Zeitkritik bei Joseph von Eichendorff [1 ed.] 9783428486731, 9783428086733

Mit der vorliegenden Untersuchung über den Zeitkritiker Eichendorff knüpft der Verfasser innovativ an die Tradition der

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German Pages 303 Year 1997

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Zeitkritik bei Joseph von Eichendorff [1 ed.]
 9783428486731, 9783428086733

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FRANZ XAVER RIES

Zeitkritik bei Joseph von Eichendorff

Schriften zur Literaturwissenschaft Im Auftrag der Görres-Gesellschaft herausgegeben von Bernd Engler, Volker Kapp, Helmuth Kiesel, Günter Niggl

Band 11

Zeitkritik bei Joseph von Eichendorff Von

Franz Xaver Ries

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Ries, Franz Xaver: Zeitkritik bei Joseph von Eichendorff I von Franz Xaver Ries. Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zur Literaturwissenschaft ; Bd. 11) Zugl.: Eichstätt, Univ., Diss., 1994 ISBN 3-428-08673-2

Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6720 ISBN 3-428-08673-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 t§>

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort Einleitung

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Erster Teil: Adelskritik im Roman "Ahnung und Gegenwart"

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Ao "Desorganisation" der sozialen Strukturen I. Innerständische soziale Disharmonie

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1. Grundlegende soziale Formen Soziale Aggregate und soziale Gruppen Der soziale Gegensatz Stadt-Land a) Residenzadel und Massengesellschaft b) Die Gesellschaft des Landadels c) Die Überwindung der Differenzen 0

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1. Nationalgefühl und Volksverbundenheit a) Volksbegriff b) Dualismus Idee - Wirklichkeit Adel, Volksgeist und Realität 0

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B. Die soziokulturelle Krise des Adels I. Adel und Kunst

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1. Die Gartenkunst Salon und Literatur 0

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1. Tugend und Moral Bildung 0

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Ilo Wertkrise des Adels 20

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Il. Adel, Volk und Staat 0

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Inhaltsverzeichnis

6

... 62

C. Zum Stellenwert von Eichendorffs Adelskritik

I. Vergleich von Eichendorffs "Ahnung und Gegenwart" mit Goethes "Wilhelm Meisters Lehrjahre" . . . . . . . . . . . . . . 62 II. Vergleich von Eichendorffs "Ahnung und Gegenwart" mit Arnims "Gräfin Dolores" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70

Zweiter Teil: Die Auseinandersetzung mit dem Bürgertum A. Die Gesellschaft der Philister

81

I. Philister und Politik

81

II. Die sozialen Verhältnisse bei den Philistern

91 99

B. Kritik an der "Bewegung"

. 112

C. Heterogenität und Homogenität der bürgerlichen Gesellschaft

D. Vergleich von Eichendorffs "Krieg den Philistern!" mit Brentanos "Der Philister vor, in und nach der Geschichte" . . . . . . . . ... 121 E. Zur poetischen Form von Eichendorffs "Krieg den Philistern!" und ihrer kritischen Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 F Der Taugenichts: Zur Gestaltung "unbürgerlicher" Lebensweise

. 131

Dritter Teil: Wider den Zeitgeist: Eichendorffs Auseinandersetzung mit Entwicklungen und Tendenzen der Vormärzzeit A. Der "Zeitgeist": Eichendorffs politische Schriften und die

"Arkadien "-Satire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . 141

I. Eichendorff als politischer Publizist und die Gattung des satirischen Reiseberichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

II. Zur politisch-sozialen Dimension des Zeitgeistes: Die Politisierung . . . . . . . . . . . .147 III. Politische Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148

Inhaltsverzeichnis

1. Die Verfassung .

.148 . 156

2. Die Grundrechte

B. Die metapolitischen Wurzeln des Zeitgeistes

I. Zeitgemäßes Verständnis

7

. . . . . . . . .

. 168 . 168

Il. Eichendorffs Zeitkritik als Kritik am modernen Menschenbild 170 III. Eichendorffund die Emanzipation der Frau

. 175

IV Kunstkritik

.177

Vierter Teil: Eichendorffund die "Soziale Frage": Industriekapitalismus, Proletariat und Revolution A. Eichendorffs Kapitalismuskritik . . . . . . . . . . .

. 185

B. Die Klassengesellschaft in Eichendorffs Perspektive

. 193

C. Die Revolution von 1848 und ihre Ursachen in Eichendorffs Sicht . 196

Exkurs: Geschichte und Religion

. . . . . . . .

. 211

D. Poetische Reflexion der Revolutionszeit 1848149

. 217

I. Der Gedichtzyklus "1848" . . . . . . .. .. .

. 217

. 217 1. Zur Druck- und Rezeptionsgeschichte 2. Zu Thematik und poetischer Realisierung . 218 3. Der Gedichtzyklus "1848" und sein literaturhistorischer Ort . 237 II. "Libertas und ihre Freier" 1. Zur Erzählstruktur: Aufbau und Figurenkonstellation 2. Kunst und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Literaturkritik als Gesellschaftskritik b) Tendenzliteratur und Autonomie der Kunst c) "Libertas und ihre Freier"- ein "Märchen"?

. 241 . 241 . 261 . 261 . 263 . 270

Schlußbemerkungen

. 275

Literaturverzeichnis

. 281

VORWORT Der gegenwärtige konträre zeitdiagnostische Diskurs wird vor allem durch konkurrierende Epochenansprüche wie "Moderne" und "Postmoderne" bestimmt. In dieser Situation erscheint es reizvoll und lohnend, die Argumentation eines Kritikers zu sichten und zu prüfen, der sich zu seiner Zeit mit der hereinbrechenden Moderne als streitbarer Poet auseinandersetzte: Joseph von Eichendorff. Daß der Dichter seine Zeit umfassender Kritik unterzog, ist von der Eichendorff-Forschung sehr deutlich vorgetragen worden und hat das Eichendorffbild nachhaltig verändert. Eine systematische und fachübergreifende Gesamtbetrachtung über den Zeitkritiker Eichendorffliegt jedoch nicht vor. Einen ersten Versuch in dieser Richtung unternimmt die vorliegende Arbeit. Dabei werden bestehende Erkenntnisse zwar durchaus bestätigt, vielfach jedoch einer angemessenen Revision, Modifizierung und Neubetrachtung empfohlen. Diese Arbeit, entstanden im Rahmen eines Zweitstudiums, hat mein verehrter Lehrer, Herr Professor Dr. Günter Niggl, angeregt und betreut. Dabei gewährte er mir vor allem großzügig den nötigen zeitlichen Freiraum. Mein Dank gilt ihm und den Herausgebern der Reihe "Schriften zur Literaturwissenschaft". Franz X. Ries

EINLEITUNG Die Geschichte der Eichendorff-Rezeption in Deutschland ist gekennzeichnet von Versuchen, den Dichter für die jeweilige "Wunschwelt" der Rezipienten zu vereinnahmen 1• Politische Ideologien reklamierten Eichendorffund seine Dichtung für ihre jeweiligen Positionen, "den deutschesten Sänger"2 beispielsweise, oder den bedeutenden bürgerlichen Kritiker "bei aller Borniertheit seines unabdinglichen Klassenstandpunktes" 3• Dagegen ist festzuhalten, "daß Eichendorffs Poesietrotz aller Zauberworte nirgends zu ihrem Mißbrauch einlädt, daß vielmehr jedes ungenaue Lesen, jede Fehldeutung, jede falsche Inanspruchnahme allein das jeweilige Publikum zu verantworten hat"•. Besonders groß war und ist die Gefahr, den Zeitkritiker Eichendorff für bestimmte gesellschaftspolitische und kulturhistorische Positionen vereinnahmen oder ihn eindimensional ideologisch festlegen zu wollen. So mancher Interpret projiziert eigenes Geschichtsdenken, politisches Bewußtsein oder auch kulturspezifische en vogue-Tendenzen auf Eichendorffs zeitkritische Intentionen und gelangt dann zu Erkenntnissen, die zwar originell scheinen, vielfach jedoch als Verzerrungen angesehen werden müssen'. 1 In seiner Einleitung zu HKA XVIII/1, S. XXXV präzisiert Günter Niggl Eberhard Lämmerts (Eberhard Lämmert: Eichendorffs Wandel unter den Deutschen. In: Die deutsche Romantik. (Hrsg. v. Hans Steffen), Göttingen 1970, z.B. S. 240) These dahingehend, daß bei der Subjektivierung von Eichendorffs Werk "die entscheidenden Anregungen nicht vom Werk selbst, sondern von den jeweiligen außerliterarischen Zeitströmungen, ihren Wünschen und Zielen" ausgingen. 2 Lämmer! zitiert hier einen der vielen Versuche, Eichendorff für die Sache des Nationalismus (1938) zu vereinnahmen; ebd. S. 239, S. 247 Anm. 18, auch S. 251, Anm. 64. 3 So ein Urteil der DDR-Germanistik in: Romantik. E rläuterungen zur deutschen Literatur. Berlin 1985, S. 395. 4 Niggl (s. Anm. 1) 5 So z. B. Alexander v. Bormann, der neben sehr verdienstvollen Forschungen auch recht kritikwürdige Beiträge geliefert hat; es wird wiederholt auf ihp einzugehen sein. Ebenso Hermann Korte in seinem zwar interessanten, aber doch sehr einseitigen Werk: Das Ende der Morgenröte. Frankfurt am Main, 1987. Neuerdings ist es auch in Mode gekommen, Eichendorff in die Nähe der französischen Poststrukturalisten J. Derrida und J. Lacan zu bringen, so A. v. Bormann: Kritik der Restauration in Eichendorffs Versepen. In: Hans-Georg Pott (Hrsg.): E ichendorffund die Spätromantik. München, Wien, Zürich, 1985, S. 70; auch Raimar Zons, ebd., S. 67.

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Einleitung

Auch in den zahlreichen sorgfältigen und verdienstvollen Studien, die sich des Kritikers Eichendorff annehmen - stellvertretend sei hier Peter Krüger genannt, der sich mit Eichendorffs politischem Denken beschäftigte6 -, fällt auf, daß die germanistische Forschung nur verhalten über die Grenzen der eigenen Disziplin blickte; Krüger etwa zitiert für die Untermauerung seiner Thesen nicht ein einziges Werk aus dem Bereich der Sozial- oder Geschichtswissenschaften. Damit wird das für diese Arbeit notwendige methodische Vorgehen intendiert: Es ist der Versuch, einen interdisziplinären Ansatz zu finden, in den die relevanten Fachgebiete einbezogen werden können. So müssen Politikgeschichte, politische Theorie, Sozial-, Wirtschafts-, Kulturgeschichte, nicht zuletzt die Soziologie befragt werden, wenn die Darstellung von Eichendorffs Zeitkritik die nötigen Konturen erhalten soll. Dabei wird die Untersuchung als ganze diachronisch angelegt, um Eichendorffs Werk parallel zur historischen Folge von bedeutsamen Zeitprozessen betrachten zu können. So lassen sich Entwicklungen und Veränderungen von Eichendorffs Zeitdiagnose und Weltbild feststellen, begründen und in Relation setzen zu anderen Positionen, Denkströmungen und Konstellationen. Denn: "Gerade Eichendorff hat bis zuletzt durch unermüdliche poetische und kritische Produktivität seine Epoche mitgestaltet [...]" 7• Innerhalb des großen diachronischen Rasters werden synchrone Analysen durchgeführt, um an verschiedenen "Erscheinungs- und Erfahrungsformen""die Signatur der Zeit und Eichendorffs Stellung dazu transparent zu machen. Hier werden politische, sozio-ökonomische und soziokulturelle Argumentation neben der literaturwissenschaftliehen gefordert sein, um die "Verschränkungen"9 und Wechselwirkungen aufzeigen zu können. Eichendorff wird in den Gesellschaftsprozeß der beginnenden Moderne hineingeboren 10, in eine Epoche, die seine Zeitgenossen als "neue Zeit" 11 empfanden. Der Erfahrungshintergrund wird wesentlich bestimmt von 6 Peter Krüger: Eichendorffs politisches Denken. Aurora 28, 1968, S. 7-32; Aurora 29, 1969, S. 50-69. 7 Niggl, (-> Niggl, S. IX) 8 Klaus Lichtblau: Soziologie und Zeitdiagnose. Oder: Die Moderne im Selbstbezug. In: Jenseits der Utopie. Theoriekritik der Gegenwart. (Hrsg. v. Stefan Müller-Doohm). Frankfurt am Main 1991, S. 25. Vgl. dazu auch Wolfgang Frühwaids Katalogbeitrag: Schwellenbewußtsein und Verwandlung. In: Joseph von Eichendorff. Ich bin mit der Revolution geboren ... Ratingen 1988, S. 7-26. Y Hans-Uirich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. I. München 1987, S. 21. 10 Vgl. dazu Lichtblau, S. 20 f. (vgl. Anm. 8); näheres dazu im Kapitel "Schlußbemerkungen". II Ebd., S. 21.

Einleitung

13

einer Tendenz zur Demokratisierung bei gleichzeitigem Abbau alter Ordnungeh12. Der junge Adelige, Jahrgang 1788, sieht sich mit dem Übergang "von der traditionalen Ständegesellschaft zur Klassengesellschaft" 13 konfrontiert. Besonders in den Jahren von 1803 bis 181514 - neben den Revolutionsjahren von 1848/4915 - drohen dem deutschen Adel einschneidende Krisen 16. Die Lage des eigenen Standes, die Frage nach seiner "adeligen" Identität reflektiert Eichendorff in seinem ersten Roman "Ahnung und Gegenwart'' 17 und -das sei vorweggenommen- offenbart ein erstaunliches Problembewußtsein, sowohl beim kritisch-diagnostischen Zugriff wie auch bei der Suche nach Orientierungsmöglichkeiten. Bereits zu dieser Zeit beginnt auch die Begegnung mit der sich allmählich entfaltenden Potenz "bürgerlicher" Kräftekonstellationen, mit deren "Trägergruppen" 18, aber auch deren gesellschaftspolitischen und ideellen "Strukturbedingungen" 19 er sich in den nächsten Jahrzehnten kritisch auseinandersetzen muß: Entwicklung und vor allem Einforderung der Menschen- und Bürgerrechte, Bildung, Nationalismus, Liberalismus20 • Seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts beschäftigt die Genese einerneuen "Klasse" jeden engagierten Beobachter der Zeit: Die Entstehung des Proletariats, der Arbeiterklasse, bedeutete eine gesellschaftliche Veränderung, die wohl zu den grundlegendsten Charakteristika im Umbruchsprozeß von der "traditionalen zur modernen Welt" gehört21. Wie sieht Eichendorff die Problematik der sozialen Frage, wie betrachtet er Kapitalismus und Klassengesellschaft? In der Revolution von 1848/49 schließlich entlädt sich "ein explosives Gemisch" 22 in einer "revolutionären Eruption" 2\ Auch Eichendorff sucht nach den vielfältigen, miteinander vernetzten Bedingungen und Gründen dieser gesellschaftlichen Krise, aber auch nach Wegen in die 12Vgl. dazu: Reinhard Koselleck: Einleitung zu "Geschichtliche Grundbegriffe. Histori· sches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland" . (Hg. v. Otto Brunner I Werner Conze I Reinhart Koselleck), Bd. 1. Stuttgart 1974, S. XIII-XXVII. 13 Wehler, Bd. I, S. 22 14Wehler, Bd. II, S. 145. 15E bd. 16Ebd. 17 Der Roman entstand in den Jahren 1810-1812; vgl. dazu II, 941 sowie HKA III, 338 ff. 18 Utz Haltern: Bürgerliche Gesellschaft. Darmstadt 1985, S. 113. 19 Ebd. 20 Ebd., ebenso Wehler, Bd. li, S. 241. 21Wehler, Bd. II, S. 241 22 Ebd., S. 659. 23 Ebd., S. 660.

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Einleitung

Zukunft. Dabei wird zu berücksichtigen sein, welche Fragen der Zeitkritiker Eichendorffan eine sich entfaltende "moderne" Gesellschaft richtet Fragen, die einerseits den umfassenden Blick und die daraus resultierende Eindringlichkeit bekunden, mit welcher der Dichter die Signatur seiner Zeit reflektierte, Fragen aber auch, die in der heutigen Diskussion um "Moderne" und "Postmoderne" durchaus noch aktuell sind und unsere Gegenwartsdiagnostik bewegen.

Erster Teil

ADELSKRITIK IM ROMAN "AHNUNG UND GEGENWART"

A. "Desorganisation" der sozialen Strukturen I. Innerständische soziale Disharmonie 1. Grundlegende soziale Formen "So", sagte Friedrich, dessen Herz recht weit und vergnügt war, "so muß vor vielen hundert Jahren den Rittern zumute gewesen sein, wenn sie bei stiller nächtlicher Weile über diese Berge zogen und auf Ruhm und große Taten sannen. So voll adeliger Gedanken und Gesinnungen mag mancher auf diese Wälder und Berge hinunter gesehen haben, die noch immer dastehen wie damals". (II, 16) Friedrichs Retrospektive beschwört eine historische Kontinuität ritterlichen Bewußtseins, das sich eingebunden weiß in das verläßliche System einer gesicherten und selbstsicheren Ordnung. Doch schon bald drängt ihn die ernüchternde Erkenntnis der gesellschaftlichen Realität zur Revision seines Verständnisses: "Mein Gott, mein Gott, [...] warum ist alles auf der Welt so anders geworden! [...] Gott steh dem Adel bei [... ] in der gewaltsamen drängenden Zeit, wo untergehen muß, was sich nicht ernstlich rafft!" (li, 165) Mit seinem Protagonisten Friedrich sieht Eichendorff das alte Selbstverständnis und die Selbstsicherheit des Adels in der Entstehungszeit "Ahnung und Gegenwart" erheblich in Frage gestellt. Von einer sozialen Gruppe, die unter dem Prädikat "Adel" im Roman etwa einen geschlossenen, einheitlichen Stand repräsentiert, kann deshalb auch keine Rede sein. Dabei korrelieren soziale Unterschiede mit ökonomischen, politischen und kulturspezifischen

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Adelskritik

Differenzen; die Interdependenz der Krisenfaktoren schließt allerdings die unterschiedliche Gewichtung von kritikwürdigen Teilbereichen durch den Autor nicht aus. In der offensichtlichen Krise des Adels zwischen 1789 und 1815 1 werden die augenscheinlichen und latenten innerständischen sozialen Probleme akut. Zwar konnte sich der Adel als nominale Korporation erhalten, doch die Erschütterung in den Krisenjahren war tiefgreifend und rührte nicht nur von explizit adelsfeindlicher Kritik und Reform, sondern eben auch von einer sozialen Spannung innerhalb des Standes. So bildeten etwa Standesherren und landständiger AdeF jeweils eine Gruppe für sich. "Trotz ähnlicher Rechte und Verhaltensmuster" waren sie "gegeneinander abgeschlossen und miteinander von allen übrigen sozialen Gruppen deutlich distanziert." 3 Die soziale Struktur der alten Heerschildordnung\ die den Adel als geschlossenen und gestuften Wehrstand, als Vielfalt in der Einheit begriff, äußerte sich vielfach nur noch in ostentativer Attitude; es sollte "wenigstens das Auftreten nach außen dazu beitragen, daß neben der naissance auch die übrigen Tocqueville'schen Characteristica des Adels, nämlich riebesse und savoir vivre mit herrschaftlichen Attributen sichtbar wurden. 5" Eine glänzende Fassade von Festen mußte als veräußerlichter sozialer Gestus die disharmonische innere Verfassung der Korporation verdecken. Eichendorff erfaßt diesen Zustand und projiziert ihn auf die Ebene der sozialen Interaktion zwischen seinen adeligen Romanfiguren: In Handeln und Kommunikation der Personen - und adäquat dazu in Nicht-Handeln und fehlender Kommunikation - offenbart sich ein Beziehungsgefüge, das kritisch auf die historische Handlungssituation und Umwelt verweist. Konkrete Bedingungen, Zeitumstände, Interessenlagen, aber auch Aspekte von Wert- und Normenstrukturen finden in der fingierten sozialen Interaktion eine entsprechende kritische Darstellung. Jeder Handelnde im Roman agiert als Kommunikator charakteristisch für sich. Da er zugleich auch "soziale Person" ist, sollte von seinen Mitteilungen in Sprache, Schrift und Verhalten auf typische gemeinsame Signifikanten "seiner" gesellschaftlichen Schicht - also des Adels 1 Vgl. dazu: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1. Hg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck. Stuttgart 1974, S. 29. 2 Vgl. dazu: Hansjoachim Henning: Sozialgeschichtliche Entwicklungen in Deutschland von 1815 bis 1860. Paderborn 1977, S. 75. 3 Ebd., S. 46, vgl. auch Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. München 1983, s. 257 f. 4 Vgl. Anm. 1, S. 14. 5 Vgl. Anm. 2, S. 93.

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geschlossen werden können. Doch dies ist in "Ahnung und Gegenwart" nicht der Fall: Die hier durch Interaktion und Kommunikation entstehende Wirklichkeit ist einerseits gekennzeichnet durch partielle Harmonie, in gleichem Maße aber treten Brüche und Widersprüche auf - ein Zustand, der wieder auf die Handelnden zurückfällt. Interaktion und Kommunikation als grundlegende Begriffe menschlichen Miteinanders und Gegeneinanders sind in "Ahnung und Gegenwart" u.a. als Raster für die Adelskritik Eichendorffs konzipiert. Graf Friedrich und sein adeliger Freund Graf Leontin stehen im Mittelpunkt vielfältiger sozialer Verflechtungen. Ihre primäre Handlungsbeziehung, d.h. ihre Freundschaft, ist gekennzeichnet vom Miteinander, das sich klar abhebt von einem rein physischen Nebeneinander. Hier wird die "idealtypische" Freundschaftsbeziehung als humane Elementarform vorgeführt, aber auch ein kritisches Paradigma für den Adel: Für beide Grafen gilt die "Entsprechung von sozialer Gleichheit und Interaktion"" - keiner der Freunde sucht einen überlegenen Status zu gewinnen oder fällt bewußt in eine inferiore Position ab. Zwischen ihnen stellt sich nun kein schlechthin plattes Harmonisieren ein, sondern eventuelle Gegensätze werden kritisch-produktiv aufgearbeitet: "Friedrich sagte darauf: "Nimm dich in acht mit deinem Übermute! Es ist leicht und angenehm, zu verspotten, aber mitten in der Täuschung den großen, herrlichen Glauben an das Bessere festzuhalten und die andern mit feurigen Armen emporzuheben, das gab Gott nur seinen liebsten Söhnen." - "Ich sage dir in vollem Ernst", erwiderte Leontin ungemein liebenswürdig, "du wirst mich noch einmal ganz bekehren, du seltsamer Mensch. Gott weiß es wohl, mir fehlt noch viel, daß ich gut wäre. 7 " Ein kritisches Pendant dazu bildet Leontins Aufforderung an Friedrich "kaum leserlich, gekritzelt" (11, 104)ein vertraut-diskreter "sozialer" Wink: "Herr Friedrich, der schläft in der Ruhe Schoß, Ich wünsch ihm viel Unglück, daß er sich erbos, Ins Horn, zum Schwert, frisch dran und drauf! Philister über dir, wach, Simson, wach auf!" Friedrich wird getroffen davon, erkennt "tief das Schwerfällige seiner Natur" (11, 104) und beginnt eine kritische Selbstreflexion. Friedrich und Leontin präsentieren sich als progressive soziale Einheit; trotz anfänglicher Schwierigkeiten8 "entwickeln" sie sich aufeinander zu: der eine wirkt 6 Vgl. dazu: George C. Hemans: Elementarformen sozialen Verhaltens. Opladen 1972, S. 279. 7 Friedrich ist also nicht "die einzige Gestalt in ,Ahnung und Gegenwart', die im Verlauf des Geschehens eine Entwicklung durchmacht" (Günter Strenzke: Die Problematik der Langeweile bei Joseph von Eichendorff. Harnburg 1973, S. 64). 8 Vgl. dazu: "Sie(= Leontin und Faber, d.V.) meinen es doch alle beide nicht so, wie ich, fühlte und dachte Friedrich betrübt." (II, 30) - "Dieser Leontin, Faber und Rosa, sie werden mir doch ewig fremd bleiben." (11, 52)

2 Ries

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Adelskritik

als solidarisches Korrektiv des andern. Eine Antizipation vollkommener sozialer Harmonie findet jedoch nicht statt - damit negiert Eichendorff die Einlösbarkeit eines sozialen Chiliasmus jeglicher Vorstellung. Vielmehr wird in paradigmatischer Projektion dem Adel ein kritisches Gleichnis vorgestellt: Alle Beziehungen der Protagonisten zu anderen Personen, aber auch deren vielfältige Kontakte können am Beispiel Friedrich-Leontin gemessen und nach dem Grade ihrer "Annäherung" oder "Abweichung" von diesem Modell bewertet werden. So wird Friedrich seinem Bruder Rudolf "als Muster vorgestellt" (II, 45) und er füllt diese normative Vorgabe exemplarisch aus: Er entzieht sich jeglicher Selbstgerechtigkeit -ja der Konkurrenzzustand wird sein "größter und tiefster Schmerz", denn er liebt den Bruder "unaussprechlich" (II, 45). Und das, obwohl Rudolf in der Tat" ... wild, witzig, keck und dabei störrisch, tiefsinnig und menschenscheu" (II, 45) a priori das Gegenmuster zur Kooperationsbereitschaft Friedrichs bildet. Rudolf verläßt angestammte Beziehungen, ist aber auch nur beschränkt fähig, neue einzugehen- geschweige denn solche von höherer Valenz. Im Gegenteil: Nachdem Angelina ihn verlassen hat, macht er sich mit der sozialen Kategorie des Pöbels gemein, der sogar seinem Bruder nach dem Leben trachtet, daraufhin mit sozial entwurzelten, verrückten Individuen, bis er schließlich völlig vereinsamt. Sein "Ich liebe keinen Menschen" (II, 251) schließt auch den Bruder mit ein- dennoch ist dieser ständig bereit, die "Dissonanzen einer großen, gestörten Musik" (II, 253) harmonisch aufzulösen. "Aber ich bleibe nun gewiß auch wider seinen Willen hier, ich will keine Mühen sparen, sein reines Gold, denn solches war in ihm, aus dem wüst verfallenen Schachte wieder ans Tageslicht zu fördern" (11, 251). Ein sozialer Konsens stellt sich jedoch nicht mehr ein; nur ein Rest an Hoffnung leuchtet noch auf, wenn Friedrich beim Abschied zu bemerken glaubt, daß Rudolf "heimlich im Innersten bewegt war" (11, 290). Auch durch Leontins familiären Bereich zieht sich am Ende des Romans ein "sozialer Riß": Seine Schwester Rosa erreicht durch ihre Verbindung mit dem Erbprinzen höchstes gesellschaftliches Renommee, während er selbst besitzlos und verfemt außer Landes geht. Sein Urteil über das Avancement der Schwester beschreibt die soziale Distanz, die zwischen ihnen liegt: "Sie taugte niemals viel, Weltfutter, nichts als Weltfutter!" (II, 237). Ihren Aufstieg betrachtet er als Ausstieg aus einem Zirkel sozialer Stabilität, den er gemeinsam mit Friedrich initiiert: " ... alle lagerten sich in einem Kreise auf dem Rasen herum und aßen und tranken. Rosa mochte launisch nichts genießen, sondern zog, zu Leontins großem Ärgernis, ihre Strickerei hervor, setzte sich allein seitwärts und arbeitete,

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bis sie am Ende darüber einschlief" (II, 57). Hier wird ein Sozialverhalten vorgeführt, das sich als bewußter Nonkonformismus von einer sozialen Vorgabe absetzt. Dieser Nonkonformismus macht jedoch keinerlei sozial hochwertige Innovationsbestrebungen frei, sondern mündet in die unproduktive Erstarrung sozialer Egozentrik. Rosas Prestigeheirat mit dem Erbprinzen unterstreicht dies vollends: "So hatte sie ihr höchstes Ziel, die weltliche Pracht und Herrlichkeit, erreicht." (II, 237) Auch Friedrichs Beziehung zu Rosa scheitert daran, daß sie ihr Sozialverhalten egozentrisch-subjektivistisch organisiert. Das deutet sich bereits an, wenn sie während Friedrichs Kindheitsgeschichte fest einschläft. "Hier brach Friedrich plötzlich ab ... " (II, 52) - diese erste Kontaktstörung signalisiert den Beginn einer ständig wachsenden Entfremdung zwischen beiden. Nicht die soziale Interaktion wird zum Regelfall ihrer "Liebesbeziehung", im Gegenteil: das Fehlen sozialer Regelmäßigkeiten zwischen ihnen wiederholt sich in nahezu typischer Weise. Der hohe Stellenwert, den Rosa in der Residenz einnimmt, liegt allein in ihrer Schönheit begründet; die sie umgebende "Gesellschaft" hat soziale Werte aufs höchste veräußerlicht und damit ebenso unbedenklich veräußert (wie auch das Beispiel der kleinen Marie zeigt!). Eine Stabilisierung von positiven Sozialtugenden mag in diesem unsozialen Ambiente nicht oder nur in Ausnahmefällen (Friedrich, Leontin) gelingen. Friedrichs Liebe zu Rosa ist ein Angebot zu sinnvoller Integration in eine angemessene soziale Einheit. Rosa negiert diesen Platz und dokumentiert durch ihr Aufstiegsstreben eine Abkehr von ihrer sozialen Herkunft, ja eine Diskriminierung des Sozialniveaus, dem sie eigentlich angehört. 9 Die Hochzeit mit dem Erbprinzen - als sozialer Höhepunkt ihres Lebens - bedeutet Selbsttäuschung, die Ehe verkommt zum anmaßenden Repräsentationsgestus. Das "treue Tun, das schöne Lieben" (11, 287) ist dem Kalkül der Eigenliebe gewichen. Rosa scheint sich dessen auch bewußt zu werden: Als einsame Büßerirr taucht sie in Friedrichs Kloster auf und sinkt ohnmächtig zu Boden, als sie ihn sieht (11, 292). Im gesamten Roman findet sich auch nicht eine intakte, vollständige adelige Familie, die intensive und dauerhafte Beziehungen bieten könnte. Damit scheint Eichendorff anzudeuten, daß er die Harmonie des Adels als große "Familie" gestört sieht.

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2*

Das äußert sich in Rosas Brief an Friedrich! (II, 101)

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2. Soziale Aggregate und soziale Gruppen Eichendorff stellt zeittypische Formen der Geselligkeit vor, so z.B. Maskenbälle, Salongesellschaften und einen ideologisch motivierten Männerbund. An ihnen wird u.a. auch das Sozialverhalten des Adels demonstriert. Bei den großen Bällen und Redouten in der Residenz treten Formationen auf, die sich als "soziales Aggregat" 10 beschreiben lassen. Für ein solches gelten folgende Merkmale: Es ist eine mehr oder minder zufällige Form menschlichen Miteinanders, die Personen kennen sich gegenseitig nicht oder kaum und ihr Zusammensein ist von relativ kurzer Dauer. Die Kontakte, die sich an einem bestimmten Ort ereignen, sind gering und oberflächlich. Die Maskenbälle der Residenz erfüllen diese Kriterien: Man befindet sich zwar in physischer Nähe, eine "offene" Kommunikation und wirkliche Kontakte werden durch die Masken und das verwirrende Treiben verhindert. Im Gegensatz dazu scheint die ästhetische Teegesellschaft mit einem sozialen Aggregat nicht das mindeste gemein zu haben: sie versteht sich als nahezu institutionalisierte gruppenähnliche Gemeinschaft fester Beziehungen, d.h. eine Sozialformation von hoher Wertigkeit. Eben dieser Anspruch wird von Friedrich und Leontin - aber auch von Romana - als bloßer Schein entlarvt. Die Teegesellschaft entpuppt sich als soziales Konglomerat, wo man "bei Vorweisung einer Karte in einen Saal gewiesen" wird (II, 122) und dort eine "zahlreiche Gesellschaft" vorfindet, "die, lebhaft durcheinandersprechend, in einzelne Partien zerstreut umhersaß" (11, 122) 11 • Friedrich gerät in diese Situation und muß feststellen, daß er niemand "kannte" und auch nicht "bemerkt" wurde (II, 122). "An einen Pfeiler gelehnt", erwartet er "den Ausgang der Sache" - wie ein zufälliger Passant. Als solcher entlarvt er die Doppelzüngigkeit und Künstlichkeil "einer solchen Gesellschaft" (11, 134). Und der Autor pflichtet ihm kritisch bei: "Was das Ganze noch so leidlich zusammenhält, sind tausend feine, fast unsichtbare Fäden von Eitelkeit, Lob und Gegenlob usw., und sie nennen es denn gar zu gern ein Liebesnetz." (II, 139). Diese "Spinnenwebe von ewiger Freundschaft und heiligem Bunde" (II, 139) zerreißt Friedrich und bewirkt damit, daß sich die vornehme "Gesellschaft" so repräsentiert, wie sie eigentlich ist: "Die meisten wurden mißlaunisch, keiner konnte oder mochte, wie beim babylonischen Baue, 10

S. a. Günter Hartfiel/Karl-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1982,

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Vgl. dazu II, 57 (Rosa!) und li, 139 (Salongesellschaft!).

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des anderen Wortgepräng verstehen [...] die Gesellschaft wurde kleiner und vereinzelter" (II, 139). Das hohe Brüderlichkeitspathos erweist sich als hohl, die sozialen Kontakte, die Kommunika.t ion- nichts "funktioniert" mehr und "alles fing an, Abschied zu nehmen und auseinanderzugehen." (II, 140) Friedrich muß die eigene Desillusionierung registrieren: "Ein rauher Wind ging durch die Straßen. Er hatte sich noch nie so unbehaglich, leer und müde gefühlt" (11, 141). In der Begegnung mit der "vornehmen Gesellschaft" hat sich sein ursprünglich hoher Mut (II, 16) ins völlige Gegenteil verkehrt. Auf der Suche nach sozialen Bindungen von höherer Valenz trifft Friedrich auf eine scheinbar adäquate Form des Zusammenseins, die der Erbprinz mit "Glut und Beredsamkeit" (11, 159) anpreist: "Die wenigen Mutigen aus aller Welt sollten sich [... ] treu zusammenhalten, als ein rechter Damm gegen das Böse" (II, 158). Er schließt sich diesem Bund an, der ihm als "schöner Kreis neuer, rüstiger Freunde" (11, 159) begegnet und - im Gegensatz zu den bereits betrachteten Sozialformen alle Anzeichen einer "Primärgruppe" erkennen läßt. "Gruppe" bezeichnet eine strukturierte soziale Organisation von verhältnismäßig langer Dauer, deren Mitglieder gemäß sozialen Werten, Normen und Interessen nach einem gemeinsamen Ziel streben und aufeinander abgestimmte soziale Rollen spielen. "Eine gleiche Gesinnung schien alle Glieder dieses Kreises zu verbrüdern. Sie arbeiteten fleißig, hoffend und glaubend, dem alten Recht in der engen Zeit Luft zu machen, auf Tod und Leben bereit" (11, 160). Allein- das Wort "schien" deutet bereits an, daß die Stabilität dieser Formation zur Disposition steht. Leontin, Friedrichs "unentbehrlicher Freund" (II, 160), belegt die Vereinigung mit vernichtender Kritik: "Er nannte unverhohlen das Ganze eine leidliche Komödie [... ]" (II, 160). Die Intentionen des Bundes entpuppen sich- hierin den Bällen nicht unähnlich - als typisches Wintervergnügen des Adels. "Die braven Gesellen, welche der Winter tüchtig zusammengehalten, zerstreute und erschlaffte die warme Jahreszeit. Der eine hatte eine schöne, reiche Braut gefunden und rechnete die gemeinsame Not seiner Zeit gegen sein einzelnes Glück zufrieden ab, seine Rolle war ausgespielt [Sperrung von mir, d.V.]. Andere fingen an, auf öffentlichen Promenaden zu paradieren, zu spielen und zu liebeln und wurden nach und nach kalt und beinahe geistlos" (II, 182). Der Zerfall der Gruppe endet schließlich in offener Feindseligkeit, als Friedrich auf einen "von jenen leichten, halbbärtigen Brüdern" trifft, "die im Winter zu seinem Kreise gehört, und Ernst, E hrlichkeit und ihre gemeinsamen Bestrebungen [...] vergaßen" (li, 209). Friedrich, nunmehr beim aufständischen Gebirgsvolk, hätte ihn getötet, "wenn ihn nicht Furcht, alle

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zu verraten, davon abgehalten hätte" (li, 204). Der ehemalige Bundesgenosse wiederum versucht Friedrich umzubringen, obwohl ihm dieser nach dem Gefecht die Hand zur Versöhnung reicht und an die vergangene Gemeinsamkeit im Bund erinnert (li, 209). Schärfer kann die völlige Desintegration nicht gezeichnet werden: Unter Verkehrung der Prämissen fällt die vermeintliche Gruppe in einen Zustand der aggressiven Konfrontation; bezeichnender Mangel ist das Fehlen eines echten Wir-Gefühles. Ein solches Kräftefeld wird zwar begeistert beschworen, bleibt aber letztlich bloße Rhetorik. Ehrlich-offene soziale "Interaktion" vermag sich nicht zu etablieren- die Gemeinschaftsemphase korrespondiert mit dem geschwätzigen Pathos der Teegesellschaft. Die vorgeblich gleiche "Gesinnung" kaschiert nur Eigensüchtigkeit 12 , die vermeintlichen Gruppenbeziehungen enden in gegenseitiger sozialer Entwertung 13 und führen in direkter Konsequenz zum Ringen auf Leben und Tod. Dieser Kampf zwischen adeligen Personen weist natürlich auch auf die Tatsache hin, daß sich der deutsche Adel in den Napoleonischen Kriegen in feindlichen Heeren gegenüberstand.14 Für Eichendorff ist dieser verhängnisvolle Zustand nicht zuletzt Ausdruck einer Krise der innerständischen Sozialstruktur, die in der Auflösung des Gruppenzusammenhalts gefährlich kulminiert. 15

12 Vgl. dazu 11,204: ,.Ihn(= Friedrich, d.V.) empörte dieses Elend ohne Treue und Gesinnung, wie er mit vornehmer Zufriedenheit seinen Schnauzbart strich und auf seinen Säbel schlug, gleichviel für was oder gegen wen er ihn zog." 13 Vgl. dazu II, 209: "Ich liebte dich sonst, so bist du mir gar nichts wert." 14 A. v. Arnim baut auf dieser Konstellation seine Erzählung "Seltsames Begegnen und Wiedersehen" auf: In der Schlacht bei Jena erschlägt der Rittmeister von Stauffen im Dienste Napoleons seinen alten Vater, der auf preußischer Seite kämpft, aus "Eitelkeit" im Zweikampf. (Achim v. Arnims Werke. Ausgew. u. hg. von Reinhold Steig. 1. Bd., Leipzig, o.J., S. 488.) 15 Im Zusammenhang mit dem "Bund" beruft sich die HKA auf "Der Adel und die Revolution" und rückt ihn in die geistige Nähe von progressiven Zirkeln. Gleichzeitig wird bemerkt: "Ähnliche Zusammenschlüsse waren die "christlich-deutsche Tischgesellschaft", in Berlin 1811 von Arnim gegründet ... Ferner der Kreis um Friedrich Schlegel in Wien." (HKA, 111, S. 471) Abgesehen davon, daß Eichendorff mit seiner Darstellung des Kreises Freunde de-savouiert hätte, berücksichtigt die HKA hier zu wenig den hist. Kontext. Die vor allem vom Erbprinzen verkündeten Intentionen des Kreises lassen sich kaum als das "Neue" einordnen; die "christlich-deutsche Tischgesellschaft" kann ebensowenig für diese Richtung bemüht werden. Wahrscheinlicher ist, daß Eichendorffeine bestimmte Tendenz für seine Kritik nutzbar machte: die Entstehung von politischen Klubs und Zirkeln nach Preußens Zusammenbruch von 1806. Wenn nun der Erbprinz verlauten läßt: "Unsere Zeit ist so gewaltig, daß die Tugend nichts gilt ohne Stärke" (II, 156 ), so darf dabei an Vereinigungen wie den "Tugendbund" gedacht werden. Dieser wurde 1808 in Königsberg gegründet und war in seiner Tendenz ein politischer Klub, der sich über Schlesien und Brandenburg ausbreitete und sein Wirken ursprünglich als Unterstützung der Regierung betrachtete. (Vgl. dazu: Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im 19.Jahrhundert.l. Bd., Freiburg im Breisgau,1929, S. 391.)

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3. Der soziale Gegensatz Stadt- Land a) Residenzadel und Massengesellschaft Die realhistorische Differenz des landsässigen niederen Adels zur übrigen Adelsgesellschaft wird in "Ahnung und Gegenwart" eindrucksvoll demonstriert. Einhellig erkennt die Forschung bei aller kritischen Ambivalenz doch gewisse Sympathien Eicheodorfis für den Landadel'". Als tertium comparationis dient dabei die moralische Qualifikation: Der brave und biderbe Landadel stehe in krassem Gegensatz zu den sittlich verkommenen Höfen' 7 • Weitaus bedeutsamer scheint jedoch, daß Eichendorff den Gegensatz Residenz - Land zu einer Gesellschaftsdiskussion unter zumindest angedeuteter sozialkritischer Perspektive heranzieht: Für den Adel der Residenz befürchtet Eichendorff nämlich die selbstmörderische Integration in die sich formierende "Massengesellschaft". So konstatiert Friedrichs Fensterblick "das verwirrende Treiben der mühselig drängenden, schwankenden Menge" (II, 120, 121, 236) - einen chaotisch anmutenden Zustand, der endlich zum Zerfall des gesamten sozialen Systems führen kann. In Friedrichs düsteren Worten bei Rosas Zug hinunter in die Residenz klingt diese Befürchtung an: "Siehst du dort [... ] die dunklen Türme der Residenz? Sie stehen wie Leichensteine des versunkenen Tages" (II, 59). Damit bemüht Eichendorffauch den historischen Aspekt der für den Adel "der neueren Jahrhunderte" kennzeichnenden Migration vom Berg in die Ebene' 8, die in Eichendorffs Blickwinkel einem Abstieg des Standes gleichkommt. In der Residenz wird der Zerfall von Sozialbeziehungen des Adels - wie bereits dargestellt - an Paar, Familie und Gruppe exemplifiziert. Mit der Gefährdung dieser Primärgruppen gekoppelt ist das Schicksal des ganzen Standes - und die Befindlichkeit der Gesamtgesellschaft Verdeutlicht wird diese kritische Sicht in der Beschreibung der Bälle, die Friedrich in der Residenz besucht. Dort erlebt er das "Getümmel" der Masken zunächst wie ein "Zaubermeer": "Zu beiden Seiten toste der selt16 So z.B. Dieter Breuer: Graf Leontin und die alte Freiheit. In: Germ.-Roman. Monatsschrift NF Bd. 29, 1979, S. 296-310. 17 E twa in dem wichtigen Beitrag zu AG von H . Jürgen Meyer-Wendt: Eichendorffs Ahnung und Gegenwart. In: Wolfgang Paulsen: Der deutsche Roman und seine historischen und politischen Bedingungen. Bern 1977, S. 167 ff. '" Franz Schnabel: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. 1. Bd., 3. Buch, S. 319; vgl. auch: Ernst Brandes: Über den Einfluß und die Wirkungen des Zeitgeistes auf die höheren Stände Deutschlands als Fortsetzung der Betrachtungen über den Zeitgeist in Deutschland. Hannover 1810. Als Reprint: Kronberg/Ts. 1977, S. 95: "Der Verfall des Adels rührt zuerst von der Zeit her, als er sich ganz in die Städte zog ..."

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same, lustige Markt, fröhliche, reizende und ernste Bilder des Lebens zogen wechselnd vorüber [... ]" (II, 107 ). Doch bald schon irritierten ihn unzählige Spiegel, die "das Leben ins Unendliche" spiegelten, "so daß man die Gestalten mit ihrem Widerspiel verwechselte [...] Ihn schauderte mitten unter diesen Larven" (II, 107). Nun mag es legitim erscheinen, die Masken als " Figuren der Entfremdung" zu deuten 19 und eine Kritik zu konstatieren, die "den vergesellschafteten Menschen im Zustand der Selbstentfremdung, die Gesellschaft selber als entfremdete Welt" zeige1• Es kann auch akzeptiert werden, "daß der Romantiker nicht von einer immanenten sozialkritischen, sondern einer im Grunde religiösen Position aus urteilt" 21 • Als unzulässige Folgerung schließt sich daran jedoch die Behauptung: "Dadurch wird seine Kritik abstrakt und überzeitlich" 22 • Zweifellos versucht Eichendorff seine Kritik durch den Konnex mit der Transzendenz zu legitimieren- dennoch entfaltet sie sich nicht an abstrakt-zeitlosen religiösexistentiellen Fragen, sondern beruft sich auf die konkrete Realität, die sie verändern will. "Entfremdung" kann in diesem Zusammenhang durchaus als ein von Eichendorff registriertes Sozialphänomen gesehen werden. Denn er erkennt die Symptome, die typisch sind für eine als "Masse" definierte soziale Formation: "Gewöhnliches Volk, Charaktermasken ohne Charakter vertraten auch hier, wie draußen im Leben, überall den Weg [... ]" (II, 108). In einer "Masse" - so wird es 1895 Le Bon formulieren "verwischen sich die individuellen Erwerbungen der Einzelnen, und damit verschwindet deren Eigenart" 23 • Austauschbarkeit und Preisgabe der Identität sind ebenso Kennzeichen der Masken wie der Masse. Eichendorff reflektiert dabei auch den Konflikt zwischen Wesens -Rolle und Rollenverhalten: In der Massengesellschaft kann die Identität eines Menschen nicht mehr mit seiner Wesens-Rolle - als Adeliger, Fürst, Bürger, Bauer - verschmelzen; der Mensch wird zum Rollenträger24 degradiert, die Kongruenz von Sein und Rolle zerfällt und die gesellschaftlichen Ordnungsverhältnisse müssen umstrukturiert werden. Denn wenn man den "Menschen" abgehoben von seinen in ein Rangsystem eingeordneten RolHorst Meixner: Romantischer Figuralismus. Frankfurt a.M., 1971, S. 135. Ebd. 21 Ebd. 22 Ebd. 23 Zit. bei: Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Frankfurt a. Main 1971, 19

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S. 13. 24

Vgl. dazu die bereits erwähnte Stelle: " ... seine Rolle war ausgespielt (II, 182).

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len denken kann, "dann kann auch an seine Gleichheit gedacht werden" 25 Für die Massengesellschaft lassen sich nun zwei Haupttendenzen feststellen: Die Nivellierung aller Lebensbereiche und - untrennbar damit verbunden - der Abbau von hierarchischen Strukturen; zum andern eine ständige Ausweitung sozialer Beziehungen, die als oberflächlich, teilnahmslos und "von mangelhaftem Verantwortungsgefühl" 26 empfunden werden. Ebendiesen Tendenzen von Auflösung, "Verwirrung" (II, 107) und Verantwortungslosigkeit (II, 204) sieht sich der Adelige Friedrich ausgesetzt: Integriert in die Prozeßhaftigkeit einer Massengesellschaft, kann der Adel diese dynamischen Vorgänge weder mehr kontrollieren noch seine spezifische Wesens-Rolle im Ganzen definieren. Auf der Ebene der Masken und Spiegelbilder wird eine Gesellschaftsstruktur vorgestellt, die zwar noch nicht vollends überwältigende Realität geworden ist, aber deren endliche Verwirklichung von Eichendorff befürchtet wird. Aus der Konsequenz jener "allgemeinen Willenlosigkeit" droht dem Adel die Zerstörung seiner selbst27 • Nicht von ungefähr tritt auf dem Maskenball jener "Ritter in schwarzer, altdeutscher Tracht" auf, der "Tod von Basel" (II, 108). Seine Erscheinung hat Appellfunktion für den Adel: Er bewahrt unter den Masken eine Identität, die auf den drohenden Ausgang der Sache verweist. Dem Adel steht die Zerstörung bevor, wenn er sich den Strukturen der Masse anpaßt. Ein obsoleter Gestus jedoch wie der "festliche Staat" des Marquis (II, 165) stellt in seiner "Geckenhaftigkeit" (ebd.) nur eine andere Form von Maskerade dar und verdeutlicht repräsentativ die wesentliche Ohnmacht seines Trägers: Friedrich "mußte lachen [... ] Er bemerkte wohl, wie die Bedienten heimlich lachten" (II, 165). Die soziale Funktion der Repräsentation - eine Demonstration feudaler Autorität nämlich - ist nicht mehr überzeugend vorhanden, Existenz als Ganzheit gestört, das ästhetische Moment der Repräsentation entbehrt eines sozialen, statusorientierten28 und - wie noch zu zeigen sein wird - machtpolitischen Äquivalents.

Delbert Barley: Grundzüge und Probleme der Soziologie. Neuwied 1975, S. 230. Ebd. S. 229. 27 "Willenlosigkeit" (11, 182) bedeutet zweifellos auch Identitätsaufgabe und Verlust des Wir-Gefühls. F. L. Graf zu Stolberg schreibt 1807 an Luise Stolberg: "Der Wille ist unser wahres Ich". In: Friedrich Leopold Graf zu Stolberg: Briefe. (Hg. von Jürgen Behrens), Neumünster 1966, S. 406. 28 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Neuwied 1984, S. 21. 25 26

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b) Die Gesellschaft des Landadels Einer ganz anderen "Gesellschaft" begegnen Friedrich und Leontin auf dem Jagdschloß des Herrn v. A.: "Für Friedrich und Leontin, die, frühzeitig in die Welt hinausgestoßen, gewohnt waren, das Leben immer nur in großen, vollendeten Massen, gleichsam wie im Fluge, zu berühren, gewährte dieser kleine Kreis, wo fast alle, miteinander verwandt, nur eine Familie bildeten, eine neue Erscheinung. " (II, 80) Intensive und dauerhafte Beziehungen prägen diese Sozialformation ganz offensichtlich. Doch gegen eine Hochstilisierung zum harmonischen Konträrmodell spricht bereits die syntaktische Struktur des obigen Zitats. Die unvermittelt harte, unharmonische grammatische Diktion gibt recht deutlich wieder, was an anderer Stelle expressis verbis diagnostiziert wird: "Die Unterhaltung blieb anfangs ziemlich stockend, steif und gezwungen, wie dies jederzeit in solchen Häusern der Fall ist, wo, aus Mangel an vielseitigen, allgemeinen Berührungen mit der Außenwelt, eine gewisse feste, ungelenke Gewohnheit des Lebens Wurzel geschlagen hat, die durch das plötzliche Eindringen wildfremder Erscheinungen, auf die ihr ewig gleichförmiger Gang nicht berechnet ist, immer eher verstimmt als umgestimmt wird." (II, 67 f.) Es handelt sich um einen "abgeschlossenen Kreis" (II, 69), d.h. um ein soziales System, das dahin tendiert, sich gegen sein "Umfeld" abzugrenzen. Als individuelles Beispiel dafür fungiert Herr v. A., der sich "nach und nach kalt in sich selbst" zurückgezogen hat ( II, 72). Für ein funktionsfähiges Sozialsystem ist jedoch erforderlich, daß ein kommunikativer Adaptionsprozeß mit der Umgebung stattfindet. Sowohl "Energie" als auch Information müssen aus ihr entnommen werden. Dabei verändert sich entweder die Umgebung, oder aber die Strukturen des Systems selbst und seine inneren Funktionsabläufe müssen sich ändern, um eine "Homöostase" - also das Überleben - zu gewährleisten29• Auf solche Weise gestalten sich Anpassungsprozesse, welche eine "Offenhaltung" des Systems garantieren30. Für den Landadel befürchtet Eichendorffeine zunehmende Reduktion3 1 29 Homöostase bedeutet im soziologischen Sprachgebrauch eine Fähigkeit, Gleichgewicht zu halten, "bestimmte verursachende Größen und damit Wirkungen in zulässigen Grenzen oder sogar stabil zu halten, d.h. von außen kommende Störfaktoren durch Gegensteuerung aufzufangen, auszugleichen und zu paralysieren". Günter Hartfiel I Kari-Heinz Hillmann: Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart 1982, S. 310 f. 30 Vgl. dazu: 0. W. Haseloff: Kommunikation, Transformation und Interaktion. In: H. Gadamer u. P. Vogler: Neue Anthropologie Bd. 5. Stuttgart 1973, S. 94 f. 31 Ebd.

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seiner Offenheit: Die Adaptionsprozesse reichen nicht mehr aus, um die Homöostase des Systems mit seinem Umfeld zu gewährleisten. Es wird über kurz oder lang in "Apathie" (II, 72) erstarren oder gar zerfallen; augenscheinliches Beispiel dafür ist die Auflösung von Julies Familie (II, 278). c) Die Überwindung der Differenzen Eichendorff schreibt den Bereichen Stadt und Land soziale Gruppen zu, die sich klar voneinander absetzen. Während der "Stadtadel" durch seine hypertrophe Akkomodationsbereitschaft Gefahr läuft, die Umrisse der eigenen Identität zu verlieren, droht dem "Landadel" durch die Reduktion seiner Offenheit die Erstarrung und ein sozialer Kollaps. Diese gegenläufige Entwicklung verschärft den ohnehin bereits vorhandenen Mangel an sozialer Kohärenz - der Adel ist längst nicht mehr ein in sich Ganzes, Geschlossenes: "Nach der treffenden Schilderung eines französischen Schriftstellers [Abbe Syeyes, Anm. d. V.] bestand der französische Adel beym Ausbruche der Revolution aus Sieben Classen, die von oben herab einander die bittere Verachtung zuwarfen, die jede von der zunächst höhern erleiden mußte. Wird aber in Deutschland weniger, als im Jahre 1789 in Paris, der arme Edelmann, der kein Vermögen und keine Verwandte hat, auch in keiner bedeutenden Bedienung steht, vom reichen Gutsbesitzer und vom hochansehnlichen fürstlichen Diener verachtet? Der reiche Land = Edelmann, vom modesüchtigen höfischen; der Hoffähige, von den eigentlichen Hofgeschlechtern; der altfränkische Ritter, von des glänzenden Favoriten Vettern [... ] die Landdame [...] von der kleinen Auswahl der Eleganten, die sich allein für etwas gelten Iassen?"32 Rosas Brief an Friedrich aus der brillanten Sphäre der Residenz belegt dies durch seinen Tenor sehr eindrucksvoll:"[ ... ] Der Marquis verwunderte sich zugleich, wie ihr es dort [auf dem Gut des Herrn v. A., d. V.] so lange aushalten könntet. Er sagte, es wäre ein Sejour zum Melancholischwerden. Mit der ganzen Familie wäre in der Welt nichts anzufangen. Der Baron sei wie ein Holzstich in den alten Rittergeschichten gedruckt in diesem Jahr, die Tante wisse von nichts zu sprechen als von ihrer Wirtschaft, und das Fräulein vom Hause sei ein halbreifes Gänseblümchen, ein rechtes Bild ohne Gnaden[...]" (li, 101). 32 August Wilhelm Rehberll: Über den deutschen Adel. Göttingen 1803, S. 178 f. Ebenso auch Ernst Brandes: Uber den Einfluß (1810) S. 89: "Unter den vielen Ursachen, die die Revolution herbeiführten, stand der innere lebendige Zwist der verschiedenen Klassen des Adels, die Verachtung und der Neid, die sie gegenseitig erfüllte, mit oben an."

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Interaktion und Kommunikation werden vom Stadtadel abgelehnt, der Landadel zieht sich in sozialer Apathie auf sich selbst zurück und sucht weder Begegnung noch Konfrontation. Jedes soziale System ist jedoch auf Interaktion und Kommunikation angewiesen; entfallen diese Prinzipien, so schwindet auch das Bewußtsein um die eigene Identität. Die Auflösungserscheinungen bedürfen keines außerständischen Anstoßes mehr, sondern nähren sich bereits vom desolaten Zustand der Korporation selbst. Mit dieser Kritik durchbricht Eichendorff den alten ideologieträchtigen Argumentationstopos vom "Wunschbild Land und Schreckbild Stadt" 33 zugunsten einer realitätsorientierten Perspektive, die in differenzierter Abwägung die Schuld an beide Seiten zuweist. Daß der Adelskritiker Eichendorff sein persönliches Schicksal in diesen standesimmanenten sozialen Prozeß eingebunden weiß, trägt zur pointierten Darstellung sicher sein Teil bei. In den Grafen Friedrich und Leontin "poetische Projektionen seiner Lebensmöglichkeiten"34 auszumachen, hat deshalb sicher Gültigkeit; darüber hinaus macht der Autor seinem Stand hier ein Sinnangebot: Tertium datur - Leontins Aufbruch und Friedrichs Eintritt ins Kloster bilden dabei zwei Ansichten ein und desselben "Modells". Keiner von ihnen läßt sich in eine der vorhandenen sozialen Gruppen integrieren - dennoch darf dies nicht als resignative "Weltabkehr" 35 oder Flucht vor der Gesellschaft gedeutet werden. Friedrichs Eintritt ins Kloster signalisiert u.a. Besinnung auf eine traditionelle soziale Musterform, die durch hierarchische Ordnung gleichwie durch harmonisches brüderliches Zusammenleben geprägt ist. Eine Rehabilitierung und Reaktivierung dieser sozialen Dispositionen in einer Phase der "Klausur" kann die entschiedene Verstärkung des Bewußtseins vom Kollektiv bewirken und damit maßgeblich zu einer "Regeneration" des Adels beitragen. Dazu sind innerständische Veränderungen nötig: Julie löst sich aus der starren Enge ihres sozialen Ambientes durch einen unkonventionellen Aufbruch in eine neue Weltl6• Für die Adelskreise, denen sie angehört, läßt sich ihr Verhalten als Appell deuten, die abgelebten, verkrusteten Strukturen selbst aufzubrechen "Offenheit" herzustellen und auch die Auseinandersetzung zu suchen37• Parallel dazu notwendig wäre eine Gegenbewegung, die sich durch Rosas

So z.B. Friedrich Sengte in: Studium Generale 16. 1963, S. 619. D. Breuer: Graf Leontin und die alte Freiheit, S. 305. 35 Hier widerspreche ich Strenzke: Das Problem der Langeweile, S. 64. 36 Gegen Strenzke, S. 64. 37 Vgl. dazu: "Von der deutschen Jungfrau" (II, 284).

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Erscheinen im Kloster zumindest auch andeutet: Für den höheren Adel (dem Rosa nunmehr angehört) wird ebenso ein "Aufbruch" gefordert, der in seiner Intention und Tendenz einer Umkehr zu innerständischer Kooperation und Brüderlichkeit gleichkommt.

II. Adel, Volk und Staat 1. Nationalgefühl und Volksverbundenheit

a) Volksbegriff Es soll im Kampf der rechte Schmerz sich adeln, Den deutschen Ruhm aus der Verwüstung heben, Das will der alte Gott von seinen Söhnen! (II, 286) Diese Mahnung Fabers an Leontin, der im Begriff ist, das Land zu verlassen, wird zwar von Friedrich ernst genommen, zugleich aber modifiziert: "Wer[... ] sich berufen fühlt, in das Räderwerk des Weltganges unmittelbar mit einzugreifen, der mag von hier flüchten, so weit er kann. Es ist noch nicht an der Zeit, zu bauen [... ]" (II, 286). Damit verweigert er sich auch dem unreflektierten patriotischen Pathos, das in Fabers Sonett mit dem "Adel" verknüpft wird. Nun erscheint der Begriff "deutsch" bzw. "Deutschland" bei den adeligen Protagonisten Friedrich, Leontin und Julie durchaus einsinnig und positiv besetzC8 , wird von ihnen gleichwohl kritisch abgesondert vom Patriotismusverständnis anderer Adeliger oder "bürgerlicher" Figuren. "[... ] wo ist in dem Schwalle von Poesie, Andacht, Deutschheit, Tugend und Vaterländerei, die jetzt wie bei der babylonischen Sprachverwirrung, schwankend hin und her summen, ein sicherer Mittelpunkt, aus welchem alles dieses zu einem klaren Verständnis, zu einem lebendigen Ganzen gelangen könnte?" (II, 286).- Friedrichs (rhetorische) Frage gibt nun eben nicht "Zeugnis von einer gewissen Verstört-

38 Friedrichs "ganzes Sinnen und Trachten war endlich auf sein Vaterland gerichtet" (II, 168) - "Und in dieser Gesinnung bleibe ich in Deutschland" (II, 286); zu Leontin vgl. insbes. li, 289.

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heit" des Autors39, "hervorgerufen durch die ineinander verschlungenen und ihm im einzelnen nicht klar faßbaren Anschauungen und geistigen Strömungen, die jene Jahre beherrschten"40, sondern spiegelt den Versuch Eichendorffs wider, die Vielfalt der Meinungen und Systemoptionen kritisch zu erfassen und eine Antwort darauf zu finden. Eichendorff distanziert sich von der Welle des politisierten Nationalismus der Besatzungszeit41 und ist seinerseits bemüht, die "Vaterlandsliebe" und ihre Beziehung zum "Volk" engagiert darzustellen. So expliziert er seinen Volksbegriff anhand von Begegnungen der adeligen Figuren Friedrich und Leontin mit dem "Volk"42 • Auf der Suche nach seinem verschollenen Bruder verirrt sich der junge Graf Friedrich und findet im Dunkel der Nacht Obdach bei einer Familie, die nahezu idealtypisch für ihn das "Volk" repräsentiert: "Ich guckte furchtsam durch das erleuchtete Fenster hinein und sah darin in einer freundlichen Stube eine ganze Familie friedlich um ein lustig flackerndes Herdfeuer gelagert. Der Vater, wie es schien, hatte ein Büchelchen in der Hand und las vor. Mehrere sehr hübsche Kinder saßen im Kreise um ihn herum und hörten, die Köpfchen in beide Arme aufgestützt, mit der größten Aufmerksamkeit zu, während eine junge Frau daneben spann und von Zeit zu Zeit Holz in das Feuer legte. Der Anblick machte mir wieder Mut, ich trat in die Stube hinein. Die Leute waren sehr erstaunt, mich bei ihnen zu sehen, denn sie kannten mich wohl, und ein junger Bursche wurde sogleich fortgesandt, sich anzukleiden, um mich auf das Schloß zurückzugeleiten. Der Vater setzte unterdes, da ich ihn darum bat, seine Vorlesung wieder fort. Die Geschichte wollte mich bald sehr anmutig und wundervoll bedünken [... ) Es war der gehörnte Siegfried, den er las." (II, 50).

39 Peter Krüger: Eichendorffs politisches Denken. Aurora 29, 1969. S. 54 - Eichendorffs "rhetorische" Frage weiß natürlich um den "Mittelpunkt":"(... ) die Religion"! (II, 286) 4° Krüger, ebd. Vgl. dazu auch: Rudolf Ibbeken: Preußen 1807-1813. Staat und Volk als Idee und in Wirklichkeit. Köln 1970, S. 337: "Die Variationen des Geisteslebens[ ... ) waren so zahlreich, so individuell und oft so eigenwillig, daß man es geradezu als typisches Merkmal der Epoche bezeichnen könnte, daß eine Gleichschaltung oder Gleichrichtung des geistigpolitischen Wollens nicht zustande kam." 41 Vgl. dazu: Erläuterungen zur deutschen Literatur. Romantik. Berlin 1985, S. 371. 42 Theoretische Stellungenahmen Eichendorffs zum Volksbegriff finden sich erst ab 1820. Vgl. dazu: Paul Kluckhohn: Die Idee des Volkes im Schrifttum der deutschen Bewegung. Berlin 1934, S. 222.

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Die Volksbücher jedoch, von denen die Rede ist, "begreifen weniger nicht als die ganze eigentliche Masse des Volkes" 43 und verkörpern "Volksgeist" und "Volkssinn": "[...]es ist ein Geist und ein Willen und eine Gesinnung"44 • Durch die Lektüre erfährt Friedrich den Zugang zur "Natur" des Volkes, erkennt den Wert des Traditionellen und gleichzeitig den "frischen, unendlichen Spielraum", der dadurch eröffnet wird (li, 51). Im Volksbuch verifiziert sich "Nationalliteratur" - nach Fr. Schlegel die Darstellung großer alter "National-Erinnerungen", die dem Volk ein klares Bewußtsein der eigenen "Taten und Schicksale" 45 vermitteln soll: "Dieses in betrachtenden und darstellenden Werken sich aussprechende Selbstbewußtsein einer Nation ist die Geschichte" 46 • Friedrich hält "eine große Vergangenheit verherrlicht im Andenken" 47 , in der eine organische Synthese zwischen Adel und Volk in einem Idealzustand gegeben war.'8 b) Dualismus Idee- Wirklichkeit Nun liegen in dieser Tendenz zwei Gefahren: Einmal die Hypostasierung mittelalterlicher Gesellschaftsauffassung - wie sie bei Fr. Schlegel zu finden ist49 - zum andern eine mythische Konzeption, aus der sich ein Dualismus zwischen geglaubter "zeitloser Idealität" und "abschreckender Wirklichkeit" ableiten läßt. Letzteren konstatiert H. Frießem für Eichendorffs "Auffassung vom Volk" 50 - diese Folgerung kann nicht akzeptiert werden. So lassen sich zwar Friedrichs Auseinandersetzungen mit dem Gesindel in der Mühle oder auch die Konfrontation mit der Menge "Volks" (li, 237) durchaus im Sinne einer "abschreckenden Wirklichkeit" deuten. In schar-

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Joseph Görres: Ausgewählte Werke 1 (Hg. v. W. Frühwald). Freiburg im Breisgau 1978,

s. 147.

Ebd., S. 150. Friedrich Schlegel: Kritische Schriften und Fragmente. (Hg. v. Ernst Be hler und Hans E ichner.) Bd. 4. Paderborn u.a. 1988, S. 8 (Aus den Vorlesungen "Geschichte der alten und neuen Literatur" im Jahr 1812). 46 Ebd., S. 58. 47 Ebd. 48 Heidrun Frießem: Tradition und Revolution im Werk Joseph von Eichendorffs. Marburg 1972, S. 183. 49 Philipp Eberhard: Die politischen Anschauungen der christl.-deutschen Tischgesellschaft. Erlangen 1937, S. 52. 50 Alle Zitate bei: Frießem (Anm. 48), S. 182 f. 44

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fern Kontrast dazu stehen jedoch Friedrichs und Leontins harmonische Beziehungen zum Landvolk auf den Gütern des Herrn v. A., Leontins Insurrektion zusammen mit seinen Getreuen aus dem Volk und besonders Friedrichs Beteiligung am Aufstand des Gebirgsvolkes. Nahezu "programmatisch" faßt das Lied der Jäger die kollektive Gesinnung, die Eichendorff der Erhebung zuschreibt: Gleichwie die Stämme in dem Wald Wolln wir zusammenhalten, Ein' feste Burg, Trutz der Gewalt, Verbleiben treu die alten. (II, 205) Dieser Versuch eines ideologischen Entwurfs darf wohl als Eichendorffs Vorstellung vom "Volksgeist" angesprochen werden - in deutlichen Antagonismus zum "Zeitgeist" gesetzt, jenem "Elend ohne Treue und Gesinnung" (II, 204). Friedrich, "der allen wohl behagte" (II, 202), legitimiert sich durch solidarisches Verhalten ebenso wie durch herausragende intellektuelle und kämpferische Fähigkeiten als Anführer des Volks und gelangt dabei gleichzeitig durch den harmonischen Kontakt mit dem Volk zu der "sichern, klaren und großen Gesinnung, die jetzt sein Tun und Denken regierte" (II, 208). Hier vollzieht Eichendorff die Genese eines Integrationsprozesses, an dessen Ziel eine Gesinnungs- und Aktionsgemeinschaft steht, in der gleichwohl die traditionellen ldentitäten von Adel und Volk gewahrt bleiben. Diese Gemeinschaft - und daran ändert auch die Niederlage gegen einen übermächtigen Feind nichts - gewinnt Appellcharakter51 und dient darüber hinaus als Modell für eine zukunftsorientierte Synthese von Adel und Volk auf der Basis geschichtsbewußter Übereinkunft: "Es war ein freudenreicher Anblick [... ] Die ganze unübersehbare Schar saß dort, aufihre Waffen gestützt, auf den Zinnen ihrer ewigen Burg, die großen Augen gedankenvoll nach der Seite hingerichtet, wo die Sonne aufgehn sollte. Friedrich lagerte sich vorn (!) auf einem Felsen, der in das Tal hinausragte. Unten rings um den Horizont war bereits ein heller Morgenstreifen sichtbar[... ] Eine feierliche, erwartungsvolle Stille war über die Schar verbreitet[ ... ]" (II, 205).

51Vgl. dazu: •• An die Tiroler. Im Jahre 1810" (I, 151). In der Sekundärlit. dazu insbes.: Jürgen Wilke: Das Zeitgedicht. Seine Herkunft und frühe Ausbildung. Meisenheim am Glan 1974, S. 275.

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2. Adel, Volksgeist und Realität Der utopischen Tendenz seines Modells von einer "Volksgemeinschaft" begegnet Eichendorff dadurch, daß er es mit konkretem Zeitgehalt unterlegt: Im vor allem auch religiös motivierten52 Tiroler Freiheitskampf von 1809 sieht er den historischen Kontext, der sich als Identifikationsmuster geradezu aufdrängt und nun im Roman als pragmatisch kritischer Entwurf aufgeladen wird. Das findet seine Bestätigung im Sonett "An die Tiroler. Im Jahre 1810": Der Freiheit Burg sind eure Felsenbogen, Hochherzig Volk, Genosse größrer Zeiten (I, 151). Der Tiroler Aufstand wird nicht im Sinne unmittelbarer Mimesis nachgezeichnet, Eichendorff gewinnt mit der Erhebung die historisch mögliche Faktizität eines Gegenzustandes zur abschreckenden Wirklichkeit - der Dualismus von zeitlosem Ideal und perhorreszierender Realität wird aufgehoben zugunsten eines Dualismus in der Zeit: der Mythos vom "Volk" kann somit "politisch" fruchtbar werden53• Während nun Leontin und Friedrich echte "deutsche" Gesinnung und Volksverbundenheit durch politisch-militärische Aktionen glaubhaft in die Realität umsetzen, verfällt ihre adelige Umgebung in der "nationalen 52 Max Braubach: Von der Französischen Revolution bis zum Wiener Kongreß. München 1985, S. 109 (= Handbuch der deutschen Geschichte Bd. 14). Für Leontins Kampf, der als rebellisch angesehen wird (li, 279), bietet der historische Kontext ebenso ein Vorbild: "Ihm (dem König v. Preußen, A. d. V) war es eine unerhörte Rebellion, als der bei der Verteidigung Kolbergs bewährte Major von Schill mit seinen Husaren von Berlin aus gegen das Königreich Westfalen zog" (Braubach, S. 108). Leontin erfüllt zudem die Anforderungen an einen wahren Patrioten, wie sie von der bürgerlichen Publizistik gegen Ende des 18. Jhdts. gestellt wurden: "[ ... ]eine immer gleiche Bereitwilligkeit. ihm in jeder Verlegenheit mit Einsichten, mit Erfahrung, mit Mühe, mit Nachtwachen, selbst mit den liebsten Gütern beizustehen, es gegen alle Anfälle gern zu schützen, gerne zu seiner erforderten Verteidigung Blut und Leben aufzuopfern, und dies alles aus herzlicher Liebe des Vaterlandes, ohne Rücksicht auf persönliche Befriedigung, dies ist Patriotismus" (Ch. C. L. Hirschfeld; zit. bei Helmut König: Zur Geschichte der Nationalerziehung in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Berlin 1960, S. 80). 53 Eine positive Selbstdarstellung des Volkes erblickt Eichendorff in den Wallfahrten ( ebendiese waren von Montgelas verboten worden). "Es schien eben ein Fest in dem Kloster gewesen zu sein. denn lange, bunte Züge von Wallfahrern wallten durch das Grün den Berg hinab und sangen geistliche Lieder" (II, 274). Eichendorff nennt die Wallfahrten an anderer Stelle auch "eigentliche Volksfeste" (Über die Folgen von der Aufhebung der Landeshoheit der Bischöfe und der Klöster in Deutschland, HKA 10, S. 169).

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Frage" der Kritik. So werden die Bemühungen des Erbprinzen und seines Ministers von Leontin als bloße Inszenierung abgetan: "Er nannte unverhohlen das Ganze eine leidliche Komödie und den Minister den unleidlichen Theaterprinzipial, der gewiß noch am Ende des Stücks herausgerufen werden würde, wenn nur darin das Wort: "deutsch" recht fleißig vorkäme, denn das mache in der undeutschen Zeit den besten Effekt" (II, 160). Falsches Pathos und opportunistisches Kalkül kennzeichnen demnach den "Patriotismus" führender Adeliger. In der Tat - "bei patriotischen Aussagen der Regierenden [zu dieser Zeit, A. d. V.] darf die Absicht unterstellt werden, sich einer publikumswirksamen Sprache zu bedienen, deren positiver Resonanz sie sicher sein konnten. Indem sie die patriotische Zielsetzung ihrer Politik betonten, verlangten sie zugleich Zustimmung, ja Hingabe der Untertanen,[ ... ] Bereitschaft zu Dienst und Opfer" 54• Mitglieder des höheren Adels versetzt Eichendorff anläßlich einer Jagd in die Alpen - bewußt im Sinne eines negativen Kontrasts zur unmittelbar danach folgenden Verbindung Friedrichs mit dem Gebirgsvolk. Leontin sieht diese vornehme Gesellschaft als "Jagdgesindel, das ein einziger Auerochs verjagt hätte" (II, 192), und er dringt zur politisch-historischen Potenz des symbolträchtigen Szenariums vor: "Gott segne uns alle", sagte er zuletzt zu einem vornehmen Männlein, das eben sehr komisch bei ihm stand, "daß wir heute dort oben [... ]nicht etwa einem von unseren Ahnherrn begegnen, denn die verstehn keinen Spaß, und wir sind schwindlige Leute" (II, 192). Am Zustand von Hof und höherem Adel ändert auch die folgende militärische Niederlage nichts: Man arrangiert sich mit dem Feind und bleibt unberührt "exklusiv" wie ehedem55• Diese gesellschaftliche Schicht begegnet nicht dem Volk56 , sondern kontrastiert bestenfalls mit einer "Menge": "So ragte der herrliche Reiter (der Erbprinz, A. d. V.) über die verworrene, falbe Menge, die sein wildes Roß auseinandersprengte" (11, 121). Anläßlich Rosas Vermählung mit dem Erbprinzen war "eine Menge Volks [...] unten versammelt und gebärdete sich wie unsinnig vor Entzücken" (II, 237). Eichendorffs Kritik zielt auf ein Herrschaftssystem, das 54 Rudolf Vierhaus: "Patriotismus" -Begriff und Realität einer moralisch-politischen Haltung. In: U. Herrmann (Hg.): Die Bildung des Bürgers. Weinheim 1982, S. 123. 55 "Der hohe Adel und der Hof lebten kaum anders als zuvor" (Erläuterungen zur deutschen Literatur. Befreiungskriege, S. 16). 56 Es sei an die distanzierte Haltung etwa des preußischen Königs gegenüber dem Volk erinnert; (Braubach, S. 108

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sich nicht auf den o.e. Volksgeist beruft, sondern noch gänzlich dem Aufgeklärten Absolutismus verhaftet ist. Die zentrale Stellung des Souveräns, den der Erbprinz repräsentiert, wird durch dessen negative moralische und politische Verhaltensweisen in Frage gestellt. 57 Ebenso erscheint die in "Ahnung und Gegenwart" dargestellte "Staatsraison" als eigentliche Umkehrung der Lehre von den Interessen des Staates, die auch den Herrscher binden: Die Fürsten handeln für sich mit dem einzigen Ziele der Machterhaltung; Friedrich und Leontin dagegen stellen ihre Eigeninteressen hinter die Belange eines allgemeinen Ganzen zurück. Ihre Aktionen werden jedoch als rebellisch (li, 229) bzw. staatsfeindlich (li, 210) angesehen, sie werden enteignet und geächtet: die Staatsraison schlägt in ihr Gegenteil um und entlarvt sich als Instrument von Privatinteressen der Herrschenden. Abgestützt wird dieses System in der Sicht Eichendorffs vor allem durch den "Bürger". Dabei darf von der zeitgenössischen Unterscheidung des Begriffinhaltes ausgegangen werden. wie sie etwa Chr. Garve formuliert: "Das Wort, Bürger, [...] heißt einmahl, ein jedes Mitglied einer bürgerlichen Gesellschaft- das ist das Französische citoyen: - es bedeutet zum andern den unadligen Stadteinwohner, der von einem gewissen Gewerbe lebt, - und das ist bourgeois. Unter Bürgern, im letzteren Verstande des Worts, sind Handwerker, Krämer, und kleine Kaufleute mit begriffen[ ... ] Zu dem Bürgerstande aber gehören [...] auch noch die Gelehrten, und die Großhändler" 58 • Eichendorf{ differenziert nun durchaus in diesem Sinne zwischen dem Kleinbürger- repräsentiert durch den betrunkenen "Handwerksmann" (II, 236) und dem "Bürger" (II, 237), der sich von diesem abzusetzen versucht: "Es ist alles wahr, was der Kerl da so konfus vorgebracht" (II, 237). Beide indes zählen für ihn zum erwähnten "bourgeois": Sie garantieren im Rahmen des merkantilistischen Systems dem Staat die erforderliche wirtschaftliche Potenz. Erkennbar wird sowohl die Interessenaffinität Herrscher- Bürgertum als auch die ökonomische Perspektive des letzteren in der selbstgerecht formulierten Auskunft des "Bürgers": "er [Friedrich, A.d.V.] ist mit L ehn und Habe dem Staate verfallen (gesp. v.m., d.V). Der 57 Vgl. dazu Eichendorffs Kritik am König von Württemberg: "Kam der König von Würtemberg, der den Napoleon in Frankfurt salutirt hatte, nach Heidelberg. Ich gieng daher in den Carlsberg, wo er übernachtete, und sah ihn dort absteigen. Aechte Carricatur" (IV, 591) - Die HKA bezieht die Kritik fälschlicherweise auf Napoleon. (HKA III, S. 479, Anm. 199) 58 Christian Garve: Gesammelte Werke. Bd. I. Hildesheim, Zürich, New York 1985, S. 302. Erstmals erschienen unter dem Titel: Versuch über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben. Theil 1. Breslau 1792, S. 302.

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Bruder der Gräfin ebenfalls, aber wir wissen von sicherer Hand, daß man gegen diesen nicht streng verfahren wird und ihm gern verzeihen möchte, wenn er nur zurückkäme und Reue und Besserung verspüren lassen wollte" (II, 237). Eichendorffs Kritik spiegelt damit reale Tendenzen spätabsolutistischer Herrschaft wieder: Völlige Unterordnung des städtischen Bürgertums bei gleichzeitiger Duldung der von ihm formulierten antifeudalen ökonomischen Forderungen durch die Herrschenden59• Dabei siedelt sich das bürgerliche Selbstverständnis in der Nähe des Adels an: Garve etwa erklärt am Beispiel des gehobenen Bürgertums, daß "wie immer bei den Gränzen, Streit darüber ist, wohin sie und ihre Kinder gehören, - in wie fern sie den Bürgern, die ich bisher genannt habe, der Geburt nach gleich zu achten sind, und um wieviel sie sich dem Adel nähern"w. Im Adel - wie auch im Bürgertum - sieht der absolutistische Staat das Reservoir für "ein fleißiges Regiment von nützlichen Funktionären"6 '. Während Friedrich im Gespräch mit dem Minister "über Staat, öffentliche Verhandlungen und Patriotismus mit einer sorglosen, sieghaften Ergreifung" (II, 121) sich äußert und dabei diese Beschränkung nicht wahrnimmt, versetzt ihn "der unüberwindlich kalte Gegensatz des Ministers" (II, 121) in die von Eichendorff kritisch anvisierte funktionale Dimension seines Standes zurück: "[...] verlegen Sie sich doch einige Zeit mit ausschließlichem Fleiße auf das Studium der Jurisprudenz und der kameralistischen Wissenschaften" (II, 121 f.). Dahinter steckt natürlich auch bitterböse Ironie: Galt doch der "Kameralist" als eine der bestgehaßten Figuren des absolutistischen Apparates62• Entsprechend fühlt sich Friedrich "wie von einer unsichtbaren Übermacht gedrückt" (II, 122). In der Tat übte die Entwicklung des modernen Staates, wie sie sich unter absolutistischen Prämissen vollzog, "einen nie mehr nachlassenden Druck auf den Adelsstand aus: der Adel hatte in dem modernen Staat keinen Platz mehr" 63 und es lag durchaus im "Interesse des Souverains [... ],dem Geist geschlossener Kör59 V gl. dazu: Helmuth Rössler u. Günther Franz: Sachwörterbuch zur deutschen Geschichte. 2. Bd., München 1958, S. 1215; Erläuterungen zur deutschen Literatur. Befreiungskriege, S. 25. w Chr. Garve, ebd., S. 304. 61 Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Neuwied 1969, S. 283. 62 Vgl. dazu die Literaturhinweise bei: Leo Balet: Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert. Strassburg-Leipzig-Zürich 1936, S. 49 f. 63 Klaus Peter: Adel und Revolution als Thema der Romantik. In: Peter Uwe Hohendahl u. Paul Michael Lützeler (Hg.): Legitimationskrisen des deutschen Adels 1200-1900. Stuttgart 1979, S. 212.

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perschaften [gemeint ist darunter der Adel, A.d.V.] entgegen zu arbeiten"64. So fordert dieser Staat Friedrichs entschiedene Kritik heraus. Wie in einem Spiegel sieht er seine Vorstellung vom Staat als Ausdruck des Volksgeistes mit der planmäßig konzipierten Realität der modernen "Öffentlichkeit" konfrontiert: "Da haben sie den alten gewaltigen Strom in ihre Maschinen und Räder aufgefangen, daß er nur immer schneller fließe, bis er gar abfließt, da breitet denn das arme Fabrikenleben in dem ausgetrockneten Bette seine hochmütigen Teppiche aus, deren inwendige Kehrseite ekle, kahle, farblose Fäden sind, verschämt hängen dazwischen wenige Bilder in uralter Schönheit verstaubt, die niemand betrachtet, das Gemeinste und das Größte, heftig aneinandergeworfen, wird hier zu Wort und Schlag, die Schwäche wird dreist durch den Haufen, das Hohe ficht allein" (II, 157 f.). Aus dieser Kritik erwächst zunächst der Versuch, selbsttätig "mit grenzenloser Aufopferung" (II, 158) an einer Veränderung innerhalb des Staatsgefüges mitzuarbeiten. Doch er scheitert an der Willenlosigkeit des Systems und wendet sich ins Kloster, das in entschiedener Antinomie zum Aufgeklärten Spätabsolutismus steht. Während Eichendorff nun einerseits die funktionale Egalisierung des Adels zugunsten einer "Mittelklasse"65 von gehobenem Bürgertum und Teilen des Adels angreift, billigt er auch dem Kleinbürger keineswegs den Status "Volk" zu. In der negativen Darstellung des betrunkenen Handwerkers (II, 237) deutet Eichendorff die politische Beschränktheit und Manipulierbarkeil an, die er bei den "bürgerlich" orientierten unteren Schichten vermutet. Da ein "Volksgeist" bzw. ein an der Geschichte orientiertes, alle Schichten umfassendes Bewußtsein vom Staat weder initiiert noch gefördert wird, kann auch das revolutionäre Potential verfügbar werden, das den Adel in seiner Existenz bedroht. Diese ist für Eichendorff nicht allein durch die systemimmanente Funktionalisierung des Adels gefährdet, sondern ebenso durch seine öberheblichkeit gegenüber Egalisierungstendenzen, die für das Avancement des gehobenen Bürgertums ebenso kennzeichnend sind wie für das latent vorhandene revolutionäre Potential der untersten Schichten. Eichendorffs Negation des absolutistischen Staates bedeutet nun aber keineswegs eine Klage über den Menschen im 64 Brandes: Über den Einfluß, S. 90 65

Peter: Adel und Revolution, S. 213

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Zustande des Vergesellschaftetseins oder Flucht aus jeglicher gesellschaftlicher Verantwortung66, sondern die Ablehnung eines politischen Systems, in dem "Staat", "Volk" und Adel keine Einheit mehr bilden. Friedrichs Eintritt ins Kloster unterstreicht die Distanz des Autors gegenüber einem Staat, der auch als erbitterter Gegner der Klöster aufgetreten war. Somit wird Friedrichs Entscheidung "politisch" deutbar, und das Kloster gewinnt als gesellschaftlicher Ort, der sich in Übereinstimmung mit dem Volk befindet6\ Konturen eines Gegenmodells.

66 So z. B. Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München 1972, S. 146. 67 Vgl. dazu Anm. 53.

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B. Die soziokulturelle Krise des Adels I. Adel und Kunst 1. Die Gartenkunst

Unmittelbar, nachdem sie die öffentliche Veranstaltung von Rosas Hochzeit mit dem Erbprinzen verlassen haben, sehen sich Friedrich und Leontin mit der Sphäre einer englischen Gartenanlage konfrontiert, als deren Schöpfer sich Friedrichs Bruder Rudolf herausstellen wird. Dieser Garten - in seiner zeittypischen Gestaltung von Eichendorff doch recht prägnant geschildert - hat ausschließlich kritische Funktion. Zweifellos wird Eichendorff dabei von Adam Müllers "vermittelnde(r) Kritik" inspiriert: "Wenn ich die ganze Kunst, in deren Kreise die beiden Meister sich herumdrehen, einem englischen Garten vergleiche, so wären Kotzebues Fach die chinesischen und gotischen Partien, alle Attrappen und Überraschungsanstalten; Ifflands Fach die bemoosten Strohdächer, die nützlichen und angenehmen Meiereien und Kornfelder und alle reizenden Täuschungen, Wahrscheinlichkeiten und Illusionen. Wenn der Lustwandelnde stillsteht und sich dem Effekt überläßt, würde er Iffland, wenn er fortgeht und eine unerwartete Erscheinung die andre verdrängt, würde er Kotzebue mehr bewundern. Ifflands Losung ist: alles noch einmal, genau wie es schon da ist; Kotzebue dagegen: alles noch einmal, aber mit Vorbereitungen und einem Anlaufe, als wenn es etwas Neues wäre. Und so sind Kotzebues Überraschungen nichts weiter als Ifflands Illusionen, nur ruckweise beigebracht. Die beiden Begriffe der Illusion und der Überraschung sind dem Kunstgeiste die widersprechendstell [... ]"68 Bei Eichendorff tauchen nahezu wörtlich die Requisiten A. Müllers wieder auf, ebenso die Wirkungsbeschreibungen "Überraschung" und "Illusion": "Sie lachten einander beide bei dem ersten Anblicke an, denn überraschender konnte ihnen nichts kommen[ ...)" (II, 238). Die "Illusion" finden sie im "Gesellschaftssaal", wo "ihre Gestalten auf einmal ins 68

Adam Heinrich Müller: Vermittelnde Kritik. Aus Vorlesungen und Aufsätzen. Z ürich

1960,S. 95.

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Unendliche vervielfältigt werden" (II, 239). Während jedoch A. Müller den englischen Garten nur in den Dienst seiner Literaturkritik stellt, gewinnt Eichendorff mit seiner Darstellung die erweiterte Perspektive einer Kritik an Adel und "bürgerlicher" Gesellschaft. Eichendorffs Garten beschreibt den Versuch einer Umsetzung von Theorie in Praxis, ist realer Ort und zugleich metaphorischer Mikrokosmos für gesellschaftliche Bewegungen. Kunstvolle Gartengestaltung bedeutete für den Adel Stilisierung einer sozialen Funktion: War der "französische Garten noch Ort ständischer Repräsentation", so bemüht der englische Gartenstil eine Sphäre "äußerster Intimität" 6". In diesem Bereich kultiviert sich ein Geselligkeitsideal, das - streng abgesetzt von ständischen Vorstellungen- alle Merkmale eines "bürgerlichen" Lebensstils besitzf0 • Der Garten wird zum sozialen Ort von Privatleben und ästhetischem Genuß, "insbesondere der ,höheren' Genüsse von Kunst (vor allem Literatur) und Natur" 11 • Legitimiert und bildungstheoretisch abgesichert wird die Ästhetisierung des Gartens durch die Berufung auf die Moralphilosophie der Aufklärung, die der Naturschönheit und Kunst einen Höchstwert für die Bildung des Menschen zuerkannte72. Einer der führenden Theoretiker der Gartenkunst, C. C. L. Hirschfeld, fordert dementsprechend den Genuß der Natur: "Sich in ihr belustigen, ist [... ] Pflicht" 73 • Diese genuin bürgerlichen Werte erlangen auch Bedeutung für den Adel: "Für Adelige[...] wird ebenso wie für das gebildete Bürgertum die Intimsphäre und damit insbesondere auch ein zeitweiliges Leben in schöner Natur nicht nur zu einem psychohygienischen Bedürfnis, sondern schlechthin diejenige Lebensform, in der das Leben gelingt" 74 • In diesem Zusammenhang sieht auch Eichendorff die Gartenkunst: "Und darin besteht doch eigentlich die ganze Kunst und Lust, daß wir uns mit dem 69 Wolfgang Kehn: Adel und Gartenkunst in Schleswig-Holstein in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Staatsdienst und Menschlichkeit. Studien zur Adelskultur des späten 18. Jahrhunderts in Schleswig-Holstein und Dänemark (Hg. v. Christian Degn u. Dieter Lohmeier). Neumünster 1980, S. 281; vgl. auch: Habermas, Strukturwandel, S. 43 f. 70 Vgl. dazu: Habermas, S. 43 f. Die Theoretiker des englischen Landschaftsgartens im 18. Jahrhundert vertraten eindeutig als "Bürgerliche" eine "antifeudale" Richtung. Vgl. dazu: Clemens A. Wimmer: Geschichte der Gartentheorie, Darmstadt 1989, S. 436 ff. In ähnlichem Sinn äußert sich Th. Nipperdey (Anm. 3), S. 553. 71 Vgl. dazu: Kehn (Anm. 69), S. 281. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 280. 74 Ebd., S. 287.

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Garten recht verstehen" (li, 92). Doch wenn Friedrich, von dem diese Feststellung kommt, den Garten seines Bruders betritt, so bleibt jegliche Verständigung mit der Anlage und ihren Inhalten aus. Rudolf, der gebildete und aufgeklärte Schöpfer dieses von Eichendorff als gemachte Unnatur disqualifizierten Ensembles, kann die theoretischen Postulate vom gelungenen Leben auch keineswegs einlösen. Der Garten ist ein Irrgarten, unbevölkert, totes Konstrukt - das Pendant zu Rudolfs Leben. Zudem spiegelt die Anlage durch ihre Lokalisierung das Eingeständnis einer Selbsttäuschung ihres Gestalters: "Nicht ohne Bedeutung, wie es schien, stieß diese letzte Partie des Gartens, welche besonders kleinlich aus allerlei Zwergbäumen nebst einem kaum bemerkbaren Wasserfalle bestand, auf einmal an den dunkelgrünen Saum des Hochwaldes. Zwischen Felsen stürzte dort ein einsamer Strom gerade hinab, als wollte er den ganzen Garten vernichten, wandte sich dann am Fuße der Höhe plötzlich, wie aus Verachtung, wieder seitwärts in den Wald zurück, dessen ernstes, ewig gleiches Rauschen gegen die unruhig phantastische Spielerei der Gartenanlage fast schmerzlich abstach, so daß die beiden Freunde überrascht stillstanden. Sie sehnten sich recht in die große, ruhige, kühle Pracht hinaus und atmeten erst frei, als sie wirklich endlich wieder zu Pferde saßen." (II, 240) Nun kritisiert Eichendorff nicht nur das ästhetische Landschaftsideal einer für ihn unerträglichen Naturschwärmerei (z.B. "Aber genießen wir doch die schöne Natur"- Il, 62)75, sondern zielt in Richtung einer prinzipiellen soziokulturellen Problematik. Die Kultur der adeligen Privatsphäre und somit auch die "Gartenkunst" sind "ein integrierender Bestandteil von Adelskultur insgesamt"76 • Darauf spekuliert auch das von bürgerlicher Seite initiierte Normensystem, das für die Neugestaltung des Gartens als eines "Intimbereichs" strapaziert wird. Verknüpft werden diese ästhetischen Normen mit einem moralischen Anspruch, der auf eine Veränderung adeligen Selbstverständnisses gerichtet ist. Da nun das Bürgertum seinen Tugendkatalog, auf den noch näher eingegangen wird, als "allgemein menschlich-verbindliche Normen" definierC\ scheint ein verlockender Konsensus der Humanität geschaffen, der den Adel zum Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft zu bewegen vermag. Friedrich und Leontin sehen 75 Rudolfs Gartenanlage trägt auch Züge des "sentimentalen Landschaftsgartens"! Vgl. dazu: Wimmer. S. 189. 76 Kehn (Anm. 69), S. 295. 77 Ebd., S. 285

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sich mit dieser Situation konfrontiert "in dem letzten Gemache des Gebäudes [... ],welches mit großen, goldenen Buchstaben "Gesellschaftssaal" überschrieben war" (li, 239). Die goldenen Versprechungen enthüllen sich jedoch als überraschende Illusionen: "Währenddes waren sie endlich in dem letzten Gemache des Gebäudes angekommen, welches mit großen, goldenen Buchstaben "Gesellschaftssaal" überschrieben war. Sie erstaunten auch wirklich beim Eintritte nicht wenig über die ungeheure Gesellschaft, denn Wände und Decke bestanden daselbst aus künstlich geschliffenen Spiegeln, die ihre Gestalten auf einmal ins Unendliche vervielfältigten. Ihr Kopf war ganz überfüllt und verwirrt von dem Gesehenen. Kein Mensch war in der weiten Runde zu hören, es grauste ihnen fast, länger in dieser Verrückung so einsam zu verweilen, und sie begaben sich daher schnell wieder ins Freie." (II, 239) Während Adam Müller die Begriffe "Illusion" und "Überraschung" nur literaturspezifisch anwendet, sieht Eichendorff eine Korrelation zwischen Ästhetik und Gesellschaft: Illusion und Überraschung stehen im Widerspruch zu Wahrheit und Kontinuität. Der "einsame Strom" (li, 240) erscheint als das - im bürgerlich aufgeklärten Sinne nicht mehr aktuelle - historische Selbstverständnis des Adels und wird hier in ablehnende Distanz gebracht zum ästhetisch vermittelten bürgerlichen Lebensformaf8 • "Ins Freie" bedeutet auf die Gesellschaft übertragen die Abkehr des Adels von Ideologien, die raffiniert "künstlich" und verwirrend vermittelt werden und die Begrenzung adeligen Lebens beinhalten. Eichendorff beschreibt damit sein Verständnis eines bewußtseinsgeschichtlichen Vorgangs: Über das Medium der Ästhetik trifft die für den Autor fragwürdige bürgerliche "Kultur" auf die Aufnahmebereitschaft des Adels und bewirkt eine Fehlsteuerung seines Selbstverständnisses. Besonders am Beispiel des Landadels läßt sich dies sehr deutlich dokumentieren. Bereits im frühen 18. Jahrhundert findet sich das Ideal des kunstverständigen, moralisch hochstehenden Landadeligen, vielfach als Bestandteil literarischer Hofkritik konzipiert. Realgeschichtlich tritt nun der Fall ein, daß tatsächlich eine kleine gebildete Schicht von Landadeligen begann, ihr Selbstverständnis und ihren Lebensstil dem literarisch

78 Vgl. dazu: Leo Balet: Die Verbürgerlichung, S. 81: "Die typisch bürgerliche Freude am Begrenzten und Abgeschlossenen läßt sich an vielen Beispielen in der G artenkunst und der Literatur nachweisen." - S. 83: "Alles Große zerdrückte ihn (den Bürger, A.d.V.), weil ihm jegliche Herrenhaltung fehlte".

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fixierten Ideal anzupassen 79 • In Rudolfs Garten dominieren bürgerliche Vorstellungen von Gartenkunst, die von Eichendorff satirisch verzerrt als groteskes Konglomerat dargestellt werden: Leontin und Friedrich sehen sich "dem labyrinthischen, höchst abenteuerlichen Gemisch" einer Tempelanlage gegenüber und finden beim Eintritt "einen hölzernen Apollo, der die Geige strich, und dem der Kopf fehlte, weil nicht mehr Raum genug dazu übriggeblieben war. Gleich aus dem Tempel trat man in einen geschmackvollen Kuhstall nebst einer vollständigen holländischen Meierei in der neuesten Manier, aber alles leer. Über der Meierei hing, wie ein Bienenkorb, eine Art von schwebender Einsiedelei" (II, 238 f). Labyrinth, Tempel, Figuren, Chinoiserien, Wasserfälle - diese Elemente von Rudolfs Garten sind wesentliche Bestandteile einer Gartengestaltung, die auf einer bürgerlich orientierten Gartentheorie fußt, wie sie z.B. von Joseph Addison vertreten wurde, der dem antifeudalen englischen Bürgertum zuzurechnen isf«'. Der englische Landschaftsgarten des 18. Jahrhunderts war nicht nur "eindeutig politisch"" 1 fixiert und "Gleichnis der Opposition""2 im politischen Sinne, sondern auch gerade ästhetisch 83: In den vielfältig gestalteten Gärten84 kann der Mensch dem Vergnügen seiner Einbildungskraft frönen, "sich mit Scenen und Landschaften zu unterhalten, die schöner sind, als alles, was die ganze Natur dieser Art aufzuweisen hat"."5 Diese "Vergnügungen der Einbildu·ngskraft" sind "entzückend" und "haben[... ] den Vorzug des Verstandes, daß sie uns näher zur Hand liegen und leichter 79 Vgl. dazu Kehn (Anm. 69), S. 291: Der weitaus größere Teil des Landadels verfällt jedoch - vor allem nach 1789 - der Kritik in der bürgerlichen Publizistik: Sie beschreibt ihn als derb, ungebildet, "in einer Atmosphäre niedriger Interessen, niedriger Genüsse lebt er ... ohne höhere Kultur" . In: Der Kosmopolit 1797 II, S. 145; zit. bei: Johanna Schultze: Die Auseinandersetzung zwischen Adel und Bürgertum in den deutschen Zeitschriften der letzten drei Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts (1773-1806). Berlin 1925, S. 11. 80 Wimmer. S. 142-152; 189. Thomas Nipperdey schreibt dazu: "Im 18. Jahrhundert hatte der Siegeszug des englischen Gartens die alte und strenge Ordnung der Herrschaftsarchitektur aufgelöst. Der englische Garten, das war die Pluralität einer künstlichen, wohlabgewogenen, aber doch freien Natur, unzentriert und scheinbar unbegrenzt, in der der Einzelne- spazierengehend - seine eigenen Perspektiven gewann und seinen Phantasien, die ins Unendliche schweifen mochten, seinen- zudem durch Wasserfälle, Tempel, Ruinen oder Gedenksteine angeregten - Empfindungen und Erinnerungen folgen konnte, gegenüber dem formalen Garten eine individualisierte, eine liberale Welt. Dieser Garten hat nachhaltig die Naturanschauung wie die Vorstellung von anschaulicher Ordnung verwandelt. Dieser Garten nun wird öffentlich, wird bürgerlich, auch wenn die Bauherren zunächst noch Monarchen oder Adlige sind." (Anm. 3; S. 553). 81 Wimmer, S. 436. 82 Ebd., s. 437. 83 Nipperdey, (Anm. 3), S. 553. 84 Wimmer. S. 143 85 Addison im Tatler Nr. 161, 1710, S. 78-82; zit. bei WimmerS. 145

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zu erlangen sind" 86• Ein unschuldiges, bürgerliches Vergnügen also, da es nicht auf "Kosten einer Tugend" geht und "für Körper und Seele gesund" ist87 • Diese bürgerliche Gartenästhetik wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts auch vom Adel "assimiliert"HH - Rudolfs Gartenanlage, die Elemente bürgerlicher Gartengestaltung in wirrer Mischung präsentiert, erscheint bei Eichendorff als negatives Beispiel dieses Assimilationsprozesses: Seinen Helden Leontin und Friedrich "grauste" es "fast, länger in dieser Verrückung so einsam zu verweilen" (II, 239). Auch Rudolfs Graphik hinterläßt "einen widrigen Eindruck" (II, 298), seine Malerei korrespondiert mit der hybriden Unnatur der Gartenanlage. "Es waren meist flüchtige Umrisse von mehr als lebensgroßen Figuren, Felsen und Bäumen, zum Teil halbverwischt und unkenntlich" (II, 298) - nicht zuletzt Metaphern für Orientierungslosigkeit und Identitätsverlust. Gleichzeitig wird jedoch eine Beziehung sichtbar zu einem scheinbar gänzlich verschiedenen Bereich: "Wie ein rüstiger Jäger in frischer Morgenschönheit stand Friedrich unter diesen verwischten Lebensbildern" (II, 140). Gemeint ist die Salongesellschaft in der Residenzstadt. 2. Salon und Literatur Für Eichendorff dürfte dabei der Salon des frühen 19. Jahrhunderts Modell gestanden haben, wie er sich etwa in Berlin herausgebildet hatte. Er fungierte als kulturell und politisch bedeutsame Institution, in der die Aristokratie vor allem auf die "bürgerlichen Intellektuellen" traf - und über das Medium der Konversation entfaltete sich im Salon eine "Vorform" der "bürgerlichen Öffentlichkeit" 89• Sie etablierte sich zunächst als "gemischte Gesellschaft"Digitus Dei hic estk" 237 Diese Beurteilung liegt auf derselben Linie wie die Gestaltung des Magiers Pinkus bei Eichendorff. Es gelingt dem Dichter mit dieser kunstvoll konzipierten, "zusammengesetzten" Figur, verschiedene Problembereiche der Zeit und ihre innere Beziehung zueinander zu explizieren. In dieser Person konzentriert er die ausführlichste und schärfste Kritik der ganzen Erzählung: Pinkus liefert als Typus bzw. (negatives) Identifikationsmuster die soziologische Zustandsbeschreibung einer neuen Klasse. Zugleich entwickelt Eichendorff am Aufstieg des Pinkus den historischen Prozeß der Ablösung alter feudaler Kräfte durch ebendiese neue Klasse, die sich jedoch durchaus in das alte politische System integriert und diese restaurative Ordnung erfolgreich verteidigt. Als Erbe der Aufklärung und Sachwalter der Spätaufklärung vertritt Pinkus den Rationalismus in seinen philosophischen Strömungen und seinem ökonomischen Pragmatismus. So gesehen bildet die Figur zwar eine gewisse Einheit-, aber es ist eine Zusammenballung des Negativen. Dies wird noch unterstrichen durch die "ästhetische" Funktion des Pinkus, die noch zu betrachten sein wird. Allerdings erscheint Pinkus als isolierter Alter ohne Partnerbeziehung und Nachwuchs. Das unterstreicht einerseits die Kritik an den Tendenzen und Zuständen, die er verkörpert, Ebd., S. 469. Ebd. 235 Ebd. 236 Ebd. 233 234

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Ebd., S. 856 f.

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läßt aber auch die Hoffnung zu, daß die Herrschaft des alten Pinkus nicht für unabsehbare Zeit fortgeschrieben wird. An einer anderen Figur hat der Dichter den Herrschaftsverlust einer ständischen Gruppe und ihr Absinken in die Bedeutungslosigkeit demonstriert: an der alten adeligen "Urtante", die am Schlusse "gänzlich verschollen" (II, 936) ist. Der Name Sybilla, der die Nähe zum mythischen Vorbild und den prophetischen Blick in die Zukunft assoziierf38, wird durch Eicheodorfis Figurengestaltung satirisch konterkariert: "Es war eine lange, hagere, alte Dame in ganz verschossenem altmodischen Hofstaat, das graue Haar in lauter Papilloten gedreht, wie ein gespickter Totenkopf, die hatte unter jedem Arm eine große Pappschachtel, hielt mit der einen Hand ein zerrissenes Parasol über sich und stützte sich mit der andern auf einen Haubenstock" (II, 915 f). Diese Karikatur emigriert "eiligst" ( II, 916) aus ihrem bisherigen Herrschaftsbereich, indem sie kein freundliches Regime ausgeübt hatte (II, 919). Ursache dafür ist "die famose Libertas" (II, 916) -damit deutet Eichendorff auf die agrar-revolutionäre Bewegung der Bauernbefreiung, die den "Prozeß der Entfeudalisierung", den Abbau der adeligen Grundherrschaften "enorm beschleunigte" 239 • Doch fällt sein Urteil besonders hart aus: Die alte Urtante, die wohl dem Landadel zuzurechnen ist, bleibt schließlich "gänzlich verschollen" (II, 936): damit antizipiert Eichendorff eine Herrschaftskonstellation, die in dieser Tragweite noch nicht eingetreten bzw. abzusehen war240• Hatte er in seinem ersten Roman "Ahnung und Gegenwart" den Landadel bei aller Kritik doch auch mit nachsichtiger Sympathie gezeichnet241 , so scheint die alte "arme Waise" (II, 916) hier nur noch als "das Erstarrte und Abgestorbene" im Bereich des Ständewesens, "das nicht künstlich wieder ins Leben zurückgeführt" werden soll-, wie es Wilhelm Heinrich Riehl in seiner 1851 erschienenen "Bürgerlichen Gesellschaft" formuliert 242 • Beziehungen hat die emigrierende Urtante eigentlich nur zu zwei Figurengruppen. Den Tieren des Waldes ist sie "immer spin238 Vgl. dazu: Daniel Sanders: Deutscher Sprachschatz Bd. 1 (Nachdruck der Ausgabe Harnburg 1873-1877). Tübingen 1985, S. 888. 239 Rainer Koch: Die Agrarrevolution in Deutschland 1848. In: Die deutsche Revolution von 1848/49 (Hg. v. Dieter Langewiesche). Darmstadt 1983, S. 392. 240 Es wurde für den Landadel der "Trend" gefördert, "diesen Adel in eine Agrarunternehmerklasse mit erneut geschmälerten herrschaftsständischen Attributen zu verwandeln" so Wehler, S. 781 (vgl. Anm. 1). 241 Vgl. dazu "Die Gesellschaft des Landadels" im ersten Teil dieser Arbeit. 242 Wilhelm Heinrich Riehl: Die bürgerliche Gesellschaft. (Hg. v. Peter Steinbach). Frankfurt/Main 1976, S. 154 f.

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nefeind gewesen" (li, 919); damit - das sei vorausgenommen - deutet Eichendorff ihre Distanz gegenüber politischen Eliten an. Eine andere Gruppe betrachtet die Urtante jedoch als Grundherrin: die Familie der Riesen. Der Riese Rüpel hat poetische Vorläufer in Eichendorffs Werk, so im Riesen "Grobianus" aus "Krieg den Philistern" (I, 544) und im gleichnamigen Diener "Rüpel" in "Meierbeths Glück und Ende" (I, 572). Ähnlich wie mit dem Baron und Magier Pinkus stellt Eichendorff hier eine vieldeutige Figur vor, auf deren Charakter als politisch-gesellschaftliche Integrationsfigur bereits im Kapitel "Die Revolution von 1848 und ihre Ursachen in Eichendorffs Sicht" eingegangen wurde. Rüpel repräsentiert zusammen mit seiner Familie die Masse des "Volkes" 243, vor allem also die kleinbürgerlichen Unterschichten. Neben aller satirischen Überzeichnung oder Verzerrung des Riesen Rüpel und seiner Familie erfaßt Eichendorff doch das revolutionäre Potential, das dieser Masse innewohnt: Der Riese läßt sich durch den Agitator Dr. Magog zum Kampf mit Pinkus und der bewaffneten Macht verführen (li, 931). Die Nähe zur Revolution deutet der Dichter jedoch bereits vorher in der Beschreibung von Rüpels Hütte an: "Die Flamme warf ein ungewisses Licht über die rauben und wunderlichen Steingestalten umher, die bei den flackernden Widerscheinen sich heimlich zu bewegen schienen, und mächtige Baumwurzeln drängten sich überall wie Schlangen aus den Wänden [... ]" (li, 921) Dieses Ambiente erinnert an das "wüste Gemach" aus der Novelle "Das Schloß Dürande", in dem sich die Revolutionäre versammeln und "das von einem Kaminfeuer ungewiß erleuchtet wurde" (li, 807)244• Unterstrichen wird die kritische Intention dieser Darstellung durch ein nahezu wörtliches Zitat aus Goethes Faust I, wo es zu Beginn der "Walpurgisnacht" heißt: Und die Wurzeln, wie die Schlangen, Winden sich aus Fels und Sande. (Faust I, Vers 3894 f- HA 3/123) 243 Vgl. dazu Heinrich Heines Vorrede zu "Französische Zustände" vom 18. Oktober 1832: "Der große Narr ist ein sehr großer Narr, riesengroß, und er nennt sich deutsches Volk." (Heinrich Heine: Sämtliche Schriften in zwölf Bänden. Band 5. Frankfurt/M., S. 104). 244 Klaus Lindemann hat in seiner Untersuchung der Revolutionsnovelle dieses Motiv der Flamme, des ungewissen Lichts und delagernden Gestalten auch in den Romanen "Ahnung und Gegenwart" (II, 16 f) und "Dichter und ihre Gesellen" (li, 297 ff) nachgewiesen. Er zeigt dabei auf, wie das ursprünglich unpolitische Motiv in "Ahnung und Gegenwart" von Eichendorff später umfunktioniert wurde. (Klaus Lindemann: Eichendorffs Schloß Dürande. Zur konservativen Rezeption der Französischen Revolution. Paderborn u.a. 1980, S. 46 ff.).

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Es sei aber auch an ein verwandtes, jedoch gegenläufiges Motiv erinnert, das Eichendorff in "Ahnung und Gegenwart" mit seinem Modell vom "Volk" verbunden hatte. GrafFriedrich, der sich im nächtlichen Wald verirrt hat, sieht ein Licht und gelangt an ein Häuschen: "Ich guckte furchtsam durch das erleuchtete Fenster hinein und sah darin in einer freundlichen Stube eine ganze Familie friedlich um ein lustig flackerndes Herdfeuer gelagert. Der Vater, wie es schien, hatte ein Büchelchen in der Hand und las vor. Mehrere sehr hübsche Kinder saßen im Kreise um ihn herum und hörten, die Köpfchen in beide Arme aufgestützt, mit der größten Aufmerksamkeit zu, während eine junge Frau daneben spann und von Zeit zu Zeit Holz an das Feuer legte. Der Anblick machte mir wieder Mut, ich trat in die Stube hinein." (II, 50) Zum positiven Symbol des Volkes, das diese damalige Familie darstellte, kontrastiert die Gegenwart der Riesen, speziell die Art der Kindererziehung: "[...] in demselben Augenblick brachen auch mehrere Riesenkinder mit großem Geschrei aus der Hütte und zankten und würgten und rauften untereinander, daß die Haare davonflogen [... ]" (II, 917) Diese Art der "Kindererziehung" (II, 918) ist so recht nach Rüpels Geschmack: ",Hetzoh! ' schrie er, ,du da wirst dich doch nicht unterkriegen lassen, frisch drauf!' Dann streckte er unversehens sein langes Bein vor, da stürzten und kollerten die Verbissenen plötzlich verworren übereinander, während die Riesenmutter voller Zorn ihren Kehrbesen mitten in den Knäuel warf" (II, 918). Ebenso kritisch wie in dieser Darstellung der pädagogischen Sozialisation der Riesen verfährt Eichendorff bei ihrer Einbindung in das Handlungsgefüge. Trotz jener "Macht und Gesinnungstüchtigkeit" ( II, 918), die ihnen der Dr. Magog mit berechnender Schläue suggeriert, nehmen die Riesen keineswegs eine dominante Position ein - im Gegenteil: Sie dienen zunächst der adligen Grundherrschaft, arbeiten aber auch für deren Feinde, "die vornehmen Tiere" (II, 919); Rüpel wird von Dr. Magog zum Kampf gegen Pinkus überredet und hat auch hier letztlich kaum Erfolg. Vor allem aber sind die Riesen nur ängstliche Untermieter ihrer "Hausherren", der Zwerge (II, 921 f). Die neuere Forschung hat sich nur marginal mit diesem Zustand beschäftigf 45 , während Weserneier eine interessante Darstellung der Zwerge angeboten hatte: "Unter Rüpels ärmlicher Lehmhütte treiben die ,Zwerge und Grubenleute' ihr kostbares Gewerbe in paradiesischer Eintracht und mär-

245 So schreibt A. Schau: "Rüpel ist der Untertan, der Abhängige. Er wohnt bei den Zwergen zur Untermiete" (Schau, S. 140). Nolte spricht lediglich von "Vertretern der Märchenwelt" (Nolte, S. 127).

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chenhaftem Glanze. " 246 Weserneier bezeichnet den Bergbau als "die romantische, ideale Industrie im Gegensatz zu der willkürlich und unhistorisch erscheinenden kapitalistischen Industrie." 247 Hermann Korte hingegen sieht "die Zwerge des Waldes" als "Versatzstück romantischer Erzähltechnik par excellence" 2"". Also ein Rückgriff auf romantisch ideale Märchenhaftigkeit? Dagegen spricht, daß dieser angeblich "paradiesische" Bereich durch recht handfeste Interessen mit den Riesen verbunden ist: "Da hob sich auf einmal im Boden ein Stein dicht neben Magog, der erschrocken die Beine einzog, denn er meinte, es wollte ihn ein Riesenmaulwurf in die Zehen beißen. Es war aber nur eine heimliche Falltür und aus dieser fuhr mit halbem Leibe ein winziges Kerlchen mit altem Gesicht und spitzer Mütze zornig empor: ,Was macht ihr heute hier oben wieder für ein greuliches Spektakel', sagte er mit seiner dünnen Stimme, ,wenn ihr nicht manierlich seid, kündigen wir euch die Miete!'" (II, 921) Ebenso fällt es schwer, den "glühenden Blick aus der Tiefe" oder die vielen "irrenden Lichter(n)" (II, 921), bei deren Anblick man "wahnsinnig" wird, "wenn man da lange hinuntersieht" (II, 922), als Attribute eines idealen Zustandes deuten zu wollen, selbst wenn bei der Furcht vor Wahnsinn die Perspektive der Riesen dazwischengeblendet wird (II, 921). Von Reichtum und Geld ist die Rede, den glühenden Schätzen in der Tiefe des Berges und dem Mietgeld ("ein Billiges" - II, 922), das die Zwerge von den Riesen verlangen; die Assoziation zu Goethes "Wie im Berg der Mammon glüht" aus der Walpurgisnacht (Vers 3915 - HA, 3/123) dürfte ebenso berechtigt sein wie ein Verweis auf zwei satirische Werke der Restaurationszeit, in denen "Zwerge" zeitkritisch dargestellt werden: Kar! Immermanns "Tulifäntchen" 249 und Heinrich Heines "Atta Troll" 250 • Immermanns "Tulifäntchen", so Friedrich Sengle, "ist der moderne Zwerg, der mit Hilfe seines >Köpfchens