politisches Ziel, diese als Folie für historische und gesellschaftliche Austausch- und Entwicklungsbedingungen zu verstehen.
Grenze im Kontext der Geschichte einer globalen Hybridität Neben der prinzipiellen Existenz von Hybridität in ihrer Banalität, aber auch als komplexe geschichtliche Verflechtung gibt Bhabha außerdem Belege für Hybridität als aktive kulturelle Arbeit innerhalb geopolitischer Räume und Zeiten der Diskriminierung, Separierung, Apartheid und Krieg, die Themen und Fragen dieser Art auf die internationale Bühne bringen und verhandeln. Die postkoloniale Lage zeige ihre umfassende Bedeutung in der Gesellschaft erst aus ihrem Erkenntnispotenzial darüber, dass die »epistemologischen Grenzen dieser ethnozentrischen Ideen auch die artikulatorischen Grenzen einer Reihe anderer dissonanter, ja sogar dissidenter Geschichten und Stimmen sind – Frauen, die Kolonisierten, Minderheitengruppen, diejenigen, deren Sexualpraktiken polizeilich registriert sind«.284 In Anlehnung an postmoderne und poststrukturalistische Vorgehensweisen rückt Bhabha die epistemologische Metapher der Grenze als Moment der Peripherie ins Zentrum des Geschehens und füllt sie mit der Geschichte postkolonialer Migration und anderen Minderheiten im Spannungsfeld von Macht und Autorität aus. Darüber hinaus stellt er heraus, dass die Kritik an großen Geschichten auch immer eine Kritik an der Hegemonie von Denk- und Ausdrucksmöglichkeiten ist, die in der Logik des Dazugehörens auch auf »artikulatorische Grenzen« der Ausgeschlossenen hinweisen. Ähnlich wie bei Spivak steht auch hier die Frage im Mittelpunkt, wie bestimmte Menschen und Gruppen den Diskurs prägen sollen, wenn sie durch machtvolle Praktiken vom Zentrum ferngehalten werden. Bhabha führt über künstlerisch-literarische Erzählungen vor, wie einzelne und kollektive Schicksale, unter anderem in der Apartheid Südafrikas (am Beispiel von Nadine Gordimers Die Geschichte meines Sohnes) und der Sklaverei in den USA (am Beispiel von Toni Morrisons Menschenkind) »die historische Welt als eine«285 verbunden ist, wenn auch in brüchigen Zusammenhängen, die in jeweils anderen Kontexten und Dynamiken stattfinden, und doch ähnlichen rassistischen, kolonialen und imperialen Grundlagen entstammen.
283 Vgl. Hamann 2002. 284 Bhabha 2000: 6. 285 Bhabha 2000: 27.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Die Figur der Grenze ist für Bhabha das Sinnbild für Erzählungen von »großen sozialen Verdrängungen«,286 ob im Falle von Bauern- und Ureinwohnergemeinden oder der poetischen und prosaischen Ausdrucksform von Flüchtlingen. Eben diese sinnbildliche Grenze wird von Bhabha mit Rekurs auf Heidegger zum Ort deklariert, an dem etwas »sein Wesen beginnt«.287 Die Geschichte beginnt also erst im Moment des Arbeitens an der Grenze, das heißt in der Konstruktion und Dekonstruktion derselben als Moment der Aktion, der Interaktion, des Kämpfens und des Widerstandes. Bhabha gibt dem Ausgangspunkt seines Grenzbegriffs eine neue Materialität, indem er Geschichten aus einer globalen Wirklichkeit, die Minderheiten und Randfiguren im Kontext der Erfahrung mit Macht und Autorität in den Blick rückt, als Geschichte aller ausweist. Auf diese Weise verflechtet Bhabha die erzähltheoretischen Ansätze der Postmoderne mit der postkolonialen Perspektive auf die Weltgeschichte und verweist auf ihre untrennbare und nicht konfliktfreie gemeinsame Geschichte, die seiner Vorstellung von Hybridität entspricht. »Die westliche Metropole muss ihrer postkolonialen Geschichte, die von den in sie hineinströmenden Nachkriegsmigranten und Flüchtlingen erzählt wird, als einer einheimischen Narrative begegnen, die ihrer nationalen Identität inhärent ist; und der Grund hierfür wird in den gestammelten, trunkenen Worten von Mr. ›Whisky‹ Sisodia aus den Satanischen Versen deutlich: ›Das Problem mit den Engengändern ist, daß ihre Gege-Geschichte in Übersee passiert ist, dada- daher wissen sie nicht, was Geschichte bedeutet‹«.288 Bhabha legt mit Rushdie ›eine‹ Wahrheit über die scheinbare nationale Geschichte als globale Geschichte in den Mund eines Betrunkenen, der in seinem schwankenden Zustand auch eine Allegorie für die (auch aporetische) Doppelperspektive von Migranten ist, deren Sicht von der Mehrheitsgesellschaft oft als defizitär angesehen wird, die jedoch gerade aus dieser Doppelperspektive heraus auch andere Wahrheiten sehen können. Für Bhabha sind Migranten und Randfiguren von Gesellschaften »Grenzexistenzen«, die als gesellschaftliches Potenzial gesehen werden sollten, um das eigene Bild vom Selbst, der Geschichte, der Nation usw. im Spiegel dieser Perspektive zu erweitern. Die Wirkung der Postkolonialität und ihrer Infragestellung scheinbar natürlicher Grenzen im Geschichtsverständnis beschreibt Bhabha als Möglichkeit einer heilsamen Erinnerung an die fortdauernden neokolonialen Beziehungen innerhalb einer neuen globalen Weltordnung und der multinational aufgeteilten Arbeit.289 286 287 288 289
Bhabha 2000: 7. Bhabha 2000: 7. Bhabha 2000: 9. Die Figur der Grenze kann im Weiteren auf Fragen des sozialen und ökonomischen Ausschlusses und der Vertreibung fortgeführt werden (zum Beispiel im Aufzeigen des Homoge-
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Die von Bhabha ins Zentrum gestellte Differenz ist eine wesentliche Eigenschaft der Grenze, während letztere jedoch durch ihre sowohl allgemeinere als auch konkretere Bildhaftigkeit über sie hinausgeht, indem er fragt: »Wo soll man die Grenzen ziehen, zwischen Sprachen? Zwischen Kulturen? Zwischen Disziplinen? Zwischen Völkern?«290 Bhabhas eigene Antwort auf diese Frage liegt darin, dass die Grenze nicht zwischen diesen scheinbaren Einheiten gezogen wird, sondern im Aufzeigen des Konstruktcharakters von Grenzen und Einheiten, aber auch im aktiven Verschieben dieser besteht, wie er an verschiedenen Beispielen in seinem Werk demonstriert. Aus diesem Zusammenhang lässt sich das emphatische Moment in Bhabhas Kulturverständnis als Raum der Verhandlung gesellschaftspolitischer Fragen erkennen. Vor dem Hintergrund seiner »theoretisch engagierten« Agenda und einem Vorgehen mit Mitteln der Kultur werden im Folgenden weitere bedeutsame Metaphern für Bhabhas Schreibprojekt diskutiert, die aufschlussreich sein können in Bezug auf Hybridität als Methode der Verflechtung aus Semiotik und Semantik, nämlich die Figur des »darüber Hinausgehenden« und die Figur des »Dritten Raumes«.
Die Figur des Darüberhinaus (beyond) im Kontext der Kultur »Darüber-hinaus«291 als Moment des Übergangs und in der Metapher der Schwelle ist eine Figur, welche ohne die Kategorie der Grenze schwer zu denken ist, denn sie steht für eine räumliche Überschreitung, welche in dieser Entfernung von etwas auch einen normativen Aspekt des Fortschritts birgt. Wie Bhabha diesen Fortschritt über die Figur des »Darüberhinaus« inhaltlich wie formal besetzt, wird im Folgenden diskutiert. Die erste Benennung der Denkfigur des »darüber Hinausgehenden (beyond)« findet bereits im ersten Satz der Einleitung in »Die Verortung der Kultur« statt: »Es ist eine gängige Vorstellung unserer Zeit, die Frage der Kultur im Bereich des darüber Hinausgehenden (beyond) zu verorten«.292 Im Sinne des für Bhabha typischen Zusammendenkens von Theorie und Methode ist sein Vorgehen bei der inhaltlichen Einleitung seines Konzeptes näher zu betrachten: Vor dem Hintergrund von Bhabhas literaturwissenschaftlichem Lesen und Analysieren anderer Werke wird
nitätsmythos durch eine unumgängliche Differenz, aber auch in der Realität der Aufrechterhaltung von Macht durch das Festhalten an polaren Konzepten durch den Ausschluss, die Verdrängung anderer an die Ränder (Beispiel Gentrifizierung, das Verhindern bzw. die Unmöglichkeit der konkreten wie auch der Aufstiegsmobilität usw.). 290 Bhabha 2000: 87. 291 Da Bhabha den Begriff des »Darüberhinaus« im Englischen (und auch der deutschen Übersetzung) in seiner differenten Ausdrucksmöglichkeit erfasst, wird dieses Vorgehen auch in diesem Buch übernommen, um jene Logik auch in der sprachästhetischen Betrachtung deutlich zu machen. 292 Bhabha 2000: 1.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
das Lesen seiner Schriften an diesen Maßstäben gemessen. So richtet sich die Analyse zunächst auf den oben zitierten Satz der Einleitung. Mit dem ersten Teil des Satzes scheint ein sanfter Einstieg für den Leser bereit zu stehen, der ihn scheinbar lediglich auf den aktuellen Stand der Vorstellungen aufmerksam macht. Dem Leser wird durch diese allgemeine Formulierung Raum gegeben, sein Wissen darin wiederzufinden oder auch nicht. Im zweiten Teil des Satzes füllt Bhabha die allgemeine Vorstellung der Zeit mit Inhalt, indem er die Kultur als dominantes Thema herausstellt und gibt dem Ganzen noch den inhaltlichen Verweis auf einen Bereich des darüber Hinausgehenden. In diesem kurzen Satz kann das Programm seines inhaltlichen wie formalen Schreibprojektes gelesen werden, indem er die epistemologische »Frage der Kultur« mit einer Trope des »darüber Hinausgehenden (beyond)« durch die sich aufbietenden Vorstellungen der Zeit verbindet.293 In diesem Sinne erhält die »Frage« als solche eine besondere Position, da sie als Mittel dienen kann, um erkenntnistheoretische Räume zu öffnen, indem Bhabha explizit nicht vom ›Thema‹ oder ›Problem‹ der Kultur spricht. Für den Leser deutet die Formulierung »Frage der Kultur« auf ein offenes diskursives Moment hin und weniger auf feste Aussagen zu einer klar umfassten Thematik. Solch ein Diskurs erhält im ersten Satz der Einleitung beinahe eine mehrfache Verortung: »im Bereich des darüber Hinausgehenden zu verorten [Hervorhebung: N. H.-E.]«294 und in der englischen Version: »to locate […] in the realm of the beyond«.295 Obwohl auch die metonymische Figur des »darüber Hinausgehenden (beyond)« eine ortsangebende Bestimmung innehat, unterscheidet sie sich von den anderen beiden Ausdrucksweisen. Ein ›Ort‹ oder ein ›Bereich‹ wird aufgrund seiner Eigenschaften der klaren Umrisse und Unterscheidbarkeit von anderen als ein solcher definiert und anerkannt. Was bedeutet es aber, wenn man diesem Bereich den Namen des »darüber Hinausgehenden (beyond)« gibt? Die Denkfigur des »darüber Hinausgehenden (beyond)« hat ihre Bestimmung gerade in der bildlichen und damit auch theoretischen Distanzierung (Negation) zu einem klar definierbaren und der Gefahr der Abgeschlossenheit ausgesetzten Ortes. Diese Differenzen werden wieder einmal zum Anlass für eine Auseinandersetzung mit Fragen danach, warum Bhabha überhaupt so bewusst mit Begriffen wie Ort und Bereich operiert, um dann die mit ihnen verbundenen Vorstellungen mit den Eigenschaften eines »darüber Hinausgehenden (beyond)« in Frage zu stellen. Er hätte einen Begriff wie zum Beispiel »Raum« verwenden können, welcher diese Widersprüchlichkeit und Problematik vermieden hätte. Da er dies nicht tut, bleibt die Widersprüchlichkeit als gewollt zu
293 Vgl. Bhabha 2000: 1. 294 Bhabha 2000: 1. 295 Bhabha 1997: 1.
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bewerten. Die »Frage der Kultur« könnte somit als ein »Bereich« »verortet« werden und damit eine Anerkennung erfahren, während eben diesem Bereich durch die Assoziation mit der Figur des »darüber Hinausgehenden (beyond)« eine qualitativ offene inhaltliche Bestimmung zuteilwird. Der Akt des »Verortens« der »Frage der Kultur« könnte im Sinne des ›theoretischen Engagements‹ als kulturpolitische Handlung des Sichtbarmachens, und damit des Anerkennbar-Machens von allgemeinen Annahmen und die In-Fragestellung dieser verstanden werden, während die weitere Figur des »darüber Hinausgehenden (beyond)« über diese Distanzierung und Betrachtung des Gegebenen hinaus auf den Prozesscharakter und eine Weiterentwicklung hinweist. Setzt man den oben sprachanalytisch diskutierten Haupttitel in Bhabhas Werk in den Kontext seines empirischen Vorgehens, so kann der Titel als Beispiel für sein ganzes Werk als sinnbildliche Verflechtung von Semiotik und Semantik gelesen werden, welches im Folgenden kurz dargelegt wird: Es darf darüber gestritten werden ob die deutsche Übersetzung des Haupttitels von The Location of Culture als gelungenes Beispiel für Bhabhas eigener Vorstellung von Übersetzungen (in Anlehnung an der Walter Benjamins in Kapitel zwei dieses Buches) dienen darf oder nicht. Für diese Übersetzung von »Verortung«, die eine leichte semantische Verschiebung des englischen Originalbegriffs »Location« im Hauttitel von Bhabhas Hauptwerk darstellen kann, spricht, dass sie sich mit Bhabhas theoretischer, kultureller und politischer Agenda der Hybridität überschneidet: Als verflochtenes Moment von (a.) theoretischer Intervention in Diskurse durch eine dekonstruktive Auseinandersetzung mit »übernommenen und verordneten Ordnungen«296 und (b.) Prozessen menschlicher Kontaktsituationen und Verhandlungen von Macht und Autorität und (c.) Kultur als doppelte Figur der Differenz, die auf verschiedene Momente der Differenz aufmerksam macht. Der Begriff der Differenz wird einerseits verwendet, um auf die Konstruktion machtvoller Ordnungen in der Geschichtsschreibung, der Nationenbildung und auf Probleme in Einwanderungsgesellschaften im Sinne des »otherings«, der Kulturalisierung und der Festschreibung hinzuweisen. In der Gleichzeitigkeit des doppelten Moments der Differenz wird Kultur zudem (nicht nur bei Bhabha) als Vorzeigebeispiel für Möglichkeiten der (kulturellen) Handlungsmacht in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herangezogen.297 Bhabha vollführt diese Handlungsmacht exemplarisch durch das Vorgehen in seiner Werk, was in diesem Kapitel über seine Tropen dargelegt wird. Diese (d.) strategischen Figuren der Differenz werden als sprach-
296 Bhabha 2000: 5. 297 Hier kann ein emanzipativer, bildungstheoretisch relevanter Aspekt im Potenzial des Subjekts erkannt werden.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
lich-kulturelle Mittel zur Schaffung normativer Räume der Verhandlung von Altem und Neuem eingesetzt.
Darüberhinaus… als Methode der Herstellung von Nachbarschaften durch Iteration, Dehnung und Vergrößerung des epistemologischen Raumes Sprachtheoretisch wird die Figur des »darüber Hinausgehenden (beyond)«298 im Verhältnis zu anderen Tropen als metonymische Figur eingeordnet. Sie kennzeichnet sich im Gegensatz zur Metapher, die auf Similarität verweist, durch eine »Kontiguitätsoperation«299 aus, die auf eine Erweiterung hinweist. Die metonymische Figur des »Darüberhinaus«300 spielt für das Erfassen von Bhabhas theoretisches und empirisches Schreibprojekt eine signifikante Rolle, insofern ist ihre besondere theoretische wie methodische Bedeutung in Bhabhas Hauptwerk Die Verortung der Kultur hervorzuheben. Im weiteren Vorgehen wird zuerst Bhabhas explizite Ausführungen zu der Figur des »darüber Hinausgehenden (beyond)« besprochen werden, um ein allgemeines Verständnis davon zu erhalten, was Bhabha mit diesem Ansatz ausdrücken möchte. Mit dem »darüber Hinausgehenden (beyond)« stellt Bhabha bereits zu Beginn seines Hauptwerkes eine metonymische Trope vor, welche in ihrer theoretischen und methodischen Pluralität und Heterogenität den Grad der strukturellen Offenheit von Tropen an sich repräsentieren kann. Tropen, besonders im Fall des »darüber Hinausgehenden (beyond)«, haben eine Schlüsselposition für weitere inhaltliche Bestimmungen im Konzept Bhabhas. Hinter der Begrifflichkeit »beyond« und in der deutschen Übersetzung (in verschiedenen Schreibweisen) im »darüber Hinausgehenden (beyond)« verbirgt sich auf den ersten Blick eine ortsbestimmende Metapher, die auf ein doppeltes Moment verweist, einem »darüber« und einem »hinaus«. Vor dem Hintergrund von Bhabhas postkolonialem und poststrukturalistischem Ansatz kann erschlossen werden, welchen Bezug das »darüber« und welchen das »hinaus« hat. Konkret wird diese Figur des »darüber Hinausgehenden (beyond)« in der deutschen Übersetzung des Werkes Die Verortung der Kultur allein in der Einleitung über zehn Mal benannt, in der englischen Originalversion Bhabhas (1997) sogar über dreizehn Mal. Diese Zahlen mögen zunächst in der Quantität ihres formalen Erscheinens in einer Einleitung hoch erscheinen, müssen jedoch nicht zwingend eine inhaltliche Dimension erfüllen. Auffällig sind dabei zwei Aspekte: Einerseits die Erscheinungsfrequenz dieses Wortes, andererseits die Erschwerung der eindeutigen
298 Bhabha 2000: 1. 299 Jakobson 1983: 168. 300 Die scheinbar fehlende Systematik in der Verwendung der Begrifflichkeiten dient nicht nur der Annäherung an die Sprachästhetik Bhabhas, sondern auch dem programmatischen Versuch einer Gewöhnung an eine produktive Irritation durch Heterogenität.
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Festlegung dieser Zahl durch die Pluralität und Differenz der Schreibweisen von »beyond« bzw. des »darüber Hinausgehenden«. Dabei fällt im Original auf, dass die Wörter »beyond« bzw. »darüber Hinausgehend (beyond)« eine weitere Hervorhebung über ihre vielfältige Schreibweise erfahren: zwei Mal »beyond«, sieben Mal »›beyond‹«, einmal »›in the beyond‹«, vier Mal »beyond«. In der deutschen Übersetzung des Werkes ist der Versuch ersichtlich, eine eben solche unterschiedliche Betonung zu berücksichtigen. Hierbei wird das Wort des »darüber Hinausgehenden (beyond)« über zehn Mal gezählt und in verschiedenen Darstellungsweisen deutlich: erstens »darüber Hinausgehend (beyond)«,301 zweitens als »Darüber Hinaus«,302 dann drittens wieder als »›darüber hinausgehend‹«,303 viertens »Darüber hinaus«,304 fünftens als ein »Darüberhinausgehendes«,305 sechstens »›Darüber Hinaus‹«,306 siebtens »darüber Hinausgehend«,307 achtens »›im Darüber Hinaus‹«,308 neuntens »Darüber Hinaus«,309 und zehntens letztlich eingebunden in den Satz »Wieder ist es das Verlangen nach Anerkennung, nach einem ›Anderswo‹ und einem ›Anderen‹, das die Erfahrung von Geschichte über die instrumentale Gegebenheit hinaus trägt.«310 Versuche, hierin eine klassische Systematik durch einheitliche Schreibweisen, eine einheitliche Verwendung des Wortes oder gar eine herkömmliche Logik (übereinstimmend oder symbolträchtig) in der Anzahl der verwendeten Wörter des »darüber Hinausgehenden (beyond)« bzw. »darüber Hinausgehend (beyond)« zu sehen, scheitern. Dies könnte als Wiederlegung der Hypothese gesehen werden, dass Bhabha mit dem »darüber Hinausgehenden (beyond)« eine spezielle inhaltliche Aussage treffen möchte. Im Kontext von Identitätsbildung und Textentstehung beschreibt Bhabha die »Kunst des Werdens«311 anhand der Metonymie. In jener Wiederholung oder Verdopplung ist sie eine rhetorische Figur der Kontiguität. In ihr zirkulieren Teil und Ganzes, ebenso wie Identität und Differenz als »Doppel-Bewegung«312 . Bhabha rekurriert hier auf Derridas Spiel des Supplements. Demnach wäre das Supplementäre und das Metonymische »weder leer noch voll, weder Teil noch Ganzes«.313
301 302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313
Bhabha 2000: 1. Bhabha 2000: 1. Bhabha 2000: 1. Bhabha 2000: 5. Bhabha 2000: 5. Bhabha 2000: 6. Bhabha 2000: 10. Bhabha 2000: 10. Bhabha 2000: 10. Bhabha 2000: 12. Bhabha 2000: 81. Bhabha 2000: 81. Bhabha 2000: 81.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Durch ihren Charakter der Kompensation und des Stellvertreters würden Signifikationsprozesse und soziale Übersetzung angespornt werden. So würde sie etwas Zusätzliches hervorbringen, das nicht nur ein »abgetrennter Teil oder eine Spalte des Subjekts ist, sondern auch der Querschnitt, den es über soziale Orte und Disziplinen hinweg erzeugt«314 . Das Metonymische erfüllt durch die Dopplung sozusagen die Funktion der Irritation von Selbstverständlichkeiten, sowie zugleich das Begehren nach Harmonie und Schließung. Bei dieser Suchbewegung nach Identität und Vervollständigung wird jedoch ein Anderes benötigt, das jedoch wiederum die Differenz mit sich bringt und nach Freud das Unheimliche im Heimischen evident macht. Dieser Schluss würde jedoch neben der Häufigkeit der Verwendung des Wortes außer Acht lassen, dass Bhabha dieses Wort gerade in der Verschiedenheit seiner Schreibweisen hervorhebt. Über die Verwendung dieser metonymischen Figur als Methode, die Aussage des »darüber Hinausgehenden« im performativen Akt der ausdrücklichen Differenzierung, der aktiven Verschiebung von Inhalt und Form als Produktion von epistemologischer Nachbarschaft anzulegen, wird ein wichtiges Moment in Bhabhas Schreibprojekt sichtbar.
3.5.2.
Darüberhinaus als Trope der fortlaufendenn Jetztzeit
Dieser Bewegung des »Darüberhinausgehens« ist eine räumliche und/oder zeitliche Überschreitung einer Grenze oder Barriere inhärent, dennoch legt Bhabha den Fokus auf den Akt (des »Darüberhinausgehens«) selbst und rückt nicht die verheißungsvolle Zukunft, sondern die Gegenwart in den Blickpunkt.315 Dabei radikalisiert Bhabha den Begriff der Gegenwart, indem er ihn in der Verbindung mit dem Bild des »Darüber hinaus« eine Distanzierung von sich als Teil der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zeitgeschichte anbietet. Demnach würde die Gegenwart in dem Bild des »Darüber hinaus« keine synchrone Präsenz darstellen, das heißt die Verbindung oder den Bruch mit und zu den anderen Zeiten präsentieren. Durch das Entrücken der Gegenwart aus der zeitlichen Abfolge in ein durch Asymmetrie, Diskontinuitäten geprägten ex-zentrischen Raum, erhält die Gegenwart als »Jetztzeit« eine besondere Energie als »Ort der Erfahrung und Machtaneignung«.316 Dieser Moment könnte in seiner besonderen räumlichen und zeitlichen Position des Ex-zentrischen, Herausgelösten, ja fast Herausgebrochenen ein Potenzial enthalten, jenseits von etablierten Strukturen und Mechanismen eine neue Ebene der Begegnung, der Aushandlung von Erfahrung und Macht zu schaffen.
314 315 316
Bhabha 2000: 95. Vgl. Bhabha 2000: 5. Bhabha 2000: 6
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So würde das Konzept des Unheimlichen als ein Ort innerhalb des Heimes also nicht nur mit der notwendigen Akzeptanz des Fremden, Unbekannten und Unheimlichen als Teil meines Heimes einhergehen, sondern in der weiteren Konsequenz mit dem Überdenken meiner Vorstellung von Heim an sich. Elisabeth Bronfen nennt diese Art von Moment ein »Erdbeben auf der Ebene der Repräsentationen, durch die wir als Individuen und als Mitglieder von kulturellen Gemeinschaften uns definieren«.317 Vor dem Hintergrund der Methode der Dehnung und Verschiebung (in der Semiotik, der Iteration und Metonymie), verweist die Trope des »darüber Hinausgehenden« im Kontext der ›Ver-Ortung der Kultur‹ und vor dem Hintergrund von Bhabhas postkolonialer Kritik und radikalem Vorgehen durch Destabilisierung des theoretischen Bodens auf eine weitere Bedeutungsdimension des »darüber Hinausgehenden« hin. Aufbauend auf eine grundsätzlich inhärente Differenz und Befremdung im Prozess der Interaktion mit der Welt, kann das »darüber Hinausgehende« als Methode der »Ver«-Ortung auch als Entfremdung, Verfremdung und sogar als radikale Zerstörung bekannter Entitäten weitergelesen werden. Die Bedeutung der Differenz als Entfremdung bis hin zum Bruch in Gestalt von »Asymmetrie, Diskontinuitäten, Ungleichheiten, Minderheiten«318 zeigt sich auch in Fragen der liminalen Erfahrungen von Gleichheit und Gerechtigkeit in Bezug auf die Mehrheitsgemeinschaft, oder der Zugehörigkeit zu Traditionen, zum Fortbestehenden, zur Kontinuität von Strukturen. Bhabha überträgt diese Ebene auf den Aspekt der »Jetztzeit«. Das »darüber Hinaus« verdeutlicht eine Entfernung von etwas, welche eine Referenz zur gerade verlassenen und noch zu erreichenden Zeit und Raum herstellt.319 Dieses »›beyond‹« ist ein Bezug zu- und Entzug von etwas, eine rastlose Bewegung des »au-dela – here and there, on all sides, fort/da, hither and thither, back and forth«.320 Die Universalität dieses Phänomens verdeutlicht Bhabha in der Vielfalt seiner sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten.321 Das »on all sides« beschreibt die Ambivalenz des »Hin und Her«322 in der Übersetzung insoweit, dass es durch das »und« kein entweder oder ist, sondern eine Gleichzeitigkeit in der 317 318 319
Bronfen in Bhabha 2000: XIV. Bhabha 2000: 6. In eben dieser ambivalenten Dimension kann bei näherem Hinsehen aber auch die Figur des »darüber Hinausgehenden (beyond)« interpretiert werden, da bei einer Dekonstruktion der Wortstruktur mit dem «-gehenden« für eine aktive Bewegung und räumliche Distanzierung stehen kann. 320 Bhabha 1997: 1. 321 Aus der Perspektive des postkolonialen Einsatzes könnte man hier anmerken, dass Bhabha in der Repräsentation der Metapher die Ausdrucksweisen lediglich in französischer, englischer und deutscher Sprache anlegt – das heißt in der Sprache der dominierenden Diskurswelt – und damit seinem eigenen Anspruch nicht gerecht wird. 322 Bhabha 2000: 2.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Verschiedenheit der Räume, Seiten usw. darstellt. Dieser Bewegungsbereich des »darüber Hinausgehenden (beyond)« wird ›beherrscht”323 von einem »Gefühl der Desorientierung, eine[r] Störung des Richtungssinns«, welches als symptomatisch benannt wird für das »finstere Gefühl des Überlebens […], einem Leben an den Grenzen der ›Gegenwart‹«.324 Mit defizitorientierten Wörtern, wie »Desorientierung«, »Störung«, »finsteres Gefühl«, »Überleben«325 konstatiert Bhabha den aporetischen Zeitgeist als einen von Not und Ausweglosigkeit geprägten, in welchem »Anfänge und Enden« nur noch als »tragende Mythen der mittleren Jahre«326 gesehen werden können. Genau zwischen diesem Mythos der Anfänge und Enden positioniert Bhabha die Denkfigur des »darüber Hinausgehenden (beyond)« als etwas, das »weder ein neuer Horizont noch ein Zurücklassen der Vergangenheit«327 ist, sondern über eine Hybridisierung von Zeit und Raum begriffen werden kann.
Von Darüberhinaus zur Schwelle als Allgegenwart der Überschreitung Das metaphorische, metonymische Vorgehen einer Sache zu erklären, indem Bhabha weitere Nachbarmetaphern einführt, zeigt sich in der weiteren Eruierung der Frage der Zeitlichkeit, die durch die Figur der »Schwelle« erklärt wird. Darin sieht Bhabha die Möglichkeit, eine Vorstellung des von draußen nach drinnen Gelangens offen zu halten. Die Schwelle beschreibt demnach als Verbindung von Zeitlichkeit und Räumlichkeit den Moment des Übergangs, des Überschreitens. Die Hervorhebung des Moments des Übergangs verleiht ihm sowohl eine Dauerhaftigkeit als auch die Möglichkeit der Verlangsamung. Mit dem Fokus auf das Überschreiten und den Übergang als dynamischen Aspekt wird auch der Blick des Betrachters auf diese Bewegung geleitet, die allerorts und immer wieder zu beobachten sein wird. So erhält die Überschreitung eine Allgegenwart und Dauerhaftigkeit. Wenn man diese Bewegung und Dynamik in der Überschreitung mit Subjekten verbindet, die etwas tun, wird auch ihr machtvoller und konstruktiver Charakter deutlich. Entgegen des Vorwurfs der Fetischisierung des Übergangs stellt Bhabha diesen als Instrument der theoretischen Konstruktion von Zeit und Raum dar. Die Verwendung der Zeitlichkeit sei daher kein Versuch einer »mimetischen Reproduktion«328 derselben, sondern eine theoretisch konstruierte Methode, um, wie im Film, ein Moment, ein Ereignis oder ein Problem ins Scheinwerferlicht zu stellen und wie in Zeitlupe zu verlangsamen, um es zu sehen. Bhabha schafft durch die Verlangsamung einen neuen Raum, in dem sich das Objekt der Betrachtung und der 323 324 325 326 327 328
Vgl. Bhabha 2000: 2. Bhabha 2000: 1. Bhabha 2000: 1. Bhabha 2000: 1. Bhabha 2000: 1. Bhabha 2012: 69.
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Betrachter auf neue Weise begegnen können. Das Objekt der Betrachtung erhält durch die verlangsamte Darstellung einen explizierten Stellenwert, während der Betrachter sein Auge einen Moment länger auf diesem ruhen lassen kann. Bhabha zitiert Walter Benjamins Methode der Verlangsamung in seinem Essay über Fotografie durch die Technik der Vergrößerung. Durch die Vergrößerung von etwas Kleinem in etwas Größeres würde man den ganzen zeitlichen und räumlichen Rahmen verändern329 . Als weiteren Ansatz für das »Darüberhinaus« stellt Bhabha die Arbeit der Künstlerin Renée Green Sites of Genealogy vor, die das Museumsgebäude nicht lediglich als Ausstellungsraum verwendet, sondern selbst zur Metapher macht.330 Sie macht Architektur zum Bezugssystem, indem sie »den Speicher, den Heizraum und das Treppenhaus«331 zu Analogien für Fragen der Differenzmarkierung von Identitäten über Kategorien von Schwarz/Weiß, Selbst/Anderer macht.332 Dabei wird im Hin- und Her des Treppenhaus ein Schwellenraum angelegt, der den Prozess symbolischer Interaktion und das Verbindungsgefüge zwischen Oben und Unten, Schwarz und Weiß als Konstruktion darstellt, das gesellschaftliche Positionierungen, (Un-)Möglichkeiten der Interaktion aus diesen Positionen heraus und Aufstiegsmobilität in Frage stellt sowie Möglichkeiten von Übergängen zur Diskussion stellt. Bhabhas oft zitierter Satz zu kultureller Hybridität ist an seine Analyse von Greens Arbeit zum Treppenhaus angelehnt, wenn er ausführt: »Dieser zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen eröffnet die Möglichkeit einer kulturellen Hybridität, in der es einen Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie gibt [Hervorhebung: N. H.-E.]«.333 Wie Bhabha sich kulturelle Hybridität als zwischenräumlichen Übergang vorstellt, wird im Folgenden am Beispiel seines Grenzbegriffs im Sinne einer verbindenden Brücke weiter ausgeführt. Diese Analyse mündet dann in die des Dritten Raumes.
Brücke als Sammelort des unsicheren Übergangs Mit dem Zitat Heideggers zu Grenze als Ort, von dem etwas »sein Wesen beginnt«,334 beschreibt Bhabha diesen Beginn weiter als eine »Bewegung, die dem unsteten, ambivalenten Charakter der Verbindung mit dem jenseits Liegenden ähnelt«.335 Dabei wird die Eigenschaft der Verbindung zunächst aus der traditionell
329 Vgl. Bhabha 2012: 69. Siehe das Hin- und Her des Treppenhauses als Schwellenraum, in dem die Künstlerin Renèe Green das Museumsgebäude nicht lediglich als Ausstellungsraum verwendet, sondern selbst zur Metapher für gesellschaftsplitische Fragen macht (vgl. Bhabha 2000: 5). 330 Vgl. Bhabha 2000: 5. 331 Green in Bhabha 2000: 5. 332 Vgl. Bhabha 2000: 5. 333 Bhabha 2000: 5. 334 Bhabha 2000: 1. 335 Bhabha 2000: 7.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
normativ positiven Rezeption gelöst, in welcher sie zum Beispiel in der Tradition homogener nationaler Kulturen Getrenntes, Unterschiedliches, auf verschiedenen Seiten Liegendes verbindet, im Sinne einer angeblich notwendigen Vereinheitlichung als Harmonisierung von Verschiedenheit. Bhabha kehrt eben diese Rezeption um und weist der Verbindung sowohl einen postkolonialen und hybriden Ansatz zu. Das ›Unstete und Ambivalente‹ im Charakter der Verbindung wird dabei nicht als bloße Dekonstruktion der üblichen Bedeutung verstanden, sondern als Möglichkeit einer erweiterten Bedeutung derselben. Das Potenzial der Diskontinuität liegt in der Bewegung des Hin- und Her. Der Fokus wird hiernach von einer Gerichtetheit auf Einheiten und höchstens noch der Verbindung von Einheiten verlagert auf den Ort und die Bewegung des Hin- und Her selbst. Die Bewegung als offener und dynamischer Begriff suggeriert in Anlehnung an das Bild der Verbindung eine Allgemeingültigkeit, welche in dieser Konsequenz auch auf eine ähnliche Bewegung und Ähnlichkeit mit einem jenseits Liegenden deutet. Um das Bild der dissonanten Bewegung auf der Grenze zu verdeutlichen, zitiert Bhabha Martin Heidegger weiter: »Immer und je anders geleitet die Brücke hin und her die zögernden und die hastigen Wege der Menschen, dass sie zu anderen Ufern […] kommen. […] Die Brücke sammelt als der überschwingende Übergang«.336 Die Bewegung des Überganges selbst wird hier in den Mittelpunkt gerückt. Der Übergang, symbolisiert durch die Brücke, ist dabei gekennzeichnet durch ein doppeltes Moment, einerseits durch seine Zeitlosigkeit (»immer«) und andererseits durch die Verschiedenheit der Richtungen, in welche gegangen werden kann (»je anders geleitet« und »hin und her«). Verschiedenheit ist dabei nicht nur in den Richtungen und Zielen enthalten, sondern auch in der Art und Weise, in welcher auch Mensch und Weg sich mit einander verbinden. In gleichem Sinne zitiert Bhabha bewusst eine andere Stelle aus Heideggers Aufsatz »Bauen – Wohnen – Denken« mit dem Zusatz: »Die Brücke sammelt als der überschwingende Übergang«.337 Das Bild der Grenze als Verbindung und sogar Brücke wird in ihrem Charakter und in ihrer Funktion näher bestimmt. Sie ist insofern nicht nur gekennzeichnet durch das Moment der Bewegung im »Übergang«, sondern auch mit der Attribuierung als »überschwingender«338 Übergang als Moment der Unsicherheit (Die Brücke schwingt nicht nur, sie schwingt über). Die Brücke erhält zusätzlich zu den Eigenschaften des instabilen (überschwingenden) Übergangs die Funktion des Sammelns und wird in dieser Logik zu einem instabilen Sammelort des Übergangs. Die Vorstellung einer solchen Brücke als Ort der Bewegung, ohne ein vorgegebenes Ziel, führt uns zurück zu Bhabhas an Derrida und Heidegger angelehnten Begriff der Grenze, »von wo etwas sein Wesen
336 Bhabha 2000: 7. 337 Heidegger in Bhabha 2000: 7. 338 Bhabha 2000: 7.
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beginnt«.339 Bhabha setzt hier an Derridas Idee der Grenze als Bedingung der Möglichkeit von Überschreitung, Distanzierung, Reflexion und der Entstehung von etwas Neuem an. Spätestens an diesem Punkt wird die Bedeutsamkeit der Kontextualisierung von Grenzen oder Begriffen besonders deutlich, da die von Bhabha postulierten Figuren der Differenz und der Raum der Überschreitung (im Sinne des »darüber Hinausgehenden«) nicht vor dem Hintergrund des im zweiten Kapitel dieses Buches diskutierten »Ethos der Grenzachtung und Grenzverletzung«340 zu verstehen sind, sondern als einerseits postkoloniale Wendung der Perspektive auf die Geschichte und ihre Repräsentation in Anschluss an Edward Said, Stuart Hall und Gayatri Chakravorty Spivak, aber andererseits auch als Ausdruck seines eigenen Vorgehens des »darüber Hinausgehenden« in der unscharf gehaltenen Figur des »dritten Raums«, deren nähere Erörterung für ein Verständnis von Bhabhas hybridem Schreibprojekt unerlässlich ist.
3.6.
Der Dritte Raum
Wie Bhabhas Figur der Grenze mit seiner Vorstellung vom Dritten Raum in Verbindung gebracht werden kann, wird nicht zuletzt an seinem Vorgehen in der Besprechung der inhaltlichen und funktionalen Bestimmungen von Grenze deutlich. Über die Methode der Dekonstruktion von vorherrschenden Annahmen zu Grenze und einer Neukonstruktion des Begriffs über andere Tropen, eine bestimmte Akzentuierung der Eigenschaften der Grenze (Grenze als unsichere Verbindung im hastigen Hin- und Her des Übergangs) und einer ambivalenten Funktionszuschreibung (Grenze als übergangsartige Brücke, die zugleich einen Ort der Sammlung darstellt), wird der Grenzbegriff von Bhabha einerseits hybridisiert und in gewisser Weise in der Raummetapher des dritten Raumes konkretisiert, in dem darin gesellschaftspolitische Fragen um Macht und Autorität aktiv bewegt und verhandelt werden341 . Auf eine Interviewfrage, wie solch ein Dritter Raum342 gedacht werden kann (ob als wirklicher Raum, als ein mehr oder weniger permanenter oder als konstante
339 340 341 342
Bhabha 2000: 1. Waldenfels 1990: 39. Hierzu ist weiterbringend: Hohnsträter 1996. Seine Metapher des Dritten Raumes führt Bhabha auf das gleichnamige Konzept des marxistischen Literaturwissenschaftlers Fredrik Jameson (vgl. Bhabha 2000: 333) zurück. Bhabha setzt seinen Ansatz des Dritten Raums in der Unterscheidung von Jamesons Kategorien der Klasse und den dichotomischen Denkfiguren von Innen/Außen, Basis/Überbau an. Dabei erweitert und konkretisiert (materialisiert) er seinen Dritten Raum durch ihre Kontextualisierung um künstlerische Installationen zum Beispiel Greens. Ein näherer Vergleich zwischen Jamesons und Bhabhas Drittem Raum erfolgt unter anderem bei Struve 2013: 121ff.)
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Entität oder eher als Raum in phänomenologischem Sinne, oder über einen ihr inhärenten zeitlichen Aspekt im Sinne des Übergangs [einer »permanenten symbolischen Reise«]), distanziert sich Bhabha zuerst von der Idee eines »begrenzt«343 räumlichen Gebiets. Er positioniert diesen Dritten Raum über die Figur der Schwelle als »Raum andauernden Überquerens […] und weniger einer Reise, deren Ziel man kennt«.344 Entgegen einer Fetischisierung des Übergangs benennt er das damit verbundene Ziel, das er damit verfolgt, als den Versuch, den »Übergang für einen Moment zu halten, ihn zu verlangsamen«.345 Bhabha charakterisiert den dritten Raum insofern durch das methodische Provozieren von Langsamkeit; diese gehe einher mit einem Festhalten am Moment des Übergangs, jedoch besitze der Moment des Übergangs keine tatsächliche Zeitlichkeit.346 Eine sich in dieser Konsequenz ergebende Notwendigkeit der Figur des Übergangs (im dritten Raum) äußert sich, »um etwas, ein Problem, ein Moment, ein Ereignis herzunehmen und zu verlangsamen, wie man es mit einem Film machen würde – man verlangsamt ihn, um etwas zu sehen«.347 In diesem Prozess der Verlangsamung erreicht man immer wieder einen »Schwellenpunkt« (liminal point),348 der durch seinen ambivalenten Charakter einerseits als Punkt eine begrenzte Räumlichkeit anbietet, an dem man innehalten kann und die Dinge im Sinne der Vergrößerung näher betrachten kann, ohne sie jedoch final fixieren oder gänzlich identifizieren zu können, da der Aspekt der Schwelle als Motor für Bewegung des »darüber Hinausgehenden« und des Kontinuums fungiert. Die Figur des »Darüberhinaus« wird von Bhabha mit der Aussage »über Theorie hinaus«349 auf die Übersetzung in die Materialität übertragen, indem er einen Raum schaffen möchte für »kontingente, indeterminierte Artikulation sozialer »Erfahrung«, die wiederum Hybridität frei setzt in Gestalt »neu entstehender kultureller Identitäten«.350 Mit Bezug auf Roland Barthes’ »Erforschung des kulturellen Raums außerhalb des Satzes«351 sieht Bhabha einen Raum jenseits eines Schemas von Theorie/Praxis, der auf ein Gegensatzpaar anspielt. Bhabhas Vorstellung vom Dritten Raum rekurriert auf Bartes’ »außerhalb« und ähnlich dazu auf Derridas Ansatz der Supplementarität, in dem die Artikulation von Theorie und Praxis, Sprache und Politik in den Rahmen einer produktiven Beziehung gestellt werden,352 die im
343 344 345 346 347 348 349 350 351 352
Bhabha 2012: 68. Bhabha 2012: 69. Bhabha 2012: 69. Vgl. Bhabha 2012: 69. Bhabha 2012: 69. Vgl. Bhabha 2012: 72. Bhabha 2000: 267f. Bhabha 2000: 267. Bhabha 2000 :81. Vgl. Bhabha 2000: 268f.
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Darüberhinaus einen Raum eröffnen möchte für eine »Lust am Text«,353 die sich nicht an Kategorien entlang ordnen muss. Der Dritte Raum ist ein epistemologischer Raum, den es zum einen aufzuzeigen oder erst herzustellen gilt, um dann auf diesem gemeinsamen instabilen Boden (durch Methoden der Dekonstruktion, Verlangsamung und Vergrößerung) mit Blick auf das Ziel der Verhandlung Fragen nach dem Umgang mit Differenz und Ausschlusspraktiken von Diskursen zu stellen. Ziel und Methode der Verlangsamung und Vergrößerung von Zwischenräumen ist das Aufzeigen von Handlungsspielräumen für die Aushandlung von Möglichkeiten, in Bezug auf Subjektivierung und Gemeinschaftsbildung. Bauschke-Urban interpretiert die Methoden Bhabhas als Prozesse der »Verfremdung dominanter Diskurse […]. Ort der Verhandlung und der kulturellen Produktion, in dem Bedeutungen neu belegt und re-interpretiert werden. Diesen symbolischen Ort der kulturellen Aushandlung bezeichnet Bhabha als ›Third Space‹, in dem das marginalisierte Andere in dominante Diskurse Eingang nimmt und auch als Verhandlung in Zwischenräumen zu beschreiben ist, für die Bhabha den Begriff der Verhandlung an der Grenze geprägt hat.«354 Die Problematik der sprachlichen und semantischen Beschreibung dieses Raumes zeigt sich nicht zuletzt durch die Frage um Raum, Ort, Zone usw., wenn Babka und Posselt zum Beispiel betonen, dass es sich bei diesem Dritten Raum nicht wirklich um einen Ort handele, sondern um einen Raum oder eine Zone der Kritik und der potentiellen Subversion rigider, hierarchischer Identitätskonstruktionen und einseitiger Machtverhältnisse.355 In diesem Dritten Raum treffen differente Elemente aufeinander und gehen aus einem wechselseitigen Transformationsprozess als etwas Neues hervor.356 Was den (Dritten) Raum in seinem umfassenden Ausdruck kennzeichnet ist, seine Breite und Höhe und dass er nicht aus einer distanzierten Vogelperspektive als Ort bezeichnet werden kann, sondern ein atmosphärisches Innen beschreibt. Bhabha füllt diese Offenheit des Raumes durch das Aufzeigen der (Notwendigkeit und) Möglichkeit der Verhandlung von Differenzen und Themen auf der ethischen Grundlage von kultureller Hybridität als »Platz für Differenz ohne eine übernommene […] Hierarchie«357 . Den Effekt sieht er im Wirksam-werden vielfältiger Prozesse des Übergangs und der Übersetzung: »Der Dritte Raum ist damit auch Erfahrungsbereich im Spannungsfeld zwischen Identität und Differenz; er ist Ort des Aushandelns von Differenzen mit dem Ziel der Überwindung von
353 354 355 356 357
Bhabha 2000: 269; 270. Bauschke-Urban 2010: 101. Vgl. Babka/Posselt 2012: 9. Vgl. Bauschke-Urban 2010: 104. Bhabha 2000: 5.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Hierarchisierung und damit Ort und Möglichkeit der Hybridisierung«.358 Mit diesem Zitat schließt sich zuletzt die Verbindungslinie zwischen dem Dritten Raum und Hybridität. Nach Bhabha schafft der Dritte Raum eine Bedingung dafür, dass kulturelle Symbole nicht als einheitlich und fixiert angenommen und festgelegt werden können.359 Die Idee des Dritten Raumes ist es, dass sich auf der Ebene von Verhandlungen und Konflikten etwas eröffnet, ein anderer Raum, in den jeder hineinlegen kann, was er will.360 Als Ergebnis dieses Übergangsraumes sieht Bhabha eine Hybridisierung von Vorstellungen, im Ausdruck der konflikthaften ›Infizierung”361 aller Beteiligten durch Akte der sprachlichen und kulturellen Übersetzung. In der Konkretisierung seines Hybriditätskonzeptes sind Übersetzung und Mimikry figurative und tatsächliche Beispiele für Formen der Hybridität, die jeder Interaktion inhärent sind, denen Bhabha jedoch in kolonialen Kontexten nicht zuletzt durch den Ausdruck der ›Infizierung‹ eine politische Brisanz zuschreibt. »Das Wort der göttlichen Autorität wird hier durch das Beharren auf dem einheimischen Zeichen mit einem gravierenden Makel infiziert, während die Sprache des Herren in der Praxis der Herrschaft selbst hybrid wird und nunmehr weder das eine noch das andere ist«.362 Karen Struve begreift Übersetzung als einen »grundlegenden, kulturellen Mechanismus von Hybridität«, da im Übersetzungsprozess »gekämpft, infiziert« wird, »Identitäten verschieben sich, und es werden prinzipiell stabile Machthierarchien hinterfragt«.363 Am Beispiel des hybriden Umgangs und der Handlungsfähigkeit der indischen Bevölkerung mit Missionierungsversuchen konstatiert Bhabha Folgendes: »In diesem Kontext einer nicht einfach identitären, sondern einer komplexen Vorstellung einer kollektiven, nicht identischen Handlungsfähigkeit, konnten sie Handlungsfähigkeit einer Subjektivität konstruieren, wobei es gerade der Mangel an Subjektivität war, der diesen dritten Raum eröffnen konnte.«364 Das Moment der Hybridität beruht in dieser Vorstellung von Übersetzung auf einer Umkehrung eines konventionellen Übersetzungsbegriffs durch die Verlagerung des Fokus auf eine Unmöglichkeit der »reinen« Übersetzung365 . Damit wird über Phänomene der »Sprachvermischungen, Bedeutungsverschiebungen und Machtdurchdringungen«366 der Raum des Zwischen in den Mittelpunkt gerückt und zum Zentrum des Geschehens gemacht. Gegen jede Vorstellung von festen, abgeschlossenen, binären Polen stellt Bhabha im Anschluss an Walter 358 359 360 361 362 363 364 365 366
Babka/Posselt 2012: 12. Vgl. Kossek 2012: 89. Vgl. Bhabha 2012: 72. Vgl. Bhabha 2000: 51. Bhabha 2000: 51. Struve 2013: 131. Bhabha 2012: 69. Bhabha 1999:83ff. Struve 2013: 131.
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Benjamin heraus, dass im Prozess der Übersetzung selbst die göttliche Autorität nicht unangetastet bliebe, vielmehr würde in diesem scheinbaren Mangel des Übersetzungsprozesses die Bedingung für das Entstehen von etwas Neuem (der Entstehung Dritter Räume) liegen.367 Diese Strategie der Übersetzung368 kann auf Bhabhas Konzept der Kultur übertragen werden, welches in einer kritischen Distanz zu einer essentiellen Diversität der Kulturen angelegt ist und dagegen die kulturelle Differenz als Ausgangssituation und zugleich als Ziel menschlicher Interaktion und diskursiver Aushandlung von kulturellen und sozialen Bedeutungen und Symbole versteht. Vor der Folie der Hybridität ist der Dritte Raum wie das Subjekt selbst durch Differenz, Mehrdeutigkeit, Ambivalenz und Unbewusstes gekennzeichnet, die dem psychischen Prozess der Identifizierung seine Produktivität verleihen.369 Bhabha fasst diesen Ansatz verändert zusammen, indem er die Figuration einer kulturellen Globalität in den »Zwischen-Räumen zwischen doppelten Rahmen«370 ansiedelt. Das prinzipielle Problem der Übersetzung verweise auf ein Problem der Originalität von Geschichte und einer ebensolchen Narration, die Bhabha die »kognitive Dunkelheit«371 nennt, die auf der die Originalität der Geschichte fußt. Auf der anderen Seite wird das dezentrierte Subjekt »in der nervösen Zeitlichkeit der transitionalen oder emergenten Vorläufigkeit der Gegenwart signifiziert«.372 Der Dritte Raum ist dabei nicht nur ein Schwellenraum zwischen den Identitätsbestimmungen, vielmehr eröffnet er weitere Räume, die im Sinne der Hybridisierung zur Veränderung aller Beteiligten auf allen Seiten des Globus führen. Somit stellt diese Veränderung ein Dazwischen und daher den Dritten Raum dar.373 Bhabha selbst führt dazu aus: »Beim Entstehen solcher Zwischenräume – durch das Überlappen und De-platzieren von Differenzbereichen – werden intersubjektive und kollektive Erfahrungen von nationalem Sein, gemeinschaftlichem Interesse und kulturellem Wert verhandelt«.374 Darin sieht Bhabha die Entwicklung einer »Zwischen-Intimität«375 aus dem Infrage-Stellen
367 Vor dem Hintergrund der Frage, welcher etymologische Herleitung des Hybriditätsbegriffs zu folgen sei, kann Bhabhas Ausführung zur Dekonstruktion einer göttlichen Autorität als Beispiel genannt werden für seine Kontextualisierung des Hybriditätsbegriffs im Kontext von Macht und Autorität, das heißt die Nähe zum Begriff der antiken Hybris. 368 So jedenfalls spricht Salman Rushdie von »übersetzten Menschen« und meint Bildungsprozesse unter Bedingungen einer »neuen Diaspora« postkolonialer Migration. Stuart Hall erläutert: »Sie mussten lernen, mindestens zwei Identitäten aufzunehmen, zwei kulturelle Sprachen zu sprechen, um zwischen ihnen zu übersetzen und zu vermitteln.« (Hall 1999: 435) 369 Vgl. Kossek 2012: 89. 370 Bhabha 2000: 323. 371 Bhabha 2000: 323. 372 Bhabha 2000: 323. 373 Vgl. Babka/Posselt 2012: S. 12. 374 Bhabha 2000: 2. 375 Bhabha 2000: 20.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
binärer Trennungen zwischen den Bereichen des Privaten und Öffentlichen, der Vergangenheit und der Gegenwart, der Psyche und der Gesellschaft. Im gegenwärtigen Augenblick sieht Bhabha das Reich einer geschichtlichen Gegenwart, »die aus den Zwischenräumen einer ›vergangene[n] Zeit und künftige[n] Zeit‹ auftaucht«.376 Bhabha bezeichnet dies als Übergangs- oder Da-Zwischen-Zeitlichkeit, die sich dadurch kennzeichnet, dass es ihr an Stabilität und Autorität fehle, um eine Ursprungsbedingung zu verlautbaren. Den transitorischen Charakter sozialer Erfahrungen (selbst in ihren Grenzen) sieht Bhabha als Argument für Momente und Räume des »Zwischen«, die auf einen anderen, einschneidenden Umgang mit vorherrschenden Vorstellungen von Gesellschaft und Geschichte aufmerksam machen.377 Momente des »Zwischen« in der Verlangsamung der Zeit und das Verweilen zwischen den Zeilen und Kategorien sind für Bhabha kennzeichnend für Methoden der ästhetischen Distanz, die diskursive Bilder »an der Kreuzung der Geschichte und Literatur«378 schaffen »und so eine Brücke zwischen dem Heim und der Welt«379 schlagen. In Anschluss an die Lesart der Literaturwissenschaftlers Wolfgang Müller-Funk ist Bhabhas »Dritter Raum real gesprochen, der Treffpunkt postkolonialer oder auch nichtpostkolonialer Subjekte innerer wie äußerer Migration, der hin- und hergerissen ist zwischen Her- und Hinkunft und dessen Ankunft zeitlich wie örtlich in der Schwebe bleibt. Was im dritten Raum ausgehandelt wird, ist vornehmlich die eigene Befindlichkeit zwischen Herkunft und Hinkunft.«380 Dieser (der Dritte Raum) weise in ihrer Unvorhersehbarkeit in Zeiten von Migration und Einwanderungsgesellschaften auf einen postdialektischen Umgang mit Fragen von Identität, Nation und Gemeinschaft hin, die einer oben bereits diskutierten ›transnationalen und translationalen‹ Idee der Hybridität inhärent sei. Die Notwendigkeit eines Dritten Raums erweist sich vor dem Hintergrund seiner teilweise synonymen Verwendung mit dem Konzept der Hybridität oder als epistemologischer und konkretisierter Platz für Hybridität als »Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie«.381 Der normative Kompass von Hybridität wird in einem metaphorisch offenen Raum verankert, der sich dadurch kennzeichnet, dass darin Differenz nicht dialektisch harmonisiert, negiert 376 Bhabha 2012: 29. 377 Eine Konkretisierung dieser Aussage versucht Bhabha in der Analyse von Nadine Gordimers Figur der Aila im Kontext der Apartheid in Südafrika als Geschichte der »ZwischenHybridität« von Sexualität und Ethnie herauszuarbeiten (vgl. Bhabha 2000: 20). 378 Bhabha 2000: 20. 379 Bhabha 2000: 20. 380 Müller-Funk 2012: 130. 381 Bhabha 2000: 5.
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oder gleichgeschaltet wird, sondern sich als Raum der radikalen Anerkennung von Differenz zeigt, in dem Aspekte von Macht und Autorität in postkolonialen Gesellschaften aufgedeckt und (vornehmlich mit Mitteln der Kultur, Kunst, Literatur, Theorie) auf neuen Bühnen (Dritten Räumen) stets neu verhandelt werden382 . Mit dem Aspekt der Verhandlung erinnert Bhabha an die prinzipielle Differenz als Ausganssituation jeder Verhandlung und auch der Hybridität. Die Figur der Verhandlung verleiht Bhabhas oben postuliertem ziellosen Prozess der Identitätsentwicklung (über die Figuren des »Darüber-Hinausgehenden« und »Schwelle«) in der Bewegung des Hin- und Her eine vorsichtige Zielrichtung. Das Ziel von Bhabhas Konzept der Hybridität und des Dritten Raums sowie seiner Methoden für die Herstellung einer gemeinsamen Grundlage ist die Verhandlung selbst. Im Gegensatz zum Prozess der Dialektik, an dessen (selbst vorläufigem) Ende eine einheitliche Lösung steht, bleibt das normative Ziel der Hybridität an dem Punkt stehen, an dem die differenten Positionen ins Gespräch kommen und über eine Sache verhandeln. Das Ergebnis der Verhandlung lässt Bhabha offen. Dennoch geht aus dem Studium seiner Konzepte und seines Vorgehens hervor, dass das Ziel der Verhandlung implizit vorhanden ist, indem Bhabha davon ausgeht, dass im Prozess der Verhandlung alle Seiten hybridisiert werden. Wie dies geschehen kann, verdeutlicht er durch sein Konzept der Differenz im Subjekt, aber auch im Konstruktcharakter der Dinge der Welt, die dekonstruiert und neukonstruiert werden (können). Differenz wird von Bhabha insofern nicht als Ausgangspunkt für Konfrontation gesehen, sondern als Ausdruck einer prinzipiellen Differenz, die jedem Menschen in seiner Verletzlichkeit inhärent ist und somit ein Verbindungsmoment zwischen den Menschen darstellt. Für Verhandlungen sieht er die Notwendigkeit der Schaffung von Räumen, die mit dem Ausdruck eines Dritten Raumes jenseits von Dichotomien und Polarisierungen stehen. Den gewaltvollen Charakter in Konfrontationen und Streits führt Bhabha auf die Verfolgung eines bestimmten Interesses zurück, das sich gegen das Andere abschottet und durchsetzen muss und an dessen Ende Sieger und Verlierer stehen. Die Figur einer »Herr und Knecht«-Situation provoziere ein Denken in starren Kategorien, für das Zwischentöne und Zwischenräume nicht Ausdruck des Menschlichen sind, sondern zu überwindende Stufen. Dass diese sich in Mechanismen und Strukturen von Macht und Autorität manifestieren, wird von Bhabha als Begründung verwendet, um gerade die Schaffung Dritter, neuer Räume für notwendig zu erklären, in denen »übernommene und verordnete Hierarchien«383 unter expliziter Inklusion der ›Ränder‹, das heißt derjenigen, die vom Diskurs ausgeschlossen sind, neu verhandelt werden, ohne die anderen Räume in einem revolutionären Akt zu zerstören. Die Anerkennung, dass die eigene Position von Diffe382 Weiterführend sind hier die Arbeiten von Schneider 1997: 13ff. und 1997a. 383 Bhabha 2000: 5.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
renz und Fragilität geprägt ist, könnte eine gute Voraussetzung sein, um in eine ergebnisoffenere Verhandlung zu gehen, in welcher man sich nicht durch eine Maske der Härte gegen den Anderen abschottet, um ihn zu bekämpfen, sondern sich im Sinne eines gewöhnlichen Prozesses der Interaktion bewusst der Hybridisierung durch den Anderen aussetzt. Das implizite Ziel dieses ausdrücklich ergebnisoffenen Prozesses der Hybridisierung ist, dass die Positionen immer mehr Anteile vom anderen in sich aufnehmen und sich damit ihrer prinzipiellen Verbindung mit- und Abhängigkeit voneinander immer stärker bewusst werden. Der Dritte Raum kann vor dem Hintergrund dieser Ausführungen auch als Raum der Entwaffnung gelesen werden und als eine normative Stoßrichtung der Anerkennung von Differenz und ausgewiesenen Methoden der Verhandlung von Bestehendem. Bhabhas Konzept der Hybridität erfährt nicht nur mit der Raummetapher des Dritten Raumes eine gewisse Konkretisierung, sondern auch durch seine Auseinandersetzung damit, wie Verhandlung vor dem Hintergrund von Konflikten in der Geschichte, selbst barbarischen Ausmaßes, wie zum Beispiel dem Völkermord in Ruanda aussehen können. In Eleanor Byrnes Buch mit dem Titel Homi K. Bhabha (2009) führt Bhabha im Interview mit ihr über seine Auseinandersetzung mit dem Völkermord in Ruanda und anderen monströsen Ereignissen der Geschichte sein Interesse an Möglichkeiten »On Global Memory«384 aus. Sein Anliegen sei es, »a way of remembering barbarism […], the terror of barbarism and its unrepresentability«385 zu finden. Als Material dienen dabei Zeugenaussagen von Tätern und Opfern, Verhandlungsprotokolle sowie Fotografien, an Hand derer Bhabha Parallelen und Übergänge zwischen verschiedenen Ereignissen von Barbarei in der globalen Geschichte untersucht. Theoretische Ansätze sieht er unter anderem in Walter Benjamins Aufsatz Thesen über den Begriff der Geschichte und in dem für ihn prägnanten Satz: »There is no document of civilization which is not at the same time a document of barbarism. And just as such a document is not free of barbarism, barbarism also the manner in which it was transmitted from one owner to another«.386 Bhabha bekundet, dass er vor diesem theoretischen Hintergrund und seinem praktischen Anliegen, Formen der »Global Memory« zu erarbeiten, an der Frage nicht vorbei kommt, wie Barbarei weitergegeben wird. Bedingung hierfür ist zunächst die Bewusstmachung der allgegenwärtigen Barbarei, die auf den Ausbruch wartet. Bhabha zitiert hier Jean Babtiste Munyankore aus einem Verhandlungsprotokoll zu Kriegsverbrechen in Ruanda: »What happened in Nyamata in the churches, in the marshes and in the hills is a supernatural action carried out by quite natural people. The headmaster of the school where I teach and the inspector of my district participated in the slaughter 384 Byrne/Bhabha 2009: 150. 385 Byrne/Bhabha 2009: 151. 386 Byrne/Bhabha 2009: 153.
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with spiked bludgeons. A priest, the mayor, the lieutenant governor, a magistrate, the assistant chief of police, a doctor all killed with their own hands. These well educated people were calm and they rolled up their sleeves to firmly take hold of a machete so for the man who like me has taught the humanities his whole life, these criminals are a terrible mystery«.387 Bhabha stellt mit den Worten des Zeitzeugen Jean Babtiste Munyankore das Unbegreifliche (»mystery«) heraus, wie gebildete Menschen aus verschiedensten Feldern der Gesellschaft, die in bekanntem Verhältnis zu ihm selbst standen, dazu fähig sein konnten, Schlachtungen von Menschen beizuwohnen oder mit ihren eigenen Händen vorzunehmen. Die akademische Rationalität und das wenig affektiv wirkende langsame bzw. ruhige Aufrollen ihres Ärmels für den besseren Halt ihrer Machete erinnert an Hannah Arendts Beschreibung der Banalität des Bösen. Bhabha lässt das Zitat des Zeugen enden mit der Fassungslosigkeit (»terrible mystery«) eines Lehrers angesichts der klaffenden Lücke zwischen seinen geisteswissenschaftlichen Vorstellungen und Theorien und der Barbarei der Wirklichkeit, die in der Realität nicht mehr auseinandergehalten werden können. An dieser Stelle soll keine philosophische Diskussion über Sinn und Zweck der relativen Unabhängigkeit von Theorie und Praxis erfolgen, sondern ein Moment von vielen herausgestellt werden, in denen auch die Theorie sich ihrer Verantwortlichkeit gegenüber der Wirklichkeit mit ihren Ungereimtheiten und Barbareien stellen muss.388 Wolfgang Müller-Funk sieht in Bhabhas Drittem Raum die Voraussetzung für die Verhandlung eines »unmöglichen Dialog[s]«,389 zum Beispiel zwischen Konfliktund Kriegsparteien, die so nicht hätte stattfinden können. Diesen ›unmöglichen‹ Dialogen wird ein Ort angeboten, der »von Macht und Begehren besetzt ist, in den die Erfahrungen der Asymmetrie eingeschrieben ist«390 und doch durch kulturelle Methoden der Dekonstruktion, Verschiebung, Verlangsamung und Vergrößerung epistemologische und tatsächliche Räume des (neu) Verhandelns ermöglichen. Die Verhandlung von Differenz in Dritten Räumen, durch die die Konzeptmetapher der Hybridität auf ortsbestimmende Aspekte erweitert wird und damit zugleich auch eine Konkretisierung erfährt, ist signifiziert durch das Moment des Zwischen, dem Zwischenzeitlichen, der Zwischenintimität der Menschen miteinander, der transnational kulturellen Gemeinschaft im Zwischen. Die Hybridität des Dritten Raums verweist in diesem doppelten (und damit vergrößerten) Moment auf theoretische
387 Byrne/Bhabha 2009: 152. 388 Bhabha zitiert Habermas hier mit den Worten: »Wenn die öffentliche Vernunft Wirkung entfalten soll, muss der globale Dialog eine Ethik der Tolerierung einbeziehen, die uns mitten in ›vorerst ungelöste kognitive Dissonanzen‹ hinein versetzt.« (Habermas in Bhabha 2012: 44) 389 Müller-Funk 2012: 82. 390 Müller-Funk 2012: 83.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
und praktische Möglichkeiten der subjektiven und gemeinschaftlichen Handlungsmacht und des Widerstands in der Teilnahme am demokratisch-gesellschaftlichen Leben. An dieser Stelle wäre es von Interesse, Beispiele für Verhandlungen solcher Art in der Weltgeschichte zu untersuchen, in denen solche Räume genutzt worden sind und ihre Auswirkung auf den gesellschaftlichen Frieden zu analysieren. Ein Beispiel ist das südafrikanische Projekt der »truth and reconciliation«, dessen Nachbesprechung den Rahmen dieses Buches allerdings leider überschreiten würde. In Anschluss daran könnte darüber nachgedacht werden, inwiefern die oben ausgeführten Kontexte, Gegenstandbereiche, Differenzvorstellungen und Strategien von Hybridität für die Analyse von und die politisch pädagogische Begegnung auf solche Wirklichkeiten nutzbar gemacht werden können. Vor dem Hintergrund einer Kontextualisierung von Hybridität (in Kapitel eins, zwei und drei dieses Buches) und der Frage, ob die Auseinandersetzung mit Homi K. Bhabhas Schreibprojekt nicht nur über das, was er über Hybridität sagt, sondern vielmehr über sein Vorgehen (im Umgang mit Traditionen, Theorien, Begriffen, Sprache usw.) eine Aussage über Hybridität als Methode zulässt, wird im letzten Teil dieses Kapitels eine Einschätzung der Ergebnisse der Auseinandersetzung mit Homi K. Bhabhas Schreibprojekt als Konzept von Hybridität erfolgen.
3.7.
Diskussion von Hybridität als Methode und Stragie bei Bhabha
In der Analyse von Homi K. Bhabhas bisherigem Hauptwerk und seiner weiteren Schriften fallen unmittelbar mindestens zwei Aspekte auf, die auch in der Rezeption prominent sind.391 Zum einen ist es die Betonung der »Unmöglichkeit, Homi Bhabhas Werk in herkömmlichen Sinn zu lesen«392 und zum anderen die Hypothese, dass »die Theorie […] zur Mimesis ihres Themas«393 wird. Die von Wolfgang Müller-Funk bezeichnete »Unmöglichkeit« kann auf viele Momente bei Bhabha zurückgeführt werden, so zum Beispiel auf eine fehlende Systematik im Argumentationsaufbau, fehlende explizite Definitionen oder Darlegungen der Kontexte der vielen angeschnittenen Theorien oder Begriffe. Aus einer bestimmten Perspektive heraus lässt sich Bhabhas Werk leicht kritisieren, da man ihm auf semantischer, rhetorischer und semiologischer Ebene Brüche mit der herkömmlichen szientistischen Logik vorwerfen kann. Eine solche Kritik an Bhabha ist aus dieser Logik heraus konsequent und nicht überraschend, da es eben diese Perspektive und Argumentationslogik ist, die selbst Gegenstand von Bhabhas
391 Vgl. Schmidt 2012; Müller-Funk 2012; Göhlich (2010) und Struve (2013). 392 Müller-Funk 2012: 128. 393 Müller-Funk 2012: 128.
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gesamten Schreibprojekt ist und der er auf theoretischer und empirischer Ebene begegnet. Wolfgang Müller-Funk interpretiert Bhabhas theoretisches und empirisches Schreibprojekt vor diesem Hintergrund wie folgt: »Ziel der Bricolage und der methodisch pointierten Anti-Methodik ist, unter Einfluss von Derridas Dekonstruktion, klassische Denkmodelle des Unterscheidens und Fixierens selbst zu unterlaufen, durch Denkformen, die die Grenzen der Unterscheidung verwischen […] und die mit Figuren operieren, die der klassische Szientismus ausschließt und an den Rand verweist: Paradoxie, Analogie, Mehrdeutigkeit.«394 In der Untersuchung von Bhabhas Schreibprojekt wird mit dem Verlauf der Auseinandersetzung immer deutlicher, dass die erschwerte Lese- und Systematisierungslogik tatsächlich im Sinne einer Mimesis von Theorie und Empirie programmatisch gemeint sein muss und in gewisser Weise die Einsicht provoziert, dass Versuche einer Differenzierung, im Sinne einer Unterscheidung und Klarheit der Argumentation, der semantischen, rhetorischen und formalen Logik von Bhabhas Werk zuwiderlaufen. Sinnbildlich gesprochen sperrt sich seine Schrift gegen ein solches Lesen.395 Mit Verweis auf Roland Barthes’ Ansätze sieht Bhabha die »performative Struktur des Textes als Enthüllung der Temporalität des Diskurses selbst und eröffnet eine narrative Strategie für das Entstehen und die Verhandlung jener Zentren der Handlungsfähigkeit des Marginalen, Minoritäten, Subalternen oder Diasporischen, die uns anreizen, theoretisch – und über die Theorie hinaus – zu denken«396 . Dieser poststrukturalistische Ansatz des Schreibens als performativem Akt verdeutlicht Bhabhas Vorstellung von Dritten Räumen, die als Artikulationsräume gedacht sind für Perspektiven der Differenz und weisen darauf hin, dass Subalterne von hegemonial geprägten Diskursen mit ihren eigenen Bestimmungen von Differenzlinien, klar unterschiedenen Ebenen, Kategorien und der Autorität über Logiken der Unterscheidung zwischen Richtig und Falsch, ausgeschlossen werden. Diese Logiken regulieren, selbst im Sinne der Aufrechterhaltung von Standards, was Gehör findet und was nicht. Bezogen auf den wissenschaftlichen Apparat könnte man sagen, dass solch eine Auffassung einem der mindestens zwei Ansprüchen der Wissenschaft zuwiderläuft. Indem sie den Wert des bis dahin entstandenen Wissens schützt und die Entstehung von Neuem reguliert und verlangsamt, macht sie sich gleichzeitig dessen schuldig, die Entwicklung von Neuem, als etwas radikal Neuem, das das bisherige Denken in Frage stellt, zu verhindern.
394 Müller-Funk 2012: 128. 395 Erhellend ist für eine solche nicht lineare Methode des Schreibens das Sprachspiel Ludwig Wittgenstein bei Platzer 2006:24ff. 396 Bhabha 2000: 270.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Hybridität, vor allem, wie sie in Bhabhas Werk umgesetzt wird, scheint insofern der Name einer anderen Logik zu sein, die auf Verflechtungsfasern zwischen scheinbar getrennten Entitäten aufmerksam machen möchte, statt auf ihre Unterscheidung im Sinne des Festschreibens auf das ewige Andere. Dies wird deutlich, wenn er herausstellt: Der Text des Anderen »wird auf ewig zum exegetischen Horizont der Differenz statt zur aktiven Quelle der Artikulation«.397 Insofern provoziert Bhabha die Leserschaft dazu, sich zu entscheiden, ob man, wie Bhabha es selbst ausdrückt, den ›anderen Text‹ als Gegenstand des ›Othering‹, als Bestätigung von scheinbaren Gewissheiten oder in geschlossene Verstehenssysteme einordnend lesen möchte oder als kulturellen Ort der Artikulation von Neuem an der Grenze zu Vergangenheit und Gegenwart. Der Wert der letztgenannten Lesart steckt implizit in der Anstrengung, die eigene, etwas bequemere Position, durch eine andere, fremde Perspektive herausfordern zu lassen, welche jedoch die Aussicht mit sich führt, dass die Wiederholung der Annäherung im Zuge der Gewöhnung diesen Akt an sich erleichtert und letztlich einen selbstverständlicheren und zugleich sprachpolitisch bewussteren Umgang mit Differenz herbeiführt. Vor diesem Hintergrund werden im Folgenden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit oder Hierarchisierung, Ergebnisse der oben durchgeführten Diskussion und Analyse von Bhabhas hybridem Schreibprojekt benannt. Die Ergebnisse sollten vor dem Hintergrund von Bhabhas Figur der ›Übersetzung‹ gelesen werden – als ein hybridisierender Prozess der Verhandlung zwischen unterschiedlichen Positionen, die in sich nicht abgeschlossen sind und den anderen (Text) vor dem Hintergrund seiner jeweiligen historischen Gewordenheit verstehen können und doch in diesem Prozess Raum schaffen für Neues. In Bhabhas Schreibprojekt lässt sich Hybridität auf verschiedenen Ebenen, in verschiedenen Formen und vor dem Hintergrund differenter Kontexte lesen: 1. Im Aufzeigen der prinzipiellen Hybridität in der Weltgeschichte a) durch kritisch dekonstruktive Interventionen aus Perspektiven der Differenz (postkoloniale, postmoderne, poststrukturalistische, psychoanalytische) b) in linearen, dichotomischen, hegemonialen und ausgrenzenden Gegenstandsbereichen (Ideologie, Identität, Nation, Geschichte, Kultur, Kategorien wie Klasse, Geschlecht, Rasse) c) in der strategischen Verwischung der Trennlinien zwischen verschiedenen Theorieansätzen und kulturell-gesellschaftlichen Feldern durch eine Zusammensetzung in eine neuen Zusammenhang
397 Bhabha 2000: 48.
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Zugänge zu Hybridität 2. Hybridität a) in der prinzipiellen Differenz in der psychologischen Beschaffenheit des Menschen in seiner Werdung mit einem notwendig Anderen b) in der Subjektivierung im Sinne gesellschaftlicher Bedingtheit innerhalb machtvoller Ordnungen c) in der kultur-politischen Verhandlungsmacht im Angesicht der Instabilität und der Dynamiken von Macht und Autorität 3. Als Kultur als gesellschaftspolitisches Feld der Hybridität a) im Aufzeigen von Praxen hegemonialer Andersmachung (›Othering‹) b) über die Möglichkeiten ihrer Dekonstruktion c) über die Möglichkeiten der Neukonstruktion und der ethischen Basis ihrer Verhandlung 4. Als Konzept der produktiven Verwendung von epistemologischen Figuren wie Grenze, das »Darüber-Hinausgehende«, Schwelle, Brücke, das Hin- und Her des Treppenhauses, Übersetzung, Mimikry usw. für das Aufzeigen von Zwischenräumen als instabile, begrenzte, aber gemeinsame Basis (Dritter Raum) der Verhandlung
Im Folgenden werden diese herausgestellten Ebenen von Hybridität erläutert. In der Untersuchung von Homi K. Bhabhas Schreibprojekt und seinem Konzept der Hybridität stellt sich heraus, dass Methoden der Hybridität, im Sinne der Hybridisierung nur vor dem Hintergrund seiner theoretischen, kulturellen und politischen Agenda zu verstehen sind. Bhabhas Schreibprojekt kennzeichnet sich infolgedessen dadurch aus, dass er vor dem Hintergrund hegemonialer euro-atlantischer Theorie-Diskurse Methoden der Dekonstruktion und Neukonstruktion verwendet und entwirft, die er wiederum mit Blick auf die »Geschichte postkolonialer Migration, den Erzählungen der kulturellen und politischen Diaspora, den großen sozialen Verdrängungen von Bauern- und Ureinwohnergemeinden, der Exilpoetik, der düsteren Prosa von Flüchtlingen […].«398 ebenfalls mit Strategien des Überlebens verbindet. Inhalte wie der Kolonialismus, Fragen der Identität und des Anderen, der Nation, der Marginalisierten, Abhängigkeiten, allgemeine psychische Labilität, Ambivalenzen, Möglichkeiten des Umgangs mit- und der Veränderung bestehender Machtstrukturen etc. werden von Bhabha mit Blick auf ihren Zusammenhang mit- und ihre Abhängigkeit voneinander diskutiert. Das Motiv der Verbindung von im »herkömmlichen Sinne«399 Unterschiedenem zieht sich in Bhabhas Werk durch alle Ebenen von wissenschaftlichen Fächerkulturen. Auch hier werden Verbindungen von Elementen unterschiedlicher Bereiche und Disziplinen nicht im defizitären Sinne als Unvermögen zu kategorialen Trennungen, sondern vielmehr als pro398 Bhabha 2000: 7. 399 Müller-Funk 2012: 128.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
duktive Öffnung wissenschaftlicher Bereiche für neue mögliche Zusammenhänge betrachtet.400 Bhabha nimmt explizit den von Michel Foucault geprägten Ausdruck des Gesetzes der wiederholbaren Materialität als Ausgangspunkt, um die Übersetzung von Themen einer Disziplin in einer andere zu erklären. Jenes Gesetz beschreibt nämlich einen Prozess, durch den »Aussagen aus der einen Institution in den Diskurs einer anderen umgeschrieben werden können«.401 Mit Verweis auf den von Jacques Derrida geprägten Ausdruck »La Dissemination« (1972), auf den sich Bhabha in seinem Vorgehen beruft, ist eine endlose Streuung und Bedeutungsverschiebung im Prozess der Übersetzung unabdingbar und in diesem Fall sogar programmatisch. Seine Methode simplifiziert Bhabha durch das Benennen eines Lesens gegen den Strich und das Hinweisen auf mögliche Probleme von Annahmen. Dabei verhandelt er theoretische Fragen, indem er diese im Kontext seiner Schriften darlegt und durch explizite (Rück-)Fragen weiterdenkt. Die expliziten Fragen können als eine demonstrative Öffnung des Kommunikationsraumes und als ein Wille zum gemeinsamen Weiterdenken interpretiert werden. Eine weitere Ebene der Verhandlung wird in Bhabhas Verwendung von Figuren der Differenz ersichtlich, die er vor dem Hintergrund kultureller Ausdrucksmöglichkeiten einsetzt, um Probleme des modernen Denkens und dessen »lineare […], progressive […] Ansprüche […] – der großen imperial ausgerichteten Diskurse – mit ihren eigenen historischen Beschränkungen zu konfrontieren«.402 Dabei betont Bhabha die Ambivalenz von Figuren der Differenz als politisch technische Mittel der Separierung und Aporie im Sinne eines identifizierenden Begehrens nach Abschluss, Harmonie und Hegemonie. Bhabha legt dabei im Sinne der Dekonstruktion die Figuren der Differenz als negative epistemologische Folien auf die Linearität und Geschlossenheit zum Beispiel holistischer Argumentationsfiguren, um damit Widersprüche, Inkonsistenzen und reduktionistische Aussparungen im Sinne der Klarheit (›Widerspruchsfreiheit‹) aufzuzeigen und somit eine Engführung des Arguments zu demonstrieren. Zu sehen ist dies vor allem im Fortbestehen von abschließenden Konzepten von Kultur, Nation und Identität, die das Begehren nach Geschlossenheit und Stabilität über das Wissen um bestehende Differenz setzen, bis hin zur Negation dieser. In seinem anti-essenzialistischem Denken, das Kulturen dezidiert nicht als »stabile, historisch invariante Entitäten«403 begreift und sich explizit gegen holistische Erklärungen widersetzt, sieht Bhabha die Folge dessen, dass auch »die großen verbindenden Geschichten von Kapitalismus und Klasse«404 die Kraft und Glaubwürdigkeit einer kulturellen Identifizierung und politischen Hal-
400 401 402 403 404
Vgl. Müller- Funk 2012: 127f. Bhabha 2000: 34 nach Foucault 1973: 150ff. Bhabha 2000: 49. Struve 2013: 41. Bhabha 2000: 8.
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tung verloren hätten und zudem viele Bereiche des menschlichen Zusammenlebens nicht beschreiben könnten. Die dem Menschen inhärente Instabilität und prozessuale Hybridität im Sinne einer »Konstitution des Subjekts im Spannungsfeld von Macht und Autorität«405 sind demnach einerseits Bedingungen einer allgemeinen Konstitution des Subjekts in der Welt und andererseits als Bedingungen gesellschaftlicher Prozesse des Werdens des Subjekts in der Welt innerhalb machtvoller Ordnungen zu verstehen. Das Ziel dieses Ansatzes bleibt jedoch nicht bei der Identifizierung von Hegemonie und Gewalt im Sinne einer Verhärtung der (Opfer-Täter-)Positionen und das Bekriegen dieser stehen, sondern lenkt den Blick auf die Sichtbarmachung der allgemeinen Verletzlichkeit und in einem weiteren gedanklichen Schritt auf die damit einhergehende Handlungsmacht von Subjekten, Gemeinschaften und zivilisatorischen Errungenschaften in Anbetracht dieser Instabilität und prinzipiellen Verletzlichkeit. Dieser hybriden Differenz gibt Bhabha in der Lesart von Hybridität einen Ort in der Kultur an, wo Phänomene der Differenzierung in der Kultur über Momente der Konstruktion, Dekonstruktion und Neukonstruktion identifiziert und demonstriert werden. Kultur als Gegenstand und Ort hat eine besondere Rolle in der Erörterung von Bhabhas theoretischem und empirischem Schreibprojekt. Sie verweist auf ihr Potenzial als erkenntnistheoretischer Gegenstand, jedoch auch auf Handlungspotenziale und Handlungsräume. Auf der vierten Ebene von Hybridität werden dezidiert einige von Bhabha verwendete zentrale Tropen als symbolische Hinführungen zu seinem Denken und Vorgehen diskutiert. Den Effekt der wiederholbaren Materialität überträgt Bhabha nicht nur mit Bezug auf differente Themen, Theorien, Disziplinen und Genres, viel mehr verwendet er diese Tropen und im Speziellen die sprachliche Figur der Metonymie als methodisches Sinnbild für eine »Substitutionskette von ethischem und kulturellem Diskurs«.406 Diese Figuren der Differenz werden im Anschluss an Stuart Halls Ausdruck einer »arbiträre[n] Abgeschlossenheit«407 verstanden, welche als produktive Mittel prinzipielle Instabilitäten und Konstruiertheit der Gegenstände (erste, zweite und dritte Ebene von Hybridität) aufzeigen, um (vierte Ebene) auf Räume für Neues als Möglichkeiten der Handlungsmacht in kulturellen und gesellschaftlichen Diskursräumen aufmerksam zu machen. Der Dritte Raum erhält dabei eine mehrfache Rolle. Er dient nicht nur als Sammelbecken für die semantischen und formalen Aussagen der oben diskutierten Tropen als Metaphern, Metonymien, Methode der Verlangsamung, Vergrößerung und Einklammerung, sondern versteht sich explizit als hybrider Raum, in dem Platz geschaffen wird »für Differenz ohne eine übernommene
405 Bhabha 2012: 9. 406 Bhabha 2000: 135. 407 Bhabha 2000: 267.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
oder verordnete Hierarchie«.408 Differenz hat im Sinne der Hybridität aber nicht nur einen Raum der Anerkennung, sondern obliegt Prozessen der Verhandlung im Kontext von Macht und Autorität in der Gesellschaft. An einer Stelle expliziert Bhabha, dass seine Schriften zum postkolonialen Diskurs gerade in den »liminalen Momenten der Identifikation«409 , in denen Brüche und das Nicht-Gelingen sichtbar werden, verdeutlichen möchten, dass eben dadurch »subversive Strategien subalterner Handlungsmacht«410 hervorgebracht werden, die »durch einen Prozess der iterativen ›Auftrennung‹ und der aufrührerischen Neuzusammensetzung inkommensurabler Elemente ihre eigene Autorität verhandelt«.411 Besonders prägnant für Bhabhas Vorstellung des Raumes ist der Anspruch der Zusammengehörigkeit scheinbar differenter Dinge und in weiterem Sinne auch der Inklusion. Diese ist jedoch nicht gedacht als Einschließung und Gleichmachung, sondern als Erweiterung und Dezentrierung des Raumes. Für ihn ist, in der poststrukturalistischen Denkfolge Derridas, der Raum außerhalb der Theorie ein Ort außerhalb des Satzes selbst. Jedoch wird dieses ›Außerhalb des Satzes‹ nicht als ein ›davor‹ oder ›danach‹ oder einem ›Nicht-Satz‹, sondern als die Möglichkeit, dass »etwas, was in den Satz hätte Eingang finden können, aber dennoch außerhalb davon blieb«412 beschrieben. Hybridität zeigt sich hier in ihrer Vielschichtigkeit einerseits jenseits eines Denkens in Polaritäten und Oppositionen und andererseits in Figuren der Differenz und Dopplung. Diese kennzeichnen sich u.a. durch sprachliche Prozesse (bzw. aktive Methoden) der Iteration und Metonymie, die wiederum vor dem Hintergrund theoretischer, historischer und politischer Machtstrukturen als Strategien der Dekonstruktion und Neukonstruktion verstanden werden sollten. Den Ansatz seines theoretischen Engagements kennzeichnet der folgende Satz weiter eindrücklich, wenn Bhabha schreibt: »Erst wenn wir die Gewalt (violence) des poetischen Zeichens innerhalb der Gefahr politischer Grenzverletzungen (political violence) ansiedeln, können wir die ganze Macht der Sprache verstehen«.413 Gerade an der Gefahr der (Fehl-)Übersetzung und problematischer Repräsentanz von Subalternen in Gesellschaften und unter den Völkern wird Bhabha zufolge die Notwendigkeit größer, »den postimperialen Westen ständig an die Hybridität seiner Muttersprache und die Heterogenität seines nationalen Raumes zu erinnern«.414 Es wird erkennbar, dass Bhabha Gegenstände und Vorgehensweisen
408 409 410 411 412 413 414
Bhabha 2000: 5. Bhabha 2000: 276. Bhabha 2000: 276. Bhabha 2000: 276. Bhabha 2000: 271. Bhabha 2000: 89. Bhabha 2000: 89.
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seines Schreibprojektes nicht entlang großer Kategorien verortet, sondern im Bereich der Sprache und Kultur, diese jedoch als Ort und machtvolles (metonymisches) Mittel verwendet, um auf große Themen, wie zum Beispiel die »Gefahr politischer Grenzverletzungen« aufmerksam zu machen. Was Bhabhas Werk tatsächlich besonders macht, ist die performative Umsetzung des Dritten Raums durch vielfältige Arten, Dialogfelder zu eröffnen, die durch bekannte Figuren Räume des Gemeinsamen aufzeigen möchte, die vor einer Ethik der allgemeinen Differenz auf eine hybride Verflochtenheit der Menschen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verweist und die Frage in den Raum stellt, wie wir im Angesicht der Barbarei und der zivilisatorischen Schritte in der Geschichte mit dieser Hybridität umgehen wollen. Bhabhas Antwort ist bekanntlich das Sehen und Schaffen von Dritten Räumen, das gekennzeichnet ist durch Inklusion von Differenz und Verhandlung dieser auf einem gemeinsamen instabilen Boden. Ein zentraler Ansatz von Bhabhas Hybridität ist also die Handlungsmacht (agency), die er in seinem Schreibprojekt über sprachphilosophische und theoretische Figuren der Differenz und Unbestimmtheit vollführt und demonstriert. Ein signifikantes Beispiel hierfür ist die Frage der Aporie, mit der Bhabha zum Einen aufzeigt, wie diese zur politischen Zerstreuung eingesetzt worden ist und zum Anderen in seiner Arbeit selbst vorführt, wie eben diese Aporie theoretisch durch Ebenen der Differenz legitimiert und im Sinne der »Handlungsmacht des Aporetischen und des Ambivalenten«415 auslegt werden kann. In der unsicheren, unbestimmten Orientierungslosigkeit sieht Bhabha insofern auch das Moment der Beweglichkeit und Offenheit, die das Potenzial von anderen Entfaltungsmöglichkeiten des Subjekts birgt. Die damit einhergehende Handlungsmacht lokalisiert er dabei in der Subversion von Eindeutigkeiten und Gewissheiten, die Raum schaffen für das Anderssein. Die bekannte Figur des Spielraums ist hier nicht utopisch oder frei von Hierarchien gedacht, sondern vielmehr reformerisch zu denken. Bhabha benennt insofern nicht nur im Titel seines Werkes (»The Location of Culture«/»Die Verortung der Kultur«) die Kultur als Spielraum der Handlungsmöglichkeit, sondern bezeichnet damit auch explizit »den Handlungsraum des sozialen Textes«.416 Die Hybridität zeigt sich in Momenten der Verschränkung von Subjekt, Text und Dingen außerhalb des Textes, die die »Wiederkehr des Subjekts als Handelnder«417 explizieren. In dieser Logik wird der Text nicht bloß als Ausdruck der sozialen Prägung und des willentlichen, individuierten Handelns verstanden, sondern als diskursiver Äußerungs- und Handlungsort, in dem Fragen des Außerhalb andersund neu verhandelt werden können. Die gewünschten Folgen seiner Vorstellung
415 Bhabha 2000: 272. 416 Bhabha 2000: 275. 417 Bhabha 2000: 277.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
von hybrider Verhandlung als Verflechtungsfigur von Subjekt, Text und den Dingen außerhalb des Textes sieht Bhabha wie folgt: »Diese Hybridität setzt das Projekt des politischen Denkens in Gang, indem sie ihm ständig die Probleme der Strategie und Kontingenz, das entgegenstehende Denken seines eigenen »Ungedachten« von Augen führt. Es muss seine Ziele durch eine Anerkennung differenzieller Objekte und diskursive Ebenen hindurch verhandeln, die nicht einfach als Inhalte, sondern in ihrer Äußerungsweise (adress) als Formen textueller oder narrativer Abhängigkeiten – seien diese nun regierungsamtlicher, juristischer oder künstlerischer Natur – artikuliert werden.«418 Dieser Satz ist eines von vielen Beispielen dafür, wie Bhabha Hybridität als Verflechtungsfigur versteht, die Themenbereiche und Ebenen überschreitet und neu zusammenstellt. In seinem Schreibprojekt kann Hybridität insofern als Konzeptmetapher erfasst werden, da sie sich in unterschiedlichen Nuancen eines sichtbaren roten Fadens durch sein theoretisches und empirisches Schreibprojekt zieht. Ihr Charakter (a) der Intervention in machtvolle Diskurse, (b) der subjektiven Prozesse im Umgang mit Differenz, (c) der sprachlichen Methoden und Strategien und (d) des normativen Raums kennzeichnet »Hybridität als Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie«419 , spiegelt sich sowohl in Bhabhas Auswahl an Untersuchungsgegenständen als auch in seinem Vorgehen der Dekonstruktion und Neukonstruktion von Bedeutung mit Mitteln der sprachlichen und semantischen Ver-ortung von scheinbar fixen Ordnungen. In dieser Logik äußert sich der Zwischenraum in seiner Ethik als eine vorsichtige, unruhige, ängstlichambivalente Suchbewegung, die »hierhin und dorthin verschiebt und gefangen scheint in der ethischen Unsicherheit des kontrafaktischen ›was hätte sein können‹ und der geschichtlichen Faktizität, ja sogar Fatalität, des ›was wirklich war‹«420 . Die ethische Haltung des hybriden Zwischenraums ist demnach eine vorsichtige und defensive, die sich über ihre nicht-lineare Bewegung des Suchens ausdrückt und darin in der Reichweite ihres Handlungspotenzials in gewisser Weise gefangen ist. Bhabha stellt diesem Eindruck zur Seite, dass die Macht des Narrativen in der »Äußerungsgegenwart (enunciatory present), die ängstlich, ambivalent und kontingent ist«,421 zugleich eine historische Gegenwart repräsentiert, die wiederum in der ethischen Verpflichtung steht, »für Überarbeitung und Übersetzung offen zu sein«422 . Wollte man die Wirklichkeit oder die Geschichte der Menschheit rekonstruieren – vor dem Hintergrund subjektiver und kollektiver Erfahrungen von
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Bhabha 2000: 96. Bhabha 2000: 5. Bhabha 2012: 29f. Bhabha 2012: 30. Bhabha 2012: 30.
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Gewalt jeglicher Art – so sagt Bhabha: »Wenn die Menschen […] sehr viel Wirklichkeit [ertragen]«,423 braucht es Formen der Äußerung zwischen »Erinnerung und Erzählung, […] Befragung und Gespräch«424 . Solche Formen müssten dialogische Praxen wie »Ausflucht und Interpretation, Schweigen und Sprechen, Erinnerung und Vergessen, Handlungsmacht und Zeugenschaft«425 ins Zentrum nehmen. Im Sinne seiner Idee der Verhandlung könnten eben solche Aspekte der ›NichtEindeutigkeit in Narrationen‹, Brüche und ›Figuren der Differenz‹ in sprachlichen Mitteln als Mittel der »negotiation« nutzbar gemacht werden, zum besseren Verstehen von Ausdrucksweisen im Zwischen als natürliche Prozesse in der Konstruktion von Wirklichkeit. Eine angsterfüllte und demütige Bewegung in der Gegenwart sei demnach als Autorität der Wirklichkeit »zwar partiell, perspektivisch, ambivalent und interpretationsbedürftig […], aber dafür nicht weniger menschlich«.426 Nicht zuletzt in diesem Zitat stellt Bhabha heraus, dass sein theoretisches engagiertes Denken über die prozesshafte Arbeit in Zwischenräumen beschrieben werden kann, die ihr perspektivisches ›Eingeklammert‹-Sein eingesteht und in der betont unsicheren und zweifelnden Bewegung des »Hin- und Her« gerade darüber Formen eines menschlichen, humanen Ausdrucks sucht.427 Die Untersuchung der von Bhabha verwendeten Theorien des »Post-«, der Gegenstände ›außerhalb des Textes‹ und seiner methodisch-strategischen Einsätze werfen ein neues Licht auf das Moment des »Post-«. Damit erweitert sich seine Bedeutung von der zeitlichen Überwindung und der kritischen Intervention in Diskurse gerade in Hinblick auf sein sprachphilosophisch-semiotisches Vorgehen auf eine Ethik der suchenden zweifelnden und a-linearen Bewegung in einem Raum, dessen Zwischen als Spannungsverhältnis zu denken ist, welches ständig Gefahr läuft, zu sehr zur einen oder zur anderen Seite zu kippen.
Erste pädagogische Folgerungen aus der Methode und Strategie Die Beurteilung der Frage, ob Bhabhas Konzept der Hybridität auch eine Methode enthält, ist nicht zuletzt aufgrund seines beschriebenen Vorgehens nicht eindeutig. Die Vermutung liegt nahe, dass eine solche Einschätzung mit traditionellen Maßstäben und Standards der Systematisierung nicht möglich ist. Lässt man sich aber darauf ein, was Bhabha auf theoretischer wie empirischer Ebene aussagen möchte, so kann die Lehre aus der Auseinandersetzung mit seinem Werk als Hinführung zu Hybridität als Gegenstand führen. Eine daraus ab423 424 425 426 427
Bhabha 2012: 30. Bhabha 2012: 30. Bhabha 2012: 30. Bhabha 2012: 30. Bhabha zeichnet hier einen Menschen auf, der seine Geschichte, sowie auch die verflochtenen Geschichten der anderen (sofern sie ihm einigermaßen bewusst sind) mit sich herumträgt. »Die Geschichte mit sich herumtragen"(Bhabha 2012: 52) und ausführen.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
geleitete Frage ist zu überprüfen, ob und wie Bhabhas uns üben lassen kann, dem unbestimmten, aber faktisch unwiderlegbar hybriden Umstand in der Welt angemessen zu begegnen. Insofern gilt es den zu untersuchenden Gegenstand als differentes Gegenüber anzuerkennen, indem ihm zuerst ein eigener Wert für sich zugestanden wird, bevor er von dem Gegenüber verstanden werden will. Die interne Differenz ist somit die Grundlage für die externe Differenz, die ihre mögliche Sehnsucht nach Harmonie nicht in kulturessentialistische Identitätsfantasien einschließt oder die Unterdrückung kultureller und sexueller Differenzen nicht zum Nebenwiderspruch einer marxistisch gedachten Dialektik herabstuft, sondern Differenz als Grundlage von Solidarität betrachtet. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Mathias Schmidt beschreibt Bhabhas Texte als »systematische Opazität«.428 Sie seien wie eine »kunstvolle Verquickung von theoretischen Äußerungen«, die Argumente würden gestützt von »begleitenden Beobachtungen an Filmen und Literatur sowie einer eigenständigen stilistischen Kombination dieser Elemente, die mehr oder weniger lose um einen thematischen Kern drapiert werden«.429 Diese Einschätzung kann auf die Gesamtstruktur von Bhabhas Hauptwerk übertragen werden, das aus einer Zusammenstellung von Essays besteht, die je thematisch anders gelagert sind und doch auf gemeinsame Momente verweisen. Die fehlende Systematik, die fehlende Klarheit in der Strukturlogik und die sprachlichen Stilmittel der Uneindeutigkeit können erst in der Verbindung des Vorgehens mit den theoretischen Annahmen als Methode, sogar Strategie gelesen werden. Neben einem dekonstruktiven Vorgehen im Aufzeigen von heimischen Annahmen und dem immer schon vorhandenen Unheimlichen im Menschen, aber auch der scheinbaren Ziellosigkeit in der Suchbewegung kann die Destabilisierung der Grundlagen und Stilmittel und Figuren der Differenz und Metonymie als Methode des Spiels mit Strukturen herausgestellt werden. Was Bhabha als Methode des ›gegen den Strich Lesen‹ ausweist, erweitert sich auf ein programmatisches ›gegen den Strich Schreiben‹. Differenz wird nicht nur auf der Ebene der Theorie dekonstruiert und neukonstruiert, sondern auch in seinem Schreibprojekt performativ vorgeführt, über eine spielerisch anmutende Verwendung von Theorien und Begriffen. Die stilistischen Mittel des Bruchs und der Metonymie spielen zugleich mit dem gewohnten Lesefluss und führen die Leserschaft an eine teilweise unmittelbar leibliche Erfahrung des Erlebens von Differenz und Alterität. Der verstörende Effekt der Brüche, Wiederholungen und des metonymischen Zusammenbastelns von Sinnzusammenhängen lässt die Leserschaft nicht nur Momente des anderen Textes erfahren, sondern auch an die leiblichen Grenzen 428 Schmidt 2012: 107. 429 Schmidt 2012: 108.
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des Erlebens von Differenz als etwas Anderem, sogar Fremdem430 ankommen. Ein solches Lesen führt an den Rand der Frustration, mit dem anderen Text und auch mit sich und bringt immer wieder die Frage hervor, wie dies zu beurteilen sei. Ist das ein nur schlechter Stil und was will er uns überhaupt sagen? Oder passt das, was gerade mit mir passiert, genau dazu, was Bhabha vor dem Hintergrund seiner Theorie der Hybridität aussagen möchte? Wenn Hybridität auf vielen Ebenen zu finden ist, dann ist die subjektive Ebene eine unerlässliche, die im Leseprozess auch einen Übersetzungsprozess durchläuft, der schmerzvoll431 sein kann. Dass das Erleben in einem Zusammenhang mit dem Überleben (›Hybridität als Strategie des Überlebens‹) steht, wird deutlicher, wenn man Bhabhas Perspektive vor dem Hintergrund des Postkolonialismus hinzunimmt. Sein Vorgehen verweist auf gesellschaftspolitischer Ebene auf sozioökonomisch prekäre Minderheiten, für die die Frage des Umgangs mit einem Anderen, Fremden von existenzieller Dimension ist. Gerade vor dem Hintergrund seiner theoretischen Bestimmungen kann man Bhabhas Vorgehen als politisch performativen Akt lesen, über das Konzept der Hybridität die Frage der Alterität erfahrbar zu machen. Man kann Bhabhas Schriften selbst als Dritten Raum interpretieren, in dem in der Arbeit mit dem ›anderen‹ Text der Umgang mit Differenz mit all seinen Ungereimtheiten und Frustrationen geübt werden kann, ohne dass man sich gleich vor anderen verantworten muss. Die LeserInnen erhalten die Möglichkeit, sich ihre eigene Zeit dafür zu nehmen, hin und her zu blättern, den Text, den Gedanken anzuhalten, zu extrahieren, ihn mit anderen in Verbindung zu setzen oder in einen noch größeren Kontext zu stellen, sich von ihm zu entfremden und doch wieder in Verhandlung zu treten, zu überlegen, was daraus interpretiert werden möchte, was nicht, und was eine solche Interpretation mit einem selbst zu tun hat. Ein solches Lesen bringt die Leserschaft jedoch an die leibliche Grenze und an den Kern der eigenen Erfahrung als ein ›Geworden-sein‹, das es weiter zu entwickeln gilt – mit dem Anderen als Bedingung der Weiterentwicklung. Bhabha nutzt an einer Stelle den Ausdruck der »Kunst des Werdens«.432 Während die Kunst das Symbol für eine Ausdruckform des Individuums in Verhältnis zur Welt ist, das es schafft, gesellschaftspolitische Bedingungen einzuklammern, um die relative Freiheit zu erhalten, eben diese anders zu denken, steht das Werden für die sinnbildliche Genese und Entwicklung. Möchte man diesen Entwicklungsgedanken besser fassen, so muss das Gegensatzbild zur Dialektik bemüht werden. Hinter der »Kunst des Werdens«433 steht nicht das Ziel der sich hierarchisch höher entwickelnden Ver-
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Zur Unterscheidung des Anderen und Fremden, siehe Müller-Funk (2012: 129). Im Sinnbild des »Stachel des Fremden« bei Waldenfels (1990). Bhabha 2000: 81. Bhabha 2000: 81.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
nunft, sondern lediglich der Prozess an sich, der nicht linear zu einem bestimmten Ziel hin verläuft, sondern die Bewegung selbst zur Kunstform macht434 . Eben diese »Kunst des Werdens«435 kann in Bhabhas Werk auf theoretischer und sprachlicher Ebene in der dekonstruktiven und metonymischen Verquickung von Themenfeldern, Disziplinen und Ebenen im Rahmen seines Schreibprojektes zu der Beurteilung führen, die hybride Methode als eine Ebene seines Konzeptes der Hybridität zu beschreiben. Gleichzeitig würde diese Einschätzung dem Umstand Sorge tragen, dass sein Vorgehen die Mimesis seiner Theorie ist und diese nicht nur bestätigen soll, sondern ihre hybride Verflechtung demonstrieren – und diese in die kulturelle Praxis übersetzen soll. Insofern kann Bhabhas Vorgehen vor dem Hintergrund seiner postkolonialen Intervention und des theoretisch engagierten Denkens als Strategie herausgestellt werden, das die oben genannten Methoden nutzt für ein größeres Ziel, nämlich Hybridität in Form von Handlungsmöglichkeiten und Strategien des Überlebens aufzuzeigen für Menschen in der Gesellschaft, deren Freiheit und Gleichheit gefährdet ist. Was ein bloß methodisches Sprachspiel und Dekonstruktion von Theorien zu sein scheint, entfaltet seine Bedeutung erst vor dem Hintergrund der theoretischen Grundlagen, die die Ausganssituation ihres Denkens auf realpolitische, subjektive und kollektive Erfahrung von Gewalt, existenziellen Kämpfen und Barbarei verorten. Insofern können die neutral und instrumentell wirkenden Sprachspiele und Figurationen erst vor dem Hintergrund der theoretischen Grundlagen in ihrer theoretisch engagierten Dimension erkannt werden. Ein damit verbundener niedrigschwelliger ethischer Ansatz von »Hybridität als Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie«436 bezieht sich auf Differenz und Hybridität in der Geschichte und die gegenwärtige und zukünftige Notwendigkeit, aktiv an solchen Räumen der Verhandlung zu arbeiten. Die Ergebnisse der Analyse von Bhabhas Schreibprojekt, im Speziellen seines Hauptwerkes »Die Verortung der Kultur« in Hinblick auf Hybridität werden im Folgenden um einen weiteren Kontext erweitert. Dieser kennzeichnet sich durch die prägnantesten Kritiken an Bhabha, an die die Beurteilung und Kritik von Bhabhas Konzept der Hybridität in diesem Buch angeschlossen und mit Blick auf gegenwärtige Tendenzen weitergedacht wird.
434 Weiterbringend ist in Bezug auf eine leibliche Dimension von Lesen auch McLuhan 2000:42ff. 435 Bhabha 2000: 81. 436 Bhabha 2000: 5.
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3.8.
Kritik an (Bhabhas) Hybridität als Symptom unserer Zeit – ihre Leerstellen, Gefahren und Potenziale
Auf der Spur des Begriffs der Hybridität ist nicht nur eine breite theoretische und historische Kontextualisierung möglich und unerlässlich, wie sie im zweiten Kapitel dieses Buches (bis zu einem gewissen Grad) erfolgt ist, sondern auch die Auseinandersetzung mit seiner charakteristischen Prozessualität in der Frage nach angewandten Methoden und Strategien, wie sie in diesem Kapitel am Beispiel von Homi K. Bhabhas Schreibprojekt dargelegt worden ist. Für eine eingehendere Beurteilung von Hybridität ist jedoch auch die Kritik an Homi K. Bhabhas Hybriditätskonzept von Bedeutung, die die Leerstellen und Probleme von Hybridität offenlegt. Dass Bhabhas Konzept der Hybridität vor dem Hintergrund seines Schreibprojektes sowohl auf Jubel als auch auf scharfe Kritik stößt, ist in diesem Kapitel bereits angeklungen. Differenzierte Auseinandersetzungen mit der Kritik an Bhabhas Denken und Konzept der Hybridität, sowie dessen Antworten auf die Kritik ist an anderer Stelle erfolgt.437 In diesem Abschnitt wird eine kurze Darstellung einer Auswahl dieser kritischen Einwände zu Bhabhas Schreibprojekt und damit auch zu seinem Konzept der Hybridität erfolgen. Dabei werden die Formen der Kritik in die unterschieden, die leicht widerlegt werden konnten und die, die bisher keine substantielle Antwort erhielten. David Huddart (2006) und Eleanor Byrne (2009) diskutieren in ihren Werken zu Bhabha durch intensive Analysen die Plausibilität und das Potenzial im Schreibprojekt Bhabhas sowie ausführliche Kritiken dessen. Vielen kritischen Einwänden konnte von Bhabha selbst und von anderen Rezipienten durch Textbelege oder eine Darstellung der Komplexität seiner Aussagen eine vereinfachte oder eine destruktiv motivierte Beurteilung nachgewiesen werden. Exemplarisch wird Rasheed Araeens Vorwurf herangezogen, dass Bhabhas Figur des Mimikry bzw. des ›mimic man‹ weniger den subversiven Widerstand aufzeige, als vielmehr ein Ausdruck von einheimischen Kollaborateuren sei, die in der Kolonialzeit eine wichtige Rolle in der Überzeugung und Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung inne hatten und immer noch haben.438 In seinem elaborierten Werk zu Homi K. Bhabhas Werken zeigt David Huddart mit Verweis auf Bhabhas explizite Diskussion von Projekten der programmatischen Erziehung zur Kollaboration im Kolonialismus, wie unterkomplex Bhabhas Texte teilweise rezipiert und kritisiert werden. Ebenso ist der Vorwurf zwiespältiger Positionen bestimmter privilegierter Gruppen im Kolonialismus ein wiederkehrender Ansatz der Kritik, worunter auch 437 Vgl. exemplarisch Castro Varela/Dhawan 2005; Huddart 2006; Byrne 2009; Baka/Malle/Schmidt 2013. 438 Araeen in Huddart 2006: 160ff.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Bhabhas eigene privilegierte Position gefasst wird. Huddart antwortet darauf schlicht: »Bhabha cannot stop beeing Bhabha, and cannot magically wipe away his familial and cultural positioning«.439 David Huddart und Eleanor Byrne machen in ihrer Auseinandersetzung mit Bhabha deutlich, dass Ansätze, wie die Araeens repräsentativ seien für einen großen Teil der Kritik an Bhabha, die sich auf Anspielungen und eng ausgelegte Zuschreibungen stützten.440 Huddart konstatiert, dass ein solches Lesen Bhabhas von gleicher Dekontextualisierung und Übergewichtung von Begriffen zeuge, wie sie Bhabha selbst vorgeworfen werde – »the difference is Bhabhas loving attention to the texts he reads«441 . Bhabhas Dekonstruktion und Neukonstruktion sei eine Umgangsweise, die den anderen Text zwar für seine Lesart verwendet, diese Vorgehensweise jedoch nicht methodisch verdeckt, sondern offenlegt und immer wieder auch vor dem Hintergrund von historischen Ereignissen und theoretischen Diskurslogiken begründet. Die Analyse von Bhabhas Umgang mit Theoriengegenständen bestätigt, dass selbst seine kritische Intervention in Diskurse von einer Perspektive zeugt, die im Ton nicht missbilligend oder herablassend ist, sondern in seinem Vorgehen weitere Perspektiven auf dieselbe Sache einholt und die verschiedenen Perspektiven neben einander stehen lässt, was wiederum einen dekonstruktiven Effekt hat. Wie sehr diese Vorgehensweise Bhabhas vor dem Hintergrund seines politischen, theoretischen und kulturellen Denkens als Strategie der Hybridität verstanden werden könnte, wurde an dieser Stelle bereits diskutiert. Im Folgenden werden einige kritische Einwände vorgestellt, die aus Sicht der Autorin weder von Bhabha selbst noch von seinen VerteidigerInnen auf befriedigende Weise widerlegt worden sind und daher gerade vor dem Hintergrund der Diskussion um Hybridität in der Gesellschaft eine bedeutende Rolle spielen.
Leerstellen und Gefahren Zu Bhabhas schärfsten Kritikern gehören vielleicht der Philosoph Aijaz Ahmad und die Literaturwissenschaftlerin Benita Parry. Aus marxistischer Perspektive werfen sie ihm vor, durch das Konzept der Hybridität eine notwendige Oppositionalität zwischen Herrschenden und Unterdrückten aufzuweichen, die für die Analyse von sozioökonomisch bedingten Ungleichheiten unerlässlich sei442 , zudem würde Bhabha mit der Hybridisierung – in ihrem prozesshaften Charakter – der postkolonialen Kritik ihre historisch legitimierte Widerstandskraft nehmen.443 Die Kritik bezieht sich auf ein Denken Bhabhas in postmoderner, poststrukturalistischer, 439 440 441 442 443
Huddart 2006: 161f. Vgl. Huddart 2006: 161f. und Byrne 2009: 138. Huddart 2006: 154. Vgl. Huddart 2006: 152ff. Siehe auch die Kritik daran, dass Bhabhas Konzept der Hybridität selbst ideologisch sei (Struve 2013: 18). Wenn man nur Phänomene der Durchmischung in den Blick nimmt, so fin-
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postkolonial-kritischer Manier, indem er Begriffe wie Hybridität, Grenze, Ambivalenz und Darüberhinaus aus ihrem wissenschaftlich historischen Kontext weitgehend herauslöst und im Sinne seiner Agenda der kulturellen Hybridisierung in andere und neue Kontexte verortet. Dieser Umgang mit Begriffen und Theorien bringt ihm den Vorwurf der Dehistorisierung und Entpolitisierung von Diskursen aus ihrem realpolitischen Kontext ein, da Bhabha durch die schillernde Betonung der machtvollen Zwischenräume innerhalb der Kultur den Fokus der Debatte von wichtigen antiimperialen Kritikpunkten verlagere. Parry zufolge seien im Sinne der Neutralität der ideologiefreien Zonen der Differenz soziale Spannungen und politische Kämpfe daraus verbannt worden.444 Indem Bhabhas Ansatz Fragen von Rasse, Klasse und Geschlecht im Sinne einer Überbetonung der Macht der kulturellen Hybridisierung unterdrücke, lenke er somit auch von existenzielleren gesellschaftlichen Fragen ab445 und drücke somit die Arbeit politischer antikolonialistischer AktivistInnen an den Rand (des Diskurses).446 Ähnlich steht auch Ahmad einer Betonung der kulturellen Hybridisierung als kulturpolitischem Akt misstrauisch gegenüber, da fragmentarische Tätigkeit keine Äquivalenz zu einer organisierten Form politischer Arbeit darstellen würden.447 Die von Bhabha diskutierte Theorie und die diskutierten Gegenstandsbereiche (Kunst, Literatur etc.) sind für viele seiner KritikerInnen im Sinne einer postkolonialen Kritik zu sehr an ›westlichen‹ Theorien angelehnt und würden mit einer Verstärkung der Superiorität westlicher Theoretiker und der Vernachlässigung der diskursiven Ränder der Welt einhergehen, die Bhabha eigentlich stärken möchte. Diese Problematisierung tangiert auch Bhabhas inhaltlichen Bezug auf den Poststrukturalismus, da sie bedeutsame historische Errungenschaften und Positionierungen in Fragen der Ungleichheit individualisiere, kulturalisiere, entpolitisiere und relativiere. In anderen Worten hieße das, dass postmoderne und postkoloniale Theorien nicht per se im Sinne prekärer Anderer und Minderheiten schreiben, sondern im theoretischen Kampf um den Wahrheitsdiskurs randständige Positionen von privilegierten Minderheiten vertreten. Eine Vereinnahmung der Frage von Minderheiten durch die kulturtheoretische Debatte könnte tatsächlich von anderen Fragen zu Grundbedingungen des Lebens von Minderheiten nicht nur ablenken, sondern diese tatsächlich überlagern und nichtig werden lassen448 .
444 445 446 447 448
det man sie auch dort. Jedoch werden dabei materielle, soziale und historische Bedingungen vernachlässigt. Vgl. Parry 2004: 15. Vgl. Parry 2002: 244ff. und ebd. 2004:15. Vgl. Parry 2004: 15. Vgl. Ahmad 1995: 2ff. und Parry 1995: 36ff. Weiterführend ist in dieser Debatte Sen 2007 und Susemichel/Kastner 2018 zur Frage von Identitätspolitiken.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
In ihrem 1997 veröffentlichten Aufsatz Different Diasporas and the Hype of Hybridity stellt Katharyne Mitchell einige weiterführende Gedanken zum Diskurs um Hybridität vor, indem sie zum Beispiel in der thematischen Nähe von Hybridität und Identitätspolitik auf die Gefahr der Aufmerksamkeit für essentialistische Narrative verweist. Aufbauend auf diesen Gedanken Mitchells kann nicht nur die Hinführung des Blicks auf bestimmte Themen als Gefahr an gesehen werden, sondern auch die Tendenz, dass im Rahmen dieser beschränkten Themensetzung und in der Auswahl der Ansätze die einfacheren und bequemeren Antworten übernommen werden. Ähnlich angelegt ist Mitchells Analyse der Beschäftigung mit Metaphern wie Grenze, die im poststrukturalistischen Sinne die Überwindung dieser im Kontext von Sprache, Kultur, Nation etc. vorantreiben. Diese Entgrenzungen übersähen jedoch sozioökonomische Bedingungen und kapitalistische Strukturen, die die hybride Subjektbildung oder gar Widerstandsformen in Form von Kollaborationen und internationaler Arbeitsteilung begleiten würden.449 Der Grenzort sei insofern nicht nur eine epistemologische Figur, sondern auch Teil des materiellen Alltags. In Ergänzung zu Mitchells Anmerkung zu materiellen Aspekten der Grenze, erscheint Bhabhas Ansatz der Verhandlung mit Bezug auf Randfiguren in einem fast naiven Licht. Vor diesem Hintergrund werden real existierende Überlebenskämpfe nicht in Dritten Räumen der Verhandlung sichtbar, sondern vor dem Hintergrund von Asymmetrien in den Existenzbedingungen und dem vielmehr einseitigen Handel mit Überlebens- und Zugangsmöglichkeiten.450
Wie wird man der Erinnerung gerecht? Gerade in der Frage, wie die Erinnerung an etwas oder an jemanden repräsentiert werden kann, entzündet sich in Bhabhas Fall an seinem Lesen und Schreiben von Frantz Fanon. An diesem Beispiel wird die Achse zwischen einer klassisch marxistischen und einer postmodernen Sichtweise noch deutlicher. Die Kritik an Bhabha wird z.B. über die Auswahl der Texte und deren Interpretation und Weglassungen geführt, ob Fanon als Sozialrevolutionär oder eher als poststrukturalistisch gelesener Psychoanalytiker in Erinnerung bleiben wird. Die Kritik an der durch Dekonstruktion und Verschiebungen bewirkten Entpolitisierung von politischen Texten macht Benita Parry am Beispiel von Bhabhas Interpretation von Fanons Schwarze Haut, weiße Masken deutlich. Fanon beschreibe den Zustand der Gespaltenheit des kolonisierten Subjekts, sehe ihn jedoch als überwindungswürdig an, denn erst in der Überwindung dieser würde der Aufbau eines revolutionäres Bewusstseins entstehen, das die Verdammten dieser Erde zur Mobilisierung im Kampf gegen ihre Unterdrückung befähigen würde.451 Bhabha dagegen
449 Vgl. Mitchell 1997: 533ff. 450 Vgl. Mitchell 1997: 533ff. 451 Vgl. Parry 2004: 30.
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rekurriere zwar auf Fanons gespaltenen Kolonisierten, verweilt jedoch im Moment der Gespaltenheit und baut darauf seine Theorie der Differenz auf, deren politische Aussage aus marxistischer Sicht von geringer Kraft sei.452 Die Tatsache, dass Bhabha sich in seinen Werken explizit auf Fanon bezieht, ausschließlich gezielt dessen Schrift Schwarze Haut, weiße Masken verwendet und nicht dessen politisches Hauptwerk Die Verdammten dieser Erde, verdeutliche Bhabhas selektives Vorgehen, das den Fokus von einem eindeutig politischen Denken zu einem Denken verlagert, welches auf kulturell subversive Strategien setzt. Ebendieser Ansatz hat ihm, wie bereits dargelegt, viel Kritik eingebracht,453 da Bhabha im Sinne der Darstellung seines theoretischen Ansatzes von ihm herangezogene Theorien dekontexualisiert und somit den Vorwurf provoziert, er verflache und instrumentalisiere den analytischen Gehalt der Begriffe und Diskurse, indem er sie für seine Agenda nutze. Tatsächlich ist diese Kritik nur teilweise zutreffend. Denn Bhabhas Agenda des theoretischen Engagements zeugt von einer intensiven Beschäftigung mit Fragen der Historizität und Politisierung von Begriffen, jedoch ist es die Art seines Umgangs damit, was seine Kritiker und Fürsprecher nährt. Stuart Hall mischt sich in die Debatte um die sogenannte Inversion von Fanons politischem Vermächtnis ein, indem er einwendet, dass der Wettbewerb darum, welcher seiner Texte ihn besser repräsentiere, einen alten Streit heraufholen würde, nämlich, was auch immer der Autor gemeint haben könnte, der »struggle to colonise Fanon’s work has been an on-going process since the moment of his death«454 . Obwohl auch er nicht mit jeder Betonung Bhabhas einverstanden sei, so müsse laut Hall im Sinne Bhabhas festgehalten werden: »his critics in their haste, do not always acknowledge how clearly Bhabha marks out the points in his text at which his interpretation departs from and goes beyond his Fanonian brief«455 . Die wissenschaftliche Distanz und Aufrichtigkeit sieht Hall bei Bhabha in den Methoden der De-realisation, die in der Manier des brechtschen Theaters das Moment des Epischen im Bruch kennzeichnen und jegliche Form einer klassischen Adaption von sich weisen. Der postkoloniale Theoretiker Robert J.C. Young, dessen Beschäftigung mit dem Postkolonialismus und mit den Theorien Bhabhas auf die frühen 1990er Jahre zurückgeht, schreibt dazu: »If Bhabha changed his interpretative methods in response to the objections of his critics, he would no longer be Bhabha, the brillant insights would be lost, and he would become a conventional cultural or historic critic«.456 Young sieht den Gewinn gerade in Bhabhas Einsichten, die in seiner Denk- und Schreibbewegung begründet seien. Vereinfacht ließe sich sagen, wer von Hybridität schreibt, kann
452 453 454 455 456
Vgl. Parry 2004: 30. Vgl. Byrne 2009: 1. Hall 1996: 15. Hall 1996: 25. Young 2001: 347.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
die Einsichten darüber erweitern, wenn auch die Praxis des Schreibens und Lebens davon nicht untangiert bleibt. Hall beschreibt Bhabhas selbst erklärtes ›Lesen gegen den Strich‹ als Produktion eines »symptomatic reading of Fanon’s text«457 . Auf dieser Feststellung aufbauend fragt Hall, ob man ein solches Lesen limitieren sollte und wenn ja, mit welcher Autorität. Hall bezieht sich weiter auf Benita Parry, die zugibt, dass Fanons Schwarze Haut, weiße Masken Bhabhas Lesart bestätige. Diese symptomatische Lesart zeige ihre Angemessenheit, da Fanons Text selbst als offener Text angelegt sei, »hence a text we are obliged to go on working on, working with«.458 David Huddart sieht wie Hall und andere diese Lesart Bhabhas in Bezug auf Fanons Schwarze Haut, weiße Masken auf bahnbrechende Weise in der Logik Fanons verweilend, welche dem Prozess der Erinnerung an diesen entspräche.459 Den großen Gewinn durch Bhabhas Schriften sieht Hall infolgedessen in seiner Aufmerksamkeit für das »uncertain dark«,460 das jeden aufkommenden, wahrhaft radikalen Gedanken begleite. Wo für Bhabha und andere die Opazität und relativ offene Struktur von Theoriebildung einen produktiven Effekt auf den Diskurs haben kann, sehen Kritiker wie Ahmad ein eklektizistisches Vorgehen ohne eine politisch parteiische Anbindung, die eine gleichzeitige Nutzung nicht nur differenter, sondern auch widersprechender Theorien erlaube. Man könne »marxistische und anti-marxistische, feministische und anti-feministische, dekonstruktivistische, phänomenologische«461 Theorien beliebig für das Verfolgen der eigenen Argumentation instrumentalisieren. Vor dem Hintergrund dieser Kritiken und Michael Hardts und Antonio Negris Analyse zu Bhabha als Symptom unserer Zeit, kann die Kritik an Bhabha einerseits seine Bedeutung darin zeigen, wie sehr sein Denken und seine Methoden andere Ansätze irritieren und provozieren können. Ob dies darin liegt, dass wissenschaftliche Standards und kategoriale und disziplinäre Abgrenzungen in Gefahr gesehen werden oder bestimmte institutionell verankerte Denkrichtungen dadurch ihre interessensgeleitete machtvolle Autorität angegriffen sehen, bleibt der Diskussion überlassen. Die Analyse von Bhabhas Konzept der Hybridität und ihrer Kritik zeigt jedoch auch, dass sein Fokus auf bestimmte Strukturen (binäre und hybride) und Themen (Migration, Flucht, Diaspora, Kultur) tatsächlich von bestimmten anderen Themen ablenkt (Kategorien der Klasse, Gender, Rasse, Produktionsbedingungen, sozio-ökonomische Positionen) und damit selbst der analytischen Engführung in die Falle geht. Das Potenzial von Konzepten der Hybridität und Differenz liegt gleichzeitig im Verweis auf das Andere, Opake, Ungedachte, das Teil von uns ist. Ihre Funkti457 458 459 460 461
Hall 1996: 25. Hall 1996: 34. Vgl. Huddart 2006: 163. Hall 1996: 35. Ahmad in Castro Varela/Dhawan 2005: 107.
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on stellt sich insofern darüber ein, dass sie darauf aufmerksam macht bzw. dieses im Moment der Sichtbarmachung in ihren Dritten Raum der Verhandlung einschließt. Verortet man Hybridität im Moment der auf Differenz beruhenden Verbindung zweier (nicht abgeschlossener) Entitäten, so kann sie auf die grundsätzliche Ebene der Genealogie zurückgeführt werden, ob auf biologischer oder epistemologischer Ebene. In beiden Fällen verweist Hybridität als ›ein Werden im Kontext von Ordnungspolitiken‹ auf ein unhintergehbares Paradox, das nicht zuletzt durch sprachliche Mittel auf Fremdzuschreibungen als die Grundlage von Diskriminierung und Unterdrückung verweist. Darin kann jedoch auch die Bedingung der Möglichkeit der Auseinandersetzung und Handlungsfähigkeit gesehen werden, die eben diese Grundlagen durch Dekonstruktion und transparente Neukonstruktion entmachtet und neu ausrichtet. In diesem Sinne sieht die Autorin im Anschluss an die Debatte um Bhabhas Textauswahl und um seinen Umgang mit den Texten Fanons neben dessen erwähnten beiden Texten viel eher Bhabhas Ausführungen zu Fanons Essay »Algerien legt den Schleier ab«462 als bedeutsam an, um die kulturelle und politische Macht von Hybridität und auch Bhabhas ›theoretisches Engagement‹ einschätzen zu können. Besonders hervorgehoben sei dabei die in dem Aufsatz von Fanon beschriebene Rolle der ›verschleierten Frau‹ im Algerienkrieg als subversive Figur, hinter der ›jede-r‹ stecken könnte. Die politische Positionierung einer unsteten Hybridität zeigt sich im Aufzeigen subversiver und kultureller Akte einzelner Personen oder Gruppen im Alltag durch das blasphemische Spiel mit Ordnungen. Es geht darum, auf Potenziale und Handlungsmacht von liminalen Positionen und Figuren aufmerksam zu machen, die Momenten der Irritation, dem Spiel mit Dopplung, Ambivalenz und Unheimlichkeit inhärent sind. Die Besonderheit von Bhabhas Schriften liegen weiterhin in der poetisch strategischen Verflechtung von Theorien, Gegenstandsbereichen und Denkfiguren und der Differenz und Hybridität auf der Ebene der Theoriebildung und der Schreibpraxis.
Hybridität als Symptom unserer Zeit Die pointierteste Kritik bzw. Analyse von Bhabhas hybridem Schreibprojekt liefern der Literaturwissenschaftler Michael Hardt und der Philosoph Antonio Negri in ihrem Standardwerk »Empire« (2000), wenn sie vor dem Hintergrund postkolonialer und postmoderner Theorien Hybridität als artikuliertes Symptom der veränderten Zeiten und Diskussionen sehen und darin auch ihre Bedeutung einordnen. Ohne den Anspruch oder die Leistung der Kritiker der Moderne abzustreiten, stellen Hardt und Negri die Leistung der aufklärerischen Moderne in ihrem Wahrheitsanspruch heraus, indem sie diese in den Kontext prekärer Situationen wie zum Beispiel der Arbeit der »Truth Commission« in El Salvador stellen: »The truth 462 Fanon in Bhabha 2000: 93.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
is that this general ordered the torture and assassination of that union leader, and that colonel led the massacre of that village«.463 Eine zentrale Errungenschaft im Projekt der Aufklärung läge in »Making public such truth«.464 Ihre Stärke läge darin, gerade in der Klarheit der Fakten und dem Bereitstellen dieser Fakten über die Unterdrückungsverhältnisse für die Öffentlichkeit. Fluidität und Instabilität würden in diesem Kontext dazu genützt werden, um diese Fakten zu mystifizieren und die repressive Macht der Regime in ihren Angriffen zu unterstützen. Trotz dieses Widerspruchs betonen sie jedoch, dass ein solcher Einwand nicht zur Verwerfung dieser Perspektiven führen sollte, da diese eine bedeutende Rolle spielen würden in der Produktion von Wahrheiten zu Differenz, Hybridität und Mobilität auf theoretischer Ebene. Die befreiende Rolle postmoderner und postkolonialer Theorien sehen Hardt und Negri auf der Ebene der Wissenschaften, die jedoch mit einem gewissen Grad an Wohlstand und so-zialer Positionierung in der globalen Hierarchie einhergehe. Nicht zufällig sei in dem geteilten Narrativ der Postmoderne und des Postkolonialismus zur Befreiung von Binaritäten, Traditionen und globalen Marktregeln eine privilegierte Sicht zu erkennen, die zudem die Kluft zwischen der Arbeit an Theorie und tatsächlich praktischem Einsatz für globale realpolitische Veränderungspotenziale nicht gerade verringere.465 Insofern stellen die Autoren die Beurteilung der befreienden Effekte von »Difference, hybridity and mobility«466 sowie »truth, purity, and stasis«467 nicht über den Antagonismus ihrer Konzepte. »Truth will not make us free […]. Mobility and hybridity are not liberatory, but taking control of the production of mobility and stasis, purity and mixtures is«.468 Weder Konzepte der Wahrheit noch die der Hybridität seien in sich »liberatory«,469 sondern erst über ihren Einsatz in Fragen von Produktionsverhältnissen und der Kontrolle darüber entfalte sich ihr Sinn. Hardt und Negri machen den Versuch, einen Kampf zwischen den theoretischen Ansätzen von ›purity and hybridity‹ zu beenden, indem sie Sinnhaftigkeit, Leerstellen und Gefahren dieser Ansätze über ihre konkrete Kontextualisierung in historische und sozioökonomische Ereignisse und Bedingungen herausstellen. Den Unterschied zwischen dem modernen industriellen Zeitalter, in dem alle Produktionen auf ihre Industrialisierung ausgerichtet waren, konstatieren Hardt und Negri hauptsächlich im »process of postmodernization«470 durch die Konzentration auf »knowledge, information, affect, and communication«471 . 463 464 465 466 467 468 469 470 471
Hardt/Negri 2000: 155ff. Hardt/Negri 2000: 156. Vgl. Hardt/Negri 2000: 155ff. Hardt/Neri 2000: 156. Hardt/Negri 2000: 156. Hardt/Negri 2000: 156. Hardt/Negri 2000: 156. Hardt/Negri 2000: 285. Hardt/Negri 2000: 285.
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bei der Produktionen ausgerichtet werden auf die Produktion von Leistungen, die wiederum auf die Verwertung von Informationen ausgelegt sind.472 Hardts und Negris Analyse postmoderner und postkolonialer Ansätze, wie den Bhabhas und von Hybridität als Symptom unserer Zeit liegen nun ca. zwanzig Jahre zurück. Im Folgenden wird die Funktionalisierung von Hybridität vor dem Hintergrund relativ aktueller Bücher von Volker Weiß (2017) zur sogenannten Neuen Rechten und von Ingrid Brodnig (2017) zur der Paradoxie der Zersplitterung der Debatten im weltweiten Netz diskutiert.
3.8.1.
Eine Aktualisierung der Gefahren von Hybridisierungen am Beispiel der »Neuen Rechten« und zersplitterter digitaler Debatten
Über bloße Leerstellen von Hybridität hinaus, kann nach der Beschäftigung mit Methoden und Strategien von Hybridität in diesem Buch eine Gefahr darin gesehen werden, wenn diese Methoden und Strategien dekontextualisiert und als bloße Mittel der Dekonstruktion und Destabilisierung von Diskursen und Hegemonien verwendet werden. Obwohl es einige noch signifikantere Beispiele für die Destabilisierung von demokratischen Strukturen gibt, wird das Problem von Methoden der Dekonstruktion, Fragmentierung, und dem Spiel mit Opazität im folgenden Abschnitt am Beispiel der wiedererstarkten nationalistischen und autoritären Strömungen und einigen ihrer Methoden und Strategien verdeutlicht. Zur Demonstration der Möglichkeit einer willkürlichen Verwendung und damit auch die Gefahr dieser Methoden werden einige Denkfiguren der Differenz Bhabhas aus dem Kontext seiner Schriften herausgelöst und vor dem Hintergrund dieser rechten Ideologie diskutiert. So wie Hybridität auf das Moment der Kreuzung von differenten Entitäten deutet, so sehr kann sie direkt oder indirekt auf Identität und eine geschlossene Einheit verweisen und als Antagonist ebenso zur Angst vor dem Unbekannten und Unübersichtlichen gemacht werden. Die sogenannte ›Neue Rechte‹ und sogenannte »Identitäre« Gruppen nutzen Begriffe wie Hybridität, um über ihren globalen Charakter die Angst vor Komplexität und Unübersichtlichkeit zu schüren und zu instrumentalisieren. In der Logik eines rhetorisch vereinfachten binären Denkens stellen sie dem mit Schlagworten wie zum Beispiel »Identität«, »Hegemonialmacht« und »Nationalem Widerstand« scheinbare Argumentationsfiguren entgegen, die Vereinfachung herbeiführen sollen und für politische Zwecke von diesen Gruppierungen genutzt werden. Kennzeichnend für diese Übernahme bisher traditionell linker Strategien der Gesellschaftskritik ist die Funktionalisierung von (an Karl Marx orientiertern) kapitalismuskritischen Ansätzen, zum Beispiel zum Warenfetisch, oder zur der Verschie472 Vgl. Hardt/Negri 2000: 286.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
bung des hegemonialen Diskurses (orientiert am Kommunisten Antonio Gramscis). In dem Buch Die autoritäre Revolte von Volker Weiß (2017) wird beschrieben, wie Dekonstruktion und Verschiebung als Instrumente und Methoden der Kritik genutzt werden, um historische und moralische Zäsuren, wie den Holocaust, die Kolonialgeschichte oder die Anerkennung allgemeiner Menschenrechte in Frage zu stellen und zu relativieren. Weiß legt zudem dar, wie der Philosoph Martin Heidegger und seine Seinsphilosophie zur traditionellen Referenz der Neuen Rechten gemacht wird und mit »Hilfe von philosophischen Versatzstücken und Begriffsbrocken sowie der identitären Kernbotschaft gegen die Migration […] zum ;identitäre[n] Denker‹ erklärt« wird.473 Die Analyse stellt heraus, wie Theorien im Sinne einer kontextuellen Reduktion, einer distanzlosen Diskussion von Geschichte, einer theoretischen Übersetzung in neue Kontexte, ohne Verweis auf andere Perspektiven, dabei in einfache »rechte Szeneslogans« gegossen werden, wie zum Beispiel in der programmatischen rechten Aussage: »Wenn Du die drei Modi des Volksbegriffes mitdenkst, müssen wir uns als Körper, Seele und Geist definieren – das schließt den Ausschluss der Ausländer mit ein: ›Heimat, Freiheit, Tradition! Multikulti Endstation!‹«.474 Die Logik des »Wenn, dann« wird genutzt, um eine klare Linie der Schlussfolgerung zu suggerieren, die aus den gesetzten und unhinterfragten drei Modi eines an sich nicht unproblematischen »Volksbegriffs« keine andere Definition eines »uns« zulassen, als eines, das keinen Raum hat für »Ausländer«. Bemerkenswert ist dabei die Einklammerung des Begriffes der Freiheit zwischen »Heimat« und »Tradition«, welches in dieser Rahmung den Aspekt des Widerstandes gegen ein dominantes Konzept (in diesem Fall »Multikulti«) hervorzuheben scheint. Passend zu diesem Image von subversiv revolutionären Gruppen und Aktionen ist die Inanspruchnahme des Begriffs »Widerstand«, der in Kombination mit dem völkisch Nationalem als ›Nationaler Widerstand‹ zum Schlagwort geworden ist und sich als Subalterne konstruiert. Gramscis Forderung nach Übersetzungen von komplexer Theorie für die weniger privilegierten Klassen, zeigt ihre andere Seite in dieser Art der Schlagwörter und politischer Parolen, die in bester Werbemanier Begriffe assoziativ zu einer programmatisch geschlossenen Leitfigur aneinanderreihen. Die Bedeutung der Begriffe scheint dabei von einer theoretischen und kontextuellen Reflexion hin zu einer Ebene der metaphorischen und metonymischen Verwendung und Verortung in den Kontext rechts-konservativer Vorstellung von Geschichte und Nation verlagert zu werden. Weiß stellt heraus, wie Heidegger zum theoretischen Taktgeber dieses Mythos des sogenannten Widerstands gemacht wird, im Sinne eines Denkens der kategorischen Geschiedenheit, wenn er die Autoren Martin Sellner und Walter Spatz 473 Weiß 2017: 112. 474 Weiß 2017: 113.
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weiter zitiert: »›Heideggers Denken ist als Denken der Endlichkeit und Zeitlichkeit nicht zuletzt auch ein Lob der Grenze. Der Grenze zwischen Naturwissenschaft und Philosophie, Ontologischem und Ontischem, Sein und Dasein, aber zuletzt notwendig auch zwischen Volk und Volk‹«.475 An dieser Stelle wird die Debatte darum, ob Heidegger mit seiner spezifischen Positionierung zum Nationalsozialismus im historischen Kontext zwischen 1933 und 1945 nur konsequenterweise von der sogenannten Neuen Rechten in Anspruch genommen wird oder ob diese ihn reduziert und dekontextualisiert lesen, nicht weiter ausgeführt. Wichtiger scheint es für den Rahmen dieses Buches zu sein, die Funktionalisierung an sich herauszustellen und somit die unterschiedlichen Schlüsse, vor allem aus Heideggers Vorstellung von Grenze. Vergleicht man die Interpretation von Heideggers Aussagen zur Grenze durch Sellner und Spatz mit dem HeideggerZitat Bhabhas zu Beginn der Einleitung in sein Werk, so wird deutlich, wie konträr dieses »Lob der Grenze« vor dem jeweiligen theoretischen und politischen Hintergrund gedacht und instrumentalisiert werden kann: Wie die Einen die Grenze als Symbol der Geschlossenheit (»Endlichkeit und Zeitlichkeit«, »Ausschluss der Ausländer«) verstehen möchten, so sehr verwenden unter anderem poststrukturalistische Denker, wie Bhabha, Derrida und Foucault die Grenze als Objekt, an dem machtvolle Konstruktion und Ausschlussmechanismen sowie Möglichkeiten eines anderen Umgangs mit Grenzen demonstriert werden können. Bhabhas Zitat von Heidegger verdeutlicht seinen Fokus auf Grenze als eines poststrukturalistischen Analyseschlüssels für Differenz, wenn er ihn zitiert: »Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt.«476 Im Kontext seines gesamten Werkes wird deutlich, wie sehr Bhabha einen klassischen Begriff der Philosophie, wie die Grenze, in differente theoretische und zeitliche Kontexte stellt und an ihrer Semantik als Marker des Beginns, und explizit nicht der Schließung eine lineare historische und politische Einordnung zumindest erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht.477 Mit Bezug auf die sogenannte »Neue Rechte« oder die »Identitäre Bewegung« setzen Einzelpersonen, Gruppen und ideologische Zusammenschlüsse im Internet mit Mitteln der Inszenierung kultureller Aktionen und ästhetischer Codes in der Öffentlichkeit auf Strategien der Normalisierung und der kulturellen Subversion von dominanten Diskursen. Volker Weiß diskutiert dabei am Beispiel verschiedener Aktionen in der Vergangenheit, inwiefern sich die sogenannte »Konservativ-
475 Weiß 2017: 113ff. 476 Heidegger in Bhabha 2000: 1. 477 Die Strategie der assoziativen Arbeit mit Schlagwörtern und Metaphern hat sicherlich eine lange Tradition in der Geschichte der Adressierung und Affizierung, doch liegt die Bedeutung dieser Analyse in der Untersuchung ihrer konkreten Anwendung in der aktuellen Gesellschaft über kulturelle Methoden zu politischen Zwecken.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Subversive Aktion« als Anspielung an die »subversive Aktion« linker Gruppen in den 1960ern als »Rechte Anti-68er mit 68er-Methoden« analytisch fassen lässt.478 Vor dem Hintergrund von Bhabhas Figur des Mimikry als gewollt oder ungewollt subversiver Figur, die sich dadurch kennzeichnet, »weniger als eines und doppelt«479 zu sein, erscheint die Inszenierung der sogenannten Neuen Rechten in einem neuen Licht. Bhabha zufolge beinhaltet Mimikry einerseits das Moment der nicht repräsentierbaren Differenz, die eine Art Mangel, Aporie und Unheimlichkeit des Nicht-Einordbaren ausdrückt, während die Dopplung durch den Vorgang der Iteration das Moment des Neuen, das weder das eine noch das andere ist, darstellt. Mit Bezug auf die Methoden und Strategien der ›Neuen Rechten‹ zeigt sich die aporetische Irritation weniger über das phänotypische Erscheinungsbild (wie in Bhabhas Beispielen von Kolonisierten und Migranten), sondern ganz im Gegenteil sogar über den angepassten Wiedererkennungscharakter des dominanten Mitgliedschaftskonzeptes. Im Mittelpunkt der Identifikation steht dabei nicht das eurozentrisch geprägte phänotypische Bild, sondern die Kleidung, die die Angepasstheit an die vorherrschende Gesellschaftsordnung unterstreichen möchte. Das Neue an der sogenannten Neuen Rechten ist ihre Strategie, als Teil einer pluralistischen Gesellschaftsordnung aufzutreten, sowie auch die Gesellschaftskritik mit Verweis auf ›übliche‹ linksintellektuelle Positionen die Erwartung an das Bekannte bedient. Anders als im Konzept der Mimikry, in dem das Spiel mit dem Bekannten und Unheimlichen wie ein Vexierbild zur Irritation führt oder führen soll, zeigt sich die Strategie der Neuen Rechten vielmehr als Strategie der Verschleierung von Andersheit und dem Schaffen von Identifikation. So wird das Bild des ›Heimischen‹ und Bekannten im Sinne der Schaffung von Identifikation genutzt, während diese Angepasstheit als Tarnung für eine grundlegende Differenz dient, die die Werte einer auf Anerkennung von Differenz und Solidarität aufgebauten Ordnung ablehnt und abschaffen möchte. Mit der Metapher der Grenze lässt sich diese Strategie im Kontext der jeweiligen historischen und politischen Sicht insofern interpretieren, als dass legitime Methoden der Grenzdehnung genutzt und suggeriert werden, um Inhalte und Strukturen zu platzieren, die dieser pluralistischen Gesellschaftsordnung zuwiderlaufen. Bhabhas Demonstration der Verunmöglichung von Grenzen als Marker der Abgeschlossenheit, ob zwischen Disziplinen, Nationen oder sogar Individuen an sich, ist die kulturpolitische Agenda von Hybridität in der Methode und Strategie der Hybridisierung vor einer expliziten Ethik der Anerkennung von Differenz mit der Sehnsucht nach Solidarität.
478 Weiß 2017: 199ff. 479 Bhabha 2012: 67.
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Mit Rekurs auf die Journalistin Ingrid Brodnig werden diese Methoden erst vor dem Hintergrund technischer Mittel der Verbreitung und Räumen der Inszenierung in Internetplattformen zur wirklichen Gefahr für demokratische Systeme. Dort werden durch strategische Positionierungen von Themen und Klick-Verhalten durch Emotionalisierung Mehrheiten vorgetäuscht, die Macht und Normalisierung suggerieren, was wiederum weiteren Zulauf schafft. Brodnig zeigt mit Verweis auf psychologische Studien, wie der menschliche Drang zur Einseitigkeit im Denken, im Sinne der Identifikation, durch diese technischen Strukturen deutlich verstärkt wird und nicht zuletzt durch personalisierte Werbung, Informationen und Nachrichten als sogenannte Serviceleistung (›feeds‹) zur Zersplitterung und Emotionalisierung der Debatten beiträgt.480 In ihrer Analyse darüber, wie programmierte Algorithmen unser menschliches Denken beeinflussen und wie dies wiederum Populisten nutzt, die vornehmlich durch die Emotion der Wut und Angst die schnellste und weitreichendste Verbreitung erhalten, stellt Brodnig die ökonomischen Interessen der sozialen Plattformen in den Kontext politischer Einflussnahme. Für die materialistisch strukturelle Analyse sind dabei der Aspekt des finanziellen Handels mit Daten, mit denen die Analyse von WählerInnenverhalten (Cambrige Analytica) bis hin zur aktiven Manipulation durch zum Beispiel »dark posts« »microtargeting«481 durchgeführt wird, aber auch der Aspekt der Entwicklung künstlicher Intelligenz von Bedeutung. Für die subjektiv kulturelle Ebene bietet der Dritte Raum eine Art Schutzraum und die Verhandlung von Differenz eine weiterbringende Analysefolie. Man kann zum Beispiel an deren Standards diskutieren, inwieweit Verhandlung von ›Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie‹ möglich ist oder nicht. Inwieweit nutzen Personen, Gruppen, Konzerne und Regierungen, sowie auch soziale ›Bots‹ diese Räume, um Diskurse mit Mitteln der Technik zu verzerren? Auch die Figur der Ambivalenz kann ein Instrument sein, um diese Räume zu analysieren, die geprägt sind durch eine suggerierte Privatsphäre einerseits und die Weitergabe der Daten andererseits. Bhabhas Diskussion um die Gefahr und das Potenzial von Aporie kann dahingehend auf einen möglichen Doppelcharakter der Dinge aufmerksam machen und Diskussionen und ein Nachdenken darüber anstoßen. Inwieweit die Aporie Effekte in der Emanzipation, in Distanzierungsmöglichkeiten, Entfremdung, Gleichgültigkeit und Abstumpfung zur Folge haben wird, wird zukünftig gerade mit Bezug auf die Frage der Bildung zu verfolgen sein. Doch allein die strukturelle Betonung der Schnelligkeit, der Masse an Bildern und Informationen sowie der Inszenierung des digitalen Selbst im Sinne eines ›Managen‹ des Onlineprofils wird den Fokus wahrscheinlich zu einem Denken führen, das sich an der oberflächlichen Repräsentation orientiert.
480 Vgl. Brodnig 2018:49ff. 481 Brodnig 2017: 136.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Wie ist Bhabhas Konzept der Hybridität und seine Arbeitsweise vor dem Hintergrund der Analyse seines Vorgehens und der Kritik an ihm, dass er ein Symptom unserer Zeit sei, zu beurteilen? Wenn man an Bhabhas Schriften mit bestimmten Maßstäben und Kategorien der Systematisierung, der analytisch scharfen Trennung und der Konzentration auf Fragen materieller Existenzbedingungen herangeht, so zeigt sich, dass Bhabhas Denken dazu quer liegt und daher aus dieser Perspektive defizitär erscheint. Die Kritik am Konzept der Hybridität und auch an Bhabhas Werk zeigt Leerstellen des Konzeptes an, sogar Gefahren, die diesem dekonstruktiven, neukonstruktiven, assoziativen, mytonomischen und aporetischen Vorgehen inhärent sind. Am Beispiel der Strategien der Neuen Rechten und verstärkender Effekte von Partikularisierung und Singularisierung482 durch den erweiterten Raum der Wirklichkeit auf das Digitale, werden diese Gefahren nicht nur aus kulturpessimistischer Perspektive als Symptome unserer Zeit eingeschätzt. Das Vorgehen als ein Herauslösen von Gegenständen und Methoden aus ihren Kontexten zeigt vor dem Hintergrund machtpolitischer Interessen in einem System der Konkurrenz um Autorität und Vorherrschaft eine weitere Dimension ihrer Gefahr für den gesellschaftlichen Frieden.
3.8.2.
Einige Folgerungen aus der Untersuchung von Hybridität nach Bhabha
Wenn man Bhabhas Werk als artikulatorische Quelle lesen möchte, so treten besonders die Betonungen, Denk-, Les- und Schreibarten zu Tage, die die Irritation des Bekannten zur Allegorie für des Einlassen auf den Anderen (Text) machen. Im Sinne der Hybridität ist dieser in seiner Differenz und Unheimlichkeit ein anthropologisch hergeleiteter Teil des Eigenen und Heimischen. So gesehen kann das Lesen solcher Texte in einem erweiterten Sinne als Arbeit an sich verstanden werden. In dieser Betrachtung der Hybridität nach Bhabha zeigen sich nicht nur Leerstellen und Gefahren solcher Methoden und Strategien für eine pluralistisch ausgerichtete Demokratie, sondern vielmehr die Notwendigkeit der kritischen Diskussion solcher Methoden der Dekonstruktion als Instrument der Kritik (z.B. an pluralistischen Werten). Aus der Analyse der Methoden und Strategien der Hybridität, ihrer Funktionalisierungen, Leerstellen und Gefahren, kann vor allem die Notwendigkeit einer stetigen Frage nach ihren theoretischen, historischen und ethischen Kontexten herausgestellt werden. Bhabha zeigt in seinem Konzept der Hybridität und seinem empirischen Schreibprojekt trotz seines Vorgehens über Dekonstruktion und Neukonstruktion eine distanzierte Haltung zu Möglichkeiten der Manipulation durch eindeutige Schlagwörter auf und schlägt im Angesicht der Opazitäten in der Geschichte, der Gegenwart und Zukunft (nicht nur) auf wissenschaftlicher 482 Vgl. Brodnig 2017; Reckwitz 2017.
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Ebene eine Ethik der allgemeinen Differenz im Sinne von Unsicherheit und vorsichtiger Bewegung des Hin- und Her vor. Zum Diskurs um Hybridität wird daher immer mit zu fragen sein, vor welchen theoretischen und ethischen Annahmen diese geäußert wird, auf welcher Ebene diskutiert und agiert bzw. nicht agiert wird und ob diese Themensetzung und Vorgehensweise von grundlegenderen gesellschaftlichen Themen ablenkt bzw. von welchen sie den Blick weglenkt. In diesem Fall kann der Kontext selbst als analytischer Schlüssel für die Offenlegung von Methoden und Strategien dienen. Darauf aufbauend stellt sich für dieses Buch die pädagogisch motivierte Frage danach, wie Hybridität in der Gesellschaft thematisiert werden kann, ohne die genannten Implikationen zu vernachlässigen oder gar indirekt identitätstheoretischen, nationalistischen oder rassistischen Kategorien eine Bühne zu geben. Ein Ansatz könnte hierbei darin liegen, Hybridität nicht als bloßes Gegenkonzept zu Identität und Grenze zu verstehen, sondern als Begriff, Konzept, Methode, Strategie, Raum und Ethik, die Differenz anerkennt, jedoch als Spannungsmoment das zwischen den vermeintlich binären Seiten eine Ethik der Koexistenz auf der Basis von Verhandlungen anstrebt. Anders gedacht stellt sich die Frage, wie die banale Alltags-Hybridität, die den Prozess der Geschichte, der intersubjektiven Kommunikation und Bildung von Gesellschaften durchzieht, überhaupt ignoriert werden kann. Denkt man diese Frage weiter, so wird deutlich, dass Aspekte von Macht und Autorität, die bestimmte Arten der Hybridisierung als nachteilig für ihr Interessensmonopol ansehen, auch immer schon (wenn auch ex negativo) Teil des Hybriditätsdiskurses waren und bleiben werden. Insofern wird Hybridität (trotz ihrer semantischen und kontextualen Breite) wahrscheinlich noch lange Gegenstand der Kritik von verschiedenen Seiten bleiben, sowie auch sie auch als Instrument der dekonstruktiven Kritik an theoretischen und materiellen Grenzen erhalten bleiben wird. Es zeigt sich, dass das Konzept der Hybridität so sehr Teil des Lebens ist, wie es auch ihre Komplexität ausdrückt. Wahrscheinlich beschreibt sie eine Offenheit und Komplexität, die einschüchtert, Abwehrreaktionen hervorruft oder auch einfach wenig substantiellen und konkreten Gehalt bietet. Wahrscheinlich gehören eben diese Aspekte zu Hybridität dazu, weil auch sie einen Teil des Umgangs mit ihr darstellen. Ausgehend von ihrer Unumgänglichkeit und Komplexität kann es als umso notwendiger erscheinen, einen Umgang mit Komplexität, Differenz, Ambivalenzen, Dekonstruktion und Kritik von Macht, aber auch mit materiellen Bedingungen und theoretischen, historischen und ethischen Kontexten zu üben. In diesem Sinne ist zu überlegen, ob Hybridität gerade in Zeiten zunehmender Ökonomisierung der Lebensbereiche als Denkfigur Anwendung finden kann, mit dem Ziel, Möglichkeiten und Räume der distanzierten Betrachtung der eigenen Bedingtheit in der Welt zu schaffen, sozusagen als eines auf biologischer und politischer Hybridität basierenden ›homo historicus‹.
Kapitel 3: Hybridität als die Kunst des Werdens – Bhabas Konzept von Hybridität
Die Aufgabe der Wissenschaft ist es dabei, hierfür Konzepte und Figuren zu untersuchen, sowie die Pädagogik in der Positionierung der Vermittlung Übersetzungsmöglichkeiten anbieten kann. Bhabhas Konzept der Hybridität ist hierfür nicht nur über seine Methoden und Figuren erhellend. In seiner theoretischen wie auch empirischen Arbeit bespricht und demonstriert er Möglichkeiten der Intervention, Dekonstruktion und Neukonstruktion von historischem, politischem, wissenschaftlichem und kulturellem Wissen und Narration, die Raum lassen für Differenz jenseits dominanter Diskurse,483 auch mit Blick auf die Analyse von digitalen Räumen.484 Um in diesem Sinne die Hybridität nicht wiederum zum neuen Erlösungsversprechen zu machen, wird die Kritik an ihr nicht als wissenschaftlich notwendige Formalität verstanden, sondern als notwendige kritische Analyse ihrer Leerstellen und Gefahren, ohne deren Inklusion in den Diskurs um Hybridität und ihrer Diskussion und Anwendungsmöglichkeiten in der Gesellschaft unverantwortlich wären. Bisher ist die von den RezipientInnen oft bemängelte Nicht-Lesbarkeit von Bhabhas Schreibprojekt als programmatische Vorgehensweise diskutiert worden, doch kann man diese Kritik auch mit Blick auf Bhabhas eigenen linguistischen und differenzethischen Anspruch weiterverfolgen. Bhabhas teilweise bewusst spielerisch (in poststrukturalistischer Logik) katachretisches Schreiben wirft einerseits die Frage nach unserem Umgang mit einem anderen, hier spezifisch mit einem ›anderen Text‹ auf und kann ein weiterführendes Nachdenken über die Frage des anderen und unsere Toleranzgrenzen provozieren, dennoch hat sie nicht immer einen notwendig berührenden Effekt, ganz im Gegenteil sogar. Man kann viele AdressatInnen ausschließen. Das kann zwar einerseits kein Grund dafür sein, die Beschäftigung mit komplexen Sachverhalten und ihrer Analyse zu sehr zu elementarisieren, doch scheint Bhabhas Anspruch, über das Konzept der Hybridität Zugänge zur Komplexität zu schaffen, nur teilweise erfüllt. Er arbeitet im Rahmen seines Projektes mit bekannten Begriffen wie Kultur, Identität, Differenz, Grenze usw., die auf den ersten Blick sowohl für intellektuelle AdressatInnen zugänglich zu sein scheinen als auch für Adressaten attraktiv sein können, die es nicht gewohnt sind, sich mit intellektuellen Inhalten auseinanderzusetzen (z.B. zum Begriff der Grenze hat jede und jeder einen Zugang). Doch sein dekonstruktiver und neukonstruktiver Umgang mit diesen Begriffen eröffnet zwei Problemszenarien. Erstens werden die weniger intellektuellen AdressatInnen mit einem neuen Gehalt von Begriffen konfrontiert und übernehmen diese womöglich – ohne ein Wissen um ihre
483 Eine weitergehende Arbeit in diesem Sinne kann beispielsweise in Max Czolleks Schriften zum »Gedächtnistheater« weiterverfolgt werden. 484 Siehe Ansgar Schnurrs Verwendung von Bhabhas Konzept der Hybridität und des Dritten Raums für die Analyse der Inszenierung von Facebookprofilen von Jugendlichen. (Schnurr 2013)
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historisch bedingten Traditionen und Kontexte. Zudem könnte ein solcher Umgang mit Theorie und Ordnungen Schule machen, wie das Oben am Beispiel der sogenannten Neuen Rechten in ihrer extremen Form demonstriert wurde. Das zweite Problemszenario liegt darin, dass ein Teil der intellektuellen Leserschaft mehr als nur irritiert, sondern vielmehr – um es in Bhabhas eigenen Worten zu sagen – ›traumatisiert‹ werden kann durch diesen radikal anderen Umgang mit Traditionen und wissenschaftlichen Ordnungen. Im Sinne seiner postkolonialen Agenda der Problematisierung eben dieser Denk- und Ordnungssysteme macht sich Bhabha mit seinem eigenen Anspruch auf Hybridität als eines diskursiv eingebetteten sprachlichen Mittels des Umstandes schuldig, dass er zu ignorieren scheint, dass Kommunikation zwischen SprecherInnen und ZuhörerInnen nicht zuerst durch Irritation und Traumatisierung funktioniert, sondern zunächst durch Identifizierung, das heißt durch wiedererkannte Kodes gelingen kann. Oder, die SprecherIn wählt Wörter und orientiert diese an der syntaktischen Regel der Satzstruktur. Dabei ist die Freiheit dieser lexikalischen Wahl begrenzt durch die notwendige Orientierung an der gemeinsamen Schnittfläche im Wortschatz zwischen ihr und den GesprächspartnerInnen.485 Gerade für AdressatInnen, die in der Tradition eines modernen Denkens sozialisiert sind, wird im Lesen der Bruch im Spiel mit den Kodes eine tragende Rolle spielen. An dieser Stelle wird nicht klar, ob für Bhabha der avantgardistische Anspruch von Neukreationen (auch mit Blick auf seine Vorstellung von ›Übersetzung‹ als Produktion von Neuem) durch den Bruch mit Traditionen wichtiger ist oder der Anspruch, Zugänge zu Hybridität zu schaffen. Vor dem Hintergrund der bisher erfolgten theoretischen Diskussion um Hybridität, werden im letzten Kapitel dieses Buches Denkfiguren der Differenz vor dem Hintergrund des gesellschaftlich notwendigen ›Übens eines Umgangs mit Differenz‹ bei gleichzeitiger Anerkennung des psychologischen Begehrens nach Identifikation und Vereinfachung für mögliche pädagogische Anwendungen diskutiert werden.
485 Vgl. Jakobson: 1983: 163.
Kapitel 4: Rückwärts gelesen… zu Ergebnissen und Folgerungen
Eine wesentliche, fast klassische Kritik an dem Begriff der Hybridität äußert sich im Vorwurf seiner Bedeutungsvielfalt und strukturellen Komplexität.1 Nicht unähnlich der Diskussion um große Begriffe wie Bildung und Kultur wird dieser Vorwurf einerseits ernst genommen und andererseits als Stärke eines solchen Begriffs verstanden. Ihre Berechtigung hat diese Kritik an bedeutsamen Begriffen und Topoi darin, dass sie auf die Relativierung des semantischen Gehaltes hinweist, auf die Willkürlichkeit ihres Einsatzes, auf die Gefahr von Kategoriesprüngen und letztlich auch auf den drohenden Verlust des Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit und Ethik. Dieser Kritik an vieldeutigen Begriffen und Konzepten (wie Hybridität), wurde in diesem Buch nicht durch ihre Kenntnisnahme und Nennung begegnet, sondern an vielen Beispielen diskutiert. Der Anspruch liegt daher darin, in der Bearbeitung von Hybridität sowohl dieser Kritik weitestgehend gerecht zu werden als auch ihre Potenziale in Bezug auf die Frage der Zusammengehörigkeit von Differenz offen zu legen und weiter zu denken. Mit Bezug auf den in den Kapiteln Zwei und Drei bereits angeführten Artikel von Christiane Thompson und Kerstin Jergus zur fortwährenden Debatte um den Bildungsbegriff wird ein Wissenschaftsverständnis ausgedrückt, dessen Anspruch mindestens ein doppelter ist: Wie kann man dem analytischen Gehalt, gerade auch durch seine diskursiv hergestellten Trennschärfen, gerecht werden, ohne innovative Impulse, Zusammenhänge und die frei nach Max Horkheimer darin enthaltenen »Spuren lebendigen Wirkens« abzutrennen? Mit Bezug auf Hybridität würde die Frage lauten: Wie kann eine programmatische Verflechtung von Subjekten und Gegenständen der Welt in eine nachvollziehbare Sprache übersetzt werden, ohne sich der Vereinfachung von Komplexität schuldig zu machen? Vor diesem Hintergrund hat dieses Buch eine doppelte Strategie: Hybridität erhält einerseits über ihre theoretische und methodische Besprechung eine zunehmend nähere Bestimmung und Rahmung. Andererseits ist dieses Vorgehen und ihr Umgang mit Hybridität als Hinführung zu einem Denken gedacht, das sich der Kunst des Suchens und Werdens hingibt. Im 1
Vgl. Müller-Funk 2012: 87.
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Zugänge zu Hybridität
folgenden Abschnitt wird daher eine Begründungslinie für das Vorgehen in diesem Buch dargelegt, das im Sinne dieser Doppelstrategie die Ergebnisse der Analysen mit Blick auf einige Folgerungen für pädagogische Anwendungsfelder diskutiert. Einige zusammenfassende Begründungslinien für das Vorgehen In der Verfolgung des Phänomens der Hybridität wurde in diesem Buch ein Vorgehen gewählt, das sich der Bestimmung von Hybridität annähert über Hinführungen zu ihr und Folgerungen aus der Auseinandersetzung mit ihr. Um mit diesem Anliegen Zugänge zu schaffen zu einem komplexen Terminus, wurde Hybridität im ersten und zweiten Kapitel über aktuelle Diskurse, Forschungsstand, etymologische und philosophische Kontexte sowie begriffsphilosophische Einordnungen und Diskussionen eruiert. Vor dem Hintergrund der Haltungen zu Hybridität als gehyptes2 Schlagwort des Spätkapitalismus, das nichts zu sagen hat, auf der einen Seite, und den vielversprechenden Aussagen zu Hybridität als Signatur der jeweiligen Zeit und Symptom der unsrigen Zeit auf der anderen Seite, wurden vor allem Fragen um Differenz und Migration Rechnung getragen. Ihrer definitorischen Offenheit, Überbestimmtheit und Allgegenwärtigkeit wurde zunächst durch ihre Einordnung in verschiedene Kontexte begegnet. Dabei wurde auch hier die doppelte Strategie verfolgt, in der der Begriff der Hybridität in der Diskussion einerseits immer wieder eine zeithistorische und gegenstandbezogene Rahmung erhielt und andererseits im Prozess der Diskussion eine semantische Konkretisierung und Differenzierung eine Annäherung erfuhr. Dabei wurde mit Rekurs auf Hybridität als »Signatur ihrer jeweiligen Zeit«3 diskutiert, inwiefern Hybridität ein Gradmesser dafür sein kann, wie in der jeweiligen Zeit (und die Autorin erweiterte dies um den Aspekt des Raums) mit Differenz im Verhältnis zum Selbst umgegangen wird und wie Differenz zur Herstellung des Weltbildes eingesetzt wird. Am Beispiel der etymologischen Herleitung von Hybridität wurde herausgestellt, wie sehr selbst wissenschaftliche Herleitungen nicht bloß eine sachliche Aussage über Inhalte treffen, sondern Be-deutungen ohne die Betrachtung ihrer diskursiven Bedingtheit in gesellschaftspolitischen Vorstellungen und Prozessen eine ebenso ›bedeutende‹ Ebene der Erkenntnis fehlt. Eine solche zusätzliche Ebene der Betrachtung ergänzt den epistemologischen Gehalt des Begriffes um die notwendigen Rahmenbedingungen ihres Entstehens und macht damit deutlich, inwiefern der Begriff der Hybridität in seinen vielfältigen Bedeutungen und Herleitungen auf dominante Vorstellungen der jeweiligen Zeit verweist. Beispielhaft hierfür sind einige Herleitungen angebracht worden, zum Beispiel die antike Vorstellung von ›Hybris‹ im Sinne des menschlichen Hochmuts gegenüber der Autorität der Götter oder die ›Bastardisierung‹ vor dem Hintergrund eines pejorativ rassistisch motivierten Ausdrucks für Prozesse der Verbin2 3
Vgl. Ha 2005: »Hype um Hybridität«. Ha 2005: 14.
Kapitel 4: Rückwärts gelesen… zu Ergebnissen und Folgerungen
dung (selbst im Bereich der Botanik). Allein die Entwicklung des Begriffs (von der Vereitelung der Nicht-Hörigkeit der göttlichen Ordnung zur Nicht-Einhaltung der Ordnung der Trennung und sogenannten Reinheit, bis hin zu ihrer normativen Umwertung als Zeichen des Fortschritts und seinem ›Hype‹ im Spätkapitalismus als Signum der Omnipotenz des Menschen) verweist in gewisser Weise auf dominante Konzepte der jeweiligen Zeit, denen der Begriff der Hybridität als Paradebeispiel für die jeweilige Einstellung und Verwertungstechnik im Umgang mit Differenz stets zur Verfügung stand und steht. In Bezug auf den aktuellen Diskurs um Hybridität in der deutschen Erziehungswissenschaft wurde zudem angedeutet, dass bestimmte Quellen und Herleitungen öfter zitiert werden als andere. Der Aspekt der antiken ›Hybris‹ wird auffällig oft ignoriert. Da eine Diskussion über diese Rezeptionspolitik nicht bekannt ist, bleibt die Frage offen, ob und aus welchen Gründen dies eine bewusste und aktive Praxis darstellt oder als menschlicher Anteil jeder Wissensproduktion eingeschätzt werden kann. Diese Analyse zeigt, dass in wissenschaftlichen Diskursen die Sachlichkeit und das Einhalten wissenschaftlicher Standards eine ebenso wichtige Funktion erfüllen wie das Wissen um perspektivische Einschränkung und Opazität. Der Anspruch auf Autonomie stellt dabei ein bedeutendes Ideal für gesellschaftspolitische Prozesse dar (spätestens seit der immer offener ausgesprochenen Erwartung der ökonomischen Verwertbarkeit von wissenschaftlicher Arbeit). Zugleich ist aber eben diese geforderte Autonomie, wenn sie als Faktum verstanden wird, mit Verweis auf diskursive Praktiken ein Beweis für ihre Hintergehbarkeit, vielleicht sogar für ihre Instrumentalisierung im Verschleiern ihrer ganz und gar nicht-autonomen Verflochtenheit mit sozialen, machtvollen Prozessen. Neben der Darstellung der diskursiven Entstehungsbedingungen und Entwicklungen von Begriffen und Wissen am Beispiel von Hybridität wurde der Begriff der Hybridität im Weiteren als Negativ-Folie über Annahmen, Denkstrukturen und Konsequenzen von Denkformen der Moderne kontextualisiert. Dabei ging es nicht um eine ausführliche Darstellung und Differenzierung modernen Denkens, sondern um die Verortung der Hybridität als Negativ-Begriff zu einem Denken in hierarchisch geordneten abgeschlossenen Einheiten, wie Identität, Kultur und Nation. Hybridität vertrat dabei stellvertretend Begriffe und Kategorien der Verflechtung und Uneindeutigkeit, die in gewisser Weise nicht nur Gegenkonzepte sind, sondern auch für einen kritischen Einsatz gegen ein modernes Denken stehen. Die Kritik an problematischen Theoriedoktrinen der rationalistischen Sachlichkeit (bei aller Anerkennung dieser Leistung für das selbstbestimmte und versachlichte Denken des Menschen) wurde spätestens mit der Postmoderne virulent. Exemplarisch wurden hierfür in der Rezeption Hegel und Herder angeführt. Hegels dialektische Methoden der Auflösung von Differenz in hierarchisch gedachten Entwicklungseinheiten im Kontext der Menschheitsgeschichte und der Drang nach Identifizierung von Einheiten, die sich auf gesellschaftspolitischer Ebene als Legitimation
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von nationalen Grenzziehungen und einem Denken in hierarchischer Wertigkeit von Nationen und Menschengruppen übertragen ließen (wie dies zumindest von den ›Rechtshegelianern‹ gedacht wurde) sind Beispiele dafür. In ähnlicher Richtung wurde Herders Begründung der theoretischen Abgeschlossenheit von Nationen als kulturelle Einheiten begriffen im sprachlichen Bild von Kugeln. Er konstatiert zwar in einer kosmopolitischen Stoßrichtung die Gleichwertigkeit der Menschen an sich, jedoch würde der nationale Rahmen, in dem die Menschen Kultur erfahren würden, eine unumgängliche Differenz zwischen ihnen erschaffen, so dass einzelne Nationen nie die nationalen Grenzen überschreiten könnten. Bemerkenswert für die Einordnung dieses theoretischen Einsatzes ist die Tatsache, dass Herder dieses nationale und kulturelle Begründungsmythos aus einem Ideal ›gegen ein Frankreich im Innern‹ heraus schrieb.4 Mit Bezug auf Hybridität spielen diese beiden Ansätze Hegels und Herders eine besondere Rolle, da sie zum einen darauf verweisen, wie theoretisch epistemologische Annahmen auf gesellschaftspolitische Begründungsmuster übertragen werden können und auch wie Kultur als Legitimationsmittel für nationalistische Mythen hergeleitet wurde und weiterhin wird. Ebenso war in der Diskussion um Feuerbachs (und auch Marx’) Kritik an Hegels Differenz- und Hierarchiedenken aus einer Hegel-immanenten Logik ein Zeichen dafür, wie dieselbe Theorie different interpretiert werden kann bzw. als Grundlage dienen kann, um anders über den Menschen als Gattung und die Wirklichkeit zu denken. Feuerbach verweist auf ein zu der Zeit dominantes Konzept, die Philosophie in eine abendländische und eine asiatische (orientale) zu unterteilen, dem er durch den Verweis auf die Menschengattung und ihre Bedingtheit im Leiblichen widerspricht und für die er in Schelling als dem ›Orientalen auf deutschem Boden‹ einen (ob gewollten oder ungewollten) Beweis für die Möglichkeit der Zusammengehörigkeit von scheinbar Nicht-Zusammengehörigem anführt. Dennoch ist deutlich geworden, dass eine solche ›Verbindung‹ eher als ›exotisches Gewächs‹ verstanden wird denn als Normalität. Vor dem Hintergrund einer diskursanalytischen Betrachtung zeigen sich dominante Weltbilder, die durch Theorien begründet oder legitimiert und sogar kritisch weitergedacht werden. Doch zeigte die Sicht Feuerbachs, wie sehr eine kritische Distanzierung doch auch immer auf eine wiederum auf dasselbe verweisende Denktradition verweist (siehe die Hegel-immanente Kritik oder Schelling als Beweis für eine Art Hybridität, die jedoch als exotische Ausnahme gesehen wird). Hybridität als Signatur ihrer Zeit und ihres Raumes erhält über die Negativ-Folie abgeschlossener Entitäten wie Identität, Kultur und Nation sowie über den Einsatz der postmodernen Kritik an den Leerstellen und Gefahren eines rationalistischen Denkens vor dem Hintergrund der Barbarei in der Geschichte (vornehmlich dem Holocaust und den sowjetischen Gulags) eine neue 4
Aus postkolonialer Perspektive könnte dies als anti-kolonialer Akt in nationalistischem Begründungszusammenhang interpretiert werden.
Kapitel 4: Rückwärts gelesen… zu Ergebnissen und Folgerungen
Legitimation für Begriffe und Kategorien der Verflechtung und Unbestimmtheit. Die Auswirkungen einer rationalistischen und entmenschlichten Praxis konnten ihre Herkunft in einem gewissen Modus modernen Denkens nicht verleugnen und wurden so zum Anlass für ein Denken, das ebendieses Bestreben nach Klarheit mit Verweis auf die Praxis der ›Gleichschaltung‹ radikal in Frage stellt. Der Begriff der Hybridität erhält nun vor dem Hintergrund der radikalen Kritik an Denkformen der Moderne, deren Anspruch auf Wahrheit und ihrem idealistisch motivierten Umgang mit dem Anderen nicht nur eine ethische Legitimation, sondern wird von postmodernen und phänomenologischen Theorieansätzen inhaltlich ergänzt, um programmatisch genutzte Begriffe wie Ambivalenz, Widerstreit, Chiasmus, Leiblichkeit und Dritte Dimension, die in ihrer paradoxalen Struktur Essentialismen und oppositionelles Denken in Frage stellen5 . Daraus entwickelt sich zum dominanten Konzept der Moderne ein erweitertes Verständnis von Wissenschaft und Geschichte, das Klassifizierungen und Linearität der Argumentationsführung als weitere Konstrukte ausweist, denen der Lauf der Geschichte so wenig recht gegeben hat, wie die ethischen Konsequenzen aus dieser theoretischen Erkenntnisleistung. Vor diesem kritischen Einsatz ziehen postkoloniale Perspektiven epistemologische Herleitungen von Identität, Nation und Kultur als hegemoniale Denkweisen im Verhältnis zu einem Anderen in der Welt als Begründungslinie für kolonialistische und imperialistische Expansionspolitiken heran. Hybridität ist dabei nicht nur ein häufig genutzter Terminus innerhalb der Postcolonial Studies, sondern zeigt sich vor dem Hintergrund gewaltvoller Konsequenzen von Identitätspolitiken als Kampf um Vormachtstellung und Autorität in der Welt, wie dies Edward Said in seiner Diskurs-Analyse aus kulturellen Bildern und Dokumenten zum Orient hergeleitet hat. Der postkoloniale Diskurs verweist zudem auf einer anderen Ebene auf eine Art Hybridität, die in ihren theoretisch-politisch differenten Positionen und Verläufen zu beobachten ist. Ihre Hybridität ist dabei nicht nur in den Momenten ihrer Differenz untereinander zu finden, sondern auch in der Verbindung dieser unbequemen und spannungsgeladenen Positionen, die im Sinne einer gesellschaftlich-institutionellen Anerkennung als Postcolonial Studies eine gewisse repräsentierbare Einheit darstellen müssen, um Wirkmacht zu erlangen. Resümierend kann konstatiert werden, dass die postkoloniale Perspektive in ihrem kritisch interventionistischen Habitus zwischen Marxismus und Poststrukturalismus sowie zwischen ihrem Einsatz im intellektuellen Diskurs und praktischem Widerstand den Begriff der Hybridität vielleicht in ihrem umfangreichsten Gehalt repräsentiert. Das Feld der Kultur hat dabei eine besondere Rolle für Hybridität inne. Dies zeigt sich auf verschiedenen Ebenen. Zum einen verweist Hybridität, wie oben er5
Weiterführend in Bezug auf den Diskurs um die Moderne und und Denkfiguren ist MoogGrünewald 2002.
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läutert, darauf hin, wie über Begriffe wie zum Beispiel den der Kultur nationale Mythen und Traditionen geschaffen wurden und werden, die sich über ihre Abgeschlossenheit und ihr hegemoniales Denken gegenüber anderen auszeichnen. Kultur ist also ein theoretischer und praktischer Ort, an dem Fragen der Differenz und des Umgangs mit Andersartigkeit sichtbar werden. Insofern wurde ein ausschnitthafter Einblick in wissenschaftstheoretische Verläufe zur Frage der Kultur gegeben, aus denen mit den Cultural Studies paradigmatische Perspektivwechsel auf die Bedingtheit von kulturellen Fragen in gesellschaftspolitischen Zusammenhängen sowie wissenschaftsanalytische Konsequenzen erfolgen. Die besondere Rolle von Hybridität in Fragen um Kultur zeigt sich insofern nicht nur an ihren diskursiven Zusammenhängen um Identitätspolitiken und den wissenschaftlichen Ableitungen daraus, sondern auch im Potenzial des kulturellen Feldes für emanzipatorische und widerständige Denk- und Handlungsformen; mit Bezug auf diesen vermeintlichen doppelten Charakter der Kultur – in ihrer Befangenheit in gesellschaftspolitischen Diskursen um Identitätspolitiken, aber auch als Feld, in dem die Handlungsfähigkeit des Subjekts hervorgehoben wird. In dieser Argumentationslinie wird Kultur, auch über ihre sprachlichen Mittel, als Möglichkeit der Anwendung angenommen. So wird in der Hinleitung zum Begriff der Hybridität dieser nicht nur über seinen Gegenbegriff, die Grenze, diskutiert, sondern wird vielmehr die Grenze in einem dekonstruktivistischen und poststrukturalistischen Ansatz als erkenntnistheoretische Metapher verwendet und dadurch wiederum in ihrer semantischen Nähe zu Hybridität erläutert. An dieser Stelle wird Hybridität, sowie auch Grenze, in ihrem metaphorischen Potenzial einer Hybridisierung von Grenzen vorgestellt und leitet damit über in den diskursanalytischen Teil zu Hybridität. Gleichzeitig wurde in diesem Kapitel einerseits deutlich gemacht, welche erkenntnistheoretischen und diskursiven Kontexte den Begriff der Hybridität in der Wissenschaft prägen, und andererseits stellte sich heraus, wie sehr jede Art der Darstellung durch Exklusion und Opazität geprägt ist, da die inhaltliche Besprechung in der Breite wie in der Tiefe immer nur ein Ausschnitt bleiben kann. Der wissenschaftliche Anspruch dahinter steckt im Aufzeigen der theoretischen und historisch diskursiven Zusammenhänge von Hybridität in ihrer Vielfalt und Differenz, aber auch in dem Wissen um die Ausschnitthaftigkeit der eigenen Perspektive. Es gibt wenige Theoretiker wie den postkolonialen Denker Homi K. Bhabha, dessen Schriften in der Rezeption so oft mit Hybridität und dem Dritten Raum in Verbindung gebracht werden. Zumeist bleibt es jedoch beim Verweis auf sein Konzept der Hybridität oder mehr oder weniger kurzen Hinweisen zu den theoretischen Zusammenhängen. Wirklich bedeutsam jedoch sind in Bhabhas Konzept der Hybridität weniger seine bloß theoretischen Ausführungen dazu, als vielmehr die Verflechtung von Theorie und Empirie von Hybridität in seinem Schreibprojekt. Im dritten Kapitel wurde Bhabhas Hauptwerk Die Verortung der Kultur folglich unter dem Gesichtspunkt untersucht, welche theoretischen Kontexte sei-
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nem Hybriditätskonzept zuzuordnen sind, welche Gegenstandsbereiche er dafür heranzieht und vor allem, wie er Hybridität anwendet, das heißt Theorie bildet. Die Anwendungen der Dekonstruktion, Neukonstruktion, der Verlangsamung, der Einklammerung, der Dopplung und Figuren arbiträrer Abgeschlossenheit wurden als Methode der Hybridisierung herausgestellt, die wiederum vor dem Hintergrund von Bhabhas theoretischem, politischem, ethischem und performativem Engagement als programmatische Strategien ausgewiesen werden können. Hybridität weist sich in Bhabhas Werk insofern sowohl über ihr kritisch interventionistisches, dekonstruktives Potenzial als auch über ihren anthropologisch und kulturell emanzipatorischen Anspruch, im Ausdruck der »Kunst des Werdens« aus. Der doppelte Anspruch seines Schreibprojektes zeigt sich in seinem Versuch, für die theoretisch postulierte Hybridität auch angemessene Formen der Artikulation zu finden, die einem ebensolchen Konzept der verflochtenen Pluralität gerecht werden sollen. Im Sinne der erweiterten Begriffsbestimmung und der Relevanz der methodologischen Analyseergebnisse von Hybridität ist Bhabhas Konzept der Hybridität (in ihren theoretischen und empirischen Zugängen) um einige substanzielle Kritiken zu ihren Leerstellen und Gefahren am Beispiel der Neuen Rechten und den Tendenzen der Vereinseitigung und Zersplitterung digitaler Debatten ergänzt worden. Dennoch offenbart die Auseinandersetzung mit Hybridität in ihren philosophischen Diskurskontexten, ihrer Verankerung in Fragen der Identität, der Kultur, Nation und globaler Migration in der Geschichte (mit Blick auf machtvolle und Autorität generierende Ordnungssysteme) auf erkenntnistheoretischer wie methodischer Ebene ein großes Potenzial für pädagogische Räume.
Folgerungen und Anschlussmöglichkeiten Die Folgerungen aus der Beschäftigung mit Hybridität richten sich erstens auf mögliche Anschlussmöglichkeiten der empirischen Bildungsforschung und der Bildungstheorie und zweitens auf Denkfiguren der Differenz in ihrem Potenzial für pädagogische Anwendungen Bevor dieses Buch mit einer kurzen Diskussion von Denkfiguren der Differenz für pädagogische Anwendungen endet, wird zunächst an den Vorschlag von Christiane Thompson und Kerstin Jergus (diskutiert hier im dritten und vierten Kapitel) angeknüpft, Bildungskategorien über ihre Orientierung an individueller Zurechnung hinaus zu denken und der Sensibilisierung für Sprechräume eine größere Aufmerksamkeit zu bieten. Als Ansatzpunkte nennen sie hierfür den Dritten Raum und Hybridität als Möglichkeitskonzepte. Sie konstatieren zugleich, dass es für eine weitere bildungstheoretische Arbeit bedeutsam sei, »die Tragweite der oben genannten Konzepte zu erforschen und dabei zu bedenken, wie sich diese hege-
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monialen Bildungskonzeptionen in gegenwärtigen Diskursen kritisch aufschließen und diskutieren lassen«6 . In dieses Buch ist u.a. aufbauend auf Thompsons und Jergusʼ Vorschlag, Hybridität für die theoretische und empirische Bildungsforschung fruchtbar zu machen, erst einmal eine umfassende Untersuchung von differenten theoretischen Hintergründen und methodisch/strategischen Einsätzen von Hybridität am Beispiel von Homi K. Bhabhas Hauptwerk durchgeführt worden. An dieser Stelle werden die Ergebnisse im Sinne einer theoretischen Grundlagenarbeit zu Kontexten, Gegenstandsbereichen, sprachlich-methodischen Potenzialen und Strategien von Hybridität, vor allem vor dem Hintergrund ihrer Leerstellen und Gefahren für weitere Anwendungen mit Bezug auf eine bildungstheoretisch fundierte empirische Bildungsforschung dargeboten, ohne diese an dieser Stelle selbst weiterzuverfolgen. Im Folgenden wird jedoch ein ausschnitthafter Vergleich der Ergebnisse der Forschung zu Hybridität mit Bezug auf die gesellschafts- und bildungstheoretischen Einsätze Horkheimers und Adornos erfolgen. Während Thompson und Jergus den kritisch bildungstheoretischen Ansatz Adornos (und Schillers) als Ausgangspunkt ihres Denkens über kulturwisenschaftliche Perspektiven auf Dritte Räume und Hybridität verwendet haben, stellt sich nach der Beschäftigung mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen, wie zum Beispiel Bhabhas, in diesem Buch heraus, dass das Konzept der Hybridität größere gesellschaftliche Substanz und Relevanz erhält, wenn man ihre Effekte nicht nur, aber auch, von dem Hintergrund spätkapitalistischer Verwertungstechniken und dem Erstarken nationalistischer Kräfte beurteilt. Es geht hierbei nicht um einen systematischen Vergleich dieser Ansätze miteinander, sondern vielmehr sollen einige Schlüsse aus diesen Denkformen für ein kritisch emanzipatorisches Potenzial von Hybridität vor der Folie von Bildung und Halbbildung diskutiert werden. Hierzu dienen nicht nur die Ergebnisse der bisherigen Forschungsarbeit, sondern auch weitere Aspekte aus der Kritischen Theorie Horkheimers und Adornos, die bisher nicht angeführt worden sind. Die Relevanz dieser neuen Aspekte erschließt sich erst mit Blick auf die hier erarbeiteten Ergebnisse zu Hybridität.
4.1.
Die erste Folgerung: Die Kunst des Werdens – eine Bildungsfigur?
Auf einer ersten Ebene kann Hybridität als ein durch Kreuzung zweier Entitäten entstandenes biologisch-anthropologisches »Werden« bezeichnet werden. Die Bedingungen und Umstände dieses Werdens verweisen durch soziologische, psychologische, diskurstheoretische, kulturelle, ökonomische oder bildungstheoretische 6
Thompson/Jergus 2014: 23.
Kapitel 4: Rückwärts gelesen… zu Ergebnissen und Folgerungen
Aspekte auf die Komplexität und Arbeit in diesem »Werden«, die Bhabha als Strategie des Überlebens oder Kunstform bezeichnet. Diese beiden Ausdrücke Bhabhas für Hybridität deuten auf zwei für ihn bedeutsame Aspekte im Mensch-Weltverhältnis. Diese zwei Aspekte bedienen zudem zwei scheinbar völlig gegensätzliche gesellschaftliche Lebensumstände zwischen prekärem Existenzkampf und dem Luxus der Selbstentfaltung mit Mitteln der Kunst. Die für Bhabha typische hybride Verflechtung dieser scheinbar gegensätzlichen Aspekte, vielleicht sogar Ebenen zu einem gleichzeitigen Moment macht auf etwas aufmerksam, das die Menschheit als Gattung verbindet, nämlich die Vulnerabilität (mit Blick auf den Tod) und die Kraft des Gestaltens (hinsichtlich eines Entstehens und Werdens im Leben)7 . Max Horkheimer spezifiziert dieses Gestalten vor dem Hintergrund einer ursprünglichen Bildung des Menschen über die »Umformung der ungeformten Natur«8 . Horkheimer geht noch weiter und knüpft die Geltung von Bildung an die Erkennbarkeit von Arbeit und ursprünglicher Natur im Produkt. Ein angemessenes Verhältnis zwischen dem Menschen und der Natur knüpft er an die Ergebnisse der Umformung und Produktion, nachdem beide Momente in ihrer Berechtigung sichtbar gemacht werden. Als einfaches Beispiel nennt er hierfür das Korn, das im Brot noch zu sehen ist.9 Horkheimers kritischer Einsatz beginnt an eben jener Frage nach der Art und Weise des Werdens bzw. Arbeitens, deren Effekte sich sowohl auf das Produkt selbst als auch die Natur zurückverfolgen lassen. Horkheimer nennt die technologische Entwicklung (begonnen mit der Industrialisierung) als Grund für das Umschlagen der Prozesse von Arbeit in die der Verarbeitung.10 Diese Argumentationsfigur Horkheimers kann sehr gut auf Fragen des verantwortlichen Umgangs mit natürlichen Ressourcen oder der Frage nach Arbeitsbedingungen oder den Folgen von Arbeitslosigkeit für die Lebenskraft des Menschen weitergedacht werden. Mit Bezug auf das interventionistische Potenzial von Hybridität und die Frage, wie ein verantwortungsbewusster Umgang mit Kritik gedacht werden kann, scheint Horkheimers Argumentationsführung (auch vor dem Hintergrund der in diesem Buch herausgestellten Kritik an Hybridität) weiterbringend: Überträgt man die Figur der Kritik auf die hier beschriebene Bildung, so erschließt sich die ebenso übertragene Frage danach, ob die Natur der Sache oder der Gegenstand der Kritik darin zu sehen ist oder sie im Sinne der Verarbeitung bis zur Unkenntlichkeit verändert wurde und keinen Bezug mehr zum Gegenstand und ihrer Geschichtlichkeit aufweist. Die Notwendigkeit in der Beschäftigung mit der Natur (der Dinge) sieht Horkheimer in der Gefahr ihrer Unberechenbarkeit, die den Menschen durch die Hintertür wieder einholt. Auch Adornos Denkfigur
7 8 9 10
Vgl. zum Bildungsbegriff auch Zirfas 2011: 13ff. Horkheimer 1985: 410. Horkheimer 1985: 410. Vgl. Horkheimer 1985: 410ff.
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des »Doppelcharakters der Kultur« steht in dieser Logik eines mindestens doppelten Blickes. Dieser ist in diesem spezifischen Fall nicht auf die Zeit gerichtet, doch auf konstituierende gesellschaftliche Verhältnisse, wie in Kapitel drei dieses Buches auch mit Bezug auf Bhabhas Figuren der Differenz diskutiert worden ist. Übertragen auf das Jahr 2019 tragen Destabilisierung, Fragmentierung und Spaltung als Programm und Methode der Dekonstruktion von möglicher ideologischer Abgeschlossenheit, vor allem in digitalen Räumen (mit gefährlichen Leerstellen in Bezug auf ethische und rechtliche Verankerungen von demokratischen Werten) zur aporetischen Orientierungslosigkeit bei und erleichtern Instrumentalisierungen und Manipulation. Problematisiert wird dieses fragmentierte Denken von Adorno, der die »Methode des assoziierten Denkens« als durch »Halbbildung« generierte und diese generierende Denkart proklamiert: »Erfahrung […] wird ersetzt durch die punktuelle, unverbundene, auswechselbare und ephemere Informiertheit […; die] durch andere Informationen weggewischt wird.«11 Dies erinnert wiederum an Horkheimers Warnung davor, dass, wenn traditionell und institutionell verankerte Sektoren des Lebens wegfallen, die Menschen in der fehlenden Orientierung und Identifikationsmöglichkeiten sich am dünnen Übersponnensein des Neuen orientieren.12 Horkheimer konstatiert weiter: »Die geistige Urteilsfähigkeit der Bevölkerung, die in so schreiendem Mißverhältnis zum hohen Stand der Wissenschaften und der Technologie sich befindet, die Versuchung zum Betrug, den dieser intellektuelle Zustand der Massen für skrupellose Mächtige bedeutet, sind gerade den industriell fortgeschrittenen Völkern gemein«.13 Horkheimer bezieht die Tendenzen aus diesem Umstand auf die totale und oberflächliche Vergesellschaftung des modernen Lebens, dessen Folgen er mit Blick auf die Geschichte in Tendenzen zum Nationalismus und zivilisatorischer Barbarei erkennt. In dieser Weise kann auch auf aktuell zu beobachtende und institutionell bestätigte Tendenzen zu autokratischen Systemen hingewiesen werden und auf immer offener ausgesprochene nationalistisch und protektionistische Töne vor dem Hintergrund immer größerer monopolistisch organisierter Konzerne, die nicht nur die ökonomische Übermacht darstellen, sondern die Kommunikationskanäle konstruieren und als »arbiters of reality« immer mehr zu Entscheidern darüber werden, welche Welt wir wie sehen bzw. zu welcher Welt wir Zugang erhalten und zu welcher nicht. Eine Beschäftigung mit der Tradition, selbst in kritischer Weise, wird nicht durch das bloße Schaffen von etwas Anderem, Differentem oder Neuem ersetzt.
11 12 13
Adorno 1959: 115/226. Vgl. Horkheimer 1985: 413. Vgl. Horkheimer 1985: 413.
Kapitel 4: Rückwärts gelesen… zu Ergebnissen und Folgerungen
Stellt man die Technologie selbst oder, im Fall von Hybridität, die Methode in den Vordergrund, so übergibt man die Gegenstände und ihre Natur der Verarbeitung bis hin zur Entfremdung des Prozesses und des Produktes vom Vorherigen. An dieser Stelle soll nicht über die Frage der Natürlichkeit der Dinge diskutiert werden, vielmehr wird die Frage der Hybridität als Signatur ihrer Zeit als dem Umgang dominanter Konzepte mit dem Anderen umgekehrt bzw. um eine Gegenfrage ergänzt: Wie gehen dominante Konzepte und Politiken der jeweiligen Zeit mit dem Bestehenden um? Sollte es Konzepte und Fragen geben, die als Signatur ihrer Zeit gelten können, dann müssten diese zumindest beiden Aspekten (nicht in Konkurrenz zueinander) Raum geben. Demnach gehört für eine Analyse der Zeit zur Diagnose der Modi der Veränderung auch die Frage, wie mit Bestehendem umgegangen wird. Das heißt, ein wesentlicher Aspekt der Umformung ist das Bewahren – zumindest der Erinnerung an den bisherigen Gegenstand. Dies ist vielleicht der wesentliche Aspekt in der Frage nach dem Umgang mit Differenz. Vereinfacht gesagt, wäre ein Vorgehen, das den Blick bloß auf das Alte oder Neue richtet, demnach sowohl simplizistisch als auch unverantwortlich. Obwohl Bhabha den Gesichtspunkt der Arbeitsprozesse und Produktionsverhältnisse vernachlässigt, ziehen Horkheimer und Bhabha mit Blick auf das Entwicklungstempo (Werden) des Subjekts ähnliche Schlüsse. Sowohl die Verarbeitungsindustrie als auch die Komplexitätssteigerung einer verflochtenen Welt bräuchten in interventionistischer Weise Prozesse und Anlässe der Verlangsamung. Im Sinne von Horkheimers Ausspruch, die Gewalt sei rasch, zeigen Prozesse der Hybridisierung und Verhandlungsprozesse im Dritten Raum, die eine Verlangsamung und Verflechtung von Debatten herbeiführen sollen, wie sie als Methode dazu dienen können, dem Subjekt durch programmatische Verflechtungsfiguren und Hilfsstrukturen sowie durch einen gewissen Schutzraum Zeit zu schenken für eine Auseinandersetzung mit sich, dem Gegenstand und den Menschen14 in der Welt. Die Ergebnisse der Beschäftigung mit Bhabhas Methoden und Figuren stellen die Notwendigkeit heraus, dass es gerade vor dem Hintergrund von machtvollen Ordnungen in der Gesellschaft spezieller Räume bedarf, die die Differenz des Subjektes sowie auch die Differenz zwischen Subjekten und ihrer Auseinandersetzung mit der Welt zulassen, das heißt im Sinne der Hybridität in Verhandlung treten lassen. Wie sehr diese Räume eine gewisse ethische und pädagogische Rahmung und sogar Begleitung benötigen, wurde nicht zuletzt am Beispiel demokratiefeindlicher
14
Siehe auch Söhnke Ahrens Figuren der »soft eyes« (Ahrens 2011: 171) und »unfokussierter Blick« (Ahrens 2011: 167) aus seiner Analyse der Serie The Wire und Andreas Dörpinghausʼ Figur der »Bildung als Verzögerung« (Dörpinghaus/Uphoff 2017).
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Gruppen, wie der sogenannten Neuen Rechten mit ihren Methoden und Strategien der Subversion, diskutiert, die mit Rekurs auf das Recht auf Differenz und Verhandlung solche Räume nutzen, um letztlich das Prinzip der Differenz zu negieren oder gar abzuschaffen.15 Dritte Räume sollten mit Blick auf Hybridität also sowohl die interne Differenz des Subjekts schützen als auch Fragen der Konstitution des Subjekts und gesellschaftlicher Klassen vor dem Hintergrund von Macht und Autorität verhandeln. Mit Blick auf Möglichkeiten der Vereinnahmung und Zerstörung dieser Räume zeigt sich, dass Verhandlungen von Differenzen nicht ohne einen stets notwendigen Rekurs auf die geschichtliche Herleitung und die ethischen Annahmen dieser Ansätze auskommen dürften. Aus der Analyse von Bhabhas Drittem Raum wurde deutlich, dass eine Verhandlung der Differenz eine Ethik der Differenz als »Platz für Differenz ohne eine übernommene oder verordnete Hierarchie« voraussetzt. Dies bedeutet also, dass man den Raum nicht nur mit Bezug auf das Recht der Differenz nutzen kann, sondern auch die Voraussetzungen und Umgangsweisen respektieren muss. Das Prinzip der Destabilität und Vulnerabilität des Subjektes ist die Voraussetzung für die Herangehensweise sowie die Bewegung in diesem Raum, die sich kennzeichnet durch eine Haltung der Zögerlichkeit, Verlangsamung und Verflechtung der Geschichten. Die ethische Haltung zum Anderen verweist auf ein Gegenüber, das in seiner Differenz Teil von mir und meiner Geschichte ist sowie auch seine Geschichte mich nicht nur betrifft, sondern mit meiner verflochten ist, wie in einem mittelbar familiärem Zusammenhang. Da weder das Vorschreiben eines solchen Denkens noch das Forcieren einer solchen Haltung möglich oder wünschenswert ist, sollten pädagogische Räume geschaffen werden, um sich über Übung und Erfahrungen an solche Denkbewegungen zu gewöhnen. Die damit einhergehende lern- und bildungstheoretische Hoffnung liegt darin, dass Subjekte, die einen solchen Umgang erfahren und praktizieren, einen Umgang mit dem jeweils anderen in sich selbst und dem konkret Anderen als unhintergehbaren Aspekt einer hybriden Gesellschaft erleben und aus diesem gelebten Selbstverständnis heraus widerständig werden gegen Umgangsformen, die Differenz zur Spaltung nutzt, denn als Bedingung und Ethik des Werdens in der Geschichte. Homi K. Bhabha bietet mit seinem Konzept des Dritten Raumes einen sowohl kritischen wie auch optimistischen postmodernen und postkolonialen Denkansatz
15
In der Frage danach, wie die Werte von Räumen der Verhandlung im Angesicht der Verantwortung für die Wahrung demokratischer Grundwerte geschützt werden können, können Herbert Marcuses Überlegungen zur ›Repressiven Toleranz‹ weiterbringend sein. Diesem zufolge unterstütze eine unparteiische Toleranz eine auf Diskriminierung ausgelegte Maschinerie (vgl. Marcuse 1965).
Kapitel 4: Rückwärts gelesen… zu Ergebnissen und Folgerungen
an. Die dazugehörigen Bilder der Differenz, des Zwischenraums und des Aufbrechens entwerfen in Verbindung mit dem Verständnis von Zugehörigkeit und Differenz zum Anderen, einer Kultur, einer Nation etc. neue Einsichten in die Herausforderungen einer objektiv und gefühlt zunehmend vernetzten, komplexen, undurchsichtigen, multikulturellen und kapitalistischen Gesellschaft und Welt. Die Wahrnehmung und Akzeptanz der dem Menschen immer schon inhärenten Differenz und Fremdheit machen, im Angesicht der oben benannten Tendenzen der Zersplitterung und Singularisierung, neue Denkfiguren notwendig, die Anlässe zum Nachdenken über die eigene Verflochtenheit mit der Welt bieten. Denkfiguren der Differenz bieten sich zudem als Stütze an für ein differentes Denken, das der Gewöhnung an eine ephemere, auswechselbare Informiertheit etwas entgegensetzen kann. Vielleicht kann das Üben eines solchen Denkens und das Schaffen solcher Erfahrungen gegen das Vergessen der eigenen Geschichtlichkeit und (mit Adorno) gegen eine ›Selbsterhaltung ohne Selbst‹ eine »Kontinuität des Bewusstseins« erhalten, »in der das Nichtgegenwärtige dauert, in der Übung und Assoziation im je Einzelnen Tradition stiften«16 . Mit Blick auf die oben erfolgte Auseinandersetzung mit Hybridität als Signatur der jeweiligen Zeit (in Bezug auf die Frage der Differenz) und als Symptom unserer Zeit (in ihren Kontexten, Methoden, Strategien und Leerstellen) wurden Einsätze der Gesellschafts- und Bildungstheorie Horkheimers und Adornos herangezogen, um die Notwendigkeit des Schaffens von Erfahrungen mit Fragen von Mensch und Welt herauszustellen. Gerade aus der Gefahr von wachsender Spaltung und unversöhnlicher, emotionalisierter Debatten, die von Strukturen virtueller Räume begünstigt werden, ergibt sich eine weitere Notwendigkeit, über Räume in der Gesellschaft – ob virtuelle, analoge oder Mischformen – nachzudenken, die dieser Entwicklung etwas entgegensetzen. Der pädagogische Anspruch dieser Forschungsarbeit schließt an diesen Aspekt an, indem aufbauend auf den Ergebnissen der bisherigen darüber nachgedacht wird, wie Anlässe geschaffen und Räume gestaltet werden können, die in Anlehnung an den Dritten Raum nach Bhabha (in ihren ethischen und methodischen Aspekten) und durch das Üben von Denkbewegungen der Differenz und Hybridität Erfahrungen gegen gesellschaftsspaltende Tendenzen veranlassen können (zum Beispiel durch eine Fragmentierung und Relativierung von Debatten).
4.2.
Über die arbiträre Abgeschlossenheit von Denkfiguren
Die Auseinandersetzung mit der paradoxalen Struktur von Hybridität als »Zusammengehörigkeit von scheinbar nicht Zusammengehörigem« provoziert ein Den16
Adorno 1972: 115.
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ken, das mit einem wissenschaftlichen Anspruch an präzise Definitionen und Bestimmungen schwer zu vereinbaren ist. Weiterbringend ist hier Max Horkheimers Gedanke zum Umgang mit Definitionen (vor dem Hintergrund des Begriffs der Bildung), wenn er einerseits sagt, dass es Bereiche gibt, in denen es für die Erkenntnis auf saubere und eindeutige Definitionen ankomme, aber: »Definitionen mögen widerspruchslos sein, die Wirklichkeit aber, in der wir leben und die von Begriffen getroffen werden soll, ist widerspruchsvoll.«17 Nimmt man diese theoretischen Probleme um Definitionen und das nach Horkheimer den Begriffen ›einwohnende Leben, ihre Spannungen und Mehrdeutigkeiten‹ ernst, so provoziert dies, der Frage nach Theoriebildung mit einem doppelten wissenschaftlichen Anspruch zu begegnen: Einerseits der Bestimmung und Sicherung von Wissen und andererseits die Offenheit für die darin lebenden Spannungen, Mehrdeutigkeiten und Widersprüche. Mit Blick auf den Begriff der Hybridität in ihrer Komplexität und Anschlussfähigkeit drängt sich demnach immer mehr die Frage nach der Involviertheit von Theorie und Leben auf. Denn gerade das Potenzial von Phänomenen der Uneindeutigkeit und des Zwischen, aber auch die Kritik am sogenannten »Hype um Hybridität« (Ha 2005) sind für mich gute Gründe für eine eingehende Beschäftigung mit diesem Themenkomplex. Im Rahmen der Frage nach Interventionsmöglichkeiten zu Rhetoriken der Vereinseitigung wird Hybridität darüber hinaus als Perspektive für ein Nachdenken über »Denkfiguren« in pädagogisch- didaktischen Arrangements anschlussfähig gemacht18 . Bei der Recherche um den Begriff der Denkfigur sind zwei Aspekte auffällig: Zum einen wird der Terminus zumeist ohne weitere Klärung wie selbstverständlich verwendet,19 zum anderen sind die wenigen Versuche seiner Klärung fast nur sprachwissenschaftlicher Natur, die selbst keine systematische Einordnung aufweisen. In seinem Werk Übergänge: Denkfiguren beschreibt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Erich Kleinschmidt, dass die Forschung zu Denkfiguren tatsächlich noch am Anfang stünde, zumal die Verwendung des Begriffs nicht neu sei: »Die Denkfigur wirkt zum einen attraktiv, weil der Begriff noch unverbraucht wirkt, zugleich aber bekannt zu sein scheint.«20 Bemerkenswert an Kleinschmidts Analyse ist die Verbindung aus der Aussage, dass der Begriff der Denkfigur eine Attraktivität ausstrahlt durch seine vermeintliche Bekanntheit, obwohl der Begriff an sich semantisch so offen, wie bisher nicht
17 18 19 20
Horkheimer 1985: 409ff. Vgl. Horn 2010 Vgl. Thompson/Jergus 2014; Struve 2013. Kleinschmidt 2011: 7 und vgl. Hárs 2002.
Kapitel 4: Rückwärts gelesen… zu Ergebnissen und Folgerungen
hinlänglich erforscht ist. Die Hypothese dieser Untersuchung führt die Attraktivität des Begriffs auf seine sprachlich figurative Zugänglichkeit zurück, die, ähnlich wie im Fall von Schlagwörtern, eine Bekanntheit suggeriert und eine schnelle Identifizierung erlaubt. Die Kombination aus dem epistemologischen Aspekt des Wortes ›Denk-‹ und der scheinbar leiblich greifbaren ›Figur‹ macht etwas Abstraktes scheinbar plastisch und konkret21 . Kennzeichnend für Denkfiguren ist demnach das Versprechen, etwas Komplexes und Abstraktes in einen griffigeren und zugänglicheren Rahmen zu fassen. Beispiele dafür lassen sich viele finden, da sie eine gängige Praxis der Spracharbeit bezeichnen, wie unter anderem das Konzept der Übersetzung dies verkörpert. In der Bildungsphilosophie sind klassische Denkfiguren demnach Kants Appell zur Mündigkeit und Humboldts Formel zum Bildungsprozess als Wechselwirkung zwischen Mensch und Welt. Während die Zugänglichkeit von Kants Ausspruch Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! als direkte Adressierung und Appell im Zutrauen des Muts und des Verstandes des Menschen begründet zu sein scheint, gibt Humboldts Ausdruck dem Adressaten eine scheinbare verkürzte Formel von Bildung in ihrer Prozesshaftigkeit und ihrem Gegenstandsbezug. Humboldt macht jenseits der Figur von der Wechselwirkung von Mensch und Welt und seiner anthropologischen Begründung des Austausches der Menschen untereinander auf die Notwendigkeit der Vermittlung und Überwindung der gesellschaftlichen Kluft aufmerksam (zum Beispiel zwischen Schriftgelehrten und Analphabeten oder Fremdsprachen und der Nationalsprache). Die pädagogische und gesellschaftspolitische Macht von Denkfiguren zeigt sich auch mit Blick auf andere Denkfiguren wie »Multikulti ist gescheitert« oder »Deutschland schafft sich ab« (Thilo Sarrazin) oder »Umvolkung«. Als griffige Slogans mit politisch motiviertem Inhalt werden sie gern als Argumentationsfigur eingesetzt. Wieder zeigt sich, dass ihre Attraktivität und Zugänglichkeit sich auch über die Eindeutigkeit der Aussage bzw. These definiert, die in dieser Eindeutigkeit eine Übernahme und Anpassung an diese erlaubt. So wie Kants Ausdruck in positiv appellativer Weise eine Bestätigung der Vernunftbegabung des Menschen an sich darstellt und somit dem Menschen Mut macht, ist Humboldts rhetorische Figur der Wechselwirkung an die Idee der Harmonie geknüpft. Sie lässt innerhalb und zwischen den einzelnen Einheiten (ob Mensch oder Welt) oder der graduellen Anreicherung der Bildung wenig Raum für Ungereimtheiten, Brüche und Konflikthaftes22 . Er stellt mit der Formel einerseits einen scheinbar natürlichen Prozess dar, der stattfindet und legt mit dem
21 22
Ein weiterzuverfolgender Ansatz sind phänomenologische Lern- und Didaktik-Ansätze z.B. bei Meyer-Drawe 1984. Vgl. Hosseini-Eckhardt 2015: 70ff.
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Gedanken der Bildung den niedrigschwelligeren Appell hinein, sich als Individuum diesem natürlichen Prozess hinzugeben. In der Beschreibung des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt steht das Ideal in einem diametralen Verhältnis zur Wirklichkeit, das von Schiller schon deutlicher in seiner Spannungsgeladenheit beschrieben worden ist. Die Figur der Hybridität zeigt in ihrem Verhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit ein engeres Verhältnis, indem sie die Wechselwirkungen radikaler denkt. Sie fasst den Menschen, die Welt und ihr Verhältnis zueinander über die Konstruktivität, Instabilität und Bedingtheit in Verhältnissen von Macht und Autorität23 . Mit Blick auf die Attraktivität von Denkfiguren stellt sich das Konzept der Hybridität mit seinem Verweis auf Verflechtung, Komplexität und auf die NichtGreifbarkeit als problematisch heraus, wenn es darum geht, Hybridität als pädagogische Figur zu verwenden, da sie in ihrer programmatischen Uneindeutigkeit eher unzugänglich ist. Die von Bhabha (mit Verweis auf Freud) verwendete Figur der Unheimlichkeit im eigenen Heim kann einerseits eine Aufklärung über allgemeine Fragilität und Verbindung der Menschen als Gattung hervorbringen, setzt jedoch eine gewisse Stabilität voraus, diese Unsicherheit zu ertragen. Rufe nach Heimat, Nation, Identität und mehr Überwachung stützen sich auf das menschliche Bedürfnis nach Sicherheit, Halt und Identifikation. Ein solches Denken kann man aus einer (akademisch) privilegierten Perspektive als unterkomplex abtun, doch wenn man diesem Phänomen mit Blick auf pädagogische Handlungsfelder begegnen möchte, so gilt es, genau diesen Aspekt ernst zu nehmen. Wenn man den Menschen als psychologisches (intern differentes) Wesen annimmt, dann reicht es nicht, nur den konstruktiven Charakter und die Unsicherheit aller aufzuzeigen, sondern auch seine Sehnsucht nach Identifikation und Harmonie ernst zu nehmen. Die auf Hegel zurückgehende dialektische Figur in John Deweys Ansatz von Lernen und Bildung durch Experience weist auf jene Notwendigkeit der Übung von Differenz, Entfremdung von Subjekt und Objekt, Krisen für das Leben in der Demokratie hin, betont jedoch auch das Moment der Versöhnung, der Harmonie, der Identifikation, des Zusammenkommens von Subjekt und Objekt, sowie auch der Gemeinschaft im Pluralismus24 . Ohne diesen Ansatz zu negieren, wird vielmehr darauf aufbauend weiter darüber nachgedacht, welche sprachlichen Figuren Anlässe dafür sein können, indem sie Identifikation und Zugänglichkeit zulassen, ohne die damit einhergehenden Tendenzen der Vereinfachung, Totalisierung und Diskriminierung zu bestärken.
23 24
Interessant ist hier ein Weiterdenken dieses Ansatzes in Bezug auf Haider 1980 und Geier 2011. Vgl. Dewey 2000: 187ff. und Bohnsack 2013: 12ff.
Kapitel 4: Rückwärts gelesen… zu Ergebnissen und Folgerungen
In diesem Sinne erscheint Homi K. Bhabhas (auf Stuart Hall aufbauender) Ansatz von Figuren der arbiträren Abgeschlossenheit fruchtbar für die Denkfiguren der Differenz. Eine Analyse einiger seiner sprachphilosophischen Tropen (wie »Grenze«, »Darüberhinaus«, »Das Hin- und Her im Treppenhaus«, »Brücke«, »Dritter Raum«) ist in diesem Buch erfolgt25 . Auf der Grundlage dieser eruierten Merkmale von Hybridität, wird Hybridität vor dem Hintergrund des eingangs formulierten Forschungsdesiderats zu seiner theoretischen Tragweite als orientierendes Konzept für bildungstheoretische Topoi des Zwischen und der Irritation vorgeschlagen. Die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit in diesem Buch können mit Blick auf die stattgefundene Analyse von Hybridität als Signatur der jeweiligen Zeit im Speziellen in Bezug auf den Umgang mit Differenz, ihren Methoden, Leerstellen und Potenzialen als Symptom unserer Zeit gelesen werden. Damit steht eine größere grundlagentheoretische Basis zu Hybridität zur Verfügung, von denen aus aktuelle Tendenzen in wissenschaftlichen Disziplinen, globalen gesellschaftspolitischen Entwicklungen und pädagogische Handlungsräume weiter gedacht und konzipiert werden können. Folgt man der Frage der Anschlussfähigkeit von Hybridität in ihrer semantischen Offenheit und paradoxalen Struktur, so kann sie auch über ihren begrifflichen und konzeptuellen Gehalt hinaus für pädagogisch-didaktische Arrangements als Denkfigur weitergedacht werden. Denkfiguren zeigen ihre Produktivität nämlich darin, dass sie durch ihre eigene paradoxale Struktur – in der Unterscheidung von ›Denken‹ und ›Figur‹ – das menschliche Denken ernst nehmen, als ein sowohl durch Akte der Identifizierung und der Sehnsucht nach Abschließung geleitetes, als auch in ihrer Prozessualität und ihrer unabwendbaren Verflechtung mit dem Leben. Der in der paradoxalen Struktur angelegte gemeinsame theoretische, lebensweltliche, leibliche, ethische und performative Charakter von Hybridität und Denkfigur kann im Sinne einer Intervention gegen ein Denken und Rhetoriken der Vereinseitigung für pädagogisch didaktische Arrangements verortet und weitergedacht werden. Die Denkfigur zielt auf ein bewegliches und auch unruhiges Denken mit einem offenen Ziel, das scheinbar nicht Zusammengehöriges in der Welt immer wieder ins ›Verhältnissetzt‹. Dabei verspricht eine solche Denkweise des ›in Bewegung-Haltens‹ die Frage des Fremden und Uneindeutigen produktiv mitzudenken, ohne ihre Spannungen und Mehrdeutigkeiten im Sinne einer klaren Definition ausgrenzen zu müssen26 . Vor dem Hintergrund des genannten doppelten wissenschaftlichen Anspruchs an die Frage nach Möglichkeiten der Theoriebildung steht die Forschungsarbeit mit Denkfiguren insofern einer Herangehensweise über Differenzsetzung mit dem 25 26
Neuber 2015 und Neupert- Doppler könnten an dieser Stelle weiterführend sein. Lohnenswert ist hierzu eine Lektüre von Sönke Ahrens 2010
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Ziel präziser Bestimmungen diametral entgegen. Viel mehr verfolgt sie den offenen Anspruch im Schaffen und Aufrechterhalten von Prozessen des Denkens, die sich einer schnellen Konsumierung entziehen. Mit Bezug auf Möglichkeiten der Theoriebildung, soll die Arbeit mit Denkfiguren daher weder als Konkurrenz noch als ausschließender Widerspruch zu Prozessen der präzisen Bestimmung verstanden werden, sondern viel mehr in ihrem Ertrag und Produktivität für Phänomene des Zwischen eine Ergänzung dazu darstellen. Als Ausblick möchte ich auf das noch weiter zu erforschende Potenzial von Denkfiguren der »arbiträren Abgeschlossenheit« für pädagogisch didaktische Arrangements hindeuten und gebe dafür eine Anregung als Beispiel für solche Denkfiguren: »Die Hybridität der Grenze« und »Hybridität als die Kunst des Werdens« Vor dem Hintergrund des anfänglich formulierten Anspruchs dieser Forschungsarbeit, über pädagogische Räume nachzudenken, die Platz lassen für Differenz und Möglichkeiten schaffen für Umgangsweisen mit der Differenz in ihrer hybriden Beschaffenheit, gilt es Methoden und Techniken dafür zu entwickeln, die sogar dem doppelten Anspruch (Raum für Differenz und Möglichkeiten der Identifizierung und Verhinderung von Vereinseitigungen) gerecht zu werden. Stuart Halls Ausdruck der arbiträren Abgeschlossenheit bringt diesen doppelten Anspruch in gewisser Weise auf den Punkt. Denkfiguren der Differenz, die dem oben genannten Anspruch nachkommen wollen, sollten der in diesem Buch erfolgten Analyseergebnisse nach zumindest diese paradoxale Struktur beinhalten. 1. Moment der Identifizierung: Als methodische Handreichung soll die Denkfigur als eine Art kurze These den Charakter einer scheinbar abgeschlossenen Formel haben und über bekannte und figurativ zugängliche Begriffe und Gegenstände eine leichtere Identifizierung und Konkretisierung (im Figurativen) ermöglichen. 2. Moment der Differenzierung: Dem Anspruch der Differenziertheit und Vielseitigkeit des Denkens soll mit Begriffen der Differenz, wie der Dopplung, der Ambivalenz, der Verflechtung, begegnet werden. Darüber hinaus können im Sinne der Differenz und Vielfalt ebendiese Begriffe in ihren differenten Formen gefasst werden als Metapher, Metonymie, Kunstfiguren, Räumen der Kunst oder Erinnerung, die wie oben beschrieben einerseits durch ihre bildliche oder konkrete plastische Form Zugänglichkeit und Vereinfachung suggerieren und andererseits gerade durch die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Form (als Begriff, Metapher, Denkfigur) und ihren unterschiedlichen Einsatzmög-
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lichkeiten in unterschiedliche Kontexten das hohe Potenzial ihrer Abstraktion und methodischen Reichweite verdeutlichen. Die Überschriften im zweiten und dritten Kapitel dieses Buches sind vor diesem Hintergrund gewählt, um über ihre theoretische Besprechung hinaus auch auf mögliche Denkfiguren aufmerksam zu machen. »Die Hybridität der Grenze« und »Hybridität als die Kunst des Werdens« ist in einer Doppelstrategie 1) sowohl ein Ausdruck für die vielfältigen Zugänge und Bestimmungen von Hybridität zu verstehen, als auch 2) im Sinne eines parallel erarbeiteten Vorschlags für eine arbiträr abgeschlossene Denkfigur für weitere pädagogische Anwendungen gedacht. 1. Als Ausdruck des Inhalts beider Hauptteile des Buches repräsentieren die zwei Aussagen (getrennt durch ein »oder«) zwei unterschiedliche Herangehensweisen an den Begriff der Hybridität. Im ersten Hauptkapitel (konkret Kapitel 2) wurde Hybridität zunächst noch a) als Begriff über ihre diskursive Herleitung, ihre philosophischen Kontexte und ihre begriffliche Opposition zum Begriff der Grenze eruiert. Im fortgeschrittenen Stadium des ersten Hauptkapitels (Kapitel 2) wurde der Begriff der Grenze herangezogen, der als Gegenbegriff zu Hybridität eine weitere semantische Ebene einführte, jedoch in ihrem metaphorischen Gebrauch auf ihre eigene semantische, wie formale Vielfalt und Differenz verwiesen und somit auf die semantische Nähe zu Hybridität. Zugleich können Hybridität und Grenze auf die Symbolik der Offenheit, Verflochtenheit im Gegensatz zu Abgeschlossenheit und Differenzsetzung übertragen werden, die am Beispiel des Diskurses um die Moderne und Postmoderne angeführt wurde. Die metaphorische Bedeutungsebene von Hybridität und Grenze, die darüber ihre semantische Nähe aufzeigt, eröffnet eine weitere Ebene der Erkenntnis auf die Debatte um die Moderne und Postmoderne. Sie verweist nicht nur auf ihre sachlich traditionelle Verflechtung, sondern auch auf die immer schon bestehende Hybridität als kritisch interventionistischer Einsatz in Diskursen um ein Denken in abgeschlossenen und hierarchisch gegliederten Einheiten, wie Identität, Nation und Kultur. Im zweiten Hauptkapitel der Arbeit (Kapitel 3) wurde Hybridität nicht länger nur über ihre begriffliche, kontextuelle oder rein metaphorische Dimension erfasst, sondern b) über die Frage danach, ob sie am Beispiel des Hauptwerks von Homi K. Bhabha Aussagen zu einer Methode zulässt. Bhabhas Ausdruck zur Hybridität als die Kunst des Werdens macht auf Hybridität als Konzept aufmerksam, das sich auf Bhabhas Doing Theory, die Verwendung von Untersuchungsgegenständen, das Menschenbild und die Handlungsmacht im
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Feld der Kultur erstreckt. Darin liegt Bhabhas Verständnis von Hybridität als einem banalen Prozess des Werdens (und Strategie des Überlebens) und der Schaffung hochkomplexer und ästhetischer Werke, die als Ausdruck der Handlungsmacht des Menschen auch sein Bild von Menschlichkeit und der Gemeinschaft repräsentieren. 2. Als Denkfiguren machen die Teile »Die Hybridität der Grenze« oder » Hybridität als die Kunst des Werdens« als Ergebnis der Forschungsarbeit darauf aufmerksam, dass Hybridität als alleinige Aussage durch ihre Bedeutungsvielfalt ein Begriff des »anything goes« sein kann, daher inhaltsleer oder somit leicht zu instrumentalisieren ist. Ihr Potenzial liegt jedoch in der Methode der Dekonstruktion und Dynamisierung von Einseitigkeit oder binären Denkordnungen. Hybridität ist mit Verweis auf die Ergebnisse zum Charakter der arbiträren Abgeschlossenheit von Denkfiguren der Aspekt, der das Moment der Differenzierung und Verflechtung mit sich bringt. Im Sinne der Seite der Abgeschlossenheit bräuchte es also einen weiteren Aspekt, der im Begriff der Grenze gefunden ist. In klassischer Weise ist Grenze als einer der kennzeichnendsten Begriffe der Moderne zu verzeichnen, der ein Denken in Entitäten und Systemen betont. Die methodische Metaphorisierung der Grenze hat demgegenüber demonstriert, wie nah sich die Grenze als Metapher und Hybridität als Moment der Verflechtung und Überschreitung sind. Diese semantische Distanz und Nähe würde im Titel und der Denkfigur ein verbindendes »und« rechtfertigen. Die bewusste Entscheidung für die unhintergehbare Verflechtung von Hybridität und Grenze liegt unter anderem an der postmodernen und postkolonialen Kritik (die die Legitimation von Begriffen wie Hybridität und Ambivalenz herausstellen) an einem sogenannten modernen Denken, dessen Methoden der Differenzsetzung und Hierarchiedenken sich nicht von der Mitschuld an einem barbarischen Rationalismus freisprechen können. Mit der Denkfigur der »Hybridität der Grenze« soll in Hinblick auf die Ergebnisse aller Kapitel des Buches und mit Rekurs auf ihr analytisches Erkenntnispotenzial in pädagogischen Räumen auf mindestens vier Aspekte aufmerksam gemacht werden: •
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Der Konstruktcharakter von Grenzen in der Geschichte (Wie sind im Verlauf der Zeitgeschichte Grenzen gesetzt und verschoben worden? Wie lässt sich das übertragen auf aktuelle Grenzpolitiken?) Den Konstruktcharakter von Grenzen vor dem Hintergrund von Macht und Autorität (Wer setzt den Begriff vor welchem sachlichen, ethischen, politischen und theoretischen Kontext ein? Wer profitiert davon und wer nicht? Was bedeutet dieser Konstruktcharakter in Anbetracht von Macht und Autorität für
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die Handlungsfähigkeit des Menschen, in seiner Befangenheit und seinem Potenzial, mit Einbezug seiner Bedingheit in Klasse, Rasse, Gender, Gesundheit?) Der Konstruktcharakter von Grenzen als Ausdruck für die interne Differenz des Menschen als psychologisches Wesen und in seiner leiblichen Bedingtheit (Welchen Effekt kann dieses Wissen auf unser Bild vom »ich«, vom »uns« und vom »anderen« in der Welt haben?). Der Konstruktcharakter von Grenzen als Verweis auf die Gleichzeitigkeit der Möglichkeit der Dekonstruktion dieser, aber auch auf ihr ›in der Welt sein‹, die an Funktionen des Schutzes gebunden ist. Welche Wahrheits- und Schutzfunktion können sie in der Gesellschaft haben, mit Blick auf das Denken und Handeln in einem ethischen Zusammenhang mit dem anderen? (Zum Beispiel in Fragen des Umweltschutzes: Grenzwerte in ihrem konstruktiven Charakter erkennen und gleichzeitig ihre Notwendigkeit für das Gemeinwohl vor machtpolitischen Einzelinteressen nicht verkennen.)
Diese Aspekte haben weder den Anspruch auf eine Repräsentation aller Facetten einer Hybridität der Grenze noch müssen ihre normativen Implikationen übernommen werden. Die Denkfigur »die Hybridität der Grenze« und »Hybridität als die Kunst des Werdens« sollte über verschiedene Kontexte, in Bezug auf einige Gegenstandsbereiche und auf vielfältigen Ebenen herausstellen, wie sehr Dinge, die auseinanderdividiert werden (oft mit guten Gründen), nicht immer ohne einen gewaltsamen Akt auskommen. Insofern ist Hybridität der Ausdruck und ein Appell daran, in solchen Momenten der Grenzziehung und Trennung an das Zusammengehören und die Verflechtung von nur scheinbar nicht Zusammengehörigem zu denken. Belege dafür zeigen sich in der Geschichte aller Familien, ob mit unmittelbarem oder mittelbarem Migrationshintergrund, Erfahrungen sozialer Ungleichheit, des Ausgeschlossen-Seins oder von Gewalt- leiblicher und institutioneller Natur. Die Verflechtungsfigur der Hybridität macht insofern nicht nur auf Zusammenhänge zwischen Theorien und Menschen aufmerksam, sondern erhält ihre wahre Relevanz durch ihre vielfältigen Kontexte. In der Frage der Erinnerungskultur zeigt sich die Hybridität der geschichtlichen Zusammenhänge als ebenso fruchtbar. Der Blick auf die ›eigene‹ Geschichte erhält neue Dimensionen, aber auch Zugangsmöglichkeiten zu neuen Zeitzeugen und Erben der Zeitzeugen, wenn man die Parallelen, Unterschiede und Zusammenhänge der geschichtlichen Abläufe in ihrem Charakter einer globalen Gemeinschaft begreift. Denkfiguren der arbiträren Abgeschlossenheit können dabei Räume schaffen, in denen wir mit anderen zusammen die Verflochtenheit in uns und der Welt nicht durch vereinfachende Antworten amputieren, sondern mit ethischen Prämissen Dritter Räume die gemeinsame Auseinandersetzung suchen. Zu der Kunst des Werdens gehört es zu lernen, dass das ›Darüberhinausdenken‹ als notwendige Bewegung der eigenen Positionen stets mit dem ebenso notwendigen Gepäck
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der Verantwortung – in Bezug auf universelle Menschenrechte und das Wohl der Allgemeinheit – zusammen zu denken. Für das doppelstrategische Vorgehen dieses Buches war es von Bedeutung, dass die theoretische Herleitung von Denkfiguren der arbiträren Abgeschlossenheit über das Konzept der Hybridität erfolgte. Hybridität verweist nämlich in ihren vielfältigen Facetten auf das analytische, gesellschaftspolitische, leibliche und pädagogische Potenzial von Denkfiguren. Wer sich über Pointen hinaus sich auf ein Lesen von Fakten, Diskursen, Kontexten, Anwendungen, Methoden, Strategien und Folgerungen eingelassen hat, hat bis zur dieser letzten Seite des Buches nicht nur inhaltlich viel über Hybridität erfahren, sondern wird eventuell darüberhinaus im Leseprozess wahrscheinlich die besondere Erfahrung gemacht haben, Methoden von Hybridität am eigenen Leib zu erfahren. Hybridität bleibt nämlichüber ihren weitreichenden theoretischen Gehalt hinaus- nach allein Seiten gelebte Erfahrung mit Verflochtenheit. Diese Erfahrungen sind es wert, dass wir uns ihrer bewusster werden und darauf aufbauen- und nicht dahinter zurückfallen. Mit diesen theoretischen Zugängen zu Hybridität bleibt weiteres Nachdenken über Hybridität als leibliche und machtvolle Werdung von Menschen und Gesellschaften, aber auch in ihren Anwendungen (nicht nur, aber besonders) in pädagogischen Feldern weiter zu denken und zu handeln. Genauso sehe ich ein großes Potenzial in einer weiterführenden Beschäftigung mit der theoretischen Entwicklung und dem Einsatz von Denkfiguren als pädagogisches Mittel der ReflexionsDehn-Übung.
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