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German Pages 574 Year 2019
Birte Schröder Zugehörigkeit und Rassismus
Kultur und soziale Praxis
Birte Schröder hat mit einem Stipendium des Evangelischen Studienwerkes Villigst in der Abteilung Geographie an der Europa-Universität Flensburg promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen geographische Bildung, Migration und postkoloniale sowie feministische Theorien.
Birte Schröder
Zugehörigkeit und Rassismus Orientierungen von Jugendlichen im Spiegel geographiedidaktischer Überlegungen
Die Veröffentlichung wurde unter dem Titel »Rassismuskritische Perspektiven geographischer Bildung im Spiegel natio-ethno-kultureller Zugehörigkeitsaushandlungen von Schüler_innen« an der Europa-Universität Flensburg als Dissertation angenommen (2018). Die Entstehung dieser Publikation wurde gefördert durch ein Promotionsstipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst e.V..
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: PolaRocket / Photocase.de Korrektorat: Nina Lütjerodt und Markus C. Paluch (Sprachwerk e.V., Göttingen), Birte Schröder Satz: Nina Lütjerodt und Markus C. Paluch (Sprachwerk e.V., Göttingen) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4694-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4694-2 https://doi.org/10.14361/9783839446942 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Prolog | 11
I
Einleitung und theoretisch-analytische Perspektiven | 13 1. Einleitung und Einbettung | 15 1.1
Verortung und Perspektiven der Studie | 17
1.2
Aufbau der Untersuchung | 19
1.3
Lesehilfen | 21
1.4
Konturen des Forschungsfeldes: Kultur, Identität und Raum | 22 1.4.1 Kultur als Ordnungsschema | 23 1.4.2 Kritische Reflexion des Kulturbegriffs | 28 2. Postkoloniale theoretisch-analytische Perspektiven | 33 2.1 Postkoloniale Perspektiven auf Kultur, Identität und Raum | 34 2.1.1 Postkoloniale Perspektiven | 35 2.1.2 Identität, Zugehörigkeit, Othering | 36 2.1.3 Hybridität | 40 2.1.4 Dominanzbegriff | 45 2.1.5 Raumtheoretische Implikationen | 47 2.1.6 Imaginative Geographien | 48 2.2
Rassismuskritik als Perspektive | 53
2.3
Kritische Weissseinsforschung | 63
II
Didaktische Einbettung und empirische Wege | 67 3. Interkulturelles Lernen in der geographiedidaktischen Diskussion | 69 3.1 Themen und räumliche Ebenen in der Diskussion | 70 3.1.1 Vermittlung von Kenntnissen über andere Räume | 72 3.1.2 Entwicklungspolitischer Unterricht | 78 3.1.3 Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft | 79 3.1.4 Interkulturelles Lernen als Teilbereich des Globalen Lernens | 82 3.2
Eingrenzung des eigenen Erkenntnisinteresses | 83
3.3
Theoretische Grundlagen in der Diskussion | 86
3.4 Probleme von Ansätzen des interkulturellen Lernens | 88 3.4.1 Ausblendung von Verschränkungen im interkulturellen Lernen | 91 3.4.2 Tendenz zur Kulturalisierung im interkulturellen Lernen | 91 3.4.3 Othering und Festschreibung migrationsgesellschaftlicher Differenz | 92 3.4.4 Gefahr der Reproduktion und Verdeckung rassismusrelevanter Unterscheidungs- und Deutungsmuster | 95 3.4.5 Konzeptualisierung interkulturellen Lernens als Lernen über „Andere“ | 99 3.5 3.5.1 3.5.2 3.5.3 3.5.4
3.6
Vorschläge zur Weiterentwicklung des interkulturellen Lernens | 103 Transkulturalität | 103 Kultur als soziale Konstruktion | 107 Postkoloniale Theorien als Leerstelle | 109 Kritische Positionen zu Transkulturalität und konstruktivistischen Ansätzen | 110 Entwicklung eigener Vorschläge | 116
4. Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 121
4.1 Methodologische Vorüberlegungen | 121 4.1.1 Beobachtung zweiter Ordnung | 122 4.1.2 Methodologische Reflexivität | 124 4.1.3 Entwicklung des Forschungsdesigns | 127 4.2 Strukturierung des Feldes und angewandte Methodik | 135 4.2.1 Fallauswahl | 135 4.2.2 Teilnehmende Beobachtung | 139 4.2.3 Gruppendiskussionen mit Schüler_innen | 142 4.2.4 Einführung des Filmimpulses | 146 4.2.5 Transkription | 148 4.2.6 Vorgehen bei der Auswertung | 148 4.3
Kritische Reflexion des methodischen Vorgehens | 156
III Auswertung und Ergebnisdiskussion | 161 5. Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports | 163 5.1 Markierung von Differenz | 168 5.1.1 Körper als Konstrukte naturalisierter visueller Evidenzen | 169 5.1.2 Deutschland als originärer Raum der „Wir-Gruppe“ | 175 5.1.3 Über „optisch“ nicht in Deutschland Zugehörige | 176 5.1.4 „Ein-Mann-Kultur“ im „Ein-Mann-Land“ | 180 5.1.5 Verkopplung von Körpern und Kultur | 183 5.1.6 Naturalisierung von Differenz über die körperliche und räumliche „Auffindbarkeit“ der „Anderen“ | 185 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.2.6 5.2.7
Bedeutungszuschreibungen: Makelbehaftung versus Mustergültigkeit | 189 Integrationsbedürftigkeit und -unwillen | 190 Sich über Deutschland beschwerende Migrationsandere | 194 Verdorbene Migrationsandere, die die „Wir-Gruppe“ beleidigen | 198 Die Fokussierungsmetapher vom „Checker Gangster“ | 201 Parasitäres Dasein Migrationsanderer | 203 Berlin Neukölln: Parasitäres Dasein verortet | 206 Außerrechtsstaatliche Enklaven inmitten Deutschlands | 209
5.2.8 Mustergültig assimilierte Migrationsandere | 213 5.2.9 Migrationsandere als stetig hilfsbereite, bessere Freund_innen | 218 5.2.10 Assoziationsketten – Zwischenfazit | 222 5.3 Forderungen einer unerreichbaren Assimilation | 223 5.3.1 „Wenn ich mir jetzt nen Land auswählen würde“ | 223 5.3.2 Identifikation mit und Anpassung an das auserwählte „Land“ | 230 5.4
De-Legitimationen, Verweigerungen und Disziplinierungen | 237 5.4.1 Verweigerung von selbstbestimmter Identität | 238 5.4.2 Der Ausländer_inbegriff als legitime begriffliche Verweisung? | 245 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.5.4 5.5.5
Im Spiegelbild: Selbstbild und Dominanzposition der „Wir-Gruppe“ | 259 Legitime Bestimmung, Kontrolle und Disziplinierung | 259 Gruppe Klavier: Versicherung der Legitimität der eigenen Sichtweise | 261 Gruppe E-Sports: Toleranzpräsentation versus Berechtigung offener Herabwertung | 264 Gruppe E-Sports: Identifikation mit einem (un)beschädigten nationalen Selbstbild | 281 Komponenten der Dominanzposition | 287
5.6 Irritationen des Selbst- und Weltbildes | 292 5.6.1 Mannheim als Heimat aber nicht Deutschland | 292 5.6.2 Irritationen des Selbst- und Weltbildes kitten | 301 5.7
Orientierungen zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz | 314
6. Gruppendiskussion Schuluniform | 319 6.1
Selbstpositionierungen und die Aushandlung von Zugehörigkeiten | 322 6.1.1 Warum wir nicht sagen wir seien Deutsche | 322 6.1.2 Zugehörigkeitsaushandlungen im Spiegel von Othering und Nicht-Akzeptanz | 329 6.1.3 Hybride Identifikationen Migrationsanderer | 335
6.1.4
Widerstand gegen eine zugeschriebene Haltung der „Deutschenfeindlichkeit“ | 338
6.2 Othering- und Rassismuserfahrungen | 343 6.2.1 Wirkmächtigkeit von Othering- und Ausgrenzungserfahrungen | 344 6.2.2 Ernste Ausgrenzung versus Spaßpraxis in der In-Group | 346 6.2.3 Erfahrungen mit Othering und Verweisungen aus dem Hier | 350 6.2.4 Erfahrungen mit Bedeutungszuschreibungen und Diskreditierungen | 356 6.2.5 Rassismusrelevante Bedeutungszuschreibungen | 363 6.2.6 „Muslim Moments“: Erfahrungen mit antimuslimischem Rassismus | 373 6.3
Kollektive Orientierungen zum Umgang mit Othering- und Rassismuserfahrungen | 390 6.3.1 Grundsätzliche Orientierungen zum Umgang mit Ausgrenzung und Diskriminierung | 391 6.3.2 Orientierungen zum Umgang mit Othering- und Rassimuserfahrungen | 407 6.4
Orientierungen zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz | 438
7. Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse: Reflexiv-transformative Potenziale für Bildungsprozesse | 443 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.1.5
Reflexion natio-ethno-kultureller Grenzziehungen und Otheringerfahrungen | 445 Wirkmächtigkeit hegemonialer Zugehörigkeitsordnungen anerkennen | 447 Biologistische Differenzmarkierungen und die Imagination des Eigenen als relevante Foki für Dekonstruktionsarbeit | 448 Fragilität der Imagination des „Eigenen“ als homogen | 452 Widersprüche zwischen Exklusivität und Assimilationserwartung | 454 Von der Assimilationslogik zur transnationalen Inkorporation | 456
7.1.6 7.1.7 7.1.8 7.1.9
Definitionsmacht | 457 Selbst- und Fremdbezeichnungen | 460 Relationalität von Zugehörigkeitsaushandlungen | 461 Hybridität | 470
7.2 Produktive Irritationen? | 473 7.2.1 Irritation und Re-Stabilisierung des eigenen Welt- und Selbstbildes | 474 7.2.2 Hürden und Möglichkeiten für die Reflexion von Othering und Rassismus in Bildungsprozessen | 479 7.2.3 Hinweise für die Ermöglichung von reflexiven Bildungsprozessen | 483 7.3 Produktive Widerstände? | 493 7.3.1 Emanzipatorisch-widerständige Haltungen wahrnehmen, stärken und erweitern | 494 7.3.2 Dramatisierung, Ent-Dramatisierung und Nicht-Dramatisierung | 501 8. Ergebnisdiskussion | 509 8.1
Ergebnisse der analytischen Auswertung | 509
8.2
Ergebnisse der bildungsbezogenen Relektüre | 513
8.3
Ergebnisdiskussion im Spiegel der geographiedidaktischen Diskussion um interkulturelles Lernen | 518 8.3.1 Transkulturalität in der geographiedidaktischen Diskussion | 521 8.3.2 Machtverständnis in der geographiedidaktischen Diskussion | 532 8.3.3 Rassismus in der geographiedidaktischen Diskussion | 536
Literaturverzeichnis | 543 Danksagung | 571
Prolog
Ich sehe keinen anderen Weg als mitten hinein. Mitten hinein in die Auseinandersetzung mit Rassismus in der Lebenswelt, der Schule, auch im Geographieunterricht und in der Geographiedidaktik. Daher erscheint auch der Begriff Rassismus im Titel dieses Buches. Der Ausgangspunkt meiner Beschäftigung hatte die Betonungen anders gesetzt. Dies spiegelt sich auch im Aufbau der Monographie. Sie widmet sich zunächst einer postkolonialen Perspektive auf Kultur, Identität und Raum, um sich dann auch auf Rassismuskritik und Kritisches Weißsein zu fokussieren. Es waren die Diskussionen mit Schüler_innen und die teilnehmende Beobachtung an Schulen in meiner empirischen Forschung, welche die Rassismuserfahrungen, die Zuschreibung von Anderssein, die Reproduktion rassistischer Kategorisierungs- wie Deutungsmuster und die imaginative Geographie von Deutschland als „ursprünglicher“, als „eigentlicher“ Raum des homogenen weißen „Eigenen“ ins Zentrum der Studie rückten. Rassismus nicht als solchen zu benennen, das wäre den Erfahrungen der Schüler_innen nicht gerecht geworden. Es würde, metaphorisch formuliert, den elephant in the room – sowohl dem gesellschaftlichen Raum wie auch dem dieses Buches – ignorieren. Über Rassismus zu sprechen, ist alles andere als einfach. Es würde abschrecken, diejenigen, die guten Willens seien, demotivieren, sei so negativ, würde Grenzen einziehen, die man – bevor ich diese thematisiert hätte – selbst gar nicht wahrgenommen habe. Mein Thematisieren von Unterschieden sei daher rassistisch. Es würde diese erst produzieren. Ohne mein Zutun seien diese für sie gar nicht da gewesen. Ob es nicht hilfreicher, produktiver, zielführender sei, wenn ich eine andere Bezeichnung wählte, die weniger abschrecke. So oder so ähnlich fielen Rückmeldungen von einigen weißen Zuhörer_innen nach Vorträgen aus, in denen ich erste Ergebnisse vorstellte. Dabei dokumentiert sich das Privileg weißer Menschen, von einer Nicht-Sichtbarkeit rassifizierter Differenzen ausgehen
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zu können. Durch diese Perspektive banalisieren sie so die realen Erfahrungen rassistisch markierter Menschen und die strukturelle Bedeutung von Rassismus (s. a. H A & S CHNEIDER 2014: 50). Zudem zeigt sich, dass Rassismus ein stark mit Konnotationen besetzter Begriff ist. Gerade in diesen oft gut gemeinten, meinem Anliegen gegenüber durchaus wohlgesonnenen Bedenken dokumentiert sich für mich die Notwendigkeit, keine Umwege um den Elefanten herum zu machen. Vielmehr erscheint es bedeutsam, Rassismus besprechbar(er) zu machen. Denn die Wirksamkeit von symbolischer Gewalt verdankt sich Bourdieu zufolge immer partiell dem Verkennen derselben (B OURDIEU 1985: 58). Nur durch die Adressierung und Thematisierung solcher Mechanismen und den sie bedingenden Rahmenbedingungen kann man auch dagegen handeln (B OURDIEU 1985: 58). Eine Auseinandersetzung damit, was der Rassismusbegriff bezeichnet sowie welche bedeutsamen Erfahrungen vieler Schüler_innen mit (symbolischer) Ausgrenzung, Herabsetzung und der Aberkennung von Rechten er helfen kann, in Worte zu fassen, einzuordnen und zu verstehen, erscheint aus Bordieu‘scher Perspektive eben gerade zielführend. Rassismuskritik möchte dabei u. a. eine dichotome Wahrnehmung von Antirassist_innen auf der Seite der „Richtigen“ und intentional handelnden Rassist_innen auf der moralisch verwerflichen Seite aufbrechen, um verschiedene Formen von Rassismus besprechbar zu machen. Auch ich bin unweigerlich in Rassismus verstrickt, reproduziere, ohne dies zu intendieren, rassismusrelevante gesellschaftliche Wissensbestände und habe dies auch während meiner empirischen Feldforschungsphase wiederholt getan. Ich kann das, was ich versuche zu analysieren nur aus einer spezifischen Perspektive analysieren – einer Perspektive, die von meiner gesellschaftlichen Positionierung als weiße Person nicht trennbar ist. Aufgrund meines Privilegs, Rassismus im Alltag ausblenden zu können und mich als „normal“ und selbstverständlich im natioethno-kulturellen Hier zugehörig wahrnehmen zu können, wird es mir sicherlich nicht immer gelungen sein, mir vermeintliche Normalitäten und Selbstverständlichkeiten bewusst zu machen und die damit einhergehenden Markierungen von Abweichungen oder Abwertungen zu erkennen. Im Anschluss an YAMATO habe ich auch in meinem Forschungsprozess versucht, eine Haltung der Fehlerfreundlichkeit und der kontinuierlichen Selbstreflexion zu praktizieren: „Think, hard. [. . . ] Know that you’ll make mistakes and commit yourself correcting them and continuing on as an ally, no matter what. Don’t give up.“ (YAMATO 2001: 94)
Teil I Einleitung und theoretisch-analytische Perspektiven
1. Einleitung und Einbettung
Das zentrale Anliegen der vorliegenden Studie ist es, Perspektiven für eine reflexiv-kritische und emanzipatorische geographische Bildung in der Migrationsgesellschaft auszuloten, die an Zugehörigkeitserfahrungen und -aushandlungen sowie Orientierungen zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz von Schüler_innen anknüpfen. Mich interessiert, wie natio-ethno-kulturelle Ab- und Ausgrenzungen in der Migrationsgesellschaft in Bildungsprozessen hinterfragt und verschoben werden können. Migrationsgesellschaftliches Zusammenleben wird im Geographieunterricht im interkulturellen Lernen bearbeitet. Im Anschluss an den Cultural turn hat sich in der Geographiedidaktik eine kritische Auseinandersetzung mit Problemen bisheriger Ansätze des interkulturellen Lernens entwickelt. Daran anknüpfend wurden Vorschläge zur Weiterentwicklung des interkulturellen Lernens gemacht (B UDKE 2006, 2013; M ÖNTER 2013; ROHWER 1996). Ich setze mich aus postkolonialer theoretisch-analytischer Perspektive mit den Überlegungen zur Weiterentwicklung des interkulturellen Lernens auseinander und arbeite vor dem Hintergrund von Problemen bisheriger Ansätze Leerstellen der Vorschläge zur Weiterentwicklung heraus. Diese dienen als Anknüpfungspunkt für die vorliegende Studie. Ziel dieser Vorgehensweise bei der Auseinandersetzung mit dem Stand der Diskussion um interkulturelles Lernen ist es, ergänzende Perspektiven für die Weiterentwicklung auszuleuchten. Ausgehend von den Leerstellen der didaktischen Diskussion wird in einer Auseinandersetzung mit Otheringprozessen eine lohnende Perspektive für die Weiterentwicklung gesehen. Zudem erscheint es aus postkolonialer Perspektive sinnvoll, die migrationsgesellschaftliche Heterogenität und marginalisierte Perspektiven migrationsanderer Schüler_innen in der Diskussion um interkulturelles Lernen stärker sichtbar zu machen.
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In der geographiedidaktischen Diskussion gibt es allerdings auch skeptische Positionen bezüglich der didaktischen Eignung der bisherigen Vorschläge zur Weiterentwicklung auf der Grundlage des Konzepts der Transkulturalität und konstruktivistischen Kulturverständnissen. Während von einigen Geographiedidaktiker_innen Ansätze auf der Basis von Transkulturalität und konstruktivistische Annahmen als vielversprechend eingeordnet werden (B UDKE 2013; M ÖNTER 2013; ROHWER 1996), schätzen andere diese als zu komplex, abstrakt und nicht schüler_innengerecht ein (B ÖGE 2011; S CHEFFER 2011). Lebensweltliche Zugehörigkeitserfahrungen von Schüler_innen und deren Aushandlungen von natioethno-kultureller Differenz und Zugehörigkeit stellen dabei eine Leerstelle in der Diskussion dar. Angesichts dieser „Pattsituation“ erscheint es lohnend, lebensweltliche Erfahrungen, Orientierungen und Debatten von Schüler_innen empirisch zu erheben. Dies eröffnet einen konstruktiven Ausweg, da die Klärung, inwiefern theoretische Ansätze möglicherweise nicht schüler_innengerecht sind und ob sie an die Erfahrungsräume von Schüler_innen anschlussfähig sind, nicht länger vornehmlich von der jeweils zugrundeliegenden theoretischen Perspektive abhängt. Damit folge ich einem Vorschlag von V IELHABER (1998: 21), der dafür plädiert, das Verhältnis von Fachwissenschaft und Geographiedidaktik zu verschieben. Anliegen ist dann nicht in erster Linie eine Vermittlung zwischen inhaltlichem Gegenstand (Theorie) und didaktischer Umsetzung. Vielmehr geht es darum „zu überprüfen, welche [fach-]wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu beitragen könnten, Alltags- und Lebenswelten für die Schüler verstehbar und durchschaubar zu machen“ (V IELHABER 1998: 21). Der Vorschlag V IELHABERs (1998) zur Gestaltung empirisch-didaktischer Forschung wird in der vorliegenden Studie im Sinne eines rekursiven Vorgehens ausgestaltet: Zum einen werden ausgehend von der postkolonialen theoretischen Perspektive heterogefne Erfahrungen und Orientierungen von Schüler_innen analysiert. Zum anderen bleibt die Auseinandersetzung offen für weitere theoretische Erklärungsangebote. Es wird also ausgehend von den Perspektiven und Erfahrungen der Schüler_innen gefragt, inwiefern weitere theoretische Erklärungsangebote notwendig sind, um diese besser zu verstehen. Das Erkenntnisinteresse der Untersuchung kann daher in zwei aufeinander aufbauende Forschungsinteressen unterteilt werden. Erstens interessieren möglichst heterogene Erfahrungen und Zugehörigkeitsaushandlungen sowie Perspektiven von Schüler_innen zum Thema migrationsgesellschaftliche Differenz. Zweitens besteht daran anknüpfend das Interesse, Möglichkeiten der Veränderung von gesellschaftlich verfestigten Differenzschemata und Dominanzbeziehungen in Bildungsprozessen aufzuzeigen. In einem
Kapitel 1: Einleitung und Einbettung | 17
abschließenden Schritt werden die empirischen Erkenntnisse schließlich rückbezogen auf die geographiedidaktische Diskussion um interkulturelles Lernen.
1.1 V ERORTUNG
UND
P ERSPEKTIVEN
DER
S TUDIE
Mit dem Interesse an Bildungsprozessen in der Migrationsgesellschaft und an Erfahrungen, Perspektiven und Aushandlungen von Zugehörigkeit und migrationsgesellschaftlicher Differenz unter jugendlichen Schüler_innen knüpft die vorliegende Monographie an verschiedene disziplinäre und disziplinübergreifende Diskussionen an. Insbesondere verortet sie sich an der Schnittstelle geographiedidaktischer, kulturgeographischer und erziehungswissenschaftlicher Forschungen. Theoriebezogen bilden postkoloniale Theorien und Kritische Weißseinsforschung sowie Rassismuskritische Forschung das übergreifende Dach meiner Überlegungen. Während die theoretisch-analytischen (Kap. 2) und methodologischen Perspektiven (Kap. 4.1) an den entsprechenden Stellen im Buch ausführlich thematisiert werden, sollen an dieser Stelle die unterschiedlichen disziplinären Anschlüsse genauer betrachtet werden. Ausgangspunkt meiner Überlegungen ist das spezifische Interesse an der Verhandlung migrationsgesellschaftlicher Differenz im Geographieunterricht. Dabei klinke ich mich in die geographiedidaktische Diskussion um eine Reorientierung des interkulturellen Lernens für den Geographieunterricht (s. Kap. 3.5) ein. Ziel ist es, auf der Basis von empirischer Forschung und theoretischen Überlegungen eine Perspektive für eine Weiterentwicklung von geographischer Bildung in der Migrationsgesellschaft auszuloten und die geographiedidaktische Diskussion um interkulturelles Lernen zu ergänzen und weiterzuführen. Die Zugehörigkeitsaushandlungen, Erfahrungen und Orientierungen von Schüler_innen bilden den Ausgangspunkt für meine Überlegungen zur Gestaltung von geographischen Bildungsprozessen zum Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft. Mit dem theoretischen Fokus auf Ansätze der Postcolonial Studies, der Kritischen Weißseinsforschung und der Rassismuskritischen Forschung bettet sich diese Studie in jüngere erziehungswissenschaftliche Forschungen zu Migration und Bildung ein, für die eine reflexive Beschäftigung mit den Konzepten und Diskussionen der Forschung sowie der Bildungspraxis kennzeichnend ist (u. a. B RODEN & M ECHERIL 2010a; H AMBURGER et al. 2005; M ECHERIL 2015; M ESSERSCHMIDT 2008; ROSE 2012; S CHARATHOW & L EIPRECHT 2009). Gleichzeitig wurden insbesondere Postkoloniale Theorien auch in der kulturgeographischen Diskussion nach dem Cultural turn rezipiert. So haben sich kul-
18 | Zugehörigkeit und Rassismus
turgeographische Autor_innen verstärkt mit der Kritik von gesellschaftlich weit verbreiteten Kulturverständnissen auseinandergesetzt und Probleme aus der Perspektive des Cultural turn herausgearbeitet. Dabei spielt die Verknüpfung von Kultur, Identität und Raum in Prozessen des Verortens eine zentrale Rolle. Diese stellt einen analytischen Fokus bei der Auswertung meiner empirischen Daten dar. Erfahrungen, Perspektiven und Aushandlungsprozesse von Schüler_innen legen den Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Frage der Gestaltung von Bildungsprozessen fest. Angesichts dieser Zentralstellung lassen sich Bezüge nicht nur zu geographiedidaktischen Diskussionen um Lebensweltorientierung ziehen, sondern auch zu Ansätzen der Kritischen (feministisch-postkolonialen) Pädagogik (H OOKS 1994, 2010; M OHANTY 1989) und den Forschungsinteressen der Jugendgeographien (BAUER 2010; DWYER et al. 2016; S CHREIBER 2015; S KELTON & VALENTINE 1998). Schließlich möchte die Untersuchung auch einen Beitrag dazu leisten, den Ort Schule als einen Forschungsgegenstand stärker in das Blickfeld kulturgeographischer Forschung zu rücken. Insbesondere aus der Perspektive postkolonialer und politischer Geographien wurde Schule als ein gesellschaftlicher Ort beschrieben, an dem kulturelle Ab- und Ausgrenzungen verhandelt und potenziell reproduziert und reifiziert werden. Schule interessiert aus dieser Perspektive als einer von vielen gesellschaftlichen Orten, an denen hegemoniale Diskurse reproduziert und stabilisiert oder auch verschoben werden können. So schreibt L OSSAU über das Forschungsinteresse einer postkolonialen Geographie: „Im Vordergrund [der postkolonialen Geographie, Anm. d. Verf.] steht [. . . ] die Auseinandersetzung mit den Welt-Bildern des populären geographischen Diskurses [. . . ], die – vom Klassenzimmer bis zum Kanzleramt – in unzählige Topographien von Macht und Wissen eingelassen sind (L OSSAU 2000: 25).“
Meine Forschung verortet sich daher an der Schnittstelle von geographiedidaktischen Diskussionen, postkolonialen Geographien und Jugendgeographien sowie erziehungswissenschaftlichen Diskussionen zu Rassismuskritik und Kritischer Weißseinsforschung (s. Abbildung 1).
Kapitel 1: Einleitung und Einbettung | 19
Abbildung 1: Disziplinäre Verortungen der vorliegenden Studie (eigene Darstellung)
Geographiedidaktische Diskussion um interkulturelles Lernen, kritisch-emanzipatorische geographische Bildung
Migrationspädagogik/ Rassismuskritische Pädagogik, Kritische Weißseinsforschung
1.2 AUFBAU
DER
Postkoloniale Geographien, Jugendgeographien
U NTERSUCHUNG
Die Monographie gibt zunächst meine Annäherung an das Forschungsfeld wieder, welche ich zu Beginn mit den Begriffen ‚Kultur‘, ‚Identität‘ und ‚Raum‘ konturiert hatte. Hierfür setze ich mich in Kapitel 1.4 mit der Historie sozialwissenschaftlicher Bestimmungen des Begriffs ‚Kultur‘ auseinander, die bis heute in öffentlichen Diskursen wirksam sind. Die Begriffsreflexion rekonstruiert den diskursiven Kontext, in den die in dieser Studie eingenommene postkoloniale Perspektive auf Kultur, Identität und Raum argumentativ eingebettet ist und von dem sie sich abgegrenzt. Anschließend lege ich die postkolonialen Perspektiven dar, die für die vorliegende Untersuchung die theoretische Grundlage bilden (Kap. 2). Auch hier zeichnet der Aufbau des Kapitels die prozesshaften theoretischen Refokussierun-
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gen nach, die sich in Auseinandersetzung mit der empirischen Untersuchung im Laufe der Forschung ergeben haben. Zunächst werden daher postkoloniale Perspektiven auf Kultur, Identität und Raum ausgeführt (Kap. 2.1). Ergänzend werden schließlich auch Rassismuskritik und Kritische Weißseinsforschung herangezogen. Die rassismuskritische Perspektive (Kap. 2.2) ermöglicht es, die postkoloniale theoretische Perspektive mit Blick auf Rassismus als Analysegegenstand zu schärfen und den Kulturbegriff in der Auseinandersetzung zu dezentrieren. Sie kann als Teil postkolonialer Perspektiven begriffen werden, ebenso wie die Kritische Weißseinsforschung (Kap. 2.3). Letztere wird herangezogen, um die Selbstverständnisse derer, die in Deutschland als legitim zugehörig gelten, und aktiv immer wieder hergestellte Normalisierungen und Privilegien in den Blick zu bekommen. Im Anschluss an die theoretischen Perspektiven setze ich mich mit der Diskussion um interkulturelles Lernen in der Geographiedidaktik auseinander (Kap. 3). Ich referiere die inhaltlich-paradigmatische Entwicklung der Diskussion um interkulturelles Lernen (Kap. 3.1) und grenze ein, zu welchem thematischen Bereich der Diskussion die vorliegende Studie einen Beitrag liefert (Kap. 3.2). Anschließend skizziere ich die theoretische Heterogenität im Feld der geographiedidaktischen Auseinandersetzung mit interkulturellem Lernen (Kap. 3.3). In einem weiteren Schritt setze ich mich mit Problemen bisheriger Ansätze des interkulturellen Lernens auseinander (Kap. 3.4). Es folgt die Darlegung bisheriger Vorschläge zur Weiterentwicklung des interkulturellen Lernens (Kap. 3.5). Diese werden im Abgleich mit den herausgearbeiteten Problemen im Hinblick auf Leerstellen befragt, die als Anknüpfungspunkt für die empirische Auseinandersetzung in dieser Studie dienen. Schließlich werden auch kritische Positionen einbezogen, die die theoretischen Grundlagen der bisherigen Vorschläge zur Weiterentwicklung aus didaktischer Perspektive für ungeeignet halten. In Auseinandersetzung mit der „Pattsituation“ entwickle ich meine empirisch-didaktische Vorgehensweise (Kap. 3.6), bei der lebensweltliche Erfahrungen, Auseinandersetzungen und Perspektiven von Schüler_innen in den Mittelpunkt gestellt werden. Bevor ich zum empirischen Teil des Buches komme, lege ich in Kapitel 4 die methodologischen Grundlagen und das methodische Vorgehen bei der empirischen Untersuchung dar. Das Methodenkapitel schließt mit einer kritischen Reflexion des Vorgehens. Im Auswertungsteil der Studie werden zunächst drei heterogene Gruppendiskussionen mit Blick auf Zugehörigkeitserfahrungen und -aushandlungen sowie Orientierungen zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz ausgewertet. Die Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports werden dabei aufgrund ihrer Ähnlichkeit zusammengefasst (Kap. 5) und mit der Gruppendiskussion Schuluni-
Kapitel 1: Einleitung und Einbettung | 21
form (Kap. 6) kontrastiert. Daran anknüpfend nehme ich in Kapitel 7 eine bildungsbezogen gewendete Auswertung vor, bei der die Ergebnisse aller geführten Gruppendiskussionen im Hinblick auf reflexiv-transformative Potenziale für Bildungsprozesse befragt werden. Ich setze mich dabei erstens mit zentralen Mustern der Differenzkonstruktion und deren Bedeutung für die Gestaltung von Bildung auseinander. Zweitens stelle ich Irritationen von hegemonialen Wissensbeständen und die Frage, wie Irritationen für tiefgreifende Reflexionsprozesse produktiv gemacht werden können, in den Fokus. Drittens setze ich mich mit dem Potenzial widerständiger Umgangsweisen mit Othering- und Rassismuserfahrungen für kritisch-emanzipatorische Bildungsprozesse auseinander. Das Buch schließt ab mit einer Diskussion der zentralen Ergebnisse (Kap. 8). Diese gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil werden die Ergebnisse der analytischen Auswertung zusammengefasst, im zweiten Teil die der bildungsbezogenen Relektüre der Auswertungsergebnisse. Im dritten Teil werden schließlich die Ergebnisse der Untersuchung im Spiegel der geographiedidaktischen Diskussion um interkulturelles Lernen diskutiert.
1.3 L ESEHILFEN In diesem Buch nutze ich bestimmte begriffliche Konstruktionen, die an dieser Stelle in ihrer Bedeutung erläutert werden sollen, um den Lesefluss zu erleichtern. Die begriffliche Konstruktion ‚natio-ethno-kulturell‘ (M ECHERIL 2003) nutze ich im Anschluss an (M ECHERIL 2003: 24), um das Verschwimmen der Unterscheidungsmuster Nation, Ethnizität und Kultur in gesellschaftlichen Diskursen über migrationsgesellschaftliche Differenz anzuzeigen. Gegenüber der geläufigeren Bezeichnungspraxis, von kultureller Differenz oder Zugehörigkeit zu sprechen, zeigt ‚natio-ethno-kulturell‘ an, dass unbestimmte „Wir-Einheiten“ für Vorstellungen von Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit konstitutiv sind (M E CHERIL & H OFFARTH 2006: 230). Den Begriff der Migrationsgesellschaft ziehe ich dem Begriff der Einwanderungsgesellschaft vor, da ‚Migration‘ allgemeiner ist als ‚Einwanderung‘. ‚Migrationsgesellschaft‘ ermöglicht es, auf eine Vielzahl von gesellschaftlichen Phänomenen zu referieren und ist nicht eingeschränkt auf eine Vorstellung eines einmaligen Wanderungsprozesses (M ECHERIL 2010c: 11). Ebenfalls anknüpfend an M ECHERIL (2010c: 17) verwende ich in diesem Buch den Begriff ‚Migrationsandere‘. ‚Migrationsandere‘ fungiert als begriffliche Konstruktion, mit der Prozesse der gesellschaftlichen Herstellung von als natioethno-kulturell „Andere“ geltenden Menschen in den Blick genommen werden.
22 | Zugehörigkeit und Rassismus
Sie stellt eine Möglichkeit dar, die Konstruktion der gesellschaftlich bedeutsamen dichotomen Unterscheidung von „Autochthonen“ auf der einen Seite und „Ausländer_innen/Migrant_ innen/Menschen mit Migrationshintergrund“ auf der anderen Seite terminologisch zu fassen. Die Verwendung des Begriffs ‚Migrationsandere‘ soll betonen, dass diese Unterscheidung hier analytisch als eine relationale Konstruktion in den Blick genommen wird, die nicht an sich, also nicht vor der Unterscheidungspraxis existent ist. Zur Kennzeichnung der gesellschaftlich bedeutsamen Konstruktion der „Autochthonen“ verwende ich den Begriff ‚weiße Deutsche‘. Weiß weist dabei nicht auf eine (Haut-)Farbe hin, sondern wird als gesellschaftlich (re-)produzierte und bedeutsam gemachte Konstruktion verstanden, die reale Folgen hat (P IESCHE 2005: 16). Anknüpfend an E GGERS et al. (2005) setze ich die Bezeichnung weiß kursiv und schreibe sie klein, um ihren Konstruktcharakter zu markieren.
1.4 KONTUREN DES F ORSCHUNGSFELDES : K ULTUR , I DENTITÄT UND R AUM How does one represent other cultures? What is another culture? Is the notion of a distinct culture (or race, or religion, or civilization) a useful one, or does it always get involved either in selfcongratulation (when one discusses one’s own) or hostility and aggression (when one discusses the “other”)? (S AID 2003: 325, Hervorh. im Original)
In diesem Kapitel nähere ich mich dem Forschungsfeld an, welches zunächst mit den Begriffen Kultur, Identität und Raum konturiert wird. Hierfür setze ich mich mit der Historie sozialwissenschaftlicher Bestimmungen des Begriffs ‚Kultur‘ auseinander, die bis heute in öffentlichen Diskursen wirksam sind und gesellschaftliche Wirklichkeit strukturieren. Die Begriffsreflexion1 rekonstruiert den diskursiven
1 | Ziel ist hier nicht eine historisch genaue Begriffsstudie samt Vorgeschichte und Bedeutungsverschiebungen. Vielmehr soll die Unterscheidungsfunktion des Kulturbegriffs verdeutlicht werden. Die Darstellung ist dadurch notwendigerweise selektiv und kann auf historische Kontexte nur einen sehr unvollständigen Blick werfen. Umfassendere Darstellungen finden sich z. B. bei L UHMANN (1995), R ECKWITZ (2000) und S TRAUB (2007).
Kapitel 1: Einleitung und Einbettung | 23
Kontext, in den die in dieser Studie eingenommene postkoloniale Perspektive auf Kultur, Identität und Raum argumentativ eingebettet ist und von dem sie sich abgegrenzt. Das obige Zitat aus dem Werk „Orientalism“ des postkolonialen Theoretikers Edward S AID beschreibt diese suchende Annäherung an das Forschungsfeld und die Einnahme einer kritisch-reflexiven Perspektive auf dieses. Welches Verhältnis hat ‚Kultur‘ zur Abgrenzung von anderen Kulturen und kann ‚Kultur‘ überhaupt jenseits von aktiver Differenzierung gedacht werden? Welches Verständnis von ‚Kultur‘ kann mit Bezug auf das Forschungsinteresse der Untersuchung und die Auswertung der empirischen Daten erkenntnisleitend sein? 1.4.1 Kultur als Ordnungsschema Seine noch für das heutige Verständnis relevanten Bedeutungen erhielt der Kulturbegriff ab dem ausgehenden 18. Jahrhundert (R ECKWITZ 2000: 65; L UHMANN 1995: 32–33)2 . In einer historischen Begriffsanalyse stellt L UHMANN den Vergleichscharakter von Kultur heraus. Er beschreibt für das 18. Jahrhundert die Vertiefung des Interesses an einer vergleichenden Perspektive (L UHMANN 1995: 35–36). „Vergleiche generieren, rückblickend gesehen, Kultur“ (L UHMANN 1995: 49). Immer dann, wenn Besonderheiten vergleichend festgestellt werden entstehe also – und zwar erst durch diese Beobachtungsform gleichermaßen nachträglich – Kultur. Diesen Gedanken erläutert L UHMANN unter anderem am Beispiel der Verzierungen eines Gefäßes. Die Äußerung von Überraschung in Form von Bewunderung oder Staunen hingegen, die nicht die Operation des Vergleichens vollzögen, erzeugten keine Kultur. Kultur wird an die Operation des Vergleichs gebunden. Dadurch, dass ein Begriff zur Verfügung stehe, werde auch über Kultur kommuniziert. Dies generiere neue Phänomenzusammenfassungen und damit wieder neue Vergleichsmöglichkeiten (L UHMANN 1995: 48–49). Mit dem Kulturbegriff wurde es möglich, grundlegende Abgrenzungen in das moderne Weltbild einzuziehen, die in Tabelle 1 dargestellt werden.
2 | Bereits in der Antike wurde der Begriff verwendet, allerdings nicht als Substantiv, sondern jeweils im Genitiv, als „Kultur-von-etwas“ (BAECKER 2012: 61) auf verschiedene Bereiche bezogen (z. B. Agrikultur). Verschiedene Darstellungen zur Geschichte des Kulturbegriffs sehen die erstmalige Verwendung eines globalen Kulturbegriffs, der sich auf die Lebensform von Menschen bezieht, im 17. Jahrhundert als Vorbereitung für den modernen vergleichenden Begriff (u. a. BAECKER 2012: 64; W ELSCH 1998: 46).
24 | Zugehörigkeit und Rassismus
Tabelle 1: Drei Bedeutungsebenen des ordnenden Kulturbegriffs, eigene Darstellung nach B OECKLER (2005: 24–25) Kultur vs. Natur
Kultur vs. Nicht-Kultur
Kultur vs. Kultur
Über den Kulturbegriff
Kultur im Sinne von
Abgrenzung der eigenen
wird die
Hochkultur wird
Kultur von anderen
Selbstdistanzierung des
abge-grenzt von
Kulturen
Menschen von der Natur
Kulturlosigkeit
reflexiv vollzogen
B OECKLERs (2005: 24) Systematik folgend seien hier die Unterscheidungen von Kultur und Natur, von Kultur im Sinne von Hochkultur versus Nicht-Kultur und die Abgrenzung der eigenen Kultur von anderen Kulturen genannt. Diese drei Bedeutungsdimensionen sind nicht getrennt voneinander zu denken. Vielmehr überschneiden sie sich in den im Folgenden dargelegten Kulturkonzepten häufig. In der modernen Semantik spielt Kultur seit dem 18. Jahrhundert in verschiedenen geographischen Ansätzen eine Rolle (WARDENGA 2005: 21). Grundlegend geprägt wurde der moderne Kulturbegriff von Johann Gottfried H ERDER, u. a. in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784 bis 1791) (S TRAUB 2007: 12). Dieser sehr weit gefasste Kulturbegriff bezieht sich „auf die Gesamtheit des menschlichen Wirkens an sich selbst, an anderen Menschen und an der umgebenden Natur, später mehr und mehr auf die Ergebnisse in Form des kultivierten Menschen, der kultivierten Natur und schließlich auch der Kulturprodukte.“ (F ISCH 1992: 680)
In diesem Zitat scheinen die drei genannten grundlegenden abgrenzenden Bedeutungsdimensionen des Kulturbegriffs auf. Erstens wird Kultur von Natur unterschieden und als Kategorie gedacht für das „Wirken“ der Menschen – auch an der Natur. Zweitens findet sich der Hinweis auf die Ergebnisse menschlichen Wirkens „in Form des kultivierten Menschen“. In dieser Bedeutungsdimension wurde mit Kultur Bildung und Geistigkeit assoziiert und der Kulturbegriff erfüllte eine gesellschaftliche Differenzierungsfunktion über die Abgrenzung von „kultiviert“ und „unkultiviert“ (B OECKLER 2005: 24–25). Die dritte Unterscheidung von Kultur versus Kultur gründet auf einem weiten Kulturverständnis, wie es im Zitat dargelegt wird. Zentral ist für diese Unterscheidung von Kultur versus Kultur, dass alle genannten Aspekte in ihrer Gesamtheit unter dem Kulturbegriff zusammengefasst werden, der dann eine Einheit der Lebensform eines Kollektivs bezeichnet, die
Kapitel 1: Einleitung und Einbettung | 25
sich im Laufe der Geschichte verändere. Damit werden eine geschichtliche Perspektive und der Blick auf Kollektive für das moderne Kulturverständnis zentral (S TRAUB 2007: 12–13). Auch wenn H ERDER selbst Kultur nicht im Plural verwendet, so führt doch sein Kulturverständnis zu einer Perspektive, die Unterschiede zwischen Kulturen im Plural beleuchtet. Er versteht Kultur holistisch als eine Einheit, die die gesamte menschliche Lebensweise umfasst3 (R ECKWITZ 2000: 73). Diese bindet er in einem nach innen homogenisierenden Verständnis an ein Kollektiv, meist an ein „Volk“, und betont die Heterogenität und Vielfalt menschlicher Lebensformen (W ELSCH 1998: 46–47). Damit wird eine als ganzheitliche Einheit verstandene Kultur per Vergleich abgrenzbar von anderen Kulturen und kann „in ihren mit anderen Kulturen gemeinsamen und ihren individuellen Merkmalen nur im Zuge solcher Unterscheidungen qualitativ bestimmt und beschrieben werden“ (S TRAUB 2007: 13). Charakteristisch für dieses Kulturverständnis ist also die Homogenisierung einer spezifischen Kultur, die nach außen klar von anderen abgrenzbar konzeptualisiert und überhaupt erst über Unterscheidungen zu diesen näher bestimmbar wird. Drei Charakteristika bestimmen bei H ERDER Ethnien und Nationen: eine kollektive Identität, der Radius sozialer Interaktion sowie eine gemeinsam geteilte Kultur. Diese sind als deckungsgleich gedacht (W IMMER 2008: 59). Durch die oft synonyme Verwendung von Volk und Nation setzt er die Außengrenzen von Kulturen mit denen von Nationen in eins (S ÖKEFELD 2001: 127)4 . Parallel entwickeln sich zu dieser Zeit die Nationalstaaten in Europa, deren Institutionen die von H ERDER so betonte Idee von der Nationalkultur in ihrer Vereinheitlichungsleis-
3 | Damit umfasst der Begriff auch Soziales und zieht die Begriffe Kultur und Gesellschaft zusammen zu einem Kulturbegriff. Während der holistische Kulturbegriff sowohl bei H ERDER als auch in der modernen Ethnologie in einer vergleichenden Perspektive zur Beobachtung von Unterschieden zwischen eigener Kultur und anderen Kulturen führt, konstruieren andere Überlegungen auf der Grundlage dieses Verständnisses den Antagonismus von Kultur und Natur (R ECKWITZ 2000: 75-76). 4 | Auch wenn H ERDER meist von der Lebensweise eines „Volkes“ spricht, benennt er auch zum Teil größere Einheiten wie die „abendländische Kultur“ bzw. auch kleinere Einheiten wie die einer regionalen oder lokalen Kultur innerhalb einer nationalen bzw. „Volkskultur“ (S TRAUB 2007: 13).
26 | Zugehörigkeit und Rassismus
tung praktisch umsetzen, indem sie beispielsweise Nationalsprachen festschreiben5 (F ISCH 1992: 711–712; S ÖKEFELD 2001: 128). Auch in dieser Verwendung – sowohl in ethnologischen wie auch geographischen Diskussionszusammenhängen6 – ist das Vergleichsmoment des Begriffs, der auf die Differenz zwischen unterschiedlichen Kulturen verweist, zentral. Die Verwendung der Pluralform von Kultur setzte in der Ethnologie erst mit dem kulturanthropologischen Relativismus im 20. Jahrhundert ein. Zuvor war bei einem Konzept von Kultur im Singular die Unterschiedlichkeit von Lebensformen unter Rückgriff auf evolutionistische und rassistische Ideen sowie auf unterschiedliche naturräumliche Ausstattungen erklärt worden (B OECKLER 2005: 25). Die euro-amerikanische Kultur war als Maßstab für die Entwicklungshöhe und damit auch als Ziel für den Entwicklungsprozess aller anderen Lebensformen gesetzt. So versteht beispielsweise der Geograph Alfred H ETTNER in seinem Werk Der Gang der Kultur über die Erde (1923 erstmals veröffentlicht ) Kultur als Mittel der Emanzipation des Menschen von der Natur. H ETTNER ist ein Vertreter der evolutionistischen Kulturstufentheorie (M EYER 1999: 151). Er entwirft eine Regionalisierung der Welt, die diese in verschiedene höhere und niedrigere Kulturstufen unterteilt, wobei weniger der Vergleich der einzelnen Kulturen untereinander das Ziel darstellt. Vielmehr steht der Entwicklungsprozess hin zu einer Kultur – der europäischen – im Mittelpunkt. Grundlegend für H ETTNERs globalgeschichtliche Perspektive ist ein teleologischer Geschichtsbegriff. Ausgehend von einer hierarchischen Einteilung von räumlich gedachten Kollektiven entlang unterschiedlicher Kulturstufen wird durch die Fortschrittsbrille eine Entwicklung hin zu einer Weltgesellschaft erklärbar. Diese ist als europäisch geprägt gedacht, wobei auch einige Elemente anderer Kulturen mit aufgenommen werden (WARDENGA 2005: 23–24). Räumliche Unterschiede werden im evolutionistischen Konzept als zeitliche Differenz interpretiert: „Spatial differences are reconvened as temporal
5 | S TRAUB (2007: 13) bemerkt, H ERDER als Wegbereiter des (Kultur-)Nationalismus zu sehen, sei dennoch zu einseitig und reduktionistisch, da dieser sich immer wieder kritisch mit Eurozentrismus und Nationalismus auseinandersetzte. Für eine ausführliche Darstellung der Ambivalenz der politischen Ausrichtung des H ERDERschen Denkens siehe S CHULTZ (1998: 130–131). 6 | Die Diskussionszusammenhänge Ende des 19. und Anfang des 20 Jahrhunderts gingen über heutige Disziplingrenzen hinaus (S TÖBER 2001b: 142). WARDENGA zufolge ist der Kulturbegriff seit dem 18. Jahrhundert in der Geographie in unterschiedlichen Ansätzen präsent, wenngleich er sich auch im deutschsprachigen Raum lange nicht als Bezeichnung für einen eigenständigen Bereich Kulturgeographie durchgesetzt hat (2005:21–22).
Kapitel 1: Einleitung und Einbettung | 27
sequence.“ (M ASSEY 1999a: 13). Dies geht mit einer Hierarchisierung einher. Doch trotz dieser Entwicklungsperspektive bleiben bei H ETTNER Unterschiede bestehen, für die klimatische und rassentheoretische Faktoren als der Angleichung entgegenwirkend herangezogen werden (M EYER 1999: 152). Friedrich R ATZEL knüpft die Idee des kulturellen Fortschritts an räumliche Expansion und liefert so eine Rechtfertigungsgrundlage für die europäische Kolonialisation (S CHULTZ 1998: 136). Die Pluralisierung des Kulturbegriffs erfolgte Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem relativistischen Zugang zu Kultur – in der US-amerikanischen Ethnologie maßgeblich unter Franz B OAS (S ÖKEFELD 2001: 121). Das Kulturverständnis des anthropologischen Relativismus kann als kritische Reaktion auf das evolutionistische Verständnis gelesen werden, das Gesellschaften auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen auf dem Weg einer zu erreichenden Kultur sah. Dem letzteren Verständnis wurde das eines historischen Partikularismus entgegengesetzt, nach welchem jede Kultur eine historisch gewachsene, unverwechselbare Einheit sei. Kulturen seien demnach immer nur relativ, auf sich selbst bezogen zu betrachten und nicht auf ein außerhalb dieser stehendes allgemeines Bewertungskriterium hierarchisch einteilbar. Auch in diesem Verständnis ist eine Kultur als homogenes, ganzheitlich-organisches System gedacht, das alle Aspekte der Lebens- und Sozialform einer Gruppe umfasst – zusammengehalten durch ein spezifisches Werteund Normensystem. Diese werden von den in die Kultur „hineingeborenen“ Individuen über Enkulturation erworben7 . Zentral für dieses Verständnis ist weiterhin die Deckungsgleichheit einer Kultur mit einem stabil vorgestellten Raum (B OE CKLER 2005: 26). Als Beispiel sei hier das Konzept der Kulturerdteile angeführt, für das der Geograph Albert KOLB (1963) Anfang der 1960er Jahre auf dieses Kulturverständnis zurückgreift. KOLB führt mit diesem Konzept eine stärker kulturgeographische Regionalisierung in eine zu der Zeit physisch-geographisch geprägte Länderkunde ein. Er unterscheidet anhand des Kriteriums der Individualität von jeweils historisch entwickelten Kulturen zehn Kulturerdteile, die er als Raumindividuen versteht (WARDENGA 2005: 25–26). KOLB entwirft so das Bild voneinander getrennter räumlicher Einheiten, gekennzeichnet durch den „einmaligen inneren Zusammenhang aller Kulturelemente [. . . ], auch jener, die nicht landschaftswirksam werden, aber zum Wesen der betreffenden Kultur gehören“
7 | Über die Betonung des Erwerbs kultureller Unterschiede via Enkulturation in voneinander unterscheidbaren Kulturen grenzt sich dieses Verständnis ab von biologischen Begründungsschemata für Unterschiede zwischen menschlichen Gruppen im biologischen Rassismus (S ÖKEFELD 2001: 122).
28 | Zugehörigkeit und Rassismus
(KOLB 1963: 3). Zwei Aspekte sind an diesem Zitat bedeutsam: Erstens wird das holistische Verständnis von Kultur als eine Einheit deutlich, die über den Zusammenhang von Kulturelementen charakterisiert ist; zweitens wird hier eine Verbindung von Kultur und Raum vollzogen, die über diejenigen Kulturelemente gedacht wird, die landschaftsprägend wirken. Dem länderkundlichen Verständnis gemäß bildet bei KOLB zudem die Verbindung landschaftswirksamer Naturund Kulturelemente die einzigartige Einheit der Raumindividuen heraus (S TÖBER 2001b: 140), womit auch Natur als Teil einer kulturräumlichen Einheit verstanden wird. Charakteristisch für die skizzierte Semantik des Kulturbegriffs in H ERDERscher Tradition ist ein Verständnis von Kultur als räumlich abgrenzbare und nach innen zusammenhängende Einheit. Eine Kultur wird erst über die Beobachtung von Unterschieden zu anderen Entitäten – also qua Vergleich – abgrenzbar und in ihren Spezifika benennbar. WARDENGA beschreibt diese Funktionsweise der Beobachtungsfolie Kultur folgendermaßen: „Wenn Menschen oder die von ihnen geschaffenen Artefakte durch die Brille der ‚Kultur‘ beobachtet wurden, hieß dies automatisch: Ziehe einen Vergleich! Stelle Unterschiede fest! Beschreibe die Differenzen!“ (WARDENGA 2006: 31)
Der Vergleich muss allerdings nicht auf den ersten Blick als solcher erkennbar sein. Auch die Bezeichnung und Beschreibung einer Kultur bedeutet gleichzeitig einen impliziten Kulturvergleich, der damit einhergeht und eine Differenzierungsleistung erbringt, die ‚Eigenes‘ von ‚Anderem‘ trennt. „Kulturen, ihre Ähnlichkeiten und Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Besonderheiten nehmen stets in einem ›Spiel‹ der Differenzen bzw. der aktiven Differenzierung Gestalt an und sind nur in diesem [. . . ] Spiel zu erkennen“ (S TRAUB 2007: 18). 1.4.2 Kritische Reflexion des Kulturbegriffs Im Zuge der kulturtheoretischen Wende wurden die skizzierten Auffassungen von Kultur hinterfragt. Aus reflexiver Perspektive wird ein Verständnis von Kultur als gegenständliche, abgrenzbare Einheit als eine gedankliche Konstruktion und somit als ein mögliches Verständnis – neben anderen möglichen Verständnisses – gesehen. „Mit einer derartigen reflexiven Wende wird Kultur als umschreibbare Sinneinheit zugleich als Begriff historisiert und als soziale Größe virtualisiert. Die Vorstellung von Welt als
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Mosaik einzelner Sinneinheiten (discrete cultures) zeigt sich als moderne und insofern zeitbedingte und vorübergehende Idee.“ (F UCHS 1998: 119)
Der Essentialismus des modernen Kulturverständnisses wurde reflexiv zu einem zentralen Kritikpunkt. Modernen Kulturkonzepten wird vorgeworfen, sie betrachteten Kulturen als real existierende Einheiten und verdinglichten sie dadurch, statt sie als vor dem Hintergrund spezifischer Forschungsperspektiven und Erkenntnisinteressen geschaffene Produkte kenntlich zu machen (S CHMIDT-W ULFFEN 2008). Stattdessen wird die Kontingenz und Konstruiertheit von Kultur betont, die immer auch andere Interpretationen zulässt (F UCHS 1998: 118). L UHMANN zufolge liegt bereits in der vergleichenden Intention des Beobachtungsschemas ‚Kultur‘ der „Geburtsfehler der Kontingenz“ (1995:48). Was jeweils verglichen wird, ist kontingent und daher sind immer auch andere Vergleiche möglich. Das Homogenitätspostulat des modernen Kulturbegriffs blendet durch die Fokussierung auf die spezifischen Merkmale einer Kultur – durch deren Unterscheidung nach außen, zu anderen Kulturen – die interne Heterogenität der Lebensformen aus. Damit homogenisiert der Kulturbegriff nach innen. Kritiker_innen halten dagegen, dass alle Gesellschaften durch „intrakulturelle Variation“ (W IM MER 2005: 28) gekennzeichnet seien. Die moderne Vorstellung von Kulturen als integrierte Ganzheiten betont demgegenüber einen vermeintlich einmaligen inneren Zusammenhang und eine externe Abgrenzung bis hin zur Unvereinbarkeit und Inkommensurabilität unterschiedlicher Kulturen (S TRAUB 2007: 10). Vor der Folie dieser Betonung kultureller Verschiedenheit funktioniert neben dem Konflikt- auch das Bereicherungstopos (andere Kulturen werden als Bereicherung für die eigene Kultur gesehen), auf die nicht zuletzt im Zuge aktueller politischer, öffentlicher oder auch schulischer Diskurse um „die Binnenverhältnisse in multikulturellen Gesellschaften“ (S TRAUB 2007: 10) vielfach zurückgegriffen wird. Relationale Ansätze halten diesem Verständnis entgegen, dass es keine reine, räumlich abgeschlossene kulturelle Tradition gebe. Jede Kultur gründe durch die zugrundeliegende Vergleichsperspektive in ihrem „Eigenen“ immer auf dem „Anderen“, das dem „Eigenen“ damit zur Stabilisierung diene. „Kulturen sind – und waren auch früher – keine hermetisch geschlossenen Gebilde“ (M EYER 1999: 159). An die Kritik eines Verständnisses von Kultur als ontologische Tatsache schließt die Problematisierung des Konzepts von Handlung bzw. der Rolle der Individuen im modernen Kulturverständnis an. Wird die Existenz von Kulturen als vorsprachliche Wirklichkeit gedacht, gerät Kultur zur Ursache der Differenz selbst, worin eine Entindividualisierungsgefahr liegt (S ÖKEFELD 2001: 132). Individuen werden nach diesem Verständnis in eine Kultur hineinsozialisiert und
30 | Zugehörigkeit und Rassismus
handeln entsprechend der kulturellen Regeln. Damit sind Individuen und soziale Prozesse durch die Kultur gewissermaßen vorstrukturiert, Individuen als „Träger_innen“ einer Kultur „entindividualisiert“ (S ÖKEFELD 2001: 122–123). Ihnen wird keine Fähigkeit zu reflexiver Auseinandersetzung mit und kritischer Ablehnung der kulturellen Regeln zugesprochen. Differenz kann so reifiziert und zementiert werden, indem ihr Konstruktcharakter unsichtbar bleibt (P OTT & P ÜTZ 2006: 145). Kritisiert wurde zudem, dass das Kulturkonzept in seiner Unterscheidungsfunktion zur Abgrenzung eines „Eigenem“ von einem „Anderen“ führt und durch die Reifizierung von Differenz als etwas vor der Beschreibung Existentes „Andere“ erst zu „Anderen“ macht (S AID 2003: 325). Die Betonung der Grenze zwischen eigener und anderer Kultur und die Unsichtbarkeit der relationalen Beziehung lassen dabei die „Anderen“ als Gegenteil von mir, als absolut anders erscheinen. Dadurch, dass der_die „Andere“ durch das Beobachtungsschema Kultur als mein „Gegenstück“ konstruiert wird, wird er_sie ge-andert und aus meiner „Sphäre“ ausgegrenzt. „‚Kultur‘ impliziert dann eine zugehörigkeitsspezifische Unterscheidung von ‚Innen‘ und ‚Außen‘, die Ab- und Ausgrenzungen ermöglicht und nahelegt, wenn nicht sogar erzwingt.“ (H AUSENDORF 2002: 25)
Wird der Konstruktionsprozess dann ausgeblendet, erscheinen der_die „Andere“ und die Differenz zwischen uns als ontologische Tatsachen. Es findet also eine „komplexitätsreduzierende Festschreibung und Reifikation des Anderen“ (P OTT & P ÜTZ 2006: 144) statt, an der_die „Anderen“ nicht selbst teilhaben. Ihnen wird das Anderssein zugeschrieben. Für diesen Prozess hat sich im Anschluss an postkoloniale Theorien die Bezeichnung Othering etabliert (C ASTRO VARELA & M ECHERIL 2010: 42). Vor dem Hintergrund der Kontingenz wird auch ersichtlich, dass wissenschaftliche Repräsentationen kultureller Wirklichkeiten untrennbar mit Machtfragen zusammenhängen (L OSSAU 2003: 104). Gibt es nicht die „Wirklichkeit per se“ (L OSSAU 2003: 104), rückt die politische Frage „nach den Geltungsansprüchen und deren Autorisierung“ (M EIER 1998: 107) ins Blickfeld. Dies gilt neben der Ebene der wissenschaftlichen Repräsentation auch für die gesellschaftliche Konstruktion von Kulturen. Moderne Kulturkonzepte, wie sie für die Geographie oder die Ethnologie diskutiert wurden, ignorieren diese Machtrelationen (B OECKLER 2005).
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Dass Kulturen im modernen Verständnis mit räumlichen Einheiten gleichgesetzt werden und diese Territorien als stabil gedacht werden, wird als „Verräumlichung von Kultur“ (G LASZE & T HIELMANN 2006a: 3; L OSSAU 2002; S TÖBER 2001b; B OECKLER 2005) kritisiert. Diese Verräumlichung unterstreicht noch den Entwurf als stabile und klar abgrenzbare Einheit, innerhalb derer alle Elemente durch die gleichen Eigenschaften gekennzeichnet sind, und damit nicht zuletzt die Essentialisierung oder Verdinglichung von Kulturen. Die Erklärung dafür, dass verräumlichte Kulturen real erschienen, sieht L OSSAU im „Prinzip der Verortung“ (L OSSAU 2011: 656) im Raum, bei dem die Konstruiertheit bzw. der Prozess der Verräumlichung selbst aus dem Blickfeld gerät. Damit fördert Raum „als territoriale Bezugsgröße der Gesellschaft durch die Bildung von Grenzen Formen der dichotomen Strukturierung“ (G EBHARDT et al. 2003: 18–19). Verständnis für die Komplexität menschlicher kultureller Praktiken wird erschwert (G LASZE & M EYER 2008: 60). Stellvertretend für andere sei hier auf W ELSCH (1998: 48) verwiesen, der im Hinblick auf diese Abgrenzungen binären Musters insbesondere die nationalstaatlich-territoriale Fundierung von Kulturen als normativ und politisch höchst problematisch bezeichnet. Modernen Kulturverständnissen wird zudem vorgeworfen, sie übersähen kulturellen Wandel (S CHMIDT-W ULFFEN 2008: 14). Werden Kulturen als wesenhafte, gegebene Einheiten gedacht, bestehe die Gefahr, dass die Veränderbarkeit und Kontingenz kultureller Praxis nicht wahrgenommen werde (G LASZE & M EYER 2008: 50).
2. Postkoloniale theoretisch-analytische Perspektiven
Postkoloniale Theoretiker_innen lenken den Blick auf Brüche und Überlappungen als die Stellen, an denen die im modernen „Ethos der Ordnung“ (R EUTER 2004: 241) vermeintlich getrennten kulturellen Einheiten produziert werden. Das bedeutet, dass sie sich von einem essentialistischen, homogenisierenden Kulturverständnis abgrenzen, das Kultur an ein Kollektiv bindet. Zudem rückt das mit dieser Kulturkonzeption einhergehende Verständnis von kultureller Differenz ins Zentrum der Auseinandersetzung (R EUTER 2004: 241). Sowohl Kultur als auch kulturelle Grenzen werden nicht als gegeben betrachtet, sondern vielmehr als Bereiche der Aushandlung von Differenz (K ERNER 2012: 127). Eine postkoloniale theoretische Perspektive einzunehmen ist im Hinblick auf das Anliegen der Untersuchung und die Auswertung des empirischen Materials vielversprechend. Mich interessiert, wie natio-ethno-kulturelle Ab- und Ausgrenzungen in der Migrationsgesellschaft in Bildungsprozessen hinterfragt und verschoben werden können. Daher muss die Analyseperspektive in der Lage sein, kulturelle Grenzziehungen, Othering und Verortungen als Konstruktionen und damit als veränderbar zu verstehen. Darüber hinaus ermöglicht die postkoloniale Perspektive es auch, an gesellschaftlich wirkmächtige Unterscheidungen, Homogenisierungen und Zuschreibungen von Nicht-Zugehörigkeit zum „deutschen Wir“ anzuknüpfen. Sie erlaubt eine machtsensible Analyse von Prozessen der Stabilisierung und Irritation natio-ethno-kultureller Grenzziehungen. Dies ist im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse der Studie in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Eine bildungsbezogene Zielsetzung der Dekonstruktion von Ab- und Ausgrenzungen, die deren gesellschaftliche Wirkmächtigkeit ignoriert, läuft zum einen Gefahr an potenziell lebensweltlich relevanten Exklusionserfahrungen von Schüler_innen vorbei zu gehen. Zum anderen erscheint auch für Bildungsprozesse mit dem Ziel der
34 | Zugehörigkeit und Rassismus
Dekonstruktion die Reflexion von Machtverhältnissen notwendig, in die natioethno-kulturelle Grenzziehungen eingebettet sind und zu deren Stabilisierung sie beitragen. Auf diese Weise wird es möglich, potenzielle Hindernisse bei der Dekonstruktion von Imaginationen des „Eigenen“ und „Anderen“ und Prozessen der Zuschreibung von „Anderssein“ in die Überlegungen mit einzubeziehen. Postkoloniale Theorien bilden für das vorliegende Buch zum einen die theoretische Grundlage, von der aus meine konzeptionellen Überlegungen zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz in geographischer Bildung erfolgen. Zum anderen stellen postkoloniale Theorien das Analysevokabular für den empirischen Teil der Monographie bereit. Die postkolonialen Analysebegriffe werden zum Verständnis der Zugehörigkeitsaushandlungen von Schüler_innen und deren Umgangsweisen mit natio-ethno-kultureller Differenz herangezogen.
2.1 P OSTKOLONIALE P ERSPEKTIVEN I DENTITÄT UND R AUM
AUF
K ULTUR ,
Im Folgenden führe ich die dieser Studie zugrundliegenden postkolonialen Perspektiven auf Kultur, Identität und Raum aus. Kultur, Identität und Raum stellen zentrale Analysekategorien der Untersuchung dar und sind auf vielfältige Art und Weise miteinander verknüpft (M C D OWELL 1994: 147). Kultur als Beobachtungsfolie für Differenz hängt eng mit dem Begriff der Identität zusammen. Der Vergleich von „Eigenem“ und „Anderem“ lässt über die Folie der Differenz eine „eigene“ kulturelle Identität aufscheinen. Über die Abgrenzung vom „Anderen“ und die Ausgrenzung des „Anderen“ aus meiner Sphäre erscheint im Spiegel des „Anderen“ das „Eigene“. Kultur als kommunikatives Feld für die alltägliche Aushandlung von Zugehörigkeit und Ausgrenzung spielt damit eine zentrale Rolle für die Konstruktion vorgestellter Gemeinschaften (L OSSAU 2011: 654–655) – im Anschluss an A NDERSON (2016) „imagined communities“1 genannt. Die räumliche Verortung bedeutet, dass nicht lediglich eine „Wir-“ und eine „Sie-Gruppe“ unterschieden wird, sondern vielmehr eine hier verortete „Wir-Gruppe“ von einer
1 | Ich verwende den Begriff der imagined communities anstelle des Begriffs der kollektiven Identität. Letzterer ist wissenschaftlich – zumindest in einem essentialistischen Verständnis – umstritten, u. a. aufgrund seiner Funktionsweise als ein- und ausgrenzender Begriff, der Unterschiede oder bestimmte Werte als natürlich und unverrückbar ansieht. Dadurch entzieht der Begriff den Unterschieden oder Werten individuelle Entscheidungen und blendet deren Veränderbarkeit aus (S TRAUB 2004: 293).
Kapitel 2: Postkoloniale theoretisch-analytische Perspektiven | 35
dort verorteten „Sie-Gruppe“ (G LASZE & M ATTISSEK 2009: 15). Raum fördert in seiner Eigenschaft als abgrenzende Bezugsgröße die dichotome Strukturierung (G EBHARDT et al. 2003: 18–19) und kann damit als ein „‚Marker‘ von Identität“ (R EUBER 2012: 46) verstanden werden. G EBHARDT et al. sehen das Dreieck Kultur, Identität und Territorialität daher auch im Fokus einer geographischen Forschung, die räumliche Grenzziehungen der kulturellen Identitätsbildung als konstruierte Dichotomien betrachtet. Eine so verstandene Geographie rückt Folgen von und Auseinandersetzungen um die verorteten Trennlinien ins Blickfeld (G EBHARDT et al. 2003: 18–19). Ich kläre zunächst das Verständnis von Postkolonialität, welches dieser Studie zugrunde liegt. Im Anschluss daran werden mit Blick auf Kultur, Identität und Raum die postkolonialen Konzepte Othering, Hybridität, Zugehörigkeit und imaginative Geographien ausgeführt. 2.1.1 Postkoloniale Perspektiven Das Präfix ‚Post‘ verweist auf zwei Bedeutungsebenen des Begriffs Postkolonialität. Zum einen zeigt der Begriff eine historische Periode an und verweist auf „nachkolonial[e] Gesellschaftszuständ[e]“ (G UTIÉRREZ RODRÍGUEZ 2003: 19). Zum anderen bezeichnet Postkolonialität theoretische Ansätze, die im Dreieck von Poststrukturalismus, Marxismus und Feminismus verortet werden können (G UTIÉRREZ RODRÍGUEZ 2003: 19). Innerhalb postkolonialer Theorien unterscheidet G UTIÉRREZ RODRÍGUEZ (2003: 21) eine sozialhistorische und eine gesellschaftskritisch-poststrukturalistisch-feministische Herangehensweise. Der Schwerpunkt der sozialhistorischen Herangehensweise liegt auf ökonomischen, politischen, kulturellen und sozialen Fragestellungen, die ehemalige europäische Kolonialgebiete betreffen sowie der Frage, wie dort das koloniale Erbe verhandelt wird. Ich verstehe postkoloniale Theorien hier im zweiten, im gesellschaftskritischpoststrukturalistisch-feministischen Sinn. Die Auseinandersetzung mit Kolonialismus erfolgt unter dieser Perspektive insbesondere auf symbolischer, diskursiver und performativer Ebene. Koloniale Macht wird hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Produktion von Wissen wie Selbst- und Weltbildern betrachtet (G UTIÉRREZ RODRÍGUEZ 2003: 21). Koloniale Denkmuster und Weltbilder sowie deren Effekte interessieren dabei auch in ihren aktuellen Ausprägungen und Auswirkungen (K ERNER 2012: 9; C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 17–18)2 .
2 | Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Gegenständen und zentralen Vertreter_innen postkolonialer Theorien kann bei C ASTRO VARELA & D HAWAN (2015) nachgelesen wer-
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Postkoloniale Theorien beschäftigen sich also nicht nur „mit den Wirkungen der Kolonisierung, sondern bezieh[en] auch die aktuell bestehenden neokolonialen Machtverhältnisse und die diversen »kulturellen Formationen«, die in Folge von Kolonisierung und Migration in den Metropolen entstanden sind, in ihre Analysen ein.“ (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 18)
Arbeiten dieser theoretischen Ausrichtung setzen sich kritisch mit Rassismus, Macht, Kultur und Imperialismus auseinander (G UTIÉRREZ RODRÍGUEZ 2008: 268). Sie sind nicht auf bestimmte Regionen der Welt beschränkt. Postkoloniale Theorien umfassen vielfältige methodologische Ansätze in einem interdisziplinären Feld. Als zentrale Vertreter_innen seien Stuart H ALL (1994, 2004), Homi K. B HABHA (2000), Edward S AID (1994, 2003) und Gayatri C. S PIVAK (1988, 1998) genannt. Für den deutschen Kontext macht G UTIÉRREZ RODRÍGUEZ zwei zentrale Orte der Auseinandersetzung mit (Post-)Kolonialismus aus: Einerseits sei der anglophone Diskurs im akademischen und kritisch-künstlerischen Bereich rezipiert worden. Andererseits hätten migrationsandere Theoretiker_innen und insbesondere feministische Denker_innen sich mit deutscher Kolonialgeschichte und eigenen Rassismuserfahrungen in der Bundesrepublik auseinandergesetzt (G UTIÉRREZ RO DRÍGUEZ 2008: 267). 2.1.2 Identität, Zugehörigkeit, Othering Identität wird bei Stuart H ALL theoretisch nicht als eine zusammenhängende Einheit konzeptualisiert, sondern als Differenz (R EUTER 2004: 246): „Die Vorstellung, Identität habe etwas mit Menschen zu tun, die alle gleich aussehen, auf dieselbe Weise fühlen und sich selbst als Gleiche wahrnehmen, ist Unsinn. Identität als Prozeß, als Erzählung, als Diskurs wird immer von der Position des Anderen aus erzählt.“ (H ALL 1994: 74)
Damit wird der_die „Andere“ für das eigene Ich notwendig, wird gar ein Teil von mir selbst, da meine Identität immer schon in seinen_ihren Blick eingeschrieben ist:
den. Für eine Diskussion des Begriffs ‚postkolonial‘ und Kritiken postkolonialer Theorien s. H ALL (1997) und C ASTRO VARELA & D HAWAN (2015: 15-17, 285-338).
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„Hier nun ist der Andere immer auch ein Teil von uns selbst. Es ist der Andere, den wir nur von dem Ort aus erkennen können, an dem wir selbst stehen – das Ich, das in den Blick des Anderen eingeschrieben ist.“ (H ALL 1994: 73)
H ALL unterstreicht hiermit sowohl den relationalen Charakter jeder Bestimmung von Differenz und Identität als auch die Standortgebundenheit des Blickes und der Erzählung des „Anderen“ durch mich selbst, die wiederum in meine Identität eingeschrieben ist, bzw. meinen standortgebundenen Blick auf den „Anderen“, der mir zur Stabilisierung meines Ichs dient. An anderer Stelle erklärt er dies mit der Analogie des ‚englischen Auges‘, das alle „Anderen“ sieht und, da es weiß, wer die „Anderen“ sind, weiß es, dass es selbst das ist, was die „Anderen“ nicht sind (H ALL 1994: 45). Das Positivbild des „Eigenen“ konstruiert sich nur über das Negativ, muss das „Nadelöhr des Anderen“ (H ALL 1994: 45) passieren. In der deutschsprachigen Geographie hat u. a. B OECKLER dieses relationale Verständnis der Bestimmung von Identität als Differenz aufgegriffen: „Das Andere ist aber das eigene Andere und trägt zuallererst zur Stabilisierung des Eigenen bei“ (B OE CKLER 2005: 34). Diese Verbindungen, das Eingeschriebensein von Differenz in Identität verschweigt der klassische Identitätsbegriff3 . Identitäten werden aus postkolonialer Perspektive als situative Positionierungen „in einem offenen Feld von Relationen“ (BAQUERO T ORRES 2012: 320) verstanden. Sie werden als immer vorläufige Fixierung, als brüchig, veränderbar, kontingent und multipel konzeptualisiert (P OTT 2007: 28). Differenz leitet sich dann nicht aus einer fixierten, einheitlichen Identität ab. Da Identitäten nicht als stabil entworfen werden, sondern als dynamische Prozesse, die mit situativen Positionierungen einhergehen, sind sie immer an Kontexte gebunden. „Kulturelle Identitäten sind die instabilen Identifikationspunkte oder Nahtstellen, die innerhalb der Diskurse über Geschichte und Kultur gebildet werden. Kein Wesen, sondern eine Positionierung.“ (H ALL 1994: 30)
Für Identitäten im Sinne von Positionierungen sind die Positioniertheit des Subjekts innerhalb gesellschaftlicher Machtverhältnisse und der jeweilige situative Kontext bedeutsam (W OLLRAD 2005: 48). Es werden folglich sowohl der Aspekt
3 | Aus übersetzungstheoretischer Perspektive spricht S HIMADA (1998: 163) davon, dass der Übersetzungsprozess in Vergessenheit gerate, im Zuge dessen kulturelle Identitäten verhandelt werden. Diesen gelte es, sichtbar zu machen, um die Konstitutionsmomente von „Eigenem“ und „Anderem“ offen zu legen.
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der bedingten Positioniertheit als auch der der aktiven Positionierung des Subjekts relevant (BAQUERO T ORRES 2012: 320). Die gleichzeitige Beachtung von aktiver Positionierung und dem Moment des Positioniert-Seins verweist darauf, dass Positionierungen zwar aktiv geschehen und sich verändern können, aber nicht grundsätzlich frei wählbar sind (W OLLRAD 2005: 48). Auch Positionierungen sind dabei nicht als natürlich und dauerhaft zu verstehen, sondern vielmehr als kontingent und strategisch. H ALL erläutert im Anschluss an poststrukturalistische Ansätze, dass es einen temporären Halt im unaufhörlichen Prozess der Positionierung geben muss, damit überhaupt Bedeutung entstehen kann „in der unbegrenzten Semiosis der Sprache“ (H ALL 1994: 34). Daher betont er den arbiträren und kontingenten Charakter des vorläufigen ‚Endes‘: „Ich möchte hinzufügen, daß ich jede dieser Positionen insofern als ‚strategisch‘ und arbiträr begreife, als es keine dauerhafte Entsprechung zwischen einem einzelnen Satz, den wir abschließen, und seiner wahren Bedeutung als solcher geben kann. Bedeutung entfaltet sich über die arbiträre Beendigung hinaus weiter, die sie überhaupt erst zu einem beliebigen Moment möglich macht.“ (H ALL 1994: 34)
Der Begriff der Zugehörigkeit wird im vorliegenden Werk im Anschluss an M E CHERIL & H OFFARTH (2006: 228) verwendet, um das relationale Verständnis von Identität zum Ausdruck zu bringen. Er wird gegenüber dem Identitätsbegriff aufgrund des gängigen Verständnisses von Identität als einheitlich vorgezogen. Soziale Zugehörigkeit bezeichnet dann „die Relation zwischen einem Individuum und einem sozialen Kontext, in dem Praxen und Konzepte der Unterscheidung von ‚zugehörig‘ und ‚nicht-zugehörig‘ konstitutiv [. . . ] sind“ (M ECHERIL & H OFFARTH 2006: 228). Ich fokussiere die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsdimension und blende weitere Zugehörigkeitsdimensionen wie beispielsweise Gender, sexuelle Orientierung oder Klasse sowie deren Zusammenwirken weitgehend aus. In den sozialen Kontexten, in denen Differenzordnungen wirken, machen Individuen Erfahrungen der (Nicht-)Zugehörigkeit. Der Begriff der Zugehörigkeitserfahrung bezeichnet den Vorgang, dass Individuen „ihre Position in einem sozialen Zusammenhang und darüber vermittelt sich selbst“ (M ECHERIL & H OFFARTH 2006: 229) erfahren. Zugehörigkeitserfahrungen gehen demzufolge mit Zugehörigkeitsverständnissen einher. In diesen werden Zugehörigkeitserfahrungen zusammengefasst, abstrahiert, verdichtet und ihnen wird Bedeutung zugewiesen. Zugehörigkeitsverständnisse verweisen folglich auf die sozialen Verhältnisse und stellen aktive Positionierungen dar, die von den Verhältnissen durchzogen sind (M ECHERIL & H OFFARTH 2006: 230–231).
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Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitserfahrungen meinen dementsprechend, dass Individuen in ein Verhältnis zu natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitskontexten gesetzt werden und sich selbst in ein solches setzen. Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitserfahrungen und -verständnisse bilden sich vor dem Hintergrund einer natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung. Menschen verstehen sich innerhalb dieser als fraglos zugehörig, „wenn sie sich selbst als symbolisches Mitglied des Kontextes erkennen und von bedeutsamen Anderen als Mitglied erkannt werden, wenn sie in dem Kontext in einer ihnen gemäßen Weise habituell wirksam und schließlich an den Kontext lebensgeschichtlich gebunden sind“ (M ECHE RIL & H OFFARTH 2006: 231, Hervorh. im Original). Voraussetzung für die Erfahrung und das Verständnis als zugehörig ist es, symbolisch in ein natioethno-kulturelles „Wir“ einbezogen zu werden (M ECHERIL & H OFFARTH 2006: 232). Von fraglosen Zugehörigkeitserfahrungen können Erfahrungen einer „prekäre[n] natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit“ (M ECHERIL 2003: 28) unterschieden werden. Als prekär werden Zugehörigkeitserfahrungen bezeichnet, die sich im Kontext von gesellschaftlich dominanten Zugehörigkeitsverständnissen vollziehen, die Zugehörigkeit als fraglos und eindeutig verstehen (M ECHERIL 2003: 303). Mehrfachzugehörigkeiten sind in dieser Vorstellung nicht vorgesehen. M ECHERIL nennt dies die „Exklusivitätslogik des Entweder-oder“ (M ECHERIL 2003: 303). Weichen Individuen ab von der „Fiktion des natio-ethno-kulturellen Prototyps“ (M ECHERIL 2003: 299), wird ihr Zugehörigkeitsstatus fraglich. Er ist damit vorläufig und kann entzogen werden (M ECHERIL 2003: 299). Im Hinblick auf die unterschiedliche Positioniertheit von Subjekten innerhalb der migrationsgesellschaftlichen Zugehörigkeitsordnung kann Othering als relevanter Prozess begriffen werden. Im Zuge von Othering werden bestimmte Menschen und Gruppen zu „Anderen“ des imaginierten natio-ethno-kulturellen „WirKollektivs“ erklärt. Othering bezeichnet den Prozess der Konstruktion und Repräsentation von Gruppen als „Andere“ mittels sozialer Bedeutungszuschreibungen und in Abgrenzung zum „Eigenen“, welches dabei meist unbenannt bleibt. Dieser Prozess erfolgt aus einer Position heraus, die über die Repräsentationsmacht verfügt, innerhalb eines bestimmten „Repräsentationsregimes“ (H ALL 2004: 14–146) zu klassifizieren und Menschen als „Andere“ repräsentieren zu können (H ALL 2004: 14–146). Dabei wird auf in der Gesellschaft zirkulierende soziale Wissensbestände zurückgegriffen, die das „Anderssein“ der „Anderen“ vermeintlich erklären. Die sozialen Praxen des Othering werden gefestigt und weitergeschrieben durch die Wiederholung bestimmter gesellschaftlich vorherrschender Bilder. Die
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Wiederholung ist von konstitutiver Bedeutung für Othering-Prozesse (R IEGEL 2011: 331). Es wird ein vermeintliches Wissen über die „Anderen“ gefestigt, welches es ermöglicht, dass wir einerseits wissen, wer zu den „Anderen“ gehört, und andererseits um ihre Andersheit wissen (M ECHERIL & T HOMAS -O LALDE 2011: 51). Soziale Gruppen und Individuen werden dadurch als „Andere“ festgeschrieben (S CHRÖDER 2016a: 12). Die essentialisierende Festschreibung von „Anderen“ kann anknüpfend an A H MED (2000) erklärt werden. A HMED zufolge findet eine Objektifizierung statt, durch die relationale Konzepte zu autonomen Figuren werden, die wahrgenommen werden, als hätten sie ein eigenes Leben (A HMED 2000: 4–5). Die sozialen Beziehungen des Andersseins zwischen Menschen werden verlagert auf die_den „Andere_n“ (A HMED spricht von „Fremden“) (A HMED 2000: 23–24). Die_der „Andere“ wird unter Ausblendung des Prozesses des Unterscheidens als autonome Figur objektifiziert. Die solchermaßen ge-anderten Menschen werden dann als „Andere“ angesehen und angesprochen – ihr Abweichen vom „Eigenen“ wird unhinterfragt vorausgesetzt. Bilden sich aus den Essentialisierungen hegemoniale Diskurse, wird es möglich, von Subjekten völlig abzusehen und nichts Subjektives oder Spezifisches gelten zu lassen. „Das Spezifische, das Lebensweltliche, das Subjektive, das Biographische wird als solches aufgehoben bzw. allein als das Allgemeine zugelassen“ (M ECHERIL & T HOMAS -O LALDE 2011: 48). Aus Subjekten werden „Exemplare“ der homogenisierten Gruppe gemacht (M ECHERIL & T HOMAS -O LALDE 2011: 49). Werden sowohl Positioniertheit als auch Positionierung als relevant erachtet, so muss Othering als potenziell wirkmächtig für die Zugehörigkeitserfahrungen und -verständnisse sowie die natio-ethno-kulturellen Positionierungen von migrationsanderen Subjekten in der deutschen Migrationsgesellschaft begriffen werden. 2.1.3 Hybridität Die Frage kultureller Identitäten ist untrennbar mit dem postkolonialen Verständnis von kultureller Differenz verbunden. Der in Jamaica aufgewachsene und seit den 1950er Jahren in England lebende Kulturwissenschaftler Stuart H ALL entwickelt in einem Aufsatz mit dem Titel „Kulturelle Identität und Diaspora“ sein Identitätsverständnis aus der Reflexion von (eigenen) Diaspora-Erfahrungen sowie mit Bezug auf die Karibik (H ALL 1994: 26–43). Hier rücken Brüche und Ambivalenzen ins Zentrum der Betrachtung, nicht zuletzt im diasporischen Rückbezug auf karibische Identitäten. Karibische Identitäten beinhalten für H ALL unweigerlich die Erinne-
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rung an Diskontinuität. Sie sind nicht als einheitliche Einheiten denkbar, sondern vielmehr als ein Durchdringen von afrikanischen und europäisch-kolonialen Präsenzen sowie der Imagination der „Neuen Welt“ (H ALL 1994: 31–42). Die Argumentation von Edward S AID setzt in einem anderen historischen Kontext an, wenn er sich mit dem Kolonialismus auseinandersetzt, der dazu beigetragen habe hybride Identitäten in einem Zwischenraum zu festigen und gewissermaßen offensichtlich werden lassen. Gleichzeitig habe er die Menschen aber paradoxerweise gerade immer wieder eindeutig einer Seite zugeschrieben: „Imperialism consolidated the mixture of cultures and identities on a global scale. But its worst and most paradoxical gift was to allow people to believe they were only, mainly, exclusively, white, or black, or Western, or Oriental.“ (S AID 1994: 407–408)
Sowohl H ALL als auch S AID beschreiben hier Hybridität als eine historische Erfahrung (z. B. R EUTER 2004: 246), die allerdings im Kontext hegemonialer Eindeutigkeit angesiedelt ist. Dabei werden hybride Identitäten als dynamischer, nie völlig abgeschlossener Prozess der Identifikation konzeptualisiert (H ALL 1994). Die Struktur der Identifikation wird als relational begriffen. Eine Identifikation mit dem „Eigenen“, die auf der vollständigen Unterscheidung vom „Anderen“ beruht, ist allein aus der historischen Erfahrung von Brüchen und Diskontinuitäten nicht möglich. In den Arbeiten des in Indien geborenen und in den USA lehrenden Literaturwissenschaftlers Homi B HABHA ist die Auseinandersetzung mit Fragen der Identitätsaushandlung im kolonialen Diskurs zentral. In seinem Aufsatz Zeichen als Wunder erläutert er am Beispiel der Überlieferung der Bibel in Indien unter britischer Kolonialherrschaft, dass die Übersetzung von Ideen aus den Metropolen zu deren Hybridisierung führe. Dabei versteht er Übersetzung als einen Prozess der Verhandlung, da die Reartikulation in einem anderen Kontext nie mit dem vermeintlichen Original4 identisch sei. Vielmehr werde eine Idee innerhalb des Äußerungsaktes als spezifisch koloniale Artikulation erst hergestellt und gebe zudem zu Hinterfragungen der Einheimischen Anlass (B HABHA 2000: 158–159). So haben die Kolonisierten auf Widersprüche in der Bibel hingewiesen und damit in deren Autorität interveniert. Sie haben Fragen gestellt, die die Missionare häufig
4 | Hier wird von einem vermeintlichen Original gesprochen, um zu betonen, dass es nach B HABHAs (2000: 54–57) Verständnis von Übersetzung kein „reines“ Original geben kann, da jede kulturelle Äußerung immer schon ein Akt der Übersetzung ist (ausführlichere Ausführungen dazu im Folgenden).
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nicht beantworten konnten. „Die Einführung ins Christentum gerät damit zugleich zu einer Hinterfragung des Christentums“ (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 236). B HABHAs Verständnis von Übersetzung ist damit das eines performativen Aktes, der kulturelle Repräsentationen und Identitäten erst herstellt, da er immer mit Veränderungen von „Eigenem“ und „Anderem“ einhergeht (D IRKSMEIER 2010: 4). Mit dieser relationalen Perspektive auf kulturelle Identitäten werden die Grenzen zwischen innen und außen, die der moderne Kulturbegriff zieht, eingerissen. Kulturelle Identitäten wie auch Differenzen können nicht mehr als substantiell gedacht werden. Es geht nicht länger um eine Vergleichs- oder Unterscheidungsarbeit, sondern vielmehr um ein Erkennen des „Eigenen“ im „Anderen“ und des „Anderen“ im „Eigenen“ (R EUTER 2004: 242). Damit geht es postkolonialen Hybriditätsansätzen um ein Verschieben der Perspektive von Identitäten zu Differenzen. Differenzen werden hierbei allerdings als innere Differenzen verstanden, nicht als Grenzziehung zwischen unterschiedlichen Entitäten im Sinne von Dichotomisierungen. Dies gilt für Auffassungen von kollektiven wie personalen Identitäten gleichermaßen (K ERNER 2012: 115). Die Vielfalt interner Differenzen wird im Postkolonialismus also sowohl auf die Ebene der Gesellschaften (Verschiebung von der Innen-Außen-Differenz zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden hin zur Vielfalt interner Differenzen) bezogen als auch auf personale Identität (W OLLRAD 2005: 135–136). Das Dazwischen, um das es den Postcolonial Studies geht, ist nicht mit Vermischung gleichzusetzen. B HABHA, dessen Verständnis von Hybridität in aktuellen postkolonialen Diskussionen zentral ist (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 235), betont: „Dabei sollten wir immer daran denken, daß es das „inter“ – das Entscheidende am Übersetzen und Verhandeln, am Raum da-zwischen – ist, das den Hauptteil kultureller Bedeutung in sich trägt.“ (B HABHA 2000: 58)
Hybridität ist B HABHA zufolge also in Kultur selbst eingeschrieben, da der Übersetzungsprozess vom „Eigenen“ ins „Andere“ und umgekehrt nichts unverändert lässt (B HABHA 2000: 57–58). Es ist damit zentral für die postkoloniale Konzeption von Hybridität bei B HABHA, dass das, was als Kultur benannt wird, immer schon vom „Anderen“ durchdrungen ist. Es entsteht in einem Raum des Da-zwischen der Übersetzung oder Äußerung:
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„Erst wenn wir verstehen, daß sämtliche kulturellen Aussagen und Systeme in diesem widersprüchlichen und ambivalenten Äußerungsraum konstruiert werden, begreifen wir allmählich, weshalb hierarchische Ansprüche auf die inhärente Ursprünglichkeit oder „Reinheit“ von Kulturen unhaltbar sind.“ (B HABHA 2000: 57)
B HABHA dekonstruiert eine Vorstellung von Kulturen als ursprüngliche und reine Einheiten und darauf aufbauend die Idee der Vermischung, deren gedankliche Voraussetzung eben die Existenz unterschiedlicher Kulturen im Sinne von Entitäten ist (B HABHA 2000: 52). B HABHA versteht Hybridität als eine Form von Widerstand der Unterdrückten (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 236). Hybridität bedeutet einen Handlungsspielraum und eine Handlungsmacht der Subalternen, die in den Bedeutungsverschiebungen des hegemonialen Diskurses verortet ist. „In my own work I have developed the concept of hybridity to describe the construction of cultural authority within conditions of political antagonism or inequity. Strategies of hybridization reveal an estranging movement in the ‘authoritative’, even authoritarian inscription of the cultural sign. At the point at which the precept attempts to objectify itself as a generalized knowledge or a normalizing, hegemonic practice, the hybrid strategy or discourse opens up a space of negotiation where power is unequal but its articulation may be equivocal. Such negotiation is neither assimilation nor collaboration. It makes possible the emergence of an ‘interstitial’ agency that refuses the binary representation of social antagonism.“ (B HABHA 1996: 58)
Hybridität wird bei B HABHA als Verstörung bzw. Verschiebung hegemonialer Diskurse konzipiert, die einen Verhandlungsraum jenseits von Assimilation und Bestätigung der normalisierten hegemonialen Wissensbestände eröffnet und binäre Repräsentationen zurückweist. Das stabilisierende Moment hegemonialer Diskurse liegt in ihrer Wiederholung. Diese stabilisierende Wiederholung wird durch hybride Bedeutungsverschiebungen irritiert. „Das Fundament der Autorität [wird] durchlöchert“ (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 236), indem sich das marginalisierte „andere“ Wissen in die dominanten Diskurse einschreibt (ebd.). Die diskursiven Bedingungen der Dominanz werden somit selbst zur Basis, von der ausgehend Widerstand der Dominierten möglich ist (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 236). Hybridität bedeutet demzufolge „eine gewichtige Herausforderung kolonialer Repräsentation“ (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 236).
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Die Subjektposition, die durch hegemoniale Diskurse zugewiesen wird, wird aufgebrochen. „Konfrontiert mit diesem schwer fassbaren kolonisierten Subjekt, welches multiple Subjektpositionen gleichzeitig bewohnt (›nicht-richtig-englisch‹ und ›original-indisch‹), ist es der kolonialen Autorität weder möglich, ihre Botschaft zu vereinheitlichen, noch die Subjekte konkret zu verorten.“ (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 239, Hervorh. im Original)
Im Anschluss an B HABHA können die in ungleichen Machtverhältnissen dominanten Diskurse einerseits als Bedingungen für die identitätsbezogenen Positionierungen Marginalisierter verstanden werden. Gleichzeitig beinhalten hybride Positionierungen im Prozess des Aushandelns andererseits auch eine Handlungsmacht (B HABHA 1996: 58). B HABHA bezieht sich dabei auf F OUCAULT, der betont, dass die Möglichkeit zum Widerstand in jede Machtbeziehung bereits eingelassen sei: „There is no relationship of power without the means of escape or possible flight. Every power relationship implies, at least in potentia, a strategy of struggle” (F OUCAULT 1983: 225). Widerstand wird von B HABHA dabei nicht notwendigerweise als „oppositioneller Akt mit politischer Intention“ (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 235) verstanden. Widerstand wird vielmehr vom Ergebnis her als die Schaffung von Ambivalenz und Untergrabung von Autorität verstanden (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 235, 240). Auch wenn Hybridität als Öffnung eines Verhandlungsraums verstanden wird, sollte die beachtliche Kraft hegemonialer Diskurse nicht unterschätzt werden: „Kulturelle Hegemonie ist nicht hermetisch und unüberwindbar – das zeigt die Betonung von Hybridität und Kontingenz –, sie ist jedoch dominant und strukturell verankert und hat damit nach wie vor andere Möglichkeiten, sich durchzusetzen und Diskurse und Praxen zu prägen – und sei es in der Zurückweisung und Kritik ihrer Dominanz.“ (ATTIA 2009: 7–38)
B HABHA geht es folglich nicht um die Theoretisierung von aus Machtverhältnissen gelöster kultureller Differenz. Vielmehr beinhaltet Hybridität nach B HAB HA im Kern die Subversion von hegemonialen Repräsentationen, Identitäten und Dominanzverhältnissen und ist somit nicht aus seiner Einbettung in ungleiche Machtverhältnissen herauslösbar (M ILL 2005: 435–436). Vor diesem Hintergrund übt HA Kritik an einem reduktionistischen Hybriditätsverständnis, das Hybridität aus der hierarchischen Grundkonstellation und damit aus dem politischen und kritischen Anspruch des Konzepts herauslöse. Hy-
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bridität werde in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Rezeption z. T. einfach mit kultureller Vermischung gleichgesetzt und damit aus den postkolonialen Diskursen gelöst. „Im Gegensatz zur Position von rassistisch Marginalisierten stellen universale Hybriditätsformen einen (ab-)wählbaren Lebensstil dar, der auf der Entscheidungsfreiheit basiert, die Differenz oder die Identität zur Dominanzkultur (ROMMELSPACHER 1995) zu betonen.“ (H A 2004a: 160)
Wird Hybridität als (ab-)wählbarer Lebensstil verstanden, können gesellschaftlich wirksame Differenzen und die unterschiedliche gesellschaftliche Positioniertheit von Subjekten verdeckt werden. Wird Hybridität aus der Dominanzsituation gelöst und auch auf dominante Individuen übertragen, wird die Konzeption von Hybridität als Form der Subversion und Verschiebung hegemonialer Bedeutung und des Aufbrechens von Dominanz übergangen. Dies führe zu einer „Entthematisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse“ (H A 2004a: 159) und stehe daher im Gegensatz zu den Intentionen der Postcolonial Studies (H A 2004a: 154; K ERNER 2012: 129–130). Vielmehr könnten postkoloniale Konzepte wie das der Hybridität zum Verständnis und zur Kritik von gegenwärtigen Formen der Unterdrückung und Dominanz beitragen (H A 2004a: 162). 2.1.4 Dominanzbegriff Macht wird in dieser Studie anknüpfend an ROMMELSPACHER (1995) mit dem Dominanzbegriff gefasst. ROMMELSPACHER unterscheidet Herrschaft, für welche Repression kennzeichnend ist, von Dominanz, die durch weitgehende Zustimmung gestützt und wirksam wird. Beim Konzept der Repression wird von Machtzentren ausgegangen, die Beherrschten qua Verbot und Gebot ihren Willen aufzwingen (ROMMELSPACHER 1995: 24–26). Dominanzverhältnisse sind demgegenüber dadurch charakterisiert, dass „der Sitz der Macht [. . . ] weniger klar auszumachen“ (ROMMELSPACHER 1995: 23) ist. Dominanz wird „über die sozialen Strukturen und die internalisierten Normen vermittelt, weshalb sie in eher unauffälliger Weise politische, soziale und ökonomische Hierarchien reproduziert.“ (ROMMEL SPACHER 1995: 25–26). Dominanzverhältnisse sind im Vergleich zu Herrschaftsverhältnissen unübersichtlicher und unsichtbarer (ROMMELSPACHER 1995: 23). Damit schließt ROMMELSPACHER (1995) an die Machtanalyse von F OUCAULT (1978) an. Dominanz wird als Macht verstanden, die sich „in die Gesellschaft hinein verallgemeinert hat“ (ROMMELSPACHER 1995: 24). Sie wirkt innerhalb gesell-
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schaftlicher Strukturen ebenso wie in normativen Orientierungen und wird in die Individuen hinein verlagert (ROMMELSPACHER 1995: 24). Mit einem solchen Verständnis gesellschaftlicher Machtverhältnisse wird die „gleichzeitige Wirksamkeit von Struktur und Subjekt“ (ROMMELSPACHER 1995: 23–24) betont. Dominanzverhältnisse sind demzufolge vieldimensional und omnipräsent und zugleich relativ unsichtbar (ROMMELSPACHER 1995: 23). Dies bedeutet allerdings nicht, dass Macht sich zufällig verteilt. Vielmehr fasst der Dominanzbegriff stabile Asymmetrien. Dominanz beschreibt eine Situation, in der „sich viele Machtquellen vernetzen und damit ein Anspruch auf soziale Unterscheidung und Überlegenheit durchgesetzt wird“ (ROMMELSPACHER 1995: 25–26). Die Ungleichheit äußert sich in unterschiedlichem Zugang zu Ressourcen und in unterschiedlicher Repräsentation und Partizipation in der Gesellschaft. Sie wird vermittelt „über ungleiche Chancen im Bildungssystem, im Gesundheitsweisen, auf dem Wohnungsmarkt und über soziale Beziehungen [. . . ], die bestimmte Gruppen von Menschen tendenziell ausschließen“ (ROMMELSPACHER 1995: 25–26). Wie durchdrungen unsere gesamte Lebensweise und Diskurse von Dominanzverhältnissen sind, beschreibt ROMMELSPACHER am Beispiel patriarchaler Machtverhältnisse: „Patriarchale Machtverhältnisse sind wirksam im Privatleben wie im Beruf, in der Politik ebenso wie in der Sprache. Die Mikrophysik der Macht prägt den Gesichtsausdruck ebenso wie die Benennung von Großwetterlagen. Die Machtverhältnisse haben sich eingeschrieben in das Denken und die Gefühle, in das Unbewußte wie in die Verhaltensvorschriften.“ (ROMMELSPACHER 1995: 24)
Ausschluss und Hierarchisierung geschehen dabei nicht unbedingt persönlich, bewusst und absichtlich, sondern vermittelt über normalisierte soziale Strukturen und Selbstverständlichkeiten des Denkens, die dazu führen, dass Menschen die gesellschaftlichen Wahrnehmungs- und Teilungsprinzipien als gegeben und fraglos akzeptieren (ROMMELSPACHER 1995: 26; K RAIS 2008: 52). Selbstverständliche Normalität stützt Dominanzverhältnisse, indem Menschen die Hierarchien ganz selbstverständlich reproduzieren, sich aus dem Weg gehen oder es mangels Interesse überhaupt nicht zu Auseinandersetzungen kommt (ROMMELSPACHER 1995: 36). Anknüpfend an B OURDIEU (1997a: 215) kann daher unterstrichen werden, dass es von konstitutiver Bedeutung für Dominanzverhältnisse ist, dass deren
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Machtförmigkeit verkannt wird5 . Umgekehrt wird es möglich, „eigene Verstrickungen in Dominanzstrukturen zu reflektieren, denen ich andauernd zustimme, solange ich sie nicht bekämpfe und die durch das Ausbleiben von Kritik normalisiert werden“ (M ESSERSCHMIDT 2008: 12). Dominanzverhältnisse lassen damit Raum für Widerstand (s. o.) und sind durchaus veränderbar. Die Normalität hegemonialer Ordnungen kann demzufolge auch „als ein Möglichkeitsraum gedacht werden, in dem sich widerständige Praxen verankern und vermitteln lassen“ (E G GERS 2010: 71). Dominanzverhältnisse sind auf Stabilisierung durch Reproduktion und Normalisierung angewiesen, was gleichzeitig auf ihre Fragilität verweist (C A STRO VARELA 2016: 64; E GGERS 2010: 71). 2.1.5 Raumtheoretische Implikationen „I have been arguing [. . . ] that the notion that there are geographical spaces with indigenous, radically ‘different’ inhabitants who can be defined on the basis of some religion, culture, or racial essence proper to that geographical space is [. . . ] a highly debatable idea.” (S AID 2003: 322)
Postkoloniale Theorien haben auch Konzeptualisierungen von Raum und Überlegungen zum Verhältnis von Kultur, Identität und Raum in der Geographie beeinflusst6 . S AID argumentiert im obenstehenden Zitat gegen ein Verständnis, das voneinander abgrenzbare Kulturen räumlich definiert und fixiert. Eine solche Auffassung von Kulturräumen kann im Anschluss an D RIVER (1992: 31) als
5 | K RAIS (2008) zeigt auf, dass die Machtanalysen von F OUCAULT – auf den sich Rommelspacher bezieht – und B OURDIEU sich durchaus nahestehen und gegenseitig ergänzen. 6 | Seit den 1990er Jahren sind insbesondere im angelsächsischen Raum Arbeiten entstanden, die einer postkolonialen Geographie zugeordnet werden können. Als ausgewählte Vertreter_innen im angelsächsischen Sprachraum seien hier Derek G REGORY (1994) und Doreen M ASSEY (1999b) genannt. Zu den wichtigen Sammelbänden können B LUNT und M CEWAN (2002) und B LUNT und ROSE (1994) gezählt werden. Im deutschsprachigen Raum ist Julia L OSSAU zu nennen, deren Dissertation „Die Politik der Verortung: Eine postkoloniale Reise zu einer anderen Geographie der Welt“ (2002) als der erste konzeptionelle Beitrag im Rahmen der Rezeption postkolonialer Ansätze in der deutschsprachigen Geographie gilt (H USSEINI DE A RAÚJO 2011: 30). Als Beispiel jüngeren Datums sei die Dissertation von Shadia H USSEINI DE A RAÚJO (2011) genannt, die sich mit imaginativen Geographien von „Eigenem“ und „Anderem“ in arabischen Printmedien auseinandersetzt.
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„geographical essentialism“ bezeichnet werden. Raum wird in dieser Denkweise als abgrenzbarer Container vorgestellt, der Einwohner_innen „enthält“, die durch gemeinsame Eigenschaften gekennzeichnet sind, welche wiederum diesem Raum eigen sind. Damit ist Raum auch an der Konstitution des imaginierten Kollektivs beteiligt. Die gemeinsamen Eigenschaften der Menschen im Container definieren andererseits wiederum den Raum und seine Grenzen (S AID 2003: 322). Räume, Kultur und Identität konstituieren sich auf diese Weise wechselseitig. Auch L OSSAU (2002: 127) betont die wechselseitige Hervorbringung von kulturellen Identitäten und Raum. „Identitäten sind nicht, sondern werden in der permanenten Abgrenzung zum jeweils »Anderen« » erfunden«“ (L OSSAU 2002: 113, Hervorh. im Original). Raum fungiert – da er alltagsweltlich als gegeben vorgestellt wird – im Abgrenzungsprozess von Identitäten als vereindeutigender und naturalisierender Faktor (P OTT 2008: 187). Räume wiederum erscheinen als stabil, abgrenzbar und natürlich, weil sie als Container für stabile kulturelle Identitäten konstruiert werden (L OSSAU 2002: 127). Die Produktion geographischer Wirklichkeiten wird aus dieser Perspektive als ein fortlaufend wiederholter Prozess verstanden, der über die Verortung von Identitäten im Raum vermittelt ist. „Die geographische Wirklichkeit ist nicht, sondern wird im Zuge der Verortung von Objekten und Identitäten symbolisch (re-)konstruiert“ (L OSSAU 2002: 113, Hervorh. im Original). Dieser Wechsel des ontologischen Status von Raum ist folgenreich für die Begründung der hergestellten Ordnung. Denn Raum kann in dieser Konzeption nicht Explanans für die Unterscheidung bzw. Ordnung sein. Er ist vielmehr selbst eine zu erklärende Größe. Raum verweist als „Form der Ordnung und Grenzziehung“ (M IGGELBRINK 2002: 238) „auf die Prozesse des Ordnens und die Ordner“ (M IGGELBRINK 2002: 238). Die Erklärungslast wird damit von Raum auf die gesellschaftlichen Ordnungsprozesse und Reproduktionen von Ordnungen sowie auf die Subjekte als (Re-)Produzierende der Ordnungen verlagert. 2.1.6 Imaginative Geographien Aus postkolonialer Perspektive verstehe ich Raum als „Element sozialer (Repräsentations-)Praktiken“ (L OSSAU & L IPPUNER 2004: 207). S AID spricht von „Imaginative Geography“ (2003: 49). Dieses Raumverständnis gründet auf der Annahme, dass ein unmittelbarer Zugriff auf eine „vorgängige Wirklichkeit“ (L OSSAU & L IP PUNER 2004: 207) nicht möglich ist. Raum wird vielmehr als ein immer bereits Bezeichnetes verstanden (L OSSAU & L IPPUNER 2004: 207). Grundlage imaginativer Geographien sind S AID zufolge diskursive Abgrenzungen von Räumen des
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„Eigenen“ und des „Anderen“. Dabei wird Objekten und Identitäten ein bestimmter Platz zugewiesen – sie werden verortet (S AID 2003: 53–54). Mit der Denkfigur der Imaginative Geography richtet sich der Blick folglich auf das Moment der Verortung im Otheringprozess und die damit einhergehende Konstruktion von Räumen des „Eigenen“ und „Anderen“ (s. a. G REGORY 1994: 170–171). In der Geographie wurde die Denkfigur der Imaginative Geography u. a. von G REGORY (1994, 1995, 1998), L OSSAU (z. B. L OSSAU 2002) und H USSEINI DE A RAÚJO (2011) aufgegriffen. L OSSAU bestimmt imaginative Geographien als „vermeintlich natürliche räumliche Ontologien oder »Welt-Bilder« [. . . ], die als so natürlich gelten, daß ihr konstruierter Charakter aus dem Blickfeld gerät.“ (L OSSAU 2002: 106). Der Prozess der Konstruktion geographischer Wirklichkeiten wird als Verortung bezeichnet. Verortung meint folglich nicht die Zuordnung von Identitäten zu einem als gegeben verstandenen Raum. Vielmehr werden Identitäten im Prozess der Verortung „als abgrenzbarer Raum und als definierbares Territorium diskursiv hervorgebracht [. . . ] – abgrenzbar im Sinne ihrer Relation zu anderen, als Raum hervorgebrachten Identitäten.“ (H USSEINI DE A RAÚJO 2011: 62–63). Im Prozess des Verortens werden vermeintlich kulturell differente Identitäten als Räume geschaffen und kulturelle Identitäten somit mit Raum in eins gesetzt. Unterscheidungen in „Wir“- und „Sie“-Kollektive werden in räumlich festzumachende Unterscheidungen überführt (L OSSAU 2002: 76). Diese werden dabei in einem Prozess der Objektivierung reifiziert, indem prinzipiell kontingente Unterscheidungen zu eindeutigen Unterscheidungen gemacht werden. Der „Prozess der Verortung vermag dabei nicht nur die Überzeugung herzustellen, die verorteten Objekte und Identitäten, das Eigene und das Andere, existierten in einem objektiven Sinn. Er sorgt auch dafür, dass die gesamte (Raum-)Ordnung als eine Ordnung erscheint, die so und nicht anders ist.“ (L OSSAU & L IPPUNER 2004: 207)
Es findet ein folglich Objektivierungsprozess auf zwei Ebenen statt, bei dem die kontingente Wirklichkeit auf die eine eindeutige Wirklichkeit reduziert wird. Für die reifizierende Wirkung der Verortung ist entscheidend, dass der Prozess des Verortens selbst als Ursache der Unterscheidung ausgeblendet bleibt. Hierbei ist von Bedeutung, dass Raum – alltäglich wie wissenschaftlich – meist als eine der Beschreibung vorangehende, substantielle Entität aufgefasst wird. Ein solches Raumverständnis stützt die Naturalisierung der Unterscheidungen, was L OSSAU anhand der „Paradoxie der Sichtbarkeit“ (NASSEHI 1999, zit. n. L OSSAU 2002: 84) des Raumes erläutert. Räumliche Wirklichkeiten erscheinen als vermeintlich
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natürlich und der Beobachtung vorgängig, da das „Paradox der Sichtbarkeit [. . . ] all das natürlich erscheinen läßt, was gesehen wird, weil es so gesehen wird, wie es gesehen wird.“ (L OSSAU 2002: 104–105). Die im Verortungsprozess konstruierte geographische Wirklichkeit erscheint demzufolge als natürlich, da sie sichtbar gemacht wurde, gesehen wird und als evident erscheint7 . Das naturalisierende Sehen führt paradoxerweise dazu, dass die über den Verortungsprozess und seine Kriterien vermittelte Konstruiertheit der Räume ausgeblendet wird (L OSSAU 2002: 104–105). Kulturräume als Einheiten von Kultur und Raum erscheinen damit als natürlich. L OSSAU (2011: 656) zitiert ein Beispiel aus Orientalism, das den Konstruktionsprozess explizit einblendet, um zu zeigen, wie der Eindruck erweckt wird, „die entstandene Ordnung sei dem Prozess des Verortens vorgängig und die Identitäten seien wirklich unterschiedlich“ (L OSSAU 2011: 656). „It is perfectly possible to argue that some distinctive objects are made by the mind, and that these objects, while appearing to exist objectively, have only a fictional reality. A group of people living on a few acres of land will set up boundaries between their land and its immediate surroundings and the territory beyond, which they call ‘the land of the barbarians.’ In other words, this universal practice of designating in one’s mind a familiar space which is ‘ours’ and an unfamiliar space beyond ‘ours’ which is ‘theirs’ is a way of making geographical distinctions that can be entirely arbitrary. I use the word ‘arbitrary’ here because imaginative geography of the ‘our land–barbarian land’ variety does not require that the barbarians acknowledge the distinction. It is enough for ‘us’ to set up these
7 | Auch H ARD (1999: 156) bescheinigt der Naturalisierung von sozialer Wirklichkeit mittels Raumsemantik eine hohe Überzeugungskraft: „Weil sie fast bei jedem Gebrauch spontan ontologisiert werden, sind Raumabstraktionen [. . . ] sehr gut geeignet, Nichträumliches (z. B. Soziales) als räumlich-materiell Fixierbares, Verankertes, Bedingtes, Verursachtes, Steuerbares, ja als etwas weitgehend bis ganz und gar Räumliches oder Physisch-Materielles erscheinen zu lassen und es illegitimerweise mit größerer Objektivität, zusätzlichem Wirklichkeitsgewicht und einer Art von Unhintergehbarkeit auszustatten. Mittels einer Raumsemantik kann – vielleicht leichter und überzeugender als mit jeder anderen Semantik – tendenziell jede Phänomenologie als Ontologie praktiziert, ja zu einer unverrückbaren Ontologie festgezurrt werden.“ Mittels einer solchen Raumsemantik vollzogene Verortung im Raum verschafft folglich sozialen Wirklichkeiten den Anschein einer unhintergehbaren, objektiven Wirklichkeit, des „So-und-nicht-anders-seins“.
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boundaries in our own minds; ‘they’ become ‘they’ accordingly, and both their territory and their mentality are designated as different from ‘ours’.“ (S AID 2003: 54)
Dieses Gedankenexperiment betont, dass es keine Interaktion zwischen der „WirGruppe“ und der von ihr als „Sie-Gruppe“ bestimmten Gruppe geben muss und auch keine Übereinkunft zwischen den Gruppen über bestimmte Abgrenzungen als „wirklich“. Es ist ausreichend, wenn eine Gruppe die andere als unterschiedlich konstruiert8 . Die „Wir“ Gruppe hat in diesem Beispiel die Macht, „Andere“ zu „Anderen“ zu machen und in eine hierarchische Beziehung zum „Eigenen“ zu setzen, indem sie sie als „Barbar_innen“ herabsetzt9 . Imaginative Geographien, wie S AID sie konzipiert, sind „profoundly ideological landscapes, whose representations of space are entagled with relations of power“ (G REGORY 1995: 474). Sie werden durch Machtbeziehungen strukturiert und wirken selbst strukturierend auf Machtbeziehungen. Wie Macht, Wissen und Weltbeschreibung zusammenwirken, zeigt S AID (2003) am Beispiel der Konstruktion des Orients durch den orientalistischen Diskurs der westlichen Moderne im 19. Jahrhundert. Dabei betont er sowohl die Einbettung der konstruierten Geographien in Machtbeziehungen als auch deren gesellschaftliche Wirkmächtigkeit (S AID 2003: 12–13). Damit ist Raum nicht „infinetely plastic“ (ROSE 2005: 248), also nicht unendlich modellierbar und in unendlich unterschiedlichen Formen herstellbar. Vielmehr werden bestimmte, hegemoniale imaginative Geographien immer wieder reproduziert (L OSSAU 2002: 76) und stabilisieren so eine bestimmte Ordnung. Sowohl die Konstruktion der Unterscheidung zwischen „Eigenem“ und „Anderem“ als auch deren Wiederholung und Einschreibung in das gesellschaftliche Denken sind in Machtbeziehungen eingelassen. Raum ist demzufolge nicht
8 | Hierbei kann „eine heimliche Umkehrung von Ursache und Wirkung“ (B OURDIEU 1997b: 93) nachvollzogen werden. Die Fremdheit der „Barbar_innen“ wird als Ursache für die Grenzziehung zwischen „Eigenem“ und „Anderem“ herangezogen. Dies ist eine heimliche Umkehrung, insofern die Grenzziehung eigentlich die Ursache und nicht die Wirkung ist. Denn es ist „unsere“ Unterscheidung zwischen den „Barbar_innen“ und „uns“, die die „Barbar_innen“ erst zu „Anderen“ macht, sie also als eine kulturräumliche Einheit erschafft (L OSSAU 2011: 657). 9 | Möglichkeiten des Widerstandes und der Subversion, wie B HABHA sie mit dem Konzept der Hybridität (s. Kap. 2.1.3) konzipiert, bleiben hier außen vor. Hierin liegt ein zentraler Kritikpunkt B HABHAs gegenüber S AID. In Abgrenzung zu S AID nimmt B HABHA die agency der Ge-anderten in den Blick (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 221).
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nur als Performanz, sondern als Performanz von und in Machtrelationen zu verstehen (ROSE 2005: 248). Des Weiteren sind imaginative Geographien nicht allein in der Vorstellung von Menschen existent, sondern sie entfalten symbolische und strukturelle gesellschaftliche Bedeutung und strukturieren Dominanzverhältnisse. Sie sind als soziale Wirklichkeiten zu verstehen, die sowohl Ausdruck gesellschaftlichen Denkens, Kommunizierens und Handelns sind, als auch dieses wiederum strukturieren (H USSEINI DE A RAÚJO 2011: 27). Im Anschluss an H USSEINI DE A RAÚJO lassen sich imaginative Geographien „als gesellschaftlich machtvolle, diskursive Konstruktionen von Räumen des Eigenen und Anderen begreifen, die soziale Ordnungen herstellen und politische Praktiken legitimieren, etablieren und verfestigen.“ (H USSEINI DE A RAÚJO 2011: 87)
Imaginative Geographien werden folglich als wirkmächtige, Gesellschaft strukturierende Konstruktionen verstanden, anhand derer Ein- und Ausgrenzungen wirksam werden und gleichzeitig legitimiert werden können. Was dabei „zur Ordnung wird und wie dementsprechend Objekte und Identitäten verortet werden, ist nichts anderes als ein Ergebnis hegemonialer Diskurse“ (H USSEINI DE A RAÚJO 2011: 62). Dies bedeutet gleichzeitig, dass sie nicht unumstößlich sind (H USSEINI DE A RAÚJO 2011: 62). Imaginative Geographien sind vielmehr Gegenstand diskursiver Verhandlung und damit veränderbar. Hegemoniale imaginative Geographien marginalisieren andere oder komplexere Identitäten und Raumverständnisse und erschweren ein Hinterfragen der Ordnung. Für postkoloniale Perspektiven auf Raum ist kennzeichnend, dass sie den Blick sowohl auf wahr gewordene imaginative Geographien und die „Wirklichkeiten vielfältiger Ausschlüsse“ (L OSSAU 2002: 107) richten als auch auf andere, in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen marginalisierte Wirklichkeiten und Bedeutungskonstruktionen. Es geht „sowohl [um] die fortlaufende Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit der alltäglichen Verortung als auch die fortlaufende Dekonstruktion von deren Eindeutigkeit und Selbstverständlichkeit“ (S CHLOTTMANN 2003: 50, Hervorh. im Original). Imaginative Geographien werden als in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebettet verstanden und analysiert. Aus postkolonialer Perspektive werden die (Re-)Produktion raumbezogener (kultureller) Identitäten und deren Folgen untersucht. Anliegen postkolonialer Geographien ist vor diesem Hintergrund die kritische Reflexion wissenschaftlicher wie auch gesellschaftlicher Raumkonstruktionen „vom Klassenzimmer bis zum Kanzleramt“ (L OSSAU 2000:
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24) sowie deren gesellschaftlicher und individueller Folgen. Es geht im Anschluss an diese Überlegungen auch im Rahmen der vorliegenden Studie darum, Reproduktionen und Folgen hegemonialer imaginativer Geographien sowie Widerstände und Subversionen zu untersuchen.
2.2 R ASSISMUSKRITIK
ALS
P ERSPEKTIVE
Dieses Kapitel fokussiert sich auf die postkoloniale theoretische Perspektive mit Blick auf Rassismus als Analysegegenstand. Die rassismuskritische Perspektive verstehe ich als begriffliches und analytisches Instrumentarium, das es ermöglicht, Sachverhalte, die sich in der empirischen Untersuchung als relevant herauskristallisiert haben, besser zu verstehen. Sie erlaubt es, Unterscheidungen zu untersuchen, „in denen ein natio-ethno-kulturelles Wir von einem Nicht-Wir dergestalt getrennt wird, dass an hierarchisierende soziale Ordnungstraditionen anknüpfend Unterschiede gemacht werden“ (M ECHERIL & M ELTER 2011: 17, Hervorh. im Original), die reale Folgen haben. Damit knüpft die Perspektive Rassismuskritik an das bereits herausgearbeitete postkoloniale Verständnis von Othering an. Rassismuskritik verstehe ich als Teil postkolonialer theoretischer Perspektiven. Sie bietet Begriffe an, die anknüpfend an die bisher dargelegten Konzepte das Moment der Machtverhältnisse und der Subjektivierung genauer fassen können und dezentriert den bisher im Fokus stehenden Kulturbegriff. Zudem wurde bisher die Zuschreibung von „Anderssein“ (Othering) fokussiert. In der empirischen Untersuchung hat sich aber gezeigt, dass über die Unterscheidung, Besonderung und Ausgrenzung hinaus gegenüber Migrationsanderen auch Bedeutungszuschreibungen, symbolische Aberkennungen von Rechten und symbolische Sanktionierungen vorgenommen werden. Diese konnten mit den bisher ausgeführten theoretischen Begriffen nicht ausreichend erfasst werden, weshalb die Analysebegriffe im Verlauf der Arbeit erweitert wurden. Ich beziehe mich auf die deutschsprachige rassismuskritische Forschung (u. a. ATTIA 2007; C ASTRO VARELA 2016; M ELTER & M ECHERIL 2011; S CHER SCHEL 2006; S HOOMAN 2014), die an englisch- und französischsprachige Arbeiten z. B. von H ALL (1994) oder BALIBAR (1997) anknüpft (L EIPRECHT et al. 2009: 9–10)10 . Viele dieser Forschungsarbeiten weisen einen Bildungsbezug auf
10 | Eine ausführliche Diskussion verschiedener rassismustheoretischer Ansätze kann bei R ADTKE (1995: 17–110) nachgelesen werden. Als bedeutende Publikation, die den Beginn der rassimuskritischen Forschung in Deutschland markiert, gilt der von K ALPAKA
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(z. B. B RODEN & M ECHERIL 2010a; F EREIDOONI 2015; L EIPRECHT & S TEIN BACH 2015; M ARMER 2013; N GUYEN 2013b; S CHARATHOW & L EIPRECHT 2009; ROSE 2012: 12). Kennzeichnend für Rassismuskritik ist eine reflexive Perspektive, bei der von der Notwendigkeit einer kontinuierlichen Selbstbeobachtung und Reflexion von Diskursen, Interaktionen, Strukturen und Institutionen ausgegangen wird. Sie zielt auf die Kritik von Rassismen und deren Schwächung ab (M ECHERIL & M ELTER 2011: 15). Rassismusverständnis
Rassismus wird in der vorliegenden Monographie als „ein System von Diskursen und Praktiken der Unterscheidung und Bedeutungszuschreibung“ (S CHARATHOW 2014: 47) verstanden. Dieses wird interaktiv und diskursiv von Akteur_innen und Institutionen reproduziert und hat abwertende, diskriminierende und Diskriminierung legitimierende sowie soziale Ungleichheit plausibilisierende Effekte. Die rassistischen Unterscheidungs- und Bedeutungskonstruktionen sind in der Migrationsgesellschaft in ein binäres Repräsentationssystem eingebettet, das zwischen einem natio-ethno-kulturellen „Wir“ und einem „Nicht-Wir“, zwischen Zugehörigen und Nicht-Zugehörigen, Normalität und Abweichung unterscheidet (S CHARA THOW 2014: 47). Dabei wird sozialen Gruppen aus einer machtvollen Position heraus vermeintliche nationale, ethnische oder kulturelle ‚Andersheit‘ zugeschrieben (M ECHERIL & M ELTER 2010: 150, 156). Die Kategorisierung und Einteilung von Menschen in Gruppen ist verbunden mit Bildern über die sozialen Gruppen. Diesen werden Eigenschaften und Wesensmerkmale zugeschrieben, die als gegeben vorgestellt werden. Rassismus fungiert als gesellschaftlicher „Platzanweiser“ (M ECHERIL & M ELTER 2011: 16), indem die hergestellten Gruppen negativ bewertet oder als hier nicht zugehörig imaginiert werden (M ECHERIL & M ELTER 2010: 156). Auf diese Weise wird eine „symbolische und soziale Ordnung hergestellt und legitimiert [. . . ], die auf das Zusammenleben und Interagieren von Menschen einwirkt“ (S CHARATHOW 2014: 47). Rassismus ist in diesem Verständnis mit Machtverhältnissen und dem Zugang zu Ressourcen und Möglichkeitsräumen verbunden und dient als „Legitimationslegende“ (ROMMELSPACHER 2011: 26, Hervorh. im Original), mit der gesellschaftliche Dominanzverhältnisse, Ausschluss und Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden können (M ECHERIL & M ELTER 2011: 16). Dies wird beispielsweise in folgendem Argumentationsmuster deutlich, welches in der vorliegenden empi-
und R ÄTHZEL (1990) herausgegebene Band „Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“ (L EIPRECHT et al. 2009: 10).
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rischen Untersuchung eine bedeutende Rolle spielt (s. v. a. Kap. 5.1.3 und 5.4.1): „Sie [die „Anderen“] gehören hier eigentlich nicht hin, da sie einer anderen Kultur [bzw. Nation, Anm. der Verf.] zugehören, die an einen anderen Ort gehört. Deshalb kommen ihnen berechtigterweise weniger Rechte und Privilegien zu“ (M ECHERIL & M ELTER 2010: 156). Rassismus wird als „ein umfassendes, strukturierendes Prinzip gesellschaftlicher Wirklichkeit“ (S CHARATHOW 2014: 37) verstanden, welches weder auf individuelle Einstellungen reduziert noch „als Problem spezifischer Gruppen oder Einzelner am Rande der Gesellschaft“ (ebd.) aufgefasst werden kann. Unterscheidungen, Ausgrenzungen und Diskriminierungen sind nicht immer Ergebnis intentionaler Handlungen. Vielmehr können sie auch auf in der Gesellschaft zirkulierende Deutungsangebote zurückgehen, die von den Subjekten als selbstverständlicher common sense betrachtet und angewandt werden (S CHARATHOW 2014: 47). Markierung von Differenz
Zentral für Rassismus ist die Markierung von Differenz. H ALL (2004: 112) weist darauf hin, dass diese nicht ohne die gleichzeitige Konstruktion von Bedeutung möglich ist. Unterscheidungen und Bedeutungszuschreibungen können daher als gleichzeitig wirksame Seiten einer Medaille begriffen werden. Es gibt also nicht nur in der Gesellschaft zirkulierende soziale Kategorisierungen von Menschen, sondern auch Bedeutungen, die den konstruierten Gruppen und ihren Mitgliedern zugeschrieben werden. Diese wiederum dienen auch der Begründung der Unterscheidungen. Analytisch können Unterscheidungswissen und Erklärungswissen voneinander unterschieden werden. Empirisch wirken sie untrennbar zusammen. „Denn das Unterscheidungswissen, mit welchem spezifische Merkmale als Differenz markiert und als relevant begründet werden, beruft sich auf soziale Bedeutungskonstruktionen, auf spezifische Signifikationen.“ (S CHARATHOW 2014: 37)
Die konstruierten sozialen Wissensbestände der Unterscheidung und Erklärung geben Auskunft über vermeintliche Eigenschaften und Fähigkeiten, die als unveränderlich vorgestellt werden und den konstruierten Gruppen und ihren Mitgliedern zugeschrieben werden (S CHARATHOW 2014: 37). Die konstruierten sozialen Gruppen werden als homogen imaginiert und in hierarchisierender Weise voneinander abgegrenzt. Der Prozess der rassistischen Gruppenkonstruktion und Zuweisung von Menschen zu vermeintlich unterschiedlichen Gruppen wird auch als Rassifizierung bezeichnet (E GGERS 2005).
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Analytisch können verschiedene Dimensionen der Rassifizierung voneinander unterschieden werden. ROMMELSPACHER (2011: 29) benennt Homogenisierung, Naturalisierung, Polarisierung und Hierarchisierung als Aspekte der rassistischen Gruppenkonstruktion. Anknüpfend an E GGERS (2005) werden diese Dimensionen in der vorliegenden Studie zusätzlich um die Dimension der Markierung ergänzt. Homogenisierung bezieht sich darauf, dass Menschen in homogenisierten Gruppen zusammengefasst werden (ROMMELSPACHER 2011: 29). Die Markierungspraxis besteht darin, dass die als „andere“ konstruierten sozialen Gruppen, Personen oder auch Kategorien (beispielsweise der „Orient“) mit Eigenschaften belegt werden. „Es wird ein ›Wissen‹ über ihr Wesen erzeugt“ (E GGERS 2005: 57). Sie werden auf diese Weise unter Rückgriff auf soziale Bedeutungskonstruktionen als „Andere“ markiert. Das Moment der Markierung ist verknüpft mit einer Polarisierung. Denn „in diesem Wissen besteht die Hauptaussage in der Artikulation ihrer ›Differenz‹ in Relation zu der hegemonialen weißen Gruppe“ (E GGERS 2005: 57). Den „Anderen“ werden Eigenschaften zugeschrieben, die zu denen der „Wir-Gruppe“ als gegensätzlich verstanden werden. Dass die konstruierten Differenzmerkmale „als unüberwindbarer Teil der ›Natur‹ von rassistisch markierten ›Anderen‹“ (E GGERS 2005: 57) imaginiert werden, trägt dazu bei, die konstruierte Differenz als gegeben zu naturalisieren (Naturalisierung). Die als „andere“ markierten sozialen Gruppen und Personen werden in Relation zum „Wir“ untergeordnet positioniert (Hierarchisierung) (ROMMELSPACHER 2011: 29). Die vermeintliche grundsätzliche Unterschiedlichkeit wird dabei nicht lediglich postuliert. Vielmehr stellen die zur Verfügung stehenden stereotypen Repräsentationen von Gruppen zugleich Muster dar, die diese plausibilisieren, erklären und legitimieren können (S CHARATHOW 2014: 38). Die „Wir-Gruppe“ wird in der komplementären Position zu den „Anderen“ normalisiert. Sie steht im Zentrum, von dem aus die „Anderen“ als abweichend konstruiert werden (E GGERS 2005: 57; S CHARATHOW 2014: 38). Es wird „eine symbolische Grenze [errichtet] zwischen dem ›Normalen‹ und dem ›Devianten‹, dem ›Normalen‹ und dem ›Pathologischen‹, dem ›Akzeptablen‹ und dem ›Unakzeptablen‹, dem was ›dazu gehört‹ und dem, was ›nicht dazu gehört‹ oder was ›das Andere‹ ist, zwischen ›Insidern‹ und ›Outsidern‹, Uns und Ihnen. [Zugleich wird] das ›Zusammenbinden‹ und ›Zusammenschweißen‹ zu einer ›imaginierten Gemeinschaft‹ [vereinfacht].“ (H ALL 2004: 144)
Als Folge dieser Prozesse können Ausschlüsse, Abwertungen, Aberkennungen von Rechten oder gesellschaftliche Ungleichheiten wirksam und zugleich als legitim
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erachtet werden. Rassismus ist über die Unterscheidungs- und Zugehörigkeitskonstruktionen eng mit dem Konzept der Nation (S CHARATHOW 2014: 45) und deren Territorialisierung verknüpft. „Die traditionsschwere Deckungsgleichheit von „Volk“, „Territorium“, „Identität“, „Kultur“ und „Nation“ ist auch unter den Bedingungen der Welt- und Migrationsgesellschaft noch sehr wirkmächtig“ (P OTT 2008: 188). Rassistisch markierten „Anderen“ werden Orte („Ghettobewohner_in“) und Räume wie beispielsweise Kontinente („Afrikaner_in“) oder nationalstaatliche Territorien („Türk_in“) als „definitorische Merkmale“ (P OTT 2008: 188) zugewiesen. Auf diese Weise wird es möglich, Migrationsanderen zu unterstellen, dass sie sich nicht am „richtigen Ort“ befinden (P OTT 2008: 188). Soziale Bedeutungskonstruktionen als Bestandteile rassistischen Wissens
Die Bedeutungskonstruktionen, die zur Unterscheidung und Legitimierung herangezogen werden, bilden das Fundament von Rassismus (M ECHERIL & S CHER SCHEL 2011: 47). In der hier zugrunde gelegten rassismuskritischen theoretischen Perspektive werden diese Bedeutungskonstruktionen als Bestandteile eines sozial konstruierten rassistischen „Wissens“ bezeichnet (S CHARATHOW 2014: 39; E G GERS 2005: 64). Diese in der Gesellschaft zirkulierenden Wissensbestände sind immer auch ein Ausdruck der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, in denen sie konstruiert, reproduziert und tradiert werden und in denen sie individuelle und gesellschaftliche Auswirkungen haben (S CHARATHOW 2014: 39; E GGERS 2005: 64). Damit grenzt sich das rassismuskritische Verständnis von Rassismus ab von einer Vorstellung von Rassismus als individuelle Charaktereigenschaft (der_die „Rassist_in“) oder Vorurteilsbehaftetheit. Statt sie als individuelle Vorurteile zu analysieren, werden stereotypisierende rassistische Repräsentationen als Teil gesellschaftlicher Verhältnisse verstanden. Sie sind Teil gesellschaftlicher Verhältnisse insofern sie als Elemente eines Sinngebungswissens verstanden werden, das diskursiv zur Verfügung steht. Dies geht ins Alltagswissen ein und stellt Wissensdispositionen bereit, die Menschen zur „Erklärung von Erfahrungen, Widersprüchlichkeiten und Problemen in Gesellschaft“ (S CHARATHOW 2014: 40) heranziehen können. Dieses ‚Wissen‘ muss den Subjekten nicht unbedingt bewusst sein. Es wird vielmehr als Haushalt an vermeintlich selbstverständlich plausiblen Imaginationen, Begründungs- und Deutungsmustern verstanden, die in der Gesellschaft zirkulieren und wirken (L EIPRECHT et al. 2009: 10). Das Sinngebungswissen muss also nicht bewusst-intentional zur Unterscheidung und Erklärung herangezogen werden.
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Damit einhergehend wird Rassismus nicht zwangsläufig als eine kohärente Theorie verstanden, über die Subjekte verfügen (S CHARATHOW 2014: 40). Vielmehr wird unter der Perspektive Rassismuskritik analysiert, inwiefern die interessierenden Forschungssubjekte – etwa Schüler_innen oder Institutionen wie Schulen oder das Bildungssystem – in rassistische Diskurse verstrickt sind bzw. in ihren (Sprach-)Handlungen rassismusrelevante Wissensbestände zur Sinngebung heranziehen und reproduzieren. Diese Unterscheidung ist bedeutsam, da so auch nicht-intendierte Reproduktionen von Rassismus, die gleichwohl Folgen für die rassistisch markierten Personen oder Gruppen und gesellschaftliche Machtverhältnisse haben (können), beachtet werden. Zudem können auch (Sprach-) Handlungen von Individuen als rassistisch analysiert werden, bei denen die Personen über kein kohärentes rassistisches Weltbild verfügen (ROMMELSPACHER 2011: 33). „Die Rassismus konstituierenden Momente dürfen [. . . ] nicht als typische Eigenschaften des »rassistischen Charakters« verstanden werden. Rassismus ist nicht eine Bezeichnung für die »defekten Elemente« einer Gesellschaft. Vielmehr bezeichnet Rassismus eine Art allgemeine strukturelle Logik des gesellschaftlichen Zusammenhangs, die auf allen Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeit bedeutsam ist und als Option der Deutung und des Handelns zur Verfügung steht.“ (M ECHERIL & M ELTER 2010: 155)
Rassismus wird also nicht als gesellschaftliches Randphänomen verstanden und ist in diesem Verständnis auch nicht reduzierbar auf individuelle (intentionale) Handlungen (S CHARATHOW 2014: 48; L EIPRECHT et al. 2009: 9). Es ist aus dieser Perspektive vielmehr von einer „Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein“ (K ALPAKA & R ÄTHZEL 1990) auszugehen, da Menschen nicht nur intendiert, sondern auch unintendiert auf rassistische Bedeutungskonstruktionen zurückgreifen (S CHARATHOW 2014: 48). Ich nutze daher neben dem Begriff ‚rassistisch‘ im Anschluss an W EISS (2001: 81) auch den Begriff ‚rassismusrelevant‘, um eine Distanz zu Vorstellungen von Intentionalität anzuzeigen. Der Begriff der Rassismusrelevanz zielt darauf ab, die Relevanz bestimmter Bedeutungskonstruktionen und (Sprach-)Handlungen für die Reproduktion von Rassismus und die Festigung rassistischer Strukturen zu betrachten (W EISS 2001: 81). Rassismusrelevante Bedeutungskonstruktionen werden fortlaufend auf allen Ebenen gesellschaftlichen Zusammenlebens – also in Interaktionen, in Diskursen, aber auch in Institutionen/Organisationen und auf struktureller Ebene (beispielsweise in den Rechtsvorstellungen) – (re-)produziert (M ECHERIL & M ELTER 2010: 155). Rassismus wirkt sich folglich nicht nur auf die Verteilung von Ressourcen
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aus, sondern wirkt ebenso auf die Selbst- und Weltverständnisse und das Handeln von Individuen ein (B RODEN & M ECHERIL 2010b: 14, 17; ROMMELSPACHER 1995: 22–23). Rassismus wird daher als Kontext der Subjektivierung verstanden, „also als strukturierter und strukturierender Raum, in dem aus Individuen „Subjekte“ werden, deren Handlungsfähigkeit und Selbstverständnis vermittels der Erfahrungen, die sie in dem rassistischen Raum machen, an die Struktur des Kontextes gebunden bleiben, diese aufnehmen, bestätigen, aber auch transformieren und modifizieren.“ (M ECHERIL & S CHERSCHEL 2011: 54)
Die gesellschaftlichen Ebenen von Rassismus werden in Abbildung 2 dargestellt. Sie sind jeweils miteinander verknüpft. Die Ebenen der Diskurse und der Subjektivierung liegen dabei quer zu denen der Interaktion, Institutionen und Strukturen.
Diskursive Ebene
Strukturelle Ebene: Verteilung und Zugang zu Geld, Arbeit, materiellen und symbolischen Gütern für gesellschaftliche Gruppen
Institutionenebene: wie werden Angehörige gesellschaftlicher Gruppen zugelassen, gefördert oder bedient?
Interaktive Ebene: wie begegnen sich Angehörige unterschiedlich konstruierter Gruppen in privaten und öffentlichen Räumen?
Ebene der Subjektivierung
Abbildung 2: Gesellschaftliche Ebenen von Rassismus (eigene, erweiterte Darstellung nach M ELTER 2011: 280)
Rassismus stellt ein gesellschaftliches Verhältnis dar, in das alle Mitglieder der Gesellschaft eingebunden sind (M ECHERIL & M ELTER 2010: 157; S CHRÖDER 2016b: 18). „Als gesellschaftliches und Gesellschaft strukturierendes Verhältnis, das auf allen Ebenen des Zusammenlebens zu finden ist, betrifft Rassismus alle in einer Gesellschaft lebenden Menschen – wenngleich in sehr unterschiedlicher, in privilegierender und in deprivilegierender, außerordentlich restriktiver Weise.“ (S CHARATHOW 2014: 48–49)
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Die dieser Untersuchung zugrundeliegende rassismuskritische Perspektive geht damit erstens von der Relevanz rassistischer Unterscheidungen aus und zweitens begreift sie die Relevanz nicht als beschränkt auf außergewöhnliche Situationen und/oder bestimmte Menschen (S CHRÖDER 2016b: 18). Vielmehr wird „Rassismus als durchaus gewöhnliches und gesellschaftliche Normalität kennzeichnendes und diese herstellendes Unterscheidungsschema“ (B RODEN & M ECHERIL 2010b: 12) verstanden (S CHRÖDER 2016b: 18). Das dargelegte Verständnis von Rassismus als fortlaufend gesellschaftlich verhandelt und reproduziert bedeutet auch, dass die rassismusrelevanten sozialen Bedeutungskonstruktionen dynamisch und nicht monolithisch sind (S CHARATHOW 2014: 37). Sie werden aus rassismuskritischer Perspektive als „ein flexibles, historisch und kontextuell variables ‚System‘ von Erklärungen“ (M ECHERIL & S CHER SCHEL 2011: 47) verstanden. Empirisch ist eine „diachrone und synchrone Pluralität und Wandelbarkeit“ (M ECHERIL & M ELTER 2011: 16) von Rassismus zu beobachten. Es kann daher von verschiedenen Rassismen gesprochen werden, für die Rassismus als Oberbegriff fungiert (M ECHERIL & M ELTER 2011: 16). So hat beispielsweise BALIBAR eine Verschiebung in den Begründungsmustern von Bedeutungskonstruktionen beobachtet, die er mit dem Begriff des „NeoRassismus“ (1997) benannt hat. Damit verweist er darauf, dass im postkolonialen Zeitalter rassistische Unterscheidungen und Begründungen neben biologischen und körperlichen Merkmalen des „klassischen“ oder „kolonialen“ Rassismus auch auf Kultur zurückgreifen (BALIBAR 1997: 32–34; s. a. M ECHERIL & S CHERSCHEL 2011: 49). Der Neo-Rassismus wird auch Kultur-Rassismus genannt. BALIBAR sah darin eine sich entwickelnde neue Form des Rassismus, einen „Rassismus ohne ‚Rassen‘“ („racisme sans ‘races’“) (1997: 32). Er bestimmt diesen in Abgrenzung zum biologisch argumentierenden Rassismus. Zentral sei im Neo-Rassismus nicht die biologische Vererbung, sondern vielmehr die vermeintliche Unaufhebbarkeit kultureller Differenzen (BALIBAR 1997: 32–33). An die Stelle biologischer Begründungsmuster bei der Konstruktion von differenten Gruppen treten im Neobzw. Kultur-Rassismus also als unvereinbar konstruierte Kulturen (M ECHERIL & M ELTER 2010: 153; K ALPAKA 2015: 298; AUERNHEIMER 2007: 97). Den „Anderen“ wird ein „‚kollektives Wesen‘, eine gewissermaßen enkulturierte Natur“ (M ECHERIL & M ELTER 2010: 156) unterstellt. Damit weist BALIBAR (1997: 34) darauf hin, dass menschliches Verhalten und soziale Gruppenzugehörigkeiten nicht nur über biologische oder genetische Begründungsmuster naturalisiert werden können, sondern auch unter Rückgriff auf Kultur. Dies ist dann der Fall, wenn sie als unveränderliche und unweigerliche Prägung vorgestellt wird (BALIBAR 1997: 34).
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Die Zentralstellung von Kultur gegenüber biologischen, genetischen und körperlichen, Begründungsmustern im Neo-Rassismus verweist auf die Wandelbarkeit der Manifestationen von Rassismus im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen. „So sind manche Formen des Rückgriffs auf bestimmte Bedeutungskonstruktionen heute nicht mehr in gleicher Weise legitim, wie sie es einmal waren. Stattdessen formieren sich Zuschreibungen, die zwar in gleiche Richtungen wirken, Ausgrenzung und Benachteiligung aber anders, nämlich in den gegenwärtigen Verhältnissen in einer gesellschaftlich akzeptierten Form zu legitimieren in der Lage sind.“ (S CHARATHOW 2014: 43)
Veränderte gesellschaftliche Legitimationsbedingungen, Strukturen und Institutionen wirken sich demnach auch auf Bedeutungskonstruktionen und Manifestationen von Rassismus aus (S CHARATHOW 2014: 43). Gleichwohl wird aus rassismuskritischer Perspektive nicht von einer vollständigen Verschiebung der Bedeutungskonstruktionen ausgegangen. Vielmehr blieben die historischen Wissensbestände durchaus virulent (S CHARATHOW 2014: 43). Kulturelle Begründungsmuster können dann zeitgleich mit biologischen existieren und auch mit diesen verschränkt werden. Eine Vorstellung von einem „kulturellen Rassismus ohne Körper“ (W OLLRAD 2005: 119) in der Migrationsgesellschaft verdecke, dass Körper als Konstrukte naturalisierter visueller Evidenzen nach wie vor ein Fundament gesellschaftlicher Wissensbestände darstellten (W OLLRAD 2005: 119). „Dominante Kodifizierungen von »ethnischen Minderheiten« [verlaufen] nicht nur entlang homogen imaginierter differenter Kulturen [. . . ], sondern zugleich und damit latent korrespondierend über die Einschreibung unaufhebbarer Differenzen in Körper. Körper sind keineswegs »out« – als phantasmatische Konstrukte visueller Evidenzen für naturhafte Inferiorität oder Superiorität verraten sie »auf einen Blick« alles über nationale Zugehörigkeiten, Bildungsstand und moralische Haltungen.“ (W OLLRAD 2005: 118–119)
Rassismus wird vielmehr in der hier eingenommenen Perspektive als „flexibl[e] Ressource“ (S CHERSCHEL 2011: 125, Hervorh. im Original) verstanden. Dies verweist zum einen darauf, dass Rassismus Sinnangebote liefert. Zum anderen wird der „variabl[e] Gehalt des Rassismus als ein zentrales Merkmal“ (S CHER SCHEL 2011: 125) herausgestellt. Unter rassismuskritischer Perspektive interessiert daher auch, wie der kulturalistische und biologistische Rassismus zusammenwirken (W OLLRAD 2005: 28). Die „Anderen“ können demzufolge sowohl entlang des Kriteriums ‚kulturelle Identität‘ als auch anhand von Haar- und Hautfarbe,
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Sprache, Kleidung und Auftreten als different zur (kulturell abgegrenzten) „WirGruppe“ markiert werden (K ALPAKA 2015: 298). Die fortlaufende gesellschaftliche Verhandlung und Reproduktion von Rassismen bedeutet ebenfalls, dass es Möglichkeiten für Widerstände sowie gegenläufige Wissensbestände gibt. Rassismus „beruht auf sozialen, ergo ‚mensch-gemachten‘ und daher veränderbaren Unterscheidungspraktiken, Bedeutungskonstruktionen und diskursiven Formationen“ (S CHARATHOW 2014: 49). Subjekte sind demnach zwar in rassistische Strukturen und Diskurse eingebunden. Dass diese Auswirkungen auf ihre Erfahrungen, ihr Denken, Deuten und Handeln haben, bedeutet aber nicht, dass die Subjekte durch diese determiniert wären. Vielmehr stehen neben rassistischen Wissensbeständen immer auch andere Wissensbestände als Angebote zur Sinngebung bereit. Subjekte können sich folglich „zu diesen Diskursen und Verhältnissen im Rahmen ihrer je spezifischen Möglichkeiten auch widerständig verhalten und verändernd auf sie einwirken – wenngleich ihnen u. a. aufgrund der sozialen Positionierungen im gesellschaftlichen Machtgefüge mitunter sehr unterschiedlich große Spielräume von Handlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen.“ (S CHARATHOW 2014: 49)
Rassismuserfahrungen
Es machen folglich sowohl diejenigen Menschen Rassismuserfahrungen, die in diesem Verhältnis deprivilegiert werden, als auch diejenigen, die durch dieses privilegiert werden (S CHARATHOW 2014: 50). Diejenigen, die als fraglos zur „Wir-Gruppe“ Zugehörige gelten, erleben ihre Erfahrungen allerdings meist nicht als in Zusammenhang mit rassistischen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen stehend. Ihre natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitserfahrungen geben keinen Anlass zur Irritation (M ECHERIL & H OFFARTH 2006: 235). Migrationsandere machen hingegen oft Erfahrungen der Nicht-Zugehörigkeit und erleben (abwertende) Zuschreibungen, Ausgrenzung und ungleiche Behandlung als restriktiv, verletzend und bedeutsamen Bestandteil der eigenen Erfahrungsräume (S CHARATHOW 2014: 50–51). Rassismus spielt auch in den Erfahrungsräumen von Kindern und Jugendlichen in der Migrationsgesellschaft eine Rolle. Er prägt biographisch früh Erfahrungen und darüber vermittelte Selbst- und Weltverständnisse (M ECHERIL & H OFFARTH 2006: 227; S CHARATHOW 2014: 52). In der vorliegenden Studie rücken vor allem die Ebene von Rassismuserfahrungen in alltäglichen Interaktionen und die Selbst- und Weltverständnisse von
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Schüler_innen in den Fokus. Für diese sind vor allem Rassismuserfahrungen jenseits manifester körperlicher Gewalt bedeutsam. Diese Formen von Rassismus werden häufig als Alltagsrassismus bezeichnet. „Im deutschsprachigen Raum wird Alltagsrassismus vor allem als subtiler Rassismus auf der Interaktionsebene – im Unterschied zu offenem, gewalttätigem Rassismus – verstanden. Dieses Verständnis betont die Alltäglichkeit von Rassismen in der Mehrheitsgesellschaft, die eben nicht nur offen, sondern vielfach auch subtil ausagiert werden.“ (M ELTER 2011: 280)
Diese Verwendung des Begriffs Alltagsrassismus ist jedoch ein wenig irreführend, da Rassismus auch auf den übrigen gesellschaftlichen Ebenen durchaus als alltäglich begriffen werden kann (M ELTER 2011: 280–281). Ich verwende den Begriff daher in der vorliegenden Untersuchung nicht.
2.3 K RITISCHE Weiss SEINSFORSCHUNG Die Konstruktion von „Anderen“ im Rassismus geht immer auch mit der Konstruktion eines „Wir“ einher. Im Prozess der Rassifizierung wird durch die hierarchische Positionierung rassistisch markierter „Anderer“ ein unmarkiertes, normalisiertes Zentrum hervorgebracht (E GGERS 2005: 57). M ECHERIL und VAN DER H AAGEN -W ULFF sprechen daher nicht nur von Othering, sondern auch von „Selfing“ (2016: 126). „‚Wir‘ und ‚Nicht-Wir‘ sind daher Teil der gleichen Konstruktionsprozesse und also auch in den sie repräsentierenden Bedeutungskonstruktionen immer eng miteinander verbunden.“ (S CHARATHOW 2014: 38). Die Perspektive der Kritischen Weißseinsforschung ermöglicht es, Prozesse des Selfing zu analysieren. Der kritische Blick wird vom rassifizierten Objekt zum rassifizierten Subjekt gewendet („from the racial object to the racial subject; from the described and imagined to the describers and imaginers“) (M ORRISON 1993: 90). Unter dieser Perspektive rücken also die Selbstverständnisse derer, die in Deutschland als legitim zugehörig gelten und aktiv immer wieder hergestellte Normalisierungen und Privilegien in den Blick (E GGERS et al. 2005: 11). Weiß weist dabei nicht auf eine (Haut-)Farbe hin. Vielmehr wird es zur Kennzeichnung der gesellschaftlichen Position derer verwendet, die in rassistisch strukturierten gesellschaftlichen Verhältnissen symbolisch und faktisch privilegierte Positionen einnehmen (M ECHERIL & M ELTER 2010: 158). Weißsein stellt folglich eine politische Kategorie dar. Es wird als gesellschaftlich (re-)produzierte und bedeutsam
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gemachte Konstruktion verstanden, die reale Folgen hat. Weißsein wird sprachlich markiert, um die „unmarkierte Selbstverständlichkeit“ (H ORNSCHEIDT 2009: 479, zit. n. F EREIDOONI 2015: 25) und die Konstruktion als „normal“ aufzubrechen. Kritischer Weißseinsforschung geht es demzufolge um die Dechiffrierung von Weißsein als „Bedeutung produzierende Wirklichkeitskonstruktion mit realen, nicht selten gewaltvollen Realitäten“ (P IESCHE 2005: 16). Die Differenzierung in weiße und Schwarze Menschen11 ermöglicht es, die unterschiedliche Verteilung von Privilegien in der Gesellschaft und Unterschiede hinsichtlich von Macht- und Unterdrückungserfahrungen sprachpraktisch zu fassen (F EREIDOONI 2015: 22–23; s. a. S CHRÖDER 2016b: 18). In der vorliegenden Monographie werden im Zugehörigkeitskontext der deutschen Migrationsgesellschaft auch die Bezeichnungen weiße Deutsche und Migrationsandere verwendet. People of Color ist ein weiterer Ausdruck, der Individuen und Gruppen bezeichnet, die „die gemeinsame, in vielen Variationen auftretende und ungleich erlebte Erfahrung [teilen], aufgrund körperlicher und kultureller Fremdzuschreibungen der weißen Dominanzgesellschaft als ‚anders‘ und ‚unzugehörig‘ definiert zu werden.“ (H A & L AURÉ AL -S AMARAI & M YSOREKAR 2007: 12, zit. n. W OLLRAD 2010: 144–145, eigene Hervorh.). Die Bezeichnung People of Color wird als Angebot einer gemeinsamen, unterschiedliche Gruppen verbindendend solidarischen Plattform verstanden (H A 2013: 83) und ist dementsprechend weit gefasst (F E 12 REIDOONI 2015: 24) . Im Anschluss an W OLLRAD können die erkenntniskritische und die gesellschaftskritische Dimension als zwei gleichzeitig notwendige, „korrelierende Dimensionen“ (2005: 13) von Kritischer Weißseinsforschung verstanden werden. Die erkenntniskritische Dimension meint die Analyse von Weißsein als Konstrukt und ist an die rassismuskritische Auseinandersetzung mit Rassifizierung geknüpft. Die
11 | Zur Schreibweise von weiß und Schwarz: Anknüpfend an E GGERS et al. (2005) setze ich die Bezeichnung weiß kursiv und schreibe sie klein, um ihren Konstruktcharakter zu markieren und ihre Bedeutung abzugrenzen vom Widerstandspotential der Kategorie Schwarz. Schwarz bezeichnet eine politische Kategorie, die auf eine gemeinsame Identität durch Unterdrückungserfahrungen und auf das Widerstandspotential verweist, das in der selbstbewussten Bezeichnung Schwarzer Menschen seinen Ausdruck findet (W OLLRAD 2010: 145). Daher wird Schwarz auch hier im Unterschied zu weiß groß geschrieben. „Weiß bezeichnet ebenfalls eine politische Kategorie, allerdings im Sinne von Machterfahrungen solcher Menschen, die als weiß konstruiert sind und denen meist diese Macht gar nicht bewusst ist“ (W OLLRAD 2010: 145, eigene Hervorh.). 12 | Die Begriffsgeschichte von People of Color kann bei H A (2013) nachgelesen werden.
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gesellschaftskritische Dimension analysiert die Effekte des Konstrukts (W OLLRAD 2005: 13–15). Ziel der dargelegten Perspektive einer kritischen Weißseinsanalyse ist folglich „nicht, essentialistischen Konstrukten von »den Weißen« Vorschub zu leisten, sondern mit der Dekonstruktion von Weißsein als Norm zum Kampf gegen Rassismus beizutragen“ (W OLLRAD 2005: 129, eigene Hervorh.). Kritische Weißseinsforschung wird als Forschungsfeld verstanden, das sich mit dem „impact of racism on those who perpetuate it“ (M ORRISON 1993: 11) befasst. Ein solches Forschungsfeld hatten M ORRISON (1993: 11–12) und H OOKS (1993: 54) in den USA gefordert als Ergänzung zur Forschung über Rassismus und seine Folgen für rassistisch markierte Menschen. „One change in direction that would be real cool would be the production of a discourse on race that interrogates whiteness. [. . . ] In far too much contemporary writing – though there are some outstanding exceptions – race is always an issue of Otherness that is not white [. . . ]. Yet only a persistent, rigorous, and informed critique of whiteness could really determine what forces of denial, fear, and competition are responsible for creating fundamental gaps between professed political commitment to eradicating racism and the participation in the construction of a discourse on race that perpetuates racial domination.“ (H OOKS 1993: 54)
Die Perspektive Kritischer Weißseinsforschung einzunehmen, ermöglicht also eine genauere Analyse von Selbst- und Weltverständnissen weißer Menschen. Sie zielt, wie auch die rassismuskritische Perspektive auf eine kritische Auseinandersetzung mit rassistischen Dominanzverhältnissen und damit letztlich auf die Hinterfragung von Weißsein ab (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2015: 224). Unter einer Veränderungsperspektive ermöglicht sie es, Momente der Stabilisierung rassistischer Dominanzverhältnisse zu untersuchen, die dem gesellschafts- und bildungspolitischen Ziel des Abbaus von Rassismus entgegenwirken. Auch die Kritische Weißseinsforschung kann im „Referenzrahmen Postkolonialismus“ (W OLLRAD 2005: 48; s. a. E GGERS et al. 2005: 11; H A & S CHNEIDER 2014: 48) verortet werden. Sie hat sich aus den Black und Postcolonial Studies heraus entwickelt (W OLLRAD 2005: 48). Kritische Weißseinsfor-schung im deutschsprachigen Raum geht dabei nicht auf eine einfache Übersetzung der angloamerikanischen Critical Whiteness Studies zurück. Vielmehr spielt die Auseinandersetzung „mit den jeweils auch kontextspezifischen Bedingungen von Weißsein in den politischen und emanzipatorischen Kämpfen von Schwarzen Menschen und People of Color in Deutschland“ (P IESCHE 2005: 14, eigene Hervorh.) für die Kritische Weißseinsforschung in Deutschland eine wichtige Rolle. Im Kontext der deutschen
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Migrationsgesellschaft ist u. a. die Verknüpfung von „Deutsch-Sein“ mit Weißsein in hegemonialen Repräsentationen Gegenstand Kritischer Weißseinsforschung (vgl. z. B. WALGENBACH 2005). Als bedeutsame Publikation für die Entwicklung der deutschsprachigen Kritischen Weißseinsforschung gilt der Sammelband „Farbe bekennen: Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte“ (O GUNTOYE et al. 2016). Der Band erschien erstmals 1986 und wurde von Schwarzen deutschen Feministinnen herausgegeben, die mit ihm eine historische und gegenwärtige Schwarze Anwesenheit innerhalb des deutschen „Wir“ artikulierten und Imaginationen der deutschen Gesellschaft als homogen weiß infrage stellten (W OLLRAD 2005: 45).
Teil II Didaktische Einbettung und empirische Wege
3. Interkulturelles Lernen in der geographiedidaktischen Diskussion
In diesem Kapitel gebe ich den Stand der Diskussion um interkulturelles Lernen in der Geographiedidaktik wieder und arbeite deren Leerstellen aus postkolonialer Perspektive heraus. In einem ersten Schritt referiere ich die Entwicklung der Diskussion um interkulturelles Lernen. Dabei greife ich auf bereits bestehende Systematisierungen zurück, wie sie B UDKE (2008) und K ROSS (1992) vorgelegt haben. Daran anknüpfend grenze ich ein, zu welchem thematischen Bereich der Diskussion die vorliegende Monographie einen Beitrag liefern möchte. Anschließend skizziere ich die theoretische Heterogenität im Feld der geographiedidaktischen Auseinandersetzung mit interkulturellem Lernen. Im Anschluss an die Rezeption kulturtheoretischer Ansätze nach dem Cultural Turn hat sich in der Geographiedidaktik eine kritische Auseinandersetzung mit Problemen von Ansätzen des interkulturellen Lernens entwickelt. Ich gebe daher im nächsten Schritt den Stand der kritischen Diskussion wieder und zeige Probleme bisheriger Konzeptualisierungen interkulturellen Lernens auf. Es folgt die Darlegung bisheriger Vorschläge zur Weiterentwicklung des interkulturellen Lernens in der aktuellen geographiedidaktischen Diskussion. Das Kapitel endet damit, dass aus postkolonialer Perspektive Leerstellen in den bisherigen Vorschlägen zur Weiterentwicklung aufgezeigt werden. Diese dienen als Anknüpfungspunkt für die vorliegende Studie. Ziel dieser Vorgehensweise bei der Auseinandersetzung mit dem Stand der Diskussion um interkulturelles Lernen ist es, ergänzende Perspektiven für die Weiterentwicklung auszuleuchten.
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Die geographiedidaktische Diskussion um interkulturelles Lernen stellt ein heterogenes Feld dar. Konzeptionelle Ansätze wie unterrichtspraktische Umsetzungen unterscheiden sich hinsichtlich der Fragestellungen bzw. der Ziele, der thematischen Anknüpfungspunkte im Geographieunterricht und der theoretischen Grundlagen (s. a. S CHRÜFER 2009: 157–158, 2010: 102; A PPLIS 2015: 5; B UDKE 2013: 154). B UDKE versteht interkulturelles Lernen als Teilbereich des globalen Lernens, der „sich im Besonderen mit der Rolle der ‚Kultur‘ bei Fragen und Problemen des ‚friedlichen Zusammenlebens‘ und des ‚Wohlstandswachstums‘ auf unterschiedlichen Maßstabsebenen beschäftigt“ (2008:18). Dabei werden u. a. internationale/interethnische Konflikte, internationale Migration und multikulturelle Gesellschaft/Integration mit interkulturellem Lernen verknüpft (B UDKE 2008: 17; s. a. S CHRÖDER 2016a: 7). In anderen Publikationen wird interkulturelles Lernen mit dem Aspekt der Wertevermittlung und der Bewertungskompetenz in globalen Zusammenhängen verknüpft (S CHRÜFER 2009: 165–166; M EYER 2014; S CHRÜ FER 2013; für eine ausführliche kritische Auseinandersetzung s. A PPLIS 2015). S CHRÜFER (2009: 157) betont, dass interkulturelles Lernen als Unterrichtsprinzip verstanden werde. Interkulturelles Lernen wird damit nicht einem bestimmten Gegenstand zugeschrieben, sondern als Querschnittsaufgabe gedacht, die in möglichst allen Themen verfolgt wird (S CHRÜFER 2009: 157). Die Spannweite der theoretischen Grundlagen wird von B UDKE als eine zwischen essentialistischen und konstruktivistischen Kulturkonzepten beschrieben (B UDKE 2013: 154–156). Nachfolgend referiere ich zunächst den Stand der Diskussion bezogen auf unterschiedliche Themenbereiche im Geographieunterricht und grenze das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie vor dem Hintergrund des thematischen Feldes ein (Kap. 3.1 und 3.2). Im Anschluss daran gebe ich den Stand der Diskussion bezogen auf die theoretischen Grundlagen wieder, die bisherigen Konzeptualisierungen des interkulturellen Lernens zugrunde liegen (Kap. 3.3).
3.1 T HEMEN UND RÄUMLICHE E BENEN DER D ISKUSSION
IN
In der erziehungswissenschaftlichen Diskussion wird interkulturelle Bildung als ein Paradigma pädagogischen Handelns in der migrationsgeprägten Gesellschaft verstanden (M ECHERIL 2015: 28), um mit als kulturell verstandener Differenz um-
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zugehen. Als Ausgangspunkt interkultureller Pädagogik1 bezogen auf den schulischen Kontext kann dabei die Diagnose heterogener Akteur_innen im Klassenraum verstanden werden (vgl. M ECHERIL 2015: 25–27). Als pädagogisches Prinzip hat interkulturelle Bildung auch Einzug in geographiedidaktische Diskussionen gefunden (vgl. B UDKE 2008: 14; K ROSS 2000: 414, 2004: 14). Gleichzeitig blickt der Geographieunterricht auf eine lange Tradition der Thematisierung von Kultur und Kulturräumen zurück. Es gibt in der Geographiedidaktik daher auch andere Diskussionszusammenhänge, die sich nicht explizit auf die Individuen beziehen, die im Klassenraum vor Ort sind. Vielmehr wird in diesen Diskussionszusammenhängen Kultur in erster Linie als ein geographisches Thema und Unterrichtsgegenstand verhandelt – oder im Falle der Kulturräume zur Stoffgliederung genutzt. Demzufolge kann interkulturelles Lernen im Geographieunterricht sowohl als Konzept zum Umgang mit Differenz unter den am Unterricht Beteiligten verstanden werden als auch als Unterrichtsprinzip, das bei geographischen Unterrichtsthemen wie z. B. internationalen Konflikten verfolgt wird. Ich referiere im Folgenden die Entwicklung und Etablierung und den aktuellen Stand der geographiedidaktischen Diskussion um interkulturelles Lernen. Im Anschluss an K ROSS (1992: 33–36) und B UDKE (2008: 10–18) werden hierfür vier themenbezogene Ansätze interkulturellen Lernens voneinander unterschieden2 .
1 | Die geographiedidaktische Diskussion um interkulturelles Lernen bezieht sich auf die interkulturelle Pädagogik. Eine explizite Abgrenzung oder begriffliche Unterscheidung von interkulturellem Lernen und interkultureller Pädagogik findet sich in den in diesem Buch zitierten Werken nicht. Ich verwende den Begriff der interkulturellen Pädagogik, wenn ich auf die erziehungswissenschaftliche Teildisziplin verweise. ‚Interkulturelles Lernen‘ verwende ich, weil der Begriff in der geographiedidaktischen Diskussion das hier untersuchte thematische Feld bezeichnet. 2 | Während auch K ROSS (1992) in seinem Überblick nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt, geht B UDKE (2008) auch auf ältere Ansätze ein, die sie unter den Überschriften „Die Suche nach den natürlichen Grenzen der Völker“ (B UDKE 2008: 10) und „Rechtfertigung des nationalsozialistischen Staats“ (B UDKE 2008: 11) fasst. Ich berücksichtige hier nur Ansätze ab dem Zweiten Weltkrieg. Auf ältere geographische (und geographiedidaktische) Konzepte von Kultur bin ich an anderer Stelle eingegangen (s. Kap. 1.4.1).
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3.1.1 Vermittlung von Kenntnissen über andere Räume Unter dieser Überschrift fasse ich Ansätze zusammen, in denen der Vermittlung von Kenntnissen über andere Kulturen oder Staaten ein zentraler Stellenwert beigemessen wird. Dieses Anliegen wird sowohl in Ansätzen, die ein ‚friedliches Zusammenleben‘ bzw. ‚Völkerverständigung‘ fördern wollen als auch in der Legitimation eines Geographieunterrichts auf der Grundlage des Konzepts der Kulturerdteile formuliert. Friedenserziehung
Das Ziel der Förderung eines „friedlichen Zusammenlebens“ findet sich bis heute in curricularen Dokumenten im Zusammenhang mit dem Stichwort „interkulturelles Lernen“. (s. z. B. Deutsche Gesellschaft für Geographie (DGfG) 2014:28). K ROSS zufolge ging es im westdeutschen Geographieunterricht nach dem Zweiten Weltkrieg übereinstimmend mit dem politischen Vorhaben der Westintegration um das Anliegen einer möglichst ausführlichen und vermeintlich vorurteilsfreien Darstellung der westlichen – später auch der östlichen – Nachbarstaaten (K ROSS 1992: 34). „Nach den zwei verheerenden Weltkriegen wurde Völkerverständigung zu einem didaktischen Programm.“ (K ROSS 1992: 34)3 . Die Idee der Völkerverständigung kann sowohl als Ausgangspunkt für das interkulturelle Lernen als auch für die Friedenserziehung begriffen werden (B UDKE 2004: 27). B UDKE (2008: 11) zufolge wurde der Ansatz möglichst informativer und vorurteilsfreier Darstellungen anderer Länder im Zusammenhang mit der Friedensbewegung und der öffentlichen Diskussionen um Abrüstung in den 1980er Jahren noch verstärkt. Im Zuge der europäischen Integration spiegelt sich dieses Anliegen zudem auch in einer „Europaerziehung“ wider, die zu gegenseitiger Wertschätzung und dem Abbau von Vorurteilen beitragen sollte. Besondere Schwerpunkte sollten „die Wahrnehmung der Vielfalt und Einheit Europas [. . . ], de[r] europäisch[e] Integrationsproze[ss] sowie die persönliche Auseinandersetzung mit dem, was europäische Identität ausmachen könnte“ (K ROSS 2000: 416), sein. Kulturerdteile und das Ziel der Förderung von Toleranz
Auch die Legitimation eines Geographieunterrichts auf der Grundlage des Konzepts der Kulturerdteile bezieht sich auf die Vermittlung von Informationen und den Wissenserwerb über andere Kulturen (vgl. N EWIG 1986: 264–266):264–266.
3 | Die Darstellung früher Ansätze erfolgt hier selektiv mit Bezug auf die Entwicklung der geographiedidaktischen Diskussion um interkulturelles Lernen.
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Als Ziel wird u. a. angegeben, Toleranz zu fördern (N EWIG 1999) und der Gefahr von Diskriminierung entgegenzuwirken (N EWIG 1986: 264)Newig1999. „Das Postulat, dass das Vermitteln von Kenntnissen über andere Kulturen die Schülerinnen und Schüler zu Toleranz erziehe“ (S TÖBER 2011: 16–17) bzw. zur Völkerverständigung beitrage, kann damit als ein Bildungsziel des Geographieunterrichts verstanden werden, das bis in die Nachkriegszeit zurückreicht. Das Konzept der Kulturerdteile wurde von KOLB entwickelt und lässt sich als explizit geographiedidaktischer Ansatz verstehen. So wurden KOLBs Überlegungen erstmalig im Geographie-Schulbuch S EYDLITZ von 1959 veröffentlicht, wo dann in der Neuausgabe von 1965 die zehn von ihm abgegrenzten Kulturerdteile als solche benannt wurden (S TÖBER & K REUTZMANN 2013: 381–382). KOLB nimmt für die Kulturerdteile an, dass diese jeweils durch einen „einmaligen inneren Zusammenhang aller Kulturelemente“ (KOLB 1963: 3) charakterisiert seien. KOLBs Konzept hatte in der Geographie einige Vorläufer, die verschiedene Kulturraumgliederungen der Welt entworfen hatten (s. ausführlicher Kap. 1.4.1). 1983 griff N EWIG das Konzept auf und strukturierte den Geographieunterricht auf der Grundlage des Kulturerdteilkonzepts (S TÖBER & K REUTZMANN 2013: 383). Seit den 1980er Jahren greifen Lehrpläne und entsprechend auch Schulbücher zunächst verschiedener westlicher, später auch östlicher Bundesländer auf N EWIGs Konzept zurück. Dabei wird das Konzept der Kulturerdteile im schleswigholsteinischen Lehrplan von 1997 explizit in einer Unterrichtseinheit zu „Dritte Welt/Eine Welt“ als Gliederungsmöglichkeit der Erde behandelt. In den Lehrplänen anderer Bundesländer – S TÖBER & K REUTZMANN (2013) nennen hier Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen – erfolgt dagegen die stoffliche Strukturierung des Geographieunterrichts auf der Grundlage der Kulturerdteile4 . N EWIGs noch heute angebotenes Unterrichtsmaterial unterscheidet die Kulturerdteile auf der Grundlage folgender fünf Merkmalskomplexe (N EWIG 1999): Raum und Umwelt (z. B. das Einwirken des Klimas auf die „menschlichen Gruppen“ (N EWIG 1999)), Leitsystem und Religion, Geschichte und Kultur (histori-
4 | S TÖBER & K REUTZMANN (2013: 384) weisen darauf hin, dass in der Erprobungsfassung des Lehrplans in Sachsen-Anhalt von 2009 vom Konzept der Kulturerdteile Abstand genommen wurde und dass der sächsische Lehrplan (2004/2009) inzwischen auf den Konstruktcharakter auch des Kulturerdteilkonzeptes hinweise. B ÖGE (2011: :6) gibt eine Einschätzung zu jüngeren Entwicklungen bezogen auf die Schulmedien ab und konstatiert, dass schulgeographische Verlage immer weniger Lehrmaterial zu den Kulturerdteilen entwickelten.
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sches Gedächtnis und tradierte Kultur, die sich u. a. in Schrift, Sprache, Recht, Kunst oder Siedlungen niederschlage), Mensch und Bevölkerung (Hautfarbe5 als „klima-angepasste[s] Merkma[l]“ (N EWIG 1999) einer Gruppe, aber auch Sitten und Gebräuche, Feste, Kleidung, Speisen oder Frisuren zählt er zu diesem Merkmalskomplex) und zuletzt Wirtschaft/Infrastruktur (unterschiedliche Anteile des primären, sekundären und tertiären Wirtschaftssektors). Dass diese Kriterien aufgeführt werden, misst ihnen nicht nur Bedeutung in Bezug auf die Ausprägung eines Kulturerdteils zu, sondern bringt die Kriterien auch in einen Zusammenhang, denn eben diesen „inneren“ Zusammenhang bzw. die wechselseitige Verflochtenheit der Merkmale postuliert das holistische Konzept (N EWIG 1986: 264; S TÖBER & K REUTZMANN 2013: 387). Dies ist z. B. in Bezug auf das Kriterium „ Hautfarbe“ problematisch, besteht hier doch der direkte Anschluss an rassismusrelevante Unterscheidungen auf der Grundlage physiognomischer Merkmale. Es lässt sich fragen, worin die Bedeutung dieses Kriteriums zur Abgrenzung einer Kultur liegt und wie es mit den übrigen aufgeführten Kriterien zusammenhängt. R ADTKE (1995: 167–168) kritisieren, dass das Konzept der Kulturerdteile durch die Verknüpfung von Hautfarbe und Kultur die Möglichkeit eröffne, den diskreditierten Rassebegriff durch den Kulturbegriff zu ersetzen. In den Online-Infoblättern des Klett-Verlags zu den Kulturerdteilen wurde bis Anfang 2017 noch offen der Begriff der „Rassen“ (R EINKE 2006: 1) verwendet. Im „Infoblatt Kulturerteile“ des Verlages wurde – vor Überarbeitung im Frühjahr 2017 – explizit als Potenzial der Kulturerdteile hervorgehoben, dass diese die Gliederung der Erde nach kulturellethnischen Gesichtspunkten ermöglichten und die „Lebens- und Wirtschaftsweisen der verschiedenen Rassen und Völker“ (R EINKE 2006: 1) abzugrenzen erlaubten6 :
5 | In seiner Darlegung des Konzepts der Kulturerdteile von 1989 führt N EWIG für diesen Merkmalskomplex noch ausschließlich „Hautfarbe“ an, die er mit dem Zusatz „(Rasse)“ (N EWIG 1986: 264) versieht. 6 | Im Anschluss an eine Intervention von Wissenschaftler_innen hat der Klett-Verlag das online verfügbare Infoblatt zu den Kulturerdteilen im April 2017 überarbeitet, den Kulturerdteil „Schwarzafrika“ in „Kulturerdteil Subsahara-Afrika“ (R EINKE & B ICKEL 2017: 2) umbenannt sowie die Infoblätter zu den einzelnen Kulturerdteilen von der Homepage des Verlags entfernt (persönliche Mitteilung, V. Meyer 2017). Auf der überarbeiteten Version des allgemeinen Infoblatts zu den Kulturerdteilen findet sich der oben zitierte Passus nicht mehr. Stattdessen wurde folgende Kritik in das Infoblatt aufgenommen: „Problematisch ist ferner, dass N EWIG mit dem Merkmalskomplex Mensch/Bevölkerung auch die Hautfarbe als ein Abgrenzungskriterium heranzieht [. . . ], welche im eigentlichen Sinn kein kulturelles Merkmal darstellt. Mit einer solchen biologistischen Betrachtungsweise besteht die Gefahr,
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„Jahrzehntelange [sic!] wurde eine physisch-geographische Abgrenzung zwischen den Kontinenten vorgenommen mit einer viel zu geringen Beachtung kultureller Eigenheiten, religiöser Traditionen und den daraus resultierenden Lebens- und Wirtschaftsweisen der verschiedenen Rassen und Völker. Eine neue Gliederung der Erde wird damit nicht nach vorrangig physisch-geographischen, sondern nach kulturell-ethnischen Gesichtspunkten vorgenommen.“ (R EINKE 2006: 1)
„Kulturelle“ Merkmale werden in diesem Zitat in unmittelbaren Zusammenhang mit genotypischen Differenzen gestellt, biologistische Unterscheidungen mit kulturalistischen vermengt und auf dieser Grundlage Menschengruppen kollektive Lebens- und Wirtschaftsweisen unterstellt. S TÖBER beobachtet bereits 1996, dass der Kulturbegriff in Schulbüchern mit „Volk“ oder „Ethnie“ gleichgesetzt und als Pleonasmus („Völker und Kulturen“) verwendet werde (S TÖBER 1996: 191). Auf die rassismusrelevante Problematik der Kulturerdteile weist auch S CHMIDTW ULFFEN hin: „Was lernen Schüler hier per Schulbuch über die Menschen in den verschiedenen Kulturerdteilen? Erst einmal nichts, weil sie mit dieser biologistischen Sicht, der Kategorisierung der Menschen nach äußeren, biologischen Merkmalen aufgewachsen sind. Sie fühlen ihre Wahrnehmung bestätigt, etwa dass Afrikaner schwarz sind oder im Umkehrschluss, dass Deutsche nicht schwarz sein können.“ (S CHMIDT-W ULFFEN 2008: 17, Hervorh. im Original)
Zur unterrichtlichen Legitimation der Kulturerdteile wird angeführt, dass das Konzept Toleranz fördern und Eurozentrismus relativieren soll (N EWIG 1986: 264, 1999). Dabei geht es N EWIG zufolge im Konzept der Kulturerdteile darum, das eigene Fremdbild zu ergänzen „durch das Wahrnehmen möglichst unmittelbarer Zeugen und Zeugnisse der Mitglieder anderer Kulturen“ (N EWIG 1999). Anhand dieser Informationen wird ein Perspektivenwechsel angestrebt (N EWIG 1999). Andere Kulturen sollen „gleichsam aus sich selbst heraus“ verstanden werden (N EWIG 1999). N EWIGs Postulat, dass ein solchermaßen kulturräumlich gegliederter Unterricht Toleranz fördere (N EWIG 1999), liegt demzufolge die Annahme zu Grunde, dass eine Wissensvermittlung über (räumlich unterscheidbare) „fremde Kulturen“ Verständnis für diese befördere und dies wiederum Toleranz fördere.
dass sich bei den Schülerinnen und Schülern rassistische Erklärungsmuster herausbilden oder verfestigen können.“ (R EINKE & B ICKEL 2017: 2).
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Auch im vom Verband deutscher Schulgeographen herausgegebenen Grundlehrplan Geographie (2005) wird so argumentiert: „Kulturgeographischer Unterricht vermittelt den Schülerinnen und Schülern damit Kenntnisse über sozioökonomische Prozesse und Strukturen in unterschiedlichen Staaten und Kulturräumen sowie begründete Einsicht in die Verschiedenartigkeit von menschlichen Gemeinschaften. Zusammen mit den Kenntnissen der physisch-geographischen Gegebenheiten führt er zum Verständnis der Verschiedenartigkeit des Lebens in den einzelnen Großräumen der Welt. Damit wird die Kompetenz erworben, Vorurteile zu vermeiden und Fremdes zu verstehen. Der kulturgeographische Unterricht ist somit Teil des Kompetenzerwerbs zum Erhalt und zur Sicherung des Friedens.“ (V ERBAND D EUTSCHER S CHULGEOGRAPHEN E . V.
(VDSG) 2005: 14, eigene Hervorh.)
Das Zitat ist in diesem Zusammenhang zum einen interessant, da die am Beginn der Argumentation stehenden Kenntnisse hier in einer spezifischen Art verstanden werden: Es wird auf Kenntnisse über „sozioökonomische Prozesse und Strukturen in unterschiedlichen Staaten und Kulturräumen“ (s. o.) und grundsätzlich auf begründetes Erkennen der Verschiedenheit menschlicher Gemeinschaften referiert sowie auf ein Zusammenwirken mit Kenntnissen über physisch-geographische Gegebenheiten. In späteren Ansätzen in der Geographiedidaktik wird dieser Fokus auf Informationen über Länder oder Kulturräume kritisiert, bei dem Werte ausgeblendet blieben und Vorurteile implizit vermieden werden sollen (s. Kap. 3.1.2). Darüber hinaus wird hier angenommen, dass diese Kenntnisse zum Verständnis der „Verschiedenartigkeit von menschlichen Gemeinschaften“ (s. o.) führen, womit wiederum die Kompetenz erworben werde, „Vorurteile zu vermeiden und Fremdes zu verstehen“ (s. o.). Der Erwerb von Kenntnissen, ein Verständnis für Verschiedenartigkeit, die Vermeidung von Vorurteilen und das Verstehen von Fremdem sowie ein Beitrag zur Friedenssicherung scheinen sich als direkte Folge automatisch auseinander zu ergeben. S TÖBER argumentiert dagegen, dass viele Beispiele der Kulturerdteile gerade das Exotische betonten (1996: 198) und dass der Blick auf das Fremde die Wahrnehmung von Differenz stärke (S TÖBER 2011: 16). K ROSS kritisiert, dass das Konzept die Bildung von Vorurteilen fördere (K ROSS 1986, zit. n. S TÖBER & K REUTZMANN 2013: 386). Diese Kritik7 findet sich auch in Standardwerken
7 | Zum Kulturerdteilkonzept N EWIGs liegen seit seinem ersten Erscheinen zahlreiche Kritiken vor, die sich auf verschiedene Aspekte, wie z. B. die inhaltliche und didaktische
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der Geographiedidaktik, wie z. B. bei R EINFRIED (2015), die auf die Gefahr einer Perpetuierung von allgegenwärtigen Stereotypen und Vorurteilen durch den Unterricht hinweist: „Ordnet man Menschen aufgrund bestimmter Merkmale, wie etwa ethnischer Zugehörigkeit, Religionen [sic], Sitten, Gebräuche, Kleidung oder Hautfarbe, bestimmten Räumen und Kulturen zu, wie dies im Konzept der „Kulturerdteile“ [. . . ] der Fall ist, können Vorurteile und Stereotype noch verstärkt werden.“ (R EINFRIED 2015: 74)
In der anglophonen Geographiedidaktik hat sich Fran M ARTIN eingehend mit Konzepten von „similarity“ und „difference“ (2013:10), besonders im Kontext von Unterricht über „distant place[s]“ (2013:12) auseinandergesetzt. Sie weist auf die Gefahr einfacher, dichotomisierender Weltbilder hin und spricht dabei anknüpfend an die nigerianische Schriftstellerin Chimamanda Ngozi A DICHIE (2009) von „single stories“: „In the context of teaching about other people, places and cultures, single stories are highly problematic” (M ARTIN 2012: 11). In ihrem Vortrag mit dem Titel „The Danger of a Single Story“ kritisiert A DICHIE (2009) eindimensionale Weltbilder über „Andere“ u. a. am Beispiel verbreiteter Imaginationen von Afrika und Mexiko. Diese machten in der stetigen, unhinterfragten Wiederholung die Menschen zu „Anderen“, erschwerten das Erkennen von Gemeinsamkeiten und reduzierten die Pluralität unterschiedlicher Wirklichkeiten machtvoll. M ARTIN (2012, 2013) und andere Geographiedidaktiker_innen wie B IDDULPH (2011, zit. n. M ARTIN 2013: 12) und G RIFFITHS und A LLBUTT (2011, zit. n. M ARTIN 2012: 120–121) übertragen diese Problematik auf den Geographieunterricht. Einseitige Weltbilder im Geographieunterricht höben Differenz zwischen dem „Eigenen“ und dem „Anderen“ hervor und übertrieben diese einseitig, während Differenzen innerhalb des „Eigenen“ und des „Anderen“ ausgeblendet würden (M ARTIN 2013: 12). Komplexe Gesellschaften würden so reduziert und stereotypisiert. Dass N EWIG postuliert, so könne eine eurozentristische Sicht auf die Welt relativiert werden, kann im Anschluss an T RÖGER (1987: 281–282, s. a. S TÖBER & K REUTZMANN 2013: 386) als rein legitimatorische Floskel verstanden werden. Das Postulat verschleiert, dass das in N EWIGs Konzept angebotene „Wissen“
Eignung für den Geographieunterricht oder auch auf die methodische Seite des Konzepts beziehen. Diese Kritik wird hier nicht im Einzelnen dargestellt. Für eine Übersicht über die Kritiken sei auf S TÖBER & K REUTZMANN (2013: 385–389) und für eine ausführliche Analyse einer Schulbuchdoppelseite zu den Kulturerdteilen im Hinblick auf interkulturelles/antirassistisches Lernen sei auf R ADTKE (1995: 278–293) verwiesen.
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über „Andere“ ein spezifisches Wissen ist. Diesem liegt durchaus die Perspektive des Autors zugrunde, die an die geographischen Kulturraumgliederungen und europäischen Diskurse des 19. Jahrhunderts über Kultur anschließt (vgl. S TÖBER & K REUTZMANN 2013: 381; B ÖGE 2011: 6). Anhand der aufgezeigten Problematiken erscheint es wenig erstaunlich, wenn S TÖBER & K REUTZMANN (2013: 390) nicht dem Kulturerdteilkonzept selbst eine interkulturelle Zielsetzung zuerkennen, sondern vielmehr darauf verweisen, dass Ansätze des interkulturellen Lernens herangezogen werden könnten, um in einer reflexiven Thematisierung der Kulturerdteile über diesen zugrundeliegende stereotypisierende Weltbilder und Vorurteile nachzudenken. 3.1.2 Entwicklungspolitischer Unterricht Nach dem Kieler Geographentag 1969 wurde für den Geographieunterricht die Aufgabe von Länderkunde zugunsten Allgemeiner Geographie sowie die Ausrichtung an Lernzielen und an der Sozialgeographie gefordert (B UDKE 2008: 12). Beeinflusst durch die Dependenztheorie wurde der bisherige Unterricht über Entwicklungsländer in den 1980er Jahren zu einem entwicklungspolitischen Unterricht umgestaltet (K ROSS 2004: 14). In diesem Kontext des entwicklungspolitischen Unterrichts verortet K ROSS (2004: 14) die Entwicklung des interkulturellen Lernens in der Geographiedidaktik. B UDKE (2008: 13) zufolge bedeutet „(inter-)kulturelles Lernen“ im entwicklungspolitischen Unterricht die „Aufgabe“ rassistischer Sichtweisen und die Anerkennung der Mitverantwortung der Industrie für Probleme der Entwicklungsländer. Vorurteile sollen im entwicklungspolitischen Geographieunterricht explizit verhandelt werden (K ROSS 1992: 34). Ziele sind demnach der Abbau von Vorurteilen und der Aufbau von positiven, partnerschaftlichen Einstellungen gegenüber Menschen aus Staaten, die unter der Bezeichnung „Dritte Welt“ zusammengefasst werden (K ROSS 1992: 34; B UDKE 2008: 13). K ROSS (1992: 34) hebt die Förderung „mitfühlende[r] Einsicht“ (K ROSS und M ÜLLER 1985: 2 (Lehrerheft), zit. n. K ROSS 1992: 34) und „gegenseitiger Verantwortung“ M ÜL LER 1985: 2 (Lehrerheft), zit. n.][34]Kross1992 hervor. T RÖGER betont, dass die Schüler_innen im Geographieunterricht „dazu angeleitet werden [sollen], die eigene biographiegebundene Wahrnehmung der „Dritten Welt“ zu reflektieren“ (1993: 151). Ziel sei es, dass die Schüler_innen mit der eigenen ethnozentrischen Wertorientierung reflektiert umgehen, um in „Konfliktsituationen zu einer eigenen Position zu finden“ (T RÖGER 1993: 151). Damit werden andere Schwerpunkte gesetzt als bei den oben vorgestellten Ansätzen, die Toleranz und Friedenserziehung primär über Wissenserwerb erreichen wollen.
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„Mit seinem Bekenntnis zu einem bewußten und akzeptierenden Umgang mit ethnozentrischen Wertungen distanziert sich das vorgeschlagene Konzept des entwicklungspolitischen Unterrichts von jenen Unterrichtsansätzen, die darauf bauen, daß ausreichende Kenntnisse über die ‚Dritte Welt‘ auch quasi automatisch zu einem toleranten und gerechten Verhalten gegenüber den Menschen aus diesen armen Ländern führen.“ (T RÖGER 1993: 152)
Vielmehr schlägt T RÖGER entwicklungspolitisches Lernen „als Hineinblicken in die eigene Kultur“ (1993: 152) vor, wobei auf die eigene ethnozentrische Wertgebundenheit fokussiert wird, die als gesellschaftlich bedingte eigene „Selbstverständlichkeiten“ (1993: 152) bewusst gemacht werden müsse. 3.1.3 Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft Während K ROSS (2004: 14) die Entwicklung des interkulturellen Lernens in der Geographiedidaktik im entwicklungspolitischen Unterricht verortet, fällt auf, dass B UDKE (2008: 13) im Zusammenhang mit entwicklungspolitischem Lernen das „Inter-“ im Begriff des interkulturellen Lernens in Klammern gesetzt verwendet (s. o.). B UDKE (2008: 15) zufolge wurde das interkulturelle Lernen im Geographieunterricht vielmehr als Reaktion auf zunehmende migrationsbedingte Heterogenität der Schulklassen konzipiert8 . Bei genauerem Hinsehen fällt allerdings auf, dass auch K ROSS interkulturelles Lernen im Kontext migrationsgesellschaftlicher Differenz verortet und die Präsenz Migrationsanderer in den Schulklassen in Deutschland als ausschlaggebend für die Entwicklung von Ansätzen des interkulturellen Lernens darstellt: „Quasi als Ableger des entwicklungspolitischen Unterrichts entwickelte sich das interkulturelle Lernen – zumindest in der Geographiedidaktik. Man könnte es auch als Übertragung der Vorurteilsproblematik aus der Dritten in die Erste Welt verstehen. Die Migranten aus der Dritten Welt waren in unseren Klassenzimmern sichtbar geworden. Man fühlte sich mit dafür verantwortlich, neue pädagogische Konzepte für das Zusammenleben mit ihnen zu entwickeln. Hierbei konnte die Geographiedidaktik auf die Ansätze zur Friedenserziehung
8 | Sowohl K ROSS (2000, 2004) als auch B UDKE (2008) beziehen sich hier auf fachliche Debatten im Kontext der BRD. B UDKE erläutert, dass es in der DDR keine Parallele zur Diskussion um interkulturelles Lernen in der BRD gegeben habe. Vielmehr seien im Geographieunterricht „die Gemeinsamkeiten der sozialistischen Länder hervorgehoben“ (B UDKE 2008: 13) und zu Solidarität mit anderen sozialistischen Ländern aufgerufen worden (ebd.).
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[. . . ], zur Menschenrechtserziehung [. . . ] und zur internationalen Erziehung zurückgreifen.“ (K ROSS 2004: 14)
Die Frage des „Zusammenlebens“ in derselben Gesellschaft ist sowohl bei B UDKE (2008: 15) als auch bei K ROSS (2004: 14) zentral für die Entwicklung interkulturellen Lernens. Die Wahl des Begriffs „Zusammenleben“ erscheint dabei nicht zufällig, da K ROSS die Bedeutung des sozialgeographischen Ansatzes der Daseinsgrundfunktionen betont. Die Daseinsgrundfunktion „Leben in Gemeinschaften/Zusammenleben“ lässt sich im Anschluss an K ROSS (2000: 413) als Rahmen der geographiedidaktischen Konzeption interkulturellen Lernens verstehen. Für K ROSS (2004: 14) ergibt sich die Verortung interkulturellen Lernens im Paradigma des entwicklungspolitischen Unterrichts über die „Vorurteilsproblematik“ (2004: 14). Sei es dabei zunächst um die kritische Auseinandersetzung mit Vorurteilen gegenüber Menschen in Staaten des Globalen Südens gegangen, stelle Migration aus diesen Ländern nach Deutschland nun das entscheidende Bindeglied für die Entwicklung von interkulturellen Ansätzen dar. Die „Vorurteilsproblematik“ „übertrage“ sich dadurch gleichermaßen in den Globalen Norden und in die unmittelbare Umgebung der am Unterricht Beteiligten. Zentrale Aufgabe sei demnach, die qua Migration nun auch für das Zusammenleben im Nahraum relevanten Vorurteile gegenüber Menschen des Globalen Südens zu bearbeiten. Ich möchte folgende zwei Anmerkungen zur Argumentation von K ROSS machen: Erstens erscheint die Verortung der „Vorurteilsproblematik“ in der „Dritten Welt“ missverständlich, handelt es sich doch um Vorurteile, die Menschen im Globalen Norden haben. Nicht die „Vorurteilsproblematik“ „migriert“ dann mit den Menschen aus dem Globalen Süden in den Globalen Norden. Sie war vielmehr bereits im Globalen Norden situiert und betrifft gleichermaßen Menschen im Globalen Süden wie auch Migrationsandere, postkoloniale Migrant_innen und Schwarze Menschen im Globalen Norden. Zweitens erscheint Migration im obigen Zitat von K ROSS als vergleichsweise rezentes Phänomen (zur Kritik s. BADE & O LTMER 2004). Die Situierung der Vorurteilsproblematik im Nahraum erscheint mir zumindest zum Teil auch als Shift der Wahrnehmung sowie des thematischen Fokus beschreibbar. Die Veränderung der Wahrnehmung wird auch bei B UDKE angesprochen. Sie hebt hervor, dass „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit zunehmend als Probleme des Nahraums erkannt“ (B UDKE 2008: 13) wurden und sieht als Aufgabe für den Geographieunterricht ähnlich wie K ROSS (2004: 14) die „Aufklärung und den Abbau von Vorurteilen“ (B UDKE 2008: 15). Explizit als interkulturell bezeichnete Ansätze kommen in der geographiedidaktischen Diskussion folglich im Zusammenhang mit der Diagnose migrati-
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onsbedingt heterogener Schulklassen auf. K ROSS (2000: 414) spricht von einem „Umbruch von der Außen- zur Innenperspektive, die mit der Hinwendung zum interkulturellen Lernen verbunden ist“. Als Zeitpunkt des Umbruchs von der Außenzur Innenperspektive macht K ROSS (2000: 414) das Bochumer Symposium zur internationalen Erziehung im Geographieunterricht 1991 aus. Die Diskussion um interkulturelles Lernen in der Geographiedidaktik setzte dann verstärkt in den 1990er Jahren ein (K ROSS 2000: 415). Zu diesem Zeitpunkt hatte in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion ein semantischer Wechsel hin zur Deutung migrationsgesellschaftlicher Verhältnisse mithilfe von Kultur stattgefunden. In Abgrenzung zur defizitorientierten sogenannten Ausländerpädagogik verschob sich die erziehungswissenschaftliche Diskussion hin zu einer Betrachtung der Differenz zwischen den Kulturen der Zugewanderten und der Kultur der „Einheimischen“ (AUERNHEIMER 2007: 34–36; vgl. auch M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2007: 122–127; S CHRÜFER 2009: 154). Den Paradigmenwechsel von der Ausländerpädagogik zur interkulturellen Pädagogik verortet der Erziehungswissenschaftler HAMBURGER zeitlich beim achten Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft im Jahr 1982. Dort seien „Probleme mit den Ausländerkindern“ durchgängig unter dem „Etikett ‚Kultur‘“ (H AMBURGER 1994:21, zit. n. H ÖHNE 2001: 202) verhandelt worden9 . Ausländerpädagogische Ansätze wurden für ihre Defizitorientierung und den alleinigen Fokus auf die Migrant_innen kritisiert, die es zu integrieren galt und für die kompensatorische Fördermaßnahmen (besonders im Bereich von Deutsch als Fremdsprache bzw. Zweitsprache) konzipiert wurden (M ECHERIL 2010b: 56)10 . Es handelt sich also bei der Ausländerpädagogik um eine zielgruppenspezifische Pädagogik. Ausgehend von der Kritik an der Defizitorientierung der Ausländerpädagogik weitete der Ansatz der interkulturellen Pädagogik die Zielgruppe aus.
9 | Ausländerpädagogik und interkulturelle Pädagogik werden hier allerdings weniger als zeitlich klar gegeneinander abgrenzbare und aufeinander folgende Perioden verstanden, sondern als Schwerpunkte in der erziehungswissenschaftlichen Debatte. Sie als unterschiedliche „Paradigmen der Reaktion auf migrationsgesellschaftliche Pluralität“ (M ECHERIL 2010b: 60) zu begreifen, ermöglicht es zu bedenken, dass diese auch gleichzeitig nebeneinander bestehen können und sich mit Selbstverständnissen und Handlungsansätzen mischen können, die dem jeweils anderen Paradigma zugerechnet werden können (M ECHERIL 2010b: 56–61). 10 | Neben dem Ziel der schulischen Integration gab es paradoxerweise gleichzeitig die Orientierung, dass die „Rückkehrfähigkeit“ der Schüler_innen aufrechterhalten werden sollte, was z. B. über muttersprachlichen Ergänzungsunterricht erfolgen sollte (M ECHERIL 2010b: 56).
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Der Fokus wurde verschoben von einer alleinigen Adressierung Migrationsanderer (als defizitär) hin zu einer Betrachtung der Differenz zwischen den Kulturen der Eingewanderten und der „Einheimischen“ (AUERNHEIMER 2007: 34–40; vgl. auch M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2007: 122–127; S CHRÜFER 2009: 154; S CHRÖDER 2016a: 6–7). Mit der Orientierung an Differenz rückte Kultur als Unterscheidungskriterium in den Mittelpunkt der Diskussionen. Im interkulturellen Paradigma wird die Begegnung unterschiedlicher Kulturen als Bereicherung verstanden und die Anerkennung und Respektierung von Differenz werden zur Leitlinie (M ECHERIL 2010b: 57). Anerkennung kultureller Differenz kann bis heute als zentrales Bildungsziel interkultureller Pädagogik verstanden werden (M ECHERIL 2015: 33). Als leitende Motive der interkulturellen Pädagogik gelten „das Eintreten für die Gleichheit aller ungeachtet der Herkunft, die Haltung des Respekts für Andersheit, die Befähigung zum interkulturellen Verstehen, die Befähigung zum interkulturellen Dialog“ (AUERNHEIMER 2007: 21). Auch das interkulturelle Lernen im Geographieunterricht stellt kulturelle Differenz und einen anerkennenden Umgang mit dieser ins Zentrum. Es wird als Antwort auf migrationsbedingte kulturelle Heterogenität in den Schulklassen verstanden (B UDKE 2008: 15). Ziel interkulturellen Lernens im Geographieunterricht ist nach diesem Verständnis die friedliche Gestaltung eines migrationsgesellschaftlichen Zusammenlebens in kultureller Heterogenität. 3.1.4 Interkulturelles Lernen als Teilbereich des Globalen Lernens Interkulturelles Lernen wird in der Geographiedidaktik auch als Teilbereich des Globalen Lernens verstanden (B UDKE 2008: 16; S CHRÜFER 2013: 110). Für das Globale Lernen macht K ROSS (2004: 8–11) vier zentrale globale Problemfelder aus, die als Schlüsselprobleme alle Schüler_innen betreffen und in ihrer Vernetztheit thematisiert werden sollen: Bevölkerungswachstum, Wohlstandswachstum, Gefährdung der Umwelt und Gefährdung des sozialen Friedens. Zu diesen Problemfeldern setzt B UDKE (2008: 17–18) interkulturelles Lernen in Beziehung. Interkulturelles Lernen als Teilbereich des Globalen Lernens beschäftigt sich „im Besonderen mit der Rolle der ‚Kultur‘ bei Fragen und Problemen des ‚friedlichen Zusammenlebens‘ und des ‚Wohlstandswachstums‘ auf unterschiedlichen Maßstabsebenen“ (B UDKE 2008: 16). Als mögliche Unterrichtsthemen für interkulturelles Lernen als Teilbereich Globalen Lernens nennt sie u. a. internationale Migration, multikulturelle Gesellschaft/Integration, internationale/interethnische Konflikte und religionsgeographische Themen/Weltreligionen. Diese Themen ordnet sie dabei dem Teilbereich „friedliches Zusammenleben“ zu. Im Teilbereich des „Wohl-
Kapitel 3: Interkulturelles Lernen in der geographiedidaktischen Diskussion | 83
standswachstums“ benennt sie u. a. folgende Themen für interkulturelles Lernen: Entstehung globaler Konsumkulturen („McDonaldization“), die Produktion bzw. Inwertsetzung von Kultur durch Tourismus oder interkulturelles Wissen als wirtschaftlichen Standortvorteil. Interkulturelles Lernen wird in diesen Zusammenhängen folglich auf verschiedenen Maßstabsebenen wie dem eigenen Lebensraum, Europa und der Welt verortet (B UDKE 2008: 16; K ROSS 2000: 415–416). Im Hinblick auf die normative Dimension von Unterrichtsthemen im Globalen Lernen wird interkulturelles Lernen auch mit Ansätzen des wertorientierten Lernens verknüpft. Dabei werden Wertedifferenzen zugrunde gelegt, die durch kulturelle Differenzen bedingt seien (z. B. S CHRÜFER 2013: 110, 2010: 106–108; M EYER 2014). Zentrale Anliegen sind dann der Perspektivenwechsel, um „das Wahrnehmen und Handeln der Anderen verstehen zu können“ (S CHRÜFER 2010: 104–106) und das Erkennen der Begrenztheit der eigenen als kulturell bedingt verstandenen Perspektive bzw. der eigenen „kulturgebundenen Wahrnehmung und Beurteilung“ (S CHRÜFER 2010: 108; s. a. A PPLIS 2015: 20; S CHRÜFER 2010: 108).
3.2 E INGRENZUNG DES EIGENEN E RKENNTNISINTERESSES Angesichts des heterogenen thematischen Feldes nehme ich im Folgenden eine Eingrenzung vor, die das empirische Feld für diese Untersuchung abgrenzt und klärt, zu welchen Aspekten in der geographiedidaktischen Diskussion diese Studie beitragen möchte. Ich konzentriere mich auf das Thema des migrationsgesellschaftlichen Zusammenlebens in Deutschland. Interkulturelles Lernen bezieht sich in diesem Verständnis auf den Kontext der Migrationsgesellschaft, der „gemeinsamer Kontext der Beteiligten ist“ (M ESSERSCHMIDT 2006: 51, Herv. im Original) und setzt sich mit diesem auseinander (s. a. S CHRÖDER 2016a: 5). Mit dieser Eingrenzung verknüpft sich das Anliegen, möglichst differenziert auf Fragen des migrationsgesellschaftlichen Zusammenlebens und natio-ethnokulturelle Ab- und Ausgrenzungen einzugehen und diese in ihrer Einbettung in
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den strukturellen11 und diskursiven12 gesellschaftlichen Kontext zu analysieren. Die von K ROSS (2000: 423) thematisierte kritische Auseinandersetzung mit Vorurteilen gegenüber Migrationsanderen oder auch die Frage der Anerkennung von als kulturell verstandener Differenz in der Migrationsgesellschaft können dann – in analytischer wie konzeptioneller Hinsicht – auf den gesellschaftlichen Kontext bezogen werden, in dem sie verhandelt werden. Dabei möchte ich auch auf die Gefahr einer problematischen Vermischung hinweisen. Diese stellt sich für mich insbesondere vor dem Hintergrund der langjährigen Diskussionen um Kultur in der Geographiedidaktik, die interkulturelles Lernen sowohl auf den Kontext der Migrationsgesellschaft beziehen als auch auf andere Kulturräume oder nationalstaatlich verstandene Kulturen. S CHRÜFER (2010: 102) sieht „die Förderung interkultureller Kompetenz durch interkulturelles Lernen [. . . ] als wesentliches Teilkonzept Globalen Lernens“. Interkulturelle Kompetenz versteht sie dabei als eine Schlüsselqualifikation unserer Gesellschaft, „nicht zuletzt bedingt durch die kulturelle Diversität der Gesellschaft“ (S CHRÜFER 2010: 102). In Abgrenzung zu anderen Schulfächern (wie z. B. den Fremdsprachen), in denen interkulturelles Lernen ebenfalls verankert sei, hebt sie die besondere Kompetenz der Geographie hervor: „Gleichwohl interkulturelles Lernen als fächerübergreifendes, lebenslanges Lernen gesehen wird, kann gerade die Geographie durch die Thematisierung vieler unterschiedlicher Kulturen einen wesentlichen Beitrag leisten. [. . . ] Im Gegensatz zum Fach Geographie konzentrieren sich die Fremdsprachen jedoch nur auf wenige Länder und Kulturen der Erde.“ (S CHRÜFER 2010: 102–103)
11 | Hier kann z. B. an die Reform des Staatsangehörigkeitsrechts in Deutschland im Jahr 2000 gedacht werden, die auf institutioneller Ebene Fragen der Zugehörigkeit gesetzlich neu geregelt hat. War zuvor Abstammung das entscheidende Kriterium für die Staatsangehörigkeit, wurde mit der Reform für Kinder von Einwander_innen das ius soli eingeführt, so dass diese in der Regel bei der Geburt die deutsche Staatsangehörigkeit bekommen können (M ANNITZ & S CHIFFAUER 2002: 89). Dabei können Konzepte und Regelungen von Staatsangehörigkeit und Vorstellungen von Nationalität, die ethnisch und kulturell konnotiert sein können, als miteinander verknüpft und sich gegenseitig beeinflussend verstanden werden (s. ausführlicher in S CHRÖDER 2017a). 12 | Hier sind insbesondere hegemoniale gesellschaftliche Diskurse über Integration bedeutsam. So prägt in den letzten Jahren u. a. die Frage der (Nicht-)Zugehörigkeit von Islam und Muslim_innen zu Deutschland in unterschiedlicher Intensität die öffentliche Auseinandersetzung um migrationsgesellschaftliche Differenz.
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Während hier zur Legitimation der interkulturellen Zielsetzung auf die Heterogenität in der eigenen Gesellschaft Bezug genommen wird, wird die Kompetenz des Geographieunterrichts eher in der Thematisierung anderer „Länder und Kulturen“ gesehen (S CHRÜFER 2010: 103). Hier ergibt sich für mich die Frage, inwiefern Wissen über andere „Länder und Kulturen“ in einen direkten Zusammenhang mit einem kompetenten Umgang mit migrationgesellschaftlicher Diversität gebracht werden kann. Meines Erachtens birgt ein Zusammendenken von Innen- und Außenperspektive in dieser Form die Gefahr, Migrationsandere auf ihre vermeintlich authentische andere Kultur festzuschreiben. Eine Verortung Migrationsanderer „in einem imaginären Anderswo“ (H ÖHNE 2005: 603) wurde in Analysen von Geographieschulbüchern bereits herausgearbeitet und kritisiert (L OSSAU 2005: 245; M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2007: 272–273). Ein fließender Übergang zwischen „Blicken nach außen“ und der Beschäftigung mit der eigenen Gesellschaft lässt sich auch in unterrichtspraktischen Überlegungen beobachten. S CHRÜFER (2009: 170) stellt an anderer Stelle Überlegungen vor, wie ein Aufbau interkultureller Kompetenz im Anschluss an B ENNETT (1993, zit. n. S CHRÜFER 2009: 158) im Geographieunterricht gestaltet werden könne. In ihren beispielhaften Vorschlägen, wie dies im Unterricht umgesetzt werden könne, geht sie u. a. darauf ein, „wie [. . . ] die Menschen in anderen Ländern“ leben (S CHRÜFER 2009: 170). Diesem Thema stellt sie den Vorschlag eines „interkulturellen Spaziergangs“ durch die eigene Stadt zur Seite (S CHRÜFER 2009: 171). Ziel der in dieser Studie vorgenommenen Eingrenzung ist eine analytische Trennung in der Diskussion um die Konzeptionalisierung interkulturellen Lernens, um die Spezifizität der unter der Perspektive Kultur jeweils verhandelten Differenzen besser in den Blick zu bekommen13 . Von der Thematisierung des Zusammenlebens in der Migrationsgesellschaft wären dann z. B. internationale Konflikte zu unterscheiden, deren Einbettung in spezifische (geopolitische) Motivstrukturen sowie globale Macht- und Ungleichheitsverhältnisse gesondert zu betrachten wäre. Damit greift die Anlage der Untersuchung auch Kritik bezüglich der Ausblendung von Machtverhältnissen in Ansätzen für das interkulturelle Lernen auf (M ÖNTER 2013: 94). Der Einbezug von gesellschaftlichen Machtverhältnissen erfordert eine situierte Betrachtung der jeweils relevanten Kontexte.
13 | Es geht mir nicht um einen generellen Vorschlag, interkulturelles Lernen auf die Innenperspektive einzugrenzen und die oben genannten vielfältigen Themenbereiche des Globalen Lernens auszuklammern, in denen interkulturelles Lernen in der Geographiedidaktik verortet werden kann (B UDKE 2008: 17).
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3.3 T HEORETISCHE G RUNDLAGEN
IN DER
D ISKUSSION
Auch hinsichtlich der theoretischen Grundlagen kann die geographiedidaktische Diskussion um interkulturelles Lernen als heterogen bezeichnet werden. Die Spannweite der Konzeptualisierungen von Kultur reicht von essentialistischen Verständnissen auf der einen Seite bis hin zu konstruktivistischen Ansätzen auf der anderen Seite (B UDKE 2013: 154). So basieren z. B. die konzeptuellen Vorschläge zum interkulturellen Lernen von S CHRÜFER (2009, 2013) auf kulturrelativistischen Grundannahmen. S CHRÜ FER entwickelt ihre Überlegungen aufbauend auf dem „Developmental Model of Intercultural Sensitivity“ von B ENNETT (1993, zit. n. S CHRÜFER 2009: 158). Sie geht aus relativistischer Perspektive davon aus, dass Menschen für Bewertungen und Entscheidungen auf kulturelle Orientierungsrahmen zurückgreifen, durch die sie geprägt seien. An dieser Stelle überschneiden sich die Diskussionen um interkulturelles Lernen und Wertebildung und -bewusstsein im Globalen Lernen. Unterschiedliche Perspektiven werden auf „kulturell bedingte Wertedifferenzen“ (S CHRÜFER 2012: 5; vgl. auch S CHRÜFER 2010: 106–108) zurückgeführt. Kulturelle Wertedifferenzen sollen im Globalen Lernen „erkannt, berücksichtigt und gegeneinander abgewogen werden“ (S CHRÜFER 2012: 5). Hierin wird die Rolle interkultureller Kompetenz für die Förderung von Bewertungskompetenz im Globalen Lernen gesehen (S CHRÜFER 2012: 5, 2013: 123). S CHRÜFER setzt sich auf dieser Grundlage auch kritisch mit dem interkulturellen Ziel der Toleranz und Offenheit auseinander, das sich in vielen Lehrplänen zeige und betont, dass es für ein Zusammenleben (und nicht nur Nebeneinanderleben) vielmehr notwendig sei, „das Wahrnehmen und Handeln der Anderen verstehen zu können“ (S CHRÜFER 2010: 104–106). Damit grenzt sie sich von Ansätzen ab, die den Wissenserwerb über andere Länder als zentral für den Abbau von Vorurteilen erachten. Sie hält diesem entgegen, dass vielmehr Wissen über Werte- und Orientierungssysteme nötig sei (S CHRÜFER 2003: 11). Dies sei nur durch eine kulturrelativistische Sicht möglich (S CHRÜFER 2010: 106). Es geht ihr darum, Schüler_innen den „Einfluss von Kultur auf Denken, Wahrnehmen, Urteilen, Handeln usw. bewusst“ (S CHRÜFER 2010: 106) zu machen, damit diese erkennen können, dass ihre eigenen Werte und Haltungen nicht universell gültig seien (S CHRÜFER 2010: 106). Mit kulturrelativistischen Grundannahmen als ethische Basis für den Geographieunterricht setzt sich A PPLIS (2015) kritisch auseinander. A PPLIS (2015: 4–6) geht es mit Bezug auf interkulturelles Lernen und auf Modelle der moralischen Urteilsentwicklung um die Erstellung theoriebasierter Kompetenzentwicklungsmo-
Kapitel 3: Interkulturelles Lernen in der geographiedidaktischen Diskussion | 87
delle für den Bereich des wertorientierten Lernens (Beurteilen und Bewerten). Er fragt, welche Theorie als ethische Bezugstheorie im Geographieunterricht geeignet sei und setzt sich entlang dieser Frage sowohl mit normativ-universalistischen Modellen als auch mit kulturrelativistischen Positionen der interkulturellen Geographiedidaktik im Anschluss an B ENNETT (S CHRÜFER 2009, 2010) auseinander. In geographiedidaktischen Veröffentlichungen im Bereich Bildung für nachhaltige Entwicklung, interkulturelles Lernen und Globales Lernen sowie in den Bildungsstandards finden sich, so A PPLIS, „einerseits eine starke Orientierung an universalen Theorien der politischen Ethik (Menschenrechte, universale Gerechtigkeit), andererseits aber zugleich auch kulturrelativistische und damit normenrelativistische Standpunkte, die ernst zu nehmende Anfragen an die Universalität der Menschenrechte stellen“ (A PPLIS 2015: 4). Einen „ethische[n] Kulturrelativismus mit normativem Anspruch“ (A PPLIS 2015: 20) hält er aufgrund des Normenrelativismus als Grundlage für den Geographieunterricht für nur begrenzt geeignet (A PPLIS 2015: 17). Unter anderem verweist er auf das prekäre Verhältnis zwischen universalistischen Menschenrechten und ethischem Kulturrelativismus. Letztere Position laufe Gefahr zu übersehen, dass Argumente des Kulturpluralismus durchaus auch politisch instrumentalisiert würden (z. B. in Bezug auf Religionskriege), um menschenrechtsbezogene Kritik abzuwehren (A PPLIS 2015: 16). Bei T RÖGER (2002) wird Werteorientierung losgelöst von einem ethnisch konnotierten Kulturbegriff. Sie entwirft auf der Grundlage von Transkulturalität und einem Verständnis von Identitätsbildung als dynamischen Prozess eine Perspektive für Wertorientierung im Geographieunterricht, in der Kultur nicht als erklärende Variable für Wertedifferenzen konzeptualisiert wird. Dabei sind zwei theoretische Dimensionen ihrer Überlegungen entscheidend. Sie versteht erstens Individuen wie Gesellschaften als transkulturell ausgeprägt. Zweitens fasst sie Identitäten als prozesshaft-dynamisch und ergebnisoffen; als Aushandlungsprozesse unter Bedingungen, in denen es keine strikt eigenen und keine fremden kulturellen Elemente gibt (T RÖGER 2002: 35). Damit wird Werteorientierung von der kulturrelativistischen Grundannahme gelöst. Individuen sind dann nicht länger vorstellbar als Träger_innen von Kulturen, in deren verbindliche und vorgegebene Werte sie über Enkulturation einsozialisiert wurden. B UDKE (2008: 15) zufolge war ein multikulturalistisches Verständnis von Kulturen in der Migrationsgesellschaft Ausgangspunkt für den Anspruch, interkulturelles Lernen im Geographieunterricht zu verankern (s. Kap. 3.1.3). Dem multikulturalistischen Grundverständnis folgend ergibt sich die Koexistenz von Kulturen „durch die Einwanderung von Menschen unterschiedlicher nationalkultureller Prägung“ (B UDKE 2008: 15). Ähnlich wie in kulturrelativistischen Posi-
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tionen werden auch im multikulturalistischen Verständnis kulturelle Unterschiede als gegeben betrachtet. Ihnen wird für das migrationsgesellschaftliche Zusammenleben Bedeutung beigemessen. Anerkennung und Toleranz der „Anderen“, die als kulturell different beschrieben werden, spielt auch aus multikulturalistischer Perspektive eine zentrale Rolle. Im Anschluss an den Cultural Turn schließlich werden in der aktuellen geographiedidaktischen Diskussion um interkulturelles Lernen auch konstruktivistische Positionen vertreten (B UDKE 2013; M ÖNTER 2013; B UDKE 2008: 24). B UDKE (2008: 24), B UDKE (2013: 160) und M ÖNTER (2013) schlagen eine Reorientierung interkultureller Ansätze im Anschluss an konstruktivistische Kulturkonzepte der Neuen Kulturgeographie vor.
3.4 P ROBLEME
VON A NSÄTZEN DES INTERKULTURELLEN L ERNENS
Im Anschluss an den Cultural Turn gibt es in der Geographiedidaktik eine kritische Auseinandersetzung mit Problemen, die sich aus dem Kulturverständnis für Ansätze des interkulturellen Lernens ergeben. Die kritische Diskussion um interkulturelles Lernen und Überlegungen zur Weiterentwicklung greifen insbesondere auf Untersuchungen von Geographieschulbüchern und die dort herausgearbeiteten Probleme zurück (u. a. B UDKE 2013; L OSSAU 2005; M ÖNTER 2013; M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2007; S TÖBER 2001a, 2011). Dabei werden konstruktivistische Überlegungen aus dem Umfeld der Neuen Kulturgeographie rezipiert (s. B UDKE 2013, 2008: 23–24; M ÖNTER 2013; B ÖGE 2011: 7; L OSSAU 2005; P OTT 2008)14 und es wird diskutiert, was diese zu einer Rekonzeptualisierung des interkulturellen Lernens im Geographieunterricht beitragen können (s. B UD KE 2013: 156, 160–161, 2008: 23–24; M ÖNTER 2013: 94–95; B ÖGE 2011: 6–7). Ausgehend von der Kritik an Kultur-Raum-Verknüpfungen und der Vorstellung von einer mehr oder weniger statischen Abgegrenztheit inselartiger Kulturen ist zudem eine Orientierung am Konzept der Transkulturalität nach W ELSCH vorge-
14 | B ÖGE (2011: 7) rezipiert die Publikation von G LASZE & T HIELMANN (2006b), die aus einer Fortbildung für Geographielehrer_innen zum Verhältnis von Kultur und Raum am Beispiel „Orient“ und „Okzident“ hervorgegangen ist und in der Aufsätze von Kulturgeograph_innen, Geographiedidaktiker_innen, Soziolog_innen, Erziehungswissenschaftler_innen, Islamwissenschaftler_innen und Schulpraktiker_innen vereint sind (G LASZE & T HIELMANN 2006a: 3–5).
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schlagen worden (B UDKE 2013: 159–160, 2008: 20–21; ein früher Bezug auf das Konzept findet sich bei ROHWER 1996: 6–7). Bevor ich die Vorschläge zur Weiterentwicklung vorstelle, lege ich zunächst die Probleme bestehender Ansätze zum interkulturellen Lernen dar. Im Zentrum steht dabei die Diskussion möglicher (nicht intendierter) Effekte, wobei vermeintliche Fraglosigkeiten und Normalitäten als Ausgangspunkt dienen (M ECHERIL 2015: 46). Dies ermöglicht es, auch die Zentralstellung der Differenzdimension ‚Kultur‘ im interkulturellen Lernen zum Gegenstand der Reflexion zu machen und diese nicht als selbstverständlich „so-und-nicht-anders-möglich“ zu betrachten. Denn das grundlegende Ziel interkulturellen Lernens, die Anerkennung kultureller Differenz erscheint zwar angesichts der gesellschaftlichen Heterogenität durchaus plausibel (M ECHERIL 2015: 33). Viele Zeitdiagnosen beschreiben die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen wir leben, als kulturell plural und dynamisch. Auch weltweite Migrationen trügen zu einer Pluralisierung lokaler sozialer Kontexte bei (M ECHERIL 2015: 33; vgl. z B. W ELSCH 1998: 51–52; W ERLEN & L IPPUNER 2007: 24–25). Gleichwohl lassen sich im Anschluss an (M ECHERIL 2015: 34; vgl. auch S CHRÖDER 2016a: 7–8) zwei grundlegende Probleme des interkulturellen Anliegens bezogen auf migrationsgesellschaftliche Verhältnisse aufzeigen: 1. „Eine spezifische Verschiedenheit wird gesetzt“ (M ECHERIL 2015: 34, eigene Hervorh.): Kultur als zentrale Differenzdimension Wie oben bereits herausgearbeitet, wird interkulturelles Lernen im Geographieunterricht auf verschiedene Weise mit migrationsgesellschaftlicher Differenz verknüpft – sei es mit dem Ziel der expliziten Thematisierung migrationsgesellschaftlichen Zusammenlebens oder auch im Hinblick auf die Legitimation interkulturellen Lernens durch den Erwerb interkultureller Kompetenz, die in der Migrationsgesellschaft wichtig sei (S CHRÜFER 2010: 102). Die Zentralstellung von ‚Kultur‘ im interkulturellen Lernen suggeriert, dass dies die zentrale relevante Differenzdimension für „die Beschäftigung mit von Migrationsprozessen hervorgebrachter Pluralität“ (M ECHERIL 2015: 34) sei. So verstanden ist die interkulturelle Perspektive zu eingeschränkt, da politische, rechtliche oder ökonomische Differenzlinien ausgeblendet werden und die Gefahr besteht, diese mit Blick auf vermeintlich unterschiedliche Kulturen zu deuten (M ES SERSCHMIDT 2008: 6; M ECHERIL 2015: 34). M ECHERIL (2010b: 61) spricht daher auch von einer kulturalistischen Reduktion migrationsgesellschaftlicher Verhältnisse.
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2 „Eine spezifische Verschiedenheit wird gesetzt “ (M ECHERIL 2015: 34, eigene Hervorh.): Eine migrationsgesellschaftliche Differenz zwischen „uns“ und „den Anderen“ Wenn in Ansätzen interkulturellen Lernens Kultur als relevante Dimension zur Bearbeitung von migrationsgesellschaftlichen Verhältnissen angesehen wird, dann wird nicht eine unbestimmte kulturelle Differenz postuliert, die sich auf vielfältige interindividuelle Unterschiede beziehen könnte (wie z. B. sogenannte Subkulturen). Kulturelle Differenz wird vielmehr argumentativ mit einer „migrationsgesellschaftliche[n] Differenz“ (M ECHERIL 2015: 34, Hervorh. im Original) verknüpft. Die Existenz und Relevanz dieser migrationsgesellschaftlichen Differenz wird dabei zur Voraussetzung interkulturellen Lernens: Wäre dies keine relevante Differenzlinie (in der Gesellschaft oder im Kontext der Schulklasse), dann wäre ihre Bearbeitung mithilfe interkultureller Ansätze nicht notwendig. Wie bereits aufgezeigt, spielte bei der Verankerung von interkulturellem Lernen im Geographieunterricht die Diagnose der Gesellschaft, des Nahraums der Schüler_innen und der Lerngruppen als migrationsbedingt heterogen eine zentrale Rolle (s. Kap. 3.1.3). Interkulturelles Lernen nimmt also migrationsgesellschaftliche Differenz als gegeben an und setzt sie voraus – und zwar in Form einer kulturellen Differenz. Nachfolgend referiere ich die Kritik an bisherigen Ansätzen zum interkulturellen Lernen. Ergänzend zu kritischen Auseinandersetzungen innerhalb der geographiedidaktischen Diskussion ziehe ich auch erziehungswissenschaftliche Literatur heran15 . Ich unterscheide fünf grundlegende Problemkreise: 1. Die Ausblendung von Vernetzungen und Verschränkungen im interkulturellen Lernen 2. Die Tendenz zur Kulturalisierung, die mit der Zentralstellung von Kultur als Betrachtungsebene im interkulturellen Lernen einhergeht 3. Othering und die Festschreibung migrationsgesellschaftlicher Differenz (als kulturelle Differenz)
15 | Dabei werden auch Probleme erneut aufgegriffen, die bereits eingangs bei der Konturierung des Forschungsfeldes aufgezeigt wurden, wie z. B. die Ausblendung von Machtrelationen oder die Reifizierung von Differenz. Diese werden hier hinsichtlich ihrer spezifischen Ausprägungen und Effekte im Kontext interkulturellen Lernens befragt.
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4. Die Gefahr einer Substitution rassistischer Differenzziehungen durch Verweis auf kulturelle Differenz 5. Die Konzeptualisierung interkulturellen Lernens als Lernen über „Andere“ a) Thematisierung der „Anderen“ und Ausblendung des „Eigenen“ b) „Wir“ als Lernsubjekte 3.4.1 Ausblendung von Verschränkungen im interkulturellen Lernen Auch wenn es im interkulturellen Lernen im Geographieunterricht um Verstehen und Verständnis geht, werden doch Unterschiede hervorgehoben und es wird sich auf vermeintlich homogene, als Kultur bezeichnete Kollektive bezogen. Es besteht die Tendenz, unter der Bezeichnung interkulturelles Lernen ein Denken in abgegrenzten, unterscheidbaren, in sich homogenen Kulturen als inselartige Gebilde zu reproduzieren und Verschränkungen und Verflechtungen auszublenden (L OSSAU 2005: 242; H ÖHNE 2001: 208). Im Anschluss an diese Problematik schlägt B UDKE (2013) vor, interkulturelles Lernen auf der Grundlage des Konzepts der Transkulturalität weiterzuentwickeln (hierzu ausführlicher in Kap. 3.5.1). 3.4.2 Tendenz zur Kulturalisierung im interkulturellen Lernen Die Kulturalisierungsproblematik in Ansätzen des interkulturellen Lernens ist in der kritischen geographiedidaktischen Diskussion bereits mehrfach in den Blick genommen worden (B UDKE 2013; M ÖNTER 2013). M ÖNTER misst ihr eine zentrale Bedeutung für die kritische Auseinandersetzung bei, wenn er schreibt: „Drehund Angelpunkt einer Kritik an der Konzeption interkulturellen Lernens ist die Bestimmung und die zugemessene Bedeutung des Begriffes ‚Kultur‘“ (2013:89). Die Kritik richtet sich dabei auf die „Vorrangstellung des Kulturellen im ‚interkulturellen Blick‘“ (M ECHERIL & H OFFARTH 2006: 9; M ECHERIL 2010b: 63). Diese suggeriere, so M ECHERIL und S EUKWA, dass Kultur die zentrale Dimension zur Analyse von Lebenssituationen, Identitätspositionen und Teilhabechancen von einzelnen Personen sei (M ECHERIL & H OFFARTH 2006: 9). Im Kontext interkultureller Bildung „drohen gesellschaftliche Gruppen, [sic!] auf ihre Kultur (oder die Vorstellung selbiger) reduziert zu werden“ (M ÖNTER 2013: 89). Die Tendenz einer kulturellen Interpretation kann sich dabei sowohl auf Individuen und ihre Situation und Verhaltensweisen beziehen als auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse (R EINDLMEIER 2006:236, zit. n. M ESSERSCHMIDT 2008: 13). Wenn soziale Ungleichheiten in einer kulturalisierenden Deutung auf
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einen kulturellen Unterschied reduziert werden, werden strukturell bedingte ökonomische, politische oder rechtliche Ungleichheiten verschleiert, was zu eienr Stabilisierung der Unterschiede beiträgt (M ESSERSCHMIDT 2008: 13; M ECHERIL 2015: 34). Das Sprechen über Kultur bedeute daher oft das „Schweigen über Struktur“, so K ALPAKA (2015: 302). Die Verdeckung von sozialen Ungleichheiten in der interkulturellen Pädagogik durch eine kulturalisierende Interpretation verknüpft M ESSERSCHMIDT (2008: 13–14) mit der Prämisse, dass alle gleichberechtigt sein sollen (vgl. AUERNHEIMER 2007: 21)16 . Dies führe zu einer doppelten Verdrängung von Konflikten: Zum einen würden soziale Ungleichheiten kulturalisierend verschleiert, zum anderen würde die strukturelle Ebene von Ungleichheiten, wie die ungleichen Zugangsvoraussetzungen zu Ressourcen, durch den Gleichheitsansatz harmonisiert und verdrängt (M ESSERSCHMIDT 2008: 14). (M ÖNTER 2008: 88) betont, dass die Kulturalisierungstendenzen im interkulturellen Lernen nicht als intendiert zu verstehen seien. Gleichwohl gelte es danach zu fragen, inwieweit interkulturelles Lernen mit dem Anliegen, „eine Verständigung zwischen den Kulturen zu evozieren, dennoch dazu neigt, gesellschaftliche Konflikte aller Art [unter] einer kulturellen Perspektive zu subsumieren“ (M ÖN TER 2008: 88). 3.4.3 Othering und Festschreibung migrationsgesellschaftlicher Differenz Aus postkolonialer Perspektive besteht eine weitere problematische Auswirkung von interkulturellem Lernen darin, dass es zur Verfestigung von „Wir“-„Sie“Dichotomien beitragen kann (K ALPAKA 2015: 304–305). Im Kontext der deutschen Migrationsgesellschaft, die „gemeinsamer Kontext der Beteiligten ist“ (M ESSERSCHMIDT 2006: 51, Hervorh. im Original), wird mit interkulturellem Lernen auf eine postulierte kulturelle Differenz zwischen „Uns“ und Migrationsanderen reagiert (s. a. S CHRÖDER 2016a: 6–7). Interkulturelles Lernen erklärt folglich kulturelle Differenz zu einer relevanten Differenzlinie, die es zu bearbeiten gilt. Diese wird rückgebunden an eine migrationsgesellschaftliche Differenz zwischen einem imaginierten „Wir“ und Menschen mit Migrationshintergrund. Interkulturelles Lernen setzt also voraus, dass es eine kulturelle Differenz zwischen einem „Wir“ auf der einen Seite und Migrant_innen/Ausländer_innen/
16 | Für AUERNHEIMER stellt „das Wissen um strukturelle Benachteiligung“ (AUERNHEI MER
2007: 21) ausdrücklich Teil der Ziele interkultureller Pädagogik dar. Dies spiegeln
allerdings nicht alle Ansätze interkulturellen Lernens wieder.
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Menschen mit Migrationshintergrund auf der anderen Seite (M ECHERIL 2002: 16) gibt und dass diese Differenz relevant ist und „behandelt“ werden muss (s. a. S CHRÖDER 2016a: 6)17 . Es geht dann nicht etwa um kulturelle Unterschiede, die in „Aushandlungen zwischen Menschen“ – unabhängig von deren vermeintlichen Herkünften – in der Situation selbst erst aufscheinen und dann bearbeitet werden sollen. Vielmehr wird die „Differenz“ Migrationsanderer bereits „vorausgesetzt“. Migrationsandere werden in diesem Verständnis „der kulturellen Differenz bezichtigt“ (M ECHERIL 2015: 34). Dem entspricht auf der anderen Seite die Vorstellung einer vermeintlich homogenen Mehrheitsgesellschaft. Die Gefahr der Verfestigung natio-ethno-kultureller Grenzziehungen durch den differenzbetonenden Ansatz wird durchaus auch in der interkulturellen Pädagogik sowie in der Diskussion um interkulturelles Lernen in der Geographiedidaktik thematisiert (AUERNHEIMER 2007: 121; S CHRÜFER 2009: 155; M ÖNTER 2013: 90–91). Im Anschluss an die Kritik weist S CHRÜFER (2009: 172) darauf hin, dass im Unterricht darauf geachtet werden müsse, den Kulturbegriff nicht nationalstaatlich zu verwenden (s. a. M ÖNTER 2013: 90–91). Der Anspruch, im interkulturellen Lernen „nicht von einem etwa durch die Staatsangehörigkeit identifizierbaren spezifischen Anderen auszugehen“ (M ECHERIL 2015: 35), erscheint allerdings tatsächlich nur sehr schwer umsätzbar. Denn zum einen sind Nationalität, Ethnizität und Kultur im Alltagsverständnis häufig miteinander verwoben und in dieser Verwobenheit auch in die geographiedidaktische Diskussion um die Legitimation interkulturellen Lernens in der Migrationsgesellschaft eingegangen (s. Kap. 3.1.3). Zum anderen erscheint eine Lösung des Kulturgebriffs von Nationalitäts- oder Ethnizitätskategorien besonders dann schwierig, wenn in den entsprechenden Ansätzen für den Geographieunterricht nicht explizit thematisiert wird, woran die kulturellen Unterschiede denn festgemacht werden sollen. Wird nicht expliziert, wie kulturelle Differenz festgestellt werden soll, so besteht bei Formulierungen wie „Schüler [...] anderskultureller Herkunft“ (S CHRÜFER 2009: 171) oder „Schülerinnen und Schüler, die aus kulturell abweichenden Kontexten stammen“ (A PPLIS 2015: 8) durchaus die Gefahr, dass zur Bestimmung der interkulturellen Situation letztlich doch auf eine vorausgesetzte migrations- bzw.
17 | Die Voraussetzung von kultureller Differenz zwischen Menschen ohne und Menschen mit Migrationshintergrund ist angesichts der Entwicklung der interkulturellen Pädagogik kaum verwunderlich und lässt sich nicht nur für geographiedidaktische Ansätze interkulturellen Lernens konstatieren (vgl. a. H ÖHNE 2001: 202, 205; M ESSERSCHMIDT 2008: 11).
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herkunftsbedingte kulturelle Differenz zurückgegriffen wird (S CHRÖDER 2016a: 8). Die Problematik der Voraussetzung migrationsbedingter kultureller Differenz und damit die Zuschreibung von kulturellem Anderssein an Migrationsandere kann nicht nur in der geographiedidaktischen Forschungsdiskussion um interkulturelles Lernen aufgezeigt werden. Auch die „Schulbuchstudie Migration und Integration“ von 2015 kritisiert, dass migrantische Gruppen u. a. in aktuell zugelassenen Geographieschulbüchern als „Fremde“ dargestellt würden (N IEHAUS et al. 2015: 46). Die Studie wurde von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration herausgegeben und untersucht die Darstellung von Migration und Integration in Schulbüchern der Fächer Sozialkunde/Politik, Geschichte und Geographie (N IEHAUS et al. 2015). Dort wird für Geographieschulbücher u. a. das Beispiel einer Schulbuchdoppelseite exemplarisch näher vorgestellt. Es handelt sich um ein Schulbuch aus Nordrhein-Westfalen für Gymnasien für die Sekundarstufe I (L ATZ et al. 2009:160-161, zit. n. N IEHAUS et al. 2015: 46). Dort lautet die Überschrift „Wir untersuchen fremde Kulturen am Schulort“ (ebd.). In den Arbeitsvorschlägen geht es um eine Kartierung von „Migranten und Kulturen bei uns in der Schule, Anteil, Verteilung und Herkunft der Migranten in unserer Stadt (Kartierung)“ (ebd.). Bebildert ist die Doppelseite von einer stereotypen Fotografie, die einen „Orient Grill 4“ zeigt (L ATZ et al. 2009:160, zit. n. N IEHAUS et al. 2015: 60–61). Hier werden also nicht nur „Migrant_innen“ und „fremde Kulturen“ in einen unmittelbaren Zusammenhang gebracht. Vielmehr können diese über die Abbildung des „Orient Grills“ auch mit Migrationsanderen18 assoziiert werden, die
18 | Dass hier qua fotografischer Assoziation „orientalische“, vielleicht türkeistämmige oder arabischsprachige Migrationsandere als „Andere“ imaginiert werden, erscheint kaum zufällig. Auch L OSSAU (2005) hatte die Thematisierung der Türkei bereits in der Analyse einer Doppelseite eines Geographieschulbuchs beobachtet. Dieses Beispiel sei „gewissermaßen ‚zu gut‘ gewählt [. . . ]: Nicht nur, aber auch in der Schulbuchliteratur ist die Türkei zum Inbegriff des Fremden avanciert [. . . ]. Doch die Türkei ist nicht von sich aus fremd. Ihre Repräsentation als fremd setzt vielmehr ein bestimmtes Vorwissen voraus, das mittels verschiedener Vereindeutigungsstrategien immer wieder verfestigt werden muss.“ (L OSSAU 2005: 246) Übertragen auf das Beispiel der Fotografie des „Orient Grills“ kann auch hier von einer (visuellen) Vereindeutigung gesprochen werden: Wer diejenigen sind, die mit „Migranten“ und „Kulturen“ (L ATZ et al. 2009:160-161, zit. n. N IEHAUS et al. 2015: 46) gemeint sind, wird über die Fotografie vereindeutigt, wobei die Branche der als orientalisch wahrgenommenen Fast-Food-Imbisse stereotyp auf türkische/arabische Migrationsandere verweist.
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seit mehreren Generationen in Deutschland leben. Das kulturelle Anderssein der Migrationsanderen, auf die hier assoziativ verwiesen wird, wird also „herkunftsbzw. migrationsbedingt“ vorausgesetzt. „Auch nachdem sie in dieser Gesellschaft sozialisiert sind, werden Personen, deren familiärer Hintergrund mit einer Migrationsgeschichte verbunden ist, mit der Unterstellung kultureller Fremdheit konfrontiert und damit immer wieder auf die Herkunft ihrer Vorfahren verwiesen.“ (M ESSERSCHMIDT 2008: 6)
Indem „auch die zweite und dritte Generation der Nachkommen von Migranten“ (M ESSERSCHMIDT 2008: 6)immer wieder auf die Herkunft ihrer Vorfahren verwiesen wird, wird auf der anderen Seite die Vorstellung einer homogenen Normalität des „Wir“ reproduziert (M ESSERSCHMIDT 2008: 6). Migrationsandere werden dann als Abweichung von der „Fiktion des natio-ethno-kulturellen Prototyps“ (M ECHERIL 2003: 299) markiert. Die Normalität des „unmarkierten Hierseins“ (H ÖHNE 2005: 601) ist ihnen damit verweigert. Zudem werden auf diese Weise Migrationsandere auch in der Schule mit Zuschreibungen konfrontiert und Trennungen auch im Kontext der Lerngruppe immer wieder aufgerufen. So verstandenes interkulturelles Lernen trägt dann nicht dazu bei, Fremdheit hinterfragen zu lernen, sondern beteiligt sich am Einüben der Befremdung der Migrationsanderen (L OSSAU 2005: 246–247). Wenn interkulturelles Lernen die Kategorisierungen und Entgegensetzungen auf diese Weise unhinterfragt reproduziert, trägt es zu ihrer weiteren gesellschaftlichen Verfestigung und Legitimation bei. 3.4.4 Gefahr der Reproduktion und Verdeckung rassismusrelevanter Unterscheidungs- und Deutungsmuster Die Ableitung der Notwendigkeit für interkulturelles Lernen aus der Ankunft Migrationsanderer (s. Kap. 3.1.3) suggeriert, dass die Gesellschaft „»an sich« – wären die »Ausländer« nicht da –“ (W OLLRAD 2005: 12) homogen sei. Die Vorstellung einer „an sich“ homogenen deutschen Gesellschaft ist – zumal, wenn sie mit vermeintlicher Problemlosigkeit assoziiert wird – an rassistische Unterscheidungsmuster anschlussfähig. Kulturelle Differenz kann dann Migrationsanderen in Form einer selbstverständlich gegebenen, herkunftsbedingt-unaufhebbaren Abweichung zur „deutschen Kultur“ zugeschrieben werden (AUERNHEIMER 2007: 97; H ÖHNE 2001: 200). Es bliebe daher, so MÖNTER (2008:83), die Frage, ob Kultur nicht einer neuen „Basisdifferenz zwischen Menschen“ (S ÖKEFELD 2001: 122) den Weg ebne.
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Über die Naturalisierung kultureller Differenz kann auch interkulturelles Lernen Gefahr laufen, rassismusrelevante Unterscheidungen zu reproduzieren. M E CHERIL (2010b: 66) übt vor diesem Hintergrund Kritik an der interkulturellen Pädagogik: „Das Problem, dass »Kultur« ein Sprachversteck für Rassekonstruktionen darstellt, wird von der Interkulturellen Pädagogik selten benannt, kaum bearbeitet und dadurch nicht nur nicht aufgeklärt, sondern auch verdeckt.“ (M ECHERIL 2010b: 66)
Für die Geographiedidaktik haben M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE aufgezeigt, dass keine Konzepte vorliegen, die explizit antirassistische Ziele verfolgen (M ÖN TER & S CHIFFER -NASSERIE 2007: 361). Rassismus wird in der geographiedidaktischen Diskussion (meist in gleichzeitiger Nennung mit Fremdenfeindlichkeit und Vorurteilen) vielmehr als Legitimation genannt, weswegen interkulturelles Lernen ein wichtiges Ziel des Geographieunterrichts sei. Für R EINFRIED (2015: 76) beispielsweise stellt interkulturelles Lernen im Geographieunterricht die „pädagogische Antwort auf Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Intoleranz und Gruppenegoismus“ dar. Interkulturelles Lernen wird meist deswegen als geeignete Antwort auf Rassismus verstanden, weil es den Abbau von Vorurteilen oder die Auseinandersetzung mit eigenen Stereotypen anstrebe (B UDKE 2008: 14–15). M ÖNTER (2008) hat kritisch dagegen eingewandt, dass die Zielsetzungen pädagogischer Paradigmen nicht mit ihren Wirkungen gleichzusetzen seien: „Denn auch wenn das interkulturelle Lernen auf den Abbau von Vorurteilen gegenüber ‚Fremden‘ und die Erziehung zur Toleranz zielt, so sind die Absichten, die derlei pädagogische Programme formulieren, nicht gleichzusetzen mit den Effekten, die aus den Versuchen ihrer praktischen Umsetzung möglicher Weise resultieren.“ (M ÖNTER 2008: 83)
M ÖNTER (2013: 89), M ÖNTER (2008: 91) und R ADTKE (1995: 361) haben wiederholt auf die Gefahr eines kulturellen Rassismus im interkulturellen Lernen hingewiesen: „Dort [in der Geographie und ihrer Didaktik, Anm. d. Verf.] erweist sich die Betonung des Kulturellen als besonders problematisch, insofern eine schlichte Substitution überkommener rassisch-konstruierter Differenzen zwischen Menschen und Völkern unterschiedlicher Nationalität durch deren Repräsentation als ‚Menschen mit anderen Sitten und Gebräuchen‘ droht.“ (M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2007: 361)
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Nach N EWIG sind bei der Definition der Kulturerdteile z. B. die Kategorisierungen und das Herstellen von Zusammenhängen rassismusrelevant, wenn u. a. auf Hautfarbe als relevantes Unterscheidungsmerkmal kultureller Differenz zurückgegriffen wird (s. Kap. 3.1.1, dort auch ausführlicher zur Kritik). B UDKE (2004) analysiert zudem ein Heft der Zeitschrift „geographie heute“ (H AUBRICH 2004b) zur Bearbeitung von Selbst- und Fremdbildern im Geographieunterricht. Die dort publizierten Unterrichtsvorschläge zielen auf eine Korrektur falscher, vorwiegend negativer Vorurteile gegenüber „Fremden“ ab, die es – so der Herausgeber H AU BRICH in einem der dort publizierten Vorschläge – „aufzulösen“ (H AUBRICH 2004a: 4) gelte. B UDKE kritisiert in Bezug auf das Heft, dass die Gefahr bestehe, im Geographieunterricht die „Andersartigkeit von Personen anderer Nationalität“ (B UDKE 2004: 33) zu objektivieren. Nationalkulturen würden dort als (dauerhafte) Nationalcharaktere verstanden (B UDKE 2004: 31–33). Dabei kann „Versuchen einer Definition von natürlichen, kulturellen Gemeinschaften, organisiert in Nationalstaaten, der Vorwurf gemacht werden, einem kulturellen Rassismus eine neue Begründungsbasis zu verschaffen.“ (B UDKE 2004: 33)
In einem Beitrag in jenem Heft wird beispielsweise als Unterrichtseinstieg vorgeschlagen, Assoziationen zu Ländern und den dort lebenden Menschen zu sammeln und so genannte „Eigenschaftsprofile“ (H AUBRICH 2004a: 5) zu erstellen. Dabei sollen die Schüler_innen „selber Eigenschaften suchen, die ihnen geeignet erscheinen, eine Gruppe, ein Volk oder Land zu charakterisieren. Diese Eigenschaften sind dann in einer 5- oder 7-stufigen Skala von ‚trifft voll und ganz zu‘ bis ‚trifft überhaupt nicht zu‘ zu gewichten.“ (H AUBRICH 2004a: 5)
Informationen sollen dazu beitragen, das eigene Fremdbild über andere Länder und „Völker“ zu korrigieren (H AUBRICH 2004a: 5). Der Unterrichtsvorschlag der „Eigenschaftsprofile“ wiederholt die Einteilbarkeit von Menschen in Nationalkulturen und reifiziert die grundsätzliche Existenz „kollektive[r] Wesen“ (M ECHERIL & M ELTER 2010: 156) national gefasster Menschengruppen. Es kann zudem gefragt werden, was es z. B. für Schüler_innen, die als Pol_innen gesehen werden, bedeutet, wenn sie in einer freien Assoziation mit den rassismusrelevanten Wissensbeständen ihrer Mitschüler_innen konfrontiert werden und diese in Skalen eingestuft und bezüglich ihrer „Richtigkeit“
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eingeschätzt werden (in einem Beispiel H AUBRICHs (2004a: 5) sind u. a. Eigenschaften aufgelistet, die Pol_innen zugeschrieben werden). H AUBRICH versteht Rassismus und Antisemitismus als „Beispiele für [. . . ] emotional aufgeladene und irrationale Vorurteile“ (2004a: 4)19 . Hier besteht die Gefahr Rassismus auf individuelle Irrtümer zu reduzieren (M ÖNTER & S CHIFFER NASSERIE 2007: 41) und Toleranz als eine per se antirassistische Einstellung zu verstehen, ohne die Problematiken zu hinterfragen, die sich damit verbinden können (s. Kap. 3.4.5). Wie zudem bereits in der Kritik am Kulturerdteilkonzept aufgezeigt (s. Kap. 3.1.1), besteht bei Vorurteilen grundsätzlich die Möglichkeit sich um eine „Berichtigung“, also ein „richtiges Urteil“ zu bemühen, was N EWIG durch einen Perspektivenwechsel anstrebt, indem das „Selbstbild“ der jeweiligen Kultur dem vorurteilsbehafteten Fremdbild gegenübergestellt wird (N EWIG 1999). Das Selbstbild erscheint dabei der Perspektivität enthoben. Zudem blendet die Gleichsetzung von Rassismus mit Vorurteilen das symbolische und strukturelle Machtgefälle aus, das mit Rassismus einhergeht, während Vorurteile „als allgemeines Phänomen in Intergruppenbeziehungen gelten“ (AUERNHEIMER 2007: 91, s. a. Kap. 2.2). Demgegenüber argumentieren R ADTKE (1995: 41–42) für eine Dekonstruktion rassistischer Wissensbestände, die gesellschaftlich wirksame und folgenreiche soziale Konstrukte darstellen und nicht einfache Fehldarstellungen der Realität. M ÖNTER (2013: 89, 2008: 90–91) sowie M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE (2007: 189–193, 2004: 216–219) haben sich auch kritisch mit der Tendenz auseinandergesetzt, Rassismus als ein Problem zu deuten, das auf interpersoneller Ebene angesiedelt ist und dessen Bearbeitung auf der psychologischen Ebene angestrebt wird. Rassismus werde dann als vorreflexive Abwehrhaltung gedeutet und Ziele interkultureller Ansätze seien dann primär die Minderung der Angst vor dem „Fremden“, die Entwicklung interkultureller Kompetenz und der Abbau von Vorurteilen auf der individuellen Ebene (M ÖNTER 2013: 91–92, 2008: 90). Dabei komme es zu einer „doppelten Ausweichbewegung“ (H OLZKAMP 1994:44, zit. n. M ÖNTER 2013: 92): Zum einen werde das Individuum für die eigene Haltung entschuldigt, indem deren Ursache in der kindlichen Sozialisation bzw. im Unbewussten verortet werde. Zum anderen würden strukturelle Aspekte und Be-
19 | Es überrascht daher, dass H AUBRICH für den Unterricht vorschlägt, diese in „Eigenschaftsprofilen“ „in einer 5- oder 7-stufigen Skala von „trifft voll und ganz zu“ bis „trifft überhaupt nicht zu“ zu gewichten“ (H AUBRICH 2004a: 5). Es kann gefragt werden, inwiefern die Wissensbestände über vermeintliche kollektive Eigenschaften nicht vielmehr durch Einteilung in das mehrstufige Skalensystem gerade rationalisiert werden.
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dingungen des Rassismus ausgeblendet. Die gesellschaftlichen Umstände würden so von einer Mitverantwortung des Individuums entkoppelt (ebd.). Rassismus wird hier nicht nur nicht benannt, sondern auch verharmlost und in seinen strukturellen Aspekten ausgeblendet (M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2004: 228). R ADTKE nennt solche sozialpsychologisch orientierten pädagogischen Ansätze einen „pädagogisch halbierten Anti-Rassismus“ (R ADTKE 1995: 856, Hervorh. im Original). M ÖNTER fordert vor diesem Hintergrund eine kritische Reflexion der Konzepte interkulturellen Lernens (M ÖNTER 2008: 91). Ein antirassistisch ausgerichtetes interkulturelles Lernen im Geographieunterricht komme um eine politische Auseinandersetzung nicht herum (M ÖNTER 2013: 92, 2008: 91). Im Geographieunterricht müsse „zumindest beispielhaft aufgezeigt werden, wie politische und ökonomische Gegensätze und Deprivilegierungen durch die Vorstellung vermeintlicher kultureller Differenzen verschleiert und legitimiert werden“ (M ÖNTER 2013: 95, 2008: 92). Schüler_innen sollen lernen, solche Vorstellungen zu dekonstruieren (M ÖN TER 2008: 92). Die Befähigung zur „Dekonstruktion kulturalisierender Deutungsund Legitimationsmuster von sozialer und politischer Ungleichheit“ könne „als eigentliche antirassistische Kompetenz verstanden werden, zu der der geographische Unterricht einen erheblichen Beitrag leisten kann“ (M ÖNTER 2008: 92). 3.4.5 Konzeptualisierung interkulturellen Lernens als Lernen über „Andere“ Wird interkulturelles Lernen als Lernen über „Andere“ verstanden, geht damit zum einen die Tendenz zur Ausblendung des „Eigenen“ einher. Zum anderen richtet sich so verstandenes interkulturelles Lernen in erster Linie an diejenigen Schüler_innen, die als Angehörige der „Wir-Gruppe“ imaginiert werden. Thematisierung der „Anderen“ und Ausblendung des „Eigenen“
Das homogen vorgestellte deutsche „Wir“ wird auch dadurch normalisiert, dass es nicht thematisiert wird. Ein weiteres Problem sehe ich daher darin, dass interkulturelles Lernen überwiegend als Lernen über „Andere“ konzipiert wird (s. a. M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2007: 128; ATTIA 1997: 268; S CHRÖDER 2016b). Auch die Erziehungswissenschaftlerin K ALPAKA konstatiert, dass im politischen und im alltäglichen Diskurs über Kultur wie auch in der pädagogischen Arbeit „die Kultur der Anderen“ (K ALPAKA 2015: 304) im Mittelpunkt stehe:
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„Weder die eigene noch ‚die Kultur der [pädagogischen, Anm. d. Verf.] Einrichtung‘ noch die ‚Leitkultur‘ oder die Dominanzkultur und auch nicht der eigene Blick auf ‚die andere Kultur‘ sind die vorherrschenden Themen.“ (K ALPAKA 2015: 304)
Kulturelle Differenz wird in diesem Verständnis also nicht als „umfassendes Verhältnis“ (M ECHERIL 2015: 32) verstanden – im Sinne von „im Verhältnis zueinander sind wir einander jeweils Andere“ (M ECHERIL 2015: 32). Stattdessen wird sie bei den „Anderen“ verortet (M ECHERIL 2015: 34–35). Auf diese Weise werden nur Migrationsandere „der kulturellen Differenz bezichtigt“ (M ECHERIL 2015: 34), während das „Wir“ nicht thematisiert wird. Dass „die Interkulturelle Pädagogik diskursiv vor allem dann in Anspruch genommen [...] [wird], wenn es um »Ausländer« oder »Migrant/innen« geht“ (M ECHERIL 2010b: 65) bezeichnet M ECHERIL als eine „selektive Inanspruchnahme“ (M ECHERIL 2010b: 65). Die einseitige Verknüpfung von „interkulturell“ mit der Thematisierung Migrationsanderer widerspricht dabei dem ursprünglichen Anspruch der interkulturellen Pädagogik, im Unterschied zur Ausländerpädagogik nicht zielgruppenorientiert zu sein (M ECHERIL 2010b: 65). „Unter der Hand befördert sie [die interkulturelle Pädagogik, Anm. d. Verf.] damit einen Ansatz – Behandlung von Migrant/innen unter dem Label »Kultur« – von dem sie sich historisch gesehen absetzen wollte.“ (M ECHERIL 2010b: 66).
Es findet also eine konzeptuelle Verschiebung statt. „Interkulturelles Lernen als Lernen über „Andere“ macht nur eine Seite der Differenz zum Thema“ (S CHRÖ DER 2016b: 16). Dabei manifestiert sich gerade in der Nicht-Thematisierung das „Wir“ implizit als normal (H ORNSCHEIDT 2005: 478; s. a. S CHRÖDER 2016b: 16). Ein Machtgefälle entsteht, denn es gibt nun einen Normalfall und eine Abweichung. Dies zeigt sich z. B. auch, wenn A PPLIS schreibt: „Schülerinnen und Schüler, die aus kulturell abweichenden Kontexten stammen“ (A PPLIS 2015: 8, eigene Hervorh.). Werden unter kulturellem Vorzeichen nicht nur die (vermeintliche) Differenz der „Anderen“, sondern deren „Probleme“ verhandelt, besteht zudem die Gefahr einer Hierarchisierung und Abwertung der „anderen“ Kultur (K ALPAKA 2015: 298; M ECHERIL 2010b: 66). „Wir“ als Zielgruppe
Wird interkulturelles Lernen vorrangig als Lernen über „Andere“ verstanden, geht damit ebenfalls einher, dass als Zielgruppe vor allem mehrheitsangehörige Schüler_innen adressiert werden, die Kompetenzen wie Verständnis und Toleranz für
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„Andere“ und Andersartigkeit erwerben sollen (M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2007: 232–233; L OSSAU 2005: 245; vgl. a. S CHRÜFER 2009: 170–172). Auch hierfür stellt die in der „Schulbuchstudie Migration und Integration“ analysierte Schulbuchdoppelseite ein Beispiel dar. Dort wird im Titel „Wir untersuchen fremde Kulturen am Schulort“ ein aktives „Wir“ angesprochen, dass „fremde Kulturen am Schulort“ (Überschrift) und „Migranten und Kulturen bei uns in der Schule“ (Aufgabentext) „untersuchen“ bzw. „kartieren“ soll (L ATZ et al. 2009: 160-161, zit. n. N IEHAUS et al. 2015: 46, eigene Hervorh.). Dabei werden die „fremde[n] Kulturen“ (L ATZ et al. 2009: 160-161, zit. n. N IEHAUS et al. 2015: 46, eigene Hervorh.) als die Kulturen der „Migranten“ (L ATZ et al. 2009: 160161, zit. n. N IEHAUS et al. 2015: 46, eigene Hervorh.) vereindeutigt, die von einem nicht-migrantischen „Wir“ (L ATZ et al. 2009: 160-161, zit. n. N IEHAUS et al. 2015: 46, eigene Hervorh.) untersucht und kartiert werden sollen, dem diese „fremd“ sind. Nicht-migrationsandere Schüler_innen werden zum Lernsubjekt gemacht. Die Schulbuchaufgaben wenden sich an sie als Zielgruppe, während migrationsandere Schüler_innen (und Einwohner_innen des Schulortes) als Objekte des Untersuchens und Lernens der „Wir-Gruppe“ erscheinen20 . Als Zielsetzung des interkulturellen Lernens ist in vielen curricularen Vorgaben, institutionellen Empfehlungen sowie Materialien für den Geographieunterricht der Erwerb von Toleranz formuliert (z. B. in A RBEITSGRUPPE C URRICULUM 2000+ DER DGFG 2002: 11; M ÖNTER 2013: 92). In Modellen des interkulturellen Kompetenzerwerbs, die für den Geographieunterricht diskutiert werden, wird Toleranz auch als wichtige Zwischenstufe verstanden (S CHRÜFER 2009: 170). Bezüglich der angestrebten Toleranz gibt es auch kritische Äußerungen in der Geographiedidaktik. S CHRÜFER (2009: 165) und M ÖNTER (2013: 93) kritisieren, „dass viele Lehrpläne und Schulbücher bei Ansätzen stehen bleiben, welche die Schülerinnen und Schüler zu toleranten Handlungen bewegen sollen“ (M ÖNTER 2013: 93). M ÖNTER kritisiert zudem, dass S CHRÜFER (2009: 255) zwar betone, dass Toleranz nur einen Schritt auf dem Weg zu interkultureller Kompetenz darstelle. Es sei aber vielmehr grundlegend zu fragen, ob dieser Schritt überhaupt „in die richtige Richtung“ (M ÖNTER 2013: 93) ginge. M ÖNTER (2013: 93) weist auf die Machtasymmetrie des Toleranzbegriffs (in Bezug auf Migrationsandere) hin und zitiert AUERHEIMER mit folgenden Worten: „Wollten sich etwa Einwanderer
20 | Eine analoge Problematik in einem älteren Geographie-Schulbuch wurde von L OSSAU (2005: 245) herausgearbeitet. Bereits 2001 hat H ÖHNE die fächerübergreifende Schulbuchpraxis kritisiert, Migrationsandere zum „Objekt von Befragung durch deutsche Schüler“ (H ÖHNE 2001: 207) zu machen.
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als tolerant gegenüber der Majorität bezeichnen, würde dies als Arroganz gewertet“ (AUERNHEIMER 2007: 21). Dieses Zitat weist darauf hin, dass die Rollen und das Machtungleichgewicht bereits im Voraus festgelegt sind. Aus postkolonialer Sicht ist die Frage M ÖNTERs (2013: 93) zu bekräftigen. Hier sei daran anknüpfend betont, dass interkulturelles Lernen, welches vor allem mehrheitsangehörige Schüler_innen adressiert und deren Toleranzerwerb anstrebt, im Kontext der heterogenen Normalität der deutschen Migrationsgesellschaft migrationsandere Schüler_innen marginalisiert (s. a. S CHRÖDER 2016b: 17). Der Erziehungswissenschaftler Y ILDIZ spricht von einer hierarchisierenden Unterscheidung „in Tolerierende und Tolerierte“ (Y ILDIZ 2010: 70): Erstere können verstehen oder eben nicht verstehen, tolerieren oder eben nicht tolerieren. Sie sind in der aktiven, machtvollen Rolle, während Letztere die Tolerierten sind (oder eben die nicht Tolerierten) und sich damit in der abhängigen Rolle befinden. H ÖHNE betont, dass sich gerade vor dem Hintergrund, dass mittlerweile die dritte Generation Migrationsanderer zur Schule gehe umso mehr die Frage stelle, welche Effekte eine solche Rollenverteilung auf die Schüler_innen habe: „Was bedeutet beispielsweise das Einüben der ‚Fremdrolle‘ komplementär zur ‚Eigenrolle‘? Deutsche Kinder werden demgegenüber gerade durch die handlungsorientierte Didaktik buchstäblich in die Fremdwahrnehmung [. . . ] eingeübt. Die Kulturdifferenz wird zum konstitutiven Bestandteil von Unterricht, die Differenz des ‚Eigenen/Fremden‘ systematisch zum Unterrichtsgegenstand gemacht. Das Wissen, das sich deutsche SchülerInnen so über MigrantInnen im Verlauf von 10 Schuljahren angeeignet haben, weist diese als kulturell Fremde aus, über deren Verhaltensweisen, Gebräuche, religiöse Sitten usw. man nur ‚genug‘ wissen muss [. . . ], um Konflikte zu vermeiden. Kultur als Differenzierungskategorie konstruiert auf diesem Weg die ‚Fremden‘ in Wirklichkeit, die zu ‚Ent-Fremden‘ Interkulturelle Didaktik vorgibt; ein Paradox, das sich bis heute gehalten hat und Ausdruck eines Kulturdispositivs ist, in dem Rollen und Definitionsmacht eindeutig verteilt sind.“ (H ÖHNE 2001: 207–208)
So verstandenes interkulturelles Lernen wird dem eigenen inklusiven Anspruch nicht gerecht. Es reproduziert nicht nur Grenzziehungen zwischen „Wir“- und „Sie-Gruppen“, vielmehr ist auch die Befremdung Migrationsanderer darin bereits angelegt: Ihnen wird Anderssein zugeschrieben und zwar „als Abweichung zur so implizit aufgerufenen Normalität“ (H ORNSCHEIDT 2005: 479). Das obige Zitat von H ÖHNE (2001: 207–208) spricht darüber hinaus auch die Marginalisierung migrationsanderer Schüler_innen durch die ungleiche Adressierung und das Machtgefälle an, welches dem Lernen über „Andere“ inhärent ist. Gerade die Zen-
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trierung des interkulturellen Lernens auf den Wissenserwerb mit dem Ziel eines besseren Verständnisses erscheint problematisch, in dem gerade dadurch Gruppen homogenisiert werden und ihnen Anderssein zugeschrieben wird. Vor allem das Wissen „weist diese als kulturell Fremde aus“ (H ÖHNE 2001: 207–208). Dabei werden Normalisierungen des „Eigenen“ und Befremdungen des „Anderen“ nicht erst durch interkulturelles Lernen hervorgebracht (L OSSAU 2005: 246). Werden diese aber unhinterfragt reproduziert, aktualisiert, legitimiert und festigt der Unterricht die in der Gesellschaft zirkulierenden hierarchisierenden Zugehörigkeitsordnungen (M ECHERIL 2015: 41–42). Da in diesem Fall keine anderen Perspektiven – als die bereits in der Gesellschaft zirkulierenden – angeboten werden, steht dies auch dem Anspruch entgegen, im Unterricht Mehrperspektivität zu ermöglichen (vgl. Deutsche Gesellschaft für Geographie (DGfG) 2014: 6; s. a. S CHRÖDER 2016b: 17).
3.5 VORSCHLÄGE
ZUR W EITERENTWICKLUNG DES INTERKULTURELLEN L ERNENS
Vor dem Hintergrund der dargelegten Probleme ist die vorliegende Studie geleitet von der Frage, wie interkulturelles Lernen kritisch-reflexiv rekonzeptualisiert werden kann. Nachfolgend referiere ich zunächst die bisherigen Vorschläge zur Weiterentwicklung des interkulturellen Lernens in der geographiedidaktischen Diskussion. Anschließend zeige ich aus postkolonialer Perspektive Leerstellen dieser Vorschläge auf. 3.5.1 Transkulturalität B UDKE (2008, 2013) hat wiederholt gefordert, das interkulturelle Lernen für den Geographieunterricht weiter zu entwickeln und das zugrundeliegende Verständnis von Kultur „anders zu fassen“ (B UDKE 2013: 158). Sie schlägt vor, interkulturelles Lernen im Geographieunterricht auf der Grundlage des Konzepts der Transkulturalität nach W ELSCH (1998) zu konzipieren (B UDKE 2013: 159–160). In einer frühen Publikation hat ROHWER (1996) in Überlegungen zum interkulturellen Geographieunterricht ebenfalls bereits auf das Konzept der Transkulturalität zurückgegriffen. W ELSCH (1998: 47–48) entwirft sein Verständnis von Transkulturalität aus einer Kritik an homogenisierenden und nach außen abgrenzenden Kulturbegriffen heraus. Diese würden der inneren Komplexität von Kulturen und Prozessen des
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Kulturwandels und der Vermischung nicht gerecht (W ELSCH 1998: 51–52; s. a. S CHRÖDER 2016a: 19). Seine Kritik bezieht W ELSCH auf den H ERDERschen Kulturbegriff, dem eine separierende Grundidee zugrunde liege. Die Vorstellung von Kulturen als Inseln oder Kugeln ziehe nach sich, dass Kontakt und Kommunikation zwischen diesen als Problem erschienen. Der Vorstellung inselartiger Kulturen hält er entgegen, dass Kulturen vielmehr durch Durchmischung und gegenseitige Durchdringung gekennzeichnet seien (W ELSCH 1998: 51–52). Transkulturalität unterstreiche, dass es Fremdheiten und Differenz sowohl im Außenverhältnis einer Kultur zu anderen Kulturen gebe als auch im Innenverhältnis einer Kultur selbst (W ELSCH 1998: 52). Der Unterschied zwischen inter- und intrakulturell verschwinde daher: „Es gibt nichts schlechthin Fremdes, nichts schlechthin Eigenes“ (W ELSCH 1998: 52). Zudem wirken viele Probleme und Bewusstseinslagen kulturübergreifend bzw. im Sinne von transversal quer durch die Kulturen hindurchgehend (W ELSCH 1998: 65–66). Als Beispiele führt er u. a. die Menschenrechtsdiskussion und ökologisches Bewusstsein an (W ELSCH 1998: 52). W ELSCH konzeptualisiert Transkulturalität dabei auf zwei Ebenen: Auf der Makroebene seien Kulturen transkulturell verfasst und auf der Mikroebene gelte dies auch für die Individuen. Auf der Mikroebene weist er auf die kulturelle Komplexität von Identitäten hin: Individuen seien meist durch mehrere kulturelle Verbindungen und Herkünfte geprägt (W ELSCH 1998: 53; s. a. S CHRÖDER 2016a). Den Begriff der Transkulturalität verwendet W ELSCH in zwei Hinsichten: Erstens bezieht er die Vorsilbe ‚trans‘ im Sinne von ‚transversal‘ – quer durch die Kulturgrenzen hindurchgehend – auf die Durchmischung und innere Heterogenität von Kultur (W ELSCH 1998: 65–66). Zweitens bezieht er ‚trans‘ im Sinne von „darüber hinaus“ in einer zeitlich vergleichenden Perspektive auf die Begriffsarbeit. Transkulturalität betont in diesem Sinne, dass Kultur jenseits eines homogen gedachten Kulturbegriffs konzeptualisiert wird. W ELSCH stellt „alten Vorstellungen“ (1995: 84, zit. n. ROHWER 1996: 6) von Nationalkulturen dabei eine veränderte heutige Verfasstheit gegenüber: „Sie [die Kulturen, Anm. d. Verf.] haben nicht mehr die Form homogener und wohlabgegrenzter Kugeln oder Inseln, sondern sind intern durch die Pluralisierung möglicher Identitäten gekennzeichnet und weisen extern grenzüberschreitende Konturen auf. Insofern sind sie nicht mehr Kulturen im hergebrachten Sinne des Wortes.“ (W ELSCH 1995: 84, zit. n. ROHWER 1996: 6)
Dabei wird Transkulturalität als ein Prozess zunehmender Transkulturalisierung von Gesellschaften dargestellt, der u. a vor dem Hintergrund von Migrationspro-
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zessen sowie globaler Verkehrs- und Kommunikationssysteme und ökonomischer Verflechtungen und Abhängigkeiten voranschreite (W ELSCH 1998: 51). Kultureller Wandel und kulturelle Mischungen stellen die Anknüpfungspunkte dar, die B UDKE (2013: 159) und ROHWER (1996: 6) für interkulturelles Lernen im Geographieunterricht herausstreichen. Sie ermöglichen eine Kritik der multikulturellen Vorstellung eines relativ stabilen Nebeneinanders gegeneinander abgegrenzter Kulturen. Als Beispiele für kulturellen Wandel und die Entstehung von Neuem durch Vermischung nennt ROHWER (1996: 6) Jugendkulturen und B UDKE (2013: 159) Jugendsprache. ROHWER (1996: 6) erläutert, Jugendkulturen überschritten vermeintliche Kulturraumgrenzen und seien ein Beispiel für (intergenerationale) kulturelle Heterogenität im Innenverhältnis einer Kultur. Für ROHWER (1996: 6) stellt das Kulturverständnis im Konzept der Transkulturalität ein integratives Verständnis dar. Für die inklusive Funktion von Transkulturalität ist die Verschiebung des Verständnisses von Differenz gegenüber dem multikulturalistischen Verständnis bedeutsam. Differenzen kommen dann „nicht mehr durch das Nebeneinander klar abgegrenzter Kulturen zustande, sondern bilden sich im Durcheinander und Miteinander unterschiedlicher Lebensformen“ (W ELSCH 1995:109, zit. n. ROH WER 1996: 7). Schüler_innen sollen die eigene Transkulturalität erkennen, indem „die Kulturelemente, die zunächst für das ‚Eigene‘ gehalten werden, bis zu ihren gesellschaftlichen Ursprüngen zurückverfolgt und in ihrer ‚Fremdheit‘ entlarvt werden“ (T RÖGER 2002: 37)21 . B UDKE zitiert diesen Vorschlag von T RÖGER (2002: 37), den sie als „zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Sinne des Interkulturellen Lernens [. . . ] besonders sinnvoll“ (B UDKE 2008: 21) einschätzt. Für B UDKE (2013: 159) eröffnet interkulturelles Lernen auf der Grundlage von Transkulturalität zudem die Möglichkeit, „Darstellungen von exotischen Kulturräumen“ in Geographieschulbüchern von Schüler_innen hinterfragen zu lassen. Dies schule Medienkompetenz sowie kritisch-reflexives Denken (B UDKE 2013: 159). In diesem Sinne könne Transkulturalität eine Möglichkeit sein, exotisierenden Darstellungen zu begegnen, die kulturelle Differenz überbetonen und den Blick stattdessen für Gemeinsamkeiten zu öffnen.
21 | Bei T RÖGER (2002: 37) – sowie bei B UDKE (2008: 21), die T RÖGER mit diesem Vorschlag zitiert – bleibt unklar, worauf sich die „gesellschaftlichen Ursprüng[e]“ (T RÖGER 2002: 37) beziehen und ob hier die historische Dimension von Transkulturalität angesprochen ist.
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Ausgehend von der Kritik der kulturrelativistischen Vorstellung der „kulturellen Prägung“ des Individuums rücken auch Handlungsmöglichkeiten des Individuums in den Blick: „Es gibt keine ‚kulturelle Prägung‘, die seitens des Individuums nicht relativiert werden könnte. Von daher können Kulturen nicht ‚aufeinanderprallen‘ – wie im KulturkonfliktDiskurs neuerdings behauptet wird –, sondern Individuen müssen entscheiden, ob und wie sie sich austauschen, anpassen oder abgrenzen.“ (ROHWER 1996: 6)
Da „Eigenes“ und „Fremdes“ dann „nicht mehr an der Nationalität der Individuen festgemacht werden“ können, so B UDKE (2008: 21), könne es auch nicht mehr „Ziel des Geographieunterrichts [. . . ] sein, die SchülerInnen mit den fremden Kulturen bekannt zu machen, damit sie eine möglichst tolerante Haltung zu Migranten, die als Träger der Kulturen angesehen werden, aufbauen.“ (B UDKE 2008: 21)
Für B UDKE wäre es vielmehr die Aufgabe eines transkulturellen Geographieunterrichts, „bei der ‚transkulturellen‘ Identitätsfindung der SchülerInnen in einer Umgebung, die unterschiedliche kulturelle Angebote macht und durch ein Nebeneinander verschiedener Werte charakterisiert ist, zu helfen.“ (B UDKE 2013: 159; s. a. B UDKE 2008: 21)
Kultureller Wandel und Vermischungen erscheinen in dieser Perspektive eher als gesellschaftliche Normalitäten. Gerade jugendkulturelle Phänomene ermöglichen es, nicht nur dynamische kulturelle Wandlungsprozesse in den Blick zu nehmen. Vielmehr können sie darüber hinaus auch Ausgangspunkt sein, um z. B. über die intergenerationale Differenzlinie die Vorausgesetztheit migrationsgesellschaftlicher Differenz als vermeintlich zentrale, relevante Differenzlinie zu hinterfragen. Es wird dann nicht von einer stabilen Differenz zwischen einer jeweils vorausgesetzten kulturellen Identität des „Wir“ auf der einen und „der Migrant_innen“ auf der anderen Seite ausgegangen. Vielmehr werden die eigene Positionierung zu „kulturelle[n] Angebote[n]“ (B UDKE 2013: 159) und mithin die eigenen Entscheidungen und Handlungen der Individuen betont. Wenn W ELSCH postuliert, „die Individuen können über ihre Zugehörigkeit selbst entscheiden“ (W ELSCH 1998: 61), stellt sich allerdings die Frage, ob dies tatsächlich alle Individuen können. Ich setze mich daher im Ergebnisteil des Buches auch kritisch mit dem Transkulturalitätskonzept auseinander (s. Kap. 8.3.1).
Kapitel 3: Interkulturelles Lernen in der geographiedidaktischen Diskussion | 107
3.5.2 Kultur als soziale Konstruktion B UDKE (2013: 160) merkt kritisch an, dass das Konzept der Transkulturalität „nicht beantwortet, warum diese Verbindung [der Kategorien Raum und Kultur, Anm. d. Verf.] in der Alltagssprache ein durchaus relevantes Muster zur Strukturierung der sozialen Welt ist“. Sie schlägt angesichts dieser Leerstelle vor, im Unterricht zu untersuchen, „in welchen Zusammenhängen Kultur und Raum wie verknüpft werden“ (B UDKE 2013: 160, Hervorh. im Original). Hierfür wird Kultur auf der Basis konstruktivistischer Grundannahmen als jeweils aus spezifischen Gründen gewählte Beobachtungsart gefasst (B UDKE 2013: 160). Dies ermögliche, nach Interessen und Motiven zu fragen, warum in spezifischen Situationen Kultur als Beobachtungsfolie gewählt werde (B UDKE 2013: 160). Auch M ÖNTER (2013: 93–95) stellt im Anschluss an seine kritisch-reflexive Beschäftigung mit bestehenden Ansätzen des interkulturellen Lernens für den Geographieunterricht Überlegungen zu einer veränderten Praxis interkulturellen Lernens an. Er bezieht sich ebenfalls auf konstruktivistische Kulturverständnisse und schlägt vor, kulturalistische Vorstellungen als „Machtdiskurse“ zu analysieren, um nach „politischen oder ökonomischen Zwecke[n]“ (M ÖNTER 2013: 94) kulturalistischer Verschleierungen zu fragen (s. a. S CHRÖDER 2016a: 15–16). Die Vorschläge von M ÖNTER (2013) und B UDKE (2013) zielen beide auf eine kritische Auseinandersetzung mit Kulturalisierungen ab. Als Ziel des „interkulturellen Lernens auf der Grundlage konstruktivistischer Kulturbegriffe“ formuliert B UDKE, „dass die SchülerInnen verstehen, welche Raum- und Kulturkonstruktionen, d. h. Vorstellungen von kulturellen Differenzen, aus welchen Gründen, von wem und mit welchen Folgen erschaffen und benutzt werden“ (B UDKE 2013: 156). Dabei sieht sie die Hauptaufgabe eines interkulturellen Lernens auf konstruktivistischer Grundlage in der „Infragestellung und Erweiterung der kulturellen Perspektive“ (B UDKE 2013: 160). Es geht B UDKE um eine Sensibilisierung von Schüler_innen „für die verschiedenen Verwendungskontexte von kulturellen Bildern, die unterschiedlichen Motive der Akteure und die möglichen Risiken der Verbindung von essentialistischen Raum- und Kulturbegriffen“ (2013:161). Schüler_innen sollen lernen, kulturalistische Argumente zu erkennen und kulturalistische Darstellungen in Frage zu stellen (B UDKE 2013: 160–161). B UDKE sieht den besonderen Vorteil einer Weiterentwicklung interkulturellen Lernens auf der Grundlage konstruktivistischer Grundannahmen darin, bei Fragen, die „vorschnell mit der angeblichen Existenz von Kulturunterschieden erklärt werden“ (B UDKE 2013: 160), differenziertere Antwortmöglichkeiten aufzeigen zu können. Auch M ÖNTER betont die Notwendigkeit, Schüler_innen dazu zu befähigen, „kul-
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turalisierend[e] Deutungs- und Legitimationsmuster von sozialer und politischer Ungleichheit“ (M ÖNTER 2008: 92) zu dekonstruieren. Die „Erweiterung der kulturellen Perspektive“ (B UDKE 2013: 160) liegt für M ÖNTER vor allem darin, strukturelle Ungleichheit in den Blick zu nehmen und deren Verschleierung und Legitimation durch Kulturalisierung zu analysieren (M ÖNTER 2013: 95, 2008: 92). In einem Zweischritt schlägt M ÖNTER vor, kulturalistische Vorstellungen zu dekonstruieren und so „für die Konstruktion ‚des Kulturellen‘ zu sensibilisieren“ (M ÖNTER 2013: 94), um dann fortführend die jeweiligen Repräsentationen mit ihren „politischen oder ökonomischen Zwecke[n]“ (M ÖNTER 2013: 94) zu rekonstruieren. Als ein mögliches Beispiel nennt er die Analyse von Repräsentationen von Afrika (M ÖNTER 2013: 94). B UDKE bezieht sich in einem Aufsatz aus dem Jahr 2006 ausführlich auf die Beschäftigung mit stereotypisierenden Repräsentationen von Nationen im Geographieunterricht, die häufig zur Umsetzung des interkulturellen Anliegens vorgeschlagen werden. „Nationale Stereotypen als soziale Konstruktionen“ (B UDKE 2006) zu verstehen, verschiebe das Ziel weg von der Richtigstellung der Stereotypen (s. a. die diesbezügliche Kritik unter Punkt 3.4.4) hin zur „Offenlegung der Konstruktionsmechanismen der Fiktion von Nationalcharakteren“ und der „Sensibilisierung der Schüler für die politischen und sozialen Bedeutungen der nationalen Bilder“ (B UDKE 2006: 141). Für ein solches reflexives, dekonstruierendes Vorgehen bei der Beschäftigung mit dem „Konstrukt des ‚Nationalcharakters‘“ (S CHULTZ 1999: 24) plädiert auch S CHULTZ (1999). So könne der Geographieunterricht „dazu beitragen, Weltbildkonstuktionen als Konstruktionen zu durchschauen“ (S CHULTZ 1999: 25). B UDKE schreibt, es gehe darum, sowohl die Bedeutungen und Konsequenzen als auch den Gebrauchswert von nationalen Stereotypen zu thematisieren: „Im Erdkundeunterricht sollte gefragt werden: Wer verbreitet Stereotypen, aus welchem Grund, auf welchem Wege und welche ‚realen‘ (räumlichen und gesellschaftlichen) Konsequenzen hat dies?“ (B UDKE 2006: 146, 2008: 22)
Während in diesen Fragen die Konsequenzen von nationalen Stereotypen explizit angesprochen werden, konzentriert sich B UDKE (2006: 147–151) im Folgenden in ihren thematischen Vorschlägen zur unterrichtlichen Umsetzung sowie im Hinblick auf die damit verknüpften Lernziele allerdings auf die Motive, den situativen Gebrauchswert und den angestrebten selbstbestimmten handelnden Umgang mit Stereotypen. So fasst sie die Ziele eines solchen Unterrichts wie folgt zusammen:
Kapitel 3: Interkulturelles Lernen in der geographiedidaktischen Diskussion | 109
„Bei Themenbereichen wie internationaler Tourismus, Migration, Integration oder internationale Konflikte können SchülerInnen für die Motive und Interessen sensibilisiert werden, aus denen nationale Stereotypen eingesetzt werden, um selbst der Gefahr der Manipulation zu entgehen. Zudem sollen sie sich als Akteure der sozialen Wirklichkeit wahrnehmen, die entscheiden können, ob und wie sie nationale Stereotype einsetzen.“ (B UDKE 2008: 22)
Eine genauere Betrachtung der Konsequenzen von Reproduktionen stereotypisierender, kulturalisierender Repräsentationen von natio-ethno-kulturellen Gruppen steht bislang weniger im Fokus der Überlegungen zur Weiterentwicklung des interkulturellen Lernens. 3.5.3 Postkoloniale Theorien als Leerstelle Führt man die dargelegten Probleme von Ansätzen des interkulturellen Lernens zusammen mit den Vorschlägen für eine Weiterentwicklung, fällt auf, dass Othering bisher nicht im Fokus der geographiedidaktischen Überlegungen steht. Zudem sind weder die vorwiegende Adressierung mehrheitsangehöriger Schüler_innen durch Konzepte interkulturellen Lernens noch die der Normalisierung des „Eigenen“ bei gleichzeitiger einseitiger Verortung der Differenz bei den Migrationsanderen in Überlegungen zur Weiterentwicklung des interkulturellen Lernens eingeflossen. B UDKE (2013) und M ÖNTER (2013) greifen in ihren Überlegungen zur Weiterentwicklung auf sozialkonstruktivistische Grundannahmen aus der Diskussion in der Neuen Kulturgeographie zurück. Postkoloniale theoretische Perspektiven als Teil der Diskussion innerhalb der Neuen Kulturgeographie greifen sie nicht auf. Postkoloniale Perspektiven können daher die aktuellen Überlegungen zur Weiterentwicklung interkultureller Ansätze ergänzen. Sie ermöglichen einen Anschluss an die bisherigen Überlegungen zur Dekonstruktion von Kulturalisierungen. Während bei diesen allerdings der Fokus bisher vor allem auf den Kontexten, Motiven und Zwecken der Verwendung von stereotypisierenden, kulturalisierenden Repräsentationen liegt, rücken aus postkolonialer Perspektive stärker die Auswirkungen von sozialen Bedeutungskonstruktionen in den Mittelpunkt (s. a. S CHRÖDER 2016b: 17). Mit dieser Fokusverschiebung können alltägliche Zuschreibungen von natioethno-kulturellem Anderssein und die ein- und ausgrenzenden Folgen verfestigter Differenzziehungen stärker in den Blick genommen werden. Besonders interkulturelles Lernen auf der Grundlage von Transkulturalität riskiert, an möglichen Otheringerfahrungen von Schüler_innen vorbei zu gehen und reale, sprachlich gezogene und hergestellte Abgrenzungen zu übergehen. Das bedeutet auch, dass
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deren Benennung und Thematisierung in einem auf Transkulturalität ausgerichteten Thematisieren von Kultur erschwert würden. Postkoloniale Theorien bieten für die Rekonzeptualisierung des interkulturellen Lernens daher auch „insofern eine andere Perspektive an, als dass sie den Blick explizit auf migrationsandere Schüler_innen lenken, die durch eine Positionierung außerhalb der fraglos zugehörigen Normalität Gefahr laufen ‚besondert‘ zu werden. Damit werden Fragen nach der alltäglichen Wirkmächtigkeit von Zugehörigkeitsordnungen und deren ein- und ausgrenzenden Folgen möglich.“ (S CHRÖDER 2016a: 11)
Es geht mir dabei darum, marginalisierte Perspektiven migrationsanderer Schüler_innen in die Diskussion einzubeziehen, um auf diese Weise die Zielgruppe öffnen zu können. Denn interkulturelles Lernen, was alle Schüler_innen als Adressat_innen mitdenkt, muss auch die unterschiedliche Positioniertheit der Lernenden in Bezug auf gesellschaftliche Zugehörigkeitsverhältnisse mitdenken (s. a. S CHRÖDER 2016b). Zudem erlaubt die postkoloniale Perspektive eine Analyse von Dominanzverhältnissen, wie ich sie in Bezug auf das Ungleichgewicht zwischen normalisiertem, zentriertem „Wir“ und befremdeten, abweichenden „Anderen“ oder auch in Bezug auf die unterschiedliche Adressierung als „Tolerierende“ und „Tolerierte“ in den Blick genommen habe. Auch diese Machtungleichgewichte innerhalb von Lerngruppen stellen in den bisherigen Vorschlägen zur Rekonzeptualisierung des interkulturellen Lernens eine Leerstelle dar. 3.5.4 Kritische Positionen zu Transkulturalität und konstruktivistischen Ansätzen In der geographiedidaktischen Diskussion gibt es auch kritische Stimmen, die die didaktische Eignung von Konzeptualisierungen auf der Grundlage von Transkulturalität und konstruktivistischen Kulturkonzepten in Frage stellen. Diese werden nachfolgend dargestellt. Angesichts ihrer Komplexität und dem hohen Abstraktionsgrad werden die Ansätze aus den Kulturwissenschaften – S CHEFFER (2011: 9) zitiert hier u. a. W ELSCHs Transkulturalitätskonzept – sowie der Neuen Kulturgeographie von B Ö GE (2011: 7) und S CHEFFER (2011: 9) skeptisch gesehen. S CHEFFER s Ansicht nach sind neuere kulturwissenschaftliche bzw. -geographische Konzepte nicht hilfreich für den Geographieunterricht, da sie nicht schüler_innengerecht seien:
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„Neu entdeckte Formen der kulturellen Hybridität, die Betonung diskursiver Aushandlungsprozesse oder die Dekonstruktion von Raum- und Weltbildern in der Geographie [. . . ] [sind] ebenso wenig hilfreich, kulturelle Alltagserfahrungen schülergerecht zu systematisieren, wie die jüngeren, abstrakten Konzepte der Kulturwissenschaft.“ (S CHEFFER 2011: 9)
Zu letzteren zählt er auch das Transkulturalitätskonzept von W ELSCH (W ELSCH 1998)22 . B ÖGE (2011: 7) fragt, was im Geographieunterricht „an die Stelle eines traditionellen essentialistischen Kulturkonzepts wie das der Kulturerdteile treten“ könnte. Sie ist ebenfalls der Ansicht, dass diesbezüglich „weder handlungs- noch diskurstheoretische Ansätze [der Kulturgeographie nach dem Cultural Turn, Anm. d. Verf.] eine wirkliche Hilfe“ anböten. Wie sie zu diesen Einschätzungen kommen, bleibt sowohl bei S CHEFFER (2011) als auch bei B ÖGE (2011) vage. Dabei scheint eine angesichts weniger zur Verfügung stehender Unterrichtsstunden notwendige Komplexitätsreduktion eine Rolle zu spielen sowie eine bestimmte Vorstellung eines orientierenden Weltbildes: „Wie können wir es unseren Schülern möglich machen, ein persönliches, zeitgemäßes, problemorientiertes und daher flexibles geographisches Weltbild zu entwickeln, ein Ordnungsraster, in das sie ihre Informationen über die Welt einordnen können – noch dazu in den wenigen Wochenstunden, die uns dafür zur Verfügung stehen?“ (B ÖGE 2011: 7, eigene Hervorh.)
Während im obigen Zitat Orientierung im Sinne eines Ordnungsrasters für Informationen verstanden wird, spricht BÖGE an anderer Stelle auch von Veranschaulichungen: „Welche für die Schule brauchbaren Veranschaulichungen liefern uns moderne geographische Diskussionen? Offen gestanden: Ich habe noch keine gefunden.“ (B ÖGE 2011: 7). Und so erscheint es im Ergebnis bei B ÖGE (2011)
22 | Auffällig ist hierbei, dass S CHEFFER seine Einschätzung bezüglich der Nicht-Eignung des Transkulturalitätskonzepts den Vorschlag von B UDKE (2008) nicht erwähnt, eben jenes Konzept für eine Rekonzeptualisierung des interkulturellen Lernens zu nutzen. Auch wenn B ÖGE (2011: 7) die Frage stellt, was „an die Stelle eines traditionellen essentialistischen Kulturkonzepts wie das der Kulturerdteile treten“ könnte, rezipiert sie B UDKES Überlegungen nicht. B UDKE (2013) wird umgekehrt in einer späteren Publikation B ÖGE (2011) und S CHEFFER (2011) nicht zitieren. Beide Diskussionen um Orientierung/Identitätsfindung in kultureller Komplexität scheinen bisher unverbunden zu sein. Es geht mir daher darum, in diesem Kapitel grundsätzlich divergente Positionen innerhalb der aktuellen geographiedidaktischen Diskussion aufzuzeigen.
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wie bei S CHEFFER (2011) keine unterrichtspraktisch „brauchbare“ bzw. schüler_innengerechte Alternative zu Kulturraumkonzepten zu geben. B ÖGE (2011: 7) schlägt daher vor, an Kulturerdteilkonzepten festzuhalten und dabei gleichzeitig „zu vermitteln, dass diese in einer bestimmten Zeit entstanden sind und immer auch persönliche Interessen und Sichtweisen transportieren“. S CHEFFER (2011: 13) schlägt vor, die Thematisierung von Kulturräumen beizubehalten, da er diese für schüler_innengerecht hält und konzipiert zu diesem Zwecke so genannte „selektive Kulturräume“. Mit diesem Vorschlag sollen aus der Kritik an einer holistischen Konzeption von Kulturräumen heraus die räumlichen Einteilungen flexibilisiert werden. Überwiegende kulturelle Prägungen (er nennt z. B. Sprache, Religion oder Ernährungsgewohnheiten, s. S CHEFFER 2011: 12–13) bzw. „die räumliche Konzentration der betreffenden Menschen“ (S CHEFFER 2011: 12) seien so darstellbar, ohne kulturelle Homogenität zu suggerieren (S CHEFFER 2011: 12). Die räumliche Erstreckung der jeweiligen Kulturmerkmale wäre dann nicht mehr vorausgesetzt, wohl aber die räumliche Einteilbarkeit an sich. Er distanziert sich mit seinem Vorschlag vom holistischen Grundgedanken der Kulturerdteile sowie von dem auch von ihm als problematisch gesehenen Homogenitätsideal (S CHEFFER 2011: 11). S CHEFFERS Konzeption basiert dabei auf den epistemologischen Grundannahmen des Kulturrelativismus. Dies wird u. a. ersichtlich, wenn er schreibt: „Mit Kultureigenschaften sind Prägungen gemeint, die sich der Mensch im Verlauf seines Enkulturationsprozesses angeeignet hat und die aufgrund dieser langwierigen Internalisierung nicht kurzfristig gewandelt oder ausgetauscht werden können.“ (S CHEFFER 2011: 10)
Dabei setzt er voraus, dass Kulturen nicht nur räumlich unterscheidbar sind, sondern auch, dass Raum ein geeigneter Erklärungsfaktor sei, um „kollektive Prägungen“ (S CHEFFER 2011: 12) von Menschen zu erklären: „Grundsätzlich stellt Kultur das Ergebnis einer Anpassungsleistung an die soziale und natürliche Umwelt dar. Insofern legen unterschiedliche Umweltbedingungen auch Kulturunterschiede nahe“ (S CHEFFER 2011: 12). Er beschreibt seinen Vorschlag auch selbst als „ein vermittelndes Kulturraumkonzept“ (2011: 10), wobei er dies auf die Frage rückbezieht, ob eine „differenziert[e] und zugleich orientierend[e] Konzeptionalisierung“ von Kultur möglich sei (2011: 10). Es kristallisieren sich zwei Positionen in der Diskussion heraus, wobei letztere aus explizit didaktischer Sicht die Frage nach der schulischen Umsetzbarkeit stellt. In der Auseinandersetzung mit der Frage nach der schulischen Umsetzbar-
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keit erscheint der Begriff der „Orientierung“ zentral. Denn zentrales Argument dafür, Kulturraumkonzepte trotz der damit verbundenen Problematiken für den Geographieunterricht zu empfehlen, ist die vermeintliche Alternativlosigkeit, um den Schüler_innen ein Angebot zur Orientierung machen zu können. Während B ÖGE (2011: 7) die Frage stellt, wie Schüler_innen bei der Orientierung geholfen werden könne und angesichts der Kritik an Kulturerdteilkonzepten keine recht befriedigende Antwort finden kann, postuliert S CHEFFER (2011: 13): „Im Unterricht ist die Ausweisung von Kulturregionen grundsätzlich hilfreich, um Orientierung, Beschreibung und Erklärung schülergerecht zu gewährleisten.“ Er geht davon aus, dass „die didaktische Eingängigkeit des Kulturerdteilkonzeptes gerade dann gepriesen wird, wenn der Orientierungsbedarf im Zeichen einer zunehmenden Komplexität wächst“ (S CHEFFER 2011: 9)23 . Dafür würden, so S CHEFFER, die bekannten Kritikpunkte „mangels Alternativen“ (ebd.) hingenommen. Die Gefahr der Vermittlung eines einseitigen Weltbildes – R HODE -J ÜCHTERN (2004: 71) spricht von einem unterkomplexen, „über-einfache[n] Weltbild“ – wird dabei durchaus auch von S CHEFFER (2011: 9) und B ÖGE (2011: 7) selbst gesehen. B ÖGE (2011: 7) kritisiert im Anschluss an G LASZE und T HIELMANN, dass das essentialistische Kulturkonzept der Kulturerdteile nur24 deshalb vermeintliche Erklärungskraft habe, „weil es lang etablierte Dichotomisierungen reproduziert und auf diese Weise Projektionsflächen für ‚das Eigene‘ und ‚das Fremde‘ bietet – einfache Orientierung in einer komplexen Welt“ (G LASZE & T HIELMANN 2006a: 3). Interessanterweise argumentieren auch B UDKE (2013) und ROHWER (1996) mit dem Begriff der Orientierung, wenn sie das Konzept der Transkulturalität für den Geographieunterricht vorschlagen. Für B UDKE (2013: 161) ist der Umgang mit kultureller Differenz auch eine Frage der Orientierung in kultureller Komplexität. „Fragen der kulturellen Entscheidungsfindung“ seien für Schüler_innen relevant, da sie sich „vielfältigen kulturellen Orientierungen gegenübersehen, aus
23 | Auch W ERLEN & L IPPUNER (2007: 25–26) schreiben Kultur als Beobachtungsformel möglicher Unterschiede, als zur Verfügung stehende Interpretationsressource, zunehmende Bedeutung als Orientierungsinstanz unter globalisierten Lebensbedingungen zu und betonen gleichzeitig die damit verbundene Brisanz (insbesondere durch die Territorialisierung von Kultur). 24 | Während B ÖGE (2011: 7) schreibt, es habe „nur deshalb soviel Erklärungskraft“, sprechen G LASZE & T HIELMANN (2006a: 3) im Original von „v. a. deshalb für so viele Menschen Erklärungskraft“.
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denen sie die für sie relevanten auswählen müssen“ (B UDKE 2013: 161). Der Prozess des Sich-Orientierens und damit ein aktives Sich-Positionieren in Bezug auf unterschiedliche kulturelle Angebote rückt hier in den Fokus. Auch bei ROHWER (1996: 9) nimmt interkulturelles Lernen im Geographieunterricht eine unterstützende Funktion bei der Orientierung in Heterogenität ein. Es geht bei ihr um „Geographielehrer, die den Lernenden helfen wollen, sich in einer Gesellschaft, deren Alltag von kultureller und sozialer Heterogenität bestimmt ist, zu orientieren, mit dieser Vielfalt umzugehen und ihren eigenen Platz darin zu suchen.“ (ROHWER 1996: 9)
ROHWER (1996) und B UDKE (2008, 2013) gehen im Anschluss an W ELSCH (1998) von der Aushandlung von kulturellen Identitäten aus. Im Zuge dieser Identitätsarbeit würden „Komponenten unterschiedlicher kultureller Herkunft“ (W ELSCH 1995: 99, zit. n. ROHWER 1996: 6) integriert. Während also S CHEFFER das Transkulturalitätskonzept als nicht geeignet einschätzt, um Alltagserfahrungen schüler_innengerecht zu systematisieren, schlagen ROHWER und B UDKE gerade dieses vor, um Lernenden Orientierung in und Unterstützung bei der eigenen Positionierung in kultureller Vielfalt anbieten zu können. Das Postulat, Orientierung (ausschließlich) mithilfe erdoberflächlicher Ordnungsraster erreichen zu können, wird also nicht von allen Autor_innen geteilt. Es wird deutlich, dass lebensweltliche Orientierung in der zitierten geographiedidaktischen Literatur nicht unbedingt als erdoberflächliche Orientierung verstanden wird. Vielmehr kann diesem Orientierungsverständnis das Verständnis von Orientierung in „fundamentalem Sinne“ (D ICKEL 2006: 9) entgegengesetzt werden. Es geht dabei darum, auf der Mikroebene der Individuen anzusetzen und „Alltagsund Lebenswelten im Unterricht verstehbar und durchschaubar“ (D ICKEL 2006: 11) zu machen. Auch DAUM und W ERLEN fordern eine „Unterordnung der räumlichen Gliederung der Unterrichtsinhalte unter die ‚Weltordnung‘ der handelnden Subjekte bzw. deren Bezüge des Handelns“ (DAUM & W ERLEN 2002: 8). Einem solchen Verständnis von Orientierung ordne ich auch die Ansätze von B UDKE und ROHWER zu. Aus dieser Perspektive kann gerade die orientierende Funktion unterkomplexer Weltbilder infrage gestellt werden: „Viele Schüler_innen merken doch, wenn ein über-einfaches Weltbild nicht ‚passt‘ und die Realitäten widerspenstig sind gegenüber einer solchen Ordnung. Sie passen sich an, sie verstellen sich oder sie stellen die Autorität von Schulbuch/Lehrplankonzept/Lehrer in Frage. Alle drei Reaktionen sind didaktisch unerwünscht.“ (R HODE -J ÜCHTERN 2004: 71)
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Angesichts der mangelnden Passung von (Lebens-)Realitäten und unterrichtlichem Orientierungsangebot würden sich Schüler_innen entweder anpassen, verstellen oder die Autorität von Lehrperson oder Schulbuch infrage stellen. R HODE J ÜCHTERN zufolge besteht also bei mangelnder Lebensweltpassung des unterrichtlichen Orientierungsangebots die Gefahr didaktisch unerwünschter Auswirkungen. Im Unterschied zu R HODE -J ÜCHTERN halte ich das Infragestellen der Autorität des vermittelten Wissens für didaktisch durchaus potenziell produktiv, bietet es doch die Möglichkeit einer vertieften Auseinandersetzung und Hinterfragung. Unterbleibt dies allerdings und wird impliziter Widerstand nicht aufgegriffen, ist dies problematisch. Einseitigen, unterkomplexen Weltbildern stellt R HODE -J ÜCHTERN als Alternative einen Geographieunterricht nach dem Prinzip der Unterscheidung entgegen. Denn, so R HODE -J ÜCHTERN, „das Unterscheiden verschiedener Aspekte und Perspektiven gibt der Sache selbst und der Beobachtung der Sache ihre Würde.“ (R HODE -J ÜCHTERN 2004: 63). Geographien der Unterscheidung beruhen R HODE J ÜCHTERN zufolge auf folgenden Kernpunkten: Erstens gelte es, verschiedene Aspekte der Realität bzw. der „Sache selbst“ und zweitens ebenso verschiedene Perspektiven der „Beobachtung der Sache“ zu thematisieren und zu unterscheiden (R HODE -J ÜCHTERN 2004: 63, s. a. S. 94). K ERSTING & H OFFMANN (2011: 2) sprechen – hier bezogen auf die Thematisierung von Afrika – analog von einem doppelten Plural, der notwendig sei: dem „Plural der Wirklichkeiten in Afrika und dem Plural der Blicke auf Afrika“ (Hervorh. im Original). Auch die Schriftstellerin Chimamanda Ngozi ADICHIE benennt in ihrem bekannten TEDVortrag mit dem Titel „The danger of a single story“ (A DICHIE 2009), der in der britischen Geographiedidaktik rezipiert wurde (u. a. M ARTIN 2012, 2013; B ID DULPH 2011, zit. n. M ARTIN 2013: 12; G RIFFITHS & A LLBUTT 2011, zit. n. M ARTIN 2012: 120–121), diese beiden Faktoren als bedeutsam. Denn ein stereotypisierendes Weltbild werde verfestigt, wenn aus dem Plural der Wirklichkeiten lediglich eine thematisiert und andere Wirklichkeiten ausgeblendet würden. Dies werde durch eine einseitige Perspektive beeinflusst, die bestimme, was als relevant ausgewählt werde sowie die Art und Weise, wie diese Wirklichkeit dargestellt werde.
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3.6 E NTWICKLUNG
EIGENER
VORSCHLÄGE
Angesichts sich widersprechender Positionen bezüglich geeigneter Perspektiven für die Weiterentwicklung des interkulturellen Lernens wird mit der vorliegenden Untersuchung das Anliegen verknüpft, einen konstruktiven Ausweg aus der „Pattsituation“ zu finden. Dabei wird die zentrale Frage verschoben. Während die Diskussion um Orientierung in kultureller Komplexität darauf fokussiert ist, welche theoretischen Ansätze (wie) unterrichtlich nutzbar oder nicht nutzbar bzw. umsetzbar oder nicht umsetzbar sind, rücke ich in der vorliegenden Untersuchung die Fragen ins Zentrum, wie alltägliche Erfahrungen und Perspektiven von Lernenden aussehen und welche Ansätze helfen können, diese zu analysieren und zu verstehen. Damit folge ich einem Vorschlag von V IELHABER (1998: 21), der dafür plädiert, das Verhältnis von Fachwissenschaft und Geographiedidaktik zu verschieben. Es geht dann darum, „zu überprüfen, welche [fach-]wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu beitragen könnten, Alltags- und Lebenswelten für die Schüler verstehbar und durchschaubar zu machen“ (V IELHABER 1998: 21). Dabei geht es also nicht in erster Linie um eine Vermittlung zwischen inhaltlichem Gegenstand (Theorie) und didaktischer Umsetzung. Vielmehr erlauben die Erfahrungen und Perspektiven von Schüler_innen eine reflexive Grundeinstellung, die das Potenzial eröffnet, anhand persönlicher Erfahrungen und Orientierungen Annahmen über orientierungsgebende Ansätze und die Bedürfnisse von Schüler_innen empirisch zu hinterfragen und marginalisierte Wissensbestände sichtbar machen. Als grundlegende Frage rückt dann in den Blick, wie Lebenswelten, Erfahrungen, Orientierungen und Debatten unter Schüler_innen eigentlich aussehen. Diese empirisch zu erheben, bietet insofern einen konstruktiven Ausweg für die didaktische Diskussion an, als dass die Klärung, inwiefern theoretische Ansätze möglicherweise nicht schüler_innengerecht sind und ob sie an die Erfahrungsräume von Schüler_innen anschlussfähig sind, nicht länger vornehmlich von der jeweils zugrundeliegenden theoretischen Perspektive abhängt. Beim Blick auf die Diskussion um Orientierung fällt nämlich auf, dass eine empirische Auseinandersetzung mit Erfahrungen und Orientierungen von Schüler_innen bisher eine Leerstelle in der geographiedidaktischen Diskussion um interkulturelles Lernen darstellt. So schätzt zwar S CHEFFER (2011: 9) kulturgeographische und kulturwissenschaftliche Konzepte als nicht schüler_innengerecht ein. Gleichwohl bleibt unklar, von welchen lebensweltlichen Erfahrungsräumen von Schüler_innen er ausgeht, wenn er die theoretischen Ansätze als ungeeignet
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zur schüler_innengerechten Systematisierung der Alltagserfahrungen von Lernenden beschreibt (S CHEFFER 2011: 9). V IELHABER (1998: 21) hat diese Verschiebung im Verhältnis von Fachwissenschaft und -didaktik im Zusammenhang mit der Diskussion um die Implementierung neuer Raumkonzepte im Geographieunterricht angeregt. Als zentralen Vorteil führt er dabei an, dass sich die Fachdidaktik Geographie auf diese Weise „im Spannungsfeld gesellschaftlicher Schlüsselprobleme und subjektiver Problemfragen der Schüler neu formatieren“ (V IELHABER 1998: 21) könne. D ICKEL (2006: 11) arbeitet heraus, dass sich in dieser Argumentationslogik die Geographiedidaktik „nicht länger in Bezug auf die in der Fachwissenschaft strittigen Raumfragen in Verteidiger und Herausforderer des traditionellen Raumkonzeptes polarisieren müsste“ (D ICKEL 2006: 11). Dies lässt sich auf die hier interessierende Diskussion übertragen. Einerseits erscheint dieses Vorgehen daher hilfreich, um aus der „Pattsituation“ in der didaktischen Diskussion einen konstruktiven Ausweg zu finden. Andererseits handelt es sich auch um einen grundlegenden Vorschlag, wie empirischdidaktische Forschung aussehen kann. Dieser wird in der vorliegenden Studie methodologisch folgendermaßen ausgestaltet: Die Aushandlung natio-ethno-kultureller Zugehörigkeiten wird hier als „Teilbereich des eigenen Alltagslebens“ (W ERLEN 2004: 33) von Lernenden verstanden. Schüler_innen explizit als „kompetente Akteure und Expert_innen ihres eigenen Lebens“ (S CHREIBER 2015: 9) zu betrachten, ist eine Grundhaltung, die insbesondere in der Forschungsrichtung der Kinder- und Jugendgeographien (u. a. BAU ER 2010; D UVENECK 2010; H ÖRSCHELMANN & VAN B LERK 2012; L ANDOLT 2011; S CHREIBER 2014, 2015; S KELTON & VALENTINE 1998) vertreten wird. Die jugendlichen Schüler_innen werden in meiner empirischen Untersuchung in den Fokus gestellt. Es interessieren ihre Erfahrungen und ihre Strategien des Umgangs mit diesen. Entsprechend der Differenzierung in „Plural der Wirklichkeiten“ auf der einen Seite und „Plural der Blickwinkel“ (s. Kap. 3.5.4) auf der anderen Seite ist es mein Anliegen, sowohl verschiedene Erfahrungswirklichkeiten der Schüler_innen als auch unterschiedliche Orientierungen zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz einzubeziehen. Zum einen geht es also darum, die lebensweltlichen Wirklichkeiten zu vervielfältigen, welche die Grundlage für Überlegungen zur Konzeptualisierung von interkulturellem Lernen darstellen. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass Schüler_innen u. a. in Bezug auf gesellschaftliche Zugehörigkeitsordnungen unterschiedlich positioniert sind und dies ihre Erfahrungen prägt. Ziel ist es daher, in
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der empirischen Untersuchung möglichst heterogene migrationsgesellschaftliche Zugehörigkeitserfahrungen von Schüler_innen einzubeziehen. Damit reagiere ich auf den Kritikpunkt (s. Kap. 3.4.5), dass das „Wir“ der im interkulturellen Lernen adressierten Schüler_innen die migrationsgesellschaftliche Heterogenität nicht immer wiederspiegelt und stattdessen weiße deutsche Schüler_innen normalisiert und zentriert werden. Es ist daher ein Anliegen der Untersuchung, die unterschiedliche Positioniertheit von Lernenden in Bezug auf migrationsgesellschaftliche Differenzund Dominanzverhältnisse stärker in die Diskussion um interkulturelles Lernen einzublenden. Zum anderen gilt es, unterschiedliche Perspektiven auf die gesellschaftlichen Wirklichkeiten empirisch zu erkunden: Wie beobachten Schüler_innen die „Sache“ bzw. das Thema natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit(en)? Wie orientieren sie sich in der Komplexität migrationsgesellschaftlicher Ein-, Ab- und Ausgrenzungen? Wie gehen sie mit migrationsgesellschaftlicher Differenz um? Hierbei interessiert das analytische Erkenntnispotenzial postkolonialer Ansätze zum Verständnis von Erfahrungen und Orientierungen von Lernenden. Zentrale Fragen sind dann: •
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Welche Erfahrungen von Schüler_innen erlaubt die postkoloniale Perspektive zu sehen und zu analysieren? Was kann das theoretische Angebot zum Verständnis von Alltagserfahrungen von Lernenden beitragen? Wie kann migrationsgesellschaftliche geographische Bildung, die auf einer postkolonialen Perspektive gründet, an lebensweltliche Erfahrungen anschließen? An welche Wissensbestände und Orientierungen kann angeknüpft werden?
Dabei ist die Befragungsrichtung eine doppelte. Zum einen werden ausgehend von der postkolonialen theoretischen Perspektive die Erfahrungen und Orientierungen von Schüler_innen analysiert. Zum anderen bleibt die Auseinandersetzung offen für weitere theoretische Erklärungsangebote. Es wird also ausgehend von den Perspektiven und Erfahrungen der Schüler_innen gefragt, inwiefern weitere theoretische Erklärungsangebote notwendig seien, um diese besser zu verstehen. Für mein Vorgehen ist folglich eine rekursive Vorgehensweise kennzeichnend, bei der nicht allein die eingenommene theoretische Perspektive auf die Orientierungen und lebensweltlichen Aushandlungsprozesse der Schüler_innen die Ergebnisse bestimmt. Die empirische Auseinandersetzung ist dabei immer bereits geprägt durch die postkoloniale Grundperspektive, von der ich ausgehe. Gleichwohl nehme ich in der empirischen Auseinandersetzung eine Haltung ein, die offen ist für Überraschungen, für Themen, die ich nicht erwartet habe, oder Gewichtungen von
Kapitel 3: Interkulturelles Lernen in der geographiedidaktischen Diskussion | 119
Themen, die ich so nicht vorausgesehen habe. Ziel ist eine Offenheit für theoretische Fokusverschiebungen und -erweiterungen im Anschluss an die Empirie und nicht eine grundlegende, völlig offene Suche nach weiteren Theorieangeboten.
4. Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung
In diesem Kapitel möchte ich die epistemologischen Grundlagen des empirischen Vorgehens sowie das konkrete methodische Vorgehen ausführlich darlegen. Zunächst erläutere ich in methodologischen Vorüberlegungen meine reflexive Herangehensweise, die ich unter anderem in Auseinandersetzung mit einer Gruppendiskussionspassage entwickle. Im Anschluss daran werden die Strukturierung des Feldes und das methodische Vorgehen expliziert, für das teilnehmende Beobachtungen und Gruppendiskussionen miteinander verknüpft wurden. Bei der Darlegung des methodischen Vorgehens werden auch die Aufbereitung sowie die Auswertung der empirischen Daten mit der dokumentarischen Methode erläutert. Am Schluss des Kapitels wird das methodische Vorgehen kritisch reflektiert.
4.1 M ETHODOLOGISCHE VORÜBERLEGUNGEN Angesichts der postkolonialen theoretischen Perspektiven stellen sich folgende methodologische Fragen: Wie kann zu natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsaushandlungen und Umgangsweisen mit migrationsgesellschaftlicher Differenz geforscht werden, ohne natio-ethno-kulturelle Grenzziehungen und eindeutige Verortungen durch das methodische Vorgehen zu reifizieren? Wie kann die theoretisch postulierte Forderung nach der Beachtung von Kontingenz, Relationalität und situativer Konstruiertheit empirisch eingelöst werden? Und zwar, ohne dabei auf die Frage nach der Bedeutung von wahr gewordenen Ab- und Ausgrenzungen und Dominanzverhältnissen zu verzichten. Wie können also postkoloniale theoretischanalytische Perspektiven forschungspraktisch umgesetzt werden? Diese Fragen lei-
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ten die methodologischen Überlegungen zur Konstruktion des Forschungsdesigns, zur methodischen Umsetzung und zur Auswertung. In der deutschsprachigen Kulturgeographie hat P OTT einen reflexiven methodologischen Ansatz für die empirische Forschung entwickelt, praktiziert und ausführlich dargelegt (P OTT 2002, 2005). Dieser erscheint im Hinblick auf die aufgeworfenen Fragen fruchtbar. P OTT unterscheidet für eine reflexive Methodologie zwei Faustregeln: erstens Forschung im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung und zweitens die Kontextuierung der Daten (P OTT 2002: 100). Beide Vorgehensweisen sollen im Folgenden dargelegt und für die Entwicklung meines methodischen Vorgehens konkretisiert und ausbuchstabiert werden. 4.1.1 Beobachtung zweiter Ordnung Als grundlegende empirische Konsequenz folgt aus der postkolonialen Perspektive auf Kultur, dass ich Kultur nicht als präexistente wissenschaftliche Beobachtungskategorie gewissermaßen „von außen“ auf die sozialen Wirklichkeiten der beobachteten Schüler_innen anwende. Es geht also nicht darum, die Vorstellungen der beobachteten Schüler_innen als (türkische, deutsche, afghanische. . . ) Kultur zu verstehen und einzuordnen oder ihre natio-ethno-kulturellen Verortungen als Zeichen für vorhandene kulturelle Unterschiede zu interpretieren. Vielmehr bedeutet das relationale Verständnis von natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten als vor dem Hintergrund von Positioniertheit ausgehandelte aktive Positionierungen die Einnahme einer anderen Ebene der empirischen Beobachtung. Es interessieren stattdessen Fragen danach, wer wann nach welchen Kriterien welche Unterscheidungen vornimmt. Mein empirisches Beobachtungsinteresse richtet sich also darauf, wie die beobachteten Schüler_innen selbst Unterscheidungen als Kultur beobachten. Gemäß dem interpretativen Paradigma wird dabei die soziale Wirklichkeit der Forschungsteilnehmer_innen als in Interpretationshandlungen hergestellt betrachtet. Damit ist eine Perspektive gewählt, die betont, dass der Gegenstandsbereich der sozialwissenschaftlichen Forschung – die soziale Wirklichkeit – sich in Interaktionen konstituiert, die auf der Grundlage von gegenseitiger Interpretation stattfinden (L AMNEK 1995: 43). Kultur wäre demnach eine Interpretationsfolie – unter anderen möglichen Interpretationsfolien –, die von den Schüler_innen deutend auf die Wirklichkeit angewandt wird. Beobachtungstheoretisch formuliert, beobachten sie als Beobachter_innen erster Ordnung soziale Wirklichkeit und dies ist Grundlage ihres Handelns oder Verhaltens in der Interaktion. Wenn ich als Forscherin die Beobachtungen von Schüler_innen wissenschaftlich beobachte, beobachte ich also Beobachtungen. Die Form der wissenschaft-
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lichen Beobachtung geschieht als Beobachtung von Beobachter_innen, d. h. im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung (P OTT 2002: 92). S CHÜTZ spricht von sozialwissenschaftlichen Konstruktionen als „Konstruktionen zweiten Grades: Es sind Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von den Handelnden gebildet werden“ (1971: 6, zit. n. B OHNSACK 2003: 23). Im Forschungsprozess geht es also darum, die Interpretationen der Schüler_innen interpretierend zu rekonstruieren. Die Unterscheidung dieser zwei Ebenen ist aus methodologischer Sicht bedeutsam, um zu vermeiden, dass die Unterscheidungspraktiken von Untersuchungsteilnehmer_innen in die wissenschaftliche Analyse hineingedoppelt werden (P OTT 2002: 92; B OMMES 1996: 211). Die natio-ethno-kulturellen Beobachtungsweisen der Teilnehmer_innen sind „mit Mitteln der Theorie“ (B OMMES 1996: 211) zu analysieren, was keinesfalls mit einer simplen Aufwertung der Unterscheidungspraktiken der Teilnehmer_innen zur Theorie zu verwechseln ist (B OMMES 1996: 211). Im Hinblick auf diese Differenzierung ist auch eine genaue Unterscheidung der Fallsprache, also der Sprache der Forschungspartner_innen, von der Sprache der wissenschaftlichen Beobachtung und Analyse bedeutsam (P OTT 2002: 92). In dieser Untersuchung sollen daher sprachliche Festlegungen der Schüler_innen nicht unreflektiert in die Analysesprache übernommen werden. Über die Vermeidung einer einfachen Dopplung sprachlicher Kategorien in die Analysesprache hinaus ist es mir zudem wichtig, in den wissenschaftlichen Begrifflichkeiten essentialistische Festschreibungen der beobachteten Phänomene als problematisch anzuzeigen (vgl. u. a. die Begriffe Migrationsandere, weiß, Schwarz). Umgekehrt erscheint eine Unterscheidung zwischen wissenschaftlicher Beobachtungsweise und Beobachtungsweisen erster Ordnung ebenso bedeutsam, um nicht wissenschaftliche Beobachtungsweisen unreflektiert in das Untersuchungsfeld hineinzutragen. B OMMES (1996: 213–214) kritisiert, dass der Forschungsgegenstand ‚Kultur‘ in der qualitativen Migrationsforschung häufig selbsterzeugtes Resultat der eigenen wissenschaftlichen Herangehensweise sei. So kann es sein, dass Vorannahmen, die Fragestellung, die Methodologie, die konkreten Fragen oder auch die bloße Präsenz der Forscherin bestimmte Beobachtungsweisen unter den Forschungsteilnehmer_innen aufrufen (P OTT 2002: 92; B OMMES 1996: 213–214).
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4.1.2 Methodologische Reflexivität Wissenschaftliche Erkenntnis bildet nicht soziale Wirklichkeiten einfach ab, sondern die spezifischen Situationen, in denen geforscht wird beeinflussen das Erkenntnispotenzial und die Ergebnisse (DAUSIEN 2007: Abs. 4). Aus methodologischer Sicht besteht daher die Notwendigkeit einer reflexiven Perspektive auf die eigene Forschungspraxis1 : Wie wird der Forschungsgegenstand zum Gegenstand? Wie geraten also natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsaushandlungen in der methodologischen Anlage der Untersuchung in den Blick? B OURDIEU bezeichnet eine reflexive Forschungspraxis als „wissenschaftliche Rückwendung bin zur wissenschaftlichen Praxis“ (1993: 366). Dabei geht es darum zu fragen, wie sich Gegenstand und Methode gegenseitig konturieren. Es wird also auf methodisch kontrollierte Weise berücksichtigt, dass Perspektiven und Methoden der Forschung den Gegenstand strukturieren und auch mit herstellen (DAU SIEN 2007: Abs. 5). Damit kann Reflexivität als eine Strategie verstanden werden, Wissen zu situieren und Universalitäts- und Neutralitätsansprüche zu vermeiden, die nicht erfüllbar sind (ROSE 1997: 306). Auch H ARAWAY erläutert in ihrem Aufsatz „Situated Knowledges: the Science Question in Feminism and the Privilege of Partial Perspective“ anhand feministischer Wissenschaftskritiken die Situativität von Wissen und unterstreicht, dass es keinen unmarkierten Blick „from nowhere“ (H ARAWAY 1996: 114) gebe. Sie plädiert dafür, die Partialität von Wissen anzuerkennen und fruchtbar zu machen für die Forschung: „We do not seek partiality for its own sake, but for the sake of the connections and unexpected openings situated knowledges make possible. The only way to find a larger vision is to be somewhere in particular.“ (H ARAWAY 1996: 123)
Es geht also darum, den Kontext der Forschung und die eigene Positionalität anzuerkennen, da dies Einsichten in Zusammenhänge und Erkenntnisse über den Forschungsgegenstand erlaubt. Auf ähnliche Weise unterstreicht auch B OURDIEU, dass Reflexivität nicht Selbstzweck sei, sondern „der Verfeinerung und Verstärkung der Erkenntnismittel“ (1993: 366) dienen solle. Er unterscheidet daher die wissenschaftliche Reflexivität von einer lediglich narzisstischen Form der Reflexivität. Für B OURDIEUs
1 | In der Geographie wurde die Notwendigkeit einer reflexiven Perspektive für die Forschungspraxis vor allem in der feministischen Geographie unterstrichen (ROSE 1997: 306).
Kapitel 4: Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 125
Verständnis von wissenschaftlicher Reflexivität macht WACQUANT (2006: 63) folgende drei zentrale Punkte aus: •
• •
Erstens sei der Gegenstand der Reflexivität nicht in erster Linie der/die individuelle Wissenschaftler_in, sondern vielmehr „das in die wissenschaftlichen Werkzeuge und Operationen eingegangene soziale und intellektuelle Unbewußte“ (Hervorh. im Original). Zweitens sei Reflexivität eine kollektive Aufgabe. Drittens sei auf der wissenschaftstheoretischen Ebene das Ziel der Reflexivität, die Reichweite und die Zuverlässigkeit des Wissens zu erhöhen.
Gegenstand meiner reflexiven Herangehensweise soll im Anschluss an B OURDIEU, aber auch im Anschluss an Ansätze aus der geographischen Forschungspraxis (z. B. ROSE 1997; M C D OWELL 2010; KOBAYASHI 2003) auch meine soziale Positionierung sein. Zunächst ist hier der Einfluss zu reflektieren, den ich als Forschende aufgrund meiner sozialen Herkunft sowie meiner natio-ethno-kulturellen und geschlechtlichen Zugehörigkeit auf die Konstruktion meines Gegenstandes habe. Auch die Machtbeziehungen, von denen die Aushandlungen im Feld aufgrund meiner sozialen Position als Wissenschaftlerin beeinflusst werden, sollen in die Reflexion einbezogen werden (L IPPUNER 2005: 142). Insbesondere gilt es im spezifischen Kontext Schule die Aushandlung meiner Positionierung zwischen Lehrer_innen, über die als Gatekeeper_innen notwendigerweise der Zugang zum Feld erfolgt, und Schüler_innen als meinen primären Forschungspartner_innen zu beachten. Hier wird nicht zuletzt auch mein Alter relevant, das mich zunächst sofort der Ebene der Lehrer_innen zuordnet2 . Eine weitere Form von Reflexivität soll unter Rückgriff auf B OURDIEU herangezogen werden, die aus der spezifischen Situation der empirischen Forschung resultiert. B OURDIEU fordert, die handlungsentlastete wissenschaftliche Beobachter_innenposition von der in konkrete Handlungszusammenhänge eingebetteten praktischen Logik der Forschungsteilnehmer_innen zu unterscheiden. Werde dieser Unterschied nicht beachtet, sieht er
2 | Dies ließ sich beispielsweise beim Betreten des Schulgeländes beobachten, als ein Schüler sofort auf meine Präsenz reagierte und mir zurief, er habe nicht geraucht, nur sein Freund. Beide liefen schnell ins Schulgebäude zurück. Es handelte sich dabei um den Tag, an dem in der betreffenden Schule das erste Gespräch zur Absprache meiner Feldforschung stattgefunden hat, so dass die Schüler_innen meine Funktion nicht kennen konnten. Sie hatten mich offenbar sofort der Lehrer_innenseite zugeschlagen (Forschungstagebuchnotiz vom 6.3.14).
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die Gefahr eines „intellektualistische[n] »Bias«“ (B OURDIEU 1993: 370): Die empirischen Daten werden aus der wissenschaftlichen Perspektive heraus interpretiert, ohne dass die Logik der Praxis – des konkreten Handelns in spezifischen Situationen, die nach praktischen Lösungen verlangten – in die Interpretation einbezogen wird (B OURDIEU 1993: 370–372). Wie es gelingen kann, den intellektualistischen Bias reflexiv in die Forschung einzubeziehen und welchen Erkenntnisgewinn dies bedeuten kann, soll im Folgenden in Kap. 4.1.3 exemplarisch an der eigenen Forschungspraxis gezeigt werden. Damit kann unterstrichen werden, dass es nicht um eine individuelle „intellektuelle Introspektion“ (WACQUANT 2006: 68) der Forscherin geht, sondern dass im Anschluss an B OURDIEU Reflexivität vielmehr als kontinuierliche Reflexion der Forschungspraxis mit Mitteln der wissenschaftlichen Analyse aus einer Metaperspektive verstanden wird. Die Explizierung der Methoden, Positionierungen und der spezifischen Perspektive auf einen Forschungsgegenstand wird im Anschluss an B OURDIEU als Qualitätskriterium rekonstruktiver Sozialforschung verstanden (DAUSIEN 2007: Abs. 4). B OURDIEUs Verständnis von wissenschaftlicher Reflexivität als kollektive Aufgabe und als Qualitätskriterium der Forschung spricht auch dafür, Reflexivität nicht nur zu praktizieren, sondern diese Überlegungen auch den Leser_innen des wissenschaftlichen Textes zugänglich zu machen. Aus geographischer Perspektive plädiert C ARSTENSEN -E GWUOM dafür, selbstreflexive Forschungsarbeit zu publizieren (2011: 270). Über die Argumente der erhöhten Transparenz der Feldforschung und einer ehrlicheren Forschungspraxis hinaus zeigt sie beispielhaft, wie reflexive Forschungspraxis auch die Generierung von Erkenntnissen zum eigenen Forschungsinteresse unterstützen kann (C ARSTENSEN -E GWUOM 2014: 270–273). Methodologische Reflexivität ist nicht in einer spezifischen Phase des Forschungsprozesses verankert, sondern wird kontinuierlich praktiziert. Es geht nicht um eine nachträgliche Reflexion des Forschungsprozesses oder der Ergebnisse (B OURDIEU 1993: 366). Es gilt vielmehr immer wieder „die eigenen Privilegien und Positionierung im gesellschaftlichen Raum sowie die eigene Forschungs- und Alltagspraxis kritisch auf darin implizierte Vorannahmen, Zuschreibungen, Normalitätsvorstellungen, sowie einseitige Perspektiven und blinde Flecken zu reflektieren.“ (R IEGEL 2012b: 9–10)
P OTT hat in seinen kulturgeographischen Forschungen gezeigt, wie es gelingen kann „Selbstreflexivität der Forschung nicht nur in theoretischen Statements oder methodologischen Vorabschleifen einzufordern, sondern auch in der Auswertung zu praktizieren“ (P OTT 2002: 92).
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Dies ist auch aus einer relationalen Sicht auf Positionierungen zu bekräftigen. Denn wenn Identitäten (auch die der Forscherin) als relational gedacht werden, als Positionierungen in sich wechselseitig strukturierenden sozialen Beziehungen, dann kann reflexive Forschung nur direkt am Material ansetzen, um die Aushandlungssituationen reflexiv in die Auswertung einzubeziehen. Es ist daher nicht ausreichend, meine Position als Forscherin und meine (in Machtrelationen eingebetteten) Beziehungen zum Forschungsfeld und den Forschungsteilnehmer_innen im Voraus zu explizieren. Vielmehr besteht bei einem Verständnis von Reflexivität, welches sich darin erschöpft, die soziale Positionalität der Beteiligten im Voraus zu explizieren die Gefahr, das Moment der aktiven Aushandlung und der Relationalität von Positionierungen aus dem Blick zu verlieren. „Reflexivity thus opens us to the charge [. . . ] that it can even work actively to construct a sense of the other, to deny the reflexivity of others, and to emphasise the condition of detached alterity.“ (KOBAYASHI 2003: 348)
Im Anschluss an (KOBAYASHI 2003: 348) besteht die Herausforderung im Umgang mit Reflexivität darin, zu vermeiden, dass Reflexivität dazu beiträgt „Andere“ als „Andere“ zu essentialisieren und die relationale Aushandlung von Differenz zu negieren. Auch ich bin als Forschende in die Interaktionen im Forschungsfeld eingebunden (ROSE 1997: 315–316). Ich reflektiere daher in der Auswertung auch meine Positionalität, wenn ich relationale Aushandlungssituationen interpretiere3 . 4.1.3 Entwicklung des Forschungsdesigns Während P OTT (2002) bereits gezeigt hat, wie Reflexivität in der Auswertung praktiziert werden kann, möchte ich an dieser Stelle beispielhaft zeigen, wie Reflexivität in der Phase des Entwurfs des Forschungsdesigns produktiv genutzt werden kann und erste Erkenntnisse über das Forschungsfeld liefern kann. Es geht dabei um die Frage, wie sich Gegenstand und Methode in meiner Forschung gegenseitig konturieren und inwiefern dies meinem Erkenntnisinteresse angepasst ist. Dabei greife ich auf B OURDIEUs Überlegungen zum „intellektualistische[n] »Bias«“ (B OURDIEU 1993: 370) zurück. Diese wurden von L IPPUNER (2005)
3 | Das bedeutet nicht, dass die Reflexion meiner sozialen Position nicht auch schon beim Feldzugang und während der Forschungspraxis hilfreich sein kann. In meinem Feldtagebuch sammle ich daher kontinuierlich Beobachtungen während der Forschung in den Schulen.
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aufgegriffen für die kultur- und sozialgeographische Forschungspraxis nach dem Cultural Turn. Eine reflexive Umgangsweise mit dem intellektualistischen Bias ist L IPPUNER zufolge notwendig, um auch den praktischen Sinn imaginativer Geographien ins Blickfeld rücken zu lassen. Für die geographische Forschungspraxis sei dies bedeutsam, wolle sie jenseits der Dekonstruktion von Verräumlichungen und Naturalisierungen auch den praktischen Sinn der Verwendung eben dieser untersuchen (L IPPUNER 2005: 144). L IPPUNER zufolge werden „diese Verdinglichungen von den Akteuren oft erkannt und in Kauf genommen [. . . ]. Solche Reifikationen gehören zum Sprachspiel, das die Akteure quasi intuitiv beherrschen“ (2005: 144). Dies bedeutet also, dass auch strategische Verwendungsweisen von Essentialisierungen erkennbar werden können. Inwiefern die Akteur_innen Reifikationen tatsächlich bewusst erkennen und reflektieren, soll hier allerdings erst einmal zurückgestellt werden. Vielmehr erscheint im Zusammenhang meiner Untersuchung relevant, dass der praktische Sinn der Verwendung situativ unterschiedlich sein kann; dass also der Kontext der Äußerung bedeutsam ist. Mit Blick auf Ethnisierungen unterstreicht auch P OTT (2002) die Bedeutung des situativen Gebrauchswertes von unterscheidenden Praktiken oder Äußerungen. In seiner Dissertation zum Thema Bildungsaufstieg in der zweiten türkischen Migrant_innengeneration in Deutschland betont er, dass Ethnisierungen für Akteur_innen situativ aus unterschiedlichen Gründen einen praktischen Gebrauchswert haben können. Es müsse daher in der empirischen Untersuchung stets danach gefragt werden, was die Wahl der ethnischen Beschreibungsform jeweils ermögliche: „Der Gebrauchswert von Ethnizität für soziale Akteure kann erst in bezug [sic!] auf deren gesellschaftlich situierte Problem- und Interessenlage konkret bestimmt werden.“ (P OTT 2002: 141). Der praktische Gebrauchswert von natio-ethno-kulturellen Unterscheidungen und Verortungen ist auch im Kontext der Anlage meiner Untersuchung zu reflektieren. Nachfolgend zeige ich, dass eine Reflexion des praktischen Gebrauchswertes hegemonialer natio-ethno-kultureller Kategorien für migrationsandere Schüler_innen wertvolle Erkenntnisse für die Entwicklung des Forschungsdesigns der vorliegenden Studie gebracht hat. Ich analysiere hierfür die Anfangssequenz einer Gruppendiskussion, die ich am 15. Februar 2013 als Voruntersuchung mit zwölf Schüler_innen einer zwölften Klasse einer Gesamtschule4 durchgeführt habe (s. grauer Kasten unten). Die Analyse demonstriert, was es im Anschluss an B OM -
4 | Bei der Schule, an der die Voruntersuchung durchgeführt wurde, handelt es sich um Schule 2 aus der Hauptuntersuchung. Die Schule wird in der kontrastiven Fallbeschreibung in Kap. 4.2.1 näher beschrieben.
Kapitel 4: Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 129
MES bedeuten kann, „die sozialen Erzeugungsbedingungen der Daten“ (B OMMES 1996: 207) in die Auswertung mit einzubeziehen. Darüber hinaus verstehe ich die Analyse als ein Beispiel dafür, wie reflexive empirische Forschungspraxis von Beginn an praktiziert werden kann und welcher forschungspraktische Mehrwert daraus gewonnen werden kann. Ich zeige auf, dass reflexives empirisches Forschen auch zu Beginn des Forschungsprozesses wertvolle Hinweise bei der Konstruktion eines Forschungsdesigns liefern kann, welches dem eigenen Erkenntnisinteresse angemessen ist. Reflexivität in der Forschungspraxis meint also auch eine Reflexion über das eigene Untersuchungsdesign – verbunden mit einem offenen, prozessualen Vorgehen, das eine Anpassung des Designs erlaubt (L AMNEK 1995: 26).
Reflexion der gegenseitigen Konturierung von Vorgehen und Gegenstand in der Voruntersuchung Als Basis meiner Reflexion ziehe ich die Anfangssequenz einer Gruppendiskussion (ca. Minute fünf bis neun der Diskussion) aus der Voruntersuchung vom 15. Februar 2013 heran5 . Die Teilnehmer_innen waren aufgefordert einen Gegenstand mitzubringen, der „für dich mit deiner Kultur zu tun hat“. Diesen kommentieren sie in der Anfangssequenz6 : Gf: ich hab ehm nicht direkt was mitgebracht aber i- ich habs halt immer an sozusagen meine Uhr (.) weil das ja gesagt wird dass die Deutschen sehr pünktlich sind hab ich einfach mal gedacht (.) was typisch ist für die Deutschen, (.) nämlich die Uhr (.) Yf: mhm (3) ihr braucht euch auch nicht melden ne, balso c Cf: bachsoc Yf: ihr könnt ◦ ◦ einfach draufblos reden Cf: bja:: bei uns ist es so dass ehm bei mir in der Kultur viel Tee getrunken wird schwarzen Tee trinken wir sehr oft egal ehm ((räuspert sich)) ob es ne Trauerfeier ist oder eh ne Hochzeit oder eigentlich wird überall Tee getrunken und ehm das gehört halt immer dazu wenn man Besuch bekommt es is ehm ja gang und gäbe dass wir halt immer auf=m Tisch Tee stehen haben (2) Hf: aber nicht unbedingt schwarzen b(.) grüner Tee Cf: b do:ch also von den- von- bei den schwarzen (.) is behm gang und ?: b((leises Auflachen)) Cf: gäbe dass man bschwarzen bTee trinkt c ?: b((lautes Auflachen)) ?: bbei den Schwarzen? c Dm: bei den Schwarzen? ((lachend)) mehrere:((lachen)) ?: bei den Schwarzen? ?: bei den Schwarzen? Cf: nee weil achso bei den bAfghanen meinte ich ((lacht)) mehrere: b((lachen laut (7sek))) ?: (So) oh du bist so:::::: mehrere:oo:::::::::
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Cf: (so) Schwarz (nein nicht bei den Schwarzen) bei den Afghanen (.) also ich kenn das so von meiner (.) Familienkultur Hf: ich kenn das eher dass die grünen Tee trinken (.) Cf: auch aber hauptsächlich also (.) 60 Prozent oder 70 Prozent glaub ich schwarzen b (.) ich kenn das so c Jf: bbist du auch Afghanerin?c Hf: Afghanin ja ja Jf: oh tschuldigung mehrere: ((lachen leise auf))
Relativ schnell sprechen diejenigen Diskutant_innen, die sich als Migrationsandere positionieren und auch von anderen als solche positioniert werden von einem kulturell definierten „Wir“. Schon im ersten Redezug einer sich als „Andere“ positionierenden Schülerin werden Kultur, Herkunft und Nation verknüpft, was zunächst auch nicht weiter hinterfragt wird. Die Schülerin verortet sich als Repräsentantin „ihrer“ Kultur „in einem imaginären Anderswo“ (H ÖHNE 2005: 603). Sie spricht von sich selbst in ihrer als authentisch dargestellten natio-ethnokulturell anderen Zugehörigkeit. Die strukturelle Ähnlichkeit der Selbstdarstellungen der migrationsanderen Schüler_innen in diesem Diskussionsanfang mit Migrant_innendarstellungen unter kulturellem Vorzeichen in Schulbüchern ist frappierend (vgl. für analoge Adressierungen von migrationsanderen Schüler_innen in Schulbuchdarstellungen: L OSSAU 2005: 245; M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2007: 272–273; H ÖHNE 2001: 207). Die migrationsanderen Schüler_innen reagieren mit privaten Beiträgen auf den Impuls, wohingegen eine sich als „Deutsche“ positionierende Schülerin eine Armbanduhr und damit einen unpersönlichen Gegenstand thematisiert und auf einer stereotypen Ebene verbleibt, von der sie sich gleichzeitig durch die Einnahme einer Außenperspektive distanziert: es werde ja von den „Deutschen“ gesagt, dass sie pünktlich seien. Reflexiv betrachtet, fällt besonders dieser Charakter der Selbstoffenbarung der migrationsanderen Schüler_innen auf. Möglicherweise habe ich durch meinen Diskussionsimpuls – ohne dass mir dieses klar gewesen wäre – diese Schüler_innen zu einer Selbstoffenbarung angeleitet. Auch hierzu findet sich in der dominanten Thematisierung von kultureller Differenz bezogen auf Migrationsandere in Schulbüchern eine Parallele: Der Erziehungswissenschaftler H ÖHNE (2001: 207–208) betont, dass es in der Thematisierung von Migrationsanderen in Schulbüchern seit den 1990er Jahren eine Kulturalisierung gegeben hat. Diese habe die Thematisierung des Privatbereichs von Migrationsanderen, zum Beispiel hinsichtlich der Essenspraktiken oder auch religiöser Praktiken ermöglicht und eine Praxis der typisierenden Festlegung der Identität von Migrationsanderen eingeführt. Er spricht von einer gewissen Enttabuisierung bezüglich des Privaten Migrationsanderer, die sich in der Thematisierung dieser als ganze Personen äußert: „Direkte Befragung von Migrantenkindern, Handlungsanweisungen, zu schauen, wie Migrantenkindern denn zu helfen sei, oder Aufforderungen zur Berichterstattung über ‚die eigene Kultur‘ stellen höchst problematische pädagogische Geständnispraktiken dar.“ (H ÖHNE 2005: 605)
Kapitel 4: Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 131
Auffällig ist hier, dass sich meine Formulierung des Diskussionsimpulses vollkommen deckt mit der von H ÖHNE kritisierten geläufigen Schulbuchpraxis: auch ich habe zu einer „Berichterstattung über ‚die eigene Kultur‘“ (H ÖHNE 2005: 605) aufgefordert. So hatte zwar mein Impuls von sich aus keinen Hinweis darauf beinhaltet, dass ‚meine Kultur‘ gleichzusetzen sei mit ‚meiner (zugeschriebenen) Herkunft‘ oder einer Nationalität – ‚meine Kultur‘ hätte, so der ursprüngliche Gedanke, Platz gelassen für unterschiedliche Ausgestaltungen von Positionierungen und Aushandlungsprozesse kultureller Zugehörigkeit auf individueller Ebene. Daher hatte ich den Begriff ‚Kultur‘ individualisiert. Carlos KÖLBL (2004: 200–206) hat in seiner Untersuchung zum Geschichtsbewusstsein von Schüler_innen ebenfalls mit mitgebrachten Gegenständen als Grundimpuls für Gruppendiskussionen gearbeitet und hiermit gute Erfahrungen gemacht. Er begründet die Wahl von persönlichen Gegenständen als Diskussionsimpuls damit, dass dieser Interesse an subjektiven Erzählungen signalisiere, um möglichst nicht das „Skript einer Schulstunde“ (KÖLBL 2004: 203) auszulösen. In meiner Voruntersuchung ist möglicherweise aber gerade dies geschehen. Mein Diskussionsimpuls war anschlussfähig an ein Interesse an „anderen“ kulturellen Praxen und damit verbundenen Gegenständen sowie persönlichen Erzählungen migrationsanderer Schüler_innen, wie es in Ansätzen interkulturellen Lernens in der Schule normalisiert ist.
Die obige Interpretation der Eingangssequenz unterstreicht die Parallelität von Repräsentationsaufforderungen in Schulbüchern, meinem Diskussionsimpuls und der Positionierung der migrationsanderen Schüler_innen. Der Grundimpuls der Diskussion hat – so interpretiere ich dies – in einer Weise an hegemoniale Diskurse angeknüpft, dass die migrationsanderen Schüler_innen diese sofort aufgriffen. Sie hatten offenbar gelernt, über sich und ihre Familie bzw. eine community zu berichten. P OTT (2002: 141–142) legt dar, dass die Beschreibung der Lebenssituation migrationsanderer Schüler_innen anhand kultureller und ethnischer Semantiken über Schulbücher und Curricula im schulischen Alltag fest institutionalisiert ist. Dies sei Bestandteil des schulischen Erfahrungsraums von Schüler_innen in Deutschland:
5 | Diese Sequenz wurde in der Forschungswerkstatt Interpretation als Ko-Konstruktion von Prof. Bettina DAUSIEN im Rahmen des 9. Berliner Methodentreffen Qualitative Forschung 2013 analysiert. Die Interpretationen, die in dieser Werkstatt entstanden sind, stellen den Ausgangspunkt für die hier dargelegte Reflexion des intellektualistischen Bias dar und haben die Weiterentwicklung meines Forschungsdesigns beeinflusst. Bei Bettina DAUSIEN und allen Teilnehmer_innen der Forschungswerkstatt möchte ich mich an dieser Stelle für die wertvollen Beiträge herzlich bedanken. 6 | Die Transkriptionskonventionen werden in Kap. 4.2.5 erläutert.
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„Die expliziten Versuche, die Lebenssituation von Migrantenkindern als Bestandteil ‚multikultureller‘ oder ‚interkultureller‘ Erziehung zum Unterrichtsgegenstand zu machen, zählen heute [. . . ] zu den Kontextbedingungen einer Bildungskarriere in Deutschland“ (P OTT 2002: 142).
Auch eine Untersuchung zu Ethnisierungsprozessen im Schulalltag von Martina W EBER (2003: 251) beschreibt Aufgabenstellungen, die in der Tradition der Ausländerpädagogik nach Erfahrungen aus der „Heimatkultur“ fragen. Ähnliche Fragestrukturen sind zudem auch im gesellschaftlich dominanten Diskurs vorhanden, z. B. bei der Frage „Woher kommst du?“, die die Erwartung einer „Herkunftsnarration“ beinhaltet. Dies verdeutlicht die Bedeutung der diskursiven Kontexte, in denen die Forschungspartner_innen ihre Gedanken formulieren. Es stellt sich daher die Frage: Kann ich diese Positionierungen als lebensweltlich relevante Aushandlungen von kulturellen Differenzen interpretieren oder haben die betreffenden Migrationsanderen lediglich gelernt, dass von ihnen beim Stichwort ‚Kultur‘ – in der Schule oder auch in anderen gesellschaftlichen Kontexten – erwartet wird, über sich und ihre Familie zu sprechen? Werden hier nicht einfach hegemoniale gesellschaftliche Diskurse reproduziert und allzu greifbar bereitstehende diskursive Positionen besetzt? Habe ich nicht mit meiner Vorgehensweise selbst in den empirischen Daten das (mit) erzeugt, was sich als lebensweltliche Relevanz natio-ethno-kultureller Differenz für Schüler_innen interpretieren ließe (vgl. B OMMES 1996: 214)? Um diese Frage zu beantworten ist es aufschlussreich, den situativen Kontext der Gruppendiskussion genauer zu reflektieren. Diese fand in dem Klassenraum statt, in dem die Schüler_innen normalerweise zur selben Zeit Unterricht hatten. Die Lerngruppe war für die Untersuchung zweigeteilt worden und während eine Hälfte der Klasse im Klassenraum an der Gruppendiskussion teilnahm, machte die andere Hälfte mit der Kursleiterin Stillarbeit in der Bibliothek. Ich war offensichtlich mit der Lehrerin bekannt und von ihr in den Unterricht mitgebracht und vorgestellt worden. Zusätzlich war eine Praktikantin während der Gruppendiskussion anwesend, die in den Stunden zuvor die Schüler_innen auch bereits selbst unterrichtet hatte. Das Untersuchungssetting ließe sich folglich als fest in den schulischen Kontext eingebunden, als schulisch gerahmt, beschreiben, wenngleich ich mich auch aus der Moderation der Diskussion weitgehend zurückzog, und so die typische Lehrer_innenrolle verwehrte. Der Erziehungswissenschaftler Georg B REIDENSTEIN (2006: 262–263) hat in einer Untersuchung zu Praxen des Schülerhandelns in Unterrichtssituationen herausgearbeitet, dass Schüler_innen in der Schule ihren „Schülerjob“ (B REIDEN -
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STEIN 2006) tun und durchaus eine pragmatische Haltung zu diesem einnehmen können. Interessanterweise finden sich in meinem empirischen Datenmaterial viele Ironisierungen – auch in Bezug darauf, dass kein_e Diskutant_in den nächsten Redezug wahrnehmen will und das Gespräch sich zunächst sehr schleppend entwickelt. Wenn man danach fragt, was die möglichen kommunikativen Funktionen aus einer Logik der Praxis heraus sein können, so kann dies als Distanzierung gegenüber dem Geschehen verstanden werden. Verlangt hier vielleicht der Schüler_innenjob ein pragmatisches „Mitspielen“ bei der gestellten Aufgabe – „man tut seinen Job“ (B REIDENSTEIN 2006: 260) – das aber gleichzeitig ironisch distanzierend veranstaltet wird – „man tut seinen Job“ (B REIDENSTEIN 2006: 260, Hervorh. im Original) aus einer gewissen Distanz heraus? Dann hätte die eigene kulturelle Verortung als „Andere“ für die migrationsanderen Schüler_innen den pragmatischen Gebrauchswert, dass sie die an sie herangetragenen Erwartungen erfüllt – bzw. das erfüllt, von dem sie aufgrund eingeübter (schulischer) Muster vermuten, dass es von ihnen erwartet wird. Die Ironie, von der das kommunikative Tun begleitet wird, kann dann als performative Distanzierung von diesem begriffen werden. Diese Interpretation wird auch dadurch gestützt, dass sich einige Diskutant_innen zu einem späteren Zeitpunkt der Gruppendiskussion von den mitgebrachten Gegenständen distanzieren. Dies geschieht, nachdem Yf den Grundimpuls der Gruppendiskussion selbst zum Thema gemacht hat. Eine Schülerin erklärt beispielsweise, dass sie einen Koran hätte mitbringen können, dies aber subjektiv nicht passend gefunden hätte:
Hf: [. . . ] also wenn ich jetzt zum Beispiel wenn ich jetzt wirklich nen Koran mitgebracht hätte so ein- so kulturmäßig so dann wär das vielleicht irgendwo richtig gewesen aber d- das Ding bei mir ist ja zum Beispiel dass ich mich ja nicht mit der afghanischen Kultur verbunden fühle also (.) es wär es wär (.) objektiv gesehen wär=es richtig gewesen aber halt subjektiv wärs nicht so Yf: weil du denkst dass ich das erwartet hab bsozusagenc bja genau:c
Hf: Yf:
wärs richtig gewesen
Hf: genau weil es halt erwartet wird aber man selber fühlt sifühlt si- das halt vielleicht nicht Yf: hmm ?:
ja (.) stimmt hatt=ich auch das Problem mit
(Voruntersuchung, ca. Minute 43)
134 | Zugehörigkeit und Rassismus
Eine Interpretation, die die begleitende Ironie und die späteren Distanzierungen der Teilnehmer_innen übergehen würde, würde folglich riskieren, hegemoniale migrationsgesellschaftliche Unterscheidungen und gesellschaftlich gefestigte Annahmen zur kulturellen „Andersheit“ Migrationsanderer in die eigene wissenschaftliche Analyse zu übernehmen und sie auf diese Weise reproduzieren. Dies unterstreicht zunächst einmal die Bedeutung reflexiver Forschungspraxis in der Auswertung. Darüber hinaus rückt auch die Frage in den Fokus, welche Möglichkeiten ich meinen Forschungspartner_innen eröffne und welchen „thematisch-sozialen Raum“ (M ECHERIL et al. 2003: 93) ich durch meinen Impuls und die Gestaltung der Forschungssituation insgesamt nahelege (M ECHERIL et al. 2003: 93). Mit einer reflexiven Auswertung der Voruntersuchung ließen sich durchaus Aussagen treffen über eingeübte Muster der natio-ethno-kulturellen Selbstpositionierung und gesellschaftlich verfestigte Diskurse über „Kulturen“ der „Anderen“. Diese stehen allerdings weniger im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Vielmehr interessieren mich insbesondere auch solche Perspektiven von Lernenden, die durch die Reproduktion hegemonialer Perspektiven verdeckt werden. Ich habe daher das empirische Forschungsdesign für die Hauptuntersuchung verändert, um dem Erkenntnisinteresse besser zu entsprechen. Die Forschungssituation in der Hauptuntersuchung habe ich mit dem Ziel umgestaltet, weniger stark an die „Erwartungs-Erwartungen“ der Schüler_innen anzuknüpfen. Stattdessen habe ich versucht, die unterrichtsnahe Situation und hegemoniale gesellschaftliche Diskurse zu natio-ethno-kultureller Differenz ein Stück weit „aufzubrechen“. Ich habe also sowohl über das Moment der thematischen Gestaltung der Forschungssituation als auch über das Moment der sozialräumlichen Gestaltung versucht, den teilnehmenden Schüler_innen andere Möglichkeitsräume zur Artikulation zu eröffnen. Auf sozialräumlicher Ebene wurde die Durchführung der Gruppendiskussionen dahingehend verändert, dass diese nicht mehr im Klassenraum selbst stattfanden. Stattdessen diskutierten wir in weniger formeller Atmosphäre in einem Medienraum (Schule 1), einer Schulbibliothek (Schule 3) und in einem – normalerweise von den Lehrenden genutzten – Vorbereitungsraum für den Kunstunterricht (Schule 2). Die Diskussionsgruppen umfassten lediglich drei bis fünf Schüler_innen, die die Gruppenzusammensetzung auf Basis bestehender Freundschaften selbst bestimmt haben. Auf diese Weise wurde der Klassenverbund stärker aufgelöst. Ich habe zudem versucht Vertrauen aufzubauen, indem ich die Schüler_innen bereits vor den Gruppendiskussionen zwei bis drei Wochen lang in der Schule begleitet habe.
Kapitel 4: Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 135
In thematischer Hinsicht habe ich den Grundimpuls für die Gruppendiskussionen so gewählt, dass er sich möglichst stark von dominanten Mustern der schulischen und öffentlichen Kommunikation über migrationsgesellschaftliche Differenz löst. Der neue Impuls – ein Ausschnitt aus einem Dokumentarfilm „Transnationalmannschaft“ (KOHL 2011) – zeigt einen migrationsanderen Jugendlichen, dessen komplexe Selbstverortung über eine dichotome Zugehörigkeitslogik hinausgreift (für das Transkript des Filmausschnitts s. Kap. 4.2.4). Ziel ist es, die Diskussion auch für im hegemonialen Diskurs stärker marginalisierte Perspektiven zu öffnen und zu Beginn nicht in den common sense einzusteigen, sondern vielmehr ein Angebot zu machen, diesen zu hinterfragen.
4.2 S TRUKTURIERUNG DES F ELDES ANGEWANDTE M ETHODIK
UND
„Das ‚Feld‘ ist nicht charakterisiert durch bestimmte gegebene örtliche Verhältnisse, sondern durch Lokalisierungen, Positionierungen, Handlungsstränge und Perspektiven. Das Feld ist dann ein Bündel von Perspektiven und reicht über den Ort, an dem die Untersuchung stattfindet, hinaus.“ (S ÖKEFELD 2002: 93)
In diesem Kapitel lege ich dar, wie das „Feld“ dieser Untersuchung konstruiert wird. Ich gehe dabei sowohl auf die Fallauswahl als auch auf das methodische Vorgehen bei der Untersuchung und Auswertung ein. Das Eingangszitat von S ÖKE FELD habe ich ausgewählt, um zu verdeutlichen, dass hier keine ex ante bestehenden „Räume an sich“ verglichen werden sollen, in denen die Positionierungen und Handlungen der Menschen verortet sind (vlg. a. B ELINA & M IGGELBRINK 2010: 19). Vielmehr sollen die forschungspraktischen Entscheidungen für die Auswahl von Schulen und Diskussionsgruppen sowie die Erhebungs- und Auswertungsmethodik expliziert werden über die ich das Feld als Untersuchungsfeld konstruiert habe. 4.2.1 Fallauswahl Die empirische Forschung habe ich an drei verschiedenen Schulen in zwei Bundesländern durchgeführt. Grundprinzip für die Auswahl war der Einbezug unterschiedlicher Fälle.
136 | Zugehörigkeit und Rassismus
Im Unterschied zur Voruntersuchung wurde das Alter der untersuchten Lerngruppen in der Hauptuntersuchung gesenkt. Es nahmen nun Schüler_innen der achten Jahrgangsstufe teil. So konnte eine sozial heterogenere Gruppe erreicht werden, als dies bei Oberstufenschüler_innen der Fall ist. Die Untersuchungsschulen – zwei Gemeinschaftsschulen und ein Gymnasium – wurden nicht anhand feststehender, von außen angelegter Vergleichskriterien ausgewählt. Vielmehr erfolgte die Fall- bzw. Schulauswahl sukzessive in Auseinandersetzung mit dem Feld der Untersuchung (S CHREIER 2010: 243–245). Ausschlaggebend waren nicht die Lage der Schulen im Raum, sondern vielmehr die unterschiedlichen Selbstverständnisse, diskursiven und sozialen Kontexte, die ich vergleichend rekonstruiert habe. Es ging mir darum, unterschiedliche soziale Verhältnisse in die Untersuchung einzubeziehen. Diese werden dabei als gesellschaftlich produziert und nicht als Produkt räumlicher Unterschiede verstanden (B ELINA & M IGGELBRINK 2010: 19). Relativ frühe Anhaltspunkte für möglicherweise unterschiedliche soziale und diskursive Kontexte waren Selbstdarstellungen der Schulen nach außen sowie Unterschiede in der Schwierigkeit des Feldzugangs. Die Reflexion des Feldzugangs spielte daher eine zentrale Rolle für die Fallauswahl: Zeigten sich die Schulen mir gegenüber offen für eine Untersuchung im Bereich Interkulturalität und kulturelle Vielfalt oder erschien es begründungsbedürftig, warum ich dafür gerade ihre Schule untersuchen wolle? In Tabelle 2 auf Seite 137 habe ich das Feld der Untersuchungsschulen anhand der teilnehmenden Beobachtung rekonstruiert. Die Selbstdarstellungen der Schulen – mir als Forscherin mit einem Interesse an kultureller Vielfalt und interkulturellem Lernen gegenüber – habe ich zu knappen Mottos verdichtet. Bei Schule 1, einer städtischen Gesamtschule, gestaltete sich der Feldzugang ausgesprochen einfach. Er gelang über einen Flohmarkt mit „internationalem Markt“, auf dem migrationsandere Schüler_innen selbstgemachtes Essen verkauften. Die Schule hatte diese Veranstaltung in ihren Räumlichkeiten organisiert und hierzu öffentlich eingeladen. Die Selbstpräsentation der Schule als „multinational“ war hier bereits ein interessanter Beobachtungsfokus (Forschungstagebuchnotiz vom 31.01.2014). Am Schuleingang wurden in einem Rahmen die Nationalflaggen ausgestellt, die die Nationalitäten der Schüler_innen anzeigen. Den Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Heterogenität an dieser Schule beschreibe ich als betont inklusiv. Dies zeigt sich auch im Schulmotto „Wir halten hier alle zusammen“. Auf dieses Motto machte mich eine Berufseinstiegsbegleiterin aufmerksam, die mir beschrieb, wie sie die Schule kennengelernt hatte. Natürlich hätte sie im Vorfeld ihrer Tätigkeit an der Schule gehört, dass diese als „Brennpunktschule“
Kapitel 4: Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 137
Tabelle 2: Rekonstruktion des Feldes der Untersuchungsschulen Schule 1
Schule 2
Schule 3
Kurz-
Die betont
Die betont
Die betont
charakterisierung
Inklusive
Normale
Homogene
differenzbetont +
Durchschnitts-
betont homogen +
betont inklusiv
repräsentation +
problemlos
betont normal Selbstdarstellung
„Hier ist jede_r
„Unsere
„Wir haben kaum
(in Bezug auf
herzlich
Schüler_innen
Schüler_innen mit
natio-ethno-
willkommen“
bilden den
Migrationshinter-
kulturelle
„Wir halten hier
gesellschaftlichen
grund“
Differenz)
alle zusammen“
Durchschnitt ab“
„Hier gibt es keine
Feldzugang
sehr einfach,
einfach, über eine
schwierig, die
während eines
Kontaktperson
Wahl dieser Schule
Probleme“
„internationalen
im Kontext des
Markts“ an der
interkulturellen
Schule
Forschungsinteresses erschien begründungsbedürftig
Zuordnung der
GD Special
GD Schuluniform
GD E-Sports
Gruppendiskussio-
GD Fußball
G Facebook
GD Klavier
nen (GD) /
G Mobbing
-gespräche (G)
gelte. Dann habe sie aber die Atmosphäre in der Schule aber sofort als sehr nett empfunden und habe gedacht, dass das Motto wirklich zutreffe (Forschungstagebuchnotiz vom 07.04.2014). „Ein friedliches interkulturelles Miteinander“ nennt die Schule als ein Ziel im Schulprogramm. Das betont inklusive Moment findet sich auch auf der Ebene der pädagogischen Arbeit in der von mir beobachteten Lerngruppe wieder. Auf einer Tonpapiercollage im Klassenraum steht: „Wir sind alle unterschiedlich und das ist auch gut so!“ Umgeben ist die Collage von Bildern, die unterschiedliche Hintergründe haben (Wiesen mit Häusern und Bäumen, schwarzer Hintergrund mit Schrift etc.). Durch alle diese Bilder schlängelt sich eine gelbe, dicke Linie. Diese ist begleitet von dem Text „Unterschiedliche Hintergründe und uns eint ein gemeinsames gelbes Band“ (Forschungstagebuchnotiz,
138 | Zugehörigkeit und Rassismus
04.04.2014). Die Schule hat für sportliche Angebote einen sogenannten Integrationspreis eines großen deutschen Sportbundes gewonnen. Auf diesen Preis wird auch in der Außendarstellung hingewiesen – die entsprechenden Presseartikel hängen im Eingangsbereich der Schule aus. Insgesamt stellt sich die Schule nach außen hin explizit als multinational und inklusiv dar. Dies ist nach Auskunft eines Lehrers an der Schule nicht unumstritten. In der Diskussion um zurückgehende Anmeldezahlen von Schüler_innen werde dies durchaus diskutiert als für Eltern möglicherweise abschreckend (Forschungstagebuchnotiz vom 14.04.2014). Auch der Zugang zu Schule 2, einer großstädtischen Gesamtschule, gestaltete sich einfach. Eine befreundete Lehrerin stellte für mich den Kontakt zur Schulleitung und zur Klassenlehrerin einer achten Klasse her. Im Unterschied zu Schule 1 wurde hier migrationsgesellschaftliche Differenz weit weniger explizit thematisiert. Im Schulgebäude habe ich keine Hinweise auf die natio-ethno-kulturelle „Herkunft“ der Schüler_innen gesehen. Auch Projekte mit einer interkulturellen oder integrativen Zielsetzung wurden nicht offen beworben. Vielmehr betonte die Schulleiterin mir gegenüber, dass die Schüler_innen den Durchschnitt der Bevölkerung der Großstadt abbildeten, in der die Schule sich befindet. Dies konkretisierte sie zum einen im Hinblick auf migrationsgesellschaftliche Differenz und zum anderen im Hinblick auf die sozio-ökonomische Lage der Familien. Etwa 50 % der Schüler_innen hätten einen Migrationshintergrund, seien also entweder selbst im Ausland geboren oder ihre Eltern. Beim Blick auf die Namen der Schüler_innen könne man den Eindruck bekommen, der Anteil an Schüler_innen mit Migrationshintergrund sei höher. Hier gelte es aber zu differenzieren (Forschungstagebuchnotiz, 16.05.2014). Migrationsgesellschaftliche Heterogenität wurde hier normalisiert und – im Verweis auf die Normalität – z. T. auch dethematisiert. Erst gegen Ende meines Aufenthaltes habe ich herausgefunden, dass es eine Interkulturalitätsbeauftragte gab und dass ein von ihr zusammengestellter Aktenordner mit Informationen, Fortbildungshinweisen und Materialhinweisen in einer Ecke des Lehrer_innenzimmers auslag. Die Interkulturalitätsbeauftrage erklärte mir, dass die Schule einen positiven Ansatz verfolge, der bei den Stärken migrationsanderer Schüler_innen ansetze. Ziel – auch im Hinblick auf die Berufsorientierung – sei es, Potenziale migrationsanderer Schüler_innen wie Mehrsprachigkeit bewusst zu machen und diese zu stärken. Von Diskriminierung zu sprechen, wie ich es getan hatte, verstand sie als konträr zu diesem positiven Ansatz (Forschungstagebuchnotiz, 19.05.2014). Sprachen der Migrationsgesellschaft wurden an der Schule allerdings nicht angeboten (Forschungstagebuchnotiz, 16.05.2014).
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Der Zugang zu Schule 3, einem kleinstädtischen Gymnasium, war vergleichsweise schwierig. Die Wahl dieser Schule für eine Untersuchung zum interkulturellen Lernen bzw. zu kultureller Vielfalt erschien immer wieder begründungsbedürftig. Schon bei der Kontaktaufnahme spiegelte meine Kontaktperson mir zurück, ich solle gegenüber der Schulleiterin gut begründen, warum es gerade diese Schule sein solle. Immer wieder, wenn ich mein Vorhaben Lehrer_innen im Kollegium vorstellte, erntete ich Erstaunen, warum ich diese Schule ausgesucht hatte. Im Vorgespräch betonte die Klassenlehrerin, dass kulturelle Vielfalt für die Schule kein Thema sei. Sie hätten kaum Schüler_innen mit Migrationshintergrund und die wenigen an der Schule, die einen Migrationshintergrund hätten, seien sehr gut integriert. Ich hatte ihr gegenüber meine Wahl der Schule so begründet, dass ich zuvor an einer Gesamtschule im „Großstadtkiez“ gewesen sei, an der es viele Schüler_innen mit Migrationshintergrund gegeben habe. Diesen schulischen Kontext wolle ich nun mit einer anderen Umgebung kontrastieren. Daraufhin zeichnete sie ein Bild ihrer Lerngruppe als natio-ethno-kulturell homogen, wohlerzogen, offen und sozial eingestellt (Forschungstagebuchnotiz, 03.06.2014). Auch viele Schüler_innen der beobachteten Lerngruppe reagierten ähnlich erstaunt auf mein Interesse: In ihrer Klasse gebe es doch niemanden von außerhalb Deutschlands (Forschungstagebuchnotiz, 06.06.2014). Dass mein thematisches Interesse an diesem Ort stetig Irritationen auslöste, zeigt, dass es dort „out of place“ (VALENTINE 2007: 18) war. Die Schule wurde von allen Beteiligten als Ort einer problemlosen ‚natio-ethno-kulturellen‘ Homogenität ohne Handlungsbedarf konstruiert. 4.2.2 Teilnehmende Beobachtung In jeder Schule habe ich in einer Lerngruppe der achten Jahrgangsstufe über einen Zeitraum von zwei bis drei Wochen hinweg teilnehmend beobachtet. Die teilnehmende Beobachtung hat drei zentrale Funktionen für die Untersuchung. Erstens dienten die Beobachtungen des jeweiligen Feldzugangs der Auswahl der Schulen, die in die Untersuchung aufgenommen wurden (s. Kap. 4.2.1). Zweitens hat die teilnehmende Beobachtung die Funktion, dass Forscherin und Schüler_innen sich näher kennenlernen konnten, bevor in den Gruppendiskussionen Themen verhandelt wurden, die für die Schüler_innen zum Teil mit emotionalen Verletzungen besetzt sind. Drittens fungieren die Informationen, die mithilfe der Beobachtungen und der Gespräche mit schulischen Akteur_innen gewonnen wurden, als Interpretationskontexte bei der Auswertung der Gruppendiskussionen (s. Kap. 4.2.6). Zunächst habe ich jeweils den Feldzugang beobachtet und erste Aufenthalte in der Schule für eine Erkundung der Gebäude genutzt. Hierbei habe ich Aus-
140 | Zugehörigkeit und Rassismus
hänge und Plakate angesehen und bereits erste Informationen über Projekte und schulische Aktivitäten gewonnen. In die Aufenthalte eingebettet habe ich auf unterschiedlichen Ebenen meines Forschungsfeldes informelle Gespräche geführt: mit Mitgliedern der Schulleitung, mit Lehrer_innen und je nach Schule auch mit einer Interkulturalitätsbeauftragten (Schule 2), Berufsberaterinnen (Schule 1) und Vertreter_innen der Schüler_innen (Schule 3). Die Beobachtungen wurden in möglichst allen Fächern7 sowie in den Pausen und bei Schulausflügen durchgeführt, um die Lerngruppe in ihrem gesamten schulischen Alltag kennenzulernen und Vertrauen aufzubauen. Der relativ offene Fokus von Beobachtungen und Gesprächen lag darauf, einen tieferen Einblick in die schulischen Besonderheiten und den Umgang aller Beteiligten mit migrationsgesellschaftlicher Heterogenität zu bekommen. Zusätzlich zur Flexibilität ist es eine Besonderheit der teilnehmenden Beobachtung, dass sie einen längerfristigen und vertieften Kontakt ermöglicht (R EUBER & P FAFFENBACH 2005: 125). Der Beobachtungszeitraum war zwar zeitlich relativ beschränkt, jedoch hat mir die tägliche Anwesenheit in dieser Zeit ermöglicht, eine Nähe zu Schüler_innen aufzubauen, die sich in einer einmaligen Gruppendiskussionssituation nicht ergeben hätte. Der Zugang zur Untersuchungsgruppe und die Einnahme einer von den Forschungspartner_innen akzeptierten Rolle wird in der Literatur als zentraler Faktor für die Durchführung und das Erkenntnispotenzial der teilnehmenden Beobachtung gesehen (L ÜDERS 2005: 392). Da meine Beobachtungen an Schulen und damit an staatlichen Institutionen stattfanden, galt es hierbei formelle Zugangsstrukturen zu beachten. Nachdem die Genehmigung durch das Bildungsministerium erfolgt war, nahm ich daher mit Schlüsselpersonen Kontakt auf. Dabei handelte es sich um Lehrer_innen, die den Kontakt zur Schulleitung herstellten bzw. um solche, die dieser selbst angehörten. Dieses Vorgehen war notwendig, um die formellen Informations- und Entscheidungswege einzuhalten und aus wissenschaftsethischer Sicht geboten, um zu gewährleisten, dass die Vielzahl an Mitgliedern der Schule über meine Untersuchung informiert war8 . Ich wurde dann an jeweils eine_n Klassenlehrer_in einer achten Klasse weitervermittelt, die von den Schlüsselpersonen an den Schulen selbst ausgesucht wurden. Im nächsten Schritt traf ich mich mit
7 | Teilweise war es aufgrund der Aufteilung der Lerngruppe in unterschiedliche Leistungsniveaus nicht möglich, die Gruppe in allen Fächern zu erleben. 8 | Die Schüler_innen habe ich am ersten Tag meiner Anwesenheit im Unterricht informiert. Da es sich um minderjährige Schüler_innen handelte, wurden auch ihre Erziehungsberechtigten über das Ziel und das Vorgehen meiner Untersuchung informiert und um schriftliche Einwilligung gebeten.
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diesen, um mein Vorgehen zu erläutern und die Organisation meines Aufenthaltes zu besprechen. Schon bevor mein eigentlicher Feldaufenthalt begann, konnte ich auf diese Weise bereits interessante Einblicke gewinnen und reflektieren, ob und warum mir die Schule und die jeweilige Lerngruppe als für meine Untersuchung besonders geeignet vorgestellt wurden. Dieser Zugang über die Ebene der Lehrer_innen ermöglichte mir viele Gespräche mit diesen, so z. B. informellen Austausch über die Erfahrungen mit und Einschätzungen zu einzelnen Schüler_innen während des Mittagessens. Andererseits bedeutete dies, dass die Lehrer_innen gatekeeper für den Zugang zu den Schüler_innen darstellten. Dies ist bedeutsam für die Aushandlung der eigenen Positionierung im Feld: „Wie man sich selbst einführt und vorstellt, wie man von Schlüsselpersonen den Teilnehmern im Feld vorgestellt wird, wie man dann später selbst mitspielt, sind Stationen und Prozesse, an denen die Position des Ethnographen im Feld der vorhandenen Beziehungen ausgehandelt und definiert wird.“ (L ÜDERS 2005: 392)
Die mit meiner Art des Feldzugangs einhergehende Identifikation mit der „Lehrer_innenseite“ habe ich versucht zu erschüttern, indem ich Schüler_innen auch in informellen Situationen zum Beispiel vor Beginn des Unterrichts begleitete. Ich achtete darauf, keine pädagogischen Rollen zu übernehmen, wie beispielsweise Schüler_innen zur Ruhe zu ermahnen. Auf diese Art wollte ich verdeutlichen, dass ich zumindest nicht eindeutig der „Lehrer_innenseite“ zuzuordnen sei (B REI DENSTEIN 2006: 32). Die Beobachtungen und Gespräche wurden jeweils in einem Forschungstagebuch (Notizbuch) dokumentiert. Dieses habe ich in Anlehnung an K LEPP (2011: 126–127) in verschiedene Teile organisiert. Der erste Teil umfasst alle organisatorischen Notizen, die mir geholfen haben, die Zeit an der Schule optimal zu planen und zu nutzen. Im Hauptteil habe ich alle Ereignisse, Beobachtungen und meine reflektierenden Gedanken hierzu niedergeschrieben. Ich habe zunächst skizzenhaft protokolliert, um im Anschluss daran noch am selben Tag die einzelnen Stichpunkte zu einem ausführlichen Protokoll auszuarbeiten (L EGEWIE 2012: 192). Im hinteren Teil des Forschungstagebuchs habe ich erste theoretische Gedanken, Systematisierungsversuche und Annahmen zu Zusammenhängen im Datenmaterial aufgeschrieben. Das Forschungstagebuch hat für meine Untersuchung einen anderen Status als das empirische Datenmaterial, was in Gruppendiskussionen mit Schüler_innen gewonnen wurde. Es diente der prozessbegleitenden Dokumentation und Reflexion und ist nicht selbst als zu analysierender Text in das Datenmaterial eingegangen (vgl. S CHARATHOW 2014: 149).
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4.2.3 Gruppendiskussionen mit Schüler_innen An jeder Schule habe ich gegen Ende der Beobachtungsphase zwei 60- bis 90minütige Gruppendiskussionen durchgeführt. Diese bilden das Zentrum der empirischen Untersuchung und wurden mit der dokumentarischen Methode ausgewertet (zur Auswertung s. Kap. 4.2.6). Im Anschluss an (L OOS & S CHÄFER 2001: 13) sind Gruppendiskussionen dadurch charakterisiert, dass sie zum einen fremdinitiiert sind und zum anderen sich die angestoßenen Kommunikationsprozesse strukturell zumindest phasenweise denen eines natürlichen Gesprächs annähern. Durch die Fremdinitiierung unterscheidet sich das Gruppendiskussionsverfahren begrifflich von dem eines Gruppengesprächs. Dennoch wird in einer Gruppendiskussion versucht, sich möglichst einer ‚normalen‘ Gesprächssituation anzunähern. Als ein wenig irreführend bezeichnet KÖLBL (2007: 342) den Begriff der Gruppendiskussion insofern, als in diesem Verfahren ganz unterschiedliche kommunikative Gattungen eine Rolle spielen. Es wird abschnittsweise diskutiert, aber auch erzählt, beschrieben oder argumentiert. Als drittes Verfahren ist das Gruppeninterview von der Gruppendiskussion unterscheidbar. Ein Gruppeinterview kann als Interview mit mehreren Personen beschrieben werden. Im Unterschied zur Gruppendiskussion ist dort die methodologische Bedeutung des Interaktions- und Gruppenprozesses weniger zentral (B OHNSACK 2003: 105). Zur Verbreitung des Gruppendiskussionsverfahrens in Deutschland trug in den 1950er Jahren das Frankfurter Institut für Sozialforschung bei. In Abgrenzung zur Umfrageforschung ging es für P OLLOCK (1955: 20-25, zit. n. KÖLBL 2007: 342) bei der Erforschung öffentlicher Meinung nicht darum, diese als Summe aus Einzelmeinungen aufzufassen. Sie sei vielmehr ein ‚Ganzes‘. M ANGOLD kritisiert jedoch später, dass sich die Auswertung dennoch an Individuen als Untersuchungseinheiten orientierte (1988: 14, zit. n. B OHNSACK 2003: 106). Er geht nicht mehr davon aus, dass sich die individuellen Meinungen der Einzelnen in der Auseinandersetzung in Gruppendiskussionen zunehmend konturieren und herausschälen. Vielmehr könnten die geäußerten Meinungen zum Schluss gar nicht mehr einzelnen Individuen zugeordnet werden, da sie ein Produkt der kollektiven Interaktion seien (M ANGOLD 1960: 49 zit. n. B OHNSACK 2003: 107). Im Anschluss an M AN GOLD geht auch B OHNSACK (2003: 107) davon aus, dass es besonders in Phasen hoher Interaktionsdichte in Gruppendiskussionen zu einer kollektiven Entwicklung von Positionen kommt, die gewissermaßen arbeitsteilig unter gegenseitiger Bezugnahme geäußert werden. Diese kollektive Meinung entsteht B OHNSACK (2003: 107) zufolge zudem – und dies ist methodologisch bedeutsam – nicht ad hoc
Kapitel 4: Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 143
in der Diskussionssituation, sondern wird hier lediglich aktualisiert. B OHNSACK entwickelt eine methodologische Grundlage für dieses Verständnis von Kollektivität, für das er auf M ANNHEIMs Konzeption eines „konjunktiven Erfahrungsraums“ zurückgreift (B OHNSACK 2003: 108). M ANNHEIM unterscheidet kommunikatives von konjunktivem Handeln. Während Intersubjektivität als Form von Sozialität erst über kommunikatives Handeln hergestellt wird, so sind „konjunktive Erfahrungsräume“ durch eine Kollektivität gekennzeichnet, die auf Gemeinsamkeiten biographischen Erlebens und der Erlebnisschichtung zurückgeht. Konjunktive Erfahrungsräume sind also Bereiche strukturidentischen (Er-)Lebens bzw. strukturidentischer Erfahrungen, die in der Diskussion nicht erst hergestellt werden, sondern lediglich aktualisiert (M ANNHEIM 1980: 285ff., zit. n. B OHNSACK 2003: 111). Der Begriff des konjunktiven Erfahrungsraums bildet eine andere Ebene der Sozialität ab als der der Gruppe. Eine konkrete Realgruppe kann über einen konjunktiven Erfahrungsraum verfügen; dies muss aber nicht notwendigerweise der Fall sein, da konjunktive Erfahrung auch über einzelne Gruppengrenzen hinaus vorliegen kann (B OHNSACK 2003: 112). Umgekehrt können sich lebensweltliche Erfahrungen innerhalb einer befreundeten Gruppe auch unterscheiden. B OHNSACK (2005: 374–376) liefert mit der dokumentarischen Interpretation eine grundlagentheoretische Fundierung, mit der Einzeläußerungen transzendierende, kollektive Orientierungsstrukturen in der Gesprächsorganisation analysiert werden können. Es geht dabei nicht darum, die Situativität der Äußerungen grundsätzlich infrage zu stellen. Vielmehr bietet die dokumentarische Methode die Möglichkeit, dass – wenn die diskutierenden Schüler_innen auf kollektiv geteilte Erfahrungen zurückgreifen können – grundlegende gemeinsame Orientierungen in der Auswertung rekonstruiert werden können. Daher fokussiert die Auswertung nicht allein auf die Ebene der kommunikativen Interaktion, sondern darüber hinaus auf die Ebene der konjunktiven Interaktion. Zusätzlich zur Interaktion der Teilnehmer_innen untereinander gibt es in Gruppendiskussionen auch eine Interaktion zwischen den Teilnehmer_innen und der Forscherin. Diese ineinander verschränkten Diskurse lassen sich in der Auswertung in ihrer Relationalität nachvollziehen, so dass auch die Reaktionen auf die Interventionen der Interviewerin konsequent miteinbezogen werden (B OHNSACK 2003: 207). Die Gruppendiskussionen wurden jeweils mit Schüler_innen durchgeführt, die untereinander befreundet waren. Dazu habe ich gegen Ende meiner Beobachtungszeit an den jeweiligen Schulen verschiedene Schüler_innen angesprochen, ob sie sich
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vorstellen können, an einer Gruppendiskussion teilzunehmen. Die Schüler_innen selbst durften weitere Mitschüler_innen nennen, mit denen sie gern zusammen diskutieren wollten. Da die Freundschaftsgruppen in den achten Klassen geschlechtshomogen waren, habe ich pro Lerngruppe jeweils eine Mädchen- und eine Jungengruppe getrennt voneinander diskutieren lassen9 . Die Diskussionen fanden in Absprache mit den Lehrer_innen während der Unterrichtszeit statt. Der Ablauf war so strukturiert, dass ich zunächst forschungsethische Gesichtspunkte klärte. Die Schüler_innen waren von mir bereits zu Beginn meiner teilnehmenden Beobachtung in das Forschungsprojekt eingeführt worden. Schulleitung, Lehrer_innen sowie die Schüler_innen und ihre Erziehungsberechtigten waren zudem schriftlich über das Projekt und die forschungsethischen Gesichtspunkte der Freiwilligkeit und Anonymisierung informiert. Zu Beginn der Gruppendiskussionen wies ich die Schüler_innen hierauf erneut hin und erbat ihre Zustimmung zur Aufnahme auf Tonbandgerät. Danach folgten eine Klärung des Ablaufes und der inhaltliche Einstieg. Die Diskussionen wurden inhaltlich gerahmt als Gespräche darüber, was für die Teilnehmer_innen kulturelle Zugehörigkeit bedeutet. Schließlich zeigte ich den Filmausschnitt, der als Grundreiz die Diskussion eröffnete. Im Verlauf der Gruppendiskussionen habe ich als Interviewerin versucht, mich möglichst stark aus der Moderation herauszuhalten. Hierbei war das Ziel, dass die Gruppendiskussion weitgehend selbstläufig und ohne mein Eingreifen abläuft, um so die Bedingungen dafür zu schaffen, dass sich die Eigenstrukturiertheit des Diskussionsprozesses entfalten kann. Für B OHNSACK impliziert dies, „dem Diskurs die Möglichkeit zu geben, sich auf jene Erlebniszentren einzupendeln, welche jeweils die fokussierte Erfahrungsbasis des kollektiven Orientierungsrahmens der Gruppe darstellen“ (B OHNSACK 2005: 380). Um dies zu ermöglichen, habe ich mich bei der Durchführung an den folgenden Prinzipien von B OHNSACK (2003: 207–210) orientiert: •
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Impulse werden möglichst an die gesamte Gruppe adressiert, um keinen direkten Einfluss auf die Verteilung der Redebeiträge zu nehmen. Das Prinzip der demonstrativen Vagheit in der Impulsgebung (unpräzise, offen formulierte Fragen, Fragereihungen) soll Fremdheit und Unkenntnis der Forscherin signalisieren. Als methodologische Grundhaltung soll es Respekt ausdrücken gegenüber der Erfahrungswelt und dem Relevanzsystem der For-
9 | An Schule 2 kam keine männliche Diskussionsgruppe zustande, da die betreffende Lerngruppe kaum männliche Schüler aufwies. Hier diskutierten stattdessen zwei weibliche Gruppen.
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schungspartner_innen. Gleichzeitig sollen so – ob der Unkenntnis der Forscherin – ausführliche Darstellungen generiert werden. Auf diese Weise soll der Eindruck vermieden werden, die entscheidenden Anregungen zum Gespräch kämen von der Interviewerin (KÖLBL 2004: 202). Auch dies ermöglicht ein Stück Distanz zur vermeintlich „wissenden“ Lehrer_innenrolle10 . Nachfragen werden möglichst erst dann gestellt, wenn keine_r aus der Gruppe den Redeturn wahrnimmt. Damit soll gezeigt werden, dass die Forscherin weder wie in der Alltagskommunikation mit eigenen Beiträgen teilnimmt, noch dass sie eine Diskussionsleitungsfunktion wahrnimmt. Letzteres bedeutet ebenfalls eine Distanzierung zur Lehrer_innenrolle. Fragen werden möglichst so gestellt, dass sie detaillierte Beschreibungen und Erzählungen ermöglichen. Hierfür werden diese direkt oder indirekt eingefordert. Das Prinzip der Priorität immanenter vor exmanenten Nachfragen bedeutet, dass Fragen zum bereits gegebenen Thema Vorrang haben vor solchen, die neue Themen initiieren. Erst wenn die für die Gruppe selbst zentralen Themen abgearbeitet sind, werden exmanente Nachfragen gestellt, die weitere für das Erkenntnisinteresse relevante Themen einbringen. Der Zeitpunkt wird von der Forscherin selbst eingeschätzt. Hierfür wurde eine Liste thematischer Schwerpunkte vorbereitet. Zum Schluss folgt die direktive Phase: wenn alle Themen besprochen sind, die die Schüler_innen und die Forscherin interessieren, werden von der Forscherin Widersprüche und Auffälligkeiten des Gesagten direkt angesprochen. Hier habe ich auch Situationen aus der teilnehmenden Beobachtung zur Sprache gebracht und sie mir erklären lassen.
10 | Die Distanzierung zur vermeintlichen Lehrer_innenrolle erscheint umso wichtiger, als in einem ersten Vorgespräch der Klassenlehrer der von mir beobachteten Lerngruppe an Schule 1 darauf hinwies, dass das Leistungsniveau seiner Schüler_innen sehr heterogen sei und viele Schüler_innen sehr explizite Vorgaben benötigten, um ein Thema in der gewünschten Art und Weise bearbeiten zu können. Es bräuchte eine langsame Schwierigkeitssteigerung der Diskussionsaufträge. Er nutzte hierfür das sprachliche Bild einer Autobahn, die man hin zum Thema erst bauen müsse, damit die Schüler_innen verstünden, was man von ihnen wolle (Forschungstagebuchnotiz vom 06.03.2014). Diesen Bedarf an Orientierung gilt es sicherlich ernst zu nehmen, da ein Wegfallen der gewohnten Klarheit der Vorgaben eine Unklarheit bezüglich der Erwartungen auslösen kann. Gerade aus der gewohnten Schüler_innenrolle gilt es gleichwohl auszubrechen, um eigenen Orientierungsmustern Raum zu verschaffen.
146 | Zugehörigkeit und Rassismus
4.2.4 Einführung des Filmimpulses Als Grundreiz für alle Gruppendiskussionen wurde den Teilnehmer_innen ein zweiminütiger Auszug aus dem Dokumentarfilm „Transnationalmannschaft“ (KOHL 2011) gezeigt, der im Folgenden als Transkript vorgestellt wird (Minute 05:47 bis 07:51). Im Filmausschnitt geht es um die Zugehörigkeitsaushandlungen eines migrationsanderen männlichen Jugendlichen, der ungefähr im selben Alter wie die teilnehmenden Schüler_innen ist. 1 2
Transkript des Filmausschnitts aus „Transnationalmannschaft“ von KOHL (2011)
3 4
Minute 05:47 bis 07:51
5 6
((Jungen in Sportkleidung steigen aus einem Kleinbus aus, ein
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Junge mit Vokuhila-Frisur, T-Shirt und Jogginghose steht im
8
Vordergrund, aus dem Off beginnt eine männliche Stimme zu
9
sprechen ((hier als Pm für Protagonist bezeichnet)))
10 11
Pm: Weil meine Eltern Türken sind, bezeichne=isch misch als
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Türke, je:der hier macht das auch so halt; (.) man sagt nich
13
isch bin Deutscher; wenn die Eltern Italiener sind oder,
14
was weiß isch Franzosen oder so;
15 16
((man hört Filmmusik und sieht die Jungen der Stadtteilmannschaft
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Jungbusch am Rand eines Fußballplatzes ankommen und in
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Sportkleidung eine Treppe hinuntergehen, dann hört man Pm aus dem
19
Off sprechen))
20 21
Pm: wenn Özil in Deutschland spielt, Mesut Özil, das=s seine
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eigene Entscheidung; wir können nichts zu den sagen, (.) und;
23
((Pm wird in eingeblendet, es ist der Junge mit der Vokuhila,
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der nun ein weißes Hemd trägt und vor einem Fußballtor gefilmt
25
ist, im Hintergrund sieht man städtische Bebauung)) wenn er
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halt für Deutschland spielen möchte; dann, soll er auch
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spielen; (.) wwwwwff- isch würd ihn-, isch (.) würd ihn jetzt
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nisch als Verräter oder so nennen; weil er is auch in
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Deutschland aufgewachsen und so, auch in deutschen
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Mannschaften gespielt und so, (.) ja d- die Deutschen haben
Kapitel 4: Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 147
31
me:hr auf den so aufgepasst würd=ich sagen;
32 33
((man sieht die Mannschaftskabine und die Mannschaft zieht sich
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für das Spiel um, ein Sozialarbeiter (Sm) und ein weiterer
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Erwachsener geben Anweisungen, dann wird Pm erneut eingeblendet
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mit der Information "Mücahit, Schüler, Kapitän der DJK Jungbusch"))
37 38
Pm: ich würde fü:::r Türkei spielen, (.) we:::il (.) weil ja halt,
39
meine Eltern Türken sind und so; und isch liebe auch Türkei
40
so sehr; weil- (.) isch denk auch ja isch bin halt auch T-
41
ein Türke, türkisches Blut und so; weil die Eltern Türken
42
sind; (.) aber, würde es ein Mannschaft geben,
43
Nationalmannschaft Mannheim, würd ich in Ma-
44
Nationalmannschaft Mannheim spielen; weil ich bin ja in
45
Mannheim aufgewachsen und, meine Heimat is auch Mannheim;
46
un- sondern nicht Deutschland;
47 48
((ein Sozialarbeiter (Sm) wird eingeblendet))
49 50
Sm: Sie werden immer als Türken ähm bezeichnet deswegen
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Identifizieren sie sich auch als Türken; un- für die is dann
52
halt Deutschland (.) nich so bedeutend; Mannheim schon eher,
53
also wenn=de jetzt sagen würdest Mannheim spielt bei der WM
54
ja; denn wäre=se natürlich für Mannheim; das is ganz klar;
55
also fü- mit Mannheim identifizieren sie sich schon stark oder
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mitm Stadtteil halt Jungbusch ja; eigentlich noch mehr mitm
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Jungbusch als mit Mannheim;
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Pm: dann würd ich auch so ein Ehrgeiz haben und dann gegen Türkei
60
würde=isch auch gu:t spielen weil isch denk nich dass ich die
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Türkei verraten würde, (.) wei::l (.) wie soll ich sagen (.)
62
ich spiel für mein- für mein Heimat so aufgewachsen wo ich
63
bin und so
148 | Zugehörigkeit und Rassismus
4.2.5 Transkription Die Gruppendiskussionen wurden akustisch aufgezeichnet und im Anschluss mit dem Programm f4 transkribiert. Das gewählte Transkriptionsverfahren ermöglicht es, auch für die dokumentarische Analyse bedeutsame Besonderheiten wie gleichzeitiges Sprechen mehrerer Teilnehmer_innen oder auch Stimmlage, Intonation und Rhythmus zu erfassen (s. Tabelle 3 auf Seite 149). Die Interviewerin wird im Transkript als Yf gekennzeichnet. Die Diskutant_innen werden mit fortlaufenden Buchstaben maskiert, denen je nach Geschlecht ein f oder m angefügt wird. Diese Kennzeichnungen werden auch im Interpretationstext beibehalten. Während ich als forschende Autorin im übrigen Teil des Buches als ‚ich‘ sichtbar bin, verwende ich im Auswertungstext eine distanzierende Kennzeichnung meiner Person als ‚Yf‘ oder ‚Interviewerin‘. Dies hat den forschungspraktischen Grund, dass es die selbstreflexive Analyse der eigenen Beiträge in der Gruppendiskussion erleichtert, die Interviewerin wie alle übrigen Diskussionsteilnehmer_innen zu verfremden (P OTT 2002: 94). Alle Ortsangaben werden ebenfalls maskiert. In der Diskussion genannte Namen Dritter werden durch erdachte Namen ersetzt. Die Transkripte sind in der äquidistanten Schriftart Courier New gesetzt. Transkriptzitate sind im laufenden Auswertungstext über die Schriftart kenntlich gemacht. Auslassungen in Transkriptzitaten werden, wie bei Direktzitaten üblich, über [. . . ] kenntlich gemacht. 4.2.6 Vorgehen bei der Auswertung Die Auswertung gliedert sich in zwei Teile. Im ersten, analytischen Teil werden die Zugehörigkeitsaushandlungen und Orientierungen von unterschiedlichen Schüler_innengruppen zum Thema migrationsgesellschaftliche Differenz ausgewertet. Der zweite Teil ist didaktisch-konzeptionell ausgerichtet. Für den analytischen Teil der Auswertung wurden die Gruppendiskussionen mit der dokumentarischen Methode ausgewertet. Ziel war es, die jeweils gruppenspezifischen Orientierungen in Bezug auf natio-ethno-kulturelle (Nicht-)Zugehörigkeit gesellschaftlicher Gruppen und das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft herauszuarbeiten (s. Kap. 5). Im anschließenden zweiten Teil der Auswertung habe ich eine didaktischkonzeptionelle Relektüre der Ergebnisse vorgenommen. Der zweite Teil knüpft an die Ergebnisse der dokumentarischen Interpretation an. Diese werden unter einer gewendeten Perspektive betrachtet, die nach Möglichkeiten der Veränderung von gesellschaftlich verfestigten Differenzschemata und Dominanzbeziehungen in Bildungsprozessen fragt (s. Kap. 7). Nachfolgend lege ich die einzelnen Schritte
Kapitel 4: Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 149
Tabelle 3: Transkriptionskonventionen (verändert nach B OHNSACK 2003: 235 und L OOS & S CHÄFER 2001: 57) b
Beginn einer Überlappung oder – wenn das Ende nicht angezeigt wird – direkter Anschluss beim Sprecher_innenwechsel
c
Ende einer Überlappung
(.)
Pause bis zu einer Sekunde
(2)
Anzahl der Sekunden, die eine Pause dauert
Nein
Betont
Nein
laut (in Relation zur üblichen Lautstärke des_der Sprecher_in)
◦
nee◦
leise (in Relation zur üblichen Lautstärke des_der Sprecher_in)
.
stark sinkende Intonation
;
schwach sinkende Intonation
?
stark steigende Intonation
,
schwach steigende Intonation
viellei-
Abbruch eines Wortes
oh=nee
Wortverschleifung
lö:sen
Dehnung, die Anzahl von : entspricht der Länge der Dehnung
(aber)
Unsicherheit bei der Transkription, schwer verständliche Äußerung
( )
unverständliche Äußerung, die Länge der Klammer entspricht ungefähr der Dauer der unverständlichen Äußerung
((zündet sich eine
Kommentare/Anmerkungen zu gesprächsexternen und
Zigarette an))
paraverbalen Ereignissen (z. B: Seufzen, Lachen), die sich nicht auf eine spezifische Äußerung beziehen
(Stimmlage, Intonation oder Rhythmus), bei denen das einfache Zeichen > jeweils den Beginn und das Ende der Äußerung anzeigt, auf die die Anmerkung sich bezieht
150 | Zugehörigkeit und Rassismus
bei der dokumentarischen Interpretation dar und erläutere deren methodischen Hintergrund. Die dokumentarische Methode trennt den immanenten Sinngehalt von Äußerungen vom dokumentarischen Sinngehalt. Letzterer betrifft das, „was sich in dem Gesagten über die Gruppe dokumentiert“ (B OHNSACK 2005: 383, Hervorh. im Original). Ziel der dokumentarischen Interpretation ist es, die wechselseitigen (intuitiven) Verstehensleistungen der Diskussionsteilnehmer_innen zu explizieren, um so deren Orientierungsstruktur bzw. kollektives Sinnmuster zu interpretieren (B OHNSACK 2005: 375). Um die wechselseitigen Verstehensleistungen zu analysieren, werden die Diskursorganisation bzw. Form der Interaktionen sowie die Dramaturgie rekonstruiert (B OHNSACK 2003: 110). Bei der Rekonstruktion der Dramaturgie spielen sogenannte Fokussierungsmetaphern eine zentrale Rolle (B OHNSACK 2003: 123). Es handelt sich dabei um „jene Passagen innerhalb von Diskursverläufen, die sich – in Relation zum sonstigen Diskursverlauf – in besonderer Weise durch einen gemeinsamen Rhythmus und somit durch ‚interaktive Dichte‘ auszeichnen“ (B OHNSACK & P RZYBORSKI 2010: 234). Fokussierungsmetaphern bilden also dramaturgische Höhepunkte der Diskussion. Sie werden in der dokumentarischen Methode als Fokussierungsmetaphern bezeichnet, wenn sie mit einer „metaphorischen Dichte“ – d. h. einer besonders bildhaften und detaillierten Darstellung – einhergehen (B OHNSACK & P RZYBORSKI 2010: 234). Fokussierungsmetaphern eröffnen einen Zugang zu den konjunktiven Erfahrungsräumen der Diskutant_innen. Sie zeigen an, wo in Bezug auf ein Thema die Zentren der Relevanz für die Teilnehmer_innen liegen (B OHN SACK 2003: 124). Über das Aufspüren von Fokussierungsmetaphern im empirischen Material hinaus eröffnet die Rekonstruktion der arbeitsteiligen Bezugnahme der Diskutant_innen aufeinander einen Zugang zu deren kollektiv geteilten Orientierungen. Diese werden in der dokumentarischen Methode in einem zirkulären Wechselspiel zwischen der Analyse der formalen Diskursorganisation einerseits und der inhaltlichen Semantik andererseits rekonstruiert (B OHNSACK & P RZYBORSKI 2010: 235). Grundlegend ist hierfür die Prämisse der dokumentarischen Methode, dass der kollektive Sinngehalt „nicht von einem einzelnen Sprecher zum Ausdruck gebracht werden kann, sondern sich allein [in] der Rekonstruktion einer – über längere Sequenzen sich erstreckenden – Kooperation unterschiedlicher Diskursbeteiligter in ihren interaktiven Bewegungen erschließt.“ (B OHNSACK & P RZYBORSKI 2010: 234)
Kapitel 4: Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 151
Bezüglich der formalen Diskursorganisation von Gruppendiskussionen unterscheidet die dokumentarische Methode nach P RZYBORSKI (2004) verschiedene Modi, wie die einzelnen Diskussionsbeiträge aufeinander bezogen sind. Die Modi der Diskursorganisation geben beispielsweise darüber Auskunft, ob sich die Diskutant_innen antithetisch zu einer kollektiv geteilten Orientierung vorarbeiten oder zu einem Thema über keine kollektive Orientierung verfügen. Grundlegend zu unterscheiden sind die inkludierenden und die exkludierenden Modi der Diskursorganisation. Die inkludierenden Modi bringen kollektiv geteilte Orientierungen zum Ausdruck, die exkludierenden Modi unterschiedliche, unvereinbare Orientierungen (P RZYBORSKI 2004: 216). Zu den inkludierenden Modi zählen der parallele Modus, der antithetische Modus und der univoke Modus, deren jeweiligen Merkmale in der Tabelle 4 auf Seite 152 aufgeführt sind. Eine kollektiv geteilte Orientierung kann dann rekonstruiert werden, wenn sich die Diskutant_innen zustimmend aufeinander beziehen. Dies ist im parallelen und im univoken Modus der Fall. Sie kann sich aber auch im Gegeneinander der Sprecher_innen dokumentieren. Dies ist der Fall, wenn bei antithetischer Bezugnahme der Diskutant_innen die Passage in einer Synthese endet. Hier wird die gemeinsame Orientierung im Widerstreit und nicht in der Spiegelung oder Wiederholung entfaltet (P RZYBORSKI 2004: 168). Werden Widersprüche in der Gruppendiskussion hingegen nicht in eine übergreifende gemeinsame Orientierung überführt, liegt ein exkludierender Modus vor (P RZYBORSKI 2004: 252). Bezüglich der exkludierenden Modi werden die oppositionelle und die divergente Diskursorganisation unterschieden (für die Merkmale im Einzelnen s. Tabelle 5 auf Seite 153). Bei der oppositionellen Diskursorganisation werden einander widersprechende Orientierungen nicht in eine übergreifende Synthese überführt. Die Unvereinbarkeit liegt offen vor. Bei der divergenten Diskursorganisation bleibt diese hingegen verdeckt. Es findet keine offene Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Orientierungen statt (P RZYBORSKI 2004: 246). Stattdessen finden sich Ironisierungen oder Redebeiträge werden qua Lautstärke durchgesetzt (P RZYBORSKI 2004: 287). Eine divergente Diskursorganisation weist auf machtstrukturierte Gesprächssituationen hin, in denen die Machtausübung latent bleibt (P RZYBORSKI 2004: 246). Der Modus der Diskursorganisation kann im Laufe der Diskussion mehrfach wechseln (P RZYBORSKI 2004: 247). Im ersten Auswertungsschritt habe ich für jede Gruppendiskussion die Passagen ausgewählt, die in die ausführliche dokumentarische Feinanalyse eingeflossen sind. Die Auswahl hat sich nach formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten gerichtet. Ich habe zunächst für jede Diskussion ein Gesprächsinventar erstellt, um die unterschiedlichen thematischen Abschnitte herauszuarbeiten. Dabei wurde auch notiert,
152 | Zugehörigkeit und Rassismus
Tabelle 4: Merkmale der inkludierenden Modi der Diskursorganisation (eigene Darstellung nach P RZYBORSKI 2004) Inkludierende Modi der Diskursorganisation
Der parallele Modus Aneinanderreihung von Darstellungen, die z. T. für fremde Beobachter_innen auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben; für die Beteiligten geht es dabei aber um die gleiche Sache (P RZYBORSKI 2004: 96–97) In allen aufeinander folgenden Diskursbewegungen hat man dieselbe Orientierung (P RZYBORSKI 2004: 96–97). Wiederholung von Orientierungen und performatorischen Merkmalen des Diskurses über Themen und Teilnehmer_innen hinweg (P RZYBORSKI 2004: 286). An fokussierten Stellen (=Zentren gemeinsamer Orientierungen) findet sich überlappendes Sprechen (P RZYBORSKI 2004: 286).
Der antithetische Modus (Wer weiß es besser?) Ist als Element einer gemeinsamen Orientierung in einer Synthese auflösbar (im Gegensatz zum oppositionellen Modus) (P RZYBORSKI 2004: 240). Kann Solidarisierung leisten und gemeinsame, homologe Erfahrungen dokumentieren (P RZYBORSKI 2004: 240). Die gemeinsame Orientierung wird durch Widerstreit und Verneinung entfaltet (P RZYBORSKI 2004: 168). Vertreter_innen der gegenseitigen Orientierungskomponente formulieren noch bevor es zur Synthese kommt treffend Emotionen und Stimmungen der Gegenseite, ohne diese zu ironisieren (P RZYBORSKI 2004: 286).
Der univoke Modus (Unisono) Kennzeichnend ist das gleichzeitige Sprechen: Während es beim parallelen Modus nur kurze Überlappungen beim Turntaking gibt, sprechen im univoken Modus oft mehrere Teilnehmende gleichzeitig (P RZYBORSKI 2004: 196). „Im Unterschied zu den beiden bisher beschriebenen Modi sind die Erfahrungen, die sich im univoken Modus inszenieren, nicht nur homolog, also strukturidentisch, sondern es sind dieselben, identische Erfahrungen. Dieser Modus findet sich also systematisch in Diskursen auf der Grundlage derselben Erfahrungsbasis.“ (P RZYBORSKI 2004: 196, Hervorh. im Original). Dabei reicht es nicht aus, dass mehrere Personen zur selben Zeit am selben Ort waren. Vielmehr inszeniert sich im univoken Modus „die Erfahrung derselben Begebenheiten aus derselben Perspektive“ (P RZYBORSKI 2004: 196). Gleichzeitig zu sprechen oder jemanden anders fortfahren zu lassen setzt Vertrauen in die Übereinstimmung der Betrachtung voraus (P RZYBORSKI 2004: 207).
ob ein neues Thema von den Diskutant_innen selbst oder von der Interviewerin initiiert wurde. Neben den für die Untersuchten relevanten Themen habe ich auch solche Passagen ausgewählt, die aus inhaltlicher Sicht für das Erkenntnisinteresse der Untersuchung relevant waren. Zudem habe ich mir die Struktur der Diskussion angeschaut, um interaktiv dichte Passagen zu erkennen, in denen häufig überlappend gesprochen wird und
Kapitel 4: Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 153
Tabelle 5: Merkmale der exkludierenden Modi der Diskursorganisation (eigene Darstellung nach P RZYBORSKI 2004) Exkludierende Modi der Diskursorganisation
Der oppositionelle Modus (offene Unvereinbarkeit) Findet sich „in Gesprächen oder Gesprächsabschnitten, in welchen die Teilnehmer/innen über keine geteilten Erfahrungen verfügen“ (P RZYBORSKI 2004: 217). Einander widersprechende Orientierungen bzw. Orientierungskomponenten münden nicht in einer Synthese (P RZYBORSKI 2004: 217). Statt einer Konklusion kommt es zu einer rituellen Konklusion (P RZYBORSKI 2004: 217). Keine Formulierungen von Gefühlen oder Orientierungskomponenten der Gegenseite (P RZYBORSKI 2004: 287).
Der divergente Modus (verdeckte Unvereinbarkeit) Ist auf der „Oberflächenstruktur oft durch Kooperation und Zustimmung oder die Frage nach besserer Informiertheit charakterisiert“ (Bohnsack & Przyborski 2010: 236) Die Diskursbewegungen knüpfen aneinander an (z. B. durch Markierer der Bestätigung bzw. der lediglich leichten Differenzierung wie „ja, aber“); im Anschluss werden dann aber einander widersprechende Orientierungen aufgeworfen (P RZYBORSKI 2004: 252). Es finden sich Unterbrechungen und Ironisierungen, Gesprächsbeiträge werden durch Lautstärke durchgesetzt (P RZYBORSKI 2004: 287). Kennzeichnend sind Fremd- oder Falschrahmungen von Orientierungen der Gegenseite. Diese verdecken die Unterschiede und stellen einen anderen Weg als die offene Auseinandersetzung in der oppositionellen Diskursorganisation dar (P RZYBORSKI 2004: 246). Fremdrahmung ist eine spezifische Form eines latent machtstrukturierten Gesprächs (P RZYBORSKI 2004: 246). „Wem es besser gelingt, die Differenzen zugunsten seiner eigenen Orientierung zu verwischen, hat ‚gewonnen‘“ (P RZYBORSKI 2004: 274). Im Unterschied zum antithetischen Modus gibt es hier keine Synthese in einer gemeinsamen Orientierung; man nähert sich nicht (wirklich) einander an (P RZYBORSKI 2004: 274).
die Sprecher_innenwechsel dicht aufeinander folgen (P RZYBORSKI 2004: 50–51). Auch andere formale Merkmale können auf Intensität hinweisen, z. B. Wechsel der bevorzugten Textsorte oder besonders lange Behandlung eines Themas. Diese formalen Merkmale geben Hinweise auf Passagen, in denen sich die Gruppe auf Zentren des gemeinsamen Erlebens eingependelt hat und sich auf Basis gemeinsamer Erfahrungsräume – also konjunktiv – verständigt (P RZYBORSKI 2004: 52–53). Die auf diese Weise ausgewählten Passagen habe ich im nächsten Schritt inhaltlich und formal-diskursorganisatorisch ausgewertet. Hierbei lassen sich die diskussionsinterne und die diskussionsübergreifende Interpretation analytisch un-
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terscheiden. Bei der diskussionsübergreifenden Interpretation werden aus verschiedenen Gruppendiskussionen die Passagen ausgewählt, in denen dasselbe Thema verhandelt wird und diese werden diskussionsübergreifend verglichen. Bei der diskussionsinternen Interpretation werden demgegenüber einzelne Passagen einer Gruppendiskussion mit anderen Stellen derselben Gruppendiskussion verglichen. Auf diese Weise konnte ich Entwicklungen und Widersprüche sowie Ähnlichkeiten und Unterscheide bei der Verhandlung unterschiedlicher Themen in derselben Diskussionsgruppe fokussieren. In der Praxis hat sich ein abwechselndes Vorgehen zwischen der vertieften feinanalytischen Beschäftigung mit einer einzelnen Gruppendiskussion und dem diskussionsübergreifenden Vergleich bewährt. Der übergreifende Vergleich ermöglichte es, die jeweiligen Spezifika der Diskussionen herauszukristallisieren und war gleichzeitig hilfreich, um sich nicht in die Details einzelner Diskussionen zu sehr einseitig zu vertiefen. Meine Aufmerksamkeit bei der Interpretation beschränkte sich nicht nur auf den diskussionsinternen und -übergreifenden Vergleich. Vielmehr tragen die Fallbeschreibungen meiner spezifischen Aufmerksamkeitsrichtung als forschende Autorin Rechnung. Diese Aufmerksamkeitsrichtung war geprägt durch die postkolonialen theoretischen Perspektiven der Studie, meine Erkenntnisse aus der teilnehmenden Beobachtung, die Kenntnis anderer empirischer Arbeiten und durch meine eigenen alltagsweltlichen Deutungsmuster und Erfahrungen. Diese Aufmerksamkeitsrichtungen können als weitere Vergleichshorizonte verstanden werden. Sie stellen die Interpretationsfolien dar, die es mir ermöglichen, die empirischen Phänomene begrifflich zu fassen (KÖLBL 2004: 218). Gleichzeitig wurde darauf geachtet, den eigenen Blick auf das Material immer wieder zu öffnen und von den empirischen Phänomenen ausgehend auch die eigenen theoretischen Perspektiven zu prüfen (KÖLBL 2004: 219–220). Für mein Vorgehen ist daher insgesamt eine rekursive Vorgehensweise kennzeichnend, bei der nicht allein die eingenommene theoretische Perspektive auf die Orientierungen und lebensweltlichen Aushandlungsprozesse der Schüler_innen die Ergebnisse bestimmt. Vielmehr haben sich aus der Auswertung der Empirie theoretische Refokussierungen ergeben. Um die in der Empirie zentralen Phänomene besser analysieren und verstehen zu können, habe ich die postkoloniale theoretische Perspektive insbesondere dort geschärft und vertieft, wo sie der Analyse von Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung sowie von Dominanzerfahrungen weißer Menschen dient. Dabei wurde die theoretische Grundperspektive beibehalten, aber die Schwerpunkte der Betrachtung wurden mit einem vertieften Fokus auf rassismuskritische Ansätze und Ansätze der Kritischen Weißseinsforschung noch einmal neu justiert. Die aus der Empirie heraus notwendig gewordenen
Kapitel 4: Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 155
Refokussierungen der theoretischen Perspektive sind ebenfalls in die kritische Auseinandersetzung mit der geographiedidaktischen Diskussion im Kapitel zum interkulturellen Lernen eingegangen. Reflexivität wurde schließlich in der Auswertung auch dadurch praktiziert, dass zentrale Teile der Interpretation im Austausch mit Interpretationspartner_innen entstanden sind11 . Dies bietet u. a. den Vorteil, vermeintlich selbstverständliche Deutungen zu hinterfragen und den eigenen Blick immer wieder zu befremden und zu öffnen (DAUSIEN 2007: Abs, 7). Als Ergebnis der fallübergreifenden Interpretation habe ich drei Gruppendiskussionen ausgewählt, die im Feld der erhobenen Gruppendiskussionen besonders kontrastive Fälle darstellen. Es handelt sich hierbei um die Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports auf der einen Seite und die Gruppendiskussion Schuluniform auf der anderen Seite. Während sich die Orientierungen im Themenfeld migrationsgesellschaftliche Differenz und Zugehörigkeit der beiden Gruppen Klavier und E-Sports nur minimal unterscheiden, besteht zwischen diesen beiden Gruppen und der Gruppe Schuluniform wiederum ein besonders großer Kontrast. Für die drei ausgewählten Gruppendiskussionen wurden im nächsten Schritt ausführliche Fallbeschreibungen erstellt. Darin wurden die Ergebnisse der dokumentarischen Interpretation verdichtet und die Charakteristika der jeweiligen Gruppendiskussionen dargelegt (B OHNSACK 2003: 139). Der Aufbau der Fallbeschreibungen orientiert sich jeweils am Verlauf der Gruppendiskussionen. Die Fallbeschreibungen der Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports habe ich aufgrund deren Ähnlichkeit zu einer gemeinsamen Fallbeschreibung zusammengeführt (s. Kap. 5 und 6). Diese wird im Auswertungskapitel kontrastiert mit der Fallbeschreibung der Gruppendiskussion Schuluniform (s. Kap. 6). Die übrigen drei Gruppendiskussionen bzw. -gespräche (GD Fußball, GD Special und G Facebook) werden in den bildungsbezogenen zweiten Teil der Auswertung einbezogen (s. Kap. 7). Der zweite Auswertungsteil ist thematisch strukturiert und schließt an die Ergebnisse des ersten Auswertungsteils an. Die übrigen Diskussionen werden jeweils dort herangezogen, wo sie ergänzende Perspektiven anbieten. Das Erkenntnisinteresse der dokumentarischen Interpretation richtet sich zum einen darauf, die Unterschiedlichkeit der Erfahrungen und Orientierungen der Schüler_innen aufzuzeigen. Zum anderen richtet es sich darauf, in einer feinanalytischen Einstellung Widersprüche, Brüchigkeiten und Irritationen der Orientierun-
11 | Hier seien Sibylla Kukuck, Inken Carstensen-Egwuom und die erziehungswissenschaftliche Forschungswerkstatt PromNet an der Europa-Universität Flensburg genannt.
156 | Zugehörigkeit und Rassismus
gen herauszukristallisieren sowie solche Darstellungen sichtbar zu machen, die die hegemonialen Diskurse herausfordern und zu ihnen in Konflikt treten (M ATTIS SEK 2009: 279; G LASZE & M ATTISSEK 2009: 12). Diese bieten ein besonderes Erkenntnispotenzial im Hinblick darauf, wo Bildungsprozesse inhaltlich anknüpfen können, um hegemoniale Differenzschemata und Deutungsmuster zu irritieren und zu hinterfragen. Darüber hinaus ermöglicht dieser Analysefokus es auch, sich mit dem Wie der Fragilität der Orientierungen auseinanderzusetzen. Ich gehe daher auch der strukturellen Frage nach, wie Irritationen hegemonialer Unterscheidungsund Deutungsmuster für reflexive Bildungsprozesse produktiv gemacht werden können. Mit ihrem Fokus auf Irritierbarkeiten und Brüche der Orientierungen trägt der erste Teil der Auswertung also bereits dem bildungsbezogenen Erkenntnisinteresse der Studie Rechnung, welches im zweiten Auswertungsteil vertieft wird.
4.3 K RITISCHE R EFLEXION DES METHODISCHEN VORGEHENS „Through my part in initiating these discussions I was also complicit in demanding participants to ’fix’ their identities.“ (DWYER 2002: 198)
Da ich als Interviewerin Zugehörigkeit in Verbindung mit natio-ethno-kulturellen Kategorisierungen als Diskussionsthema gesetzt habe, war ich unmittelbar daran beteiligt, einseitig diese Dimension der Identitäten der Beteiligten hervorzubringen. Damit wurde durch das vorgegebene Diskussionsthema situativ eine bestimmte Dimension gesellschaftlicher Differenzlinien salient gemacht. Dies bedeutet nicht, dass diese für die beteiligten Schüler_innen permanent relevant ist. Die rekonstruierten Gruppenorientierungen sind daher als situierte Erkenntnisse zu verstehen. Sie sind in einer spezifischen Gruppenkonstellation und in Aushandlung mit mir als weißer Forscherin, meinen Fragen, Reaktionen und Propositionen – darunter dem Filmimpuls – in Verbindung mit meiner gesellschaftlichen Positioniertheit im Feld entstanden. Diese Komponenten haben nicht zuletzt auch darauf Einfluss, was den Teilnehmer_innen mir gegenüber sagbar erscheint und was nicht. Es handelt sich zudem bei den Interpretationsergebnissen um Erkenntnisse, die „Merkmale des erkennenden Subjekts“ (B REUER 2003: Abs. 2, Hervorh. im Original) in sich tragen. Denn das empirische Material wurde von mir und damit von einer Person rekonstruiert, deren Vorwissen, Sensibilitäten und Ausblendungstendenzen in Be-
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zug auf das Machtverhältnis Rassismus und die Frage nach natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit nicht nur durch die zugrundeliegenden theoretischen Perspektiven, sondern auch durch eine privilegierte gesellschaftliche Positioniertheit geprägt werden. Mit den hier dargelegten Auswertungsergebnissen wird daher nicht der Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität verbunden, wohl aber der Anspruch auf intersubjektiv nachvollziehbare, situierte Erkenntnisse in Bezug auf ein spezifisches Erkenntnisinteresse. Forschung bedeutet zudem doing difference: „Through our relations – conversational, textual – with research subjects – people or other actants – and with colleagues, supervisors, gatekeepers, editors, publishers, seminar audiences, friends, and so on and so on, we make gender (and class, and race, and sexuality, at least). In this view, research is not seen as transparently, reflexively, mirroring selves and context.“ (ROSE 1997: 315)
Wie die eingangs zitierte DWYER (2002: 198) für ihre Forschung reflektiert, habe auch ich in meiner Forschungspraxis die Teilnehmer_innen zur Festlegung auf natio-ethno-kulturelle Identitäten aufgefordert. Ich habe – ohne dass dies intendiert gewesen wäre – die vermeintliche Fraglosigkeit der Identitäten weißer Schüler_innen und die Fraglichkeit der Zugehörigkeit(en) migrationsanderer Schüler_innen reproduziert. Während ich migrationsandere Diskutant_innen zur Diskussion über die eigene Person angeregt habe, habe ich weiße Schüler_innen zum Sprechen über Dritte animiert (s. Kap. 7.1). Allein mein Forschungsinteresse hat Differenz in den beobachteten Lerngruppen reproduziert, indem es unweigerlich als Interesse an den „Anderen“ verhandelt wurde und die Position migrationsanderer Schüler_innen als „Andere“ aktualisiert und gefestigt wurde. So saß ich beispielsweise zu Beginn meiner teilnehmenden Beobachtung an Schule 2 während einer Stillarbeitsphase im Unterricht neben der Klassenlehrerin am Pult. Die Lehrerin erzählte mir halblaut der Reihe nach, aus welchen Nationalstaaten jeweils die Schüler_innen bzw. deren Eltern stammten. Zum Teil fragte sie auch bei den Schüler_innen nach, wenn sie sich nicht sicher war. Die weißen deutschen Schüler_innen wurden dabei von ihr übergangen. Deren natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit wurde nicht thematisiert und wurde so implizit als fraglos deutlich. Sie erschien in Bezug auf mein „interkulturelles“ Forschungsanliegen nicht diskussionsrelevant (Forschungstagebuchnotiz vom 05.05.2014). Selbst in Situationen, in denen ich persönlich darauf geachtet habe, Schüler_innen nicht als „Andere“ anzusprechen, konnte ich folglich dem aktiven, konstitutiven Element meiner For-
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schung nicht entkommen (ROSE 1997: 315). Auch P OTT beschreibt dies an einem Beispiel aus seiner empirischen Forschung. Dort hatten Schüler_innen sein Anliegen mit jemandem zu sprechen, dessen Eltern aus der Türkei stammten „übersetzt“ als „der hier möchte mit Ausländern sprechen“ (P OTT 2002: 167). Da Aussagen und Interessen von Forschenden von Forschungspartner_innen vor dem Hintergrund gesellschaftlich verfestigter Unterscheidungen und Diskurse rezipiert werden (können), können auch bei vermeintlich neutraler Formulierung bestimmte Differenzschemata naheliegen (R IEGEL 2011: 335). M ECHERIL et al. haben solche Wiederholungen und Aktualisierungen von Differenz und alienierenden Zuschreibungen die „produktive Tendenz des empirischen wissenschaftlichen Tuns“ (2003: 108) genannt. In dieser Hinsicht ist auch die Methode der Gruppendiskussion bei der Forschung zu potenziell diskriminierenden hegemonialen Kategorisierungen und Diskursen kritisch zu reflektieren. Die narrative Ausrichtung von Gruppendiskussionen stellt einerseits die methodologische Grundlage dafür dar, Erkenntnisse über kollektiv geteilte Orientierungen sowie lebensweltlich relevante Unterscheidungsschemata und Erfahrungen zu gewinnen. Andererseits kann die Ausrichtung auf Selbstläufigkeit gleichzeitig dazu führen, dass dominanten Diskursen Raum zur Entfaltung gegeben wird. Wie leicht hegemoniale Unterscheidungsschemata und gesellschaftlich verfestigte Zuschreibungen und Deutungsmuster die Gruppendiskussion dominieren können, zeigen die Diskussionen Klavier und E-Sports. Dort wurde den Beteiligten eine Bühne für die Entfaltung und Aktualisierung von rassifizierenden Unterscheidungen, Dominanzbeziehungen und rassistischen Zuschreibungen geboten. Dies birgt zwar aus wissenschaftlicher Perspektive Erkenntnispotenzial – wissenschaftsethisch und aus einem kritisch-emanzipatorischen Bildungsund Forschungsanspruch heraus ist dies aber problematisch (R IEGEL 2011: 335). Den fraglos deutschen Schüler_innen der Gruppen Klavier und E-Sports wurde auf diese Weise auch die Möglichkeit gegeben, ihr Selbstverständnis als legitim Dominierende zu entfalten und festigen. In Gruppen, in denen die Teilnehmer_innen über heterogene Zugehörigkeits- und Rassismuserfahrungen verfügten und unterschiedlich gesellschaftlich positioniert waren, ist es zudem möglicherweise zu Verletzungen migrationsanderer Schüler_innen gekommen. So wurde z. B. in der Gruppendiskussion Schuluniform das rassismusrelevante Deutungsmuster reproduziert, dass Migrationsandere vermeintlich Deutschland und „die Deutschen“ ablehnen. Dies rief unter den migrationsanderen Teilnehmerinnen sogleich Widerspruch hervor. In der Gruppendiskussion Fußball wurde einem Schwarzen Schüler von seinen weißen Mitdiskutanten die Möglichkeit verweigert, über seine eigene
Kapitel 4: Methodologische und methodische Aspekte der Untersuchung | 159
natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit selbstbestimmt zu entscheiden (s. a. S CHRÖ DER 2017a): „Es bleibt eine Herausforderung für eine (kritische) Forschung, selbstverständliche, aber diskriminierende Kategorisierungen, Deutungsmuster und Praxen im Forschungsprozess zum Thema zu machen, ohne diesen (aus blossem (sic!) Erkenntnisinteresse) eine weitere Plattform und Gelegenheit zur Reproduktion und Festigung zu bieten.“ (R IEGEL 2011: 337)
Rückblickend ist es kritisch zu sehen, dass ich die Gruppendiskussionen am Ende der Feldforschungsphase durchgeführt habe und eine weitere Bearbeitung unterblieben ist (R IEGEL 2011: 336). Stattdessen wäre es – auch im Hinblick auf den eigenen kritisch-emanzipatorischen Forschungs- und Bildungsanspruch – sinnvoll gewesen, die aufgerufenen hegemonialen Kategorisierungen, Zuschreibungen und Deutungen in einem zusätzlichen Gespräch im Anschluss an die Gruppendiskussionen gemeinsam kritisch zu reflektieren. Dies hätte die Möglichkeit geboten „die Forschungssituation als solche auch zu einer Reflexions- und Bildungsgelegenheit zu machen, von der die beteiligten Subjekte profitieren können“ (R IEGEL 2011: 337). Eine Gruppendiskussion (G Mobbing, Schule 3), die ich zwar erhoben, aber nicht ausgewertet habe, ist zudem stark durch eine Mobbingsituation geprägt, die sich gegen einen der teilnehmenden Schüler richtete. Dass ich in dieser Situation am Prinzip des Nicht-Eingreifens festgehalten habe, hat den mobbenden Jugendlichen eine Plattform für ihr übergriffiges Verhalten gegenüber dem Mitschüler geboten. Diese Diskussion hätte ich rückblickend abbrechen müssen.
Teil III Auswertung und Ergebnisdiskussion
5. Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports
Die Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports werden in diesem Kapitel zusammen betrachtet, da sich die Orientierungen zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz weitgehend gleichen und sich dieselben Zugehörigkeitserfahrungen der Diskutant_innen als fraglos Deutsche dokumentieren. An der Gruppendiskussion Klavier nehmen drei fraglos „deutsche“ Schülerinnen, an der Gruppendiskussion E-Sports fünf fraglos „deutsche“ Schüler teil1 . Alle Teilnehmenden sind zum Zeitpunkt der empirischen Untersuchung Schüler_innen derselben achten Klasse an Schule 3. Beide Gruppen finden im Anschluss an den Filmimpuls ihr zentrales Thema in der Verhandlung der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit Migrationsanderer. Sie machen eine Dichotomie zwischen einer „Wir-Gruppe“ der „Deutschen“ auf der einen Seite und einer von dieser abweichenden „Sie-Gruppe“ auf der anderen Seite auf und orientieren sich an einer naturalisierten Evidenz der Differenz letzterer. Die eigene natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit der Teilnehmer_innen spielt in den Diskussionen keine Rolle. Die im Filmimpuls vorgeschlagenen Ori-
1 | Der fünfte Teilnehmer der Gruppendiskussion E-Sports, Am, ist in den Redezügen vergleichsweise wenig präsent. Während meiner teilnehmenden Beobachtung erschien er nicht besonders eng befreundet mit den übrigen Gruppenteilnehmern, die wiederum auch im schulischen Kontext eng aufeinander bezogen erschienen. Am ist später zur Klassengemeinschaft hinzugestoßen. Er hatte mir gegenüber zudem verschwiegen, dass er in der zweiten Stunde der Doppelstunde, in die die Gruppendiskussion fällt, eine Klassenarbeit nachschreiben muss und verlässt unvermittelt nach der ersten Hälfte die Diskussion. Seine Teilnahme an der Diskussion ist möglicherweise besonders dadurch motiviert, dass dies ihm ermöglicht, nicht am regulären Unterricht teilzunehmen. Er äußert sich vor allem dann, wenn die anderen Teilnehmer ihn explizit dazu auffordern.
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entierungen werden von beiden Gruppen zurückgewiesen. Die Äußerungen des Filmprotagonisten werden vielmehr vor der Deutungsfolie von vermeintlichem Integrationsbedarf und Integrationsunwillen als Defizit eingeordnet und delegitimiert. Im Anschluss an den Filmimpuls werden in beiden Diskussionen Repräsentationen der Makelbehaftung Migrationsanderer aufgerufen. Wesentliche Unterschiede der Gruppendiskussionen liegen in der Dramaturgie und der Diskursorganisation. Während sich die Gruppe E-Sports schnell vom Filmimpuls löst und kein Verständnis für den Filmprotagonisten aufbringt sowie die dort vorgeschlagenen Orientierungen sogleich verwirft, demonstriert die Gruppe Klavier vordergründig Verständnis für Pm. In der Gruppendiskussion Klavier kommt es zu einer Abarbeitung an den von Pm vorgeschlagenen Orientierungen, die dabei progressiv eingeschränkt werden. Dabei werden Irritationen durch Orientierungen aus dem Film zugelassen und anhand von projizierten Szenarios bearbeitet, um ihnen Sinn zu geben. Die Filmorientierungen werden in den eigenen Orientierungsrahmen der Gruppe eingepasst und zurückgewiesen. Demgegenüber erschöpft sich in der Gruppe E-Sports die Diskussion im Anschluss an den Filmimpuls rasch, um sich dann auf das Thema Kultur zu konzentrieren. Auch bei diesem Thema entwickelt sich die Diskussion wenig selbstläufig und es werden immer wieder thematische Seitenstränge verfolgt. Die Diskursorganistaion in der Gruppendiskussion Klavier ist durch einen inkludierenden Modus gekennzeichnet, was unterstreicht, dass die Diskutantinnen sich gemeinsam am Diskussionsthema abarbeiten. Die Diskussion verläuft deutlich harmonischer und einstimmiger als die Gruppendiskussion E-Sports. Letztere ist durch wechselnde Modi der Diskursorganisation geprägt und weist viele unverknüpfte Diskursstränge und Passagen auf, in denen sich die Orientierungen die Gruppenmitglieder unterscheiden. Gesamtbild Gruppendiskussion Klavier
Die Gruppendiskussion verläuft vor allem im parallelen Modus, einem inkludierenden Modus, in dem gemeinsame Orientierungen vorgebracht werden (vgl. P RZYBORSKI 2004: 236). Dass es sich um kollektiv geteilte Orientierungen handelt, kommt auch darin zum Ausdruck, dass dieselben Orientierungen von verschiedenen Teilnehmerinnen geäußert werden und die Orientierungen sich über verschiedene Themen des übergreifenden thematischen Feldes „Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft“ hinweg dokumentieren. Außerdem zeigen sich performatorische Merkmale des Diskurses in verschiedenen Themen und bei verschiedenen Diskutantinnen: so wird die Struktur der kommunikativen Versicherung der eigenen Toleranz auf die dann eine mit „aber“ eingeleitete Darlegung des vermeintlich Intolerierbaren bzw. herabsetzender Repräsentationen und skandalisierende Darstel-
Kapitel 5: Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports | 165
lungen der vermeintlichen Defizite der „Sie-Gruppe“ folgen, mehrfach wiederholt. Auch beginnt eine Vielzahl der Themen jeweils strukturgleich mit einleitenden Worten wie aber was ich denn nich verstehe. . . (Z. 290), aber ich find, der hat. . . (Z. 310), aber irgendwie find=ich auch komisch, dass. . . (Z. 875) oder aber, was mich auch immer so aufregt (Z. 167-168). In diesen Diskursbewegungen zeigt sich immer wieder dieselbe ablehnende Orientierung und ein Abarbeiten an den Orientierungen des Filmimpulses sowie darüberhinausgehenden stereotypisierenden Repräsentationen Migrationsanderer. Die Diskussionsthemen der Schülerinnen wie ‚Heimat‘ (u. a. Z. 33-82), ‚Beleidigungen‘ (Z. 167-282), ‚offene Religionsausübung‘ (Z. 290-315) oder auch ‚Sprechweise‘ (Z. 535-631) wirken dabei – oberflächlich betrachtet – zunächst zusammenhanglos aneinandergereiht, weisen aber dieselbe Orientierung an einer defizitären „Ausländer_in“-Figur auf. Die Verbindung zwischen den Themen liegt in dieser Repräsentation Migrationsanderer als makelbehaftet, welche die Gruppe im Anschluss an den Filmimpuls aufruft. Es werden assoziativ verschiedene Makel nacheinander aufgerufen und auf Migrationsandere projiziert. Die defizitären Repräsentationen der „Sie-Gruppe“ machen den Fokuspunkt der Gruppendiskussion aus: so arbeiten sie sich immer wieder nach demselben Muster an diesen unterstellten Defiziten ab. Ihre emotionale Erregung wird dabei z. T. expliziert (was mich auch immer so aufregt, Z. 167-168). Sie dokumentiert sich zudem auch wiederholt performativ, wenn die defizitären Repräsentationen der „Sie-Gruppe“ trotzig, voller Inbrunst oder erregt vorgebracht werden oder Migrationsandere in Form herablassend-zitierenden Sprechens imitiert werden (Z. 411-422). Emotionales Sprechen findet sich verstärkt in interaktiv dichten Stellen, die dramaturgische Höhepunkte der Diskussion bilden. Dort sprechen sie überlappend, lauter und gehäuft besonders betont und bestärken sich gegenseitig. Solche Fokussierungsmetaphern finden sich in einer Passage, in der die Gruppe Klavier sich über die Selbstbezeichnung ‚Ein Achtel Türke‘ echauffiert sowie in einer Passage, in die Benennung rassistischer Ausgrenzung bzw. Diskriminierung skandalisiert wird. Gesamtbild Gruppendiskussion E-Sports
Bereits nach etwa einer halben Stunde gibt es in der Gruppendiskussion ESports deutliche Anzeichen für eine Erschöpfung der Diskussion, was Bm auch explizit formuliert: ja; (.) mehr gibts da halt (glaub=ich) nich zu; (Z. 1886). Im Anschluss ist die Gruppendiskussion durch die Impulse der Interviewerin geprägt. Dies kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass das Diskussionsthema wenig Berührungspunkte mit den Zentren der Erfahrung der
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Gruppenmitglieder aufweist. Darauf weisen ebenso die vielen thematischen Abschweifungen und die geringe Interaktionsdynamik in einigen Passagen hin, in denen sich die Teilnehmer wenig aufeinander beziehen und die Themen schnell beenden. Die zentrale Fokussierungsmetapher der Gruppendiskussion liegt denn auch außerhalb des Diskussionsthemas. Die Passagen, die sowohl thematisch Bezüge zum Diskussionsthema aufweisen als auch von der Diskursinteraktion Überschneidungen der Erfahrungsräume der Teilnehmer anzeigen, sind unterrichtliche Themen aus dem Erdkunde- und Geschichtsunterricht. Die Distanz der Teilnehmer zum Thema drückt sich zudem auch inhaltlich aus, als Bm mehrfach seine „ausländischen Freund_innen“ anbringt und von den übrigen Teilnehmern hinsichtlich der Alltäglichkeit seiner Kontakte zu Migrationsanderen hinterfragt wird. Insgesamt handelt es sich um eine stark machtdurchzogene Gruppendiskussion. Während die Gruppendiskussion Klavier mit einer Verständnisfrage von Seiten der Teilnehmerinnen beginnt, startet die Gruppendiskussion E-Sports von Anfang an mit ironisierenden und wertenden Kommentaren. Teilweise stehen Passagen im oppositionellen Diskursmodus, teilweise im divergenten Diskursmodus. Für letzteren ist kennzeichnend, dass Teilnehmer die Orientierungen von anderen vereinnahmen und in den eigenen Orientierungsrahmen übersetzen und so aus der Diskussion zu eliminieren versuchen. An einer späten Stelle der Diskussion versucht Bm den Mitdiskutanten Dm gar autoritär zum Schweigen zu bringen, indem er mit schsch (Z. 2546) reagiert. Der Gesprächsstil der Gruppe ist zudem stark von Frotzeleien geprägt. Diese kommunikativen Sticheleien, die immer auch auf eine spielerische Art Verletzungen beibringen, praktizieren die Teilnehmer untereinander, aber auch gegenüber Personen, die nicht Teil der Gruppe sind. Die Germanistin A RTAMONOVA hebt hervor, dass Frotzeleien einen riskanten Humorstil darstellen, da sie höchst gesichtsbedrohend sind (2016: 72). Sie zeichnen sich durch eine verbale Provokation und eine spielerische Art aus. Frotzeleien können dabei innerhalb von peer groups zur Bestärkung des Zusammenhalts der Gruppe beitragen und darauf hinweisen, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen denjeingen besteht, die sich gegenseitig diese spielerischen Verletzungen beibringen. Dann drückt diese kommunikative Praxis aus, dass die Vertrauensbasis so gefestigt ist, dass man sich dieses „erlauben“ kann und wirkt auf diese Weise gruppenbildend. Dabei ist die spielerische Praxis geprägt von einer Vagheit, bei der charakteristisch ist, dass die Grenze zwischen Spiel und Ernst nicht klar zu ziehen ist. Gleichzeitig dienen Frotzeleien auch der Aushandlung von Machtpositionen innerhalb der Gruppe (A RTAMONOVA 2016: 68–72). Die Gruppe E-Sports wendet allerdings den gesichtsbedrohenden Humorstil auch gegenüber Personen an, die nicht Teil der Gruppe sind. In der Gruppendiskussion selbst wird von
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Beginn an sowohl untereinander gefrotzelt als auch über den Filmprotagonisten (vgl. Z. 43-366). An späteren Stellen richten sich Frotzeleien auch gegen nationale Kollektive wie „die Engländer_innen“ oder „die Französ_innen“ (Z. 17911848), gegen die Männlichkeitsperformance des russischen Präsidenten Wladimir Putin (Z. 838-914) oder auch gegen einen migrationsanderen Klassenkameraden des Bruders eines Teilnehmers, der wegen eines ihm vermeintlich nicht zustehenden „bosshaften“ Benehmens verspottet wird (Z. 2232-2279). Auch in Situationen in der Schule, die ich teilnehmend beobachtet habe, waren die Frotzeleien der Diskussionsteilnehmer auffällig. Sie richteten sich unter anderem wiederholt gegen einen Mitschüler, der auch während des Unterrichts angegriffen, herabgesetzt und lächerlich gemacht wurde. In solchen Situationen außerhalb der Gruppe sind die „Humor-“ Praktiken der Gruppe anderen gegenüber beleidigend und herabsetzend. Die Frotzeleien können als Teil einer kollektiv geteilten Orientierung am verbalen Kräftemessen verstanden werden. Es dokumentiert sich im Verlauf der Gruppendiskussion mehrfach, dass unterschiedliche sprachliche Stilebenen vituos kombiniert werden, wenn zum Beispiel zwischen jugendsprachlichen Wendungen und fremdsprachlichen Ausdrücken gewechselt wird. Besonders kreative Ausdrücke werden zum Teil wiederholt. Zum Teil werden zur Beschreibung eines Sachverhalts nacheinander mehrere Begriffe angeführt. Insbesondere beim Turntaking wird ein Druck greifbar, Antworten parat zu haben, die Anerkennung einbringen. Banalitäten werden verspottet (Z. 349-372). Wie bedeutsam die Orientierung am verbalen Kräftemessen für die Gruppe ist, dokumentiert sich inhaltlich wie auch performatorisch in der zentralen Fokussierungsmetapher der Gruppendiskussion2 . An dieser interaktiv und metaphorisch besonders dichten Stelle tauscht sich die Gruppe bewundernd über die Fähigkeit Bms aus, andere durch die eigene Redekunst zu den eigenen Gunsten zu überlisten und dabei als unschuldig wahrgenommen zu werden. Diese Orientierung wird als einen auf Hermes machen (Z. 3835) bezeichnet. Das als hintergehend, listig und intelligent qualifizierte Verhalten des mythischen Gottes wird von der Gruppe ausdrücklich positiv gewertet (Z. 3843-4005). Die Teilnehmer geben in dieser Passage damit an, dass Bm die eigenen Lehrer_innen mit seinen argumentativen Qualitäten „gegen die
2 | Die Auswertung der Diskursstruktur weist ebenfalls auf die Zentralität der Orientierung am verbalen Kräftemessen hin. Es gibt in der Diskussion überwiegend Passagen, in denen zwei oder drei Teilnehmer untereinander diskutieren und vergleichsweise wenige Stellen, an denen sich alle fünf Teilnehmer beteiligen (bzw. alle vier Teilnehmer an späteren Stellen, als einer der Beteiligten die Diskussion verlassen hatte). Alle fünf beteiligen sich dabei an einer Stelle, die durch Frotzeleien über Wladimir Putin geprägt ist.
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Wand reden“ und überlisten könne (Z. 4007-4175). In ihrem Rückgriff auf griechische Mythologie demonstriert diese Fokussierungsmetapher auch performativ das eigene Gebildetsein – während sich die Interviewerin (Yf) in der Gruppendiskussion als jemand outet, die nicht weiß, wer Hermes ist (Z. 3893). Die Hermesmetapher kann folglich auch auf die Gruppendiskussionsinteraktion mit der Interviewerin angewendet werden. Bezogen auf die Interaktion der Gruppe untereinander beschreibt die Hermesmetapher den divergenten, vereinnahmenden Modus einiger Passagen. Der Soziologe M EUSER (2008: 38–39) versteht verbalen Wettstreit unter männlichen Adoleszenten, wie er sich hier dokumentiert, im Anschluss an B OURDIEU als Form von „ernsten Spielen des Wettbewerbs“ (B OURDIEU 1997: 203, zit. n. M EUSER 2008: 33), in denen Männlichkeit performt wird. Kennzeichnend für ernste Spiele des Wettbewerbs unter Männern sei eine „Simultaneität von Gegenund Miteinander“ (M EUSER 2008: 34), die auch in der Gruppendiskussion zum Ausdruck kommt. Die kollektiv geteilte Orientierung am verbalen Kräftemessen kann daher als eine Form von adoleszentem männlichen Wettbewerbshandeln verstanden werden. In solchen Erfahrungsräumen formt sich M EUSER zufolge Männlichkeit und die Jugendlichen bestärken sich untereinander gegenseitig darin „was eine angemessene Performanz einer sozial anerkannten Männlichkeit ist“ (2008: 37–38). Die Orientierung am verbalen Kräftemessen ist auch bei der Rezeption des Filmimpulses relevant. Auffällig ist, dass die Diskutanten sich in ihrer ersten Reaktion auf den Diskussionimpuls Yfs darüber lustig machen, dass der Filmprotagonist wiederholt die Floskel und so (Z. 264) gebraucht. Sie bewerten seine verbale Performance. Im Anschluss wird Pm auch auf der inhaltlichen Ebene Unlogik attestiert (Z. 272-295) und eine seiner Äußerungen als Gedöns (Z. 297) markiert. Die Orientierung an der intellektuellen Performance bzw. am verbalen Kräftemessen plausibilisiert die Lesart, dass die Gruppenmitglieder sich mit dem dargebotenen Filmimpuls nicht lange auseinandersetzen, da sie den Filmprotagonisten als unterlegen einordnen und ihn nicht ernst nehmen.
5.1 M ARKIERUNG
VON
D IFFERENZ
In beiden Gruppendiskussionen dokumentiert sich eine Dichotomisierung in eine „Wir-Gruppe“ der „Deutschen“ und eine „Sie-Gruppe“. Beide Gruppen benennen die „Sie-Gruppe“ weitgehend undifferenziert als Ausländer, Türken, Südländer und/oder Moslems (GD Klavier, Z. 259-260, 199) bzw. Aus-
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länder und Türken (GD E-Sports, Z. 395-395), wobei „Ausländer_innen“ sowohl als Oberbegriff für mehrere Gruppen gebraucht wird, als auch als Synonym für „Türk_innen“. In der Gruppe Klavier werden „Ausländer_innen“, „Südländer_innen“, „Türk_innen“ und „Moslems“ weitgehend synonym gebraucht. „Türk_innen“ wird in der Gruppe E-Sports dabei auch synonym für Migrationsandere verwendet – im Unterschied zu „richtigen“ Ausländer_innen, die sich nur vorübergehend in Deutschland aufhielten (Z. 2692-2709). Benennungen der „Sie-Gruppe“ wie immer (.) diese Ausländer (GD E-Sports, Z. 395) oder solche Leute (GD Klavier, Z. 200) zeigen dabei bereits an, dass beide Gruppen die „Sie-Gruppe“ pauschalisierend betrachten und auf Distanz zum „Eigenen“ halten. Der Begriff „Südländer_innen“ verweist auf visuelle Marker, die bei der Differenzzuschreibung und Markierung der „Anderen“ als abweichend in beiden Gruppen eine Rolle spielen. Der Begriff „Moslems“ weist auf die Verschränktheit der Differenzzuschreibungen mit der Kategorie Religion hin. Im Folgenden wird der Aspekt der kommunikativen Verweisung Migrationsanderer aus der „Wir-Gruppe“ der „Deutschen“ näher betrachtet. 5.1.1 Körper als Konstrukte naturalisierter visueller Evidenzen Bereits während des gemeinsamen Anschauens des Filmausschnitts dokumentieren sich in der Gruppe E-Sports Reaktionen der Diskussionsteilnehmer. Sofort, als der Film gestartet wird, reagiert ein Teilnehmer auf eine der Personen im Film folgendermaßen: 109
Em: ◦ guck mal den Türken der gleich kommt◦
110 111
((mehrere lachen leise))
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Dm?: ◦ hm siehst schon;◦
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Em: hmhm ((lacht leise))
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((man hört Filmmusik und ein Filmgespräch über die
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deutsche Fußballnationalmannschaft))
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?: ◦ n Deutscher und b(Türke)◦ c
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In dieser Reaktion dokumentiert sich, dass Em die Person anhand sichtbarer Marker, möglicherweise der Physiognomie, kategorisiert und als „Türken“ markiert. Bislang war im Film lediglich eine Gruppe männlicher Jugendlicher in einem Kleinbus zu sehen, der von einem Mann mittleren Alters gesteuert wurde. Die Szene ist unterlegt mit Filmmusik und es gibt kurze Äußerungen Einzelner auf Deutsch. Dass sich die Kategorisierung als „Türke“ hier auf sichtbare Marker bezieht, wird zudem durch die Reaktion eines anderen Teilnehmers verdeutlicht, der die Möglichkeit der Zuordnung über die visuelle Wahrnehmung bestätigt (Z. 113). Dass dies die erste Assoziation ist, die Em offenbar mit den im Film gezeigten Personen verknüpft, verdeutlicht, dass dieses Muster der Kategorisierung sehr präsent ist. Zuvor hatte Yf ‚Kultur‘ als Thema der Diskussion vorgeschlagen, was sie dann reformuliert hatte zu kulturelle Zugehörigkeit, und alles was ihr damit so verbindet (Z. 25-26). In der Ankündigung des Filmimpulses hatte sie erläutert, dass dort ein Jugendlicher darüber spreche, wo er sich zugehörig fühle. Die Selbstpositionierungen des Filmprotagonisten wartet Em hier nicht ab. Ihm erscheint eine eindeutige Fremdzuordnung bereits unmittelbar nach dem ersten Erscheinen der Filmpersonen möglich. Ems sofortige Kategorisierung wird von mehreren Diskussionsteilnehmern mit leisem Lachen rezipiert. Die Gruppe widerspricht der Markierungspraxis hier nicht. Vielmehr validiert ein anderer Teilnehmer die von Em vorgenommene Zuordnung als „Türke“ sowie die Möglichkeit der Kategorisierung anhand visueller Marker: ◦ hm siehst schon;◦ (Z. 113). Während Em zunächst die Abweichung von einer nicht benannten Norm erwähnenswert erscheint – andere Darsteller, die nicht als „Türke“ markiert werden, erwähnt er nicht – ergänzt ein anderer Teilnehmer wenig später ◦ n Deutscher und (Türke)◦ (Z. 120). Diese Ergänzung stellt erneut eine Bestätigung der Zuordnungspraxis sowie der als zentral erscheinenden natio-ethno-kulturellen Kategorisierungen dar3 . Welche visuellen Marker es hier konkret sind, auf die die Gruppe für die Einordnung jeweils zurückgreift, ist nicht eindeutig zu klären. Sie bleiben implizit, was verdeutlicht, dass es sich um geteiltes Wissen über Kategorien und vermeintlich eindeutige Marker handelt, anhand derer Kategorisierungen vorgenommen werden können. Die vermeintliche Sichtbarkeit von natio-ethno-kultureller Gruppenzugehörigkeit sowie die Möglich-
3 | Die Einordnung als „Deutscher“ erfolgt hier, nachdem es einen kurzen dialogischen Austausch im Film gegeben hat, so dass nicht klar auszumachen ist, worauf hier für die Markierung zurückgegriffen wird. Dennoch bestätigt dieser erneute Aufgriff der natio-ethnokulturellen Zuordnung die bisherige Zuordnungspraxis noch einmal.
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keit eindeutiger Zuordnung erscheint der Gruppe selbstverständlich, was einen Indikator für eine geteilte Orientierung darstellt. Auch die Gruppe Klavier nutzt als Zuordnungskriterium rassifizierte visuelle Marker wie schwarze Haare (Z. 393-394). In der betreffenden Passage spricht die Gruppe über den deutschen Fußballnationalspieler Özil, von dem auch im Filmimpuls die Rede war. Cf merkt dabei an: Özil sieht voll deutsch aus finde=ich (Z. 375-376). Daraufhin entgegnet Af in überzeugtem Tonfall nee; weißt du wie d- wie der aussieht? (Z. 378). Hier scheint eine Passung Özils in die physiognomisch bestimmte Kategorie der „Deutschen“ ausgeschlossen und in Afs Äußerung dokumentiert sich die Vermutung, Cf meine den falschen Fußballspieler. Daraufhin führt Cf weitere physiognomische Marker an, um sich darüber zu verständigen, ob sie den gleichen Spieler meinen: das=s doch der mit den großen Augen und Wimpern und Augenbrauen oder? (Z. 384-385). Af validiert sodann, dass sie denselben Spieler meinen und führt den aus ihrer Sicht eindeutigen Marker dafür an, dass er eben nicht deutsch aussehe: ja und mit den schwarzen Haaren so; (Z. 387388). Cf relativiert dann, dass schwarze Haare ja nicht immer bedeuteten, dass man nicht deutsch sei: ja aber auch Deutsche können ja auch (.) schwarze Haare haben also, ( ) (Z. 393-394). Dabei wird der Marker ‚schwarze Haare‘ für ‚südländisch aussehen‘ nicht infrage gestellt, sondern vielmehr nur in der Eindeutigkeit geöffnet. Die Kategorien ‚deutsch aussehen‘ und ‚türkisch/südländisch aussehen‘ scheinen allein anhand der Haarfarbe nicht eindeutig zu füllen, bleiben aber dennoch für die Gruppe selbstverständlich als binäres Unterscheidungskriterium (entweder ‚deutsch‘ oder ‚türkisch/südländisch‘ aussehen) bestehen. Abschließend bemerkt Cf denn auch: ja; aber ich find der sieht nicht aus wie, (.) ◦ Türke oder so◦ (Z. 408-409). Die Prävalenz physiognomischer Merkmale bzw. visueller Wahrnehmung bei der Zugehörigkeitskategorisierung wird auch deutlich, als Af beschreibt, wie sie vom Fahrrad aus distanzierter Perspektive die „Ausländer_innen“ an der Müllerschule – einer Schule im Zentrum der Kleinstadt – wahrnehme: wenn ich jetzt zum Klavierunterricht fahr, wenn die nach Hause laufen, seh ich fast nu:r Ausländer; (Z. 1047-1049, eigene Hervorh.). „Ausländer_innen“ werden hier anhand der „Optik“ markiert. Anknüpfend an W OLLRAD kann von „optischen Ausländer[n]“ (W OLLRAD 2005: 123) gesprochen werden. W OLLRAD beschreibt das Körperliche als „Haftpunkt für Differenzlinien“ (W OLLRAD 2005: 49) und kritisiert die Vorstellung von einem „kulturellen
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Rassismus ohne Körper“ (W OLLRAD 2005: 119). Körper seien keineswegs „out“, sondern als Konstrukte naturalisierter visueller Evidenzen vielmehr ein Fundament gesellschaftlicher Wissensproduktionen. W OLLRAD unterstreicht, dass „dominante Kodifizierungen von »ethnischen Minderheiten« nicht nur entlang homogen imaginierter differenter Kulturen verlaufen, sondern zugleich und damit latent korrespondierend über die Einschreibung unaufhebbarer Differenzen in Körper“ (2005: 118–119). S CHARATHOW bezeichnet die „inoffiziellen Marker“ alltagsweltlicher Zugehörigkeitsverhandlungen, die sich nicht auf formelle Staatsangehörigkeiten beziehen, als „Platzanweiser innerhalb einer sozialen Zugehörigkeitsordnung“ (2014: 234). Die Physiognomie stellt in den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports einen solchen inoffiziellen Marker der Zugehörigkeitsverhandlung dar, bei der sie eine dichotome Einteilung in „Deutsche“ und „Andere“ vornehmen. Die Kategorisierung von Schüler_innen der Müllerschule als „Ausländer_innen“ in der Gruppendiskussion Klavier macht dies besonders deutlich. Die Diskutantin Af meint hier nicht die Zugehörigkeit zu einer bestimmten natio-ethno-kulturellen Gruppe zu „sehen“, sondern relevant erscheint allein eine kollektivierte Markierung als „anders“. „Ausländer_in“ wird damit zu einer sichtbaren, verkörperten Identität. Dass diese Personengruppe in Relation zur Gruppe der vermeintlich „sichtbaren Deutschen“ konstruiert wird, bleibt dabei implizit. Dadurch erscheint die Gruppe „Ausländer_innen“ unabhängig und an sich zu existieren und visuell eindeutig „greifbar“ zu sein. Auch die Gruppe E-Sports verfügt über ein intern exklusives Konzept von der imaginierten Community der „Deutschen“, das u. a. an biologistische Kriterien körperlich-visueller Evidenzen gebunden ist. Bm berichtet, dass sein Vater „Italiener“ sei und er selbst auch manchmal als „Italiener“ bezeichnet werde, aufgrund seiner italienischen Vor- und Nachnamen. In der folgenden Passage ist es für die Einordnung Bms als „Deutschen“ und eben nicht als „Italiener“ zentral, dass dieser wie n Deutscher (Z. 4858) aussehe. Die „Deutschen“ werden dabei als homogene Gruppe entlang rassifizierter Kategorien wie der „Hautfarbe“ bzw. einem umfassenderen vermeintlichen „deutschen Phänotyp“ imaginiert, was die Nähe zu rassistischen Vorstellungen vom „deutschen Volk“ aufzeigt. Wie „Deutsche“ aussehen, darüber verständigt sich die Gruppe nicht. Es erscheint vielmehr selbstverständlich und eindeutig zu unterscheiden, wer „deutsch“ aussieht und wer nicht. Im Unterschied zu einer Gruppenkonstruktion als staatsbürgerliche Gesellschaft wird hier eine phänotypische „Volksgemeinschaft“ imaginiert. Als „Deutsche“ gelten dann nicht diejenigen, die über die deutsche Staatsangehörigkeit verfügen
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oder etwa alle Menschen, die sich als Teil der Gesellschaft empfinden. Bm wird als jemand eingeordnet, der wie n Deutscher (Z. 4858, eigene Hervorh.) aussehe und eigentlich (Z. 4879, eigene Hervorh.) auch einer sei. Gleichgesetzt mit „Deutschen“ wird er dabei nicht vollständig. Gleichwohl erscheint bei phänotypischer Ähnlichkeit eine prekäre Überwindbarkeit der Positionierung als „anders“ möglich. Die Orientierung an biologistisch-rassifizierten imaginierten Kollektiven kommt im Verlauf der Gruppendiskussion E-Sports nicht nur in Bezug auf die „Wir-Gruppe“, sondern auch in Bezug auf andere imagined communities zum Ausdruck. So greift beispielsweise Bm auf rassifizierte Kategorien zurück, wenn er mit Bezug auf Schwarze US-Amerikaner_innen von dunkelhäutiges Volk (Z. 2995) und mit Bezug auf die US-amerikanische Gesellschaft von einem Mischvolk (Z. 1018) spricht. Deutsche, die nicht dem als weiß imaginierten Prototyp der „Deutschen“ entsprechen, rufen in der Gruppe Klavier Irritationen hervor. In einer Passage der Gruppendiskussion fragt Cf, wie ein Bekannter der Gruppe einzuordnen sei: 1141
Cf: aber ich versteh gar nich, was is Jordon eigentlich? ◦
1142
er is ja so schwarz;◦
1143 1144
Af: er is schwarz aber, (.) ich glaub- ich weiß gar nich,
1146
wer aus seiner Familie überhaupt schwarz is; sein-
1147
sein Papa, aber der is ja (.) geschieden von der
1148
Mutter, (.) aber theoretisch, also er is ja
1149
Deutscher, aber obwohl er schwarz is
#00:28:58-8#
1150 1151
Bf: können ja seine Eltern ja einfach-
1152 1153
Cf: also; ◦ (hä) sein Vater wohnt denn ja gar nich mehr bei denen zu bHause◦ c
1154 1155 1156
bnee;
Af:
c also Andreas is ja der neue, aber
1157
der (.) b((lacht)) also der richtige Vater
c
1159 1160
Cf: ((lacht))c
1161 1162
Af: is dann ja wahrscheinlich schwarz; denk=ich mal, weil sonst
174 | Zugehörigkeit und Rassismus
1163
würd=er ja nich schwarz werden, (.) ◦ weil seine Mutter ja
1164
(.) nich schwarz is◦ [. . . ]
Schwarzsein und „Deutsch-Sein“ wird hier antagonistisch gegenübergestellt. Der vermeintliche Widerspruch wird dabei auf mehrfache Weise betont. Die Satzbetonung liegt auf dem aber. Zudem wird innerhalb desselben Redezuges der Widerspruch noch ein weiteres Mal aufgemacht, als Af sagt: aber theoretisch, also er is ja Deutscher, aber obwohl er schwarz is. Die Dopplung der antagonistischen Gegenüberstellung (aber obwohl) betont den vermeintlichen Widerspruch zusätzlich. Die Teilnehmerinnen suchen nach dem Grund dafür, dass Jordon Schwarz ist, da offenbar die Mutter und ihr Partner der Gruppe bekannt sind und beide weiß sind. Demnach müsse der biologische Vater ja Schwarz sein. Dabei wird nur der Begriff Schwarz, nicht aber weiß benutzt: die Mutter wird als nich schwarz benannt: weiß ist hier der unmarkierte Normalzustand. Dass „Deutsch-Sein“ als Weißsein normalisiert ist, kommt hier erstens darin zum Ausdruck, dass die Hautfarbe der Mutter durch die Absenz von Schwarz definiert wird. Auf diese Weise wird eine „kategorial[e] Zugehörigkeit durch Negation einer Zugehörigkeit“ (H ORNSCHEIDT 2005: 479) hergestellt, was die Normalität von Weißsein verstärkt. Zweitens wird diese in den Überlegungen, wie Jordon wohl „Schwarz geworden“ sei verdeutlicht. Zum „Herauskommen“ von Schwarz müsse ja irgendwo Schwarz in die Gleichung hereingekommen sein, also sei sein Vater ja wahrscheinlich schwarz; denk=ich mal, weil sonst würd=er ja nich schwarz werden. „Schwarz-Werden“ wird hier als ein Prozess imaginiert, als ein Prozess des Abweichend-Werdens vom unbenannten Normalzustand. Benannt wird hier jeweils nur die Abweichung, die die vermeintlich neutrale eigene Perspektive machtvoll herstellt (vgl. H ORNSCHEIDT 2005: 478–479). Gleichzeitig ist es hier möglich eine Schwarze Person – ausreichendes Hintergrundwissen vorausgesetzt und mit einigem Formulierungsaufwand – als „Deutsche_n“ zu verstehen. Dabei scheint das weiße familiäre Umfeld Jordons eine nicht unwesentliche Rolle zu spielen. Die als visuelle Evidenzen gefassten Abweichungen vom „Eigenen“ sind unaufhebbar in die Körper eingeschrieben. Wird Nicht-Zugehörigkeit an diese gebunden, so ist sie grundsätzlich nicht überwindbar. Auch Jordons Zugehörigkeit bleibt so eine prekäre, für die jeweils zu argumentieren ist und bei der selbst in der Argumentation der Widerspruch fortgetragen wird. Er ist nicht Schwarz und Deutscher, sondern Schwarz aber Deutscher.
Kapitel 5: Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports | 175
5.1.2 Deutschland als originärer Raum der „Wir-Gruppe“ In der Gruppendiskussion Klavier dokumentiert sich eine Vorstellung von der deutschen Gesellschaft als einer an sich homogenen Gemeinschaft – „wären die »Ausländer« nicht da“ (W OLLRAD 2005: 12). Besonders deutlich tritt diese Vorstellung einer ursprünglich homogenen deutschen Gesellschaft sowie die Konnotation des unwiederbringlichen Verlusts des vermeintlichen Ursprungszustands in einer Passage hervor, in der die Gruppe über die Aufnahme von Geflüchteten diskutiert. Über die Thematisierung eines Schweizer Gesetzes, keine Geflüchteten mehr aufzunehmen, kommt die Gruppe auf folgendes Szenario zu sprechen: 900
Af: ich versteh auch nich, weißt du wenn die d- okay
901
vielleicht hat die Schweiz kein Platz mehr, aber
902
glaub ich doch nich; die ham doch bestimmt noch Platz,
903
als wenn die:, (.) stell dir vor jetzt würden auf
904
einmal tausend neue (.) Deutsche geboren werden, (.)
905
und dafür würden die tausend Türken rausschmeißen;
906
nur weil die jetzt nich (vielleicht) bausm Land kommen;
907 908
boh wie (.) aber das kann man doch nich machen;
909 910 911
Af: nee, beigentlich-
c
912 913
Cf:
bwenn man jetztc sagt, wir möchten, (.) also wenn
914
jetzt die Bevölkerung in Deutschland mehr Ausländer wär
915
als Deutsche,b
916 917
Af:
bja okay dann wärs b(ja) wieder,c
918 919
Bf:
bdann, (.)
c aber,
920
das kann man ja nich herstellen, (.) wiederherstellen
921
indem man sagt
922 923
Af:
#00:35:55-6#
Wie die Diskussion sich ohne die thematische Ablenkung durch Yf entwickelt hätte, ist offen. Dass die Diskussion über die Rewe-Sammelkarten sich in der Folge sehr schnell erschöpft, hängt daher möglicherweise nicht nur damit zusammen, dass es hier keine Überschneidungen der Erfahrungen Dfs mit denen der anderen Teilnehmerinnen gibt. Vielmehr ist hier nicht auszuschließen, dass auch die Reaktion Yfs eine Rolle spielt. Niemand, auch Yf nicht, greift den Begriff hier auf. Auf die kritische Nachfrage Bfs – was is da so schlimm dran? – hin bekräftigt Df erneut die Orientierung an der Skandalisierung von Ignoranz und aktiver Verdeckung von rassistischer Ausgrenzung in Deutschland. Die Formulierung die verkaufen halt Deutschland als wären wir alle zusammen gewesen verweist auf den aktiven Beschönigungsprozess und die Täuschung, die Df in der Darstellung des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch die WMWerbe-Aktion sieht. Die Formulierung im Konjunktiv II Präteritum unterstreicht
418 | Zugehörigkeit und Rassismus
die Kritik daran, dass hier ein gesellschaftlicher Zusammenhalt als vermeintlich bereits erreicht repräsentiert werde. Dagegen stellt sie die andauernden Ausgrenzungen vieler Menschen im Indikativ Präsens: aber trotzdem werden so viele ausgegrenzt. Dabei führt sie ihre Erklärung, warum die Aktion problematisch sei – und nicht etwa, warum sie diese problematisch findet – im Modus völliger Selbstverständlichkeit an. Sie individualisiert hier ihre Perspektive nicht etwa, sondern präsentiert ihre Analyse der Sammelkartenaktion in Form einer faktischen Darlegung, die an Bf gewandt erklärt, was die Aktion bedeutet: na das heißt die- die verkaufen halt Deutschland als wären wir alle zusammen gewesen. Es erscheint als eine selbstverständliche Deutung, bei der Df über das na den Bezug zu Bf herstellt. Dass diese die Problematik hinterfragt hatte, wird von Df im Sinne einer Verständnisfrage beantwortet. Sie hilft hier Bf bildlich gesprochen „auf die Sprünge“, eine aus ihrer Perspektive offensichtliche Problematik zu erkennen. Im Anschluss an den Sprachwissenschaftler K ALLMEYER kann dies als Element eines „emanzipatorischen Kommunikationsund Handlungsstils“ (K ALLMEYER 2001: 401) verstanden werden. Df bringt die eigene marginalisierte Perspektive im Modus der Selbstverständlichkeit vor. Dfs Ausführungen können an dieser Stelle begriffen werden als eine aktive Herausforderung hegemonialer Orientierungen an einer aus gesellschaftlichen Machtverhältnissen herausgelösten Multikulturalität. Sie verweist auf den Aspekt, dass das Multikulturalitätsnarrativ der Verschleierung von Ausgrenzung dienen kann und dann die gesellschaftliche Realität vieler Menschen verdeckt. Demgegenüber hebt sie die gesellschaftliche Realität von Ausgrenzung hervor. Sie schlägt am Beispiel des eigenen Handelns an der Supermarktkasse eine Orientierung an einer widerständigen Haltung und der Aufdeckung von rassistischer Ausgrenzung als gesellschaftliche Realität vor. Diese Orientierung und das darauf basierende widerständige und aktive Handeln werden durch Bfs Nachfrage infrage gestellt. Es ist hier keine reine Interessenfrage. Vielmehr transportiert Bfs Frage eine Orientierung daran, dass es sich bei der Darstellung von der deutschen Gesellschaft als einer Gesellschaft, die zusammenhält um eine unproblematische Repräsentation Deutschlands handelt. Sie nimmt dabei direkt Bezug auf Dfs Orientierung, was im Adverb da zum Ausdruck kommt. Die Frage was is da so schlimm dran? kann gedankenexperimentell folgendermaßen ergänzt werden: was is da so schlimm dran wie du es darstellst? In der Nachfrage kommt zum Ausdruck, dass Bf in der Proposition Dfs einen Grad an Problematisierung rezipiert hat, den sie nicht teilt, sondern vielmehr für übertrieben hält und von dem sie sich distanziert. Damit handelt es sich hier um zwei oppositionelle Orientierungen. Die von Bf vorgeschlage-
Kapitel 6: Gruppendiskussion Schuluniform | 419
ne Orientierung ist der Dfs nicht nur komplementär gegenübergestellt, sondern hinterfragt auch die Basis ihres widerständigen Handelns. Auf diese Weise gerät Df in eine defensive Rolle und verteidigt sich gegenüber Bf, die daraufhin ihre oppositionelle Haltung ein weiteres Mal bestätigt: aha ich find=das nicht schlimm. Df findet hier für ihre Orientierung keine Unterstützung in der Gruppe. Indem Bf die Demonstration von Zusammengehörigkeit nicht als problematisch einordnet, sagt sie gleichzeitig aus, dass sie es nicht schlimm findet, dass die realen Ausgrenzungserfahrungen Dfs in dieser Version eines inklusiven Deutschlands übergangen werden. Df zieht sich auf das Argument zurück, dass sie es schlimm finde, wenn Menschen ausgegrenzt werden nur weil sie was anderes sind. Damit verschiebt sie den Inhalt der Diskussion. Während die oppositionellen Orientierungen Dfs und Bfs sich auf den inhaltlichen Gegenstand der Repräsentation von Deutschland bezogen, „rudert“ Df nun auf das Terrain geteilter Orientierung zurück. Dass sie es nicht in Ordnung finden, wenn Menschen rassistisch ausgegrenzt werden, ist geteilter Orientierungsbestand in der Gruppe. Auch hier stimmt jemand zu (Z. 1473). Die Frage der Ausgrenzung verschleiernden Selbstrepräsentation der „Deutschen“ wird aus der Diskussion eliminiert. Hier wird deutlich, dass die Gruppenmitglieder sich nicht in allen Punkten gegenseitig stützen und solidarisch zeigen, sondern dass es auch Unterschiede im Erleben und der Perspektive gibt. Dfs Perspektive und ihr Erleben der Situation werden mariginalisiert. Dabei dokumentiert sich auch eine Reifikation des Andersseins von rassistisch markierten Menschen. Df schreibt den Menschen, die aus der in Deutschland verorteten imagined community ausgegrenzt werden hier tatsächliches Anderssein zu. Dies kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass sie das Anderssein rassistisch Markierter als unveränderbar erlebt – es also nicht die Lösung sein kann, dieses Anderssein zu bearbeiten, um es zu eliminieren. Gleichwohl handelt es sich hier um eine Festschreibung der betreffenden Menschen als „anders“ Seiende. Damit reproduziert Df die Markierung als abweichend von dem unbenannten vermeintlichen Normalzustand: nur weil sie was anderes sind impliziert hier diesen unmarkierten Vergleichshorizont mit den normalisierten „Nicht-Anderen“. Auffällig ist dabei auch die Satzkonstruktion. Df nutzt nicht etwa die adverbiale Konstruktion, dass die Menschen anders seien, sondern spricht in Form einer Substantivierung davon, dass diese „etwas Anderes“ seien. Auf diese Weise wird der reifizierte, wesenhafte Charakter des (zugeschriebenen) Andersseins hier noch verstärkt.
420 | Zugehörigkeit und Rassismus
Analysieren und De-Legitimieren als Form des Umgangs mit Zuschreibungserfahrungen
In der Gruppendiskussion Schuluniform dokumentiert sich eine analytische Haltung in Bezug auf die Erfahrungen verschiedener Teilnehmerinnen mit Othering und Rassismus. Die Erfahrungen werden analytisch rekonstruiert und als Erfahrungen erkannt, deren Grund nicht in der eigenen Person zu suchen ist. Vielmehr wird deutlich, dass die Gruppe Othering und Rassismuserfahrungen auf Kollektivzuschreibungen zurückführt, die unabhängig von der eigenen Person und individuellen Handlungen geschehen, da Zuschreibungen auf die eigene Person projiziert werden. Dabei machen die Teilnehmerinnen verschiedene Bestandteile von in der Gesellschaft kursierendem Unterscheidungs- und Erklärungswissen aus. Dies wird insbesondere in der Passage deutlich, in der die Gruppe kollektiv die Besonderung und die Zuschreibungen von antimuslimischem Erklärungswissen analysiert, mit denen Df konfrontiert wird (s. Kap. 6.2.3 und 6.2.4). Diese Wissensbestände erleben sie als stabil und von der eigenen Person nicht beeinflussbar. Die Diskutantinnen machen sich auch darüber Gedanken, wie die kursierenden Wissensbestände über homogenisierte und essentialisierte natio-ethno-kulturelle imagined communities gesellschaftlich stabilisiert werden. Als zentrale Instanz machen sie Medien aus, denen die Macht zugeschrieben wird, die Menschen zu beeinflussen: ja heutzutage sind die Leute auch so leicht beeinflussbar von den Medien und sowas (Z. 796-797). Medien werden generalisierend als eine Instanz verstanden, die die hegemonialen Repräsentationen bzw. Kollektivzuschreibungen bedient, verbreitet und festigt. „Die Medien“ stellen demnach einen Teil der gesellschaftlichen Wissensbestände bereit, durch die sich „die Menschen“ beeinflussen lassen, die sie glauben und reproduzieren. Dabei wird „den Medien“ eine zentrale Rolle zugeschrieben, nicht aber die einzige. Ihnen werden vielmehr weitere, nicht näher benannte Akteure zur Seite gestellt (Medien und sowas). Menschen werden nicht als inhärent „schlecht“ verstanden, sondern als beeinflussbar. Beeinflussbar zu sein stellt dabei den Gegenhorizont zur Orientierung der Gruppe an selbstbestimmtem Handeln dar. Es läuft der Orientierung der Gruppe zuwider. Medien werden gerahmt als eine Instanz, der viele Menschen unhinterfragt Glauben schenkten, die aber Dinge verbreite, die nicht immer der Wahrheit entsprächen: das alles was in den Medien gesagt wird muss ja nicht sofort stimmen aber, (.) [. . . ] viele Menschen sind der Meinung wenn das im Fernsehen läuft dann muss das stimmen oder irgendwie sowas (Z.806-813)
Während die Teilnehmerinnen Medien die Macht zuschreiben, Gruppen kollek-
Kapitel 6: Gruppendiskussion Schuluniform | 421
tiv zu repräsentieren, sehen sie diese Repräsentationsmacht bei sich selbst nicht gegeben: man kann den das immer wieder einreden aber die würden das nich glauben die haben ihren eigenen Glauben und da kann man auch nichts ändern (Z. 791-794)
Dabei wird dem Fernsehen (Z. 811) als Medium eine bedeutende Rolle zuerkannt, was sich auch in den folgenden Elaborationen dokumentiert. Während die Gruppe zuvor über konkrete Alltagserfahrungen gesprochen hatte, setzen die Gruppenmitglieder sich in der Folge mit stereotypisierenden Wissensbeständen über soziale Gruppen in der medialen Repräsentation auseinander. Diese werden als Klischees (Z. 815) gerahmt. Zunächst spricht Cf ein Video darüber an, wie Ausländer denken über Deutsche (Z. 817-818). Dort sei einseitig auf die Beschäftigung der „Deutschen“ mit Krieg eingegangen worden, wobei sie auf den Zweiten Weltkrieg referiert: immer nur Hitler und so (Z. 826-827). Dabei zeigt sich, dass diese Repräsentation mit ihrer eigenen Erfahrung nicht übereinstimmt und sie sich nicht vorstellen kann, dass jeder das so denkt und dass das wirklich ernst gemeint war (Z. 834-837). Die stereotypisierenden Repräsentationen der „Deutschen“ werden von Cf in ihrer Wirkmächtigkeit eingegrenzt. Sie kann sich nicht vorstellen, dass alle „Ausländer_innen“ so über „Deutsche“ dächten: und ich meine jetzt natürlich nicht alle Ausländer aber wahrscheinlich die die noch nie in Deutschland waren (Z. 818-819). Auffällig an diesem Redezug ist, dass sich Cf zunächst aus der „Wir-Gruppe“ der „Deutschen“ ausnimmt, über deren mediale Repräsentation als kriegsfixiert sie hier spricht: ja: und ähm es gibt doch ja immer so viele Klischees wie die zum Beispiel hier in Deutschland sind, ich hab mal ein Video sogar vor kurzem gesehen, wie ähm Ausländer denken über Deutsche (Z. 815-818, eigene Hervorh.)
Sie nimmt sich aus der in Deutschland verorteten Gruppe der „Deutschen“ aus und distanziert diese als die. In der Folge allerdings inkludiert sie sich selbst in die „Wir-Gruppe“ der „Deutschen“: da haben die halt nur gezeigt dass wir voll (.) ähm voll [. . . ] nur mit- ähm uns mit Krieg beschäftigen und immer nur Hitler und so (Z. 824-827, eigene Hervorh.). ies verdeutlicht, dass sie sich von der stereotypisierenden Repräsentation
422 | Zugehörigkeit und Rassismus
„der Deutschen“ angesprochen fühlt und sich mit der repräsentierten Gruppe identifiziert, nicht aber mit den auf die „Wir-Gruppe“ projizierten Zuschreibungen. Gleichzeitig dokumentieren sich hier ihre wechselnden Selbstpositionierungen. Im nächsten Redezug wird sie analog ausführen, dass sie die stereotypisierenden Repräsentationen von „Russ_innen“ nicht mag, mit denen sie sich ebenfalls konfrontiert sieht: ich mag diese Klischees auch nich wenn [. . . ] wenn hier ähm- wenn jemand mich ansieht und weiß das ich Russe bin und gleich denkt, dass ich jeden Tag nur Wodka trinke oder so (Z. 846-853)
Es zeigt sich, dass Cf sich bewusst ist, dass es nicht nur stereotypisierende Repräsentationen gegenüber Minderheitengruppen gibt, sondern auch gegenüber „den Deutschen“. Dabei handelt es sich jedoch um Repräsentationen von Dritten aus dem Ausland. Diese mag sie genauso wenig wie sie abwertende Repräsentationen von „Russ_innen“ mag. Allerdings schätzt sie die Wirkmächtigkeit der Repräsentationen der „Deutschen“ und der „Russ_innen“ unterschiedlich ein. Bei der Repräsentation der „Deutschen“ als kriegsfixiert merkt sie zweifelnd an, dass sie weder glaube, dass diese wirklich ernst gemeint war, noch dass diese besonders weit verbreitet sei. Diese Einschränkung präsentiert sie für die Repräsentationen von „Russ_innen“ nicht, die dadurch wirkmächtiger erscheinen. Im Unterschied zu den Zuschreibungen, mit denen Df konfrontiert wird, wird bei Cf deutlich, dass die Menschen hierfür „wissen“ müssen, dass sie „Russin“ sei: wenn jemand mich ansieht und weiß das ich Russe bin (Z. 851-852, eigene Hervorh.). Die Zuschreibungen, mit denen sie konfrontiert wird, funktionieren also anders als die, mit denen Df konfrontiert wird. Auch hier wird betont, dass die Repräsentationen von „Russ_innen“ sogleich präsent seien, wenn jemand ihr gegenüberstehe, und die Wahrnehmung ihres Gegenübers leiteten. Allerdings setzt dies in ihrem Fall voraus, dass ihr Gegenüber über Hintergrundwissen verfügt. Anders als Df wird Cf nicht anhand vermeintlicher visueller Evidenzen als „Andere“ eingeordnet. Die anderen Diskutantinnen validieren die Existenz der stereotypisierenden Zuschreibung von Wodkakonsum, über die Cf spricht: ja:: ((mehrere, lachend)) (Z. 855). Ihr Lachen zeigt aber gleichzeitig an, dass sie sich von dieser Projektion distanzieren. In der Folge werden weitere hegemoniale Repräsentationen über Russland thematisiert (s. ausführlicher in Kap. 6.2.5). Die Gruppe kritisiert, dass das Medium Fernsehen an die Bilder in den Köpfen der Zuschauer_innen anknüpfe und diese bediene (Z. 886-973).
Kapitel 6: Gruppendiskussion Schuluniform | 423
Rassismus als eine Frage der Abneigung – Hegemoniale Vorstellungen von Ausländer_innenfeindlichkeit
In weiten Teilen der Diskussion werden rassistische Wissensbestände erfahrungsbezogen als stereotypisierende, herabsetzende Wissensbestände zur Unterscheidung, Ausgrenzung und Sinnzuschreibung analysiert, ohne dabei eine Aussage über Intentionen oder Charakter derjenigen zu tätigen, die diese Wissensbestände reproduzieren. Andererseits zeigt sich in der Diskussion auch ein Verständnis von Rassismus als eine Frage emotionaler Abneigung und einer feindlichen Einstellung sowie eine utilitaristische Argumentation, die diese Haltung vermeintlich entkräften soll: 1475
Cf: und ähm (.) ich versteh das nich; weil (.) die mögen die
1476
Deut- äh äh Deu- manche Deutsche mögen ja keine Ausländer;
1477
und ähm aber es gibt so viele Sachen die Aus- äh die- die-
1478
sie Ausländer zu verdanken habenb
#00:36:13-2#
1479 1480
bBananen
Df:
#00:36:14-1#
1481 1482
((lautes Lachen mehrerer))
#00:36:17-3#
1483 1484 1485
Cf: ja wenn- wenn Ausländer nich wären dann hätte er jetzt keine Bananen und
#00:36:21-3#
Hier bringt Cf eine utilitaristische Argumentation auf, die auch in der Gruppendiskussion E-Sports vorgebracht wurde (vgl. Kap. 5.5.3). Dabei wird in beiden Diskussionen auf die ökonomische Produktivität von „Ausländer_innen“ referiert – Df validiert die von Cf vorgeschlagene Orientierung sogleich und setzt die Formulierung so viele Sachen [. . . ] zu verdanken sofort in einen ökonomischen Kontext – und diese wird zu einem Grund erhoben, weswegen negative Emotionen von „Deutschen“ gegenüber „Ausländer_innen“ nicht nachvollziehbar seien. Damit wird ökonomische Produktivität zu einer Grundlage für Gefühle der Ablehnung oder Zuwendung erhoben. Die Gefahr, dass das Deutungsmuster von (mangelnder) Produktivität umgekehrt als Legitimationsgrundlage für offene Ablehnung und Herabsetzung dienen kann, zeigt sich in der Gruppendiskussion E-Sports, als Migrationsanderen eine passive Haltung des „Hartz-4-Wollens“ und ein parasitäres Dasein innerhalb der Solidargemeinschaft der „Deutschen“ unterstellt wird. Zusätzlich wird hier eine Relation von Zuneigung, Dankbarkeit und einer Versorgungsbeziehung konstruiert, die sich un-
424 | Zugehörigkeit und Rassismus
ter umgekehrten Vorzeichen ebenfalls in der Diskussion E-Sports wiederfindet. Dort wird Migrationsanderen zugeschrieben, dass sie „die Deutschen“ trotz einer imaginierten Sorgebeziehung ablehnten und ihnen gegenüber undankbar seien (Kap. 5.2.5). In der Diskussion Schuluniform wird am Beispiel des Importguts Bananen die Dankbarkeitserwartung „der Deutschen“ gegenüber „den Ausländer_innen“ in einen internationalen Kontext gestellt. An dieser Stelle referiert der Begriff Ausländer nicht auf Migrationsandere, denen weiße Deutsche viel zu verdanken hätten – dieser migrationsgesellschaftliche Kontext ist in der Diskussion E-Sports angesprochen –, sondern hier wird der Begriff in einem internationalen Kontext verwendet. Im direkten Anschluss an die vorangegangene Passage – dieser direkte Anschluss dokumentiert sich auch sprachlich über die Konjunktion und (Z. 475) – verweist dies darauf, dass die Diskutantinnen hier zwischen Migrationsanderen innerhalb der deutschen Gesellschaft und Ausländer_innen im internationalen Kontext nicht unterscheiden. Wenn gesagt wird, dass manche „Deutsche“ keine „Ausländer_innen“ mögen, dann bezieht sich dies sowohl auf den zuvor diskutierten Kontext der rassistischen Ausgrenzung innerhalb der deutschen Gesellschaft, als auch auf den im Anschluss thematisierten Kontext ökonomischer Beziehungen zwischen Deutschland und „dem Ausland“. Das Partikel ‚ja‘ in manche Deutsche mögen ja keine Ausländer (eigene Hervorh.) rahmt die Aussage als etwas Bekanntes. Es erscheint als selbstverständlich, dass dies so ist. Die Ernsthaftigkeit der Diskussion über das Importgut Bananen wird zunächst von anderen Teilnehmerinnen hinterfragt, was sich in Form eines lauten Auflachens (Z. 1482) sowie dem lauten Ausruf Bananen (Z. 1487) zeigt. Cf und Df halten jedoch an der Ernsthaftigkeit der Diskussion fest und verweisen auf die Abhängigkeit der „Deutschen“ von „Ausländer_innen“, um die Konsumgüter Bananen sowie Multivitaminsaft zur Verfügung zu haben. Cf führt aus: wären diese Ausländer nich da, dann hätten die das ganze nich (Z. 1509-1510). In Deutschland gebe es schließlich keine Bananen, also könnten „die Deutschen“ es auch nicht selbst herstellen (Z. 1510-1512). Af fasst die Unausweichlichkeit der Situation der Abhängigkeit „der Deutschen“ von „den Ausländer_innen“ metaphorisch zugespitzt in der Konklusion < schach matt> (Z. 1517) zusammen. Hier verdeutlicht sich eine Orientierung daran, dass „die Deutschen“ sich angesichts ihrer Abhängigkeit vom guten Willen „der Ausländer_innen“ eine rassistische Ablehnung von „Ausländer_innen“ nicht erlauben könnten. Diese kommt nicht nur in dem metaphorischen < schach matt> zum Ausdruck, sondern auch in der Schadenfreude, die sich paraverbal in der Intonation und rhythmischen Satzmelodie ausdrückt, mit der Cf die unausweichliche
Kapitel 6: Gruppendiskussion Schuluniform | 425
Abhängigkeit „der Deutschen“ von der ausländischen Bananenproduktion kommuniziert: wären diese Ausländer nich da, dann hätten die das ganze nich; (.) müssten sie das selbst machen < aber in Deutschland kann man keine Bananen (einkaufen)> (Z. 1509-1512)
Ökonomische Abhängigkeitsverhältnisse werden ausgeblendet und stattdessen der gute Wille der „Ausländer_innen“ als Motivation für deren Export von Gütern nach Deutschland konstruiert, wie die folgende Elaboration durch Df verdeutlicht: 1521
Df: weil die dann diese ganzen Sachen hätten (2) also dort drüben
1522
sehen die das ja nicht als Ausländerfeindlichkeit die denken
1523
das sind di- derens Freunde und schicken das halt
1524 1525
?: ◦ derens◦ ((kichern))11
#00:36:55-6#
Dabei beruht die Exportwilligkeit der Menschen im „Ausland“, was hier über den deiktischen Ausdruck dort drüben gefasst wird, auf deren Glauben an eine freundschaftliche Beziehung zu „den Deutschen“. In dieser Passage ist der Grad der Pauschalisierung auffällig. Es werden nach einem Freund-Feind-Schema dichotome Gruppen konstruiert und einander gegenübergestellt. Deutschland wird dabei in ein dichotomes Verhältnis zu einem „Ausland“ gesetzt, bei dem „das Ausland“ zu einer Einheit gefasst wird – bewohnt von „Ausländer_innen“. K ALL -
11 | Der grammatikalische Fehler, der Df hier (Z. 1523) unterläuft, wird sogleich von einer anderen Teilnehmerin kichernd kommentiert (Z. 1525). An dieser Stelle zeigt sich eine hohe Aufmerksamkeit für sprachliche Korrektheit, die sich auch an weiteren Stellen in der Diskussion Schuluniform zeigt. So hatte sich bereits zuvor Bf unsicher über die korrekte Deklinierung von auftritt gezeigt. Eine andere Teilnehmerin hatte daraufhin auftretet vorgeschlagen, was Bf dann unsicher lachend übernimmt (Z. 1257-1262). Auch gegenüber den vielen Wiederholungen im Sprechstil von Pm im Filmausschnitt hatte die Gruppe sich sehr aufmerksam gezeigt (Z. 436-466). Im Unterschied zu den Gruppendiskussionen E-Sports und Klavier handelt es sich hier allerdings um eine Form der Aufmerksamkeit, die eine hohe Verunsicherung über das eigene korrekte Sprechen zeigt. Vielmehr zeigen die Diskutantinnen der Gruppe Schuluniform Empathie für Pm, indem sie vermuten, er sei sicherlich aufgeregt gewesen (Z. 586).
426 | Zugehörigkeit und Rassismus
MEYER unterstreicht, dass es sich bei ‚Deutsche/Deutschland‘ versus ‚Ausländer_innen/Ausland‘ um ein „polare[s] und zugleich asymmetrische[s] Kategorienschema“ (2001: 414) handelt, welches „eine positiv definierte Kategorie und eine Restkategorie“ (2001: 414) enthält. Hier wird nun die Restkategorie ‚Ausland‘ wie eine individuelle Länderbezeichnung behandelt. Es wird deutlich, dass die binäre Einteilung in „Deutsche“ und „Ausländer_innen“ für die Gruppenmitglieder ein relevantes Kategorisierungsschema der Welt darstellt. Sie reproduzieren hier die Einteilung ausgehend von der zentralen positiv bestimmten Kategorie ‚Deutsche/Deutschland‘ und dem nur in Relation dazu als Gegenfolie bestimmbaren „Rest“. Gleichzeitig scheinen auf der inhaltlichen Ebene „Deutsche“, die „Ausländer_innen“ ablehnen sich auf diese Weise in der Welt zu isolieren, indem sie dem gesamten „Rest“ gegenübergestellt werden. Dass hier von der positiv definierten Kategorie ‚Deutsche/Deutschland‘ ausgehend argumentiert wird, dokumentiert sich auch in der Ortsdeixis. Die „Ausländer_innen“ werden im dort drüben verortet, was auf die eigene Sprecherinnenposition im Hier verweist. Dabei wird ein Zentrum und ein davon entferntes dort konstruiert. Die Sprecherinnen grenzen sich aber zugleich auch von der Kategorie der „Deutschen“ ab, die sie hier als Kategorie „ausländerfeindlicher“ „Deutscher“ diskutieren und als die von der eigenen Gruppe distanzieren. Es scheinen drei imaginierte Kollektive auf: die „ausländerfeindlichen“ Deutschen im Hier, die „Ausländer_innen“ im dort drüben, die in Unkenntnis über die feindliche Einstellung der „Deutschen“ ihnen gegenüber sind sowie die „Wir-Gruppe“ der Diskutantinnen im Hier, die von dieser Kenntnis hat.
Orientierung an Religionsfreiheit
Die Orientierung der Gruppe an Religionsfreiheit als eine Freiheit analog zu Meinungsfreiheit kommt in der Passage der Gruppendiskussion zum Ausdruck, in der Df schildert, dass eine unbekannte Frau sie mit vermeintlich antichristlichen Darstellungen im Koran und mit der Unterstellung, sie sei von ihren Eltern in eine Zwangsehe verkauft worden konfrontiert hat (s. Kap. 6.2.6). Zunächst wird die Orientierung durch Cf vorgeschlagen: 324
Cf: sowas finde ich einfach nur (2) sowas mag ich überhaupt
325
nich weil wir sind ja alle Menschen und wenn ich an was
326
anderes glaube, dann ist das m- meine Glaubensansicht.
327
Das ist ja nur meine Meinung, was ich für richtig halte
328
(.) und wenn das jemanden nicht gefällt, dann dann soll
329
er das auch akzeptieren. (.) es also b (.) c
Kapitel 6: Gruppendiskussion Schuluniform | 427
330 331
b ◦ ja◦ c
Df:
332 333
Cf: er soll das akzeptieren und nicht ähm (.) ((Räuspern einer
334
anderen Person)) gleich mich als Feind ansehen nur weil er
335
einen anderen Glauben hat oder aus einem anderen Land kommt; #00:12:00-7#
336
Hier kommt zum Ausdruck, dass ein von der „Normalität“ abweichender Glaube die eigene Glaubensansicht und eigene Meinung darstelle und auch dann akzeptiert werden solle, wenn diese nicht geteilt werde. Diese Orientierung wird in der abschließenden Konklusion der Passage durch Af validiert: ich finde auch dass jeder einfach jede Religion akzeptieren sollte; also dass jeder woran er glaubt glauben soll das is ja seine eigene Meinung dann auch; (Z. 432-434)
Beide Redezüge übschneiden sich zum Teil begrifflich. Cf und Af sprechen beide von ‚Meinung‘ und ‚Akzeptanz‘. In beiden Redezügen kommt auch die Nähe zum Konzept der Meinungsfreiheit zum Ausdruck, an dem sich die Gruppe orientiert. Im Anschluss an die Konklusion entsteht eine lange Pause, die als Anzeichen dafür gedeutet werden kann, dass niemand etwas hinzufügen möchte. In der Konklusion kommt erneut zum Ausdruck, dass die Teilnehmerinnen die Einschätzung der Rassismuserfahrungen als Ausdruck von Nicht-Akzeptanz aufgrund der religiösen Zugehörigkeit teilen. Demgegenüber orientiert sich die Gruppe an einer grundsätzlichen Akzeptanz aller Religionen und einer individuellen Wahlfreiheit den eigenen Glauben betreffend. Damit werden hier zentrale Bestandteile des Grund- und Menschenrechts auf Religionsfreiheit formuliert. Es wird deutlich, dass die Einhaltung dieses Grund- und Menschenrechtes für die Gruppenmitglieder einerseits eine kollektiv geteilte Orientierung darstellt, sie aber andererseits keinesfalls davon ausgehen, dass dies bereits gegebene gesellschaftliche Realität darstellt. In der Konklusion dokumentiert sich ebenso der Aspekt der Widerständigkeit gegen Assimilations- und Veränderungsdruck. Af bestärkt die kollektive Orientierung der Gruppe daran, dass es möglich sein soll, am eigenen Glauben festzuhalten, sich also nicht ändern zu müssen: also dass jeder woran er glaubt glauben soll. Darin zeigt sich die Vorstellung, dass ein bestimmter Glaube bei einer Person bereits vorhanden ist. Dieser sollte akzeptiert werden. Dass sie
428 | Zugehörigkeit und Rassismus
dabei im Konjunktiv spricht, unterstreicht, dass die Gruppe nicht davon ausgeht, dass dies der Fall ist. Im Gegenteil leiten die Diskutantinnen die Orientierung gerade aus den Erfahrungen Dfs mit der Nicht-Akzeptanz als Muslimin ab. „Ich liebe es über meine Kultur zu sprechen“ – Performativer Widerstand gegen Kulturalisierungen
Gegen eine kulturalisierende Verhandlungsweise von Differenz kommt in der Diskussion wiederholt performativ Widerstand zum Ausdruck. Eine Verhandlungsform von Differenz, bei der die unterschiedlichen Erfahrungen mit Zugehörigkeit, Othering und Rassismus zum Ausdruck gebracht werden können, wird hingegen explizit gewertschätzt. Von letzterer Verhandlungsform macht die Gruppe im Zuge der Gruppendiskussion ausführlich Gebrauch, während die kulturalisierenden Passagen der Diskussion deutlich stockender verlaufen. Dies wird im Folgenden vertieft. Die Interviewerin hat eine Diskussion darüber initiiert, was Kultur sei und dabei die Frage danach aufgebracht, was die Teilnehmerinnen auf die Frage nach „ihrer Kultur“ antworten würden: also wenn- wenn man euch jetzt nach eurer Kultur fragen würde, würdet ihr dann auch so Länder nennen? (.) als Antwort (Z. 1746-1747). Die Diskutantinnen einigen sich darauf, dass sie nicht wüssten, was sie antworten sollten (Z. 2208-2225). Bf und Cf führen dies darauf zurück, dass sie nicht wüssten was Kultur überhaupt sei. Kultur wird aus dem Modus des vermeintlich Selbstverständlichen gelöst. Yf gibt sich mit diesen Antworten nicht zufrieden und bringt ihr Interesse an der Klärung der Frage erneut zum Ausdruck: und wenn wir mal versuchen laut zu denken was (.) was könnte das denn [. . . ] sein also, (Z. 22272228). Dabei bezieht sie sich selbst mit ein in die Gruppe derjenigen, die darüber nachdenken sollen, was angesichts dessen, dass sie ein deutliches Interesse an den Orientierungsmustern der Schülerinnen formuliert hat, überrascht. Es ist plausibler, dass hier ein gemeinsames „Wir“ vorgetäuscht wird. Es verschleiert ihre Aufforderung an die „Anderen“ in der Gruppe, laut zu denken. Noch während Yf ihre Aufforderung formuliert, bestärkt Cf ihre bereits zuvor geäußerte Position dazu: ich hab keine Ahnung (Z. 2230-2231). Damit verweigert sie sich der insistierenden Aufforderung Yfs, die sich darüber hinwegsetzt, dass sie eigentlich bereits zum Ausdruck gebracht hat, zu dieser Frage nichts mehr beitragen zu wollen bzw. zu können. Die Interviewerin wiederholt daraufhin erneut die Frage nach der „eigenen“ Kultur der Schülerinnen. Wie bereits im vorangegangenen Redezug formuliert sie diese nicht etwa als direkte Frage, sondern in Form einer potenziellen, im Konjunktiv II geäußerten Frage: und wenn ich euch jetzt
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fragen würde was ist eure Kultur? Was kommt euch da in den Kopf? (Z. 2253-2254). Die eigentliche Frage, die hier an die Diskutantinnen gestellt wird, wird als eine Frage verschleiert, mit der die Interviewerin die Schülerinnen nicht direkt behelligt, die sie aber stellen könnte. Darin kommt eine Ambivalenz zwischen einer Distanz zur Frage und einem gleichzeitigen Interesse an deren Beantwortung zum Ausdruck. Die Antworten der Diskutantinnen beziehen sich erneut auf die bereits genannten natio-ethno-kulturellen Herkunftskategorien (Z. 2256) sowie Religion (Z. 2260, 2268). Bf hingegen nennt lediglich ihren Vornamen (Z. 2258), was teils belustigte Rückfragen auslöst. Mit der Nennung ihres Vornamens als Anwort auf die Frage nach ihrer Kultur irritiert sie ein herkömmliches Sinngebungsmuster: 2253 2254
Yf: und wenn ich euch jetzt fragen würde was ist eure Kultur? was kommt euch da in den Kopf?
#00:48:54-8#
2255 2256
Cf: ◦ ich komm=aus Russland◦
#00:48:57-4#
2257 2258
Bf: Bf ((nennt ihren Vornamen))
2259
Df: Religion
#00:48:59-7#
2260 2261
((lachen))
2262 2263
?: Bf?
2264 2265
?: Bf? ((lachend))
#00:49:01-3#
2266 2267
Af: ja auch eher Religion;
#00:49:03-6#
Ef: mhm
#00:49:05-1#
2268 2269 2270 2271 2272
Bf: ich weiß nicht was ich antworten würde; würd Bf sagen ((lacht))
Die Frage der Interviewerin unterstellt den Diskutantinnen, dass sie eine bestimmte Kultur hätten, auf die sie vermeintlich festgeschrieben werden können. Zudem transportiert sie die Zuordnung als „anders“, die in hegemonialen Vorstellungen von Migrationsanderen mit dem Kulturbegriff verbunden ist. Die Antwort von Bf unterwandert die Zuordnung zu einem geanderten Kollektiv und betont stattdessen eine radikale Subjektivitätsorientierung. Hierin äußert sich performativ die
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kollektive Orientierung der Gruppe an Selbstbestimmtheit – und zwar in Form einer Orientierung am Individuum und nicht an homogenisierten, essentialisierten Kollektiven, denen die Individuen zugeordnet werden, um dann vermeintliche Rückschlüsse auf deren Persönlichkeit und Handeln zu ziehen. Im Gegensatz zu den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports verdeutlichen diese Redezüge, dass die Interviewerin hier nicht von einer fraglosen kulturellen Zugehörigkeit der Diskutantinnen ausgeht. Das bedeutet auch, dass das Insistieren der Interviewerin die Nicht-Fraglosigkeit reproduziert und festigt und die migrationsanderen Diskutantinnen immer wieder auf die Fraglichkeit der eigenen kulturellen Zugehörigkeit verweist. Die ausweichenden Antworten Bfs sind dann auch so deutbar, dass diese sich die Situation aneignet, indem sie die Frage irritiert, humorisiert und verschiebt. Dennoch wird Yf weiterhin insistieren und Fragen mit Bezug zu Kultur und der Positionierung der Diskutantinnen stellen. Die Diskussion entwickelt sich dabei schleppend und die Fragen der Interviewerin werden zumeist in wenigen Redezügen von einzelnen Teilnehmerinnen abgehandelt. Eine gemeinsame Diskussion aller Teilnehmerinnen entsteht kaum, inhaltlich kommt es zu Wiederholungen sowie zur Häufung von Seitensträngen in der Kommunikation. Dies wird auch von einer Teilnehmerin expliziert, die konstatiert: Kultur? Wir schweifen immer wieder ab (Z. 2488). Ein Gespräch über „die deutsche Kultur“ mündet schließlich in die ironische Thematisierung von Stereotypen und es kommt erneut zu einem Abbruch der Diskussion, indem Bf seufzt und auf der Metaebene kommuniziert hach ich kanns nicht erklären (Z. 3373). Df macht daraufhin ein Nebenthema auf und kündigt an, mit einem Gegenstand spielen zu wollen (Z. 3375). Dies zeigt ihre Abgelenktheit an. Jemand gähnt (Z. 3377). Yf greift diese Signale der Ermüdung und des Desinteresses an den Diskussionsthemen, die sie initiiert schließlich auf und rezipiert sie auf der Ebene von Emotionen als ein Unwohlsein beim Thema Kultur: 2253 2254
Yf: is euch das unangenehm darüber zu sprechen eigentlich über Kultur?
#01:08:11-8#
2255 2256
?: bnein
c
2257 2258
?: b
nein
c
2259 2260 2261
?: b
neinc
#01:08:12-4#
Kapitel 6: Gruppendiskussion Schuluniform | 431
2262
Df: bich liebe esc über meine Kultur zu sprechen
#01:08:13-8#
Ef: ja
#01:08:14-0#
2263 2264 2265 2266
Cf: ja merkt man (.) bvoll
c
#01:08:15-6#
2267 2268
Ef:
bstimmtc ist eigentlich hochinteressant bwenn andere Leute überc deren Kultur b(reden)c
2269
#01:08:18-2#
2270 2271
Cf: b ◦ (find=ich voll gut) ◦ c
2272 2273
bja:
Af:
c man kennt
2274
das ja eigentlich auch gar nicht und man möchte
2275
das gerne wissen so wie die leben
#01:08:23-5#
Nachdem drei Personen dies verneint haben, wirft Df ein doppeldeutiges ich liebe es über meine Kultur zu sprechen ein. Die Übertreibung kennzeichnet die Äußerung als ironisch, es fehlen jedoch weitere paraverbale Hinweise, die eine eindeutige Einordnung als ironisch erleichtern würden. So wird Dfs Äußerung denn auch von den Gruppenmitgliedern unterschiedlich aufgefasst. Während Ef ihr zustimmt, wirft Cf ein ironisches ja merkt man voll ein. Dass dieser Kommentar ironisch und nicht affirmativ zu verstehen ist, wird insbesondere dadurch plausibilisiert, dass sich soeben die Abgelenktheit Dfs dokumentiert hat. Ef jedoch setzt in einer affirmativen Weise die Argumentation fort, indem sie die in Dfs Äußerung transportierte positive Orientierung validiert und elaboriert: stimmt ist eigentlich hochinteressant wenn andere Leute über deren Kultur (reden). Dabei ist auffällig, dass Ef hier nur bekundet, dass es interessant sei, wenn andere über ihre Kultur sprächen. Damit wird der Fokus verschoben und es geht nicht länger um die Frage, inwiefern es unangenehm oder im Gegenteil überaus angenehm sei, über die eigene Kultur zu sprechen. Anderen Leuten dabei zuzuhören wird als interessant eingeordnet, nicht aber das eigene Sprechen bzw. Rede und Antwort stehen. Dies findet bei Cf und Af Zustimmung. Af validiert das eigene Interesse am Unbekannten: ja: man kennt das ja eigentlich auch gar nicht und man möchte das gerne wissen so wie die leben. Hier spricht sie aus einer unmarkierten, generalisierten Perspektive heraus und äußert ein voyeuristisches Interesse am fremden Leben. Dabei dokumentiert sich eine deutliche Gegenüberstellung vom normalisierten „man“ und einem „die“ auf der anderen Seite, wobei beide jeweils auch auf
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mehrere Gruppen bezogen werden können. Dass Af die vermeintliche Unkenntnis des Lebens der „Anderen“ in diesem Diskussionskontext äußert, erscheint überraschend. Denn hier wurde über reifizierte Kulturen der Teilnehmerinnen gesprochen und nicht über der Gruppe unbekannte Menschen. Dass sie hier davon spricht, gar nicht zu wissen, wie „die“ leben, erscheint lebensweltlich wenig plausibel. An dieser Stelle der Diskussion kommt das bereits implizit vorhandene Potenzial der Dichotomisierung von Gruppen an die diskursive Oberfläche. Es dokumentiert sich hier deutlich, dass das Sprechen über reifizierte Kultur die Bildung von Gegenüberstellungen begünstigt, in denen die hergestellten Gruppen voneinander distanziert und zu absolut anderen gemacht werden. Dabei werden exotisierende Tendenzen transportiert und die Menschen einander fremd gemacht, um von dort aus Interesse am vermeintlich von Grund auf anderen Leben der Geanderten zu äußern und sich vermeintliches Wissen über diese anzueignen. Zudem fällt hinsichtlich der Interaktionsdynamik auf, dass sich Af lediglich aus der Perspektive der interessierten Wissbegieriegen äußert, während die migrationsanderen Teilnehmerinnen sich (vorwiegend) als diejenigen angesprochen fühlen, von denen Auskunft erwartet wird. Die Frage der Interviewerin nach „eurer Kultur“ wurde hier folglich als eine verhandelt, die sich ausschließlich an die migrationsanderen Teilnehmerinnen richtet. Damit wird auch innerhalb der Gruppendiskussionssituation ein hegemoniales Muster der „interkulturellen“ Verhandlung reproduziert, bei dem weiße Deutsche ausschließlich als Lernsubjekte, nicht aber als Lernobjekte angesprochen werden, die Auskunft geben und an denen Migrationsandere Wissen erwerben können (vgl. Kap. 3.4.5). Daraufhin interveniert Df und weist auf das Problem negativer Darstellungen der Kultur der Geanderten hin: 3403
Df: das Ding is wenn immer Leute deine Kultur schlecht darstellen sich- dich voll als so n Fotzkotz darstellen
3404
#01:08:28-5#
3405 3406
Fotzkotz ((mehrere)) ((lautes Lachen))
3407 3408 3409
?: bFo::tzkotzc
#01:08:32-3#
3410 3411
Df: balso halt c (als Terrorist) und so bdarstellenc
3412 3413 3414
?:
bFotzkotz c
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3415
Df: und man ka- sich darüber b(gar nich
)c ((lacht))
3416 3417
Bf:
b(Leute Leute)c
3418 3419
?: (voll kacke)
#01:08:40-4#
Df rahmt das von Af ausschließlich positiv verstandene Interesse am „Anderen“ und der Wissensaneignung über „deren“ Lebensweise als eines, welches nicht frei von Problematiken ist. Dass sie dabei mit das Ding is einsetzt, zeigt bereits an, dass hier eine Einschränkung zum vorher Gesagten folgen wird. Der vermeintlich unperspektivischen Wissensaneignung (man möchte das gerne wissen so wie die leben) stellt Df hier die bereits vorhandenen Projektionen von Darstellungen auf die jeweilige Kultur (wenn immer Leute deine Kultur schlecht darstellen) entgegen. Afs Redezug suggeriert, dass keinerlei Wissensbestände über die interessierende „Fremdkultur“ vorhanden seien. Demgegenüber ist in der Darstellung Dfs bereits ein Wissen in Form von Negativrepräsentationen vorhanden, welches zudem permanent als Deutungsgrammatik zur Verfügung steht. Während Af also aus weißer Perspektive den hegemonialen Diskurs reproduziert, der interkulturelles Interesse am Gegenüber positiv wertet und eine Wissensansammlung über die_den „Andere_n“ als Zielhorizont aufmacht, widerspricht Df diesem Diskurs. Dabei wird der Bezug zwischen negativen Repräsentationen bestimmter Kulturen und der Darstellung der diesen zugeordneten Menschen deutlich: wenn immer Leute deine Kultur schlecht darstellen sich- dich voll als so n Fotzkotz darstellen. Df kommuniziert hier ihre eigene persönliche Betroffenheit, die unmittelbar mit den Negativrepräsentationen der „eigenen Kultur“ verbunden ist. In ihrer Satzkonstruktion fällt auf, dass sie keine Konjunktion verwendet und stattdessen die Negativrepräsentationen der Kultur und der eigenen Person in elliptischer Art und Weise aneinanderreiht. Dadurch erscheinen beide in unmittelbarer Weise verknüpft: die Repräsentation der „Kultur“ wird als Deutungsgrammatik auch auf das einzelne Subjekt angewandt, das mit dieser Kultur verbunden wird. Im Kontext der Diskussion ist dabei klar, dass es hier um negative Repräsentationen von Muslim_innen geht (vgl. a. Z. 3411). Auch hier fällt eine drastische Wortwahl Dfs auf, die die zwei Kraftausdrücke ‚Fotz(e)‘ und ‚Kotz‘ kombiniert, wodurch die Herabsetzung, auf die sie referiert, hervorgehoben wird. Der Ausdruck ‚Fotzkotz‘ transportiert dabei auch paraverbal durch die Dopplung von Zischlauten im Begriff eine gewisse Härte. Dass Df hier keine wohlklingenden, weichen Laute wählt sowie einen Begriff, der sich aus
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Kraftausdrücken zusammensetzt, kann die Angriffsdimension auch performativ aufzeigen, von der sie inhaltlich berichtet. Gesellschaftspolitische Botschaften
Cf formuliert daraufhin eine Synthese, in der sie das Ziel dessen verschiebt, weswegen sie es positiv wertet, über Kultur zu sprechen: also ich finde das gut darüber zu sprechen bwei-c [. . . ] damit auch irgendwie andere Menschen erkennen dass (.) ähm Ausländer auch nur Menschen sind und das wir uns alle gleich behandeln sollten also (Z. 3421-3427)
Diese Synthese umfasst die bisher geäußerten Orientierungen. Auch Dfs Position wird mit einbezogen. Auffällig ist, dass der Gegenstand des Wissenszuwachses verschoben wird. Hier wird vielmehr betont, dass es nicht um ein Mehr an Wissen über andere Kulturen und Menschen gehe, sondern über ein Bewusstwerden bei den Privilegierten darüber, dass die Geanderten auch nur Menschen sind. Cf streicht also die Gemeinsamkeiten heraus. Zugleich dokumentiert sich, dass Cf es nicht für selbstverständlich hält, dass „Ausländer_innen“ als Menschen angesehen werden. Vielmehr kommt hier implizit eine Normalität von De-Humanisierung und Ent-Individualisierung zum Ausdruck, mit der den als „Andere“ Markierten begegnet wird. Die Dimension von De-Humanisierung war auch im von Df verwendeten Begriff ‚Fotzkotz‘ bereits performativ enthalten. Sie wird von Cf hier expliziert. Statt einer Wissensansammlung über „Andere“ wird Erkenntnisarbeit als Ziel von Austausch in den Fokus gerückt. Cf fügt hinzu, dass wir uns alle gleich behandeln sollten. Es geht also nicht um eine bloße Erkenntnis des kollektiven Menschseins, sondern auch darum, eine Gleichbehandlung zu erreichen. Damit verschiebt Cf hier das Ziel von Sprechen über Kultur weg von Kulturalisierungen hin zu einem Ziel, welches strukturelle Veränderungen anstrebt und einen Selbstreflexions- und Bewusstwerdungsprozess statt Wissensansammlung über Geanderte relevant macht. Es ist plausibel, dass das Reflexions- und Erkenntnisziel sich an die Mehrheits- bzw. Dominanzgesellschaft richtet. Diejenigen, die „Ausländer_innen“ de-humanisieren und ent-individualisieren, werden als diejenigen gefasst, die etwas erkennen und sich selbst reflektieren müssen. Diejenigen, die beispielsweise Df als „Fotzkotz“ und nicht als gleichwertigen Menschen einordneten, müssten dann genau dies erkennen lernen. Es geht nicht darum, dass Df ihnen dies beweisen müsste. Die Konklusion von Cf wird von der
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Gruppe zunächst nicht weiter aufgegriffen oder kommentiert. Vielmehr wird sie an dieser Stelle abgebrochen, indem irrelevante Nebenthemen in den Vordergrund gerückt werden (Z. 3429-3502). Der Appell zur Reflexion über die Fragen von Menschlichkeit, Würde und Respekt sowie die Orientierung an der Gleichbehandlung aller wird aber in der Abschlusspassage in Form einer zusammenfassenden Konklusion der zentralen Orientierungen der Gruppe wieder aufgegriffen. Abschlusspassage: gelebte Werte und gesellschaftspolitische Ziele
Zum Ende der Diskussion gibt Yf den Impuls, dass die Diskutantinnen noch einmal die Möglichkeit haben, etwas zu thematisieren, was ihnen wichtig ist und das bisher noch nicht besprochen wurde (Z. 3809-3810). Diese Möglichkeit nutzt Ef, um die zentrale kollektive Orientierung der Gruppe noch einmal in Form eines Statements auszudrücken: ich find jeder Mensch sollte so akzeptiert werden wie er is und nich gleich so; (.) anders behandelt werden; (Z. 3812-3813). Noch während sie spricht, validieren zwei Diskutantinnen, darunter Df, das Gesagte. Direkt im Anschluss stimmen ebenso mehrere Teilnehmerinnen zu, so dass deutlich wird, dass es sich hier um eine kollektiv geteilte Orientierung handelt. Dass Ef diese als Diskussionsabschluss noch einmal anführt, verdeutlicht, dass auch sie – die über die Diskussion hinweg recht zurückhaltend war – der kollektiven Orientierung zustimmt. Ef greift erneut das anders behandelt werden mancher Menschen als eine gesellschaftliche Realität auf. Dieser wird als positiver Horizont eine wünschenswerte Orientierung an der voraussetzungslosen Akzeptanz aller Menschen entgegengestellt. Dass diese im Konjunktiv II formuliert ist, zeigt an, dass es eine bislang für die Gruppenmitglieder nicht erfüllte Situation darstellt. In ihr kommt ein Wunsch nach gesellschaftspolitischer Veränderung zum Ausdruck. Zudem nutzen die Diskutantinnen die Diskussion für eine Botschaft, die besonders im anschließenden Redezug von Df zum Ausdruck kommt: und die so- die ähm die sollen sich mal überlegen wie man sich so fühlt einfach von der- (.) mitten in der Straße einfach so (.) angepisst zu werden von jemanden so (.) vollgelabert zu werden man weiß bselbst nich wie man drauf ant- [. . . ] ((irritiert)) antworten soll (Z. 3825-3832)
Dfs Redezug kann gleichzeitig als Elaboration der gesellschaftlichen Realität der Andersbehandlung verstanden werden wie auch als Elaboration des Appells an die „Sie-Gruppe“ derjenigen, die für diese verantwortlich sind. Auch wenn Df diese Gruppe nicht expliziert, sondern vage von einem „die“ spricht, verstehe ich ihren
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Appell an die Dominanzgesellschaft gerichtet. Denn hier wird implizit deutlich, dass Df sich an diejenigen richtet, die das Gefühl mitten in der Straße einfach so angepisst zu werden von jemanden nicht persönlich kennen. Df fordert von der weißen Mehrheitsgesellschaft einen Perspektivenwechsel ein: die Mitglieder der „Sie-Gruppe“ sollen sich überlegen, wie man sich so fühlt in einer derartigen Situation. Damit generalisiert sie die emotionale Situation einer Erfahrung von rassistischer Diskriminierung und streicht deren Übertragbarkeit jenseits einer einmaligen, subjektiven Erfahrung heraus. Während Df spricht, platzt Ef mit einem lauten Lachen hervor, wodurch Df kurz irritiert ist. Das Auflachen bezog sich offenbar auf die Wortwahl Dfs, die bereits mehrfach aus der Gruppe heraus als unangebracht angemerkt wurde. An dieser Stelle reagiert Yf und bietet eine Reformulierung für das Wort ‚angepisst‘ an: also so ähm beleidigt werden (Z. 3836). Gleichwohl transportiert der Kraftausdruck ‚angepisst‘ viel stärker die emotionale Aufgeladenheit der Situation, die in Dfs Redezug zum Ausdruck gekommen ist und beschönigt die Übergriffigkeit der wiedergegebenen Situation weniger als der hochsprachliche Ausdruck ‚beleidigt‘. In der Folge führt Df ihre Elaboration des Appells an weiße Personen, sich in diejenigen hineinzuversetzen, die sie rassistisch diskriminieren weiter, indem sie einen Vergleich aufmacht: ich sag ja auch nich auf einmal zu (denen) so ((zitierend)) ey du hast voll die hässlichen Schuhe kannst dir nichts leisten, oder so; (1) und dann kommen die so ((zitierend)) ja für wie wieviel haben dich deine Eltern verkauft; (Z. 3842-3846)
Sie dreht die Perspektive um und führt aus, dass sie diejenigen, die sich ihr gegenüber übergriffig verhalten, schließlich auch nicht beleidige. Dabei greift sie als Beispiel den visuellen Marker hässlich[e] Schuhe als Anzeiger für die sozio-ökonomische Position einer Person heraus. Über die Ausgrenzungsmöglichkeit entlang des Machtverhältnisses Klassismus hat sich die Gruppe bereits zuvor verständigt. Die Konfrontation mit der Projektion, von den eigenen Eltern verkauft worden zu sein, scheint zwar nur bedingt vergleichbar mit einer fiktiven Umkehrung der Situation, in der der übergriffigen Person zugeschrieben wird finanz- und konsumschwach zu sein. Gleichwohl zeigt dieser Vergleichshorizont, dass es Df darum geht, die Situation nachzuvollziehen, in der sich Menschen befinden, die in der Öffentlichkeit plötzlich von unbekannten Personen diskriminiert werden. In der Abschlusspassage nehmen Solidaritätsbekundungen der übrigen Teilnehmerinnen mit Df noch einmal zentralen Raum ein (Z. 3850-3884). Die antimuslimischen verbalen Angriffe werden skandalisiert und als unverschämt (Z. 3880)
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und respektlos (Z. 3882) eingeordnet. Damit wird expliziert, was sich in Dfs Darlegungen bereits dokumentiert hat: nämlich, dass es sich hier um Übergriffe auf die eigene Würde eines Menschen handelt. Dfs anschauliche Perspektivenumkehr hat diesen Aspekt herausgestrichen. Sie fordert ein, dass ihr mit demselben Respekt begegnet wird, wie sie es im gesellschaftlichen Miteinander für selbstverständlich hält. Dazu gehört die Orientierung an der Würde eines Menschen, gegenseitigem Respekt und der Gleichbehandlung aller. Nachdem die Gruppe sich hier abschließend ihrer kollektiv ablehnenden Haltung gegenüber rassistischen verbalen Übergriffen verständigt hat, beendet Yf die Diskussion und bedankt sich bei den Diskutantinnen. Besonders darin, dass die Diskutantinnen zum Abschluss von sich aus auf das Ziel gesellschaftlicher Veränderung zu sprechen kommen und an die Mehrheitsgesellschaft appellieren, sich der Problematik von Rassismus bewusst zu werden und sich in die rassistisch Markierten hineinzuversetzen, kommen die Stärke und der Veränderungswille der Gruppe Schuluniform zum Ausdruck. Es geht ihnen darum, Reflexionsprozesse anzustoßen, was auch bereits in der Äußerung Cfs zum Ausdruck gekommen ist, die auf einer Metaebene betont hatte, warum sie es gut finde über das Thema ‚natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit‘ zu sprechen: damit auch irgendwie andere Menschen erkennen dass (.) ähm Ausländer auch nur Menschen sind und das wir uns alle gleich behandeln sollten (Z. 3421-3427).
Damit kann – bezogen auf die Gruppendiskussion selbst – gesagt werden, dass die Schülerinnen diese nutzen, um einen weiteren Kreis an Menschen zu erreichen. Bei diesen möchten sie Bewusstwerdungsprozesse erreichen im Hinblick auf das kollektiv geteilte Ziel der Gruppe, Gleichbehandlung in ihrer Unterschiedlichkeit zu erreichen. Ihnen geht es darum, sich für eine in Aussicht gestellte Akzeptanz nicht zunächst ändern zu müssen. Vielmehr müsse diese Akzeptanz bedingungslos gewährleistet sein. Damit steht ihre Orientierung der Orientierung an Assimilation der Gruppen Klavier und E-Sports fundamental entgegen. Während letztere sich daran orientieren Migrationsanderen Kriterien vorzuschreiben, die diese vermeintlich erfüllen müssen, um sich in Deutschland legitim aufzuhalten und nicht als Integrationsverweiger_innen zu gelten – was selbstverständlich nicht für weiße fraglos Deutsche gilt –, fordert die Gruppe Schuluniform demgegenüber eine bedingungslose Akzeptanz und Gleichbehandlung in ihrer Unterschiedlichkeit. Eine Akzeptanz, die die Gruppen Klavier und E-Sports lediglich dann in Aussicht stellen, wenn nach den von ihnen wie selbstverständlich präsentierten Kriterien und
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nach der eigenen Einschätzung bezüglich der Erfüllung dieser Migrationsandere als ausreichend integrationswillig und/oder integriert gelten. Dass dies kaum erreichbar erscheint und bei beiden Gruppen zur Aberkennung von Rechten führt, habe ich dort bereits aufgezeigt.
6.4 O RIENTIERUNGEN
ZUM U MGANG MIT MIGRATIONSGESELLSCHAFTLICHER D IFFERENZ
In der Gruppendiskussion Schuluniform werden natio-ethno-kulturelle Differenzerfahrungen, Othering- und Rassismuserfahrungen Thema. Jenseits der kollektiven Orientierungen, die sich in einem engeren Sinne auf Umgangsweisen mit Rassismuserfahrungen beziehen, kommen auch in einem weiteren thematischen Kontext Umgangsweisen mit migrationsgesellschaftlicher Differenz zum Ausdruck. Die zentralen Orientierungen, die sich in der Gruppe Schuluniform diesbezüglich dokumentiert haben, seien im Folgenden zusammenfassend dargestellt. Durch den Filmimpuls wird eine Orientierung an der Positionierung als „anders“ vorgeschlagen, die von den migrationsanderen Diskutantinnen der Gruppe Schuluniform aufgegriffen und am eigenen Beispiel validiert wird. Hiervon ausgehend ist deutlich geworden, dass sich die migrationsanderen Teilnehmerinnen am exklusiven hegemonialen Verständnis von natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit im Kontext der deutschen Gesellschaft orientieren. Entsprechend der hegemonialen migrationsgesellschaftlichen Relevanz der Unterscheidung von weißen Deutschen und Migrationsanderen arbeiten sie sich hauptsächlich an der natio-ethnokulturellen Zugehörigkeitsebene ab, während der lokalen Identifikationsebene eine untergeordnete Bedeutung zugewiesen wird. Die Orientierungen, die sie jeweils zur Positionierung als „Andere“ führen, sind dabei unterschiedlich. Df steht offensiv zu der Position der Migrationsanderen und hat sich entschieden, sich den hegemonialen Assimilationserwartungen nicht zu unterwerfen, sondern ihr Abweichen vom vermeintlichen natio-ethno-kulturellen Prototypen der_s Deutschen nicht zu verstecken. Für Bf stellt die Kommunikation einer „anderen“ natio-ethnokulturellen Zugehörigkeit einen pragmatischen Weg dar, der es ihr ermöglicht eine Prekarisierung der eigenen Identität zu umgehen. Sie passt ihr Kommunikationsverhalten strategisch an die mehrheitsgesellschaftlichen Erwartungen an und vermeidet so Situationen, in denen ihre natio-ethno-kulturelle Identität von außen infrage gestellt wird und in denen sie sich erklären muss. Cf orientiert sich in ähnlicher Weise an einer pragmatischen Kommunikationspraxis, wenn sie situativ zwischen einer knappen Positionierung als „Andere“ und einer umfangreicheren
Kapitel 6: Gruppendiskussion Schuluniform | 439
Kommunikation von Mehrfachbezügen wählt. Damit kommen in diesen Positionierungen keinesfalls bloße Reifikationen der jeweils zugeschriebenen russischen oder afghanischen (bzw. türkischen im Falle Dfs) Identität zum Ausdruck, sondern vielmehr aktive Kommunikationsentscheidungen, die migrationsgesellschaftliche Zugehörigkeitsverhältnisse spiegeln sowie Erfahrungen mit und Haltungen zu diesen transportieren. Weniger deutlich ist die Orientierung bei Ef, die sich als „Afrikanerin“ positioniert. Auch hier wird aber der Bezug auf die migrationsgesellschaftlichen Differenzlinien im deutschen Kontext deutlich (vgl. Kap. 6.1.2) sowie eine Orientierung an der Gleichbehandlung in ihrer Unterschiedlichkeit (vgl. Kap. 6.3.2). Die Positionierungen der migrationsanderen Diskutantinnen sind dann sowohl als Ausdruck eines gesellschaftlichen Positioniertseins als auch einer aktiven Positionierung zu verstehen (vgl. BAQUERO T ORRES 2012: 320). Gemeinsam ist ihnen eine Orientierung an Respekt gegenüber selbstbestimmten individuellen Entscheidungen über die eigenen Loyalitäten (vgl. Kap. 6.3.2). Weiterhin kommt eine kollektiv geteilte Orientierung aller Gruppenmitglieder an der Analyse und De-Legitimation von Othering- und Rassismuserfahrungen zum Ausdruck. Rassismus wird gleichzeitig als erlebte Normalität und gesellschaftliche Realität sowie als illegitim wahrgenommen und eingeordnet. Die rassistisch markierten Diskussionsteilnehmerinnen erfahren damit Rassismus nicht einseitig in einer Opferposition, sondern setzen sich aktiv mit ihren Erfahrungen auseinander, verhalten sich widerständig und verfügen über Wissen und Umgangsstrategien diesbezüglich. Sie nehmen Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung und Ausgrenzung wahr und artikulieren diese, wobei unterschiedliche Begriffe zur Benennung (‚Klischees‘, ‚Ausgrenzung‘, ‚Akzeptanz‘, ‚Rassismus‘, ‚Ausländer_innenfeindlichkeit‘) verwendet werden oder auch auf eine begriffliche Klassifizierung verzichtet wird. Dabei ordnen sie sie analysierend als Erfahrungen ein, deren Gründe nicht auf die individuelle Person zurückzuführen sind, sondern vielmehr auf Kollektivrepräsentationen, die über die Gruppe kursieren, der sie jeweils zugeordnet werden und die dementsprechend auch auf sie projiziert werden. Bezüglich ihrer Erfahrungen mit Othering und Rassismus werden in der Gruppendiskussion sowohl Unterschiede als auch Gemeinsamkeiten erkannt. Als Bestandteil eines analytischen Wissens über Rassismus kann zudem verstanden werden, dass die Gruppe rassistisches Unterscheidungs- und Erklärungswissen größtenteils als (medial) gefestigte, in der Gesellschaft kursierende und fest verankerte Kollektivrepräsentationen analysiert statt diejenigen, die auf diese zurückgreifen als individuelle Rassist_innen zu pathologisieren. In Bezug auf Rassismus zeigt sich auch eine Orientierung an gegenseitiger Solidarität. Die Diskutantinnen bestärken sich gegenseitig in der Kritik von rassis-
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tischer Diskriminierung, tauschen sich über Strategien dagegen aus und bestärken sich weitgehend gegenseitig in der Einnahme einer gegenhegemonialen Perspektive. Dabei kommen auch antagonistische Umgangsstrategien zum Ausdruck, wie die Orientierung an einer hoffnungsvollen Vision von Diskriminierungsfreiheit auf der einen Seite und die Orientierung an der Akzeptanz von Diskriminierung als gegebene gesellschaftliche Realität auf der anderen Seite (vgl. Kap. 6.3.1). Beide stellen jeweils relevante subjektive Umgangsweisen mit Ausgrenzungserfahrungen dar. Deutlich wird zudem eine Orientierung an Religionsfreiheit, bei der die Gruppe die Religionsfreiheit bei von der vermeintlichen Norm abweichender religiöser Zugehörigkeit verteidigt. Zum einen erscheint Religionsfreiheit dabei als ein kollektiv geteilter gelebter Wert der Gruppe, zum anderen als eine gesellschaftspolitische Vision der Gruppe im Sinne einer Zielvorstellung, die gesellschaftlich bisher nicht realisiert ist. Diese beiden Komponenten werden auch in der kollektiven Orientierung der Gruppe an Gleichbehandlung in ihrer Unterschiedlichkeit deutlich. Auch diese Orientierung an gleicher Behandlung, gleicher Würde und Wertigkeit kann gleichzeitig als kollektiv geteilter gelebter Wert der Gruppe verstanden werden und als Vision eines gleichberechtigten migrationsgesellschaftlichen Zusammenlebens. Die gesellschaftspolitische Dimension der Orientierungen der Gruppe kommt darin zum Ausdruck, dass sie die Gruppendiskussion für einen Appell an die Dominanzgesellschaft nutzen, Rassismus wahrzunehmen und sich in ihre Position hineinzuversetzen. Es wird deutlich, dass sie die Gruppendiskussion als Möglichkeit verstehen, rassistische Diskriminierung sichtbar zu machen und Bewusstwerdungsprozesse bei weißen Deutschen anzustoßen. Der Rassismusforscher N GUYEN versteht Wissensbestände und Strategien zum Umgang mit Rassismuserfahrungen, wie sie sich in der Gruppendiskussion Schuluniform dokumentiert haben als Ressourcen und Ausprägungen eines stärkenden Widerstandskapitals, welches Migrationsandere in sozialen Gemeinschaften ausbilden (N GUYEN 2013a: 58–61). N GUYEN fasst unter Widerstandskapital auch konformistische und selbstschützende Strategien, die er allerdings als Teil individueller Widerstandsstrategien von solchen Strategien unterscheidet, die transformative Effekte haben können. Zu letzteren zählt er Widerstandsvermögen, das „mit einem Bewusstsein und einer Motivation für social and racial justice versehen ist“ (N GUYEN 2013a: 61). In der Gruppendiskussion Schuluniform lassen sich beide Formen von Widerstandsstrategien aufzeigen. Als Beispiel für eine individuelle, konformistische Strategie des Selbstschutzes kann die Positionierungsstrategie Bfs gelten, die ihre Kommunikationspraxis an das Ordnungsmuster für Zugehörigkeit anpasst, welches sie als hegemonial ausgemacht hat. Auf diese Weise
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vermeidet sie eine Prekarisierung ihrer Identität. Das ist bei der Gruppe Schuluniform deutlich der Fall. Insbesondere zeigen sich in der Gruppendiskussion allerdings Widerstandsformen, die über einen Selbstschutz hinausgehen oder sich sogar offensiv hegemonialen Erwartungen entgegenstellen wie im Falle von Dfs Selbstpositionierung. Mit der Positionierung als „Afghanin“ verwirft Df vielmehr bewusst die Strategie, sich durch Anpassung vor Ausgrenzung zu schützen und stellt sich offensiv der Gesellschaft entgegen, in der sie rassistisch markiert, zur „Anderen“ gemacht, ausgegrenzt und herabgesetzt wird. Es stellt für sie keine Alternative dar, sich den Erwartungen anzupassen, die eben nicht auf der Basis von Gleichberechtigung, sondern entlang eines gesellschaftlichen Machtgefälles geschehen. Sich in diese Erwartungsmuster selbst einzupassen würde bedeuten, diese zu bestätigen und zu stützen. Ihre marginalisierte Position ermöglicht es ihr demgegenüber, sich der Gesellschaft entgegenzustellen und diese mit ihren rassistischen Strukturen und Diskursen zu konfrontieren. Diese Orientierung Dfs an einer offensiven Form von Widerstand plausibilisiert denn auch die Vehemenz, mit der sie der Repräsentation der deutschen Gesellschaft als eine happy story gelingender Multikulturalität (A HMED 2007) entgegentritt. Die Glücksgeschichte, die hier erzählt wird, blendet nicht nur ihre Rassismuserfahrungen aus, sondern steht damit auch ihrer Widerstandsstrategie fundamental entgegen. Eine Vorstellung gegebener, funktionierender Multikulturalität kann als Wahrnehmungsfolie bzw. Deutungsgrammatik eine Konfrontation mit der lebensweltlichen Realität von Othering und Rassismus verunmöglichen und damit Dfs Widerstand ins Leere laufen lassen. Emanzipatorisch-widerständige Haltungen dokumentieren sich auch auf sprachlicher Ebene in Form eines „emanzipatorischen Kommunikations- und Handlungsstils“ (K ALLMEYER 2001: 401). So zeigen sich Normalitätsdemonstrationen aus der gesellschaftlich marginalisierten Eigenperspektive zum Beispiel, wenn die migrationsanderen Diskutantinnen selbstverständlich erklären, „Deutschland“ sei für sie nicht ihre „Heimat“ und eine Unterscheidung der Konzepte „Heimatstadt“ und „Heimatland“ praktizieren (s. Kap. 6.1.3). Dies irritiert die weiße deutsche Diskutantin Af, die die hegemoniale Perspektive einnimmt, nach der von Migrationsanderen eine Identifikation mit „Deutschland“ erwartet wird und eine NichtIdentifikation als Ablehnung verstanden wird. Der gesellschaftlich dominanten Perspektive unterwerfen sich die übrigen Diskutantinnen nicht. Stattdessen kann ihre Einnahme der marginalisierten Perspektive als widerständig verstanden werden. Die Modalität der Selbstverständlichkeit vermittelt dabei K ALLMEYER zufolge zudem ein Selbstbewusstsein (2001: 419). Die marginalisierte Perspektive kann sich in der Gruppendiskussion auch in Reaktion auf die projizierte vermeintliche
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„deutschenfeindliche“ Haltung durchsetzen (s. Kap. 6.1.4). Hier wird deutlich, dass die migrationsanderen Teilnehmerinnen die Gesprächskontrolle erringen und die thematischen Relevanzen bestimmen, so dass sich die von Af vorgeschlagene Orientierung an der Problematisierung der vermeintlich falschen Einstellung der Migrationsanderen aus der Diskussion eliminiert wird (K ALLMEYER 2001: 419). Anknüpfend an K ALLMEYER kann die Gegenwehr und die Übernahme der Situationskontrolle, die sich insbesondere im Redezug Dfs dokumentiert, als Umkehrung von Dominanzverhältnissen verstanden werden (2001: 418).
7. Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse: Reflexiv-transformative Potenziale für Bildungsprozesse
Im bisherigen Teil der Auswertung ging es darum, Erfahrungen und Perspektiven von Schüler_innen zu analysieren. Nachfolgend wird das Erkenntnisinteresse verschoben, sodass es nicht länger um eine Analyse von Ist-Zuständen bezüglich unterschiedlicher Erfahrungen und Orientierungen geht. Vielmehr wird nach Möglichkeiten der Veränderung im Hinblick auf die sozialen Differenzkonstruktionen, Grenzziehungen und Dominanzverhältnisse gefragt. Das empirische Material wird also unter einer „Transformationsperspektive“ (R IEGEL 2016: 143) betrachtet und rekonstruiert. Denn „nicht zuletzt ist für kritische Forschung die Frage von Bedeutung, wie zu einer Veränderung der vorherrschenden Verhältnisse beigetragen werden kann“ (R IEGEL 2016: 143). Diese Frage ist insbesondere im Kontext der vorliegenden Studie relevant, um Perspektiven für eine geographische Bildung auszuloten, die eine Reproduktion und Festigung von natio-ethno-kulturellen Grenzziehungen, Ausschlüssen und rassistischen Zuschreibungen durchbricht. Es geht um eine Relektüre der empirischen Ergebnisse unter gewendeter Fragestellung. Die Gruppendiskussionen werden angesichts der Festschreibung von natio-ethno-kulturellen Ab- und Ausgrenzungen sowie von rassistischer Dominanz, die sich aus postkolonialer Perspektive gezeigt haben, daraufhin befragt, welche Möglichkeiten erkennbar werden, die Differenz- und Dominanzreproduktionen aufzubrechen. Der forschende Blick wird also darauf gerichtet, nach Möglichkeiten der kritischen Befragung und Verschiebung dieser zu suchen. Die Überlegungen sind an der Frage orientiert, wie natio-ethno-kulturelle Abund Ausgrenzungen als gesellschaftliche Unterscheidungspraxen, die „der Schule über- und vorausgelagert“ (M ECHERIL 2015: 42) sind, in Bildungsprozessen adres-
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siert, hinterfragt und bearbeitet werden können. Und zwar auf eine Weise, die die unterschiedliche Involviertheit aller Beteiligten aufgrund ihrer gesellschaftlichen Positionierung mitdenkt und dazu beiträgt, Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft inklusiv zu konzeptualisieren. Es geht dabei darum, Abgrenzungen und Ausschlüsse nicht zu reproduzieren, zu festigen und unterrichtlich zu legitimieren, die Existenz solcher Prozesse aber gleichzeitig nicht auszublenden. Die bildungsbezogene Relektüre folgt der rassismuskritischen Prämisse, „dass es sinnvoll ist, nach Handlungs-, Erfahrungs- und Denkformen, die weniger Macht über Andere ausüben, Ausschau zu halten und sie wirklich werden zu lassen“ (M ECHERIL 2010c: 19). Konstitutiv für die Überlegungen ist eine reflexivemanzipatorische Grundperspektive auf Bildungshandeln, die eine Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten von Lernsubjekten zum Ziel hat, reflexiv ausgerichtet ist und als prozesshaft zu verankernd verstanden wird (s. Kap. 7.2.2). Im empirischen Material werden weniger konkrete Erfahrungen oder einzelne Narrative fokussiert als vielmehr grundlegende Prozesse der Differenzkonstruktion, Grenzziehung, Projektion, Dominanz und Normalisierung sowie der Hinterfragung, Subversion und De-Legitimation. Diese interessieren im Hinblick auf die Konzeptualisierung von Bildungsprozessen in ihren Effekten auf die Stabilisierung oder Verschiebung der hegemonialen Zugehörigkeitsordnung und ungleicher Machtverhältnisse in der Migrationsgesellschaft (vgl. a. R IEGEL 2016: 142). Ziel ist es Perspektiven für Bildungsprozesse auszuloten, die Lernenden Unterstützung anbieten, sich aus dominanten Wissensstrukturen im Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz hinauszubewegen1 . Dieses Ziel kann als ein postkoloniales Anliegen für Bildungsprozesse betrachtet werden (s. a. DANIELZIK 2013: 32). Eine beständige Wiederholung von hegemonialem Wissen zu vermeiden, ist allerdings nicht lediglich im Sinne einer postkolonialen Perspektive auf Bildung wünschenswert. Vielmehr entspricht dies auch dem didaktischen Anspruch, im Unterricht Mehrperspektivität zu ermöglichen (D EUTSCHE G ESELLSCHAFT FÜR G EOGRAPHIE (DG F G) 2014: 6; s. a. S CHRÖDER 2016b: 17). Eine besondere Aufmerksamkeit gilt daher im Folgenden den Irritationen von gesellschaftlich verfestigten Differenzkonstruktionen, die sich in den Gruppendiskussionen zeigen sowie dem emanzipatorischen Veränderungspotenzial, welches in der Gruppendiskussion Schuluniform eindrucksvoll zum Ausdruck kommt. Die veränderungsbezogene Relektüre geht daher einerseits über die rekonstruktive Analyse hinaus, andererseits schließt sie direkt an deren Ergebnisse an. Dabei
1 | Einzelne Erkenntnisse aus diesem Kapitel wurden auch in S CHRÖDER (2016a,b, 2017a) publiziert.
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kann sie lediglich Hinweise auf Veränderungsmöglichkeiten geben, indem sie auf Mechanismen und Umgangsweisen sowie deren Auswirkungen eingeht, die sich in der empirischen Untersuchung als relevant gezeigt haben. Das Kapitel ist folgendermaßen aufgebaut: Eingangs fokussiere ich die Reproduktionen dominanter Schemata der natio-ethno-kulturellen Unterscheidung, die sich in den Gruppendiskussionen gezeigt haben. Diese sind für Bildungsprozesse relevant, da sie zur Stabilisierung von Grenzen der Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft beitragen. Ich frage daher nach möglichen Anknüpfungspunkten für deren Dekonstruktion. Dieser Auswertungsteil bezieht auch die weiteren Gruppendiskussionen ein. Im Anschluss widme ich mich den Irritationen von hegemonialem Unterscheidungs- und Erklärungswissen, die in den Gruppendiskussionen zum Ausdruck gekommen sind. Hierbei steht die Frage im Vordergrund, wie es gelingen kann, Irritationen für Reflexionsprozesse produktiv zu machen. Abschließend diskutiere ich das transformative Potenzial der widerständigen Art und Weise des Umgangs mit und der Thematisierung von Rassismuserfahrungen, die sich in der Gruppendiskussion Schuluniform dokumentiert hat. Auch hinsichtlich der Widerstände frage ich danach, wie diese in Bildungsprozessen produktiv gemacht werden können und welche Hindernisse dabei relevant werden können.
7.1 R EFLEXION NATIO - ETHNO - KULTURELLER G RENZZIEHUNGEN UND Othering ERFAHRUNGEN „Ich wurde geboren in diesem Land, aber bleibe Immigrant.“ (H AYAT & M ATONDO 2013)
Zugehörigkeit verstehe ich im Anschluss an die empirische Untersuchung als bedeutsames Thema. Es hat sich bezüglich der unterschiedlichen Zugehörigkeitserfahrungen als lebensweltlich relevant erwiesen sowie als Thema, welches potenziell rassismusrelevant ist und bei welchem die Gefahr unterrichtlicher Reproduktionen von gesellschaftlich verfestigten Grenzziehungen besteht. Die empirische Untersuchung zeigt auch, dass die Gefahr besteht, bei diesem Thema einseitig die Zugehörigkeit migrationsanderer Schüler_innen zu diskutieren, die uneindeutig und verhandelbar erscheint, während die Zugehörigkeit Nicht-Migrationsanderer als fraglos gefestigt und normalisiert wird. Werden die Diskussionsimpulse durch die Interviewerin verglichen, mit denen sie die Gruppen Klavier, E-Sports und Schuluniform zur Diskussion des Filmausschnitts aufgefor-
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dert hat, wird deutlich, dass die Interviewerin daran beteiligt ist, die Zugehörigkeit Migrationsanderer zum Thema zu machen, während die Zugehörigkeit weißer Schüler_innen als eindeutig und fraglos dethematisiert wird. Damit trägt auch die Interviewerin dazu bei, dass die Zugehörigkeiten Migrationsanderer prekarisiert werden, indem Situationen entstehen, in denen diese von außen infrage gestellt und besondert werden. Die Normalität des „unmarkierten Hierseins“ (H ÖHNE 2005: 601), die für diejenigen gilt, die als fraglos deutsch aus der Diskussion ausgenommen werden, wird ihnen verweigert. Auf diese Weise werden Annahmen über Norm und Abweichung gefestigt. Die Dramaturgie der Diskussionen E-Sports und Klavier zeigt, dass bei der Thematisierung der Zugehörigkeit Migrationsanderer auch die Gefahr besteht, dass rassismusrelevante Repräsentationen aufgerufen werden. Beide Gruppen konstatieren bezüglich der Selbstpositionierung des Filmprotagonisten eine mangelnde Identifikation mit Deutschland und eine vermeintlich zu starke Loyalität mit dem Herkunftsland seiner Eltern. Sie de-legitimieren seine Selbstidentifikationen vor der Deutungsfolie mangelnder Integriertheit bzw. Integrationsbereitschaft und rufen im Anschluss daran weitere hegemoniale Repräsentationen der Makelbehaftung auf, die sie auf den Filmprotagonisten und generalisiert auf Migrationsandere projizieren. Die weißen Mitglieder der Gruppen Klavier und E-Sports sehen sich dazu berechtigt, Migrationsandere im Hinblick auf deren Integriertheit zu kontrollieren und diese symbolisch zu sanktionieren, wenn ihnen keine ausreichende Integriertheit gegeben scheint bzw. für sie keine ausreichenden Anstrengungen in Form von Assimilation erkennbar sind. Dies kann – wie in den beiden Gruppendiskussionen geschehen – zu einer rassismusrelevanten Situation führen, bei der Migrationsandere in ihren Möglichkeiten sozial legitimierter Selbstpositionierung eingeschränkt werden, ihnen Rechte wie das Recht auf legitime Anwesenheit und die Äußerung von Kritik an „Deutschland“ aberkannt werden und ihnen gegenüber herabsetzende Zuschreibungen aufgerufen werden. Die Gefahr einer einseitigen Diskussion von Zugehörigkeitspositionierungen Migrationsanderer, bei der Zugehörigkeit fraglich gemacht wird oder Selbstpositionierungen vor dem Hintergrund von Assimilationserwartungen beurteilt und de-legitimiert werden, gilt es bei der Konzeption von Bildungsprozessen zu bedenken. Ziel einer Beschäftigung mit Zugehörigkeit in Bildungsprozessen in der Migrationsgesellschaft ist nicht die einseitige Diskussion von Zugehörigkeiten Migrationsanderer. Es erscheint vielmehr wichtig, auch die Konstruktionen des „Eigenen“ in das Blickfeld zu rücken (E GGERS et al. 2005; H A & S CHNEIDER 2014). In der Thematisierung, Bearbeitung und Erweiterung der Vorstellungen vom „Eigenen“ sehe ich daher eine notwendige Erweiterung des Blickfeldes für Bildungsprozesse
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zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz. Ziel ist dann eine kritische Befragung von ungleichheitsstrukturierenden Differenzkonstruktionen, die bestimmte Menschen als fraglos deutsch normalisieren und andere Menschen als (potenziell) nicht-deutsch markieren und deren Anwesenheit in Deutschland aus einem selbstverständlichen Zustand lösen und hinterfragbar machen. 7.1.1 Wirkmächtigkeit hegemonialer Zugehörigkeitsordnungen anerkennen Die rekonstruierten Gruppendiskussionen Klavier, E-Sports und Schuluniform zeigen, dass die Abgrenzung von „Deutschen“ und „Nicht-Deutschen“ für die teilnehmenden Schüler_innen ein relevantes Unterscheidungsmuster darstellt. Im Zentrum steht die Kategorie ‚Deutsche‘, von der aus Abweichungen bestimmt werden. Dies kommt in der Benennung von „Deutschen“ und „Ausländer_innen“ zum Ausdruck. Insbesondere, dass die Gruppen Klavier und E-Sports die Begriffe „Ausländer_innen“, „Türk_innen“, „Südländer_innen“, „Muslim_innen“ kaum trennscharf und weitgehend synonym verwenden, deutet darauf hin, dass es hier um deren Markierung als „nicht-deutsch“ geht und nicht etwa um spezifische natio-ethno-kulturelle Gruppenzugehörigkeiten. Es handelt sich um ein Schema der Unterscheidung in „Deutsche“ und von „Deutschen“ abweichende rassifizierte „Andere“, in dessen Zentrum die Kategorie ‚deutsch‘ steht und welches um die Trennlinie von ‚deutsch‘ und ‚nicht deutsch‘ organisiert ist. Dieses Schema der Unterscheidung strukturiert nicht nur die Zuweisungen von (Nicht-)Zugehörigkeit, die die Gruppen Klavier und E-Sports anderen gegenüber vornehmen. Es strukturiert ebenso die Zugehörigkeitspositionierungen der migrationsanderen Teilnehmerinnen in der Gruppendiskussion Schuluniform, die sich am exklusiven Verständnis von natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit im Kontext der deutschen Gesellschaft orientieren. Und nicht zuletzt strukturiert es auch das Dominanzverhältnis, in dem sich die weißen, fraglos zugehörigen Schüler_innen der Gruppen Klavier und E-Sports legitimerweise berechtigt fühlen, eine kontrollierend-sanktionierende Haltung bezüglich der natio-ethno-kulturellen Identifikationen Migrationsanderer einzunehmen und ihnen kein voraussetzungsloses Recht auf legitime Anwesenheit auf deutschem Territorium zuzuerkennen (s. Kap. 5.5). In Bezug auf Möglichkeiten kritisch-intervenierender Bildung ist insbesondere relevant, dass dieses Schema der Unterscheidung und Differenzmarkierung gesellschaftlich so verfestigt ist, dass es auch die Erfahrungen der rassistisch markierten Schüler_innen in der deutschen Gesellschaft prägt. Es hat einem hegemonialen Status. Nicht nur die migrationsanderen Diskutantinnen in der Gruppe Schuluniform,
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sondern auch der Schwarze Schüler Cm in der Gruppendiskussion Fußball und die migrationsanderen Diskutantinnen der Gruppe Special legen Erfahrungen mit Othering, verweigerter Zugehörigkeit und zugeschriebenen herabsetzenden Verhaltensweisen dar. Der hegemoniale Status bedeutet keineswegs, dass eine Verschiebung der dichotomen Trennungsweise nicht möglich ist. Sie kann sich allerdings machtvoll immer weiter reproduzieren und normalisieren, wenn sie nicht hinterfragt wird. Zugleich kann sie nicht einfach unterrichtlich dekonstruiert werden, ohne die gesellschaftliche Wirkmächtigkeit der Ab- und Ausgrenzung anzuerkennen. Denn, wenn es eine stetige Erfahrung Migrationsanderer ist, in alltäglichen Interaktionen als nicht deutsch kategorisiert, adressiert und ausgegrenzt zu werden, dann stellt dies für die solchermaßen befremdeten und marginalisierten Individuen eine konkrete, eine „wahr gewordene“ (L OSSAU 2002: 178) und daher „reale“ Differenz dar (s. a. S CHRÖDER 2016b: 20). 7.1.2 Biologistische Differenzmarkierungen und die Imagination des Eigenen als relevante Foki für Dekonstruktionsarbeit Die Konstruktion von „Deutschen“ als weiße, homogene Gruppe haben nicht nur die weißen Gruppen Klavier und E-Sports als vermeintlich selbstverständlich verinnerlicht. Auch der Beginn des Gruppengesprächs Facebook ist ein Beispiel dafür, wie natürlich und evident es einigen Schüler_innen erschien, dass Migrationsandere nicht „deutsch“ seien. In der Gruppe Facebook positionieren sich zwei der Teilnehmerinnen als „Deutsche“ und die dritte als „Afghanerin“. Die Vorstellung, Migrationsandere könnten sich als „Deutsche“ verstehen, erscheint den drei Diskutantinnen abwegig: 25 26
Af:
bkeiner sagt er is Deutscher; nur weil
er hier aufgewachsen is
27 28
Yf: < mhm> (12)
29 30
Yf: ◦ warum macht man das so?◦
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?: ◦ (ich hab keine Ahnung)◦
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Yf: habt ihr irgendwie, (.) Beispiele oder so?
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Af: ja weil die Eltern halt nich aus Deutschland kommen;
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denn, (.) ham die Kinder das ja auch im Blut, (oder bso)
37 38 39
bund
Cf: sie reden bestimmt auch nich zu Hause Deutsch;
40 41 42
Yf: mhh okay,
43 44
Af: das wär ja auch komisch wenn jeder sagen würde
45
ich bin Deutscher; (.) also jeder einzelne;
46
weil,b
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Bf:
b< es=is ja nich so;>
49 50 51
Af: ja die sehn ja auch nich so aus wie Deutsche, die meisten
Wie auch die Gruppen Klavier und E-Sports wird im obigen Beispiel eine Orientierung an der vermeintlichen Sichtbarkeit von natio-ethno-kultureller Gruppenzugehörigkeit deutlich, entlang derer „Wir-“ und „Sie-Gruppe“ unterschieden werden. Die Personengruppen werden als „an sich“ existent imaginiert und erscheinen selbstverständlich (visuell) erfassbar. Die „Sie-Gruppe“ wird in Abgrenzung zur „Wir-Gruppe“ konstruiert. Relevant ist in erster Linie ihre Markierung als abweichend vom rassifizierten „Eigenen“. Von diesem Standpunkt aus werden alle, die nicht in die rassifizierte Kategorie „Deutsche“ passen als „anders“ markiert und aus der „Wir-Gruppe“ hinausverwiesen. Die Unterscheidung von „Deutschen“ und „Migrant_innen“/„Ausländer_innen“/„Menschen mit Migrationshintergrund“ und die Imagination einer homogenen „Wir-Gruppe“ der „Deutschen“ werden hier naturalisiert. Auf diese Weise werden „auch die zweite und dritte Generation der Nachkommen von Migranten auf den Status des Migriertseins fixiert“ (M ESSERSCHMIDT 2008: 6). Eine Aufgabe für eine veränderte Bildungspraxis zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz wäre die Thematisierung und Problematisierung von Markierungen als „nicht deutsch“ und der Verweigerung von Zugehörigkeit. Die rekonstruierten Gruppendiskussionen geben dabei folgende Hinweise auf lebensweltlich wirksame Faktoren der Naturalisierung der rassifizierenden Differenzkonstruktion, auf die die Aufmerksamkeit in Bildungsprozessen gerichtet werden kann.
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In den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports und im Gruppengespräch Facebook wird das Anderssein der „Anderen“ vorausgesetzt. Es erscheint den weißen Diskutant_innen selbstverständlich evident. Der als „anders“ markierte Körper fungiert als ein machtvoller Faktor der Naturalisierung der vermeintlichen Differenz: Die „Südländer_innen“ erscheinen per se existent, da sie ja „gesehen“ werden. Dabei rückt die Selektivität der physiognomischen Differenzmarkierung in den Blick. Als „anders“ markiert werden rassifizierte „Andere“, die nicht dem Konstrukt von „Deutsch-Sein“ als Weißsein entsprechen. Mit rassistisch markierten Physiognomien kann man dann nicht „deutsch“ sein und wird aus der imaginierten „Wir-Gruppe“ der „Deutschen“ hinaus verwiesen. Weißsein dokumentiert sich in der empirischen Untersuchung also als eine Voraussetzung für Deutsch-Sein. Dies bekräftigt die Bedeutung, die W OLLRAD der Einblendung von Körpern in die kritische Beschäftigung mit Differenzmarkierungen beimisst: „Nach wie vor erschafft Rassismus Körper als visuelle »Evidenz« für Ausschluss oder Einschluss in die deutsche, als völkisch definierte Gemeinschaft“ (2005: 123). Eng mit dem verkörperten Differenzkonstrukt verwoben ist die biologistische Differenzmarkierung entlang des Abstammungsprinzips. Die Orientierung des Filmprotagonisten an der Vererbungsvorstellung von natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit wird von allen Gruppen geteilt. Dass das türkisch[e] Blut (Filmtranskript, Z. 41) für seine Zugehörigkeitspositionierung relevant sei, irritiert keine_n der jugendlichen Teilnehmer_innen. Dies verweist auf eine hohe lebensweltliche Wirksamkeit der rassistischen Imagination ethnisch homogener nationaler Volksgemeinschaften. Physiognomisch vermeintlich „sichtbar“ und anhand der „Abstammungsgeschichte“ vermeintlich rekonstruierbar wird so eine nahezu unaufhebbare Differenz konstruiert, die zudem natürlich und evident erscheint. „Deutsch“ ist in diesem Zugehörigkeitsverständnis eine rassifizierte, intern exklusive Kategorie. „Deutsche“ werden als homogene, weiße Gemeinschaft imaginiert. Zusätzlich wird die „Wir-Gruppe“ über die Annahme kultureller Differenzen nach außen abgedichtet. Kultur wird dabei in den Diskussionen unterschiedlich inhaltlich gefüllt. Als relevanter visueller Zugehörigkeitsmarker dokumentiert sich in mehreren Diskussionen der Hidschab, der als religiös-kultureller Marker verstanden wird, der im „Außerhalb“ verortet wird und als sich ausschließend mit „Deutsch-Sein“ konstruiert wird. In allen Diskussionen wird Sprache als relevantes Kriterium der Abweichung vom imaginierten „natio-ethno-kulturellen Prototyp[en]“ (M ECHERIL 2003: 203) gesehen. Eine nicht-deutsche Familiensprache (vgl. G Facebook oben und GD Schuluniform), Sprachkenntnisse in der Herkunftssprache eines migrationsanderen Elternteils (vgl. GD E-Sports über die Italienischkenntnisse Bms) sowie ethnolektales Deutsch bzw. unterstellte Deutsch-
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defizite (vgl. GD Klavier) werden in den Gruppendiskussionen als Marker von Differenz verstanden und orientieren die Einordnung als zugehörig oder nicht zugehörig. So wird für die Kategorisierung von Bm als „eigentlich Deutscher“ in der Diskussion E-Sports relevant gesetzt, dass er kein Italienisch spreche. Für Df wiederum ist die nicht-deutsche Familiensprache ein relevantes Kriterium für die Entscheidung, sich nicht länger als Deutsche zu positionieren, sondern zu ihrer „Abweichung“ zu stehen. Die biologistische und die kulturalisierende Dimension sind verschränkt, wenn phänotypische Kategorisierungen und Differenzzuschreibungen sowohl für sich genommen die Ausgrenzung aus dem „Wir“ unüberwindlich machen, als auch mit der Zuschreibung einer absolut anderen Kultur einhergehen. Dass die Gruppe E-Sports die Differenzdimensionen nicht trennt, wird auch darin deutlich, dass sie „Aussehen“ als ein Merkmal von Kultur verstehen. Ich sehe daher zwei grundlegende Implikationen für die reflexiv-kritische Beschäftigung mit rassistischer Ein- und Ausgrenzung in Bildungsprozessen. Diese sind untrennbar verwoben, werden in der Darstellung aber dennoch analytisch unterschieden. Erstens erscheint es relevant, dass der Körper als „Haftpunkt für Differenzlinien“ (W OLLRAD 2005: 49) sowie das biologistische Abstammungsprinzip alltagsweltlich eine zentrale Rolle bei der Kategorisierung und Markierung von Menschen als zugehörig oder nicht zugehörig spielen. Es erscheint daher notwendig, sich in Bildungsprozessen physiognomischen Markern von Differenz und biologististischen Zugehörigkeitsvorstellungen entlang des Abstammungsprinzips zuzuwenden. Dabei zeigen die Gruppendiskussionen nicht nur, dass Grenzziehungen entlang biologistisch-physiognomischer Differenzmarker vorgenommen werden, sondern darüber hinaus auch, dass kulturelle und physiognomische Differenzkonstruktionen ineinandergreifen und miteinander verwoben sein können. Eine Problematisierung der vermeintlich selbstverständlichen Konstruktionen des „Eigenen“ und der natio-ethno-kulturellen Grenzziehungen sollte also die kulturelle wie auch die physiognomisch-biologistische Dimension und deren Verschränkungen umfassen. Zweitens sollte beim Thema Zugehörigkeit auf eine Erweiterung des Diskussionsfokus geachtet werden, sodass nicht Zugehörigkeit der „Anderen“, sondern Zugehörigkeit an sich zum Thema wird. Gegenstand wäre dann die Imagination des „Eigenen“ in ihren relationalen Bezügen und ein- und ausgrenzenden Auswirkungen sowie Möglichkeiten der Veränderung (s. a. S CHRÖDER 2016b: 24). In den Diskussionen Klavier, E-Sports und Schuluniform ist auch eine räumliche Dimension der Imagination des „Eigenen“ zum Ausdruck gekommen. Die ethnisch
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und kulturell homogen weiß imaginierte „Wir-Gruppe“ wird in den Gruppendiskussionen E-Sports und Klavier im „Hier“ verortet und Deutschland als originäres Territorium der „Wir-Gruppe“ verstanden. Migrationsanderen wird kein bedingungsloses Recht auf Anwesenheit auf dem Territorium zugestanden, welches als Territorium der voraussetzungslos legitim anwesenden „Wir-Gruppe“ imaginiert wird. Die Gruppe Schuluniform setzt sich mit Erfahrungen auseinander, als „Andere“ des „Wir“ verstanden zu werden und aus dem „Hier“ hinaus verwiesen zu werden. Es erscheint daher für reflexive Bildungsarbeit relevant, die imaginative Geographie Deutschlands als originäres Territorium einer ethnisch und kulturell homogenen, weißen „Wir-Gruppe“ zu problematisieren und dekonstruieren, in der Kultur, Raum und ein biologistisch konstruiertes „Volk“ deckungsgleich gedacht werden. Diese geographische Imagination kann historisch mit Bezug auf Berührungspunkte zu nationalsozialistischen Idealen oder hinsichtlich der Folgen für ausgegrenzte Migrationsandere und die Machtverhältnisse in der heutigen Gesellschaft problematisiert werden. Sie kann ebenfalls als eine Imagination analysiert werden, die gegenwärtig wie historisch gesehen auf Ausblendungen fußt, denn nicht nur heute, sondern auch historisch gesehen, blendet sie die ethnisch-kulturell heterogene gesellschaftliche Realität aus (W OLLRAD 2005: 122; s. a. O GUNTOYE et al. 2016; BADE & O LTMER 2004). Sie tritt zudem in Spannung zu der von Migrationsanderen erwarteten Integration bzw. Assimilation. Nachfolgend gehe ich zunächst auf die Ausblendung der gesellschaftlichen Heterogenität in der heutigen Gesellschaft (Kap. 7.1.3) sowie auf die widersprüchliche Assimilationserwartung (Kap. 7.1.4) als mögliche Anknüpfungspunkte für die Reflexion der Imagination des „Eigenen“ als homogen genauer ein. Auf die Thematisierung von Auswirkungen der Zugehörigkeitslogik für Migrationsandere komme ich in Kapitel 7.1.8 zu sprechen. 7.1.3 Fragilität der Imagination des „Eigenen“ als homogen Die Imagination innerer Homogenität stimmt mit der Heterogenität der deutschen Gesellschaft nicht überein. Ihre Infragestellung wird aber durch die Prozesse der Grenzziehung immer wieder abgewehrt (M ESSERSCHMIDT 2008: 6). In der empirischen Untersuchung haben sich denn auch sowohl die Wirkmächtigkeit der exklusiven Homogenitätsvorstellung dokumentiert als auch deren Fragilität. Dass die Imagination von Deutschland als Territorium der homogenen „WirGruppe“ fragil und irritierbar ist, da sie mit der gesellschaftlichen Realität nicht übereinstimmt, kommt zum Beispiel in der Gruppendiskussion E-Sports zum Aus-
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druck. Dort kommt es zu einem Moment der Unklarheit, welche Personengruppe mit dem Begriff „Ausländer_in“ genau bezeichnet wird. Die Gruppe greift zur Präzisierung der Kommunikation auf die Abgrenzung wirkliche[r] Ausländer von Türken und so zurück: wirkliche Ausländer; also, Leutenähm Türken und so nich dazugezählt (.) also Ausländer, die (.) hier sind (.) um hier (.) kurz zu leben (GD E-Sports, Z. 26762678). Hier dokumentiert sich, dass der Begriff „Ausländer_in“ auf Migrationsandere nicht passt, aber dennoch für sie verwendet wird. Er dient – als Bezeichnung für Migrationsandere verwendet – zur Markierung einer Position außerhalb der „Wir-Gruppe“. Dass diese aber „eigentlich“ „Inländer_innen“ sind, wird in dieser Passage der begrifflichen Unklarheit deutlich und kann als Ausganspunkt für eine kritische Analyse der Konstruktion der imagined community der „Deutschen“ als homogen dienen. Die Fragilität der Konstruktion „Deutschlands“ als Raum der homogenen „WirGruppe“ kommt in der Gruppe Klavier zum Ausdruck, als eine Diskutantin sich mehrfach reformuliert, um das „Wir“ zu konkretisieren, auf das sie referiert. Hier dokumentiert sich der begriffliche Aufwand, der zur Abgrenzung des homogenisierten, rassifizierten „Wir“ notwendig wird. Inhaltlich geht es in der Passage darum, dass es respektlose Menschen sowohl unter Migrationsanderen als auch unter weißen gebe. Die Schülerin setzt zunächst an, die Respektlosigkeit, die sie zunächst Migrationsanderen zugeschrieben habe, zu relativieren, indem sie postulierte, dass dies auch auf Mitglieder der „Wir-Gruppe“ zutreffe: also das is ja eigentlich so wie bei uns ◦ (so)◦ (GD Klavier, Z. 249). Das bei uns ist aber eine Formulierung, die nicht ausreicht, um zu verdeutlichen, auf welche Personengruppe hier genau referiert wird. Im Folgenden präzisiert die Schülerin daher die „Wir-Gruppe“ als diejenige, die hier zuhause sei: also das is ja eigentlich so wie bei uns ◦ (so)◦ die hier sozusagen zuhause sind; (GD Klavier, Z. 249-250). Die „Wir-Gruppe“ wird versucht von der Gruppe Migrationsanderer dadurch abzugrenzen, dass sie in Deutschland verortet wird. Die hier aufgerufene geographische Imagination Deutschlands als Territorium der rassifizierten „Wir-Gruppe“ wird allerdings in der Folge eingeschränkt: ◦ die sind hier ja auch zuhause; (GD Klavier, Z. 250-251). Der Schülerin ist durchaus bewusst, dass diese geographische Imagination nicht zutreffend ist und nicht ausreicht, um den Bereich des Bezeichneten auf die Gruppe einzugrenzen, auf die sie referiert. Das „Wir“, das im Hier „zuhause“ ist, ist umfassender als das homogen weiße „Wir“. Es braucht also weitere Reformulierungen: aber die (.) jetzt nich so aussehen als würden sie hier zuhause sein;◦ (GD Klavier, Z. 251-252). In dieser letzten reformulierenden
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Präzision des Bezeichneten kommt prägnant die rassifizierende Konstruktion des „Wir“ zum Ausdruck, die auf eine körperlich-visuelle Differenzmarkierung zurückgreift. Gleichzeitig zeigt der Reformulierungsaufwand aber auch an, dass die Kategorie brüchig ist und eine Konstruktion von Deutschland als Territorium einer homogen weißen „Wir-Gruppe“ nicht mit der Heterogenität der deutschen Gesellschaft übereinstimmt: 248
Cf: aber das is ja immer so teils teils; das gibt ja so,
249
also das is ja eigentlich so wie bei uns ◦ (so)◦ die
250
hier sozusagen zuhause sind; ◦ die sind hier ja auch
251
zuhause; aber die (.) jetzt nich so aussehen als
252
würden sie hier zuhause sein;◦ äh:m (.) das gibs
253
ja beides; also es gibt auch Deutsche die so
254
respektlos sind und bähmc
255 256
Af?:
bja:c
257 258 259
Cf:
(.) ◦ immer beleidigen und es gibt denn eben auch Türken oder (.) Ausländer
In den dargelegten Gruppendiskussionssituationen kommen Brüche in der Imagination des „Eigenen“ als homogen zum Ausdruck, an denen eine kritische Reflexion ansetzen kann. 7.1.4 Widersprüche zwischen Exklusivität und Assimilationserwartung Für Bildungsprozesse kann insbesondere die Bewusstmachung des Widerspruchs zwischen den exklusiven Bedingungen für Zugehörigkeit und den hegemonialen Assimilations- bzw. Identifikationserwartungen einen Anknüpfungspunkt zur Hinterfragung und Problematisierung der Zugehörigkeitsordnung darstellen. Auch Astrid M ESSERSCHMIDT (2010b: 38) sieht hier einen Ausgangspunkt für interkulturelle Bildung. Denn, wenn es zu den prägenden Alltagserfahrungen Migrationsanderer gehört, nicht als legitime_r Deutsche_r anerkannt zu werden, und wenn in der Gesellschaft Ausgrenzungsprozesse normal und selbstverständlich erscheinen, dann wird es fragwürdig von Migrationsanderen eine Identifikation mit dieser Gesellschaft zu erwarten und Integration als gesamtgesellschaftliches Anliegen zu behaupten (s. a. M ESSERSCHMIDT 2010b: 38). Hier kann Bildung ansetzen und
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 455
zur Analyse und Kritik von ausgrenzenden Strukturen und Handlungen anregen (M ESSERSCHMIDT 2010b: 38). In den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports dokumentieren sich widersprüchliche Bedingungen für die Zugehörigkeit Migrationsanderer. Die Gruppen E-Sports und Klavier orientieren sich am Abstammungsprinzip. Sie konstruieren so eine unaufhebbare biologistische Differenz zwischen „Wir“ und „NichtWir“ und eine physiognomisch erkennbare Zugehörigkeit zum „Wir“. Sie weisen dementsprechend Migrationsanderen „Anderssein“ zu. Gleichzeitig erwarten sie aber entlang einer Orts-Logik von Migrationsanderen, dass diese sich als „Deutsche“ identifizieren und zu Deutschland loyal sind (GD Klavier) bzw. sich umfassend assimilieren (GD E-Sports). Diese Orientierungen treten in drei verschiedenen Ausprägungen zueinander in Widerspruch: •
•
•
Unerreichbare Assimilationserwartung: Die Erwartung an Migrationsandere, sich umfassend zu assimilieren widerspricht deren Markierung als unveränderlich different. Das Verständnis von Assimiliertheit beinhaltet in der Gruppendiskussion E-Sports u. a. das biologistische Moment des „deutsch Aussehens“. Zugleich wird die imaginierte community der „Deutschen“ über die Konstruktion einer kulturell-religiös-historischen Differenz nach außen abgedichtet. Identifikationserwartung bei gleichzeitiger Verweigerung von Zugehörigkeit: Die Erwartung an Migrationsandere, sich als „Deutsche“ zu identifizieren und zu Deutschland zu bekennen tritt in Widerspruch zur eigenen Nicht-Identifizierung Migrationsanderer als „Deutsche“ sowie dazu, dass ihnen kein bedingungsloses Recht auf Anwesenheit in Deutschland zugestanden wird. Gebrauch differenzbetonender Fremdbezeichnungen versus Verweigerung von differenzbetonenden Selbstbezeichnungen: Während Migrationsandere durchgängig als „Ausländer_innen“ oder „Türk_innen“ etc. bezeichnet werden, werden differenzanzeigende migrationsandere Selbstbezeichnungen („Ein Achtel Türk_in“) diskreditiert.
Der geforderten imperativen Assimilation Migrationsanderer an das „Wir“ wird also ein mehrfach abgedichtetes „Wir-Konstrukt“ entgegengestellt, das keinen Raum für natio-ethno-kulturelle Heterogenität lässt. Sie ist kaum erreichbar. Wird die konstruierte, nahezu unüberwindbare Differenz nicht bewusst gemacht und dekonstruiert, kann die einseitige Forderung nach Veränderung an die „Anderen“ perpetuiert werden. Dies kann in mehrfacher Hinsicht als rassismusrelevant verstanden werden. Wird die rassifizierte ausgrenzende Zugehörigkeitsordnung nicht hinterfragt, kann sie in der Wiederholung und Naturalisierung gefestigt werden. Othering und ras-
456 | Zugehörigkeit und Rassismus
sistische Ausgrenzungen können so als normal erscheinen und mit vermeintlicher (visueller) Evidenz legitimiert werden. Zudem wird auf diese Weise das Machtungleichgewicht genährt, das durch eine verstetigte Identifikations- und Integrationserwartung an die Adresse Migrationsanderer bei gleichzeitiger Verweigerung von Zugehörigkeit gekennzeichnet ist. Zusätzlich führt das Aufrufen des Erklärungswissens mangelnder Identifikation mit dem Hier in den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports zu weiteren Assoziationen von Mängeln, die auf Migrationsandere projiziert werden. Es entsteht eine Dynamik von generalisierten herabsetzenden Zuschreibungen und Empörung über Migrationsandere, im Zuge derer es auch zu symbolischen Aberkennungen von Rechten kommt. Die zugeschriebenen Einstellungen und Mängel lassen wiederum die eigene Empörung und symbolische Disziplinierung Migrationsanderer legitim erscheinen. Die herabsetzenden Zuschreibungen dienen also auch der Legitimation des rassistischen Dominanzverhältnisses. Im Anschluss an die Bewusstmachung der Unerreichbarkeit der Assimilationserwartung können sowohl die exklusive Konzeption des „Eigenen“ als auch das Konzept der Assimilation als kontingente und problematische Konzepte behandelt und vertieft werden. Das Konzept der Transnationalität bietet sich an, um dem in öffentlichen Diskursen hegemonialen Konzept der Assimilation als Grundlage für Vergesellschaftungsprozesse ein alternatives Verständnis von sozialräumlichen Beziehungen entgegen zu halten. Die Potenziale der transnationalen Perspektive für die Auseinandersetzung mit Assimilationserwartungen werden im nächsten Kapitel vertieft. 7.1.5 Von der Assimilationslogik zur transnationalen Inkorporation Die Perspektive Transnationalität ermöglicht es, Mehrfachbezüge zu normalisieren und dem Erklärungswissen mangelnder Identifikation eine andere Deutungsmöglichkeit zur Seite zu stellen. Wenn Migrationsandere Mehrfachbezüge artikulieren und sich nicht eindeutig oder exklusiv als „Deutsche“ positionieren, eröffnet diese Perspektive die Möglichkeit, die Sinnzuweisung eines Integrationsdefizits zu dezentrieren und in ihrer vermeintlichen Allgemeingültigkeit infrage zu stellen. P RIES (2010: 63–64) schreibt über die zentrale Schwäche von Assimilationsund Integrations-Modellen: „Sie untersuchen nur Formen der nationalstaatlichen Vergesellschaftung, weil sie die Perspektive auf geschlossene nationalstaatliche ‚Container‘-Gesellschaften [. . . ] übernehmen. Migration wird in diesen Modellen als ein biographischer Bruch betrachtet. Nach der
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 457
Phase der ersten Sozialisation im Herkunftsland folgt eine mehr oder weniger gelungene ‚zweite Sozialisation‘ im Ankunftsland. Zwischenlagen werden nur als temporäre Phasen im Prozess von dem einen zum anderen Pol aufgefasst.“
Dieses Verständnis von Migration und Assimilation bzw. Integration hat sich besonders deutlich in der Gruppendiskussion E-Sports und in Teilen auch in der Gruppendiskussion Klavier dokumentiert. Simultane multilokale Inkorporation in Form von Mehrfachverbindungen, -Identifikationen und -Loyalitäten ist in der Logik von Integration als Assimilation nicht vorgesehen. Sie kann vielmehr, wie die Gruppendiskussionen E-Sports und Klavier zeigen, als Integrationsdefizit verstanden und de-legitimiert werden. Eine Normalisierung von Mehrfachbezügen ist zum besseren Verständnis migrationsgesellschaftlicher Realitäten wichtig. Für Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft erscheint sie darüber hinaus insbesondere als gegenhegemoniale Perspektive bedeutsam, um dem Erklärungswissen unzureichender Assimilation bzw. Integration ein anderes Deutungsangebot zur Seite zu stellen. Ziel wäre es, eine Haltung der Assimilationserwartung und -kontrolle sowie der legitimen symbolischen Sanktionierung bei vermeintlich nicht ausreichender Assimiliertheit – wie sie sich in den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports dokumentiert – zu irritieren. Ein weiterer Vorteil der Perspektive Transnationalität wäre es, dass diese Migration nicht als einen Sonderfall sieht, sondern zu deren Normalisierung beitragen kann. Sie kann daher auch eine alternative Sicht auf Migrationsprozesse anbieten, die in den Gruppen Klavier und E-Sports als einmalige und dauerhafte Entscheidungen für und Urteil über das natio-ethno-kulturelle Gebilde der Zielgesellschaft verstanden wurden (s. Kap. 5.3.1). 7.1.6 Definitionsmacht Die widersprüchlichen Zugehörigkeitskonstruktionen und Assimilationserwartungen berühren ebenfalls die Frage der Definitionsmacht. Wessen Zugehörigkeit gilt als selbstverständlich, wessen nicht und wer darf bestimmen, wer wo zugehörig ist? Wer darf also über die Legitimität von Zugehörigkeitspositionierungen entscheiden? Die Gruppen E-Sports und Klavier diskutieren nicht über sich selbst und eigene Zugehörigkeitserfahrungen und -positionierungen, sondern in erster Linie über Migrationsandere und deren Zugehörigkeit. Der Diskussionsfokus auf die Zugehörigkeiten Migrationsanderer ist in der Diskussionsrahmung durch die Inter-
458 | Zugehörigkeit und Rassismus
viewerin bereits angelegt (s. o.). Damit wird ein vermeintlich selbstverständlicher Zugriff auf natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten Migrationsanderer reproduziert, bei dem diese zum vermeintlich legitimen Diskussionsgegenstand derjenigen erhoben werden, deren eigene Zugehörigkeit unmarkiert erscheint und nicht hinterfragt wird. Weißen Deutschen wird damit suggeriert, sie könnten legitimerweise die Zugehörigkeitspositionierungen Migrationsanderer hinterfragen und de-legitimieren. Diese erscheinen im Unterschied zu den Zugehörigkeiten weißer Deutscher als uneindeutig und diskussionswürdig. Auf diese Weise wird eine Konstruktion migrationsanderer Zugehörigkeiten als prekär gefestigt (M ECHERIL 2003: 299, s. a. Kap. 2.1.2). Anders als in den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports dreht sich die Diskussion Schuluniform um die eigene Selbstpositionierung der migrationsanderen Teilnehmerinnen sowie darum, von außen fremdpositioniert zu werden. Die aktive Positionierung anderer Menschen spielt hingegen keine Rolle. Die Teilnehmerinnen weisen selbst keine Zugehörigkeit anhand rassifizierter visueller Marker zu, haben aber z. T. Othering- und Rassismuserfahrungen, die sie auf eben diese zurückführen („Kopftuch“, „Hautfarbe“). Auch Erfahrungen mit der NichtAkzeptanz der eigenen Selbstpositionierung werden zum Thema. Während sich die weißen Diskutant_innen der Gruppen Klavier und E-Sports nicht selbst positionieren mussten, wird hier die eigene Zugehörigkeit zum Thema. In den Gruppendiskussionen zeigt sich ein grundlegendes Ungleichgewicht in der Definitionsmacht, welches die hegemonialen Zugehörigkeits- und Integrationsdiskurse widerspiegelt. Mehrheitsangehörige können über die legitime Zugehörigkeit Migrationsanderer zur Kategorie des „Eigenen“ bestimmen und haben die Möglichkeit, aus dieser auszuschließen. Gleichzeitig können sie Selbstbezeichnungen von Migrationsanderen, die das eigene „Anderssein“ betonen, als Integrationsdefizit delegitimieren. Identitäten von Migrationsanderen erscheinen damit verhandelbar und werden zu prekären Identitäten, während umgekehrt die Identitäten der Mehrheitsangehörigen nicht zur Diskussion stehen – sie erscheinen eindeutig und selbstverständlich (M ECHERIL 2003: 295; s. a. S CHRÖDER 2017a). Migrationsanderen kann damit das Anrecht auf selbstbestimmte Zugehörigkeitspositionierung verweigert werden. Bei der Thematisierung von Zugehörigkeit kann in natio-ethno-kulturell heterogenen Lerngruppen die Frage der Definitionsmacht auch in der direkten Interaktion der Beteiligten untereinander relevant werden. Dies ist auch in einer anderen Gruppendiskussion (GD Fußball) der Fall, an der zwei weiße und ein migrationsanderer Schüler teilnehmen. Dort wird die Frage der Zugehörigkeit der weißen Diskutanten Am und Bm zu Deutschland ausgeblendet. Sie erscheint selbstverständlich.
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 459
Die Zugehörigkeit des dritten, migrationsanderen Teilnehmers Cm hingegen wird von allen drei Beteiligten verhandelt. Die Selbstpositionierung Cms als „Ghanaer“2 erscheint Am und Bm legitimerweise von außen aberkennbar, während ihre eigene Zugehörigkeit nicht zur Diskussion gebracht wird. Am und Bm sehen in der Diskussion der Zugehörigkeit von Cm bei sich selbst das Recht auf „legitime Benennung“ (B OURDIEU 1985: 23, Hervorh. im Original). Sie erkennen die Selbstpositionierung Cms als „Ghanaer“ nicht an und versuchen ihn daraus zu lösen, da er in Deutschland geboren sei: kannst ja nich sagen dass du jetzt Ghanese bist du bist ja hier geboren; (GD Fußball, Z. 158-160). Am und Bm argumentieren mit einem vermeintlich allgemeingültigen „common sense“ (B OURDIEU 1985: 23, Hervorh. im Original) und versuchen ihre Sichtweise („vision“) und ihre Ordnungsprinzipien für Zugehörigkeit („di-vision“) (B OUR DIEU 2005: 122, Hervorh. im Original) als fraglos gültig durchzusetzen. Damit üben sie eine hegemoniale Definitionsmacht aus (für eine ausführliche Rekonstruktion der Passage s. S CHRÖDER 2017a). Für Bildungszusammenhänge weisen die empirischen Ergebnisse auf folgende Handlungsmöglichkeiten hin, um die Definitionsmacht im Klassenraum zu verschieben: •
•
•
•
Bei der Thematisierung von natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit sollte darauf geachtet werden, dass nicht die Zugehörigkeit(en) Migrationsanderer verhandelt werden, sondern die Bedingungen von Zugehörigkeit im Kontext der deutschen Migrationsgesellschaft. Dabei erscheint es wichtig, die Widersprüche in den Bedingungen für Zugehörigkeit explizit sichtbar zu machen und hegemoniale ausgrenzende Zugehörigkeitskonstruktionen zu problematisieren und zu hinterfragen. Bereits von Beginn der Diskussion an sollten selbstbestimmte Selbstpositionierungen Migrationsanderer legitimiert werden. Angesichts dessen, dass für Migrationsandere die Gefahr besteht, dass ihre Zugehörigkeit fraglich gemacht wird, ist es wichtig, dass sie selbstbestimmt entscheiden dürfen, ob sie ihre Zugehörigkeit(en) thematisieren möchten oder nicht. Auch Lehrende sollten nicht insistieren, wenn Widerstände deutlich werden (s. Kap. 6.2.6). Die Gruppendiskussionen E-Sports und Klavier vermögen zudem zu verdeutlichen, dass eine kritische Beschäftigung mit hegemonialen Zugehörigkeitsord-
2 | Den von Cm genutzten Begriff Ghanese verändere ich in meiner analytischen Begrifflichkeit entsprechend der laut Duden geläufigen Bezeichnung zu ‚Ghanaer‘.
460 | Zugehörigkeit und Rassismus
nungen, deren Folgen sowie dem eigenen (Sprach-)Handeln auch und gerade in vorwiegend weißen Lerngruppen sehr wichtig ist (s. a. H OOKS 1994: 43).
7.1.7 Selbst- und Fremdbezeichnungen Angesichts der Gefahr, dass die Selbstpositionierungen Migrationsanderer vor dem Hintergrund von Assimilationserwartungen de-legitimiert werden können, erscheint die Anerkennung von Selbstbezeichnungen Migrationsanderer als eine Möglichkeit für transformatives Bildungshandeln. Selbstpositionierungen können es ermöglichen, Definitionshoheit über sich selbst einzufordern und zu erringen, wie das Beispiel der Schülerin Df in der Gruppendiskussion Schuluniform zeigt. Df entscheidet sich für eine offensive Positionierung als „Afghanin“ und unterwirft sich nicht länger den Kriterien, die andere zur In- oder Exklusion an sie anlegen (vgl. Kap. 6.3.2). Selbstbezeichnungen zu respektieren und nicht infrage zu stellen, stellt eine Grundlage für machtsensibles Bildungshandeln dar. Gleichzeitig können Fremdbezeichnungen des hegemonialen Migrations- und Integrationsdiskurses und Selbstbezeichnungen Migrationsanderer auch explizit im Unterricht thematisiert werden. Auch in der von der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung 2015 herausgegebenen „Schulbuchstudie Migration und Integration“ (N IEHAUS et al. 2015: 24) wird dafür plädiert, Selbst- und Fremdbezeichnungen im Unterricht zu behandeln. Zur Reflexion der Bedeutungen und Problematiken von Begriffen wie ‚Ausländer_in‘ oder ‚Migrant_in‘ bzw. ‚Mensch mit Migrationshintergrund‘ kann in der geographischen Bildung auf bereits bestehendes Unterrichtsmaterial von M ARKOM und W EINHÄUPL (2014) zurückgegriffen werden. ‚People of Color‘ oder ‚Schwarze Deutsche‘ wären demgegenüber Beispiele für Selbstbezeichnungen Migrationsanderer, die in wissenschaftlichen und aktivistischen Zusammenhängen verbreitet sind (N DUKA -AGWU & H ORN SCHEIDT 2013; AUTOR * INNENKOLLEKTIV R ASSISMUSKRITISCHER L EITFADEN 2015: 32-33, s. a. Kap. 2.3). Ziel der Thematisierung wäre es, für die Wirkungen sprachlicher Benennungen zu sensibilisieren, die als sprachliche Form von Handeln betrachtet werden (M AR KOM & W EINHÄUPL 2014: 43). Ich verstehe diese Sensibilisierung als Teil machtsensibler Bildung in migrationsgesellschaftlichen Differenzverhältnissen. Sie kann dazu beitragen, sprachliches Handeln als Teil des eigenen Handlungsspielraumes im emanzipatorischen Sinn zu gestalten (S CHRÖDER 2016a: 23). Dieses Angebot richtet sich nicht nur an weiße Lernende. Es kann ebenso als Stärkungsangebot für Migrationsandere verstanden werden, da mit Selbstbezeichnungen wie ‚Deutsche
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 461
of Color‘ das emanzipierende Anliegen einhergeht, Zugehörigkeitsansprüche sichtbar zu machen bei gleichzeitiger Benennung von Realitäten des Othering. Teil einer Sensibilisierung für Benennungspraxen wäre dann auch die Benennung von weißen Personen, die sprachlich markiert werden, um sie aus dem unmarkierten, normalisierten Zentrum zu rücken. Die Anregung Selbstbezeichnungen Migrationsanderer anstelle von Fremdbezeichnungen des Migrations- und Integrationsdiskurses zu verwenden, kann folglich dazu beitragen, dass die Definitionsmacht in der Lerngruppe dezentriert wird. 7.1.8 Relationalität von Zugehörigkeitsaushandlungen Die Imagination der „Wir-Gruppe“ der „Deutschen“ als weiße und „an sich“ homogene Gemeinschaft – „wären die »Ausländer« nicht da“ (W OLLRAD 2005: 12) – dokumentiert sich in allen Gruppendiskussionen als wirkmächtig. Es ist daher notwendig, eine erkenntnisbezogene Dekonstruktion mit einer Anerkennung deren wirkmächtiger Strukturierung von gesellschaftlicher Realität zu kombinieren. Denn bei der Dekonstruktionsarbeit besteht immer auch die Gefahr, dass eine Differenz heruntergespielt wird, die sehr wohl gesellschaftlich wirkmächtig ist. Allein die soziale Konstruiertheit der Grenzziehung in „deutsch“ und „nicht deutsch“ zu betrachten, würde deren lebensweltlich realen Konsequenzen ebenso ausblenden wie eine Nicht-Thematisierung des Unterscheidungsschemas. In der Gruppendiskussion Schuluniform dokumentiert sich eine aktive Auseinandersetzung der migrationsanderen Schülerinnen mit Othering- und Ausgrenzungserfahrungen sowie darüberhinausgehenden Zuschreibungen. Es wird deutlich, dass ihre Selbstpositionierungen eigene Entscheidungen in Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen darstellen, in denen die Trennlinie ‚deutsch versus nicht-deutsch“ ihre Erfahrungen wirkmächtig prägt. Anstelle einer naturalisierenden Reproduktion vermeintlich evidenter natio-ethno-kultureller Differenz – wie in Klavier und E-Sports der Fall – orientieren sich die Diskutantinnen in der Gruppe Schuluniform an der Selbstpositionierung unter Bedingungen des Fremdpositioniert-Werdens. Dass sie mit ihrer Differenz in Deutschland nicht akzeptiert werde, benennt Df gleich zu Beginn als Begründung dafür, dass sie sich nicht als „Deutsche“ identifiziere. Ähnlich gibt der Schüler Cm in der Gruppendiskussion Fußball zu Beginn zu verstehen, dass er aufgrund seiner Hautfarbe nicht von allen „Deutschen“ als „Deutscher“ anerkannt werde. Seine Selbstpositionierung als „Ghanaer“ stellt ein Refugium bei verweigerter Anerkennung dar:
462 | Zugehörigkeit und Rassismus
250
Gruppendiskussion Fußball Yf: ja aber (.) nochmal ehm zu diesem Zugehörigkeit ne, was
251
macht das denn jetzt letztlich dann aus eigentlich wo man
252
sich zugehörig (.) fühlt;
#00:06:42-8#
253 254
Cm: wo man sich zugehörig fühlt?
255 256
Yf: mhm
257 258
Cm: also (.) ich bin farbig, (2) also ich bin farbig, (.) komme
259
aber aus Deutschland und weiß das auch zu schätzen (.) dass
260
ich hier lebe weil es den Kindern in meinem Land wesentlich
261
schlechter geht, (.) aber trotzdem gehör ich für manche Leute-
262
werde ich für manche Leute nicht als Deutscher anerkannt; (.)
263
zum Beispiel wenn ich mir spät- zum Beispiel das hab ich auch
264
von meinem Bruder vom Kumpel gehört, (.) er hat den Job nicht
265
bekommen, weil nen Kumpel von ihm nen anderen Nachnamen hat;
266
nen besseren; b(.)c
267 268
Yf:
bmhmc
269 270
Cm: also zum Beispiel (2) keine Ahnung (2) bein ausländischerc
271 272
Yf:
balso- (.)
jac
273 274 275
Cm: Nachname so wie Abaka und denn (.) nen anderer wieder heißt Meier und dann kriegt- mit- also kriegt Meier eher den Job
In diesen Redezügen ordnet Cm seine zuvor erfolgte Selbstpositionierung als „Ghanaer“ in den erklärenden Rahmen einer Auseinandersetzung mit den diskursiven Bedingungen für Zugehörigkeit in der deutschen Migrationsgesellschaft ein. Zudem beteuert er, dass er es zu schätzen wisse in Deutschland zu leben. Dies kann als Versuch verstanden werden, das hegemoniale Erklärungswissen einer undankbaren und ablehnenden Haltung zu Deutschland zu entkräften, das in den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports bemüht wird, um der Selbstpositionierung des Filmprotagonisten als „Anderer“ Sinn zuzuweisen. Zugleich wird in dieser Passage deutlich, dass die Nicht-Anerkennung als „Deutscher“ für Cm mit weiteren Auswirkungen einhergeht. Cm stellt diese nahtlos in einen Zusammenhang mit rassistischer Diskriminierung bei der Jobsuche und seiner Erwartung,
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 463
später schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt zu haben. In der Folge diskutiert die Gruppe weitere Rassismuserfahrungen, die Cm wie auch sein Bruder im Kontakt mit der deutschen Polizei gemacht haben:
310
Gruppendiskussion Fußball Cm: das hatt=ich auch schon bei meinem Bruder da musste meine
311
Mutter ihn vom Revier abholen, (1) weil mein Bruder halt (1)
312
farbig is, (.) breit gebaut und dann dachten die Polizei (.)
313
er hat Drogen dabei; (3)
#00:08:41-3#
314 315
Yf: mhm (4)
316
Am: das war auch schon bei uns beiden so als wir- (.) das war
317
bei ihm, (.) ich wohn ja bei ihm in der Nähe, (.) sind wir
318
bei ihm raus und dann hat uns die Polizei (.) eh a- angehalten
319
und hat uns was gefragt; weil irgendjemand da (.) Sachen
320
kaputtgemacht hat, (.) (und) hat uns halt gefragt ob wir das
321
gewesen wären und wollten- haben uns (dann) gefragt wie wir
322
heißen; (.) da haben wir halt unseren vollständigen Namen
323
gesagt, und dann war ich halt weg und dann haben die die
324
ganze Zeit nur noch mit Cm geredet; (.) und das fand=ich halt
325
auch (.) n bisschen komisch; b(.) weil (.) ich mein
326 327
bkrass
Yf:
328 329
Am: nur weil ich jetzt nen deutschen Nachnamen habe; und er
330
vielleicht nich hat das ja nichts zu tun dass er (.)
331
vielleicht was gemacht hat; (.) was wär wenn ich jetzt was
332
gemacht hätte und er nich? b(.)
333 334
bmhm
Yf:
335 336 337
Am: dabei waren wir noch nicht mal mit (da) beteiligt und wir wussten ja auch nich; (7)
Zum einen stellt der gesellschaftliche Kontext, in dem die rassistisch markierten Schüler_innen Df (Gruppe Schuluniform) und Cm (Gruppe Fußball) Rassismuserfahrungen machen kaum einen positiven Bezugspunkt für ihre Selbstidentifikation dar. Zum anderen machen beide Erfahrungen mit verweigerter Zugehörigkeit zur im Hier verorteten imagined community der „Deutschen“. Die Selbstpositionierung
464 | Zugehörigkeit und Rassismus
als „Andere_r“ kann sowohl als Reaktion auf die verweigerte Zugehörigkeit verstanden werden als auch die Bedeutung eines Refugiums der Akzeptanz enthalten. In der Gruppendiskussion Schuluniform wird deutlich, dass der Selbstpositionierung Dfs als „Afghanerin“ ein Abwägungsprozess vorangegangen ist, in dem sie sich mit ihren Othering- und Ausgrenzungserfahrungen und den Möglichkeiten, sich als „Deutsche“ oder als „Afghanerin“ zu positionieren aktiv auseinandergesetzt hat. Während eine Positionierung als „Deutsche“ einerseits ihre Ausgrenzung beenden könnte, so bedeutete diese für Df gleichzeitig, dass sie ihr Abweichen vom natio-ethno-kulturellen Prototypen der_s „Deutschen“ versteckt. Statt dies zu verstecken, hat sie sich entschieden, ihr „Anderssein“ offensiv zu kommunizieren und sich den hegemonialen Assimilationserwartungen nicht zu unterwerfen. Mit der Positionierung als „Afghanerin“ verbindet sie also eine bestimmte innere Haltung und eine bewusste Entscheidung, zu ihrem „Anderssein“ zu stehen. Damit kommen in diesen Positionierungen nicht bloße Reifikationen der jeweils zugeschriebenen Identität zum Ausdruck. Vielmehr wird die relationale Beziehung zwischen der hegemonialen Zugehörigkeitsordnung und den migrationsanderen Positionierungen deutlich. In die migrationsgesellschaftlichen Zugehörigkeitsverhältnisse sind diese eingebettet und sie transportieren Erfahrungen mit und Haltungen zu diesen. Im Anschluss an die Erziehungswissenschaftlerin ATTIA (2008: 48) sei daher unterstrichen, dass die Folgen der Differenzkonstruktionen „einen wesentlichen Aspekt im Lebensalltag von Subjekten“ ausmachen, wie es sich nicht nur in Erfahrungen, sondern auch in der aktiven Auseinandersetzung mit und der Entwicklung einer bewussten Haltung zu diesen ausdrückt (s. a. S CHRÖDER 2016b). Eine Dekonstruktion der hegemonialen Zugehörigkeitsordnung bzw. der Grenzziehung in „Deutsche“ und „Nicht-Deutsche“ läuft daher immer auch Gefahr, reale Othering- und Rassismuserfahrungen sowie Prozesse der aktiven Auseinandersetzung und widerständigen Positionierung zu übergehen. Die Exklusivität der hegemonialen Zugehörigkeitsordnung, die verletzenden Othering- und Ausgrenzungserfahrungen Migrationsanderer und ihr handelnder Umgang mit diesen bleiben in den Gruppendiskussionen E-Sports und Klavier sowohl als Themen an sich als auch als Deutungsrahmen für die Zugehörigkeitsaushandlungen Migrationsanderer verdeckt. Dort werden nicht die diskursiven Bedingungen für anerkennungsfähige Zugehörigkeit problematisiert, sondern die Zugehörigkeit Migrationsanderer selbst. Die De-Thematisierung von Othering und Ausgrenzung blendet Erfahrungsräume aus, die sich für die migrationsanderen Teilnehmer_innen als lebensweltlich relevant gezeigt haben. Ein angemessenes Verständnis für lebensweltliche Realitäten Migrationsanderer und migrationsgesellschaftliche Differenzverhältnisse ist auf
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 465
diese Weise kaum möglich. Zudem wird verdeckt, dass alle Mitglieder der Gesellschaft in Zugehörigkeitsaushandlungen und die Gestaltung von Positionierungsmöglichkeiten in der Migrationsgesellschaft involviert sind. Diese Ausblendung ermöglicht es den weißen Diskutant_innen der Gruppen Klavier und E-Sports, die Auswirkungen der eigenen Differenzzuschreibungen zu verdecken und sich selbst als uninvolviert zu verstehen. Der Blick wird vielmehr auf „die Migrationsanderen“ und deren innere „Einstellungen“ eingeengt. Die Gruppen rufen das Erklärungswissen vermeintlich mangelnder Integrationsbereitschaft und einer zu starken Identifikation mit dem „Anderswo“ auf. Statt die Selbstpositionierungen Migrationsanderer im Kontext von lebensweltlichen Erfahrungen mit verweigerter Zugehörigkeit, herabsetzenden stereotypisierenden Zuschreibungen, Benachteiligungen und hegemonialen Integrations- und Identifikationserwartungen zu reflektieren, wird ausgeblendet, dass diese für Zugehörigkeitsaushandlungen bedeutsam sein können. „Indem die Auseinandersetzung mit Diskriminierungsstrukturen vermieden wird, stellen sich hegemoniale Integrations-vorstellungen [. . . ] immer wieder her“ (M ESSERSCHMIDT 2008: 14). Eine Dekonstruktion der Imagination des „Eigenen“ als homogen und der rassifizierten Unterscheidung in „Deutsche“ und „Nicht-Deutsche“ sollte daher immer mit einer Thematisierung von deren sozialer Wirkmächtigkeit und den Folgen für Migrationsandere einhergehen, die zu „Anderen“ gemacht werden. Bildungshandeln sollte also „wahr gewordene“ Differenz, die für Selbstpositionierungen relevant werden kann, nicht herunterspielen. Wenn gesellschaftliche Realitäten und lebensweltliche Erfahrungen von Migrationsanderen nicht übergangen werden sollen, muss Bildungshandeln gleichzeitig ein dekonstruierendes und ein anerkennendes Moment beinhalten (M ECHERIL 2010a: 190). Es sollte also „affirmative und transformative Umgangsweisen mit Differenz“ (M ECHERIL & P LÖSSER 2009: 205) kombinieren. Ein solches Bildungshandeln ist durch eine grundlegende Ambivalenz geprägt, indem eine pädagogische Anerkennungspraxis indirekt die gegebenen Unterscheidungsschemata bestätigt, die dekonstruiert werden: „Pädagogisches Handeln, das »Migrant/innen« als »Migrant/innen« anerkennt, bestätigt insofern das Schema, das zwischen »Wir« und »Nicht-Wir« unterscheidet, bestätigt die Differenz zwischen dem deplatzierten Habitus und dem nicht deplatzierten Habitus.“ (M ECHERIL 2010a: 187)
Angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse handelt es sich hierbei um ein notwendiges Spannungsfeld. Die notwendige Gleichzeitigkeit von anerkennendem und dekonstruierendem Moment kommt auch in folgender Passage der Gruppendiskussion Fußball zum
466 | Zugehörigkeit und Rassismus
Ausdruck. Die Perspektive, die Am dort einnimmt, erkennt nicht nur den Schwarzen Schüler Cm als „Deutschen“ an, sondern negiert gleichzeitig jegliche Differenz, was zur Ausblendung der realen Differenzerfahrungen Cms führt und dessen Positionierung als „Anderer“ de-legitimiert:
372
Gruppendiskussion Fußball Am: da seh=ich- ja ich find das auch eigentlich relativ
373
schwachsinnig wenn man jetzt sagt ich bin Türke, ich bin
374
Araber, ich bin (.) eh aus Ghana, ich komm aus Deutschland;
375
(.) eh wir- schließlich leben wir ja alle hier und (.)
376
deswegen seh ich uns einfach alle gleich
Cm hält dieser Perspektive in der Diskussion wiederholt entgegen, dass die Anerkennung einer_s Migrationsanderen als „Deutsche_r“ nicht damit gleichzusetzen ist, dass diese_r auch „Deutsche_r“ sei bzw. sich als solche_r positionieren müsse: Obwohl (.) das heißt ja nicht gleich dass er n Deutscher is (Z. 395) und später: man kommt daher, (.) wo man meint dass man herkommt (Z. 1530-1531) sowie für mich komme ich ja nich- (1) für mich komm=ich (.) aus (.) Ghana (Z. 1545-1546). Eine Orientierung an der Gleichheit von Menschen, der zufolge vermeintlich keine Unterschiede wahrgenommen oder gemacht würden, macht auch die Gruppe Special bei vielen „Deutschen“ aus. Auch diese Gruppe verweist auf den Widerspruch zwischen einem Anspruch auf Gleichheit in der deutschen Gesellschaft und den eigenen Erfahrungen (GD Special, Z. 581-583). Die lebensweltliche Bedeutsamkeit von Weißsein und Schwarzsein wird am Beispiel der Erfahrungen der Schwarzen Disktantin Bf elaboriert:
600
Gruppendiskussion Speciall Bf:
oder du kannst gucken wenn ich in Bus
601
ah- steige und alle die sind weiß, es gibt paar Kinder die (.)
602
also oder paar Leute die mich ((erregt)) angucken würden bis
603
ich ausgestiegen; oder wenn (.) keine Ahnung das war vor ein
604
Woche oder so ich geh in Bus so (.) ich sitze; (.) und dann da
605
war mein Tasche (.) ich ähm also an die Seite und eine Frau hat
606
so gefragt ((zitierend)) darf ich (gegenüber) dir sitzen? und
607
(dann) ich ((zitierend)) ja; und sie hat mich paar Fragen gefragt,
607 608
woher ich komme und (
) sie meinte sie mag meine Hautfarbe;
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 467
609
meinte ok und dann sie=is ausgestiegen; und ((erregt)) dann ein
610
Kind n:- (.) und dann jetzt war Sitz frei; ein Kind is- sie hat
611
mich nich gesehen sie hat- sie hat gesessen ((sehr schnell,
612
Worte überschlagen sich)) un=hat=mich=gesehen=(dann=sie)=is
613
aufgestanden sie ist weg und dann hat neben- äh
614
hinter mir ge- gesessen (.) bund dannc
615 616
bwoa::h
Cf:
c
617 618
Bf: eine Freundin hat zu mir- äh zu sie- ges- keine Ahnung so=eine
619
Frau eine andere Frau die (rüber) war hat gesagt ((zitierend,
620
streng)) das macht man nicht is gu- äh weil sie nur schwarz is;
621
und dann die Kind hat mich geguckt und dann sie- sie is
622
ausgestiegen aber sie wollte weiterfahren; also sie war
623
irgendwie schüchtern geworden; b(.) c bund dannc
624 625
b ◦ mh◦ c
Yf:
626 627
bwoah
Cf:
c
628 629
Bf: ja: und das passiert (.) o:ft wegen Leute (.) (
)
630
(.) die sind- die sind noch nich so, die wissen nich was
631
Ausländer ist (.) oder wie man Ausländer is; wegen viele
632
Deutsche, die wollen neben ein andere ((schneidend)) Deutsche
633
sitzen; die wollen nicht neben (.) so ein ((abfällig)) Schwarze
634
sitzen oder so das kommt oft; so das- (.) und b(.)
635
kommt auch diese
c ähm es
636 637
b ◦ mh;◦ c
?:
638 639
Bf: Worte ((zitierend)) Nigger; (.) weißt du, und viele Leut- äh ich
640
hab b(.) schon mal n- Kinder gehört wegen ich war ein Tag ich und
641 642
?:
b(
)
643 644
Bf: mein Cousin, (.) im Bus und wir wollten zu- wegen wir hatten
645
so=ein fak- af(ri)kanisch Part- äh Party zu Hause, und wir
646
wollten zu ihm wegen- äh zu mir, wegen er wusste nich wie die
647
Weg is also hab ich ihm abgeholt; (.) ja:; und dann wir sind
468 | Zugehörigkeit und Rassismus
648
hinter- ga:nz hinten gesitzen und wir waren so vier (.) ich;
649
mein Cousin, mein Cousin und mein- so ein andere Cousinen; so
650
ein ((auflachend)) Mädchen, b(.)
c
651 652
b((kurzes, leises Lachen))c
?:
653 654
Bf:
ja:;
655
und ((skandalisierend)) (dann) paar Kinder sind so gekommen,
656
dann- und dann hat (so die von die) guck mal (die sch-) äh die
657
scheiße Nigger; (.) ich=(schwör) meine Cousin ausgerissen, (.)
658
(sie wi-) ähm hat ihm ru- so rausgenommen; also (er is-) keine
659
Ahnung, er war nich so klein; er war (.) so: (.) vierzehn; hat
660
ihm so rausgenommen (er meinte) ((zitierend, herausfordernd))
661
was hast du gerade gesagt; so ((zitierend)) nix, nix, nix, er
662
hat Angst bekommen; so ((zitierend, bestimmt)) aussteigen; und
663
(er) wollte weiterfahren; (ich so-) ich hab mich totgelacht,
664
aber, (.) Leute judge you; b(.)c like they judge you how you
665
look,
666 667
bmhmc
Cf:
668 669
Bf: balso,
c
670 671
Cf: bracist;c ◦ how do you say racist?◦
672 673
Bf: ja; b(.) (
)c ((bestimmt)) bja:c
674 675
Yf:
brassistischc
b(.)c rassistisch mhm,
Ein individuelles Aufbrechen der Homogenitätsvorstellung des „Eigenen“ und eine Anerkennung von Migrationsanderen als „Deutsche“ innerhalb der Lerngruppe allein verändert nicht die gesellschaftlichen Machtverhältnisse und die lebensweltlichen Othering- und Rassismuserfahrungen von Migrationsanderen im Alltag. Dies wird auch in der Gruppendiskussion Fußball transportiert. Cm geht es nicht in erster Linie darum, von seinen Freunden als „Deutscher“ anerkannt zu werden, sondern darum, dass diese seine Differenz nicht herunterspielen, die für ihn reale Konsequenzen hat. Grundlegendes Problem ist die Rassifizierung und Verweigerung von Zugehörigkeit, die er lebensweltlich erfährt. Dass er beispielsweise in Polizeikontrollen andere Erfahrungen macht als seine weißen Freunde und er-
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 469
wartet, am Arbeitsmarkt Diskriminierungserfahrungen zu machen, lässt sich nicht durch individuelle Anerkennung als „Deutscher“ verändern. Bildungsziele allein auf individuelles verändertes (Sprach-)Handelns auszurichten, würde die strukturell verankerte Dimension und die lebensweltliche Wirkmächtigkeit von Rassismus ausblenden. „Die Frage der Verschiebung von Subjektpositionen muss vielmehr im Zusammenhang mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozessen gedacht werden.“ (W OLLRAD 2005: 87). Ziel von Bildungsprozessen zum Umgang mit migrationsgesellschaftlichen Differenzverhältnissen wäre es nicht in erster Linie, individuelle Verschiebungen und eine gegenseitige Anerkennung innerhalb der Lerngruppe zu erreichen. Vielmehr verstehe ich die Bewusstmachung, Reflexion und Problematisierung von Differenz- und Dominanzverhältnis als kollektiven und andauernden reflexiven Prozess und als Möglichkeit eines Aufbrechens unhinterfragter Reproduktion. Ziel einer solchen kollektiven Reflexion wäre eine langfristige Verschiebung der hegemonialen gesellschaftlichen Zugehörigkeitsordnung, die die Othering- und Rassismuserfahrungen und Zugehörigkeitsaushandlungen wirkmächtig strukturieren. In der Gruppendiskussion Fußball macht Cm deutlich, dass es ihm darum geht, als Schwarze Person im Alltag nicht mehr in seinem „Deutsch-Sein“ und seiner Zugehörigkeit infrage gestellt zu werden und Rassismuserfahrungen zu machen. Mit einem solchen gesellschaftspolitischen Anliegen würde Bildung auch die Orientierung der Gruppe Schuluniform an gesellschaftlicher Veränderung und Gleichbehandlung aller in ihrer Unterschiedlichkeit aufgreifen (vgl. Kap. 6.3.2). Eine Thematisierung von Otheringerfahrungen und der gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit der exklusiven Vorstellung vom „Deutsch-Sein“ bietet in mehrfacher Hinsicht Möglichkeiten für Lernende, sich aus dominanten Wissensstrukturen hinauszubewegen. Sie ermöglicht es, die Relationalität von Prozessen der Zugehörigkeitsaushandlung einzublenden. Damit einhergehend kann das rassismusrelevante hegemoniale Deutungsschema dezentriert werden, das differenzanzeigenden Selbstbezeichnungen Migrationsanderer den Sinn eines affirmativen Bezugs auf den „anderen“ und einer mangelnden Identifikation mit dem hiesigen gesellschaftlichen Kontext zuweist. Eine kritische Analyse von Otheringprozessen birgt zudem das Potenzial, Schüler_innen mit Otheringerfahrungen zu bestärken. Sie kann verdeutlichen, dass Othering- und Ausgrenzungserfahrungen nicht etwa in der eigenen Person begründet sind, sondern vielmehr mit in der Gesellschaft zirkulierenden sozialen Bedeutungskonstruktionen zusammenhängen. Auf diese Weise werden nicht die Handlungen und die individuelle Persönlichkeit migrationsanderer Schüler_innen
470 | Zugehörigkeit und Rassismus
problematisiert. Eine solche Verhandlungsweise von Otheringerfahrungen dokumentiert sich in der Gruppendiskussion Schuluniform (s. Kap. 6.2.3 und 6.2.4). Eine ähnliche Analyse von Othering- und Rassismuserfahrungen hat auch ein Interviewpartner des Erziehungswissenschaftlers N GUYEN (2013) vorgenommen. Im Rahmen einer qualitativen Untersuchung zu Rassismuserfahrungen während der Schulzeit nutzt der migrationsandere Interviewpartner die „Bezeichnungsfigur ‚Marionettentäter‘“ (N GUYEN 2013b: 23), um diejenigen zu charakterisieren, die Rassismus reproduzieren. Damit werden sie als „Teil einer Kette“ (N GUYEN 2013b: 23) imaginiert, die besondernde, ausgrenzende und diskriminierende (Sprach-) Handlungen übernehmen und reproduzieren. Der Begriff des ‚Marionettentäters‘ verweist „auf die grundsätzliche Verstrickung von (weißen) „Deutschen“ in rassistische und diskriminierende Diskurse“ (N GUYEN 2013b: 23, eigene Hervorh.). Ein solches Verständnis kann vermeiden helfen, dass weißen Lernenden individuelle Vorurteilsbehaftung, negative Intentionen oder rassistische Einstellungen im Sinne eines Identitätsmerkmals zugeschrieben werden. In der Gruppendiskussion Fußball wird deutlich, dass Jugendliche auch auf mediale popkulturelle Quellen zurückgreifen können, um ihre Erfahrungen zu verstehen. In der Diskussion ist es ein Rap, in dem sich die jungen migrationsanderen Künstler H AYAT und M ATONDO (2013) mit Othering- und Rassismuserfahrungen auseinandersetzen. Auch dort werden die Erfahrungen als kollektive, nicht individuelle Phänomene verstanden und de-legitimiert sowie eine widerständige Perspektive eingenommen, die für eine Veränderung des Ist-Zustandes eintritt und auf Bewusstwerdung setzt (H AYAT & M ATONDO 2013). Es kann vor diesem Hintergrund Potenzial bieten, wenn in Bildungsprozessen Erfahrungswissen von denjenigen Schüler_innen eingebracht wird, die sich alltagsweltlich mit ihren Erfahrungen mit Othering und Rassismus auseinandersetzen. Zusätzlich können Perspektiven und Wissensbestände von migrationsanderen Personen außerhalb der Lerngruppe eingebracht werden. 7.1.9 Hybridität Bisher habe ich den Fokus auf die Bewusstmachung, Problematisierung und Dekonstruktion von hegemonialen natio-ethno-kulturellen Unterscheidungen gelegt, die sich in den Gruppendiskussionen dokumentiert haben. Gleichzeitig zeigen sich im empirischen Material auch dort mögliche Anknüpfungspunkte für dekonstruktive Befragungen, wo sich Phänomene dokumentieren, die aus dominanten Schemata der Unterscheidung hinausfallen. Es finden sich Beispiele von natioethno-kulturellen Grenzüberschreitungen Migrationsanderer und von Mehrfachzu-
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 471
gehörigkeit. Auch ein Bildungshandeln, das von der Idee der dekonstruktiven Befragung und Verschiebung geprägt ist, kann folglich an bereits existente alltagsweltliche Formen der Aushandlung und des Selbst- und Weltbezugs von Schüler_innen anschließen (M ECHERIL 2010a: 189–190)3 : „Wo es pädagogischer Achtsamkeit gelingt, an diese Phänomene anzuschließen, gewinnt sie eine Perspektive, die das einteilende, das vereindeutigende, das klassifizierende und das fixierende Denken und Handeln schwächt.“ (M ECHERIL 2010a: 189–190)
Auch wenn sich die migrationsanderen Teilnehmer_innen in den Diskussionen überwiegend eindeutig als „Andere“ positionieren, zeigt ein genauerer Blick auf das empirische Material durchaus situationsbezogen wechselnde Verortungen auf (s. z. B. GD Schuluniform). Die „Pluralität und Flexibilität diverser und divergierender Subjektpositionen“ (W OLLRAD 2005: 19) sichtbar zu machen, kann eine Möglichkeit für Bildungsprozesse darstellen, zur Dekonstruktion von binären essentialistischen Zugehörigkeitskonzepten nach dem Entweder-oder-Muster beizutragen. In der Gruppendiskussion Fußball dokumentiert sich zudem der Versuch des Schwarzen Schülers Cm, die vermeintlich eindeutigen, allgemeingültigen Kriterien zu irritieren, nach denen seine weißen Mitdiskutanten Am und Bm versuchen, seine Zugehörigkeit festzulegen. Am und Bm versuchen, Cm aus dessen Selbstpositionierung als „Ghanaer“ zu lösen. Für Am und Bm ist der Geburtsort Cms in Deutschland für dessen Zugehörigkeit relevant. Sie argumentieren auf der Ebene überindividueller Kategorisierungen und allgemeiner Regelhaftigkeit. Cm hingegen argumentiert auf der subjektiven Ebene empfundener Zugehörigkeit. Für ihn macht es keinen Unterschied für seine Zugehörigkeit aus, ob er vor oder nach seiner Geburt mit seinen Eltern von Ghana nach Deutschland geflogen ist. Auf diese Weise stellt er die Eindeutigkeit und Aussagekraft von hegemonialen Zugehörigkeitsvorstellungen infrage und versucht, die Regelhaftigkeit vermeintlich universaler Zugehörigkeitsordnungen zu verunsichern (vgl. S CHRÖDER 2017a: 195). In dieser Situation kommt die Kontingenz der Ordnungsprinzipien zum Ausdruck, nach denen Zugehörigkeiten entlang eines hegemonialen Verständnisses von Nationalität vermeintlich allgemeingültig festlegbar sind. Es lässt sich die Frage stellen, was es eigentlich für einen Unterschied für die eigene Zugehörig-
3 | Das widerum setzt die Sensibilität für die dominanten Schemata der Unterscheidung voraus, weswegen eine Auseinandersetzung mit Rassismus und der unterschiedlichen gesellschaftlichen Positioniertheit der Subjekte vorausgehen muss.
472 | Zugehörigkeit und Rassismus
keit macht, wo genau sich die Mutter zum Zeitpunkt der Geburt aufgehalten hat (S CHRÖDER 2017a: 197–198). Ich verstehe die Argumentation Cms als ein Beispiel für subversives Sprachhandeln im Sinne von Hybridität, da hier hegemoniale Unterscheidungsmuster infrage gestellt werden. Zugehörigkeitsordnungen können auf ähnliche Weise auch in Bildungsprozessen als temporär und kontingent denaturalisiert werden und daran anschließend kann auch die vermeintlich eindeutige „deutsche“ Zugehörigkeit Gegenstand der Diskussion werden (S CHRÖDER 2017a: 197). Ein weiteres Beispiel für Hybridität stellt die Verortungspraxis des Filmprotagonisten im Grundimpuls der Diskussionen dar. Die Identifikation mit Mannheim und mit der Türkei kann als Bruch mit der hegemonialen Logik des ‚EntwederOder‘ sowie mit der von Migrationsanderen erwarteten Loyalität zu Deutschland verstanden werden. Die Mehrfachidentifikation passt sich nicht in eine binäre Ordnung ein. Dass eine lokale Identifikation mit einer Großstadt in Deutschland nicht gleichzeitig auch bedeutet, dass man sich als Deutsche_r identifiziert, wird von den weißen Diskutant_innen in den Gruppendiskussionen E-Sports und Klavier und von Af in Schuluniform als widersprüchlich rezipiert. Die Leerstelle durch die fehlende Identifikation als Deutsche_r ruft in den Gruppendiskussionen Klavier und ESports das Erklärungswissen von Integrationsbedürftigkeit und unzureichendem Integrationswillen auf. Die Identifikation mit einem lokalen Kontext innerhalb Deutschlands kann dieses Deutungsmuster in der Gruppendiskussion Klavier aber durchaus auch irritieren. Für Migrationsandere bietet eine solche Positionierung eine Möglichkeit, eigenen Erfahrungen eine narrative Form zu geben. Sie kann einen Weg darstellen, eine empfundene Zugehörigkeit zum eigenen sozialen/emotionalen Umfeld im Hier ausdrücken zu können, ohne die „wahr gewordene“ Differenz zu verdecken. Erfahrungen der verweigerten Anerkennung als „Deutsche_r“ können über die Leerstelle in der ausschließlich lokalen – und nicht nationalen – Identifikation mit dem Hier zum Ausdruck gebracht werden. Gleichzeitig können auch die eigenen Mehrfachbezüge bzw. die eigene Transnationalität ausgedrückt werden. Eine solche Verortungspraxis kann folglich die Ambivalenz der Inklusionsbedingungen in die imagined community der „Deutschen“ widerspiegeln. Sie stellt eine mögliche Ausdrucksform von partieller Identifikation und gleichzeitiger Distanz dar (M ANNITZ 2002a: 279). Im Anschluss an die Gruppendiskussionen kann die hybride Praxis einer lokalen Identifikation mit dem Hier und einer nationalen Identifikation mit dem „An-
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 473
derswo“ als relevant eingeschätzt werden. Alle migrationsanderen Diskutant_innen haben in den Gruppendiskussionen die Verortungspraxis des Filmprotagonisten auf selbstverständliche Art und Weise validiert. Demgegenüber haben sich bei allen weißen Diskutant_innen Irritationen oder Ablehnung dokumentiert. Ich kennzeichne die dargelegten Situationen als hybrid, da sie jeweils Verhandlungsräume eröffnen, indem sie hegemoniale Differenzschemata und dominantes Erklärungswissen irritieren (B HABHA 1996: 58). Diese Brüche und Irritationen von vermeintlichem common sense können zu Verschiebungen von Differenzund Dominanzverhältnissen führen. Subversion ist ein zentraler Aspekt des B HAB HA schen Verständnisses von Hybridität. Hierin liegt auch der wesentliche Unterschied zwischen dem Hybritätskonzept B HABHAs (1996, 2000) und dem Konzept der Transkulturalität von W ELSCH (2010, 1998). Hybridität kann aus den Machtrelationen nicht abgelöst werden. Es geht nicht um kulturelle Differenzen an sich, sondern vielmehr um Situationen der Störung und Verschiebung kultureller Autorität in ungleichen Machtverhältnissen (vgl. M ILL 2005: 435). Allerdings sollte die beachtliche Kraft hegemonialer Diskurse nicht unterschätzt werden (ATTIA 2008: 37–38). Dies dokumentiert sich unter anderem in der Gruppendiskussion Klavier. Dort löst die hybride Verortung des Filmprotagonisten zunächst Irritationen aus. Sie wird in der Folge aber unter Hinzuziehen von negativem Erklärungswissen vereindeutigt und in den eigenen Orientierungsrahmen an einer makelbehafteten, integrationsunwilligen „Ausländer_in“-Figur eingepasst. Es zeigt sich sowohl ein Moment der Irritation des hegemonialen Sinngebungsmusters ‚Integrationsmangel‘ als auch dessen Reproduktion und Bestätigung. Mit der Produktivität von Irritationen und dem Beharrungsvermögen von hegemonialen Diskursen setzt sich das folgende Kapitel vertieft auseinander.
7.2 P RODUKTIVE I RRITATIONEN ? Die Problematisierung der verfestigten Ordnung kann zu Widerständen insbesondere bei denjenigen führen, die in ihr eine privilegierte Position einnehmen. Nachfolgend fokussiere ich mich genauer auf die Frage von Vorstellungen und Mechanismen, die für die Bewusstmachung und Problematisierung von Differenzkonstruktionen, Othering und Rassismus hinderlich sein können. Denn die Möglichkeitsräume der Thematisierung und Problematisierung von Rassismus haben sich in der empirischen Untersuchung auf verschiedene Weise als eingeschränkt erwiesen. Auch S CHARATHOW hat in ihrer Studie zu Rassismuserfahrungen Jugendlicher ei-
474 | Zugehörigkeit und Rassismus
ne Reihe von solchen „Sprechbarrieren“ (2014: 428) identifiziert, die diesen eine Thematisierung ihrer Erfahrungen erschweren. Ich analysiere daher genauer, wer in meiner empirischen Untersuchung wie mit Artikulationen von Othering und Rassismus umgeht. Dabei interessieren mich sowohl Prozesse der Thematisierung von Othering und Rassismus als auch solche der De-Thematisierung. Ich schaue mir Umgangsweisen an, die sich in den Gruppendiskussionen selbst dokumentiert haben sowie Interaktionen im schulischen Umfeld, die ich teilnehmend beobachtet habe. Die rekonstruierten Umgangsweisen mit Othering und Rassismus werden daraufhin befragt, wie in Bildungsprozessen Voraussetzungen geschaffen werden können, um Othering und Rassismus Gehör zu verschaffen und eine tiefgehende Reflexion zu ermöglichen. 7.2.1 Irritation und Re-Stabilisierung des eigenen Weltund Selbstbildes Irritationen verstehen R HODE -J ÜCHTERN und S CHNEIDER (2012: 81) als Ausgangspunkt für Reflexionsarbeit in Bildungsprozessen. Irritationen im Anschluss an alltägliche Erfahrungswelten von Lernenden als Anhaltspunkt zu nehmen, stellt eine Diskontinuität von Beobachtungs- und Denkroutinen in den Mittelpunkt des Lernens und kann von hier ausgehend zu neuen Erkenntnissen führen, anstatt Beobachtungskontinuitäten erneut zu bestätigen: „Führt die Beobachtung eines Phänomens [. . . ] in ein Rätsel, dann verweist das auf eine Diskontinuität, eine Unterbrechung des gewohnten Beobachtungsmodus und unser Wissen wird ganz automatisch in Frage gestellt. Das Rätsel ist eine Irritation an der Stelle, wo Wissen, Erkenntnisinteresse und Erkenntnis nicht passend sind. [. . . ] Das Rätsel ist somit etwas ganz Besonderes, weil es zu der Einsicht führt, dass mit unserem Wissen und unseren Beobachtungen etwas nicht in Ordnung ist. Das Rätsel entsteht an der Grenze zwischen den eigenen Logiken des Erkennens und denen anderer. [. . . ] Dieser Punkt der ‚Verstörung‘ (S IEBERT 2005: 29, zit. n. R HODE -J ÜCHTERN & S CHNEIDER 2012: 81) ist der Ausgangspunkt für die Reflexionsarbeit, die das Kernanliegen konstruktivistischen Denkens schlechthin darstellt und mit etwas Glück tatsächlich neue und überraschende Erkenntnisse herbeiführen kann.“ (R HODE -J ÜCHTERN & S CHNEIDER 2012: 81)
Irritationen des gewohnten Sinngebungswissens dokumentieren sich insbesondere in der Gruppendiskussion Klavier. Dort kommt jedoch auch zum Ausdruck, dass eine Irritation nicht unbedingt auch zur Entfaltung eines Problems führen muss, welches sodann in einer offenen Fragehaltung bearbeitet werden könnte. Im Folgenden gehe ich daher Hürden nach, die sich auf dem Weg von der
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Verunsicherung zur reflexiven Beschäftigung mit Zugehörigkeit und migrationsgesellschaftlichen Differenz- und Dominanzverhältnissen ergeben können. Ich frage also nach Möglichkeiten, wie in Bildungsprozessen „von der Irritation zur Reflexivität“ (S EGBERS & E BERTH 2017) gelangt werden kann. Die Gruppendiskussion Klavier bietet hierfür besonderes Erkenntnispotenzial, da die Diskutantinnen sich durch den Filmimpuls einerseits irritieren lassen und die dort vorgeschlagenen Orientierungen bearbeiten, statt sie von vornherein auszublenden, sie andererseits aber prozesshaft einschränken und zurückweisen. In der Gruppendiskussion gibt es eine Passage, in der die Existenz von natioethno-kultureller Ausgrenzung und Diskriminierung in der Mitte der Gesellschaft sowie deren Auswirkungen auf das Zugehörigkeitsempfinden der Ausgegrenzten diskutiert werden. Beides wird allerdings sogleich wieder abgewehrt und in den eigenen Orientierungsrahmen übersetzt, in dem Migrationsandere als Mängelfiguren konstruiert werden. Es kommt also nicht zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit Rassismus und Zugehörigkeitsaushandlungen in der Migrationsgesellschaft (s. Kap. 5.6.2). Diese Passage ermöglicht eine genauere Analyse von potenziellen Hürden für die Reflexion von Othering und Rassismus. Daran anknüpfend setze ich mich mit Möglichkeiten auseinander, wie dennoch kritisch-reflexive Bildungsprozesse gestaltet werden können. Bevor ich mich mit den Hürden und Möglichkeiten auseinandersetze, lege ich die Konsequenzen dar, die mit der Restabilisierung des eigenen Welt- und Selbstbildes im Anschluss an die Irritation einhergehen. Die Gruppe Klavier spricht in der betreffenden Passage (GD Klavier, Z. 9471031) über Diskriminierung von „Türk_innen“ am deutschen Arbeitsmarkt und stellt eine Verbindung zwischen (ökonomischer) Ausgrenzung und dem Diskussionsthema „Zugehörigkeit Migrationsanderer“ her. Eine Teilnehmerin reflektiert, dass die Diskriminierung und Ausgrenzung aus dem Arbeitsmarkt den Menschen keine Chance gebe, sich zugehörig zu fühlen. Dies ist bemerkenswert, da hier sowohl eine Benennung von rassistischer Diskriminierung als gesellschaftlich existent stattfindet als auch die Zugehörigkeitsaushandlungen Migrationsanderer in Bezug zu den Lebensbedingungen in der deutschen Gesellschaft gesetzt werden. Die Zugehörigkeitsaushandlungen Migrationsanderer werden an dieser Stelle nicht – wie es der hegemonialen Deutungsgrammatik entspricht – aus den relationalen Bezügen zur exklusiven Zugehörigkeitsordnung, zu Othering- und Rassismuserfahrungen in der hiesigen Gesellschaft gelöst. Vielmehr scheint hier ein Bewusstsein für die Existenz von Diskriminierung sowie für die Einbettung von Zugehörigkeit in gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse und Auswirkungen von (ökonomi-
476 | Zugehörigkeit und Rassismus
scher) In- oder Exklusion auf Zugehörigkeitsempfinden auf. Die Proposition, dass Exklusion am Arbeitsmarkt Zugehörigkeitsempfinden verunmögliche wird von Af vorgebracht, die die Perspektive eines „aussortierten“ „Türken“ einnimmt: ja eben, dann hast du gar kei- als Türke, wenn du hier her kommst, hast du gar keine Chance dich irgendwie zugehörig zu fühlen; wei:l, (.) du dann ja immer schon aussortiert wirst sozusagen; (GD Klavier, Z. 979-983)
Die Artikulation von Auswirkungen der Ausgrenzung auf das Zugehörigkeitsempfinden beinhaltet zwei bedrohliche Aspekte für das Selbst- und Weltbild der Gruppe Klavier. Zum einen bedroht die Anerkennung der Existenz von rassistischer Ausgrenzung in Deutschland das ungebrochen positive Selbstbild von der „Wir-Gruppe“ als tolerant. Zum anderen wird die Ordnung der Verantwortlichkeiten bedroht, an der sich die Gruppe orientiert. Diese Ordnung sieht allein die vermeintlich integrationsbedürftigen Migrationsanderen in der Verantwortung für mangelndes Zugehörigkeitsempfinden, da es ihnen am ausreichenden Integrationswillen fehle. Wenn Ausgrenzung sich aber negativ auf das Zugehörigkeitsempfinden auswirken würde, würde dies auch die „Wir-Gruppe“ in die Verantwortung nehmen. Die Brüchigkeiten im Selbst- und Weltbild werden von der Gruppe in der Folge umgedeutet. Die vorgeschlagene Orientierung wird verworfen. Stattdessen konstruieren die Diskutantinnen die „Wir-Gruppe“ – sich selbst eingeschlossen – als Opfer der „Anderen“ ohne jegliche eigene Verantwortung für die konstatierten (Integrations-)Probleme. Die Verantwortung wird den Migrationsanderen selbst zugesprochen und letztlich wird ihnen das Recht auf Kritik und die Benennung von Diskriminierung abgesprochen, da sie nicht legitim zugehörig seien und vielmehr „freiwillig“ kämen. Die Relationalität von Zugehörigkeit und die Einblendung von rassistischer Ausgrenzung als gesellschaftliche Realität und Kontext für die Zugehörigkeitsaushandlungen Migrationsanderer wird wieder ausgeblendet (s. Kap. 5.6.2). Die Wiederherstellung des eigenen Selbst- und Weltbildes hat folgende Konsequenzen für die Reproduktion der hegemonialen Differenz- und Dominanzordnung: Erstens wird die Wirkmächtigkeit von Ausgrenzungserfahrungen für Migrationsandere in dieser Passage aberkannt. Auf diese Weise werden Erfahrungen rassistisch Markierter missachtet und es wird eine Auseinandersetzung mit den Wirkungsweisen von Ausgrenzung und Othering abgeblockt.
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Die Wirkmächtigkeit von Ausgrenzungserfahrungen zu betonen, wird zweitens als ungerechtfertigte Behauptung der Migrationsanderen und als illegitimer, unanständiger Angriff auf das „wohlanständige Wir“ diskreditiert. Das führt zum einen zur Diskreditierung der „Sie-Gruppe“ und Selbsterhöhung der „Wir-Gruppe“. Zum anderen wird die Benennung von rassistischer Ausgrenzung skandalisiert, indem dieser der Sinn eines ablehnenden Generalangriffs auf „Land“ und „Leute“ zugewiesen wird. Der Skandal liegt dann nicht mehr in der Sache (Ausgrenzung) begründet, sondern wird verschoben auf die Benennung (Skandalisierung der Artikulation von Ausgrenzung) und die Benennenden, die kein Recht hätten, Deutschland und „die Deutschen“ zu diskreditieren. Damit geht eine Verantwortungsumkehr einher: Die Existenz von Ausgrenzung wird de-thematisiert und stattdessen die vermeintlich falsche Einstellung der Migrationsanderen zu Deutschland und „den Deutschen“ als zentrales Problem ausgemacht und skandalisiert. Dabei wird eine Täter_innen-Opfer-Konstellation konstruiert, die den umgekehrten Verantwortungsverhältnissen entspricht. Während zunächst „Türk_innen“ als Erleidende von Diskriminierung inmitten der „Wir-Gruppe“ diskutiert wurden, werden sie nun zu Angreifer_innen stilisiert, während die „Wir-Gruppe“ viktimisiert wird. Die Skandalisierung der Benennung von Rassismus wurde von M ESSERSCHMIDT (2010a) als eines von vier gängigen Distanzierungsmustern von Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland herausgearbeitet. Im Anschluss an M ELTER kann die hier zum Ausdruck kommende „Haltung des Leugnens und Minimierens von Rassismus, verbunden mit der Verantwortungsdelegation an die Opfer“ (2009: 120) als „sekundärer Rassismus“ (2009: 120) bezeichnet werden: „Beim sekundären Rassismus werden [. . . ] offene Abwertungen vermieden und es wird keine Verantwortung für strukturelle, institutionelle, durch Individuen oder Gruppen ausgeübte sowie diskursive Diskriminierung übernommen. Das Ausmaß von Alltagsrassismus und die Bedeutung von Rassismuserfahrungen werden geleugnet oder infrage gestellt. Die SprecherInnen fühlen sich durch das Thema Rassismus indirekt oder direkt belästigt, sie setzen sich nicht aktiv mit ihm auseinander oder fühlen sich selbst angegriffen. Es erfolgt somit eine TäterInnen-OpferInnen-Umkehrung (sic!): nicht die Personen, die Zielscheibe von Rassismus sind, werden als Opfer gesehen, sondern die Mehrheitsangehörigen, denen angeblich übertriebene Rassismusvorwürfe gemacht werden.“ (M ELTER 2009: 120)
Alle von M ELTER (2009: 120) genannten Charakteristika von sekundärem Rassismus treffen auf die analysierte Passage zu. Drittens wird Migrationsanderen das Recht abgesprochen, über die eigene natio-ethno-kulturelle Identifikation selbst zu bestimmen. Selbstbezeichnungen und -Identifikationen, die eine Differenz zum „Deutsch-Sein“ ausdrücken, werden Mi-
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grationsanderen nur dann zugestanden, wenn diese in erster Linie eine Positionierung in Deutschland transportieren. Viertens wird Migrationsanderen das Recht auf Artikulation von rassistischer Diskriminierung abgesprochen. Dabei wird das Recht auf Anwesenheit mit dem Recht auf Artikulation von Diskriminierung bzw. Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland verwoben. Das Recht auf Artikulation von Diskriminierung wird Migrationsanderen unter Verweis auf das Narrativ von der freiwilligen, bewussten Entscheidung eines jederzeit mobilen Subjekts für den Aufenthalt in Deutschland abgesprochen. Ihre Anwesenheit in Deutschland ist demnach eine freiwillige, bewusste Entscheidung nach dem „Hier-besser-dort-schlechter-Prinzip“, die also auch potenziell rückgängig zu machen sei, wenn es ihnen nicht gefalle. Der Aspekt der freiwilligen Entscheidung für den Aufenthalt „hier“ beinhaltet die Vorstellung von der nicht-eigentlichen Zugehörigkeit zu Deutschland bzw. der eigentlichen Zugehörigkeit zu einem „Dort“, in das man jederzeit zurückgehen könne. Dem Aspekt der bewussten Entscheidung für den Aufenthalt „hier“ liegt die Annahme zugrunde, dass es „hier“ „besser“ sein müsse als „dort“. Zusammengenommen entziehen diese Annahmen jeglicher Beschwerde über das „hier“ die legitime Grundlage, da das Ergebnis der Entscheidung vermeintlich zeigt, dass es „hier“ „besser“ sei und die Migrationsanderen ja jederzeit „zurückgehen“ könnten, wenn dem nicht so sei. Das heißt, das Recht auf Beschwerde wird durch die Anwesenheit „hier“ verwirkt. Umgekehrt gilt ebenfalls: Das nicht voraussetzungslos zugestandene Recht auf Anwesenheit wird durch Beschwerde über das „hier“ verwirkt. Die Legitimität der Anwesenheit wird damit an die Erfüllung bestimmter Erwartungen der „Wir-Gruppe“ geknüpft und muss dieser bewiesen werden. Die Angehörigen der „Wir-Gruppe“ werden demgegenüber fünftens als fraglos legitim Anwesende auf vermeintlich „eigenem“ Territorium verstanden, womit eine normalisierte legitime Erwartungs-, Kontroll- und Disziplinierungshaltung Migrationsanderen gegenüber verknüpft wird. Es erscheint selbstverständlich, dass die „Wir-Gruppe“ legitime Erwartungen an die anders Gemachten stellen kann und diese dahingehend befragen und kontrollieren kann, ob sie diesen gerecht werden sowie bei Abweichung symbolisch sanktionieren kann. Folglich wird eine kritische Auseinandersetzung mit hegemonialen Integrationsvorstellungen, Zugehörigkeitsordnungen und der Existenz rassistischer Diskriminierung in der Migrationsgesellschaft abgewehrt. Vielmehr setzen die Diskutantinnen den vermeintlichen Diskreditierungen des „Eigenen“ durch Migrationsandere ihrerseits Vorwürfe und den symbolischen Entzug von Rechten entgegen. Das hegemoniale stereotypisierende Erklärungswissen steht als Deutungsgramma-
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tik bereit, um das eigene Selbstbild sowie die normative hierarchische Ordnung, die bedroht waren, wieder zu stabilisieren. Bei der Thematisierung von Zugehörigkeit und Rassismuserfahrungen in schulischen Bildungszusammenhängen sind darüber hinaus auch mögliche lerngruppenbezogene Konsequenzen zu bedenken. Eine Thematisierung und Problematisierung von Othering und Rassismus erscheint risikoreich in Bezug auf die Reproduktion von Rassismus in der Lerngruppe und damit einhergehenden potenziellen Verletzungen migrationsanderer Schüler_innen. Zudem kann es zu einer Verschiebung der Aufmerksamkeit kommen, bei der die Vorstellung weißer Schüler_innen ungerechtfertigter Weise beschuldigt zu werden in den Mittelpunkt rückt. „Nach dem Muster einer Opfer-Täter-Umkehr verlagert sich die Aufmerksamkeit von den konkreten Rassismuserfahrungen weg auf die Vorstellung, beschuldigt zu werden“ (M ESSERSCHMIDT 2010a: 42). 7.2.2 Hürden und Möglichkeiten für die Reflexion von Othering und Rassismus in Bildungsprozessen Was bedeutet dies grundsätzlich für die Möglichkeit von Verschiebungen in Bildungsprozessen? Die hier zum Ausdruck kommende „Verhinderung der Artikulation von Diskriminierungs- und Rassismuserfahrungen“ (M ECHERIL & H AAGEN W ULFF 2016: 132–133) trägt dazu bei, Rassismus in der gesellschaftlichen Mitte in seiner Wirkmächtigkeit zu konservieren, weil er nicht zum Thema wird. Dies unterstreicht die Notwendigkeit, in Bildungsprozessen Reflexions- und Analysemöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Es wird allerdings deutlich, dass es schwierig sein kann, in Bildungsprozessen bei Schüler_innen eine kritische Selbstreflexion mit Bezug auf Rassismus zu erreichen. Gleichzeitig zeigt sich aber auch, dass die gesamte Logik der Argumentation der Schülerinnen auf „wackligen“ Annahmen fußt. So muss der Migrationsprozess aktualisiert werden und als freiwillige, bewusste Entscheidung eines jederzeit mobilen Subjekts auf der alleinigen Grundlage einer „Hier-besser-da-schlechter“-Dichotomie imaginiert werden. Der „Gaststatus“ und das Kritikverbot müssen auf die Nachfolgegenerationen von Migrant_innen übertragen werden, denen die legitime Anwesenheit im Raum nicht voraussetzungslos zugestanden werden kann. Die Artikulation der „Anderen“ muss immer wieder aktiv umgedeutet und diskreditiert werden. Zudem zeigt sich, dass das ungebrochen positive Selbstbild von der „Wir-Gruppe“ fragil ist, da die Widersprüche permanent ausgeblendet werden müssen. Diese Fragilität plausibilisiert auch die Emotionalität, mit der die Gruppe die Unterstellungen gegenüber der „Sie-Gruppe“ vorbringt und die Zufriedenheit der Diskutantinnen, als sie die Verantwortung des „Wir“ zurückgewiesen haben, das positive Selbstbild
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bewahrt und die hierarchische Ordnung zwischen „Wir“ und „Sie“ gefestigt haben (vgl. Kap. 5.6.2). M ESSERSCHMIDT (2010a: 42–43) deutet die Emotionalität der Abwehr von Rassismusbenennungen auch als Ausdruck dessen, dass darin ein implizites Bewusstsein für die Existenz von Rassismus zum Ausdruck kommt: „Das Gefühl, verletzt worden zu sein, bringt zum Ausdruck, dass etwas getroffen worden ist. Erzählungen über Erfahrungen rassistischer Diskriminierung lösen offensichtlich bei denen, die in den Erzählungen gar nicht persönlich vorkommen, den Eindruck aus, damit gemeint zu sein, was dann zu abwehrenden Reaktionen führt. Ich möchte das so deuten, dass darin eine Ahnung von der strukturellen Präsenz von Rassismus ausgedrückt wird, die aber als unreflektierte und nicht artikulierte in der Form rhetorischer Zurückweisung auftritt.“ (M ESSERSCHMIDT 2010a: 42–43)
Sowohl die fragile Plausibilität der Begründungslogik als auch die Fragilität des Selbst- und Weltbildes der Gruppe verdeutlichen, dass die hegemonialen Unterscheidungsmuster und das Dominanzverhältnis nicht unumstößlich, sondern vielmehr durchaus verschiebbar sind. In der Fragilität kommt auch zum Ausdruck, dass Rassismus weißen Menschen nicht nur Privilegien zuschiebt, sondern ihnen auch Schaden im Hinblick auf das eigene Selbstbild zufügt (W OLLRAD 2005: 184). Dass Weißsein kein Ort der Neutralität bzw. kein „unbeschriebene[s] und unbeschadete[s] Außen rassistischer Gewaltdynamiken“ (W OLLRAD 2005: 184) ist, stellt ein Argument dafür dar, warum auch weiße Menschen ein eigenes Interesse an einer kritischen Auseinandersetzung mit Rassismus haben können. Wie schnell es in Selbstreflexionsprozessen weißer Lernender zu Abwehrreaktionen und einer Verantwortungsumkehr in Form eines victim blaming kommen kann, verdeutlicht auch eine Passage in der Gruppendiskussion E-Sports. Dort stößt die Interviewerin eine Reflexion darüber an, wie die Teilnehmer den Ausländer_inbegriff verwenden. Obwohl Yf die Teilnehmer nicht explizit auf den Widerspruch anspricht, dass sie von Migrationsanderen eine Selbstpositionierung als „Deutsche“ erwarten und diese gleichzeitig selbst stets auf die Position von „Ausländer_innen“ verweisen, kommt es in dieser Reflexionspassage zur Rechtfertigung der eigenen Benennungspraxis. Die Fragilität der Bezeichnungspraxis dokumentiert sich darin, dass der Widerspruch der Gruppe bewusst wird, ohne dass es eines expliziten Verweises bedarf. Es reicht aus, dass durch die Nachfrage der Interviewerin die Benennungspraxis der Gruppenmitglieder zu einer Praxis gemacht wird, die nicht selbstverständlich ist, sondern hinterfragbar und begründungsbedürftig erscheint. Der Widerspruch wird allerdings nicht explizit geäußert. Es kommt zu nachträglichen Erklärungen der eigenen Verwendungsweise, nicht
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aber zur expliziten Hinterfragung. Bm postuliert, er selbst sehe Migrationsandere als „Deutsche“ an, was sich aber mit seiner tatsächlichen Benennungspraxis in der Gruppendiskussion nicht deckt. Em und Bm hingegen rechtfertigen die Benennung Migrationsanderer als „Ausländer_innen“ unter Rückgriff auf herabsetzende Zuschreibungen. Dabei werden ein Integrationsbedarf und mangelnde Integrationsbemühungen auf die „Sie-Gruppe“ projiziert. Diese werden dann vermeintlich legitimerweise über den begrifflichen Verweis aus der „Wir-Gruppe“ hinaus sanktioniert. Es wird deutlich, dass die Diskutanten angesichts der sich abzeichnenden Problematik des eigenen sprachpraktischen Handelns zum abwehrenden Gegenangriff ausholen. Die Verantwortung dafür, als „Ausländer_in“ bezeichnet zu werden, wird Migrationsanderen selbst zugeschrieben (s. Kap. 5.4.2). Es kommt zum victim blaming sowie zur Aktualisierung von Negativzuschreibungen. In dieser Situation findet keine kritische Reflexion der Benennungspraxis als „Ausländer_in“ statt. Vielmehr hat die Situation sich hinsichtlich der Legitimierung der Benennung Migrationsanderer als „Ausländer_in“ sowie bezüglich der aktualisierten Negativrepräsentationen und der De-Legitimierung von differenzanzeigenden migrationsanderen Selbstbezeichnungen als rassismusrelevant erwiesen. Das Dominanzverhältnis zwischen vermeintlich legitim Zugehörigen und Migrationsanderen wird reproduziert. Auch hier zeigen sich sowohl die Fragilität als auch die machtvolle Wiederherstellung der Legitimität der ausgrenzenden Benennungspraxis und des Dominanzverhältnisses. Wiederholung, Stärkung und Stabilisierung sowie Brüchigkeit von hegemonialen gesellschaftlichen Ordnungen können mit E GGERS als zwei Seiten einer Medaille verstanden werden: „Die Tatsache, dass Herrschaftsordnungen in hohem Maße auf Verstärkung und Stabilisierung angewiesen sind, verweist auf die Brüchigkeiten ihres Konstruktionscharakters“ (2010: 71). Damit kann rassistische „Normalität auch als ein Möglichkeitsraum gedacht werden“ (E GGERS 2010: 71), in dem sich (selbst-)reflexive Lernprozesse verankern lassen. Othering- und Rassismuserfahrungen Gehör zu verschaffen, verstehe ich daher als gegenhegemoniale Möglichkeit, die Konservierung der Wirkmächtigkeit von Rassismus zu durchbrechen und eine weit verbreitete Missachtung von relevanten Erfahrungen Migrationsanderer aufzuheben. R HODE -J ÜCHTERN und S CHNEIDER beschreiben den Weg vom Ausgangspunkt der Irritation hin zu (Selbst-)Reflexion und neuen Erkenntnissen folgendermaßen: „Zu reflektieren ist darüber, wie das Rätsel als Grenzfall zwischen verschiedenen Beobachtungen entstanden ist. Dazu werden die einzelnen Beobachtungen beschrieben und der
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‚Stoff‘, aus dem das Rätsel und das Problem gebaut sind, ans Tageslicht befördert. Ist das Rätsel erst einmal da, kann es als lohnendes Problem entfaltet werden. Diese Entfaltung dient schließlich dazu, die verschiedenen Sichtweisen auf eine Sache aufzuzeigen, zu koordinieren und in Ordnung zu bringen.“ (R HODE -J ÜCHTERN & S CHNEIDER 2012: 81)
Es gilt demnach in reflexiven Bildungsprozessen an die Irritation anzuknüpfen und sie als Problem zu entfalten, das sich zwischen verschiedenen Beobachtungsperspektiven aufspannt. Als wichtiger Punkt kann dieser Schritt der bewussten Thematisierung der Irritation als lohnendes Problem und Kreuzungspunkt verschiedener Perspektiven angesehen werden. Es erscheint im Anschluss an die Gruppendiskussionen zentral, darauf zu achten, dass die verschiedenen Sichtweisen nicht sogleich wieder verdeckt werden, um nicht monoperspektivische Bestätigungen hegemonialer Sinngebungsmuster zu reproduzieren. An dieser Stelle zwischen Irritation und (Selbst-)Reflexion erscheint die Gefahr hoch, dass das Rätsel eben nicht „zu der Einsicht führt, dass mit unserem Wissen und unseren Beobachtungen etwas nicht in Ordnung ist“ (R HODE -J ÜCHTERN & S CHNEIDER 2012: 81). Denn andere Logiken und Perspektiven können verdeckt und das Problem so vereindeutigt werden, dass das eigentlich unzulängliche eigene Sinngebungswissen doch vermeintlich zufriedenstellende Erklärungen bietet. Dass die Infragestellung des eigenen Welt- und Selbstbildes also durchaus als bedeutende Hürde für reflexives Bildungshandeln begriffen werden kann, wird auch bei R HODE -J ÜCHTERN und S CHNEIDER (2012: 79) angesprochen. Sie sprechen von einer „Zumutung“, die mit (selbst-)reflexiven Lernprozessen einhergeht, weil man „in Frage stellen [muss], was man als richtig oder falsch glaubt und weil man lernen muss, die Dinge zu beobachten, ohne sie mit den üblichen Bewertungen zu verzerren“ (2012: 79). Diese Infragestellung bedeutet eine Auseinandersetzung mit einem bereits gefestigten Weltbild und kann auch das eigene Selbstbild betreffen und durchaus schmerzhaft sein. „Sich von Furcht, Routinen und Vorbildern zu lösen ist erst einmal anstrengend, weil dazu Mut und eine gehörige Portion (Selbst-)Reflexivität erforderlich sind“ (R HODE -J ÜCHTERN & S CHNEIDER 2012: 79). Aus Beobachtungs- und Sinngebungsroutinen hinaus zu gelangen, erfordert daher eine prozesshafte Umsetzung bzw. – R HODE -J ÜCHTERN und S CHNEIDER (2012: 82) es ausdrücken – geduldige Förderung und Übung.
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7.2.3 Hinweise für die Ermöglichung von reflexiven Bildungsprozessen Wie können möglichst produktive und weniger riskante Lernumgebungen unterstützt werden? In einer Veränderungsperspektive liefern die Analysen Hinweise darauf, welche Mechanismen der Stabilisierung hegemonialer Perspektiven auf migrationsgesellschaftliche Differenzverhältnisse in Bildungsprozessen relevant werden können. Im Anschluss kann über Möglichkeiten nachgedacht werden, wie Bildungsprozesse gestaltet werden können, um diesen zu begegnen. Ich orientiere mich bei der folgenden Darstellung von Hinweisen für die Ermöglichung von Gehör für Othering und Rassismuserfahrungen daher an den Mechanismen der Stabilisierung, die im empirischen Material zum Tragen kommen. Die Mechanismen der Stabilisierung entsprechen im Wesentlichen den von M ESSERSCHMIDT (2010a) identifizierten vier Distanzierungsmustern im Umgang mit Rassismus in der bundesdeutschen Gesellschaft. M ESSERSCHMIDT arbeitet folgende Muster heraus: Skandalisierung von Rassismusdiagnosen, Verlagerung von Rassismus in den Rechtsextremismus, kulturalistische Wahrnehmungsmuster und Verschiebung von Rassismus in die Vergangenheit (M ESSERSCHMIDT 2010a). Für die Muster der Skandalisierung und der Verlagerung in den Rechtsextremismus ist M ESSERSCHMIDT zufolge charakteristisch, dass sie Rassismus als gesellschaftliches Ausnahme- und Randphänomen erscheinen lassen. Das Muster der Kulturalisierung stellt mit der „anderen“ Kultur eine plausible Begründung bereit und die Verschiebung in die Vergangenheit grenzt die gegenwärtige Gesellschaft von einer rassistischen Historie ab (M ESSERSCHMIDT 2010a: 41). Das Muster der Kulturalisierung tritt in der vorliegenden Untersuchung in veränderter Form auf. Für plausible Begründungen des eigenen rassistischen (Sprach-)Handelns haben die Gruppen nicht ausschließlich auf kulturalistische Wahrnehmungsmuster im engeren Sinne zurückgegriffen. Vielmehr wird in den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports deutlich, dass der Integrationsdiskurs und die Assimilationslogik das Sinngebungswissen bereitstellen, welches zur vermeintlich plausiblen Begründung des eigenen legitimen Handelns herangezogen wird. Diese vier Distanzierungsmuster tragen zur Aufrechterhaltung und Legitimierung der Dominanzordnung bei und werden nachfolgend daraufhin beleuchtet, wie ihnen in Bildungsprozessen begegnet werden kann.
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Legitimierung der Benennung von Othering und Rassismus als Gegenentwurf zur Skandalisierung
Unter bildungsbezogener Veränderungsperspektive analysiert, unterstreichen die rekonstruierten Argumentationen der Gruppen Klavier und E-Sports (s. a. Kap. 5.4.2 und 5.6.2), dass es notwendig sein kann, die Benennung von rassistischer Ausgrenzung, Herabsetzung oder Benachteiligung aus der Gleichsetzung mit einer Diskreditierung der „Wir-Gruppe“ zu lösen, um eine Dynamik von Ablehnung und Herabsetzung aufbrechen zu können. Um der Gefahr zu begegnen, dass Migrationsanderen das Recht auf die Artikulation von Kritik aberkannt wird, kann die Benennung von Othering- und Rassismus durch alle Menschen in Bildungszusammenhängen dezidiert legitimiert werden. Außerdem kann die Frage gestellt werden, wer darüber entscheidet, „ob Gesagtes oder Getanes verletzend, abwertend und ausgrenzend ist?“ (S CHARATHOW 2014: 442–443). Hier sollte die Definitionsmacht verschoben werden. Für die Wirkung einer (Sprach-)Handlung ist weniger entscheidend, ob diese intendiert war oder nicht, sondern vielmehr der Effekt, den diese auf die adressierte Person hat. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass sich die Diskussion allein um die Intentionen und damit diejeingen dreht, die verletzende (Sprach-)Handlung ausgeübt haben. Ziel ist es, Rassismuserfahrungen Raum zur Artikulation zu verschaffen. Subversives Zuhören als Gegenkonzept zum hegemonialen Sinngebungswissen
In ihrem viel zitierten Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“ setzt sich S PIVAK (1988) mit der Thematik von Gehör-Finden innerhalb von machtförmig strukturierten Repräsentationsverhältnissen auseinander. Die Frage nach der Möglichkeit Subalterner zu sprechen mag dabei etwas irreführend sein. Für S PIVAK ist die Frage, inwiefern Marginalisierte gehört werden, zentraler Bestandteil der Frage, nach der (Un-)Fähigkeit zu sprechen. Es geht ihr darum, dass Marginalisierte zum Schweigen gebracht werden, indem sie nicht gehört werden (S PIVAK 1988: 308; C ASTRO VARELA & D HAWAN 2003: 278). In den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports haben die marginalisierten Orientierungen des Filmprotagonisten im Unterschied zur Gruppendiskussion Schuluniform kein Gehör gefunden bzw. wurden zum Schweigen gebracht. Im Anschluss an S PIVAK (1988) betonen VARELA und D HAWAN (2003: 279–280) daher die Bedeutung von Zuhören als subversive Praxis: „Subversives Zuhören bedarf eines selbstbewussten Subjektes, das in der Lage ist, dann zu schweigen, wenn andere Perspektiven zum Vorschein kommen, genau in den Momenten, die
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die Gefahr des Verlustes des eigenen Privilegs [der Repräsentationsmacht, Anm. d. Verf.] in sich bergen.“
Der Akt des Zuhörens enthält Bedeutung als widerständiger, ermächtigender Akt und ermöglicht eine Verschiebung der Machtdynamiken (C ASTRO VARELA & D HAWAN 2003: 278–279). Denn das obige Beispiel der Verdeckung der Irritation des eigenen Selbst- und Weltbildes unter Rückgriff auf hegemoniale Wissensbestände über Migrationsandere weist darauf hin, dass es nicht darum geht, (mehr) Wissen über „Andere“ zu erlangen, um sie besser zu verstehen. Im Gegenteil definieren dort vermeintlich Wissende die soziale Wirklichkeit der Betroffenen und erklären diese entlang hegemonialer Wissensbestände (M ECHERIL 2002: 29). Um zu einer Reflexion zu kommen, wäre es vielmehr das Ziel, sich immer wieder bezüglich des eigenen „Wissens“ verunsichern zu lassen; also sich die vermeintlich gültigen inkorporierten Wissensbestände über andere Gruppen bewusst zu machen und diese zu hinterfragen. „Denn solches ‚Wissen‘ kann, wenn es nicht reflexiv ist, das Sehen und Analysieren einer konkreten Situation sogar verhindern.“ (K ALPAKA 2015: 309–310). Für ATTIA macht eine solche Form grundsätzlicher Selbstreflexion, die bei vermeintlich selbstverständlichen Essentialisierungen, Dichotomisierungen und Hierarchisierungen ansetzt, interkulturelle Kompetenz aus. Deren Ziel ist dann nicht Toleranz, sondern Irritation von Gewissheiten und Zuund Festschreibungen (ATTIA 2008: 50). Damit einhergehend ist auch die Anerkennung der Perspektivengebundenheit von Wissensbeständen und folglich auch eigenen Nicht-Wissens zentral. M ECHERIL spricht von einer notwendigen „Verschränkung von Wissen und Nicht-Wissen“ (2002: 28). Es geht ihm um die Fähigkeit, anzuerkennen, dass das eigene Wissen ein beschränktes ist, welches an die eigene soziale Position gebunden ist. Erst die Anerkennung von NichtWissen ermögliche eine Bezugnahme auf die_den „Anderen“, bei der ich diese_n nicht von vornherein in meinen eigenen Kategorien darstelle (M ECHERIL 2002: 29; s. a. S CHRÖDER 2016b: 22). Sie „ermöglicht vielmehr jene Art von Wissen, die ein Wissen um die Grenzen des Wissens, seiner Anwendbarkeit und um seine Eingebundenheit in Verhältnisse der Macht und Ungleichheit ist“ (M ECHERIL 2002: 29). Ziel sei es, hegemoniales Wissen aus seinem hegemonialen Status zu lösen. Bewusstwerdung und Selbstreflexion verweisen folglich auf zwei Denkbewegungen: Erstens, sich der eigenen Verwobenheit in Machtverhältnisse bewusst zu werden und damit einhergehend zweitens, anderes Wissen anzuerkennen, vermeintlich „normale“ Bedeutungskonstruktionen sowie deren Auswirkungen zu erkennen und deren Selbstverständlichkeit zu hinterfragen (S CHRÖDER 2016b: 23; s. a. S CHARATHOW 2014: 442-443).
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Dies gilt auch für Lehrer_innen, die in der Mehrzahl der weißen Mehrheit angehören. Ihr eigenes Wissen um Rassismus ist auch ein positioniertes. NichtWissen anzuerkennen und die eigene Machtposition kritisch zu hinterfragen, wird auch für Lehrer_innen wichtig. Ein Beispiel aus der Gruppendiskussion Schuluniform zeigt auf, dass die Repräsentationsverhältnisse auch in unterrichtlichen Zusammenhängen eine Rolle spielen können. In der betreffenden Passage setzen sich die teilnehmenden Schülerinnen mit der Zuschreibung von zwangsbetontem und gewaltvollem Erziehungshandeln an ihre Elternhäuser auseinander. Sie erzählen, dass sie im Unterricht das Thema der „eigenen“ Kultur präventiv zu meiden versuchen, u. a. weil das Ding ist wenn du wenn du was erzählst dann verstehen die das immer falsch (Z. 3585-3586). Das Thema der „eigenen“ Kultur scheint für die migrationsanderen Diskutantinnen auch in der Schule mit der Gefahr verbunden, dass ihnen und ihren Familien gegenüber dieses stereotypisierende, herabsetzende Erklärungswissen aufgerufen wird. Das, was die Schülerinnen in einer solchen Situation mitteilen, richtet sich danach, dass sie davon ausgehen, kein Gehör zu finden, da es bereits Deutungsgrammatiken gibt über die Gruppe, der sie zugeordnet werden, und die dazu führen, dass die eigenen Erzählungen falsch gerahmt würden. Da sie die Deutungshoheit als nicht bei sich selbst liegend empfinden, versuchen sie, eine potenzielle Konfrontation mit rassistischen Repräsentationen durch Umgehen des Themas zu vermeiden. Dies kann als eine Strategie des präventiven Schweigens verstanden werden. Ihre Perspektiven bleiben so ungehört. Das Beispiel rückt eine weitere Möglichkeit zur Verschiebung des Machtverhältnisses in den Fokus. Schüler_innen mit rassistischen Diskriminierungserfahrungen sollten als Expert_innen für diese anerkannt werden. Dabei ist es allerdings wichtig, den Status „Rassismusexpert_in“ nicht von außen zuzuschreiben. Der Ansatz sollte vielmehr sein, dass die Schüler_innen für sich selbst bestimmen können, „wer sie sind, was sie wissen und wie sie es mitteilen möchten“ (AUTOR * INNENKOLLEKTIV R ASSISMUSKRITISCHER L EITFADEN 2015: 19). Im Anschluss an F EREIDOONI und M ASSUMI verstehe ich daher die Selbstreflexion und -positionierung sowie die Thematisierung von Rassismus(-Erfahrungen) als Bestandteile einer „professionellen rassismuskritischen Haltung“ (F EREIDOONI & M ASSUMI 2015: 42) von Lehrer_innen. Hierfür braucht es eine rassismuskritische Lehrer_innenbildung (F EREIDOONI & M ASSUMI 2015: 42–43; s. a. S CHRÖDER 2016b: 22).
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Erweiterungen des Rassismusverständnisses
Es kann nicht von Lehrenden erwartet werden, dass sie das nötige Bewusstsein, die Sensibilisierung der Wahrnehmung und ein Verständnis von Rassismus bereits mitbringen, welches eine gelingende Adressierung von Othering und Rassismus ermöglichen würde. Im Folgenden wende ich mich der Aufgabe der Erweiterung des Rassismusverständnisses zu, welche sich sowohl auf die Bildung von Lehrenden als auch von Lernenden beziehen lässt. In einem Exkurs zeige ich diesen Gedanken an einem Beispiel aus meiner teilnehmenden Beobachtung auf. Die betreffende Unterrichtssituation habe ich in der Lerngruppe der Diskussionsgruppen Klavier und E-Sports an Schule 3 teilnehmend beobachtet. Während des Geschichtsunterrichts entspinnt sich ein angeregtes Unterrichtsgespräch über Rassismus. Angestoßen wird sie dadurch, dass Schüler_innen Wahlplakate der NPD im öffentlichen Raum beobachtet haben und ihr Unwohlsein zum Ausdruck bringen. Diese Unterrichtssituation analysiere ich im Folgenden dahingehend, inwiefern die Form der Thematisierung von Rassismus eine tiefgreifende Selbstreflexion verhindert. Die Analyse basiert auf Forschungstagebuchnotizen, die ich in Form eines Gedächtnisprotokolls nach dem Unterricht angefertigt habe (Gedächtnisprotokoll vom 04.06.2014). Bei der Diskussion sind ausschließlich weiße Menschen anwesend.
Exkurs: Beobachtungen zur Verhandlung von Rassismus in einem Unterrichtsgespräch an Schule 3 Die Inhalte der NPD werden im Unterrichtsgespräch klar mit Rassismus in Verbindung gebracht. Die Schüler_innen beteiligen sich rege und distanzieren sich – wie auch der Lehrer – von Rassismus und von der NPD. Rassismus wird als ein Denken in „Rassen“ verstanden und vom Lehrer als Phantasie der Überlegenheit gerahmt. Zudem hat der Lehrer den Begriff Sozial-Darwinismus genannt und als Vorstellung bestimmt, dass die Stärkeren vermeintlich das Recht hätten, die Schwächeren zu beherrschen. Der Lehrer stellt daraufhin die Frage, wer besonders „anfällig“ für solche „Phantasien der Überlegenheit“ sei, woraufhin die Schüler_innen mehrere Bevölkerungsgruppen nennen. Sie führen „arme Menschen“ an, die vom Staat enttäuscht seien, welches der Lehrer mit „die Entrechteten“ übersetzt und bejaht. Eine Schülerin referiert auf die weißen Menschen, die das vielleicht gern hörten, dass sie sozusagen „der König“ seien. Ein weiterer Schüler nennt weniger gebildete Menschen, woraufhin der Lehrer differenzierend interveniert. Am Beispiel eines Bekannten mit Hauptschulabschluss, der sich klar von Rassismus distanziert habe, weist er die pauschalisierende Zuschreibung von Rassismus an vermeintlich Ungebildete zurück. Als die Zuschreibung erneut
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aufkommt, räumt der Lehrer ein, dass Informiert-sein durchaus eine Rolle spiele. Vielleicht seien diejenigen, die für Rassismus „anfällig“ seien, weniger informiert. Aber mit Gebildet-sein sei das nicht erklärbar. Mehrere Schülerinnen verweisen zudem auf junge Menschen als besondere Risikogruppe. Später kommt ein Schüler darauf zu sprechen, dass viele „Deutsche“ sagten, „Ausländer_innen“ nähmen „uns“ die Arbeitsplätze weg. Dabei würden sie nicht sehen, dass „die Ausländer_innen“ auch „gut für Deutschland“ seien und viel für Deutschland gemacht hätten4 . Der Lehrer ordnet daraufhin den Redebeitrag des Schülers als Versuch der argumentativen Entkräftigung von Rassismus ein. Er antwortet dem Schüler, dass er versuche, zu argumentieren. Das Problem sei allerdings, dass „die Rassist_innen“ nicht argumentieren wollten. Rassismus wird hier ausschließlich in einer skandalisierten Variante als Rechtsextremismus verhandelt und so an den rechtsextremen Rand der Gesellschaft ausgelagert. Da Rassismus und Rechtsextremismus synonym verhandelt werden, rücken andere Formen von Rassismus aus dem Blickfeld. Rassismus erscheint nicht als gesellschaftliche Struktur, die alle Menschen betrifft, sondern wird als Einstellung bestimmter Menschen individualisiert. Gleichzeitig werden die „Rassist_innen“, bei denen das Problem verortet wird, pathologisiert; sie sind für moralisch verwerfliche Phantasien „anfällig“. Dabei werden mit weißen Menschen und Jugendlichen auch Bevölkerungsgruppen genannt, zu denen die Anwesenden sich prinzipiell selbst zuordnen könnten. Darauf wird allerdings nicht näher eingegangen. Auch die Argumentationsfigur des_der „nützlichen Ausländer_in“ wird nicht reflektiert. Sie ist aufgrund des inhärenten Utilitarismus problematisch und erkennt dem „Wir-Kollektiv“ die Definitionsmacht an, ihm „nützliche“ legitim anwesende „Ausländer_innen“ von solchen zu unterscheiden, denen dies abgesprochen wird. Der Rückgriff auf diese Argumentationsfigur wird hier vielmehr als positiver Argumentationsversuch gegen „die Rassist_innen“ und ihre Logik gewertet. Es handelt sich folglich um eine Diskussion über andere Personen – „die Rassist_innen“ – aus der sie sich selbst ausnehmen. Vor dem Hintergrund, dass alle Beteiligten sich bereits zu Beginn untereinander über ihre ablehnende, moralisch „richtige“ persönliche Haltung ausgetauscht haben, ist es unmöglich eigene Involviertheit in Rassismus zu thematisieren, ohne sich außerhalb des etablierten, sozial erwünschten Konsenses zu begeben. Indem bestimmte, pathologisierte Individuen als Ausübende verstanden werden, werden weite Teile der Gesellschaft aus der Reflexion ausgenommen. Den Schüler_innen wird performativ die Position der Nicht-Rassist_innen angeboten. Sie werden subjektiviert als diejenigen, die auf der vermeintlich richtigen Seite bzw. in der diskursiv neutralisierten Mitte (W OLLRAD 2010: 149) stehen. Die Lernenden erhalten – obwohl hier Rassismus problematisiert wird – „keine Unterstützung dabei, sich aus dominanten Wissensstrukturen heraus zu bewegen und
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Machtverhältnisse und ihre eigene Verstricktheit darin grundlegend zu hinterfragen.“ (DANIELZIK 2013: 32). Vielmehr werden die Schüler_innen hier in einem Subjektivierungsprozess unterstützt, in dem sie sich über eigene Involviertheit in Rassismus keine Gedanken machen müssen und von der Position der Nicht-Rassist_innen her sprechen und handeln können. Einige Tage nach diesem Unterrichtsgespräch sind es dieselben Schüler_innen, die in den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports rassifizierende Unterscheidungen, Deutungsmuster und Abwertungen reproduzieren. Von der Warte der Nicht-Rassist_innen aus kann die Gruppe Klavier rassistische Diskriminierung nicht anerkennen. H OOKS (1994: 43) sagt über „predominantly white classrooms“: „Transforming these classrooms is as great a challenge as learning how to teach well in the setting of diversity.“ Es sei daher unterstrichen, dass eine reflexive Beschäftigung mit Rassismus in Bildungsprozessen eine komplexe Aufgabe ist, bei der nicht vorausgesetzt werden kann, dass Lehrende das notwendige Wissen bereits mitbringen.
Erweiterung des Rassismusverständnisses I: Rassismus als gesellschaftliche Normalität
Die Verlagerung in den Rechtsextremismus (M ESSERSCHMIDT 2010a) verortet Rassismus außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses und macht ihn zu einem Problem „Anderer“, von denen man sich distanzieren kann. Dies geschieht in der oben analysierten Unterrichtsdiskussion. Rassismus wird nicht „als alltägliche Diskriminierungsform und als Weltbild, das in der Mitte der Gesellschaft verankert ist“ (M ESSERSCHMIDT 2010a: 45) wahrgenommen. S CHERSCHEL spricht von einem „Mitte/Rand-Schematismus“ (2011: 124), der zu einer Verdeckung von bestimmten Formen von Rassismus führt. In der Gruppendiskussion E-Sports werden rechtsextreme Artikulationen von Rassismus so eng gefasst, dass „Ausländer raus“ als Ausspruch Rechtsextremer verstanden wird, von dem sich die Gruppe distanziert. Vom Ausspruch „Scheiß Ausländer“ bzw. „Scheiß Muslim“ distanzieren sich hingegen nicht alle Teilnehmer (s. Kap. 5.5.3). Verschiebungen in die Vergangenheit äußern sich in den Gruppendiskussionen dahingehend, dass Rassismus mit nationalsozialistischem Rassismus und Antisemitismus in Verbindung gebracht wird und davon ausgegangen wird, diesen hinter sich gelassen zu haben. Die Anerkennung, dass es Rassismus in der deutschen Gesellschaft gibt, fällt besonders schwer, weil die Diagnose, rassistisch zu sein, in der postnationalsozialistischen Gesellschaft gefürchtet wird. „Die Vor-
4 | Es handelt sich hier um den Teilnehmer Em aus der Gruppendiskussion E-Sports, der dieselbe Argumentation auch in der Gruppendiskussion anführt (s. Kap. 5.5.3).
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stellung, man hätte nach der Demokratisierung auch die rassistischen Weltbilder überwunden, steht einer Auseinandersetzung mit alltäglichen Rassismen im Wege“ (M ESSERSCHMIDT 2010a: 52). Die Gruppe E-Sports distanziert sich kollektiv von Rechtsextremen, die „Ausländer_innen raus“ sagten. Dieses Weltbild wird als „Denken von früher“ in die Vergangenheit verlagert, von der die Gruppe sich zusätzlich über die Vorstellung eines historischen Bruchs distanziert. Beide Distanzierungsmuster stabilisieren ein unbeschädigtes Selbstbild eigener Wohlanständigkeit und Uninvolviertheit. Gleichzeitig erschweren sie die Anerkennung eigener Verstrickung in rassistische Verhältnisse, wenn Rassismus mit rechtsextremem bzw. nationalsozialistischem Gedankengut verbunden wird, welches den mehrheitsgesellschaftlichen Werten diametral widerspricht. Eine Erweiterung des Rassismusverständnisses erscheint notwendig, um auch alltägliche Formen von Rassismus thematisieren zu können. Zugleich erscheint eine begriffliche Unterscheidung von Rechtsextremismus und Rassismus hilfreich. Erweiterung des Rassismusverständnisses II: Involviertheit aller
In den Gruppendiskussionen E-Sports und Klavier sowie in der teilnehmenden Beobachtung an Schule 3 ist zum Ausdruck gekommen, dass die weißen Teilnehmenden die eigene Verstricktheit in die Reproduktion von natio-ethno-kulturellen Ausgrenzungen, Othering und Rassismus weitgehend ausblenden. Die Gruppendiskussionen geben auch den Hinweis, dass ein moralisch aufgeladenes Verständnis von der Position der „Wir Gruppe“ auf der Seite der „Guten“ hinderlich für eine selbstkritische Auseinandersetzung mit Prozessen von Othering, symbolischer Ausgrenzung und rassistischer Diskriminierung ist. Die Existenz von Othering und Rassismus in der Mitte der Gesellschaft stellt dann eine Bedrohung für das eigene Selbstbild dar. Die Fragilität des normativen Selbstbildes ist besonders in der Gruppendiskussion Klavier zum Ausdruck gekommen. Werden nun die Irritationen in Bildungsprozessen eingebracht, bedeutet dies, dass das ungebrochen positive Selbstbild bedroht wird. Es erscheint vor diesem Hintergrund bedeutsam, diejenigen, „deren Handlungen ungewollt zu rassistischen Effekten führen“ (S CHARATHOW 2014: 442), nicht nur in die Auseinandersetzung einzubeziehen, sondern dabei auch in ihrer ‚Nicht-Intention‘ ernst zu nehmen (S CHA RATHOW 2014: 442). S CHARATHOW unterstreicht die Bedeutung dessen, sich in Bildungsprozessen auf die Effekte von Handlungen zu konzentrieren, anstatt Aussagen über Charakter oder Einstellungen von Handelnden zu treffen. Ziel ist folglich nicht, Lernende individuell als Rassist_innen zu entlarven, sondern die Effekte von Sprech- und Handlungsweisen und die eigene Verstricktheit in hierarchisierende und ausgrenzende rassistische Verhältnisse zu erkennen und anzuerkennen (S CHARATHOW 2014: 242–243; s. a. S CHRÖDER 2016b: 24). Ein
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solches Rassismusverständnis ist abgrenzbar vom Konzept der „Ausländer_innen/Fremdenfeindlichkeit“, da keine Aussage über intentional-feindliche Einstellungen oder individuelle emotionale Ablehnung getroffen wird (zur Kritik des Konzepts der „Ausländer_innenfeindlichkeit“ s. H EIDENREICH 2013). Ein Verständnis von Rassismus als individuelle Ablehnung zeigt sich in der empirischen Untersuchung nicht nur an Schule 3, sondern auch in Teilen der Gruppendiskussion Schuluniform (s. Kap. 6.3.2 in der Passage „Rassismus als eine Frage der Abneigung“). Aus rassismuskritischer Perspektive erscheint es daher sinnvoll, ein Verständnis von Rassismus zu verankern, dass Rassismus als eine gesellschaftliche Struktur begreift, in die alle (auf unterschiedliche Weise) eingebunden sind. Auf diese Weise können die sozialen Beziehungen im Lernprozess verschoben werden. Denn es wird deutlich, „dass es sich um ein gemeinsames Problem handelt, das allerdings sehr unterschiedlich erlebt werden kann – je nachdem, welche Machtposition ich einnehme und welche Privilegien ich genieße und je nachdem, welche Machtressourcen mir verwehrt werden.“ (M ES SERSCHMIDT
2010a: 44)
Erweiterung des Rassismusverständnisses III: Verantwortung statt Schuld
Die Analyse der Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports gibt ebenfalls den Hinweis, dass Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen als kollektive Schuldzuweisung und Kritik an der eigenen Person verstanden werden kann (vgl. Kap. 5.6.2). Hilfreich vor dem Hintergrund möglicher Abwehrreaktionen erscheint daher eine Unterscheidung zwischen Schuld- und Verantwortungsübernahme, wie sie M ESSERSCHMIDT darlegt. Verantwortungsübernahme in Form von Selbstpositionierung und Selbstreflexion wird als produktiv verstanden, während Schuldgefühle lähmen könnten, da Schuld individualisierend verstanden werden und Abwehr erzeugen könne (M ESSERSCHMIDT 2010a: 44). L EA und S IMS weisen darauf hin, dass auch das Bewusstsein für rassistische Effekte eigener Handlungsweisen schmerzhaft ist: „However, knowing that one’s acts are leading to the oppression of others is painful. It is easier to find an effective rationale that justifies one’s relative privilege“ (2008: 11). Als kommunikativer Rahmen kann daher die Erkenntnis dienen, dass es schwierig ist, in der Gesellschaft die Reproduktion von Rassismus zu vermeiden (L EA & S IMS 2008: 11). Wichtig ist dabei, darauf zu achten, dass bei der Betrachtung von Rassismus als gesellschaftliche Realität und Normalität Rassismuserfahrungen und mögliche Verletzungen Migrationsanderer nicht relativiert und bagatellisiert werden (S CHARATHOW 2014: 442–443). Die Thematisierung von Rassismus findet
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dann in einem Spannungsverhältnis statt. Auch wenn alle in Rassismus involviert sind und auch wenn Handeln ungewollt rassistische Effekte nach sich zieht, gilt es Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Verantwortung zu übernehmen, bedeutet im Anschluss an S CHARATHOW (2014: 442–443) nicht nur, bestimmte (Sprach-)Handlungen zu vermeiden oder sich für Handlungen zu entschuldigen, die zu nicht intendierten Verletzungen geführt haben. Verantwortung zu übernehmen, schließt vielmehr eine grundsätzliche Selbstreflexion der eigenen Einbindung in ungleiche Verhältnisse ein sowie die damit einhergehende kritische Beschäftigung mit vermeintlich selbstverständlichen Bedeutungskonstruktionen. Ziel ist es, dass Lernende für mögliche Effekte des eigenen (Sprach-)Handelns in migrationsgesellschaftlichen Differenz- und Dominanzverhältnissen sensibel werden. Diese Herangehensweise blendet die Kontexte ein, „in denen Subjekte sich bewegen und Erfahrungen machen, und die Einfluss nehmen auf ihr Erklärungs- und Deutungswissen, ihre Empfindungen und ihr Handeln sowie ihre Möglichkeitsräume“ (S CHARATHOW 2014: 442–443). Dass Verantwortung auch damit einhergeht, die eigene Eingebundenheit in Differenzund Dominanzverhältnisse auszuhalten, wird bei S EGBERS und E BERTH erwähnt: „Das Bewusstsein über das eigene Eingebundensein in diese Strukturen gilt es [in Bildungsprozessen, Anm. d. Verf.] zu erzeugen, verantworten und auszuhalten.“ (S EGBERS & E BERTH 2017: 9). Der Aspekt des Aushaltens kann anhand der Überlegungen von Bell H OOKS zu einer Bildungspraxis mit dem Ziel von „critical awareness and engagement“ (1994: 14) weiter vertieft werden. H OOKS beschäftigt sich mit den Effekten, die die selbstreflexive Auseinandersetzung mit Rassismus auf weiße Lernende haben kann: „White students learning to think more critically about questions of race and racism may go home for holidays and suddenly see their parents in a different light. They may recognize nonprogressive thinking, racism, and so on, and it may hurt them that new ways of knowing may create estrangement where there was none. Often when students return from breaks I ask them to share with us how ideas that they have learned or worked on in the classroom impacted on their experience outside. This gives them both the opportunity to know that difficult experiences may be common and practice at integrating theory and practice: ways of knowing with habits of being. We practice interrogating habits of being as well as ideas. Through this process we build community.“ (H OOKS 1994: 43)5
5 | Der Vorschlag von H OOKS bezieht sich auf ihre Arbeit mit Studierenden – daher auch die Erwähnung der Heimfahrten in vorlesungsfreien Zeiten. Die dem Vorschlag zugrundeliegende Überlegung ist meiner Ansicht nach aber auch im schulischen Kontext relevant.
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H OOKS wählt einen Zugang, der anerkennt, dass Selbstreflexion und Bewusstwerdungsprozesse bei privilegiert Positionierten schmerzhaft sein können und Entfremdungsgefühle gegenüber dem eigenen Umfeld auslösen können. Auch den alltagspraktischen Erfahrungen weißer Schüler_innen in der Auseinandersetzung mit dem theoretischen Wissen über Rassismus sollte folglich Raum gegeben werden, um alle Teilnehmer_innen in ihren unterschiedlichen Eingebundenheiten in die rassistischen gesellschaftlichen Verhältnisse ernst zu nehmen (H OOKS 1994: 43; s. a. S CHRÖDER 2016b: 24). Auf diese Weise können die Schüler_innen in ihrem Prozess der Übernahme von Verantwortung reflektierend begleitet und gestützt werden. Dabei sollte allerdings beachtet werden, „dass rassismusspezifische Erfahrungen weißer Deutscher in Quantität und Qualität nicht mit jenen Schwarzer Deutscher bzw. Deutscher of Color vergleichbar“ sind (F EREIDOONI 2015: 23; s. a. S CHRÖDER 2016b: 24). Bedacht werden sollte auch die Gefahr, die Aufmerksamkeit in der Diskussion auf Verletzungen weißer Schüler_innen zu zentrieren.
7.3 P RODUKTIVE W IDERSTÄNDE ? Bisher standen verstärkt diejenigen im Fokus, die Rassismus reproduzieren und distanzieren können, also diejenigen, die sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen müssen. Nachfolgend geht es in erster Linie um diejenigen, die Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung machen und/oder sich mit diesen (kollektiv) auseinandersetzen. Rassismuserfahrungen in Bildungsprozesse einzubeziehen bietet die Möglichkeit, dass Erfahrungen von in rassistischen Verhältnissen de-privilegierten Schüler_innen (oder Lehrer_innen) als existent und als bedeutsame Lebensrealität anerkannt werden. Darüber hinaus kann auf diese Weise auch zu einer Stärkung von marginalisierten Perspektiven von migrationsanderen Schüler_innen beigetragen werden, die sich wie die Gruppe Schuluniform für eine Bewusstseinsentwicklung in der Gesellschaft gegenüber der Realität von rassistischer Diskriminierung einsetzen. Während Ziel der Überlegungen in Kapitel 7.2 war, einen reflexiven Umgang mit Rassismus anzuregen, ist es im folgenden Kapitel Ziel, zu klären, auf welche Weise Rassismuserfahrungen in Bildungszusammenhängen adressiert werden können und wie dies ermöglicht werden kann.
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7.3.1 Emanzipatorisch-widerständige Haltungen wahrnehmen, stärken und erweitern „We know that the forces that silence us, because they never want us to speak, differ from the forces that say speak, tell me your story. Only do not speak in a voice of resistance. Only speak from that space in the margin that is a sign of deprivation, a wound, an unfulfilled longing. Only speak your pain.“ (H OOKS 1993: 152)
H OOKS unterscheidet bezüglich der Thematisierung von Rassismuserfahrungen zwei Formen von silencing: Erstens würden Menschen mit rassistischen Diskriminierungserfahrungen zum Schweigen gebracht, wenn Rassismus kein Gehör geschenkt würde. Mit dieser Form der De-Thematisierung von Rassismus hat sich das vorangegangene Kapitel auseinandergesetzt. Zweitens beziehe sie sich auf die einseitige Thematisierung von Rassismuserfahrungen als Zeichen für Schmerz, Verletzungen oder Entbehrungen, die diejenigen Individuen, welche diese Erfahrungen teilen, viktimisiere (H OOKS 1993: 152). Eine Viktimisierung von Menschen, die rassistische Unterdrückungserfahrungen machen verdeckt, dass diese nicht nur passiv erleiden. Vielmehr seien sie „als handelnde Subjekte in spezifischen Möglichkeitsräumen“ (S CHARATHOW 2014: 442–443) zu verstehen, die sich zu den gesellschaftlichen Verhältnissen verhalten und über spezifische Wissensbestände verfügen können (S CHARATHOW 2014: 442–443; für die Geographie: S ANDERS 1999: 174). Dieser Subjektstatus wird verweigert, wenn Menschen einseitig als Opfer adressiert werden: „Die Reduzierung des ‚Anderen‘ auf sein Opfersein verweigert ihm in ähnlicher Weise den Subjektstatus wie die Reduzierung auf die Herkunft“ (F OITZIK 2010: 269). Bei der Thematisierung von Rassismuserfahrungen ist daher, darauf zu achten, Schüler_innen mit rassistischen Diskriminierungserfahrungen nicht einseitig in eine Opferposition zu drängen (s. a. S CHRÖDER 2016b: 25). Im Anschluss an H OOKS (1993: 152) kann dies als eine selektive Form des silencing verstanden werden. Ein selektives Gehör für Verletzungen und schmerzhafte Folgen von Rassismus verdeckt auch „voice[s] of resistance“ (H OOKS 1993: 152), wie sie sich in der Gruppendiskussion Schuluniform dokumentiert haben. Widerständige Haltungen und Stimmen werden auf diese Weise marginalisiert und mit ihnen das transformative und emanzipatorische Potenzial der Auseinandersetzung mit Othering- und Rassismuserfahrungen.
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 495
Auch A HMED (2007) hat sich mit der einseitigen Wahrnehmung von Rassismus als story of pain auseinandergesetzt. Sie arbeitet die diskursive Figur des_r melancholischen Migrant_in heraus. Diese werde wahrgenommen, als sei sie auf schmerzhafte Rassismuserfahrungen fixiert und halte an Differenz fest, wodurch sie es an der erwarteten positiv-zukunftsgewandten Haltung mangeln ließe (A HMED 2007: 133). Diese Vorstellung von einem die eigene Integration blockierenden Festhalten an Rassismuserfahrungen ist in der Gruppendiskussion Klavier zum Ausdruck gekommen (s. Kap. 5.6.2). Verletzungserfahrungen werden aus dieser Perspektive als Blockade gewertet, die eine progressive Zukunftsorientierung beeinträchtigt (A HMED 2007: 135) und ein Hindernis für gesellschaftliche Integration darstellt. Wenn also Rassismus als story of pain verstanden wird, gleichzeitig aber eine Orientierung an stories of happiness im Sinne von positiver Zukunftsgerichtetheit vorliegt, erscheint eine Thematisierung von Rassismus nicht zielführend. Auch dies kann als Muster der Distanzierung von Rassismus verstanden werden. Im Unterschied zu den von M ESSERSCHMIDT (2010a: 41–42) herausgearbeiteten Mustern der Distanzierung, die ich in Kapitel 7.2.3 thematisiert habe, ist mit diesem Muster nicht in erster Linie die Aufrechterhaltung eines unbeschädigten Selbstbildes verbunden. Vielmehr wird mit der Thematisierung von Rassismus kein gesellschaftspolitischer und individueller Mehrwert verbunden. Dieses Muster der Distanzierung von Rassismus kann insbesondere für Bildungsprozesse relevant werden, denn die Thematisierung von Rassismus scheint dann für Bildung keinen positiven Zielhorizont darzustellen, da sie die Ressourcenorientierung untergräbt (s. a. C ASTRO VARELA & JAGUSCH 2009: 275– 276). Dies ist an Schule 2 – also der Schule, die die Teilnehmerinnen der Gruppendiskussion Schuluniform besuchen – zum Ausdruck gekommen. In einem Gespräch mit der Interkulturalitätsbeauftragten der Schule wird der Forscherin signalisiert, dass der Begriff der Diskriminierung in der institutionellen Sprechkultur der Schule nicht genutzt werde. Er wird als negativ besetzt wahrgenommen. Stattdessen orientiert sich die Schule an individueller Förderung der Ressourcen migrationsanderer Schüler_innen im Hinblick auf den Berufseinstieg. Die Benennung von Diskriminierung wird als Widerspruch zu einem solchen Ansatz der positiven Bestärkung wahrgenommen. Die Schule beteiligt sich laut Auskunft der Interkulturalitätsbeauftragten an einem Projekt, bei dem es um die Wahrnehmung, Wertschätzung und Förderung der Kompetenzen gehe, die Schüler_innen mit Migrationshintergrund mitbrächten. Ziel sei es, dass die migrationsanderen Schüler_innen Stärken wie Mehrsprachig-
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keit überhaupt als solche wahrnehmen lernen (Forschungstagebuchnotiz vom 19.05.2014)6 .
Gespräch mit der Interkulturalitätsbeauftragten, Schule 2 Die interkulturelle Beauftragte der Schule hatte gerade vom Diskriminierungsreport und von Diskriminierung am Übergang auf das Gymnasium gesprochen. Von dort kommt sie auf ein Projekt zur Berufsorientierung bzw. zum Übergang in den Beruf zu sprechen. Ich sage sinngemäß: „Ah, ein Projekt, um Diskriminierung beim Übergang in den Beruf entgegenzutreten?“ Nein, sagt sie, so würde die Schule das nie formulieren. Sie hätten einen positiven Ansatz, um Schüler_innen zu stärken. Ich sage noch einmal: „Ok, um diejenigen zu stärken, für die der Übergang schwerer ist, weil sie benachteiligt sind.“ Nein, sagt sie, auch das nicht. Vielmehr setze das Projekt bei den Stärken der Schüler_innen an – bei denen, die Potenziale haben, sich derer aber oft gar nicht bewusst seien, wie z. B. Mehrsprachigkeit. (Forschungstagebuchnotiz vom 19.05.2014)
Die strukturelle Ebene von Ungleichheit wird auf diese Weise verdrängt. Es stellt sich die Frage, inwiefern ein bestärkendes pädagogisches Handeln, welches an zentralen Auseinandersetzungen der Schüler_innen und an gesellschaftlichen Realitäten vorbeigeht, diese tatsächlich stärken kann. Dies gilt insbesondere in Bezug auf den Übergang von der Schule in den Beruf. Wenn rassistische Diskriminierung hier nicht benannt wird, diese den Schüler_innen aber bewusst ist, kann dies möglicherweise im Gegenteil auch dazu führen, dass das Ziel der Bestärkung nicht erreicht wird, da die Schüler_innen sich in ihrer persönlichen Situation nicht wahr- und ernstgenommen fühlen. Das Benennen, Besprechen und Analysieren von rassistischen Diskriminierungserfahrungen kann rassismuserfahrenen Schüler_innen vielmehr dienlich sein, um die Bedingungen ihres Alltags zu reflektieren und Zuweisungen, Behinderungen, persönliche Toleranzgrenzen, Frustrationen oder Widerstandsformen einordnen zu können (ATTIA 1997: 279). A HMED beschäftigt sich mit der Wahrnehmung von positiven und negativen Gefühlen, die negative Gefühle als unproduktiven Endpunkt erscheinen lässt:
6 | Der Ansatz der Schule, die Wahrnehmung von familiärer Mehrsprachigkeit als Ressource zu fördern umfasst allerdings zum Zeitpunkt der Untersuchung keine regulären Unterrichtsangebote in Sprachen der Migration.
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„What concerns me is how much this turn to happiness actually depends on the very distinction between good and bad feelings that presume bad feelings are backward and conservative and good feelings are forward and progressive. Bad feelings are seen as orientated toward the past; as a kind of stubbornness that ‘stops’ the subject from embracing the future. Good feelings are associated here with moving up, and getting out.“ (2007: 135)
Demgegenüber schlägt sie vor: „If injustice does have unhappy effects, then the story does not end there. Unhappiness is not our end point. If anything, the experience of being outside the very ideals that are presumed to enable a good life still gets us somewhere. It is the resources we develop in sharing such experiences that might form the basis of alternative models of happiness. A concern with histories that hurt is not then a backward orientation: to move on, you must make this return. If anything we might want to reread the melancholic subject, the one who refuses to let go of suffering [. . . ] as offering an alternative social promise.“ (A HMED 2007: 135)
Die verdeckten schmerzhaften Erfahrungen und die Menschen, die an diesen festhalten und sie artikulieren, können im Anschluss an AHMED vielmehr als Potenzial verstanden werden. Sie können als Ausgangspunkt für die Formulierung von alternativen Formen gesellschaftlichen Miteinanders begriffen werden, wie auch die Vision von Gleichbehandlung in Unterschiedlichkeit in der Gruppendiskussion Schuluniform zeigt (s. Kap. 6.3.2). Ö ZAYLI und O RTNER übertragen diese Überlegungen auf pädagogische Fragen: „Bezieht man Ahmeds Argumentation auf Bildungsprozesse, so müsste es in Bildungsbemühungen und im Versuch, Gesellschaft zu verstehen, zuallererst darum gehen, solcher Verweigerung von glücklichen Geschichten nachzugehen. Einer Verweigerung, die eben auch auf ein grundlegendes Nicht-Gelingen von pädagogischem Handeln verweist. Wer sich darauf einlässt – und das wäre ein Angebot an angehende Lehrer_innen –, könnte auf Fragen stoßen, die in einem forschenden und politischen Sinn tatsächlich offen und zu bearbeiten sind.“ (2015: 215)
Sie verstehen es also als pädagogisch notwendig, die Verweigerung von glücklichen Geschichten anzuerkennen. Othering- und Rassismuserfahrungen und widerständigen Umgangsweisen mit diesen nachzugehen, stellt dann eine pädagogische Ressource für bedeutungsvolles Handeln dar, das sich bestehender Probleme annimmt.
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Dies wird auch im Hinblick auf die zentralen Orientierungen deutlich, die in der Gruppendiskussion Schuluniform dokumentiert sind. Die Schülerinnen verweigern glückliche Geschichten weitgehend. Sich den Erwartungen anzupassen, die entlang eines gesellschaftlichen Machtgefälles an sie gerichtet werden, stellt insbesondere für die Schülerin Df keine Alternative dar. Denn dies würde bedeuten, das Dominanzverhältnis zu bestätigen und zu stützen. Die Diskutantinnen benennen demgegenüber Erfahrungen mit Othering und rassistischer Diskriminierung und appellieren an die Dominanzgesellschaft, Rassismus wahrzunehmen und sich in die Position derjenigen hineinzuversetzen, die rassistische Diskriminierungserfahrungen machen. Die Gruppe orientiert sich kollektiv am gesellschaftspolitischen Ziel einer gleichberechtigten Gesellschaft, in der die Rechte und die Würde aller Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit anerkannt und respektiert werden. Im Anschluss an N GUYEN habe ich die Orientierungen der Gruppe Schuluniform zum Umgang mit Rassismuserfahrungen als stärkendes Widerstandsvermögen verstanden, das transformative Effekte haben kann, da es „mit einem Bewusstsein und einer Motivation für social and racial justice versehen ist“ (2013a: 61). Das Widerstandsvermögen stellt nicht nur für die Diskutantinnen selbst, sondern auch für eine kritische und emanzipatorische Auseinandersetzung mit Rassismus in Bildungsprozessen eine Ressource dar. Insofern kann analog zu produktiven Irritationen im vorangegangenen Kapitel hier von produktiven Widerständen gesprochen werden. Die Schülerinnen verfolgen bereits das bildungsrelevante transformative Ziel, rassistische Diskriminierung sichtbar zu machen und Bewusstwerdungsprozesse in der Gesellschaft anzustoßen. Eine solche Orientierung kann in Bildungsprozessen aufgegriffen und bestärkt werden. Nicht nur Rassismuserfahrungen, sondern auch widerständigen Umgangsweisen nachzugehen, birgt für Bildungsprozesse folglich sowohl transformatives als auch emanzipatorisches Potenzial. Die Gruppendiskussion Schuluniform gibt allerdings auch Hinweise darauf, dass es durchaus Resignation hervorrufen kann, wenn die Existenz von Rassismus als gesellschaftliche Realität anerkannt wird. Dort stehen sich die Orientierung an der Verweigerung glücklicher Geschichten und die hoffnungsvolle Orientierung an Diskriminierungsfreiheit gegenüber. Erstere kann die hoffnungsvolle Komponente letzterer nicht gleichermaßen bedienen (s. Kap. 6.3.1). Angesichts des Potenzials für Resignation und Entmutigung ist es wichtig, Schüler_innen bei der Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten zu unterstützen. W ISE und C ASE thematisieren mögliche Effekte, wenn Schüler_innen sich gesellschaftlicher Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten von Privilegien und Diskriminierungen in der Gesellschaft bewusst werden: „Once students recognize
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such unearned advantages exist, many become defeatist and even fatalistic about prospects for social change.” (2013: 21). Auch L EIPRECHT beschäftigt sich mit dem pädagogischen Problem, dass es für eine verändernde Bildungspraxis in der Gegenwart unbefriedigend sei, dass eine grundlegende gesamtgesellschaftliche Veränderung „in aller Regel eine Möglichkeit darstellt, die allenfalls in ferner Zukunft gesehen werden kann“ (2009: 254): „Die Kluft zwischen der gewünschten Systemveränderung und den eigenen Handlungsmöglichkeiten ist zu groß, so dass oft zynische und fatalistische Haltungen unterstützt werden. Gleichzeitig werden die aktuellen Verantwortlichkeiten und realen Handlungsfähigkeiten unterschätzt.“ (L EIPRECHT 2009: 254)
W ISE und C ASE (2013: 21) betonen, dass es daher notwendig sei, Schüler_innen Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Um tatsächlich emanzipatorisch wirken zu können, darf gleichwohl der Möglichkeitsraum für veränderndes Handeln nicht überschätzt werden. Dies bedeutet, dass eine Balance gefunden werden muss zwischen der Bestärkung und Förderung individueller Handlungsmöglichkeiten einerseits und einer Perspektive, die Rassismus andererseits nicht auf Auseinandersetzungen zwischen Individuen reduziert (vgl. a. Kap. 7.1.8). Vielmehr sollte im Blick behalten werden, dass Rassismus auch strukturell wirkt und beispielsweise Diskriminierung am Arbeitsmarkt nicht ausgeblendet werden. Was könnten angesichts dessen geeignete Schritte sein, um wirksam migrationsgesellschaftliche Differenz- und Dominanzverhältnisse zu verschieben? Schule kann als ein bedeutsamer Ort der Verhandlung gesellschaftlicher Weltbilder und -ordnungen begriffen werden (L OSSAU 2000: 25). Sie ist nicht nur eingebettet in gesellschaftliche Machtverhältnisse, sondern innerhalb dieser auch produktiv. Denn gesellschaftliche Vorstellungen von natio-ethno-kultureller (Nicht-) Zugehörigkeit und Rassismus können in Schule nicht nur aktualisiert, legitimiert und festgeschrieben, sondern auch hinterfragt und verschoben werden (M ECHE RIL 2010c: 16). Die reflexiv-kritische Thematisierung von Othering und Rassismus selbst kann dann bereits als ein Baustein gesellschaftlicher Veränderung betrachtet werden. Emanzipatorisch gestaltet, würdigt und bestärkt diese auch das Wissen und die Widerstände von Schüler_innen, die sich im Alltag mit Rassismuserfahrungen auseinandersetzen. Die Thematisierung von Situationen, in denen sie sich im Alltag widerständig verhalten, bietet vielfältige Möglichkeiten für Schüler_innen, als aktiv Handelnde, Analysierende und Wissende zu sprechen. So verweist N GUYEN u. a. auf die in
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familiären Beziehungsnetzwerken kursierenden alternativen Wissensbestände über Rassismus, Widerstandsstrategien und -ressourcen oder auch Migration. Diese seien „mögliche Ausgangspunkte für Geschichten und Perspektiven der Vielfalt im Klassenzimmer“ (2013a: 59–60). In der Gruppendiskussion Fußball greifen die Teilnehmer auch auf medial übermittelte gegenhegemoniale Wissensbestände aus einem Raptext zurück (Song „Ausländer raus“ von H AYAT und M ATONDO (2013). Eine Ressource für Bildungszusammenhänge kann auch der Blick auf Elemente eines „emanzipatorischen Kommunikations- und Handlungsstils“ (K ALLMEYER 2001: 401) von migrationsanderen Schüler_innen sein. Damit sind z. B. entlarvende Sprachspiele oder Ironisierungen gemeint, die hegemoniale Diskurse und gedankenlose Sprachpraktiken der Mehrheitsgesellschaft durchkreuzen oder verschieben (s. a. S CHRÖDER 2016b: 25). Auch Normalitätsdemonstrationen, die die eigene marginalisierte Perspektive im Modus der Selbstverständlichkeit vorbringen, können dazu gezählt werden (s. a. S CHRÖDER 2016b: 25). Letztere dokumentieren sich in den Gruppendiskussionen Schuluniform und Fußball, wenn die migrationsanderen Teilnehmer_innen auf selbstverständliche Weise Verständnis für die hybride Identifikationspraxis des Filmprotagonisten äußern. Den weißen Teilnehmer_innen hingegen erscheint die Identifikation mit der Türkei und mit Mannheim, nicht aber mit Deutschland als widersprüchlich und unlogisch (s. z. B. Kap. 6.1.3). Um die Handlungsfähigkeit von Schüler_innen nicht nur sichtbar zu machen und zu bestärken, sondern sie auch zu erweitern, ist es denkbar, auf Beispiele aus Antidiskriminierungsberichten von Bund oder Ländern zurückzugreifen (s. z. B. die Fallbeispiele im Diskriminierungsreport Hamburg, BASIS & W O GE E . V. 2013). Vielfältige persönliche „Geschichten von Zugehörigkeit“ (W ITH W INGS AND ROOTS I NITIATIVE 2015) bietet auch das Bildungs- und Websiteprojekt „Reimagine Belonging“, wo verschiedene Menschen in kurzen VideoInterviews ihre Erfahrungen und Perspektiven auf Zugehörigkeit teilen. Dies hätte auch den Vorteil, dass es sich um legitimierte Berichte handelt, die vermitteln können, dass Othering- und Rassismuserfahrungen als relevant angesehen und aufgezeichnet werden (s. a. S CHRÖDER 2016a: 26). Auf diese Weise könnte die Verankerung von Othering und Rassismus als relevante Unterrichtsgegenstände unterstützt werden. Gleichzeitig stellen die zwei exemplarischen Beispiele auch Möglichkeiten dar, Lernenden ihre Rechte zu vergegenwärtigen und sie mit bestehenden Strukturen und Initiativen bekannt zu machen, die sich für gesellschaftspolitische Veränderungen einsetzen. Ziel wäre es einerseits, migrationsandere Schüler_innen darin zu unterstützen, ihre eigene Handlungsfähigkeit zu erweitern (sie zu empowern) (AUTOR * INNENKOLLEKTIV R ASSISMUSKRITISCHER L EITFADEN 2015: 17, 49). Andererseits können alternative Wissensbestände auch weiße Ler-
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nende in ihren Reflexionsprozessen und bei einem verantwortungsvollen Handeln in migrationsgesellschaftlichen Differenz- und Dominanzverhältnissen unterstützen (AUTOR * INNENKOLLEKTIV R ASSISMUSKRITISCHER L EITFADEN 2015: 49). Über den schulischen Kontext hinausgehend kann es auch als Teil emanzipatorischer Bildung begriffen werden, Schüler_innen darin zu unterstützen, dass sie selbstbestimmt und selbstbewusst gesellschaftlich und politisch partizipieren (C ASTRO VARELA & JAGUSCH 2009: 276). Es können also Handlungs- und Artikulationsmöglichkeiten aufgezeigt und bestärkt werden. Im Folgenden skizziere ich in Auseinandersetzung mit den transformativen Orientierungen zum Umgang mit Rassismus, die sich in der Gruppendiskussion Schuluniform gezeigt haben, einige Ideen, wie die gesellschaftspolitische Handlungsfähigkeit der Diskutantinnen bestärkt und erweitert werden könnte. So setzt sich die Gruppe Schuluniform beispielsweise für Religionsfreiheit ein, welche grundrechtlich bereits geschützt ist. Auch könnte ihre Vision einer Gleichbehandlung aller Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit beispielsweise mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz der Bundesrepublik abgeglichen werden (A NTIDISKRIMINIERUNGSSTELLE DES B UNDES 2017) oder Antidiskriminierungsstellen befragt werden. Verschiedene Möglichkeiten einer Intervention bei rassistischer Diskriminierung könnten gemeinsam ausgelotet werden. Die Gruppe Schuluniform hat bereits die Gruppendiskussion genutzt, um im Sinne ihres gesellschaftspolitischen Ziels aktiv zu werden und Bewusstsein für Rassismus in der Gesellschaft zu fördern. Df berichtet zudem von einer Intervention in ihrem Lebensalltag, bei der sie an der Supermarktkasse auf die Realität von Ausgrenzung hingewiesen hat (Kap. 6.3.2). Um die Handlungsfähigkeit der Schülerinnen diesbezüglich zu erweitern, wäre eine niedrigschwellige Idee, auf partizipative Initiativen hinzuweisen, die ebenfalls das Ziel verfolgen, das Bewusstsein für Othering- und Rassismus zu erhöhen und bei denen die Möglichkeit besteht, sich zu beteiligen. 7.3.2 Dramatisierung, Ent-Dramatisierung und Nicht-Dramatisierung Schüler_innen mit rassistischen Diskriminierungserfahrungen als handelnde Subjekte zu verstehen, bedeutet auch, Widersprüche ihres Handelns nicht auszublenden (S CHARATHOW 2014: 442–443). In der Gruppendiskussion Schuluniform ist zum Ausdruck gekommen, dass Orientierungen der Diskutant_innen zur Selbstpositionierung und zum Umgang mit Rassismuserfahrungen durchaus auch hegemoniale Schemata der Differenz reproduzieren. Auch sie greifen auf binäre Kategorisierungen und Homogenisierungen zurück. Die Passage, in der Bf das Andersmachen Dfs als zuschreibenden Prozess analysiert, steht beispielsweise in
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Spannung zu einer anderen Diskussionspassage, in der das vermeintliche Anderssein Migrationsanderer reifiziert wird (vgl. die Passage „Für mich is es Rassismus“ in Kap. 6.3.2). S CHARATHOW weist zudem darauf hin, dass auch eigenes diskriminierendes Handeln – sowohl in Bezug auf Rassismus als auch in Bezug auf andere Differenzund Dominanzverhältnisse – nicht ignoriert werden darf (2014: 442–443). In Bezug auf die Verstricktheit in rassistische Verhältnisse ist keine dichotome Trennung in dominante Individuen und solche mit negativen Rassismuserfahrungen möglich. Angesichts verschiedener Rassismen und mit anderen Differenzverhältnissen – wie z. B. Klassismus – verwobenen Diskriminierungen ist es durchaus möglich, selbst Rassismus zu erfahren und Rassismus gegenüber anderen zu reproduzieren (D IETRICH 2009; s. a. S CHRÖDER 2016b: 24). Die teilnehmende Beobachtung in Schule 1 gibt zum Beispiel einen Hinweis darauf, dass Deutschkenntnisse eine potenziell relevante Differenzlinie sein können, entlang derer sich migrationsandere Schüler_innen, die keine eigene Migrationserfahrung haben und bei denen Deutsch eine Muttersprache darstellt, von migrationsanderen Mitschüler_innen abgrenzen, die erst vor Kurzem nach Deutschland gezogen sind. In der beobachteten Situation macht sich ein migrationsanderer Schüler über die Aussprache seiner Mitschülerin lustig und reproduziert so das Dominanzmuster der Assimilationslogik (Forschungstagebuchnotiz vom 04.04.2014). Die betreffenden Schüler_innen thematisieren auch in der Gruppendiskussion, dass sie für ihre Aussprache häufig ausgelacht würden und diese auf vermeintlich positive Weise als süß (Z. 1462) kommentiert würde. Dies empfinden sie als verletzend. Es kommt zum Ausdruck, dass sie sich bemühen und doch aufgrund der Sprachkenntnisse bzw. Aussprache besondert werden (GD Special, Z. 1425-1476). Im Anschluss an die ausführliche Betrachtung der Diskussion Schuluniform erscheint es zudem wichtig zu ergänzen, dass nicht alle migrationsanderen Schüler_innen als widerständig gedacht werden sollten. Mit den Worten von H OOKS ausgedrückt, ist es notwendig „to challenge the idea that black people [and people of color, Anm. d. Verf.] are inherently oppositional, are born with critical conciousness about domination and the will to resist” (H OOKS 1993: 55). So kommt im Gruppengespräch Facebook zum Ausdruck, dass Schüler_innen Rassismuserfahrungen für die eigene Person auch eine lediglich begrenzte Wirkmächtigkeit zuerkennen können. Eine Teilnehmerin, die einen Hidschab trägt, kommt erst zu einem späten Zeitpunkt des Gesprächs, auf ihre Rassismuserfahrungen zu sprechen. Diese begrenzt sie auf die Interaktion mit einer Generation (alte Menschen) in einem spezifischen Stadtteil. Diesen Stadtteil hatten die Teilnehmerinnen der Gruppe Facebook in einem informellen Gespräch mir gegenüber zuvor als einen
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„asozialen“ Ort beschrieben (Forschungstagebuchnotiz vom 13.05.2014). Die Schülerin erzählt: in F-Stadtteil immer wenn ich ähm da fahr, [. . . ] da sind immer solche alte Menschen, < un die gucken> mich immer so schief an und sagen (ma-) sagen immer, immer diese Ausländer, wo ich im Bus war zum Beispiel, (.) und dann schlagen die einfach mit den Stock so < richtig doll> auf den (.) Boden ((lacht)) [. . . ] und dann sagen die immer die Ausländer, obwohl wir nichts gemacht haben also ich (G. Facebook, Z. 254-270). Sie beendet ihre Ausführungen mit der Beteuerung das is mir egal (G. Facebook, Z. 306). Darin wird sowohl die Botschaft transportiert, dass sie mit diesen Erfahrungen umgehen kann bzw. über diesen steht als auch eine begrenzte Wirkmächtigkeit der Rassismuserfahrungen zum Ausdruck gebracht. Auch dies ist eine Umgangsstrategie mit Rassismuserfahrungen, die im Anschluss an N GUYEN (2013a: 61) als individuelle, konformistische Strategie des Selbstschutzes verstanden werden kann. In der Rekonstruktion der Orientierungen der Gruppe Schuluniform habe ich auch die Strategie präventiven Schweigens als Möglichkeit des Selbstschutzes herausgearbeitet. Diese Umgangsstrategie wird dabei von der Gruppe als Strategie für den schulischen Kontext thematisiert (s. Kap. 7.2.3). Es ist daher zentral, dass auch Umgangsweisen respektiert werden, die kein transformatives Potenzial aufweisen. Der Respekt vor der Umgangsstrategie des präventiven Schweigens bedeutet auch, Schüler_innen nicht zu drängen, sich zu äußern. Vielmehr sollen sie sich freiwillig einbringen dürfen (s. a. M ARKOM & W EINHÄUPL 2014: 43) und für sich selbst bestimmen können, „wer sie sind, was sie wissen und wie sie es mitteilen möchten.“ (AUTOR * INNENKOLLEKTIV R ASSISMUSKRITISCHER L EITFADEN 2015: 19; s. a. S CHRÖDER 2016b: 22). Gerade wenn es Schüler_innen gewohnt sind, in schulischen Zusammenhängen präventiv zu schweigen, und nicht die Erfahrung gemacht haben, dort mit Othering- und Rassismuserfahrungen Gehör zu finden, kann nicht erwartet werden, dass sie diese sogleich thematisieren. Die Thematisierung von Rassismuserfahrungen ist mit der Gefahr verbunden, erneut verletzt zu werden, und benötigt einen vertrauensvollen Kontext. Dass die Schüler_innen in den Gruppendiskussionen und -gesprächen Schuluniform, Fußball, Facebook und Special in befreundeten Kleingruppen über eigene Erfahrungen mit Rassismus berichtet und widerständige Haltungen eingenommen haben, muss daher nicht bedeuten, dass sie dieses auch im größeren Kontext der Lerngruppe, gegenüber der Lehrperson und im stärker formalisierten Unterrichtsgeschehen ebenso tun würden. Um eine möglichst vertrauensvolle Umgebung zu fördern, ist es daher unerlässlich, dass Lehrer_innen
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auch außerhalb eines Unterrichtsgeschehens, in dem Rassismus Thema wird, eine rassismuskritische Haltung glaubhaft vertreten. Außerdem folgt daraus, dass Räume für die Thematisierung von Rassismus und Rassismuserfahrungen im Unterricht (und außerhalb davon) prozesshaft geöffnet werden müssen. Das (widerständige) Sprechen über eigene Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung ist auch mit der Einnahme einer Subjektposition als „Andere_r“ verbunden: „Widerständiges Sprechen bedeutet in einem solchen Kontext [Schule, Anm. d. Verf.], der stark durch den Wunsch nach Zugehörigkeit und ‚Selbstnormalisierung‘ innerhalb dieses Kontextes geprägt ist, immer auch die Einnahme einer Position als der oder die ‚Andere‘ und damit die Verfestigung von Positionen der Nicht-Zugehörigkeit sowohl in Bezug auf den sozialen Nahraum ‚Klassengemeinschaft‘ als auch im Hinblick auf die gesellschaftliche Zugehörigkeitsordnung.“ (S CHARATHOW 2014: 427)
Der Wunsch nach Zusammengehörigkeit dokumentiert sich besonders in der Gruppendiskussion Fußball. Am und Bm versuchen in der Diskussion, einseitig die Differenz Cms herunterzuspielen und ihn in die „Wir-Gruppe“ der „Deutschen“ einzugemeinden. Cm aber protestiert gegen das Herunterspielen seiner Differenz und verweist darauf, dass ihm die Anerkennung als „Deutscher“ verweigert werde. Als Cm sich als zugehörig zur Schwarzen Community in Deutschland positioniert und deren Zusammenhalt betont, setzt Am dem den Zusammenhalt in der Freundschaftsgruppe entgegen: 1641
Cm: weil (1) für dich gehören (.) also für (.) mich gehören wir Farbigen sozusagen zusammen;
1642 1643 1644
Yf: mhm (3)
1645 1646
Cm: ja; (1) deswegen finde ich au- also desto weniger von eine:r,
1647
(1) also aus einem Land oder einem Kontinent, (.) in einem
1648
anderem Land sind desto stärker halten die zusammen; (5)
1649 1650
Am: ((spricht mit Süßigkeit im Mund)) also ich find dass das so; (.) also das was Cm gesagt bhat is schon gutc und auch richtig
1651 1652 1653
?:
b
((lacht))c
1654 1655
Am: finde=ich (.) aber, es gibt natürlich auch Leute, wie Freunde;
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 505
1656
mit denen hält man auch natürlich stark zusammen egal aus
1657
welchen- (.) zum Beispiel Bm und Cm sind auch meine Freunde;
1658
und man sieht Cm ist farbig und (.) Bm nich aber das hat nichts
1659
damit zu tun dass wir trotzdem zu dritt stärker sind als wenn
1660
wir vielleicht alleine (.) rumlaufen und (.) da finde=ich sieht
1661
man=s halt auch schon dass es egal ist aus welchem Land man
1662
kommt (.) äh man kann sich trotzdem man kann sich trotzdem immer
1663
wieder befreunden und ähm das is dann halt auch wie so=ne starke
1664
Kette; (.) dass man sieht äh (.) wir sind zu dritt, also sind
1665
wir schon so ne (.) äh- ä- wie soll man das erklären so ne Kette
1666
mit drei Teilen, (so)
1667 1668
Yf: mhm
1669 1670
Am: die äh halt b(.) stärker (.)
c
1671 1672
Bm?:
bimmer größer wirdc
1673 1674 1675
Am: die ja genau größer wird die immer stärker wird, die- wenn halt einer abfällt dann fällt die ganze Kette auseinander; (.) ja
Am beschreibt den Zusammenhalt innerhalb ihrer Freundschaftsgruppe mit dem Bild einer Kette mit drei Teilen. Wenn einer aus der Kette ausschere, falle die ganze Kette auseinander. Die gegen das Herunterspielen seiner Differenz widerständigen Zugehörigkeitspositionierungen Cms bedeuten für die anderen Gruppenmitglieder eine prekäre Zugehörigkeitssituation in der peer group. Am und Bm beanspruchen für sich, dass Cm zu ihnen gehört und streben eine Kollektivierung in der Freundschaftsgruppe an, in der Hautfarbe bzw. Herkunft irrelevant seien. Dass dies gerade für Cm nicht irrelevant ist und er seine Differenz betont, stört die Vorstellung Ams von einem starken Zusammenhalt in der Freundschaftsgruppe. Beim Sprechen über Zugehörigkeit und Othering- und Rassismuserfahrungen geraten die Gemeinsamkeiten der Gruppe Fußball aus dem Blick. Dieses Sprechen betont einen Identitätsaspekt von vielen. Es besteht folglich auch die Gefahr, Schüler_innen mit Othering- und Diskriminierungserfahrungen auf diese Dimension ihrer Erfahrungen zu reduzieren. Dies unterstreicht, dass bei der Thematisierung von Othering und Rassismus im Blick behalten werden sollte, dass Schüler_innen mit rassistischen Diskriminierungserfahrungen nicht nur mit Rassismuserfahrungen umgehen, sondern auch mit vielfaltigen anderen Identitätsaspekten (S CHARATHOW 2014: 442–443).
506 | Zugehörigkeit und Rassismus
Als grundlegender Ansatz bieten sich insbesondere vor diesem Hintergrund die didaktischen Strategien der Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung an, welche in der geschlechtersensiblen Pädagogik ausgearbeitet wurden. Diese lassen sich in ihren Grundprinzipien auf rassismuskritische Bildung übertragen, da sie entwickelt wurden, um in Bildungszusammenhängen das Ziel einer Dekonstruktion von Differenzschemata zu verfolgen, ohne dabei andererseits deren gesellschaftliche Wirkmächtigkeit zu übergehen. Die bewusste Thematisierung und Reflexion von Rassismus, Othering- und Rassismuserfahrungen fällt entsprechend unter die Strategie der Dramatisierung. Bei dieser Strategie werden Differenzen in den Erfahrungen der Schüler_innen sichtbar und bewusst gemacht, wodurch sie allerdings immer auch betont werden (s. GD Fußball oben). Als Gegenpol dient daher die Strategie der Entdramatisierung, bei der erfahrbar gemacht werden soll, dass Othering- und Rassismuserfahrungen nicht das einzige Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen sind. Hierfür können beispielsweise Gemeinsamkeiten zwischen Menschen mit rassistischen Diskriminierungserfahrungen und in rassistischen Verhältnissen privilegierten Menschen sichtbar gemacht werden. Auch wäre es eine Möglichkeit, andere gesellschaftliche Machtverhältnisse wie zum Beispiel Geschlecht, sozioökonomische Ungleichheiten oder den Umgang mit Behinderung zu betrachten. Entdramatisierende Strategien sind dafür gedacht, auf Situationen der Dramatisierung von Differenzen zu folgen, um die Fokussierung auf Rassismuserfahrungen wieder zu relativieren (vgl. D EBUS 2012: 153). Auch während der Dramatisierung sollte bereits darauf geachtet werden, Erfahrungen mit Othering und Rassismus nicht als homogen erscheinen zu lassen. Unterschiede der Rassismuserfahrungen sowie deren individuell unterschiedliche Wahrnehmung und Unterschiede im Umgang mit diesen sollten sichtbar werden. Es sollte vermieden werden, dass zwei in sich homogene Gruppen von rassistisch markierten Menschen mit Diskriminierungserfahrungen einerseits und weißen Menschen, die Rassismus reproduzieren andererseits dichotom gegenübergestellt werden. Ziel ist es vielmehr, die Kompetenz zu fördern, „Differenzen, Ambivalenzen, Unschärfemomente und Widersprüchlichkeiten als Teil von Realität anzuerkennen“ (D EBUS 2012: 154). Den Strategien der Dramatisierung und Entdramatisierung stellt D EBUS (2012) die Strategie der Nicht-Dramatisierung zur Seite. Diese versteht sich – übertragen auf das Machtverhältnis Rassismus – insofern als rassismuskritisch, als dass die Lehrperson eine rassismuskritische Wahrnehmung und rassismuskritisches Wissen als Analyseraster sowie als methodisches und didaktisches Auswahlkriterium in Bildungssituationen nutzt. Othering und Rassismus stehen dabei aber nicht bewusst im Mittelpunkt (vgl. D EBUS 2012: 155).
Kapitel 7: Bildungsbezogene Relektüre der Ergebnisse | 507
Den Strategien der Dramatisierung und Entdramatisierung stellt D EBUS (2012) die Strategie der Nicht-Dramatisierung zur Seite. Diese versteht sich – übertragen auf das Machtverhältnis Rassismus – insofern als rassismuskritisch, als dass die Lehrperson eine rassismuskritische Wahrnehmung und rassismuskritisches Wissen als Analyseraster sowie als methodisches und didaktisches Auswahlkriterium in Bildungssituationen nutzt. Othering und Rassismus stehen dabei aber nicht bewusst im Mittelpunkt (vgl. D EBUS 2012: 155). Vielmehr zielt die Strategie einer rassismuskritischen und nicht-dramatisierenden Vorgehensweise themenunabhängig auf die Förderung von Vielfalt, z. B. indem Materialien ausgewählt werden, die Schwarze oder People of Color zeigen oder von ihnen verfasst sind. Materialien können so gestaltet werden, dass natio-ethno-kulturelle Diversität nicht als exotisch, aufregend und außergewöhnlich dargestellt wird, sondern als gesellschaftliche Normalität. M ORGAN und L AMBERT (2001: 242) schlagen im Kontext des britischen Geographieunterrichts vor, sich die Repräsentationen verschiedener Bevölkerungsgruppen in Schulbüchern bewusst zu machen: „For instance, in many textbooks ‘black’ people appear on the page as ‘immigrants’, or as participants in ‘race’ riots in the 1950s and inner-city disturbances in the 1980s. Alternatively they are seen as living in segregated communities with special needs.“ (M ORGAN & L AMBERT 2001: 242–243)
Ähnliche hegemoniale geographische Imaginationen von segregierten großstädtischen Vierteln als von der homogenen Normalität abweichende Orte migrationsgesellschaftlicher Differenz und Devianz sind in den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports zum Ausdruck gekommen (vgl. Kap. 5.2.6 und 5.2.7). Solche imaginativen Geographien können reflexiv zum Gegenstand der Diskussion gemacht werden. Eine andere Möglichkeit des Umgangs mit ihnen wäre es, im Sinne einer nicht-dramatisierenden Strategie alternative Repräsentationen zu entwickeln, die migrationsgesellschaftliche Diversität als Normalität verhandeln. Ziel ist dann die Einblendung marginalisierter Geographien: „In order to counter this, competing or alternative geographies need to be constructed which highlight those experiences which are marginalised or excluded from accepted geographical accounts.“ (M ORGAN & L AMBERT 2001: 242–243)
Rassismuskritik als Analysefolie von Bildungsgeschehen zu nutzen, bedeutet bei Bedarf zu intervenieren, wenn es zu Situationen der Zuschreibung, Ausgrenzung oder Herabsetzung kommt. Hierzu kann auch gezählt werden, Selbstpositionierungen oder (Sprach-)Handeln von migrationsanderen Schüler_innen nicht sogleich
508 | Zugehörigkeit und Rassismus
vor der Folie von Kultur zu interpretieren, sondern auch die Möglichkeit von Erfahrungen verweigerter Zugehörigkeit in Betracht zu ziehen und vielmehr vom „Tun der Menschen unter bestimmten Lebensbedingungen auszugehen“ (K ALPAKA 2015: 303–304). Im Mittelpunkt dieser Strategie steht folglich ein durchgängiges reflexives Bildungshandeln der Lehrperson.
8. Ergebnisdiskussion
Welches sind die zentralen Erkenntnisse meiner Untersuchung? Ich lege nachfolgend zunächst die empirischen Ergebnisse zusammenfassend dar. Dabei unterscheide ich in die Ergebnisse des analytischen Auswertungsteils und die Schlussfolgerungen der Rekonstruktion unter bildungsbezogener Transformationsperspektive. In einem letzten Schritt diskutiere ich die Ergebnisse der vorliegenden Studie vor dem Hintergrund der geographiedidaktischen Diskussion um interkulturelles Lernen.
8.1 E RGEBNISSE
DER ANALYTISCHEN
AUSWERTUNG
Der analytische Auswertungsteil (Kap. 5 und Kap. 6) zeigt, wie disparat die lebensweltlichen Erfahrungsräume und die Orientierungen zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz der beteiligten Schüler_innen sind. Die unterschiedliche Positionierung der Schüler_innen im Hinblick auf migrationsgesellschaftliche Differenz- und Dominanzverhältnisse strukturiert als relevanter Faktor ihre Zugehörigkeitserfahrungen und -aushandlungen sowie ihre Orientierungen. Dabei spielt nicht allein die eigene gesellschaftliche Positionierung eine Rolle, sondern auch in einem weiter gefassten Sinn die Frage, inwiefern es als Teil der eigenen Erfahrungswelt betrachtet werden kann, sich mit Othering- und Rassismuserfahrungen auseinander zu setzen oder nicht. Die Diskussionen Klavier und E-Sports (Kap. 5) zeigen, dass es für weiße Schüler_innen in Deutschland möglich ist, aufzuwachsen, ohne bewusst in Kontakt mit Rassismus zu kommen. Sie zeigen ebenfalls, dass es eine große Distanz zu rassistisch markierten Menschen geben kann. Dabei kommt auch zum Ausdruck, dass dies es ermöglicht, Weißsein und Homogenität zu normalisieren,
510 | Zugehörigkeit und Rassismus
andere Erfahrungen auszublenden und Migrationsandere zu distanzieren. Diese Formen des Erlebens und Wahrnehmens können aus der Perspektive von Kritischer Weißseinsforschung als spezifische Erfahrungen eingeordnet werden, die keinesfalls die Norm darstellen. Sie können als Erlebnisse verstanden werden, die mit einer spezifischen gesellschaftlichen Positionierung zusammenhängen und auf diese Weise dezentriert werden. Sie werden als spezifische Erfahrungen erkennbar – als Rassismuserfahrungen weißer Menschen. Diese können im Anschluss an die Untersuchung als Erfahrungen der eigenen Uninvolviertheit, der Distanzierung von Rassismus und Rassismuserfahrungen und der eigenen legitimen Dominanzposition verstanden werden. Die Rassismuserfahrungen weißer Schüler_innen, die sich in der Empirie dokumentieren, drücken sich also darin aus, dass es weißen Menschen möglich ist, die eigene Involviertheit in Rassismus und die Existenz von Rassismus in der gesellschaftlichen Mitte auszublenden. Rassismus und Rassismuserfahrungen werden aus der eigenen Lebenswelt ausgelagert. Sie kommen auch in der Einnahme einer vermeintlich legitimen Dominanzposition und der Abwertung Migrationsanderer zum Ausdruck, die mit einem Selbstbild als tolerant und wohlanständig vereinbar ist. In den Gruppendiskussionen Schuluniform und Fußball setzen sich demgegenüber auch die weißen Jugendlichen mit den rassistischen Diskriminierungserfahrungen ihrer Freund_innen auseinander. Auch dort wird die eigene Involviertheit der weißen Diskutant_innen in rassistische Machtverhältnisse nicht thematisiert. Es ist aber bei den weißen Teilnehmenden im Unterschied zu den Gruppen Klavier und E-Sports ein kritisches Bewusstsein für die Existenz von Rassismen in der gesellschaftlichen Mitte und der alltäglichen Lebensumgebung vorhanden (vgl. Kap. 6 und 7.1.8). In allen Gruppendiskussionen, an denen migrationsandere Schüler_innen teilgenommen haben, werden Rassismuserfahrungen thematisiert – und zwar ohne, dass die Interviewerin Rassismus direkt zum Thema gemacht hat. Vielmehr werden die Otheringerfahrungen und Erfahrungen mit rassistischen Zuschreibungen im Zuge der Thematisierung von Zugehörigkeit aufgebracht. Sie stellen wirksame Einflussfaktoren bei den Zugehörigkeitsaushandlungen der rassistisch markierten Schüler_innen dar. Der Begriff ‚Rassismus‘ fällt ebenfalls in allen Gruppendiskussionen, an denen migrationsandere Schüler_innen teilnehmen (vgl. GD Fußball Z. 876, GD Schuluniform Z. 1437, GD Special Z. 671)1 . Zum überwiegenden
1 | Eine Ausnahme stellt das Gruppengespräch Facebook dar, das nicht als Gruppendiskussion gewertet wird, da sich kaum eine selbstläufige Diskussion entwickelt hat. Auch
Kapitel 8: Ergebnisdiskussion | 511
Teil werden die Rassismuserfahrungen mit anderen Begriffen wie z. B. Klischees oder Vorurteilen versehen oder einfach nur als Erfahrungen geschildert. In der Gruppendiskussion Fußball kommen zum Beispiel Erfahrungen in der Interaktion mit der Polizei zum Ausdruck. Im Gruppengespräch Facebook wird eine wiederkehrende Situation in öffentlichen Verkehrsmitteln geschildert, bei der ältere Personen die Diskutantin mustern, mit dem Gehstock aufschlagen und „immer diese Ausländer“ murmeln. Auch in der Diskussion Special werden Erfahrungen aus dem ÖPNV thematisiert, bei denen eine Schwarze Schülerin mit dem N-Wort benannt wurde und sich Menschen von ihr weggesetzt haben. Dabei wird jeweils die Wirkmächtigkeit und persönliche Bedeutsamkeit der Rassismuserfahrungen deutlich, auch wenn sich die Teilnehmer_innen unterschiedlich zu ihren Rassismuserfahrungen verhalten. In der Diskussion Schuluniform werden z. B. Verletzungen erkennbar, ebenso gegenseitige solidarische Bearbeitungen der Erfahrungen, analytische und widerständige Haltungen, Einflüsse der Erfahrungen auf (Kommunikations-)Handeln und Distanzierungen von den Erfahrungen im Sinne eines Vermögens, diese zu verarbeiten. Es sind nicht nur unterschiedliche Erfahrungen, sondern auch große Unterschiede im Erklärungswissen der teilnehmenden Schüler_innen zum Ausdruck gekommen. Während einige Teilnehmer_innen Othering- und Rassismuserfahrungen kollektiv reflektieren und über ein erfahrungsbezogenes analytisches Wissen verfügen, greifen andere Schüler_innen im Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz generalisierend auf Bestandteile eines hegemonialen Unterscheidungsund Erklärungswissens zurück. Ein Beispiel für eine komplexe Reflexion stellt die Analyse von Otheringerfahrungen in der Gruppendiskussion Schuluniform dar (s. Kap. 6.2.3). Die Gruppen E-Sports und Klavier rufen demgegenüber im Anschluss an den Filmimpuls Bestandteile eines rassistischen Erklärungswissens auf, um der Nicht-Identifikation des Filmprotagonisten mit „Deutschland“ Sinn zuzuweisen und assoziieren ausgehend davon weitere rassismusrelevante Wissensbestände, die sie Migrationsanderen oft kollektiv-generalisierend zuweisen. Dabei werden u. a. kriminalisierende Zuschreibungen reproduziert, die mit Klassismus verschränkt sind (wie die Zuschreibung eines parasitären Daseins als Hartz-4Empfänger_innen und der Nicht-Achtung rechtsstaatlicher Institutionen). Keiner der Teilnehmer_innen der Diskussionen kann den herabsetzenden Repräsentationen wirksam etwas entgegensetzen. Stattdessen werden lediglich positive Gegenbeispiele aufgebracht, die zwar die Gültigkeit für alle Mitglieder der kollektivier-
in diesem Gruppengespräch werden Rassismuserfahrungen einer Diskutantin zum Thema, ohne dass diese aber begrifflich gefasst und eingeordnet werden.
512 | Zugehörigkeit und Rassismus
ten Gruppe aufbrechen können, nicht aber die herabsetzenden Zuschreibungen an sich. Die aufgerufenen hegemonialen Unterscheidungs- und Erklärungsmuster sind weder mit den normativen interkulturellen Bildungszielen vereinbar noch im Sinne einer Förderung von Mehrperspektivität (vgl. D EUTSCHE G ESELLSCHAFT FÜR G EOGRAPHIE (DG F G) 2014: 6). Dem Anspruch der Mehrperspektivität folgend müssten im Unterricht vielmehr weitere Perspektiven jenseits bekannter, gesellschaftlich verfestigter Kategorisierungen thematisiert und angeboten werden, um nicht letztere lediglich zu reproduzieren und auch alternativen und gegebenenfalls komplexeren Auseinandersetzungen von Lernenden gerecht zu werden. Ergebnis des analytischen Auswertungsteils ist nicht nur der Einblick in kontrastreiche Erfahrungsräume und Orientierungen von Schüler_innen in der deutschen Migrationsgesellschaft, sondern auch die Herausarbeitung zentraler Strukturen der Verhandlung des Themas. So zeigt die Rekonstruktion der Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports ein ähnliches Muster der assoziativen Sinnzuweisung, mit der die weißen Schüler_innen die im Filmimpuls vorgeschlagenen Orientierungen anhand von in der Gesellschaft zirkulierenden Beständen hegemonialen Erklärungswissens deuten und zurückweisen. Die Rekonstruktion der Struktur und Dynamik der Verhandlung des Themas ermöglicht es, die Art und Weise der Entfaltung einer rassismusrelevanten Dynamik nachzuvollziehen (s. Kap. 5.2.10). Zudem kommt zum Ausdruck, dass die Gruppen Klavier und E-Sports nur auf ein einseitiges Erklärungswissen zurückgreifen, das alternative Deutungsangebote ausblendet und zur Aufrechterhaltung eines gesellschaftlichen Dominanzverhältnisses beiträgt. Damit können die Ergebnisse der analytischen Rekonstruktion bereits aufzeigen, dass eine kritische Auseinandersetzung mit migrationsgesellschaftlichen Differenz- und Dominanzverhältnissen in Bildungsprozessen relevant und notwendig ist, wenn es Ziel sein soll, Rassismen entgegenzuwirken. Die Orientierungen der Gruppe E-Sports und Klavier zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz stellen kein geschlossenes Weltbild dar. Vielmehr greifen sie auf in der Gesellschaft zirkulierende Bestandteile hegemonialen Unterscheidungs- und Erklärungswissens zurück. In einem feinanalytischen Durchgang durch das Material habe ich die Orientierungen auf Brüchigkeiten und Ambivalenzen hin durchleuchtet. Dies bietet besonderes Erkenntnispotenzial, da herausgearbeitet werden kann, wo Bildungsprozesse anknüpfen können. Die Analyse ermöglicht eine eingehende Beschäftigung mit der Frage der Funktionsweise von hegemonialen Schemata der Unterscheidung und Sinnzuweisung und deren Bedeutung für die Möglichkeiten kritisch-emanzipatorischer Bildung. Die feinanalytische Herausarbeitung von Strukturen der Verhandlung des Themas als
Kapitel 8: Ergebnisdiskussion | 513
Ergebnis der analytischen Auswertungsperspektive ist daher von konstitutiver Bedeutung für die darauf aufbauende bildungsbezogene Relektüre. Im Ergebnis zeigt diese Möglichkeiten auf, wie in Bildungsprozessen dazu beigetragen werden kann, die Reproduktion und Festigung hegemonialer Differenz- und Dominanzverhältnisse zu durchbrechen.
8.2 E RGEBNISSE
DER BILDUNGSBEZOGENEN
R ELEKTÜRE
Nachfolgend wende ich mich den zentralen Ergebnissen der Rekonstruktion der empirischen Ergebnisse unter einer bildungsbezogenen Transformationsperspektive zu. Der bildungsbezogene Durchgang durch das empirische Material fokussiert auf drei zentrale Potenziale für veränderungsbezogene Bildungsprozesse. Erstens werden zentrale Schemata der Unterscheidung herausgearbeitet, die sich in allen Diskussionen als wirksam dokumentiert haben und die als lohnende Anknüpfungspunkte für Bildungsprozesse verstanden werden. Zweitens wird das Potenzial von Irritationen für die Reflexion hegemonialer Unterscheidungs- und Bedeutungskonstruktionen erörtert. Drittens werden die Potenziale emanzipatorischwiderständiger Umgangsweisen von Schüler_innen für Bildungsprozesse ausgelotet. Zunächst werden in Kapitel 7.1 die Schemata der natio-ethno-kulturellen Unterscheidung als relevante Anknüpfungspunkte für eine Dekonstruktion in Bildungsprozessen verstanden. Die Auswertung arbeitet zentrale Dimensionen der natio-ethno-kulturellen Unterscheidung heraus, die sich über alle sechs Gruppendiskussionen hinweg dokumentiert haben und zeigt dabei auf, dass Kultur nicht die einzige und auch nicht die zentrale Beobachtungsfolie für die Kategorisierung und Abgrenzung von „Wir“ und „Nicht-Wir“ darstellt. Vielmehr zeigen die Ergebnisse die Bedeutsamkeit der Dekonstruktion der hegemonialen geographischen Imagination von Deutschland als „eigentlichem“ Raum einer homogenen „Wir-Gruppe“. Diese kann im Geographieunterricht dekonstruiert werden, indem thematisiert wird, woher die Repräsentation kommt, wie sie reproduziert wird, welche Auswirkungen sie auf wen sowie auf die gesellschaftlichen Verhältnisse hat und indem alternative, gegenhegemoniale Repräsentationen aufgebracht werden. Es wird zudem gezeigt, dass es für eine Dekonstruktion der Imagination des „Eigenen“ als homogen und weiß relevant ist, das biologistische Abstammungsprinzip und visuelle Marker von Differenz in die Reflexion einzubeziehen. Die lebensweltlichen Zugehörigkeitsaushandlungen der Schüler_innen sind allerdings
514 | Zugehörigkeit und Rassismus
nicht nur durch eindeutige Verortungen in einem binären Schema geprägt. Vielmehr zeigen sich auch Überschreitungen der binären natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung. Dies ist zum Beispiel bei der gleichzeitigen Verortung in einer Stadt in Deutschland und in einem anderen Nationalstaat – dem familiären Herkunftsland – der Fall. Es stellt damit ein Ergebnis für die Weiterentwicklung der geographiedidaktikschen Diskussion dar, dass auch hybride Überschreitungen der Zugehörigkeitsordnungen als Teil von Erfahrungsräumen migrationsanderer Schüler_innen begriffen werden können. Lebensweltliche natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitserfahrungen und Perspektiven auf Zugehörigkeit können also durchaus komplexer sein als beispielsweise S CHEFFER (2011: 9) dies in seinen konzeptuellen Überlegungen annimmt (vgl. Kap. 3.5.4). Hybride Positionierungen werden in der vorliegenden Untersuchung als Ressource für ein Bildungshandeln verstanden, welches sowohl die Wirkmächtigkeit von unterscheidenden natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen thematisieren möchte als auch zu deren Verschiebung beitragen will. In der gleichzeitigen Notwendigkeit einer Anerkennungs- und Transformationsperspektive (M ECHERIL & P LÖSSER 2009: 205) wird ein weiteres zentrales Ergebnis der bildungsbezogenen Auswertung gesehen. Eine dekonstruierende Ausrichtung allein ist nicht ausreichend, wenn die gesellschaftliche und lebensweltliche Wirkmächtigkeit der Differenzkonstruktionen und Repräsentationen nicht übergangen werden soll. Vielmehr ist für den präsentierten Ansatz eine paradoxe Gleichzeitigkeit der anerkennenden und veränderungsbezogenen Dimensionen kennzeichnend. Im Anschluss an die Auseinandersetzung mit den zentralen Mustern der Unterscheidung rückt in Kapitel 7.2 und 7.3 die Frage in den Mittelpunkt, wie das Ziel erreicht werden kann, in Bildungsprozessen die beständige Wiederholung von hegemonialem Wissen zu durchbrechen. Hierfür setze ich mich einerseits mit dem Potenzial von Irritationen von hegemonialem Unterscheidungs- und Erklärungswissen auseinander (Kap. 7.2) und andererseits mit dem Potenzial von emanzipatorisch-widerständigen Umgangsweisen mit Othering- und Rassismuserfahrungen (Kap. 7.3). Ich arbeite heraus, dass sowohl Irritationen als auch Widerstände als vielversprechende Ausgangspunkte für kritisch-reflexive Bildungsprozesse verstanden werden können. Bildungsprozesse, die an Irritationen und Widerstände anschließen, können in die Reproduktionsprozesse, die für die Aufrechterhaltung hegemonialen Wissens notwendig sind, intervenieren. Bei der Auseinandersetzung mit dem Potenzial von Irritationen (Kap. 7.2) nehme ich Irritationen zum Ausgangspunkt des Nachdenkens, die sich in den Gruppendiskussionen gezeigt haben. Ziel ist dabei nicht, eine Auswahl von Themen
Kapitel 8: Ergebnisdiskussion | 515
zu präsentieren, bei denen sich in der Auswertung Irritationen von hegemonialem Deutungswissen dokumentiert haben. Vielversprechende inhaltliche Anknüpfungspunkte, bei denen im empirischen Material Widersprüche und Irritationen deutlich werden, wurden vielmehr im ersten Teil der bildungsbezogenen Überlegungen bereits präsentiert (s. Kap. 7.1). An dieser Stelle rückt stattdessen die Problematik in den Mittelpunkt, dass Irritationen von hegemonialem Wissen in den Gruppendiskussionen schnell wieder verdeckt werden (vgl. Kap. 5.6). Statt einer nachhaltigen Irritation kommt es im Anschluss an Irritationen zu Abwehr und zur erneuten Reproduktion von hegemonialem Sinngebungswissen, welches mit Abwertungen Migrationsanderer einhergeht. Ich setze mich daher mit der Frage auseinander, was in Bildungsprozessen passieren müsste, damit Irritationen zu tiefgreifenden Reflexionen führen und es es nicht erneut zur Wiederholung von hegemonialen Deutungsmustern kommt. Die Ergebnisse zeigen folglich auch, dass Reflexionsprozesse in Dominanzverhältnissen mit der Gefahr der Distanzierung einhergehen, bei der keine tiefgreifende Reflexion stattfindet, sondern Irritationen wieder verdeckt und die Dominanzverhältnisse erneut stabilisiert werden. Geschieht dies im Unterricht, kann es im Kontext der jeweiligen Lerngruppe auch bedeuten, dass migrationsandere Schüler_innen marginalisiert und mit herabsetzenden Zuschreibungen konfrontiert werden. Die Reflexion von Rassismus in Bildungsprozessen ist damit als risikoreich zu verstehen. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, potenziell relevante Prozesse der Abwehr und Muster der Distanzierung von Rassismus in die konzeptuellen Überlegungen einzubeziehen, wie eine kritische Reflexion von Rassismus in Bildungsprozessen ermöglicht werden kann. In einem dritten Schritt wird in Kapitel 7.3 der widerständige Umgang der Schüler_innen der Gruppe Schuluniform mit Othering- und Rassismuserfahrungen in seiner Bedeutung für Bildungsprozesse reflektiert. Auch emanzipatorischwiderständige Haltungen können produktiv im Hinblick auf das Ziel sein, hegemoniale Differenz- und Dominanzmuster zu irritieren und deren Wiederholung zu durchbrechen. Zugleich rückt in diesem Kapitel die emanzipatorisch ausgerichtete Zielsetzung der Beschäftigung mit Othering und Rassismus in den Fokus. Die Auseinandersetzung mit Rassismus und Rassismuserfahrungen wird nicht als prinzipiell kontraproduktiv im Hinblick auf emanzipatorische Bildungsziele verstanden. Sie muss nicht notwendigerweise zu Resignation bei Schüler_innen führen. Vielmehr zeige ich auf, dass sie dazu beitragen kann, Schüler_innen in ihren Erfahrungen und lebensweltlichen Auseinandersetzungen und Bewältigungs- und Widerstandstrategien ernst zu nehmen, zu bestärken und in ihrer Handlungsfähigkeit zu erweitern. Die Auseinandersetzung mit Rassismus und Rassismuserfahrungen wird daher als konstitutiver Bestandteil einer emanzipatorisch ausgerichteten
516 | Zugehörigkeit und Rassismus
geographischen Bildung zum Umgang mit migrationgesellschaftlicher Differenz verstanden. Die Muster der Abwehr und De-Thematisierung von Rassismus sowie die Unterschiedlichkeit der Umgangsweisen mit Rassismuserfahrungen, die von offen widerständigen Haltungen über präventives Schweigen bis hin zu weitgehender Ausblendung von Rassismuserfahrungen reichen, verweisen auf die Notwendigkeit eines jeweils situationsbezogenen Bildungshandelns. Die Ergebnisse können damit einerseits grundsätzliche konzeptionelle Überlegungen leiten – wie in Kapitel 7 geschehen –, andererseits sind sie aber auch als Hinweis darauf zu verstehen, dass eine Verankerung und Umsetzung von reflexiv-emanzipatorischer (geographischer) Bildung zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz über die Entwicklung allgemeiner Unterrichtsvorschläge hinausgehen muss. Auch M ORGAN und L AMBERT (2001: 245) schlagen für einen rassismussensiblen Geographieunterricht vor, situationsangepasste Unterrichtsstrategien zu entwickeln – ausgehend von den Erfahrungen und Orientierungen von Schüler_innen in Bezug auf Machtverhältnisse und Gleichberechtigung: „Indeed, part of the problem of previous attempts to develop strategies for anti-racist teaching is that they sought to provide a template – a set of rules or guidelines to follow. Instead, we argue that geography teachers themselves (along with teachers in other subjects) need to develop strategies appropriate to the localised conditions in which they work. [. . . ] This suggests that the starting point of education for liberation needs to be students’ own experiences and definitions of power and equality.“ (M ORGAN & L AMBERT 2001: 245, Hervorh. im Original)
Dies bedeutet, dass mit dem hier vorgeschlagenen Ansatz sehr wohl grundsätzliche strukturelle Überlegungen angeboten werden, nicht aber ein in verschiedene schulische und lerngruppenspezifische Kontexte übertragbares, konkretes unterrichtliches Konzept. Die Ergebnisse rücken auch die Komplexität der Anforderungen in den Blick, die die Thematisierung von Rassismus und Rassismuserfahrungen für Lehrer_innen mit sich bringt. Denn die Thematisierung von Zugehörigkeitserfahrungen und Mustern der natio-ethno-kultuerellen Unterscheidung und Bedeutungszuschreibung geht mit der Gefahr einher, hegemoniale Differenz- und Dominanzverhältnisse erneut zu reproduzieren. Dies ist zum einen in der Auseinandersetzung mit Irritationen hegemonialen Sinngebungswissens deutlich geworden (Kap. 7.2). Bei der Bearbeitung der Irritation ist eine rassismusrelevante Situation entstanden, in der die Reflexion von Rassismus nicht nur abgewehrt wurde, sondern es zu erneuten Abwertungen Migrationsanderer gekommen ist. Zum anderen hat die
Kapitel 8: Ergebnisdiskussion | 517
Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung von Rassismus als story of pain Hinweise gegeben, dass Schüler_innen mit rassistischen Diskriminierungserfahrungen viktimisiert werden können (Kap. 7.3). Auch eine viktimisierende Verhandlung von Rassismuserfahrungen läuft Gefahr Dominanzbeziehungen zu reproduzieren, da die agency rassismuserfahrener Schüler_innen ausgeblendet wird. Auch wird so die Chance vergeben, an analytisches Wissen und Widerstandsvermögen von Schüler_innen anzuschließen, welches auf eine Veränderung gesellschaftlicher Differenz- und Dominanzverhältnisse zielt. Damit Lehrer_innen Reflexionsprozesse begleiten und der Gefahr einer erneuten Reproduktion rassismusrelevanter Diskurse begegnen können, ist deren Professionalisierung notwendig (F EREIDOONI & M ASSUMI 2015: 42). Dass Lehrende Wissen über Rassismus sowie eine Sensibilität für hegemoniale Schemata der Unterscheidung, hegemoniales Erklärungswissen und relevante Muster der Distanzierung von Rassismus sowie die Haltung einer kontinuierlichen rassismuskritischen Selbstreflexion mitbringen, kann nicht vorausgesetzt werden. Bleibt eine Professionalisierung von Lehrkräften aus, besteht folglich die Gefahr, dass tiefgreifende Reflexionsprozesse nicht erreicht werden und rassismusrelevante Situationen entstehen, in denen migrationsandere Lernende erneut Rassismuserfahrungen machen. Dies widerspräche nicht nur dem Ziel von kritischer Reflexion, sondern gleichermaßen dem Ziel von emanzipatorischer Bildung. Ich verstehe es daher als zentrales Ergebnis für die Weiterentwicklung der geographiedidaktischen Diskussion, die konzeptionellen Überlegungen auf die Dimension der Lehrer_innenbildung auszuweiten. Im Anschluss an meine Ergebnisse sind Überlegungen, wie rassismuskritischer Unterricht konzeptualisiert werden kann und Überlegungen, wie eine geeignete Professionalisierung von Lehrkräften aussehen kann, als zwei gleichermaßen notwendige Seiten einer Medaille zu betrachten. Wie rassismuskritische geographische Bildung konzeptualisiert werden kann und wie die konkrete Umsetzung in unterschiedlichen Lerngruppen aussehen kann, dazu braucht es weitergehende Forschung. Auch die Entwicklung einer rassismuskritischen Bildung von Geographielehrer_innen stellt im Anschluss an die vorliegende Studie ein Forschungsdesiderat dar. Angesichts der Komplexität der Anforderungen für Lehrer_innen sind ausgearbeitete Konzepte zur rassimuskritischen Lehrer_innenbildung notwendig. Lehrende benötigen nicht nur Wissen über Rassismus und gängige Muster einer abwehrenden Verhandlung von Rassismus, um tiefgreifende Reflexionsprozesse von Rassismus begleiten zu können (vgl. Kap. 7.2.3). Vielmehr habe ich auch betont, dass es einer durchgängigen rassismuskritischen Haltung und Selbstreflexion sowie einer Sensibilität für rassis-
518 | Zugehörigkeit und Rassismus
musrelevante Situationen und Bedeutungskonstruktionen bedarf (vgl. Kap. 7.1.6 und 7.3.2).
8.3 E RGEBNISDISKUSSION
IM S PIEGEL DER GEOGRAPHIEDIDAKTISCHEN D ISKUSSION UM INTERKULTURELLES L ERNEN
In einem letzten Schritt werden die oben zusammengefassten empirischen Ergebnisse nachfolgend in Bezug gesetzt zur geographiedidaktischen Diskussion um interkulturelles Lernen. Dabei ist die Frage leitend, inwiefern und wo die empirischen Ergebnisse an bestehende Diskussionen anschließen und einen Beitrag zu diesen leisten können. Die empirische Rekonstruktion von Orientierungen von Schüler_innen zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz ermöglicht Ergänzungen und diskursive Verschiebungen der bisherigen Diskussionen in der interkulturellen Geographiedidaktik2 . Eine postkoloniale, reflexive und rassismuskritische Perspektive, wie ich sie hier einnehme, stellt keinesfalls die einzig mögliche Grundlage für eine Weiterentwicklung interkultureller Ansätze in der Geographiedidaktik dar. Wohl aber ermöglicht diese Perspektive es, Aspekte in das Blickfeld der geographiedidaktischen Diskussion zu rücken, die dort bislang wenig Raum einnehmen (S CHRÖDER 2016a: 24). Die Ergebnisse geben Einblick in potenziell relevante Erfahrungsräume von Schüler_innen und ermöglichen es, diese in konzeptionelle Überlegungen im Sinne eines schüler_innenzentrierten Unterrichts einzubeziehen. Sie unterstreichen die lebensweltliche Bedeutung von Othering- und Rassismuserfahrungen für Schüler_innen. Ein subjektzentrierter Geographieunterricht, der sich „stärker vom ‚eigenen Leben‘ der Lernenden und ihren individuellen geistigen Konstruktionen her“ (DAUM & W ERLEN 2002: 9) begründet, müsste dann Rassismus stärker aufgreifen als bisher. ROHWER hat bereits 1996 die alltägliche lebensweltliche Bedeutung von Rassismus für ein schüler_innenzentriertes interkulturelles Lernen im Geographieunterricht hervorgehoben: Interkulturelles Lernen, dass sich an alle Schüler_innen richtet, müsse
2 | Einzelne Erkenntnisse aus diesem Kapitel sowie die Grundzüge der von mir vorgeschlagenen Implikationen für eine Weiterentwicklung der interkulturellen Geographiedidaktik wurden auch in S CHRÖDER (2016a,b) publiziert.
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„sich mit der alltäglichen Wirklichkeit aller Schülerinnen und Schüler [. . . ] beschäftigen – einer Wirklichkeit, die konflikthaft ist und leider nicht frei von Diskriminierung, Marginalisierung und Rassismus“ (S CHANZ & RÖDER 1995: 17, zit. n. ROHWER 1996: 7)
Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung bekräftigen diese Forderung. In der Rekonstruktion der Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports kommt eine Dynamik der Abwertung um Ausdruck, die dem in der interkulturellen Geographiedidaktik wiederholt formulierten Ziel der Förderung eines friedlichen Zusammenlebens (vgl. Kap. 3.1.3) widerspricht und den Bedarf an unterrichtlicher Bearbeitung und ausgearbeiteten Konzepten hierfür unterstreicht. Legt man die rekonstruierten Orientierungen der Gruppen Klavier, E-Sports und Schuluniform zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz gegeneinander, spannt sich ein gesellschaftliches Spannungsfeld und Dominanzverhältnis auf, dessen Wirkmächtigkeit sich in den Orientierungen der weißen deutschen Schüler_innen wie auch der migrationsanderen Teilnehmer_innen dokumentiert. Es kommen Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung und Ausgrenzung rassistisch markierter Schüler_innen sowie Dominanzerfahrungen weißer Schüler_innen zum Ausdruck. In der deutschsprachigen geographiedidaktischen Diskussion um interkulturelles Lernen stellen diese bisher eine Leerstelle dar. Im Anschluss an die empirischen Ergebnisse erscheint daher der Einbezug von migrationsgesellschaftlichen Zugehörigkeitsverhältnissen und Rassismuserfahrungen in geographiedidaktischkonzeptuelle Diskussionen notwendig. In der geographiedidaktischen Diskussion stellt Kultur nach wie vor die dominierende Beobachtungsfolie für den Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz dar. In den Gruppendiskussionen dokumentiert sich allerdings, dass die beteiligten migrationsanderen Jugendlichen ihre Selbstverortungen v. a. in Auseinandersetzung mit Zugehörigkeits-vorstellungen im diskursiven Kontext der deutschen Gesellschaft entwickeln. Auch der Erziehungswissenschaftler Y ILDIZ hebt die Bedeutung der sozialen Wirklichkeit der Jugendlichen für ihre Selbstpositionierungen hervor. Einer Dramatisierung vermeintlich gegebener religiöser und herkunftskultureller Unterschiedlichkeit stellt er eine „undramatisch[e] sozial[e] Grammatik [entgegen], [. . . ] die stärker an konkreten Prozessen und Erfahrungskontexten orientiert ist.“ (Y ILDIZ 2011: 129). Für einen schüler_innen- und erfahrungszentrierten Geographieunterricht erscheint es daher vielversprechend, die kulturelle Dimension von migrationsgesellschaftlicher Differenz zu dezentrieren und stattdessen lebensweltlich bedeutsame Verständnisse von natio-ethno-kultureller (Nicht-)Zugehörigkeit, hegemoniale Schemata der Grenzziehung und Erfahrungen
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mit Othering und Rassismus stärker in den Fokus der didaktischen Diskussion zu rücken. Werden Erfahrungen migrationsanderer Schüler_innen mit verweigerter Zugehörigkeit, herabsetzenden Zuschreibungen und Benachteiligungen ausgeblendet, bedeutet dies gleichzeitig, dass es weißen Lernenden ermöglicht wird, sich nicht mit der gesellschaftlichen Realität von rassistischer Diskriminierung konfrontieren zu müssen. Damit verweisen die empirischen Ergebnisse zudem auf die Notwendigkeit „bei einer machtsensiblen Rekonzeptualisierung des interkulturellen Lernens auch die potenziell unterschiedliche Positioniertheit der Lernenden im Rahmen gesellschaftlicher Vorstellungen von (Nicht-)Zugehörigkeit mitzudenken“ (S CHRÖDER 2016b: 16). Machtsensible Bildungskonzepte, die die dominanten Zugehörigkeitsordnungen in der Migrationsgesellschaft und deren ein- und ausgrenzende Folgen thematisieren und zu hinterfragen erlauben, können im Anschluss an die Untersuchung als notwendig und vielversprechend erachtet werden. Es geht dabei um Konzepte, die Othering- und Rassismuserfahrungen von Schüler_innen einbeziehen und es ermöglichen, diese in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu reflektieren. Ziel ist eine kritisch-emanzipatorische Konzeption von geographischer Bildung in der Migrationsgesellschaft, die erfahrungsbezogen ist und gleichzeitig die alltäglichen Erfahrungen der Schüler_innen in der Aushandlung migrationsgesellschaftlicher Differenz nicht als ausschließlich individuelle Erfahrungen betrachtet. Vielmehr ist es aus emanzipatorisch-kritischer Sicht erforderlich, reflexiv die hinter Befremdungen, Rassismen und Normalisierungen liegenden sozialen Bedeutungskonstruktionen und diskursiven Bedingungen von Zugehörigkeit in das Blickfeld zu rücken. Hier sehe ich eine bedeutsame Leerstelle bisheriger Überlegungen in der geographiedidaktischen Diskussion zum interkulturellen Lernen. Im Anschluss an die empirischen Ergebnisse und anknüpfend an M ESSER SCHMIDT schlage ich einen postkolonialen Perspektivenwechsel für interkulturelles Lernen vor, bei dem „Differenz [. . . ] weniger an der Herkunft, sondern an unterschiedlichen Erfahrungen in ein und derselben Gesellschaft festgemacht wird“ (2006: 62). Die Aufmerksamkeit interkulturellen Lernens verlagert sich dann von der pädagogischen Bearbeitung einer kulturellen Differenz hin zur Thematisierung unterschiedlicher Erfahrungen in der Gesellschaft und der Analyse dieser Erfahrungen in Bezug auf gesellschaftliche Strukturen und diskursive Bedingungen von Zugehörigkeit. Dieser Perspektivenwechsel ermöglicht es, vermeintlich selbstverständliche natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeitsordnungen zu hinterfragen, Zuschreibungen von Anderssein zu dekonstruieren und wahr gewordene Differenz gleichzeitig anzuerkennen. Die grundlegende Referenz wird verschoben von vor-
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ausgesetzter kultureller Differenz hin zu Zugehörigkeitsordnungen sowie Möglichkeiten ihrer Veränderung (S CHRÖDER 2016b: 23–24). Mit dem postkolonialen Perspektivenwechsel geht auch eine Fokuserweiterung einher, indem nicht länger nur die vermeintlich „Anderen“ zum Thema werden, sondern auch die Kategorie des „Eigenen“ in ihren relationalen Bezügen in den Blick rückt (vgl. die diesbezügliche Kritik in Kap. 3.4.5, s. a. S CHRÖDER 2016b: 24). Ich habe in meinen bildungsbezogenen Überlegungen die Relevanz der Vorstellung einer homogen weißen „Wir-Gruppe“ und der geographischen Imagination von Deutschland als ursprünglichem Territorium dieser Gruppe herausgearbeitet. Diese Imaginationen sind ein Schlüssel zum Verständnis der exklusiven diskursiven Zugehörigkeitsordnung und der in diesen gesellschaftlichen und lebensweltlichen Kontext eingebetteten Zugehörigkeitsaushandlungen der teilnehmenden migrationsanderen Schüler_innen. Nachfolgend diskutiere ich die Ergebnisse der Untersuchung vertiefend im Spiegel von drei Diskurssträngen in der interkulturellen Geographiedidaktik. Zunächst beleuchte ich die Diskussion um Transkulturalität als Perspektive für die Weiterentwicklung von interkulturellem Lernen vor dem Hintergrund meiner Ergebnisse. Im Anschluss setze ich mich mit dem Machtverständnis in der Diskussion auseinander. Dieser Teil meiner Überlegungen greift auf den Diskursstrang zurück, der sich mit der Weiterentwicklung von interkulturellem Lernen auf der Grundlage konstruktivistischer Annahmen befasst. Abschließend reflektiere ich meine Ergebnisse im Spiegel von Auseinandersetzungen mit Rassismus in der geographiedidaktischen Diskussion. 8.3.1 Transkulturalität in der geographiedidaktischen Diskussion Wie sind meine Ergebnisse anschlussfähig an die Überlegungen, das interkulturelle Lernen im Geographieunterricht auf dem Konzept der Transkulturalität zu konzipieren? Aus postkolonialer Perspektive (M ECHERIL & S EUKWA 2006) sowie im Anschluss an die Erfahrungen und Orientierungsmuster der teilnehmenden Schüler_innen rücken Grenzen und Ausblendungen einer didaktischen Orientierung am Konzept der Transkulturalität in den Blick. Auch B UDKE (2013: 160) gibt zu bedenken, dass das Konzept der Transkulturalität „nicht beantwortet, warum diese Verbindung [der Kategorien Raum und Kultur, Anm. d. Verf.] in der Alltagssprache ein durchaus relevantes Muster zur Strukturierung der sozialen Welt ist“. Nationalkulturen würden in Massenmedien und Alltagskommunikation stetig
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reproduziert (B UDKE 2013: 160). W ELSCH selbst führt an einer Stelle an, dass er „den Eindruck habe, daß diese [die alte, Anm. d. Verf.] Idee von Kultur unsere Vorstellungsverhältnisse noch immer stark prägt. Mindestens latent ist sie wirksam.“ (1992: 10). Hier sehe ich eine zentrale Leerstelle des Konzepts. Als Grundlage für Bildungskonzepte besteht die Gefahr, dass transkulturelles Lernen an alltagsweltlich relevanten Auseinandersetzungen um Zugehörigkeit, an Othering- und Rassismuserfahrungen und am Widerstand gegen diese vorbeigeht. Anknüpfend an die empirisch rekonstruierten Orientierungen der Schüler_innen rücken die Fragen in den Fokus, inwiefern Transkulturalität für alle Schüler_innen eine sozial legitimierte Identitätsform darstellt und wie damit umgegangen werden kann, dass es zu Abwertungen von bestimmten Formen der Transkulturalität kommen kann. Zunächst beschäftige ich mich mit der Frage, wem Transkulturalität legitimerweise zugestanden wird und wem nicht (M ECHERIL & S EUKWA 2006: 11). Dabei geht es um die Ausblendung der gesellschaftlichen Positioniertheit von Subjekten und die Imagination einer Möglichkeit, frei zwischen unterschiedlichen kulturellen Mustern zur Identitätsgestaltung auswählen zu können. Im Anschluss daran geht es um die unterschiedliche gesellschaftliche Bewertung von verschiedenen Arten von Transkulturalität und die Abwertung des sogenannten Kiezdeutsch, welches im Filmimpuls gesprochen wird und im Anschluss an B UDKE (2013: 159) als transkulturelles Phänomen verstanden werden kann. Transkulturalität als legitime Identitätsressource für alle? „Wir sind hier nicht in der Türkei“ (GD Schuluniform) „Also ich hab sogar Nachbarn, die ihre türkische Kultur ablegen. Erstmal um sich besser zu integrieren. . . “ (GD E-Sports)
Die oben zitierten Aussagen aus zwei Gruppendiskussionen illustrieren, dass die sozial legitimierte Demonstration von Transkulturalität für migrationsandere Schüler_innen eingeschränkt werden kann. In beiden Äußerungen kommt eine Orientierung an einem monokulturellen Raum des Hier zum Ausdruck, gekoppelt mit der Erwartung an Migrationsandere, sich kulturell an diesen zu assimilieren. Marker, die als kulturelle Zeichen der Verbundenheit mit einem „anderen“ nationalkulturellen Raum (hier: der Hidschab als zur Türkei „zugehörig“) gedeutet werden, können in der Logik imperativer Assimilation als Anzeichen von man-
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gelnder Integriertheit und/oder mangelnder Integrationsbereitschaft verstanden und de-legitimiert werden. Die Vorstellung vom „schlechthin Fremde[n]“ und „schlechthin Eigene[n]“ (W ELSCH 1998: 52) verstehe ich daher im Unterschied zu W ELSCH durchaus als relevante Erfahrungskontexte insbesondere von migrationsanderen Schüler_innen. In meinen Gruppendiskussionen dokumentiert sich, dass natio-ethno-kulturelle Differenz- und Identitätskonstruktionen, die ein „Wir“ und ein „Sie“ voneinander trennen für alltägliche Erfahrungen der migrationsanderen Teilnehmer_innen konstitutiv sind und ihre natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeits-aushandlungen wirkmächtig prägen. Auf Basis der Differenzkonstruktionen und den mit diesen verknüpften Zuschreibungen machen die an den Diskussionen beteiligten migrationsanderen Schüler_innen Rassismuserfahrungen, mit denen sie sich aktiv auseinandersetzen. Die Differenzkonstruktionen sind daher für die lebensweltlichen Erfahrungen, Positionierungen und Orientierungen der Schüler_innen als ausgesprochen bedeutsam einzuschätzen. Die transkulturelle Logik einer aufgelösten Trennung von „Eigenem“ und „Anderem“ läuft damit Gefahr, zentrale Erfahrungen und Auseinandersetzungen von Schüler_innen zu übergehen. Widerständige Haltungen gegenüber Othering und Rassismus können aus dieser Perspektive vor dem Hintergrund einer postulierten transkulturellen Verfasstheit von Identitäten gar als unbegründet eingeordnet werden, wenn die Auswirkungen von umfassenden Differenzkonstruktionen nicht mit einbezogen werden. Transkulturalität als empirische Realität zu verstehen, droht die empirische Realität von Differenzmarkierungen auszublenden, die sich eindrucksvoll in allen im Rahmen dieser Untersuchung geführten Gruppendiskussionen dokumentiert. Ein zentrales Defizit der Konzeptualisierung von interkulturellem Lernen auf Basis des Transkulturalitätskonzeptes sehe ich daher darin, dass gesellschaftliche Zugehörigkeitsordnungen und Machtverhältnisse ausgeblendet werden, die allerdings den Rahmen für die alltagweltlichen Aushandlungen von natio-ethnokultureller Differenz und Zugehörigkeit für die beteiligten Schüler_innen darstellen. Der eingangs zitierte Kommentar gegenüber der Schülerin Df „Wir sind hier nicht in der Türkei“ verweist auf die Positioniertheit der Schülerin im Rahmen hegemonialer gesellschaftlicher Zugehörigkeitsverständnisse und Assimilationserwartungen. Sie gilt nicht als fraglos zugehörig. Vielmehr zeigt sich, dass Bedingungen für ihre legitime Zugehörigkeit aufgestellt werden. Mit den natioethno-kulturellen Markern, die als „türkisch“ gelesen werden, gilt sie nicht als legitim Zugehörige. Das Beispiel kommuniziert eine Veränderungsnotwendigkeit im Sinne einer religiös-kulturellen Assimilation an das Hier. Solange Angehöri-
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ge der Dominanzgesellschaft an der Schülerin Anzeichen für ihre vermeintliche Nicht-Assimiliertheit ausmachen, kann diese die Erfahrung von (verbalen) Sanktionierungen machen. Diese schränken ihre Möglichkeiten zur sozial legitimierten Selbstpositionierung ein und führen dazu, dass Migrationsandere wegen der Kommunikation bzw. Demonstration von Transkulturalität öffentlich diskreditiert werden können. Die Assimilationserwartung gegenüber Migrationsanderen wird in den Diskussionen E-Sports und Klavier besonders deutlich. Beide Gruppen orientieren sich an kultureller Assimilation sowie einer Haltung der legitimen Assimiliertheitskontrolle und Disziplinierung gegenüber Migrationsanderen. „Andere“ natio-ethnokulturelle Bezüge können vor dieser Deutungsfolie als Zeichen mangelnder Integriertheit und mangelnden Integrationswillens verstanden und delegitimiert werden. Ein „Ablegen“ jeglicher Referenzen auf eine „andere“ Kultur erscheint dann als einzig legitimer Zielhorizont. Die Möglichkeiten einer sozial legitimierten natio-ethno-kulturellen Selbstpositionierung sind für Migrationsandere in die hegemonialen Zugehörigkeits- und diskursiven Machtverhältnisse eingebettet und durch diese restringiert. Aus postkolonialer Perspektive werden Identitäten so konzeptualisiert, dass sowohl aktive Positionierungen der Subjekte als auch deren gesellschaftliche Positioniertheit relevant werden. Die gesellschaftliche Positioniertheit als ein Aspekt von Identitätsaushandlungen fehlt im transkulturellen Verständnis von Identitäten. Wenn W ELSCH postuliert, „die Individuen können über ihre Zugehörigkeit selbst entscheiden“ (W ELSCH 1998: 61), stellt sich die Frage, ob dies tatsächlich alle Individuen uneingeschränkt können. M ECHERIL und S EUKWA sprechen daher von einer deskriptiven Eingeschränktheit des Transkulturalitätskonzepts. Dasselbe gelte für Transkulturalität als Bildungsziel, also die präskriptive Dimension von Transkulturalität als Bildungskonzept (2006: 10). Auch in der geographiedidaktischen Diskussion wird eine „‚transkulturelle‘ Identitätsfindung“ (B UDKE 2013: 159) als ein Bildungsziel ausgewiesen. B UDKE (2013: 159) sieht bezogen auf die Identitätsaushandlungen der Lernenden die Aufgabe eines transkulturellen Unterrichts darin, „bei der ‚transkulturellen‘ Identitätsfindung der SchülerInnen in einer Umgebung, die unterschiedliche kulturelle Angebote macht und durch ein Nebeneinander verschiedener Werte charakterisiert ist, zu helfen.“ Diese Perspektive betont die eigene Positionierung zu „kulturelle[n] Angebote[n]“ (B UDKE 2013: 159) und mithin die eigenen Entscheidungen und Handlungen der Individuen. In der Gruppendiskussion Schuluniform hat sich gezeigt, dass die migrationsanderen Schüler_innen in ihren Selbstpositionierungen weniger affirmativ auf kulturelle Muster zurückgriffen, sondern sich in Auseinandersetzung mit Zu-
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gehörigkeitsordnungen und Erfahrungen des gesellschaftlichen Positioniertseins als „Andere“ verortet haben (s. Kap. 6.1). Die Bedeutung eigener Handlungsmacht und eigener Positionierungsentscheidungen sowie gleichzeitig deren Eingebettetsein in Erfahrungen des Positioniertseins wurde dabei besonders deutlich am Beispiel der Schülerin Df, die erläutert, wie sie in einem aktiven Entscheidungsprozess beschlossen hat, sich als „Afghanin“ zu bezeichnen. Identitätsentwicklung kann H A (2004b: 67) zufolge für rassistisch Markierte eine schmerzhafte Erfahrung sein, die aus der Notwendigkeit entstanden sei, „Strategien im Umgang mit Ausgrenzungen zu entwickeln“. Das Beispiel Dfs zeigt einen solchen aktiven Auseinandersetzungsprozess mit Ausgrenzung, die die Diskutantin im Kindergarten erfahren hat. Sie hat verschiedene Selbstpositionierungen ausprobiert und formuliert ihre Entscheidung für die Selbstpositionierung als „Afghanin“ mit einer von ihr empfundenen Notwendigkeit zu ihrem „Anderssein“ zu stehen. Diese Strategie ist für sie eine widerständige Form der NichtUnterwerfung unter die Kriterien und die Entscheidungsmacht der legitim Zugehörigen, sie ein- oder auszuschließen. Sie positioniert sich auf diese Weise selbstbestimmt. Auf ähnliche Weise wird auch in der Gruppendiskussion Fußball deutlich, dass sich der migrationsandere Schüler Cm in Auseinandersetzung mit seiner Positioniertheit selbst verortet. So kommuniziert Cm explizit, dass er nicht von allen als „Deutscher“ anerkannt werde. Vor dem Hintergrund der Nicht-Akzeptanz als „Deutscher“, die für ihn lebensweltlich relevant ist, wehrt er sich gegen die Versuche seiner weißen Mitdiskutanten, ihn in das „deutsche Wir“ einzugemeinden (s. Kap. 7.1.8). Betrachtet man aus postkolonialer Perspektive sowohl die Machtkonstellationen und Diskurse, die die Zugehörigkeitsaushandlungen strukturieren als auch das Moment der aktiven Aushandlung, können Identitäten differenzierter betrachtet und verstanden werden. Bildungsziel eines erweiterten Spielraums der Selbstpositionierung wäre dann nicht automatisch eine transkulturelle Positionierung aller Schüler_innen. Auch eindeutige Positionierungen Migrationsanderer als „anders“ können als eine Verortung verstanden werden, die eine Erweiterung der eigenen Handlungsmöglichkeiten unter Bedingungen von Dominanz bedeuten kann. Mit einer Herauslösung der Positionierungen aus den Differenz- und Dominanzverhältnissen geht auch die Gefahr einher, individuelle Handlungsspielräume generalisiert zu betonen. Einschränkungen selbstbestimmter Selbstpositionierungen von Migrationsanderen durch Marginalisierungsprozesse und gesellschaftliche Dominanz drohen so ausgeblendet zu werden (H A 2004b: 67). Folglich erscheint es notwendig, im Transkulturalitätsansatz die Betonung von Handlungsmöglichkeiten
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und souveräner Entscheidungsmacht der Individuen über natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit zu nuancieren. Auch M ECHERIL und S EUKWA (2006: 11) kritisieren die W ELSCH’sche These als unrelativiert und durch Ausblendungen gekennzeichnet: „Die Behauptung, dass Unterscheidungen von [. . . ] von ‚Eigenkultur‘ und ‚Fremdkultur‘ [. . . ] irrelevant seien, ist angesichts der Kämpfe, die [. . . ] auch alltagsweltlich um ‚das Eigene‘, um die Bewahrung des (natio-ethno-kulturellen) ‚Wir‘ geführt werden, erstaunlich.“ (M ECHERIL & S EUKWA 2006: 11)
Die Möglichkeit, sich als transkulturell positionieren zu können und in der Transkulturalität des eigenen Handelns anerkannt zu werden ist in der Gesellschaft unterschiedlich verteilt (M ECHERIL & S EUKWA 2006: 11). Aus postkolonialer Perspektive erscheint daher die Ausblendung strukturell bedingter Einschränkungen der Entscheidungsmacht migrationsanderer Subjekte problematisch3 . Migrationsandere und Nicht-Migrationsandere machen aufgrund ihrer unterschiedlichen gesellschaftlichen Positioniertheit unterschiedliche Erfahrungen in der Gesellschaft. Diese Unterschiede würde die didaktische Perspektive Transkulturalität Gefahr laufen zu übergehen, wenn sie sie nivelliert. An dieser Stelle ist auch die Einblendung einer Kritischen Weißseinsperspektive erhellend. Im Anschluss an H A (2004b: 67) ist ein Verständnis von Transkulturalität problematisch, welches diese aus dem Machtgefälle löst und sie als Erweiterungsmöglichkeit der Selbstdefinition auch für weiße Menschen konzipiert. Dieses verdeckt gesellschaftlich wirksame Differenzen und die mit deren Wirksamkeit einhergehenden Privilegien weißer Menschen. Zudem stellt Transkulturalität keine
3 | Auch W ELSCH (2010: 53) selbst hat in einer späteren Publikation Einschränkungen einer selbstbestimmten Identitätsaushandlung betont: „Natürlich spielt sich der Übergang zu Transkulturalität nicht in einem machtfreien Raum ab. [...] Es ist keineswegs so, dass die Individuen die Elemente ihres Identitätsfächers gleichsam frei wählen und zusammenstellen könnten. Sie unterliegen vielmehr mannigfachen Einschränkungen und äußerem Druck.“ (W ELSCH 2010: 53) Dabei bezieht WELSCH (2010:53) die eingeschränkte Selbstbestimmung der Individuen aber nicht auf eingeschränkte Möglichkeiten, sich als transkulturell zu positionieren. Vielmehr hebt er auf politische und ökonomische Machtverhältnisse und -disparitäten ab, die zu einer zunehmenden Transkulturalisierung der Identitäten – beispielsweise durch Migrationsprozesse – führten und die Identitätsbildung damit machtvoll strukturierten.
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Kategorien bereit, um die realen Effekte von Rassismus und Othering benennen zu können (H A 2004b: 67). B UDKE versteht die Beschäftigung weißer Lernender4 mit der eigenen Transkulturalität demgegenüber gerade als sinnvoll im Hinblick auf die „Bekämpfung von Rassismus“ (2008: 21): „Zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im Sinne des Interkulturellen Lernens scheint es besonders sinnvoll zu sein, den SchülerInnen ihre eigene ‚Transkulturalität‘ vor Augen zu führen.“ (B UDKE 2008: 21)
Diese Annahme und die daraus abgeleitete Schlussfolgerung können an dieser Stelle differenziert werden: Auch meine Ergebnisse unterstreichen die Bedeutung dessen, die Vorstellung von der ursprünglichen Homogenität des „Eigenen“ zu dekonstruieren (vgl. Kap. 7.1.2). Gleichzeitig weisen die empirischen Ergebnisse aber auch darauf hin, dass eine reflexive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlich wirksamen Schemata der Unterscheidung und ihren – möglicherweise unintendierten – Effekten unumgänglich und vielmehr dringend notwendig ist. Aus Kritischer Weißseinsperspektive rückt in den Fokus, dass für weiße Menschen die Auseinandersetzung mit der Realität von Othering und Rassismus von zentraler Bedeutung ist (H A 2004b: 66–67). W OLLRAD (2005: 19) bezeichnet einen rein dekonstruktivistischen Impetus, der die gegenwärtige gesellschaftliche Situation ausblendet, daher auch als politisch reaktionär. Denn auf diese Weise kann mit dem Verweis auf den fiktionalen Charakter der Imagination eines homogen weißen „Wir“ die Tatsache ausgeblendet werden, „dass auch Fiktionen reale Effekte haben“ (W OLLRAD 2005: 19). Vielmehr betont W OLLRAD zwei korrelierende Dimensionen von Kritischer Weißseinsforschung, „die als zwei Seiten einer Münze nicht getrennt voneinander betrachtet werden können: eine erkenntniskritische und eine gesellschaftskritische“ (2005: 13–14). Übertragen auf Bildungskonzepte verweist dies auf die Notwendigkeit, sich gleichzeitig mit der Konstruiertheit einer vermeintlich homogenen weißen „Wir-Gruppe“ der „Deutschen“ zu befassen (erkenntniskritische Dimension) und mit den gleichsam wahr gewordenen Effekten dieser Konstruktion (gesellschaftskritische Dimension). In Anbetracht der verschiedenen Muster der Distanzierung von Rassismus, die sich in der empirischen Untersuchung bei weißen Lernenden und Lehrenden gezeigt haben (Kap. 7.2.3), kann die
4 | B UDKE expliziert nicht, ob sie sich an dieser Stelle auf alle Lernenden oder spezifisch auf weiße Lernende bezieht. Der Kontext legt es nahe, dass hier insbesondere weiße Lernende gemeint sind (vgl. B UDKE 2008: 21).
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zentrale Bedeutung einer expliziten Reflexion der Konsequenzen der Imagination des „Eigenen“ unterstrichen werden. Dabei geht es sowohl um die reflexive Auseinandersetzung mit dem Effekt, dass migrationsgesellschaftliche Differenz- und Dominanzverhältnisse verstetigt und legitimiert werden als auch mit den Effekten für die eigene Position und die von Migrationsanderen in diesen Verhältnissen. Bei alleiniger Orientierung von Bildungskonzepten an der Thematisierung von Transkulturalität würde die Chance vergeben, die ausschließende hegemoniale Zugehörigkeitsordnung bewusst zu machen und zu problematisieren. Geschieht dies nicht, wird aber der Status quo gefestigt. Eine kritische Reflexion erscheint gerade auch deshalb angebracht, da die gesellschaftlich verfestigten Zugehörigkeitskategorisierungen und -zuschreibungen nicht losgelöst von Hierarchisierungen und stereotypisierenden, herabsetzenden Repräsentationen „Anderer“ sind. Deutlich wird dies u. a. in den herabsetzenden Kollektivzuschreibungen, die in den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports assoziativ aufeinander aufbauend aufgerufen werden. Auch die Erfahrungen mit antimuslimischen Zuschreibungen, die in der Gruppe Schuluniform thematisiert werden, machen dieses Problem deutlich. Ich habe in meinen bildungsbezogenen Überlegungen im Anschluss an hybride Selbstpositionierungen von teilnehmenden Schüler_innen eine Möglichkeit eines postkolonialen Verständnisses von Mehrfachzugehörigkeiten aufgezeigt. Diese Herangehensweise kann ähnlich wie das Transkulturalitätskonzept einen erkenntniskritischen, dekonstruktiven Zugang anbieten, ist aber nicht losgelöst von gesellschaftlichen Machtverhältnissen (vgl. Kap. 7.1.9). Selbstverortungen, wie die des Filmprotagonisten als „Türke“ und Mannheimer, nicht aber als „Deutscher“ bieten die Möglichkeit, Überschreitungen der eindeutigen Zugehörigkeitslogik nach dem Muster ‚entweder/oder‘ zu betrachten. Gleichzeitig können diese als Ausgangspunkt dafür genommen werden, exklusive Zugehörigkeitsordnungen zu thematisieren, die den Spielraum für anerkennungsfähige Selbstpositionierungen einengen. Dies ermöglicht es, Erfahrungen mit verweigerter Zugehörigkeit nicht auszublenden, sondern sie vielmehr anzuerkennen und gleichzeitig natio-ethno-kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten zu normalisieren. Eine andere Möglichkeit der Integration der beiden Dimensionen von Anerkennung und Verschiebung der diskursiven Differenz- und Dominanzverhältnisse, die für die eingenommene postkoloniale Perspektive konstitutiv ist, ist die in Kapitel 7.3.2 skizzierte Strategie von Dramatisierung, Entdramatisierung und Nicht-Dramatisierung (D EBUS 2012). Transkulturalität wäre denkbar als eine nicht-dramatisierende Strategie, natio-ethno-kulturelle Heterogenität und kulturelle Mehrfachbezüge von Individuen als selbstverständliche gesellschaftliche Normalität zu verhandeln. Ebenso ist vorstellbar, transkulturelle gesellschaftliche oder
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individuelle Normalität als entdramatisierende Perspektive im Anschluss an die Dramatisierung von wahr gewordener Differenz zu nutzen. Transkulturalität würde dann als ein Bestandteil eines umfassenderen Bildungshandelns verstanden, welches in reflexiver und emanzipatorischer Hinsicht flankiert wird durch Auseinandersetzungen mit den migrationsgesellschaftlichen Differenz- und Dominanzverhältnissen und der lebensweltlichen Realität von Othering- und Rassismuserfahrungen. Ziel für Bildungsprozesse in der Migrationsgesellschaft wäre dann nicht Transkulturalität, sondern vielmehr die Analyse, Kritik und Veränderung der hegemonialen Zugehörigkeitsvorstellungen und migrationsgesellschaftlichen Diskurse, die die Identitätsaushandlungen strukturieren (M ECHERIL & S EUKWA 2006: 13). Über die Problematik der Abwertung bestimmter Formen von Transkulturalität „oah (wer) sagt denn isch geh Schule“ (GD Klavier)
Gesellschaftliche Gruppen, die der „Integrationsdefizite“ vermeintlich unverdächtig oder weniger verdächtig sind – wie diejenigen, die als fraglos „deutsch“ gelten – können sich souveräner als transkulturell positionieren. W ELSCH führt als Beispiele von Transkulturalität, die mit M ECHERIL und S EUKWA als Beispiele respektabler Transkulturalität gelesen werden können, u. a. „Wissenschaftle[r]“ und „Journalisten“ an (W ELSCH 1998: 51). Sie sind im Hinblick auf die Ausbildung respektabler Transkulturalität als kosmopolitische Akademiker_innen privilegiert – zumal wenn sie problemlos über Visa und finanzielle Mittel verfügen, um reisen zu können (M ECHERIL & S EUKWA 2006: 11). MECHERIL und SEUKWA unterscheiden daher „respektable und missachtete Formen der Transkulturalität, [d. h., Anm. d. Verf.] legitime und illegitime Formen.“ (M ECHERIL & S EUKWA 2006: 11). Eine unterschiedliche Bewertung von Sprachkompetenzen und grenzüberschreitenden sozialen Kontakten kommt in der Gruppendiskussion E-Sports zum Ausdruck. Die Verbindungen des Diskutanten Bm nach Italien werden in der Diskussion heruntergespielt, um seine natio-ethno-kulturelle Assimiliertheit in Deutschland zu betonen. Sie wären vor der Folie dieser Deutungsgrammatik als Integrationsdefizit diskreditierbar. Dass Bm kein Italienisch spreche und nicht zu häufig nach Italien fahre, wird in der Diskussion kollektiv positiv bewertet. In diesem Fall werden Sprachkenntnisse und grenzüberschreitende Sozialkontakte nicht als Ressourcen betrachtet. Demgegenüber wertet die Gruppe die sozialen Kontakte in
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verschiedene europäische Nationalstaaten sowie die Englischkenntnisse, die sie im Rahmen ihrer regelmäßigen internetbasierten PC-Spiele ausweiten, dezidiert als persönliche Ressourcen (Z. 4225-4239). In der Gruppendiskussion Klavier dokumentiert sich zudem eine Abwertung von ethnolektalem Deutsch, das als eine Form von Jugendsprache verstanden werden kann (vgl. Kap. 5.2.4). Jugendsprache und Jugendkulturen werden in der geographiedidaktischen Diskussion von B UDKE (2013: 159) und ROHWER (1996: 6) als Beispiele für alltagsweltliche Phänomene von Transkulturalität angeführt. In der Gruppe Klavier ruft die Sprechweise des Filmprotagonisten allerdings Ablehnung und Abwertungen hervor. Sie wird nicht als kreative transkulturelle Form gedeutet, die verschiedene Merkmale unterschiedlicher Sprachen kombiniert und damit aus der Ressource von Mehrsprachigkeit schöpft. Vielmehr wird sie vor der Folie vermeintlich unzureichender Deutschkenntnisse der vermeintlich migrantischen sozialen Umgebung des Filmprotagonisten interpretiert. Das ethnolektale Deutsch wird in dieser Gruppendiskussion ebenfalls mit einer ethnisierten subkulturellen Figur des „Checker-Gangsters mit Dollarkette“ in Verbindung gebracht (s. Kap. 5.2.4). Mit ethnolektalem Deutsch assoziiert die Gruppe deviante migrationsandere Sprecher_innen, die als „proletarisch“ markiert, klassistisch abgewertet und in gesellschaftlich marginalisierten Stadtgebieten verortet werden. „Kiezdeutsch“ wird in der Gruppendiskussion Klavier als problematischer Anzeiger von mangelnder Integration und mangelnden Integrationsbemühungen diskreditiert. Für die Gruppenmitglieder kommuniziert ethnolektales Deutsch eine provozierende Betonung der „anderen“ Herkunft, die Migrationsandere gegenüber „Deutschen“ vornähmen. Es wird weder als transkulturelle Form verstanden noch als respektable Sprachpraxis erachtet. Vielmehr werden mit dieser Sprechweise rassismusrelevante Defizitzuschreibungen auf verschiedenenen Ebenen (Sprachdefizite, Integrationsdefizite, moralisch-normative Defizite) verknüpft. Ethnolektales Deutsch als transkulturelles Phänomen zu verstehen und zu thematisieren, wäre daher einerseits eine Möglichkeit, der Zuschreibung aktiver Segregation und Integrationsverweigerung migrationsanderer Sprecher_innen entgegenzuwirken. Andererseits erscheint es notwendig, die gesellschaftlichen Machtverhältnisse bei der unterrichtlichen Konzeptualisierung zu bedenken. Werden die Einbettung in hegemoniale Diskurse um Migration und Integration und die Positionierung der Beteiligten in gesellschaftlichen Machtverhältnissen ausgeblendet, besteht die Gefahr, dass hegemoniale Bewertungsunterschiede bezüglich verschiedener transkultureller Phänomene reproduziert, gefestigt und unterrichtlich autorisiert werden. Zudem besteht die Gefahr, dass rassistische Repräsentationen im Unterricht reproduziert werden und es auch in der Lernsituation selbst zu
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Herabsetzungen migrationsanderer Schüler_innen kommt. Auch für jugendkulturelle und jugendsprachliche Praxen erscheint es wichtig zu fragen, für wen dies eine riskante Praxis darstellt, da sie rassifizierbar und diskreditierbar ist. Die gesellschaftliche Positioniertheit von Jugendlichen ist auch deshalb eine relevante Dimension, da ethnolektales Deutsch als transkulturelles Phänomen durchaus auch als (ab-)wählbare sprachliche Ressource für privilegiert Positionierte verstanden werden kann. „Kiezdeutsch“ kann für weiße Jugendliche im Sinne eines breiten sprachlichen Repertoires, der Demonstration der Fähigkeit zum Registerwechsel und einer subkulturellen Verortung eine Ressource zu Distinktion sein, ohne dass sie als Integrationsverweiger_innen diskreditiert werden können. Demgegenüber kann dieselbe Praxis für rassistisch markierte Jugendliche im Alltag riskant sein, da sie mit rassistischer Abwertung verknüpft werden kann. Die Dimension unterschiedlicher hegemonialer Bewertungen von verschiedenen Formen von Transkulturalität und die gesellschaftliche Positioniertheit der beteiligten Schüler_innen bei der Konzeptualisierung von Bildungsprozessen einzubeziehen, erscheint daher für die geographiedidaktische Diskussion zu Transkulturalität eine wichtige ergänzende Perspektive. Es geht um eine „Verschränkung des «Kultur»- und des «Macht»-Aspekts“ (ATTIA 1997: 283). Auch G ÖHLICH (2006: 3) kommt in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept der Transkulturalität nach W ELSCH als Grundlage für pädagogische Prozesse zu der Einschätzung, dass die Ausblendung von Machtverhältnissen einen Nachteil darstellt: „Sein politischer Nachteil ist [. . . ], dass der Aspekt der Macht aus dem Blick gerät. Dem muss und kann durch diskursives Ringen um – von Welsch nicht geleistete – Anschlüsse an die [. . . ] postkolonialen Theorien entgegengewirkt werden.“ (G ÖHLICH 2006: 3)
Eine machtreflexive Erweiterung der transkulturellen Perspektive hält ebenso L EIPRECHT (2009: 250–251) für notwendig. Er plädiert für die Verbindung von transkulturellen Ansätzen mit einer rassismuskritischen Perspektive. L EIPRECHT sieht es bei der Beschäftigung mit Kultur als bedeutsam an, „Mehrfachzuordnungen, Mischformen, Übergänge und Uneinheitlichkeiten, wie sie auch mit den Begriffen Transkulturalität und Transnationalität beschrieben werden, wahrzunehmen und sie nicht auf Defizite oder Probleme zu reduzieren. Gleichzeitig muss es allerdings darum gehen, deutlich zu machen, dass Ansätze, die Kultur in positiver Weise thematisieren, ohne eine Verbindung zu rassismuskritischen Perspektiven herzustellen, oft selbst zum Problem werden, da sie der Gefahr unterliegen, asymmetrische soziale Positionierungen,
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Interessensgegensätze, Machtunterschiede, naturalisierende und kulturalisierende Zuschreibungen und aktuelle Ausgrenzungsverhältnisse aus dem Blick zu verlieren [...]. Interkulturelle Ansätze müssen also auf jeden Fall mit rassismuskritischen Perspektiven verbunden werden.“ (2009: 250–251)
Nachfolgend setze ich mich daher sowohl mit dem Macht- als auch mit dem Rassismusverständnis in der geographiedidaktischen Diskussion auseinander.
8.3.2 Machtverständnis in der geographiedidaktischen Diskussion Auch M ÖNTER (2013: 94) hat bereits eine stärkere Beachtung von Machtverhältnissen im interkulturellen Lernen im Geographieunterricht gefordert. In der vorliegenden Studie rückt Macht allerdings in einer bestimmten Form in den Blick. Ich spezifiziere daher das Machtverständnis genauer, welches für meine Perspektive grundlegend ist. M ÖNTER schlägt vor, „Konstruktionen [des Kulturellen, Anm. d. Verf.] als ‚Machtdiskurse‘ zu analysieren“, um „aufzuzeigen, welche politischen oder ökonomischen Zwecke sich einer kulturalistischen Verschleierung warum bedienen“ (2013: 94)5 . Ohne den Machtbegriff zu verwenden spricht sich auch B UDKE dafür aus, Schüler_innen für die „Motive und Interessen“ (B UDKE 2006: 151) zu sensibilisieren, aus denen kulturelle Differenzen konstruiert werden, „um selbst der Gefahr der Manipulation zu entgehen“ (B UDKE 2006: 151; s. a. B UDKE 2008: 22). B UDKE (2006, 2008) und M ÖNTER (2013) legen den Fokus darauf, Motive, Interessen und Zwecke von Repräsentationspraxen zu rekonstruieren, die auf Kultur als relevantes Deutungsmuster rekurrieren. Im Mittelpunkt stehen dabei jeweils Akteur_innen außerhalb der am Unterrichtsgeschehen Beteiligten und mediale Darstellungen (vgl. z. B. B UDKE 2006: 147–148). Eine Sensibilisierung der Lernenden und die Förderung eines verantwortungsvollen (Sprach-)Handelns wird dabei in Auseinandersetzung mit Interessen angestrebt, aus denen beispielsweise in der Tourismusindustrie kulturalistische Repräsentationen reproduziert werden (B UDKE 2006: 147–151, 2013: 160-161).
5 | Den Begriff ‚Machtdiskurse‘ zitiert M ÖNTER (2013: 94) bei S CHRÜFER (2012: 5), die diesen im zitierten Aufsatz allerdings nicht näher bestimmt. S CHRÜFER nutzt den Begriff im Kontext von Überlegungen zur Analyse von Afrika-Repräsentationen, die sie als Konstruktionen begreift, die im Unterricht „als Machtdiskurse enttarnt werden“ (2012: 5) sollten.
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Demgegenüber rückt in der vorliegenden Studie die Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen der Lernenden als Unterrichtsgegenstand in den Mittelpunkt. Entsprechend eines subjektzentrierten Bildungsansatzes werden die „aktuellen Lebenssituationen der Schüler“ (D ICKEL 2006: 12) und „die subjektive Erfahrbarkeit der Welt“ (DAUM & W ERLEN 2002: 9) zentriert. Dies ermöglicht es, eine konstruktivistisch fundierte Konzeptionalisierung von interkulturellem Lernen, wie sie B UDKE (2013) und M ÖNTER (2013) vorgeschlagen haben, zu verbinden mit einem subjektzentrierten Geographieunterricht, der sich „stärker vom ‚eigenen Leben‘ der Lernenden und ihren individuellen geistigen Konstruktionen her“ (DAUM & W ERLEN 2002: 9) begründet (S CHRÖDER 2016a: 21). Dabei wird von der Involviertheit aller am Unterricht Beteiligten in gesellschaftliche Macht- und Ungleichheitsverhältnisse sowie in deren Reproduktion ausgegangen. Für Machtsensibilität, wie ich sie hier als Grundlage für geographiedidaktische Konzeptionen zum Umgang mit migrationsgesellschaftlichen Differenz- und Dominanzverhältnissen vorschlage, ist daher eine reflexive Einstellung kennzeichnend. Es wird weniger von einer Manipulierbarkeit von Lernenden und der Möglichkeit, diese präventiv verhindern zu können ausgegangen. Vielmehr ist für den rassimuskritischen Zugang die Prämisse kennzeichnend, dass den Lernenden (und Lehrenden) Bestandteile eines rassismusrelevanten Unterscheidungs- und Erklärungswissens als Sinngebungsangebote zur Verfügung stehen und sie darauf bereits vielfach alltäglich zurückgreifen. Im Zentrum des Lernens steht daher die Reflexion der eigenen Involviertheit. Ziel ist es, sich unbewusster Dominanzverhältnisse und der eigenen Involviertheit in diese bewusst zu werden und das eigene Sprechen und Handeln vor diesem Hintergrund zu reflektieren. Machtsensibilität wird in der vorliegenden Untersuchung folglich als Machtreflexivität verstanden. Dabei wird davon ausgegangen, dass alle am Bildungsprozess Beteiligten in gesellschaftlichen Machtverhältnissen auf unterschiedliche Weise positioniert sind und durch ihr (Sprach-)Handeln an der Aufrechterhaltung, Festigung oder auch Veränderung dieser Verhältnisse beteiligt sind. In der kontrastiven Rekonstruktion der Gruppendiskussionen kommt nicht nur zum Ausdruck, wie sehr der Spielraum zur Selbstidentifikation für Migrationsandere eingeschränkt wird in einem Feld, das von Othering, rassistischen Zuschreibungen und gleichzeitigen Assimilationsforderungen geprägt ist. Darüber hinaus wird deutlich, dass die Orientierungen der Gruppen Klavier und E-Sports zu einer Stabilisierung und Sicherung der Machtverhältnisse beitragen, innerhalb derer die Gruppenmitglieder eine privilegierte Position einnehmen. Dies zeigt sich besonders darin, dass die Teilnehmer_innen selbstverständlich die „Integrationsbereitschaft“
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Migrationsanderer kontrollieren und bewerten und diese bei vermeintlichen Defiziten symbolisch disziplinieren. Dabei wird Migrationsanderen das Recht auf Anwesenheit und das Recht auf Äußerung von Kritik – u. a. auch die Benennung von Diskriminierung – nicht bedingungslos zuerkannt. Die Schüler_innen sehen es vielmehr als legitim an, Migrationsanderen diese Rechte symbolisch abzuerkennen, wenn diese die als common sense verstandenen Kriterien nicht erfüllen. Gegenüber Machtverhältnissen, in denen Migrationsandere deprivilegiert sind und marginalisiert werden, verhalten sich die Diskutantinnen in der Gruppe Schuluniform widerständig. Sie benennen Erfahrungen mit Othering und rassistischer Diskriminierung und verhalten sich widerständig gegenüber dem Druck, Differenz herunterzuspielen und den Assimilationsforderungen zu entsprechen. Die Differenz- und Rassismusreproduktionen, die sich in den Gruppendiskussionen Klavier und E-Sports dokumentieren, lassen sich kaum auf konkrete Motive oder Ziele der beteiligten weißen Schüler_innen zurückführen. Ein intentionales, zweckrationales Handeln ist im empirischen Material nicht rekonstruierbar. Gleichwohl wird deutlich, dass die Teilnehmer_innen sich an einem Dominanzverhältnis orientieren, kollektive Abwertungen Migrationsanderer vornehmen und diesen auch Rechte aberkennen. Ein solches Dominanzverhältnis wird spiegelbildlich ebenso in den Diskussionen erkennbar, an denen migrationsandere Schüler_innen teilgenommen haben. Es zeigt sich also, dass auch solche Grenzziehungen und Zuschreibungen Folgen für ge-anderte Subjekte haben können und zur Stabilisierung der ungleichen Zugehörigkeitsordnung und Machtverhältnisse beitragen können, denen nicht notwendigerweise eine Intentionalität zugrunde liegt. Vielmehr kann sogar aus antirassistischer Motivation heraus zu einer Stabilisierung des Dominanzverhältnisses beigetragen werden. Am Beispiel der Unterrichtsinteraktionen an Schule 3 zeige ich, wie die Art und Weise der unterrichtlichen Verhandlung von Rassismus die Schüler_innen in ihrem Selbstbild als Nicht-Rassist_innen legitimiert und bestärkt. Von der Warte der Nicht-Rassist_innen aus ist es den Schüler_innen möglich, sich als „tolerant“ zu präsentieren, während sie zugleich Migrationsandere herabsetzen und ihnen Rechte aberkennen (s. Kap. 5.5.2). Den weißen Beteiligten ist ihre Machtposition innerhalb der hegemonialen Zugehörigkeitsordnung nicht notwendigerweise bewusst und dennoch ist ihr Wahrnehmen, Denken und Sprechen von dieser beeinflusst. Macht, wie ich sie in den Blick nehme, verstehe ich als eine internalisierte, hegemoniale Macht (vgl. a. S CHRÖDER 2016b: 23). Ich verwende anknüpfend an ROMMELSPACHER (1995) den Begriff der Dominanz. Dieses Machtverständnis ermöglicht es, die eigenen Verstrickungen in gesellschaftliche Ungleichheitsver-
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hältnisse zu reflektieren, „denen ich andauernd zustimme, solange ich sie nicht bekämpfe und die durch das Ausbleiben von Kritik normalisiert werden“ (M ES SERSCHMIDT 2008: 12). Folglich können tiefgreifende Bewusstwerdungs- und Selbstreflexionsprozesse erst dann stattfinden, wenn auch Formen nicht bewusstintentionaler Machtausübung hinterfragt werden (vgl. a. N GUYEN 2013b: 23–24). Dass hier solche Aussagen und Handlungen ins Blickfeld rücken, die unintendiert und dennoch wirkmächtig zur Verfestigung von Machtverhältnissen beitragen, wird in einer weiteren Hinsicht für machtsensible Bildungsprozesse relevant. Statt möglicher Interessen, Motive oder Zwecke stehen die individuellen und gesellschaftlichen Auswirkungen von kommunikativen Grenzziehungen und Zuschreibungen im Mittelpunkt. Dies ermöglicht es an Othering- und Rassismuserfahrungen von migrationsanderen Lernenden anzuknüpfen. Diese werden auch dann als Erfahrungen ernst genommen, wenn die Wirkung von Seiten des_der Sprechenden nicht intendiert war. Gleichzeitig kann auf Problematiken aufmerksam gemacht werden, ohne im gleichen Zug ein bewusst-intentionales rassistisches Handeln zu unterstellen. Intentionen und Motive der Diskriminierenden werden dezentriert, wodurch auch die Definitionsmacht verschoben wird. Was als problematisch, kritikwürdig, veränderungsbedürftig oder verletzend gilt, dafür ist nicht in erster Linie die Intention ausschlaggebend. Vielmehr rücken die individuellen wie gesellschaftlichen Auswirkungen von (Sprach-)Handeln ins Zentrum der Beurteilung. Es erscheint daher lohnend, in der konzeptionellen Diskussion in der Geographiedidaktik die Auswirkungen von Grenzziehungsprozessen und Kollektivzuschreibungen stärker als bisher in den Blick zu nehmen (s. Kap. 3.5.2). Aus rassismuskritischer Perspektive verschiebt sich folglich der Fokus von Intentionen und Motiven, die bisher im Zentrum der Diskussion um interkulturelles Lernen stehen, hin zu Effekten von (Sprach-)Handlungen. Dies ermöglicht es, auch solche (Sprach-)Handlungen zu reflektieren, die besondernd, ausgrenzend oder verletzend wirken, obwohl dies nicht intendiert war. Dabei wird weder eine Intention unterstellt noch mit Verweis auf die Nicht-Intendiertheit sogleich die gesamte Reflexionstätigkeit eingestellt.
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8.3.3 Rassismus in der geographiedidaktischen Diskussion Um für die Schüler_innen relevante Erfahrungen besser analysieren und verstehen zu können, habe ich die postkoloniale theoretische Perspektive insbesondere dort geschärft und vertieft, wo sie der Analyse von Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung sowie von Dominanzerfahrungen weißer Menschen dient. Dabei wurde die theoretische Grundperspektive beibehalten, aber die Schwerpunkte der Betrachtung wurden mit einem vertieften Fokus auf rassismuskritische Ansätze und Ansätze der Kritischen Weißseinsforschung noch einmal neu justiert. Rassismuskritische Ansätze und Ansätze der Kritischen Weißseinsforschung erlauben ein besseres Verständnis der Phänomene, die sich für die Schüler_innen in der empirischen Untersuchung als von zentraler Relevanz herausgestellt haben. Damit sind sie auch für eine schüler_innenorientierte Weiterentwicklung des interkulturellen Lernens im Geographieunterricht von Bedeutung, was ein zentrales Ergebnis meiner Studie darstellt. Eine Auseinandersetzung mit Rassismus findet in der geographiedidaktischen Diskussion unter dem Stichwort interkulturelles Lernen statt (s. z. B. bei ROHWER 1996: 6–7, B UDKE 2008: 22–24, M ÖNTER 2013 und s. a. Kap. 3.4.4). Explizit unter der Bezeichnung antirassistisches Lernen wird Rassismus in der bisherigen Diskussion nur bei M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE (2007) sowie bei M ÖN TER (2008) verhandelt. In der geographiedidaktischen Diskussion lässt sich vielmehr beobachten, dass die Existenz von Rassismus vor allem als Ausgangspunkt und Legitimation für eine unterrichtliche Intervention in Form von interkulturellem Lernen verstanden wird (vgl. z. B. B UDKE 2008: 9, 13, 21, 2013: 152-153). Für R EINFRIED (2015: 76) beispielsweise stellt interkulturelles Lernen im Geographieunterricht die „pädagogische Antwort auf Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Intoleranz und Gruppenegoismus“ dar. Im Anschluss an die vorliegenden empirischen Ergebnisse kann die Prämisse, interkulturelles Lernen in der vorliegenden Form sei das geeignete Instrument zur kritischen Beschäftigung mit Rassismus hinterfragt werden. Es lässt sich die Frage stellen, warum bei einer antirassistischen Zielsetzung das Phänomen Rassismus nicht direkt benannt, begrifflich bestimmt und mit den Schüler_innen thematisiert wird. Auch M ÖNTER setzt sich kritisch damit auseinander, dass „Absichten, die derlei pädagogische Programme formulieren, nicht gleichzusetzen [sind] mit den Effekten, die aus den Versuchen ihrer praktischen Umsetzung möglicherweise resultieren“ (2013: 88). Er weist vielmehr auf die Gefahr der Kulturalisierung hin, die mit einer Priorisierung der kulturellen Betrachtungsweise als Wahrnehmungsund Erklärungsfolie für migrationsgesellschaftliche Differenz einhergeht. Auch so-
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ziale Konflikte oder strukturelle Ungleichheiten könnten so kulturell begründet werden (M ÖNTER 2013: 89–91). Auch warnt er vor kulturalisierenden Rassismen, wenn der vermeintlich unproblematische Begriff ‚Kultur‘ zur Konstruktion unveränderlicher Differenzen herangezogen wird. Eine kritische Reflexion der geographiedidaktischen Konzepte interkulturellen Lernens in dieser Hinsicht hält M ÖNTER daher für unabdingbar (2013: 95). In der empirischen Untersuchung hat sich die Zentralität von Rassismuserfahrungen für migrationsandere Schüler_innen gezeigt sowie die Relevanz von rassismusrelevanten Unterscheidungs- und Erklärungsmustern in den Gruppendiskussionen, an denen weiße Schüler_innen teilgenommen haben. Weder die in den Gruppendiskussionen thematisierten Othering- und Rassismuserfahrungen noch die dort reproduzierten rassismusrelevanten Wissensbestände lassen sich ausschließlich auf die Beobachtungsfolie Kultur zurückführen. In den Gruppendiskussionen dokumentiert sich, dass nicht ausschließlich nach dem Muster Kultur unterschieden, abgegrenzt und erklärt wird. Vielmehr habe ich gezeigt, dass Körper und biologistische Vorstellungen in den Aushandlungen von natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit und den lebensweltlichen Othering- und Rassismuserfahrungen von Schüler_innen eine wichtige Rolle spielen. Entlang rassifizierter Marker werden eine „Wir-Gruppe“ und davon abweichende „Andere“ unterschieden, werden Migrationsandere aus dem hier fraglos legitim anwesenden „Wir“ ausgegrenzt, wird ihnen das Anrecht auf Kritik aberkannt und werden negative Zuschreibungen auf sie projiziert. Biologistische Argumentationsmuster werden dabei auch mit kulturalistischen verknüpft (s. Kap. 7.1.2). Es stellt sich die Frage, inwiefern Ansätze des interkulturellen Lernens der Zentralität von Rassismen angemessen sind, die sich in den Erfahrungen und Umgangsweisen der teilnehmenden Schüler_innen mit migrationsgesellschaftlicher Differenz gezeigt hat. Können diese einen schüler_innenbzw. erfahrungszentrierten Unterricht anleiten, der eine differenzierte Auseinandersetzung mit lebensweltlich relevanten Unterscheidungs- und Erklärungsmustern in der Migrationsgesellschaft ermöglicht? Die Einbindung der rassismuskritischen Perspektive in die geographiedidaktische Diskussion stellt ein Angebot der Begriffsbestimmung von Rassismus dar, die für eine konstruktive Weiterführung der Diskussion von grundlegender Bedeutung erscheint. Das jeweils zugrunde gelegte Rassismusverständnis wird in den Beiträgen der deutschsprachigen geographiedidaktischen Diskussion um interkulturelles Lernen, die Bezug auf Rassismus nehmen, nicht immer expliziert (eine Ausnahme stellt ROHWER 1996: 6 dar) und eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Rassismusverständnissen findet kaum statt. Letzteres ist lediglich bei M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE (2007) der Fall, die ihre Arbeit auch über den Titel
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„Antirassismus als Herausforderung für die Schule: von der Theoriebildung zur praktischen Umsetzung im geographischen Schulbuch“ in einem antirassistischen Diskurs verorten. Eine Weiterführung der Diskussion und Auseinandersetzung mit theoretischen Konzepten von Rassismus kann vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Untersuchung als ein Desiderat für die geographiedidaktische Diskussion zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz gesehen werden. Die vorliegenden Ergebnisse bekräftigen, was bereits M ÖNTER und S CHIFFER NASSERIE (2007: 361) im Fazit ihrer Arbeit schreiben: „Damit bleiben die Pluralität der Rassismusforschung und die auf ihr beruhenden Handlungsmöglichkeiten weitgehend unberücksichtigt.“ M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE (2007) rekonstruieren die rassismustheoretischen Grundlagen pädagogischer Ansätze, die eine antirassistische Zielsetzung verfolgen. Sie arbeiten für den deutschsprachigen Diskurs heraus, dass dieser in erster Linie durch ein psychosoziales Rassismusverständnis gekennzeichnet ist. Dies gelte auch für interkulturelle Ansätze in der Geographiedidaktik (M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2007: 361). Gesellschaftskritische Ansätze, die Rassismus als ein in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebettetes Phänomen mit einer strukturellen Dimension analysieren, seien hingegen weder in der theoriedidaktischen Diskussion noch in Bezug auf Unterrichtsinhalte6 zu finden (M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2007: 189). In der Geographiedidaktik dominiere ein individual- und gruppenpsychologisches Verständnis von Rassismus. Mit den Ansätzen der Rassismuskritik und der Migrationspädagogik, die rassismuskritische Perspektiven integriert, hat sich in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion mittlerweile eine aktive pädagogische Auseinandersetzung mit Rassismus entwickelt (s. Kap. 2.2). Diese Diskussionen bieten einen Rassismusbegriff an, der über individuelle und affektive Erklärungsansätze hinausgeht und eine gesellschaftspolitische Dimension integriert. Eine rassismuskritische Fundierung geographiedidaktischer Ansätze wird hier vorgeschlagen, um den von M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE herausgearbeiteten zentralen Defiziten der bisherigen Ansätze zu begegnen. Meine Untersuchung versteht sich in diesem Sinne als Fortführung der von M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE eröffneten Problematisierung und Debatte über wirksame Konzepte zum Erreichen der im Geographieunterricht angestrebten Zielsetzung, ein friedliches Zusammenleben zu fördern und gegen Rassismus zu
6 | M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE analysieren hierfür sowohl institutionelle Vorgaben in Form von Empfehlungen, Richtlinien und Lehrplänen (2007: 139–150) als auch Schulbücher verschiedener Bundesländer (2007: 195–367).
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wirken. M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE konstatieren im Ausgangspunkt ihrer Arbeit ein Missverhältnis zwischen den langjährigen pädagogischen Interventionen mit antirassistischen Zielsetzungen und dem in der Gesellschaft weiterhin lebendigen Rassismus (2007: 11). Sie schließen Ihre Arbeit damit, dass sie Perspektiven für eine veränderte Bildungspraxis formulieren, um Rassismen wirksamer begegnen zu können. Zentrale Bedeutung räumen sie diesbezüglich einer Erweiterung des Rassismusverständnisses ein. Sie fordern, „das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Rassismus mehr umfasst als problematische interpersonelle Dispositionen oder individuelles „Fehlverhalten“ gegenüber Fremden“ (2007: 364): „Denn durch die Reduktion auf die psychosoziale Ebene droht die Gefahr, den tief greifenden und komplexen Ursachen des Rassismus keine adäquate Antwort entgegensetzen zu können: Es droht die Entpolitisierung eines politischen Phänomens.“ (M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2007: 364)
Um der Frage nachzugehen, wie eine Bewusstmachung und tiefgreifende Reflexion gesellschaftlich verfestigter, rassismusrelevanter Differenzkonstruktionen und Deutungsmuster gelingen kann. wurden in der vorliegenden Studie auch Erkenntnisse aus der Kritischen Weißseinsforschung fruchtbar gemacht. Denn es sind insbesondere Forscher_innen aus diesem Bereich, die die Frage nach den Ursachen für das Beharrungsvermögen von Rassismen in der deutschen wie auch in anderen Gesellschaften stellen (s. Kap. 2.3). Die Kritische Weißseinsperspektive stellt ein Analysevokabular bereit, um vermeintliche legitime Dominanzansprüche und Situationen der Aufrechterhaltung von Selbst- und Weltbildern zu analysieren, wie sie sich in den Gruppendiskussionen E-Sports und Klavier dokumentiert haben. Das Verdienst von M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE ist es, dass sie die Leerstellen in der rassismustheoretischen Fundierung der Ansätze und Materialien herausgearbeitet haben, mit denen im Geographieunterricht eine antirassistische Zielsetzung verfolgt wird. Die vorliegende Arbeit bietet in Reaktion auf dieses Desiderat einen Vorschlag zur rassismuskritischen Konzeption an. Meine Untersuchung versteht sich als Beitrag zu einer Weiterentwicklung der geographiedidaktischen Diskussion im Hinblick darauf, dass ich einen Vorschlag mache, der in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht an das zentrale von M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE (2007) herausgearbeitete Desiderat anschließt. Dieses Desiderat besteht bis heute fort. Eine Erweiterung der rassismustheoretischen Fundierung der geographiedidaktischen Konzepte steht nach wie vor aus.
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Zugleich bietet die Untersuchung ergänzend zur Schulbuchanalyse von M ÖN und S CHIFFER -NASSERIE (2007: 195–357) einen anderen empirischen Blickwinkel an, indem Erfahrungen und Orientierungen von Schüler_innen im Fokus stehen. Die Ergebnisse meiner Forschung unterstreichen, dass ein erweitertes Verständnis von Rassismus notwendig ist, wenn es Ziel ist, an alltägliche Erfahrungsräume von Schüler_innen anzuschließen und rassismusrelevante Bestandteile hegemonialen Unterscheidungs- und Erklärungswissens aufzugreifen, die zur Aufrechterhaltung eines Dominanzverhältnisses beitragen. Dass antirassistische Zielsetzungen, die an den lebensweltlichen Realitäten von Schüler_innen vorbei gehen wenig wirksam sein dürften, haben auch M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE (2007: 191) angemerkt. Zum einen wird in meinen empirischen Ergebnissen deutlich, dass Erklärungen auf individueller und psychologischer Ebene unzureichend sind, um tiefgreifende Reflexionsprozesse zu ermöglichen sowie potenzielle Othering- und Rassismuserfahrungen migrationsanderer Schüler_innen zu verstehen und diese in emanzipatorischer Hinsicht aufgreifen zu können. Zum anderen ist es ein Ergebnis der Rekonstruktion meiner Gruppendiskussionen, dass biologistische Vorstellungen und körperlich sichtbare Marker von Differenz eine zentrale Rolle bei der dichotomen Konstruktion eines legitim zugehörigen „Wir“ und eines nicht fraglos zugehörigen „Nicht-Wir“ spielen. In den Diskussionen werden sowohl kulturelle als auch biologistische Schemata der Grenzziehung bedient und diese werden auch vermengt. Dieses Ergebnis verweist auf die Notwendigkeit, sich nicht nur auf kulturalistische Differenzkonstruktionen zu fokussieren, um die „Imagination eines visuell evidenten Deutsch-Seins“ (W OLLRAD 2005: 119) zu dekonstruieren. Dies stellt eine Erweiterung der von M ÖNTER (2008: 92) angestrebten rassismustheoretischen Ausrichtung für den interkulturellen Geographieunterricht dar. Dieser versteht die Befähigung TER
„zur Dekonstruktion kulturalisierender Deutungs- und Legitimationsmuster von sozialer und politischer Ungleichheit [. . . ] als eigentliche antirassistische Kompetenz [. . . ], zu der der geographische Unterricht einen erheblichen Beitrag leisten kann.“ (M ÖNTER 2008: 92)
Im Anschluss an meine empirischen Ergebnisse erscheint eine Differenzierung in genetischen und kulturalistischen Rassismus nicht zielführend (vgl. a. JÄGER und JÄGER 2000: 283, zit. n. W OLLRAD 2005: 120). Vielmehr wird ein Verständnis benötigt, welches „den variablen Gehalt des Rassismus“ (S CHERSCHEL 2011: 125) zu erfassen vermag. Mit der rassismuskritischen Perspektive wird ein solches Verständnis hier angeboten (Kap. 2.2).
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M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE (2007: 20–110) haben eine ausführliche Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen vorgelegt, denen jeweils eine unterschiedliche Begriffsbestimmung von Rassismus zugrunde liegt. Sie zitieren auch Kritiken an einem weiten Rassismusverständnis, wie es dem hier eingenommenen rassismuskritischen Ansatz zugrunde liegt (2007: 136). Demzufolge verwässere ein weiter Rassismusbegriff die Aussagekraft: „Wo alles droht, Rassismus zu sein, ist nichts mehr Rassismus“ (F RITZSCHE 1992b: 112, zit. n. M ÖNTER & S CHIFFER NASSERIE 2007: 136). Dieser Kritik sei hier eben gerade das Erkenntnispotenzial im interessierenden Zusammenhang entgegnet. Ich habe in der vorliegenden Studie vorgeschlagen, sich bezüglich des Verständnisses von Rassismus daran zu orientieren, welche Erfahrungen für Schüler_innen relevant sind und welche Differenz und Dominanz reproduzierenden Wissensbestände sich in ihren Orientierungen zum Umgang mit migrationsgesellschaftlicher Differenz dokumentieren. Für einen weiten Rassismusbegriff spricht, dass dieser es erlaubt, die Phänomene zu erfassen, die sich im lebensweltlichen Alltag der beteiligten Schüler_innen als wirkmächtig herausgestellt haben. Ich argumentiere daher, dass ein Rassismusverständnis, welches weit genug gefasst ist, um Erfahrungen mit alltäglichen Zuschreibungen von Anderssein, Nicht-Zugehörigkeit und Abwertungen jenseits von physischer Gewalt zu erfassen, für Bildungszusammenhänge Erkenntnispotenzial bietet. Es ermöglicht, an lebensweltlich relevante Erfahrungen, Wissensbestände und Orientierungen anzuknüpfen. Und es ermöglicht, auch nicht intendierte Diskriminierungen und wirkmächtige, zur Reproduktion von gesellschaftlicher Ungleichheit beitragende Unterscheidungsmuster zu reflektieren und Veränderungsprozesse anzustoßen. Gleichwohl sollte bei einem solchen Verständnis von Rassismus im Blick behalten werden, dass es unterschiedliche Formen von Rassismus gibt und keinesfalls ein geschlossenes Ideensystem – beispielsweise eines staatlich verankerten Faschismus – mit der Reproduktion von rassistischen Wissensbeständen im Alltag gleichgesetzt werden kann. Auch weiteren von M ÖNTER und S CHIFFER -NASSERIE (2007: 136) angeführten Kritikpunkten wurde im vorgeschlagenen Ansatz versucht Rechnung zu tragen. Die Gefahr einer „Polarisierung“ (M ÖNTER & S CHIFFER -NASSERIE 2007: 136) in weiße Schüler_innen als diejenigen mit rassistischen Dominanzerfahrungen und migrationsandere Lernende als diejenigen mit Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung, habe ich in Kapitel 7.3.2 reflektiert. Dass der Fokus auf Rassismuserfahrungen zur Betonung eben dieser einen Erfahrungsdimension führt, bei der andere Bestandteile der Identität der Beteiligten aus dem Blick rücken und Differenzen statt Gemeinsamkeiten betont werden, ist ein relevanter Kritikpunkt. Ich habe daher als eine Möglichkeit für konzeptionelle Überlegungen die Unter-
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scheidung von dramatisierenden, ent-dramatisierenden und nicht-dramatisierenden Strategien zum Umgang mit Differenz vorgeschlagen, die aus der geschlechtersensiblen Pädagogik stammt (s. Kap. 7.3.2). Als weitere Gefahren erwähnen M ÖN TER und S CHIFFER -NASSERIE , dass kontraproduktive Schuldgefühle bei weißen Schüler_innen erzeugt werden können sowie Resignation und Rückzug auf Seiten Migrationsanderer erfolgen können (2007: 136). Die vorgelegten konzeptionellen Grundgedanken integrieren diese Gefahren in der Auseinandersetzung mit der Ermöglichung tiefgreifender Reflexionsprozesse (s. Kap. 7.2.3) und im Entwurf eines emanzipatorischen Umgangs mit Rassismus und Rassismuserfahrungen (s. Kap. 7.3.1).
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Ich bedanke mich herzlich bei...
...all denjenigen, mit deren Hilfe diese Monographie entstanden ist. Dies sind zunächst einmal alle beteiligten Schüler_innen, die ich eine Zeit lang im Schulalltag begleiten durfte und die bereit waren, mir Einblick in ihre Erfahrungen, Zugehörigkeitsaushandlungen und Orientierungen zu geben – auch wenn diese zum Teil sehr persönlich und mit schmerzhaften Erinnerungen verbunden waren. Danken möchte ich auch den beteiligten Schuldirektor_innen und Lehrkräften. Sie haben mir den Zugang zu den Schüler_innen ermöglicht, mir bei der Organisation der Forschungszeit an ihren Schulen zur Seite gestanden und mich in ihrem Unterricht teilnehmend beobachten lassen. Ein besonderer Dank gilt an dieser Stelle Lydia Abel, Simone Meyer-Schroll, Jens Koll, Stergios Stavropoulos, Catharina Frehoff und Jan-Peter Reimers, ohne deren großzügige Hilfe ich die empirische Forschung nicht hätte durchführen können. Ebenso gilt mein Dank Frau Wulf und Herrn Fickermann von den Landesschulbehörden, die mir die Erlaubnis erteilt haben, die empirische Forschung an den Schulen in ihren Bundesländern durchzuführen. Ein besonders großer Dank gilt meinem Betreuer Holger Jahnke, der die Entstehung der Dissertation von Beginn an begleitet und unterstützt hat, mir sehr viel wertvolles Feedback gegeben und mich immer wieder auf meinem Weg ermutigt hat. Insbesondere möchte ich mich für die zahlreichen anregenden Diskussionen bedanken, die mich immer wieder herausgefordert haben, meine Perspektive zu klären und von großem Wert für die Arbeit waren. Danken möchte ich ebenfalls Mirka Dickel für die Bereitschaft, das Zweitgutachten zu verfassen und für ihre genaue Durchsicht der Dissertation. Leif Mönter danke ich für die Erstellung des Drittgutachtens. Ohne Inken Carstensen-Egwuom, Sibylla Kuckuck und Urte Schröder, die diese Arbeit kontinuierlich mit ihrem ausführlichen und immer sehr hilfreichen
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freundlichen Feedback, ihren analytischen und interpretatorischen Fähigkeiten, ihrem großen Interesse und ihren stetigen Ermutigungen begleitet haben, hätte ich diese Monographie nicht geschrieben. Für ihre Kommentare, Anregungen und Korrekturen danke ich Inken Carstensen-Egwuom, Sibylla Kuckuck, Urte Schröder, Heike Gieselmann und Sebastian Riedel sowie Nina Lütjerodt und Markus C. Paluch von Sprachwerk e.V.. Während meiner Arbeit an der Dissertation durfte ich eine sehr inspirierende Zeit am IMIS in Osnabrück verbringen und möchte mich ganz besonders bei Andreas Pott, Malte Steinbrink und Antonie Schmiz für ihre Gastfreundschaft, die vielen Anregungen und ihre Ermutigungen bedanken. Meiner Familie und meinen Freund_innen danke ich für ihre Unterstützung und ihre Geduld, besonders in der Endphase des Projekts. Ein besonderer Dank gilt auch dem Evangelischen Studienwerk. Ohne die finanzielle Förderung durch das Promotionsstipendium hätte diese Arbeit nicht in der vorliegenden Form entstehen können und auch die ideelle Förderung und Begleitung durch das Werk möchte ich nicht missen. Nicht zuletzt bedanke ich mich bei allen Personen im transcript Verlag, die an der Entstehung dieses Buches mitgewirkt haben. Berlin, im April 2019
Geographie kollektiv orangotango+ (ed.)
This Is Not an Atlas A Global Collection of Counter-Cartographies 2018, 352 p., hardcover, col. ill. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4519-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4519-8
Ian Klinke
Bunkerrepublik Deutschland Geo- und Biopolitik in der Architektur des Atomkriegs Januar 2019, 256 S., kart., Klebebindung, 21 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4454-8 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4454-2 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4454-8
Severin Halder
Gemeinsam die Hände dreckig machen Aktionsforschungen im aktivistischen Kontext urbaner Gärten und kollektiver Kartierungen 2018, 468 S., kart., Klebebindung 24,99 € (DE), 978-3-8376-4547-7
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Geographie Christoph Baumann
Idyllische Ländlichkeit Eine Kulturgeographie der Landlust 2018, 268 S., kart., Klebebindung, 12 SW-Abbildungen 29,99 € (DE), 978-3-8376-4333-6 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4333-0
Christine Scherzinger
Berlin – Visionen einer zukünftigen Urbanität Über Kunst, Kreativität und alternative Stadtgestaltung 2017, 350 S., kart., Klebebindung, 41 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-3717-5 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3717-9
Raphael Schwegmann
Macht-(W)Orte Kulturelle Geographien des Rechts und der Ökonomie am Beispiel südasiatischer Migrationsgeschichten 2018, 312 S., kart., Klebebindung, 13 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4136-3 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4136-7
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