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German Pages 345 [356] Year 1885
Zeiten, Völker und Menschen von
Karl Hillebrand.
Siebenter Band.
Llllturgeschichtliches.
Straßburg. Verlag von Karl I. Trübner. 1885.
CullurgeschichNiches. Aus dem Nachlasse von
Karl Hillebrand. Herausgegeben
Zessie Hillebrand.
Mit dem Bildnisse des Verfassers in Holzstich nach der Büste von Adols Hildebrand in Florenz.
Straßburg. Verlag von Karl I. Trübner.
1885.
Alle Rechte vorbehalten.
Druck von L. H. Schulze A Lo. in Gräfenhainichen.
Den näheren Freunden ihres d a h i n g e sch i e d e n e n Gatten widmet
(liefe Aufsätze aus dessen Nachlaß
Vorwort. Indem ich den siebenten Band der „Zeiten, Völker
und Menschen" der Oeffentlichkeit übergebe, verhehle ich mir keineswegs die Verantwortlichkeit, die ich damit über
nehme.
Aber das Vertrauen meines verewigten Mannes,
welcher kein Bedenken trug, mir seinen gesammten Nach
laß zur freien Verfügung zu vermachen,
andererseits
meine genaue Kenntniß der Absichten, die er in Betreff
dieses Nachlasses hatte, schienen es mir zur Pflicht zu machen, diese Absichten, soweit ich es konnte, zur Aus führung zu bringen.
Diese Empfindung ist es, welche
mir zu der wehmüthigen Aufgabe den Muth gegeben hat. Wenn ich den vorliegenden Aufsätzen einige Worte
vorausschicke, so thue ich es lediglich, um sowohl allen Mißverständnissen über die Absichten des Verfassers vor
zubeugen, als auch um allen Vermuthungen über meinen
Antheil an der Wahl, Zusammenstellung und Revision zuvorzukommen.
Etwa fünf Monate vor seinem Tode Hillebrand
hat Karl
den Plan zu diesem siebenten Bande ent
worfen und ich habe mich im Ganzen streng an seinen
Plan gehalten.
Die wenigen Aenderungen, die, mit einer
Ausnahme, unvermeidlich waren, sind möglichst treu im
Sinne des Dahingeschiedenen vorgenommen worden.
viii Dem ursprünglichen Plan zufolge sollte dieser Baitd aus zehn Aufsätzen kritischen und historischen, nicht bio graphischen Inhalts bestehen, die zum Theil noch unver öffentlicht, zum Theil früher in ausländischen Zeitschrift«» erschienen waren. Nun ist, von zwei zur Aufnahme bestimmten Aufsätze«, welche aus der letzten Lebenszeit des Berfaffers herrühre«, der eine, „Ueber die Convention in der französische» Lit«ratur" — er hieß ursprünglich „Ueber ConventionaliSnm» und Naturalismus in der französischen Literatur" — nur zur Hälfte fertig geworden. Dennoch stellte sich dieser Aufsatz als so bedeutend, so charakteristisch sür die Anschauungs- und Ausdrucksweise des Verfassers heraus, daß die Beibehaltung desselben, als Fragment, geboten erschien. Auch ist er seitdem in der „Deutschen Rund schau" veröffentlicht worden. Ein dritter, ebenfalls für diesen Band bestimmter Aufsatz, „Ueber den DandpiSmu» in der Polittk und in der Literatur", welcher da» Gegen stück zu dem Aufsatze „Ueber die Wertherkrankheit in Europa" bilden sollte, ist leider, obgleich im Entwurf fertig, nicht mehr zur Ausführung gekommen. Gewiß hätte er zu dem Eigenthümlichsten und Geistreichsten gehört, was der Verfasser je geschrieben! Al» Ersatz für denselben ist ein schon früher in der „Gegenwart" erschienmer Aufsatz: „Jungdeutsche und Kleindeutsche" gewähtt worden, welcher da» Nachwort blldet zu den sechs Vorlesungen „Ueber die Entwickelung der deutschen Welt-Anschauung", die Karl Hillebrand im Frühjahr 1879 zu London (Royal Institution of Great Britain) hielt, denen auch der erste Aufsatz: „Zur Entwickelungsgeschichte der abendländischen Weltanschauung", entnommen ist.
IX Außer dieser Aufnahme eines ursprünglich nicht für
diesen
Band
bestimmten Aufsatzes,
und einer,
behuf
zweckmäßigerer Anordnung vorgenommenen Aenderung in der Reihenfolge der Anffätze, ist nur noch eine Abweichung
von dem ersten Plane Karl Hillebrand'S zu erwähnen: die Unterdrückung eines vor einigen Jahren geschriebenen
AnfsatzeS, der den Schluß des Bandes bilden sollte.
Da
indeffen der Gegenstand desselben für deutsche Leser kein Interesse mehr haben konnte, und da außerdem Vieles
darin Gesagte in einem vorhergehenden,
von dem Ver
fasser nach Abfaffnng des Planes geschriebenen Aufsatz besseren Ausdruck gefunden hatte, so habe ich die feste
Ueberzeugung, mit Weglassung diese» Schlußaufsatzes voll
ständig im Sinne, des Verstorbenen gehandelt zu haben.
Was endlich die deutsche Fassung mehrerer der vor liegenden, weder ursprünglich in deutscher Sprache geschriebenen, noch für deutsche Leser bestimmten Aufsätze
anlangt, so ist darauf zu verweisen, daß einige derselben, z. B. Nr. 2, 3 und 6, schon bei Lebzeiten de» Verfassers
in deutschem Gewände erschienen stnd.
Andere hatte er
selbst einer talentvollen Schriftstellerin, Fräulein Isolde Kurz in Florenz übergeben, welche da« große Vertrauen,
das er ihrer Gewandtheit und Gewissenhaftigkeit schenkte, bei der nicht letchten^Aufgabe im vollsten Maße gerecht
fertigt hat.
Mögen diese kurzen Andeutungen genügen, um den
Leser zu überzeugen, daß weder bei der Wahl und Zusam menstellung de» Materials, noch bei den geringen Aende
rungen, zu demnach mich veranlaßt gefühlt habe, will kürlich verfahren worden ist.
Wie sehr sich der Verfasser,
trotz de» langenZLeidens, bis zuletzt die ihm eigenthümliche
Schärfe, Klarheit und Frische des Geistes bewahrt hatte,
beweisen zur Genüge die beiden zuletzt geschriebenen Auf
sätze:
Nr. 5
und 9.
Auch
setzte
ja die Lebhaftigkeit
seiner Unterhaltung und sein reges allgemeines Interesse
Me in Erstaunen, welche ihn in den letzten Monaten
größter körperlicher Schwäche sahen. Zum Schluß ist es mir Bedürfniß, den treuen Freun
den meines verstorbenen Mannes, die mir als Rathgeber und Mitarbeiter an diesem Bande beigestanden haben,
meinen besonderen Dank auszusprechen: zunächst Herrn Dr. Heinrich Homberger, der mit pietätvoller Anhäng
lichkeit an den Dahingeschiedenen, mit verständigster Sach-
kenntniß mir jede Klippe vermeiden half, die meine Unerfahrenheit bedrohte; dann Herrn Dr.,Conrad Fiedler,
an dem ich eine ebenso bereitwillige und nicht weniger kräftige Stütze fand — though last not least, dem Bild
hauer Adolf Hildebrand, welcher der nahen, freund schaftlichen Beziehung, die ihn mit dem Verstorbenen ver
band, in seiner meisterhaften Büste ein unvergängliches Denkmal gestiftet hat und es möglich machte, das Buch
mit dem Bilde des Verfasser» zu zieren.
Möge dieser letzte Wiederhall der kaum verklungenen Stimme den Lesern eine willkommene Erinnerung an den
Verewigten sein, und sich derselben fteundlichen Aufnahme
erfreuen, wie seine früheren Schriften. ChiSlehurst, 24. Juni 1885.
Äessie Hillebra«-.
Inhalts-Verzeichniß. Seite 1. Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischen Weltan schauung ..............................................................................................
1
2. Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischen Gesellschaft
26
....
74
3. Jungdeutsche und Kleindeutsche (1830—1860)
4. Die Werther-Krankheit in Europa...............................................102 5. Ueber die Convention in der französischen Literatur
.
.
143
6. Born alten und neuen Roman..................................................... 168 7. Ueber die Fremdensucht in England..............................
197
8. Ueber da- religiöse Leben in England........................................ 246
9. Der Engländer auf dem Continent...............................................310
I. Zur Entwicklungsgeschichte -er abendländischen Weltanschauung. Wir dürfen das mittelalterliche Europa als eine große Familie betrachten, die eine Zeitlang glaubte, sie könne für immer unter einem Dache wohnen und
gemeinsam an dem großen Werke der Civilisation arbeiten. Eine Sprache — die lateinische, ein Glaube, — der katholische, ein Gesetz — das römische, ein Souverän — der Kaiser — sollten die Oberherrschaft führen und allen Gliedern der Familie Schirm gewähren. In Wirk lichkeit wurde dieses Ideal nie völlig erreicht. Aber es beherrschte die Gemüther das ganze Mittelalter hindurch, und noch in späteren Zeiten hielt es gewisse Geister ge fangen, die nach Einheit und Ordnung dürsteten und nicht im Stande waren, sie in der Mannigfaltigkeit und der Freiheit zu finden. Das Gesetz der Natur war gleich wohl stärker als die Gesetze der Menschen: Europa ent wuchs dem Stammhaus, so geräumig es gebaut schien. Kaum hatte jeder Herd seine eigene Familiensprache, so wünschten auch schon die um ihn Versammelten, den Ge danken und Gefühlen ihres alltäglichen wie ihres höheren Lebens in dieser Sprache Luft zu machen. An dem Tag, an welchem ein philosophischer Gedanke in nationaler Hillebrand, Culturgeschichtliche?. 1
2 Sprache ausgedrückt wurde, hatte jene Theilung Europas begonnen, aus welcher sich während des 15. Jahrhunderts die nationalen Monarchien von England, Frankreich und
Spanien, die italienische Renaissance und die Reformation in Deutschland entwickelten. Die Theilung, sage ich,' nicht die Spaltung. Das Werk, welches bis dahin Europa gesummt und gleichzeitig verrichtet hatte, mußte nun in Theilen, bald von dem, bald von jenem verrichtet werden, so daß, wie Algarotti von seiner eigenen Nation sagte: „wer früh vor den andern aufstand und hart schaffte, unter Tag wohl ein wenig rasten durfte." Gleichwohl ist die von dem mo dernen Europa geleistete Arbeit in Wahrheit eine einzige, wenn anch die Arbeiter einander verschiedene Male ab gelöst und ihren Nachfolgern die Fackel des geistigen Lebens eingehändigt haben: „Vitae lampada tradunt.“ Es ist ein Grundstock, ein Kapital, — das Kapi tal der Menschheit, — das sie gesammelt haben, indem der Reihe nach ein Jeder die Frucht seiner Mühen beisteuerte. Selbstverständlich Mrfen diese und ähnliche Ausdrücke nicht allzu wörtlich genommen werden. Die Menschheit ist ein lebender Körper, wo -jeder Theil innig mit dem andern zusammenhängt, wo jede Trennung wie ein Schwertstreich empfunden wird, zugleich schmerzhaft und lebensgefährlich. Doch wie der Philosoph das Recht hat, Gedächtniß und Phantasie, Willen und Empfindung, Ver stand und Vernunft zu trennens die zusammen das lebende Individuum bilden, so muß der Geschichtsschreiber um die Erlaubniß bitten, im Geiste zu theilen, was in Wirk lichkeit eng verbunden ist. Als England zum erstenmal
3 die Intellektuelle Hegemonie über Europa führte, zur Zeit, wo Gilbert und Harvey, Bacon und Hobbes, Newton
und Locke schrieben und dachten, hatte Italien seinen Galileo, Frankreich seinen Pascal, Deutschland seinen
Leibniz.
Doch für jeden unparteiischen Beobachter der
Geschichte des Gedankens war England der Brennpunkt
der Bewegung. Italien wurde zuerst unter den europäischen Natio
nen mündig und rüttelte an der väterlichen Autorität. Schon im Anfang des 14. Jahrhunderts rühmte es sich
eines Gedichtes in nationaler Mundart, welches das garye
geistige Leben des Mittelalters in sich zusammenfaßte; und anderthalb Jahrhunderte später begann es sich von
jenem selben Gedankensystem zu emanzipiren, dem Dante
den schönsten und angemessensten Ausdruck gegeben hatte. Das Tagewerk Italiens kann von 1450 bis 1525 gerech
net werden; allein, wie gesagt, solche Grenzlinien sind cum grano salia zu nehmen.
Niemand kann genau den
Punkt bestimmen, wo der Arm aufhört und die Schulter
anfängt, aber der Anatom muß nothwendig irgendwo die Scheidung machen.
Allen sind die Ereignisse gegen
wärtig, die um die Mitte des 15. Jahrhunderts Italien erweckten, sowie die traurigen Begebenheiten, die es fünf
undsiebzig Jahre später in das Grab oder wenigstens in eine lange, trübe Lethargie versenkten.
Wir wissen, wie
Italien die Schätze griechischer Kunst und Wissenschaft so zu sagen entdeckte, wie es sie putzte, flickte und zugänglich
machte und diese rein weltliche und menschliche Bildung
aller modernen Kultur zur Grundlage gab.
Das Wichttge
für uns ist, mit einem Wort die Natur der intellektuellen Arbeit zu charakteristren, die Italien in jenen Jahren 1*
4 unaufhörlichen, fast fieberhaften Schaffens vollbracht hat. Die italienische Renaissance war die Rehabilitirung der menschlichen Natur; und der Instinkt der Geschichte hat fich nicht geirrt, wenn er bis auf unsere Tage die Re
präsentanten jenes Zeitalters die Humanisten, ihre
Kultur den Humanismus nennt.
Das Mittelalter
und der Katholicismus hatten die Gegenwart der Zukunft,
die Freiheit der Autorität, das Menschliche dem Gött lichen untergeordnet.
die Dinge um.
Die italienische Renaissance kehrte
Für den naiven Skeptizismus eines
Lorenzo und Filelfo, eines Angelo Poliziano und Mar-
silio Ficino hatte nur die Gegenwart Realität, und in diesem Sinne sollte sie verstanden, beschrieben, genossen
werden, wie die Griechen zu Perikle»' Zeiten sie zu ver stehen, beschreiben und genießen versucht hatten.
Alles
in der Natur war gut und schön, der Instinkt war der sicherste Führer, natürliche Kraft und Schönheit waren die ächtesten Zeichen und Rechtstitel der Superiorität.
Mr dürfm uns durch ihr formelles Festhalten an der Kirche, so wenig wie durch ihre Begeisterung für Platos erhabenen Idealismus irreführen lassen.
Die Kirche war
ihnen nicht mehr als ein gleichgültiges Gewand, das man nicht ohne Noth gegen ein anderes umtauschen oder ganz
und gar ablegen mag.
Der Platonismus war eine Form
poetischer Träumerei, keine philosophische Ueberzeugung.
Das Ziel, das sie verfolgten, war die Kenntniß der menschlichen Natur, der geistigen und physischen, und
der menschlichen Gesellschaft,
nicht wie beides sein sollte
oder könnte, sondern wie es in Wirklichkeit war. Macchiavelli politisches Leben beschreibt,
Ob
wie in seinem
„Principe“, in seinen „Dekaden", in seiner „Geschichte
5 von Florenz", oder ob er die sozialen Zustände seiner Zeit schildert, wie in den Komödien, er giebt sich nie mit der
Frage von Gut oder Böse ab, er begnügt, sich die Dinge
zu verstehen.
Ebenso die Philosophen, die Dichter, die
Künstler der Zeit.
Ihnen
ist die Kunst das,
wofür
Goethe sie erklärt, und was unser Jahrhundert so gänz lich aus dem Auge verloren zu haben scheint — „der
Dolmetsch der Natur", nicht mehr, noch weniger. Dies hätte ebenso harmlos sein können,
wie es
richtig war, wenn es auf die Kunst und das Denken beschränkt geblieben wäre, aber die Renaiffance wollte
Leben und Handeln danach regeln.
Unser Temperament
und unser geistiges Wesen gestalten unsere Meinungen, meist ohne daß wir es wiffen.
Die Sinnlichkeit ihres
Temperaments und Geistes machte die Italiener besonders geeignet zu ihrer historischen Mission, aber sie führte sie
so weit, daß sie der Strafe verfielen, die auf übermäßi
gem Versinken in die eigenen Gedanken und Neigungen
steht.
Sie sahen alles im Lichte der Kunst, gaben jedem
Ding eine künstlerische Form, betrachteten Alles und Jedes, den öffentlichen Gottesdienst, den Staat, selbst das Pri
vatleben als in das Gebiet der Kunst gehörig; und der Gedanke, daß sie lebten wie die Griechen, rechtfertigte
Alles in ihren Angen.
Sie vergaßen, daß in Griechen
land „die Muse das Leben begleitete, nicht lenkte".
Wo
hin das führte, sagen uns die Namen der Borgia und
der Sforza laut genug.
Eine starke Reaktton trat ein — eine doppelte Re
aktion : die eine, volksthümlich, an die innere Autorität des Gewiffens appellirend; die andere, von oben her und bemüht,
die änßere Autorität der Traditton und der
6 kollektiven Gewalt wieder herzustellen: Luthers Reforma
tion und die Gesellschaft Jesu.
Die Reformation, obschon der Zett nach die frühere, gewann erst hundert Jahre später in England, zweihundert
Jahre später in Deutschland ihren vollen Einfluß auf
das Gebiet des höheren Jesu wirkte sogleich,
Gedankens.
Die Gesellschaft
und es war Spanien, das dieser
Bewegung bett Anstoß gab.
Als, zehn Jahre nach der
Gründung des Jesuitenordens durch den Spanier Igna
tius Loyola, das Tridentiner Konzil berufenen Andmkens tagte, wurde Loyolas Nachfolger, der Spanier Lainez,
sogleich der leitende Genius jener großen Versammlung, welche dm Katholicismus rmovirte, indem sie ihm die
Form , gab, in welcher er die letztm dreihundert Jahre hindurch gelebt und geblüht hat.
Ich finde unsere Zeit
etwas geneigt, die Rolle Spaniens in der Geschichte des
europäischm Gedankens
zu unterschätzen.
Freilich war
die Wirkung Spaniens vor allem eine negative, aber es
nahm doch auch positiv an der Arbeit theil.
Richt nur
daß die Reorganisirung der Kirche gänzlich das Werk
Spanien» war,
die absolute Monarchie des göttlichen
Rechts, wie sie währmd des 17. Jahrhunderts in Blüthe
stand, war gleichfalls spanischen Ursprungs.
Man denke
an den Unterschied zwischen der mittelalterlichm Auffassung der Souveränetät und derjmigen, welche Ludwig XIV., ja selbst dm protestantischm Jakob II. und
bis zu den
kleinsten italienischen und deutschen Duodezfürsten beseelte;
an den Unterschied zwischen
der Mannigfaltigkeit des
feudalen Königthums des Mittelalters mit seinen fast unabhängigen Basallm, und der Einförmigkeit der modemm Monarchie mit ihrem I'ätat c’est moi.
Nun
7 könnte man sagen, die Monarchie Ludwigs XIV. sei ein
fach der Despotismus Philipps II., gemildert durch den den Franzosen angeborenen Sinn für Maaß und Ge schmack, belebt durch ihre natürliche Heiterkeit und Ele ganz. Dies ist jedoch nur eine Seite der Frage und für unseren Gegenstand nicht die wichtigste. Zu gleicher Zeit, als das Prinzip der Autorität, der religiösen wie der politischen, von Spanien einen
neuen Anstoß empfing und nach hartnäckigem Kampf die größere Hälfte Europa's sich unterwarf, indem es den Protestantismus in Italien, Frankreich, Belgien, Süd deutschland, Böhmen und Oesterreich ausrottete, unter lagen Literatur und Philosophie dem gleichen Einfluß. Im selben Augenblick, wo Italien das Monopol der bildenden Künste verlor, und hohe Schulen der Malerei in Madrid, Sevilla und den spanischen Niederlanden entstanden,. verbreitete sich eine neue Poesie und ein neuer poetischer Styl von Spanien aus über ganz Europa. Nicht allein, daß die italienischen und deutschen Mari nisten Nachahmer der spanischen Gongoristen waren, selbst der englische Euphuismus zu Shakespeares Zeiten ent sprang aus dem spanischen „culteranismo“; und nicht nur Form und Styl, sondern auch der Geist und die Stoffe der Literatur waren hauptsächlich spanisch. Denken wir: nur an CorneilleS „Cid“, der 1636 entstand, an seinen^ „Polyeucte“, der unter Ealderons autos sagramentales figuriren könnnte. Noch in der zweiten Hälfte des Jahr hunderts nimmt Moliöre die Süjets zu seinem „Festin de Pierre“, seiner „Princesse d’ tilide“, seiner „ticole des Maris“ von Moreto und Tirso. Grimmelshausen führt in Deutschland, Scarron in Frankreich den „roman
8 picaresque“ der Spanier ein, deffen anerkannte Meister Lesage und Smollet im folgenden Jahrhundert wurden. Viel größer noch ist der Einfluß, den Spanien während des 17. Jahrhunderts auf das philosophische Denken Europas ausübte. Der Tod der Individualität, den die spanische Herrschaft, wohin sie auch kam, in Stäat, Kirche
und Schule mit sich brachte und zum Gefolge hatte, be drohte sogar die spekulative Thätigkeit. Nicht daß die Philosophie Molinas und Suarez' — wenn man Philo sophie nennen darf, was im Grunde nur Theologie war — jemals wirklich in die höheren Schichten des intellek tuellen Lebens gedrungen wäre, da ja selbst die Elite des Klerus dagegen protestirte, wie sie sich in unseren Tagen gegen das Dogma der Jnfalltbilität erklärte; aber das Autoritätsprinzip, das Spanien in der ganzen Welt hergestellt hatte, war dem Denken des Continents ein mächtiger, zuweilen wohlthätiger, öfter aber höchst ver derblicher Hemmschuh. Es ist sicher, daß keine Gesell schaft auf die Länge mit den Prinzipien oder vielmehr Mit der Prinzipienlosigkeit der italienischen Renaiffance bestehen könnte. Durch die Wiederherstellung der Auto rität wurde kecken Geistern, für die das licet quia libet eine Art Dogma geworden war, ein heilsamer Zügel aufgelegt. Wenn wir jedoch bedenken, wie Malebranche und selbst Descartes durch die herrschende Dogmatik
ihrer Zeit in ihrem Gedanken gefesselt waren, so dürfen wir uns wohl fragen, ob die Wohlthat nicht zu theuer erkauft war. „Je trouve bon qu’on n’approfondisse
pas Fopinion de Oopernic.“ sagt der große Jesuiten feind selber. Weil das katholische Europa sich mit dieser „opinian“ nicht einzulassen wagte, ging die Führerschaft
9 des modernen Denkens an die protestantischen Länder England und Holland über, wo keine heilige Inquisition
die Forschungen eines Galileo unterbrach, keine unbeug same Orthodoxie dem mächtigen Gedanken eines Pascal Halt gebot. Die Reformation war eine populäre Bewegung gewesen, keine aristokratische, was eine wissenschaftliche Thätigkeit immer und überall sein muß. Die großen Protestantischen Gelehrten des vorhergehenden Jahrhun derts, die Reuchlin und Erasmus, Henri Estienne und Justus Scaliger waren Söhne der italienischen Re naissance, nicht der deutschen Reformation. Ihr Geist war ein durchaus weltlicher, er wirkte auf die Bildungs aristokratie, nicht auf die Massen. Die Reformation entsprang mehr aus einem Gefühl sittlicher Auflehnung, als aus einem Bedürfniß nach intellektueller Freiheit. Dies ist der Grund, warum wir ihrer hier kaum erwäh nen, wo wir nur nach der Gestaltung der europäischen
Weltanschauung fragen, wie sie sich in der höheren Sphäre der auserwählten Geister offenbart. Denn, wie auch das moralische Leben beschaffen sei, im geistigen Leben wird das paucis vivit genus humanum immer eine Wahrheit bleiben. Wenn jedoch die Reformation ursprünglich keine philosophische Bewegung war, so hatte sie doch durch ihre Folgen auf die philosophische Bewegung den wich tigsten Einfluß. Denn wenn der moderne Katholicisnius, wie ihn die Jesuiten «ährend des 16. Jahrhunderts gestalteten, nicht geradezu die klassische Kultur und Lite ratur bekämpfte, welche von der Renaissance gewissermaßen erschlossen und der Menschheit ^urückgegeben worden war, so wußte er doch ihren Einfluß auf's wirksamste zu
10 paralyfiren.
Nirgends wurde die griechische und latei
nische Literatur eifriger studirt als in den Jesuitenschulen,
aber sie wurde zuvor unschädlich gemacht.
Das Gift des
freien Gedankens wurde herausgenommen, ehe man der
Jugend das Gericht austrug.
Literaturen
aller
wurde
Die freieste und lebendigste
zu einer Sammlung
todter
rhetorischer Formeln zum Auswendiglernen und zu ge
legentlichem Gebrauch. . Der Stoff wurde
für gänzlich
werthlos, die Form nur für ein reizendes und geschicktes Spiel ausgegebe«.
Ebenso dreihundert Jahre später, als
es nicht mehr möglich war, die Entwicklung der Raturwiffenfchasten unbeachtet zu lasten, zwängten die Jesuiten
die gefammten Ergebnisse langer universeller Forschung in Handbücher behufs mechanischer Anwendung für prak
tische Zwecke
oder mechanischen Auswendiglernens fürs
Examm, und hier hat sich denn auch das Ding so gut
bewährt, daß die „nie des Postes“ zehnmal erfolgreichere Schüler
für
die ticole polytechnique drillt, als jede
Laienanstalt, wenn auch die Geschichte von keinem Mann
der Wiffenschast weiß, den sie hervorgebracht hätte. diese Leute sind klug genug,
Denn
die wissenschaftlichen Data
zu lehren, ohne jenen Geist der Forschung zu wecken und
zu spornen, in dem der ideale Werth der Naturwissen schaft besteht, wie Gedankenfreiheit der wahre ideale Ge
halt antiker Literatur ist.
Nicht so der Protestantismus.
Auch er hatte die Autorttät wieder eingesetzt an Stelle jener Lehre
der
von der schrankenlosen Freiheit,
italienischen
Renaissance
welche zur Zeit
die Laune
Schiedsrichter des Lebens machte.
zum
obersten
Aber seine Autorität
war keine äußerliche, es war die Autorität des individu
ellen Gewissens.
Sein Hauptprincip war die freie Unter«
11 suchung, die zuerst auf die Bibel angewandt wurde;
aber nachdem man ihr einmal den Lauf gelassen, konnte
niemand voraus sagen, wo sie Halt machen würde, und in der That machte sie nicht bei der Bibel Halt.
Es war jedoch nicht die Wiege des Protestantismus, welche zuerst diese Früchte des neuen Glaubens sah.
Der
deutsche Protestantismus war zeitweilig so gut wie aus
gebrannt, als die Reaktion gegen die spanische Dogmatik
in Europa einsetzte, und dem armen Kepler fehlte fast der
Athem zu seinen Bemühungen, das System des Kopernikus
zu entwickeln.
Deutschland war in den heillosesten, bar
barischsten Krieg verwickelt, den die Geschichte der Menschheit ve^eichnet, als die edle wiffenschaftliche Bewegung des 17.
Jahrhunderts in ihrer vollen Blüthe stand. England, dem seine große Königin den Schatz religiöser Unabhängigkeit gerettet hatte, war es vorbehalten, das Signal zum Bor
rücken zu geben, während Holland, das siegreich aus dem
langen, männlichen Kampfe gegen das katholische Spanien hervorgegangen war, sich mit England zu der glorreichen
Aufgabe verband. Diese selbstgestellte Aufgabe war die Kenntniß der
Natur und ihrer Gesetze.
Das 15. Jahrhundert hatte
gleichsam die zerrissenen Glieder der Zeit zusammengefügt;
das 17. erschloß den Raum.
Das erstere hatte dem
Menschen seinen Platz in der Geschichte angewiesen, das
zweite
gab ihm seine Stellung in der
Natur.
Die
Welt war der Rhetorik und der Worte müde, ebenso
wie der abstrakten, in den Wolken schwebenden Spekulation. Sie dürstete nach Thatsachen.
Sie hatte lange genug
bona fide die fertigen Lösungen aller Fragen angenommen, die ihr durch die Autorität geboten wurden, und war
12 NUN entschlossen, selbst nach der Ursache der Dinge zu forschen. Die Schlüsse einer Philosophie a priori genügten ihr nicht länger: heimlich und fast unbewußt sehnte sie sich nach einer auf Beobachtung gegründeten Erkenntniß, die eine methodische Erkenntniß sein sollte. Bacon war es, der dem tiefinnersten Wunsch seiner Generation Worte lieh, als er die inductive Methode einführte und empfahl. Freilich hatte Kopernikus vor ihm und besser als er beobachtet. Kepler übte gerade damals die „Jnduction" aus Beobachtungen mit positiven Resultaten, deren Bacon
sich nicht rühmen konnte, während Galileo gleichzeitig die Experimentalmethode anwandte, die Bacon. noch sehr ungeschickt handhabte. Gleichwohl ist es Bacon, nicht Kepler oder Galileo, der mit Recht als der Vater des modernen Gedankens angesehen wird. Denn Kepler und Galileo wandten die inductive und experimentelle Methode ungefähr so an, wie Monsieur Zourdain seine Prosa schrieb — sang le savoir. Freilich wurde der Fortschritt der Wissenschaft darum nicht minder gefördert, daß Galileos große, schlichte Natur und Keplers edler, unbeugsamer Geist über dem suchen nach Wahrheit, womit sie beschäftigt waren, der geistigen Revolution nicht gewahr wurden, die sie hervorbringen halfen. Allein für die Geschichte des Gedankens bleibt doch der Mann, der die neue Methode zuerst mit dem vollen Bewußtsein von der Wichtigkeit des darin ausgesprochenen Princips verkündete und formulirte, der Repräsentant des Zeit alters. Es ist heutzutage, wenigstens auf dem Continent, Mode, auf Bacon herabzusehen, weil er ein mittel mäßiger Beobachter und zuweilen ein kindischer Experi
mentator, em wenig auch, weil er ein glänzender Schrift-
13 stelln war und unsere Zeit nun einmal schöne Sprache mit einem gewissen Mißtrauen ansieht. Es ist jedoch nicht mehr als billig, zu bedenken, daß Bacons ganze
Erziehung noch der rhetorischen Periode angehörte, daß seine innerste Natur künstlerisch angelegt war, und vor Allem daß, wenn er die Wisienschast durch seine Ent deckungen nicht sonderlich gefördert hat, er sie durch Auf
stellung der neuen Methode um einen gewaltigen Ruck vorwärts brachte. Man könnte sagen, erst von da an sei der Boden gewonnen worden, auf dem sich der methodische Empirismus frei bewegen konnte. Nicht nur
daß Hobbes von Bacon ausgeht, auch Alles, was Eng land auf dem Gebiete der Naturphilosophie von Harvey bis Newton entdeckte. Alles, was es an psychologischer Philosophie von Locke bis Hume hervorbrachte, wäre unmöglich gewesen, wenn das Novum Organon nicht die Gesetze der exacten Methode aufgestellt hätte.
Die neuen Errungenschaften wären gleichwohl un möglich gewesen, hätte nicht England damals den prote stantischen Glauben aufrecht erhalten. Das traurige Loos Keplers, G. Brunos und Galileos hätte auch jene kühnen Ringer nach Wahrheit getroffen, wenn sie nicht auf protestantischem Boden gelebt hätten. Die drei größten Denker des Continents im mathematischen Zeit alter — Descartes, Spinoza, Leibniz — konnten ihr Werk nur deshalb vollenden, weil sie den größten Theil
ihres Lebens in protestantischen Ländern verbrachten. Wenn der
englische
Empirismus* eine Reaktion
1 Unter Empirismus vei stehe ich den Geist des 17. Jahr hunderts, d. h. die mechanische und mathematische Erklärung der Natur, wie sie unternommen und in ausgedehntem Maße durchgeführt wurde.
14 gegen die spanische Dogmatik war, wie die
spanische
Dogmatik eine Reaktion gegen den italienischen HumaniSmus gewesen, so war der französische Rationalismus, der
im folgenden
Jahrhundert
die Oberherrschaft
führte,
eine Fortsetzung -er intellektuellen Strömung in England,
keine Opposition gegen dieselbe.
Eine Art Ansteckung, die
sich den Franzosen mittheilte, trieb ihre ausgezeichnetsten Genies, von
Saint-Evremond bis Montesquieu, von
Voltaire bis Buffon und selbst Rousseau, einen um den
andern über den Canal, und noch vor der Ueberfahrt waren sie zu Newton und Locke in die Schule gegangen. die Führung übernommen,
Kaum hatte Frankreich
so
gab es der Bewegung jenen eigenthümlich französischen, logischen Charakter, der gerade auf das Ziel losgeht und
nie vor den letzten Schlüffen zurückbebt. englischen
Denker
des
begnügten sich damit,
vorhergehenden
Die großen
Jahrhunderts
Dinge und Facta zu studiren,
ohne Folgemngen, welche allzu gefährlich werden konnten, daraus zu ziehen, oder gar sie auf Religion und Politik anzuwenden.
Locke selbst hielt in tiefster Ehrfurcht vor
der Offenbarung und dem Throne inne. Franzose«.
Nicht so die
Ihre rationalistische Geistesrichtung und ihr
ungeduldiges Temperament führten sie sogleich zu dem Ertrem,
Kirche
und
Staat derselben
Untersuchungs
methode zu unterwerfen, die mit so großem Erfolg auf Natur und Geist angewandt worden war.
Aber Logik
und Leidenschaft trieben sie viel weiter als sie anfangs beabsichtigten und ließen sie häufig jene geduldige Beob
achtung und sorgfältige
Vergleichung
der
Thatsachen
vergessen, die so außerordentliche Resultate in England
erzielt hatte.
Schon Descartes — in dieser Hinsicht ein
15 echter Franzose — hatte sich sogleich mit der mechanischen
Erklärung der Dinge zufrieden gegeben, indem er das Thier zu einer Maschine machte, und da er im Grund
des Herzens Spiritualist blieb, wollte es ihm
nie ganz
gelingen, die beiden Welten von Stoff und Geist zu ver
söhnen.
Die Franzosen von Bayles Schule — ich sage
nicht Bayle selbst — wußten von keinen solchen Hinder nissen.
Sie erkannten
Ziel war einfach
die
gar keine Autorität
absolute Losreißung
Convention und aller Autorität.
an.
Ihr
von
aller
Ohne es zu merken,
verfielen sie wieder in den Autoritätsgeist, gegen den sich die englische Reaktion gerichtet hatte.
nicht mehr die
Nur waren
Offenbarung, noch die Tradition ihre
Autorität, sondern die Sinne und die menschliche Ver nunft — die menschliche Vernunft unabhängig, wenn
nicht von natürlichen, wenigstens von historischon Facten. Sie träumten entweder von politischen Constitutionen, die nicht die Resultate der Geschichte, d. h. widerstreiten
der Interessen, sondern einer allgemeinen, abstrakten, vorge
faßten Idee von Staat und Gesellschaft sein sollten; oder von einem Naturrecht, das an Stelle der ererbten Gesetzbücher
und Gewohnheiten treten sollte, ebenso wie sie von einer natürlichen oder vielmehr rationellen Religion träumten,
die als ein schüchterner Deismus, — sehr ähnlich dem Tolands und Clarkes, — begann und mit der Throner
hebung der Göttin der Vernunft oder der völligen Verleug nung jener Welt des Geistes endigte, von der Descartes keine
Brücke in die Welt des Stoffes zu schlagen gewußt hatte. Was auch immer die verhängnißvollen Folgen dieser
Methode für Frankreich gewesen sein mögen — obwohl
sie durch ihre wohlthätigen Resultate reichlich ausgewogen
16 sind — die Methode selbst bewirkte die Befreiung Europas,
des Menschengeschlechts. Es scheint, daß es die historische Mission Frankreichs war, jedenfalls war es Frankreichs Verdienst, das nie genug «anerkannt werden kann, die Axt schonungslos an dieses Dickicht intellektueller Con ventionen gelegt und uns den Weg geebnet zu haben. Freilich konnte nicht mit allem aufgeräumt werden — das war nicht einmal wünschenswerth — und ein guter Theil des abgeholzten Reisigs ist wieder ins Laub geschaffen. Doch war es das erste Mal in der Geschichte, daß man die Dinge im Licht der Vernunft zu betrachten und zu ordnen wagte. Viele nationale Eigenschaften hatten gerade Frankreich zu dieser Aufgabe befähigt, viele Um stände halfen dazu, daß eS seine Mission mit sofortigem Erfolge erfüllte. Die Klarheit des französischen Geistes, die sich in der französischen Sprache offenbart; die geographische Lage des Landes zwischen England, Spanien und Deutschland; die polittsche Hegemonie über Europa, die es unter Ludwig XIV. erlangt; der weittragende Ein fluß, den es bereits durch seine poetische LUeratur er worben; und last, not least, die Einfachheit des neuen Bekenntniffes, das auf das allgemeinste'Charakteristikum des Menschen, den gesunden Menschenverstand, gegründet und durch das verführerischste aller Instrumente, die Logik, durchgeführt war — das Alles trug dazu bei, Frankreich die Aufgabe zu erleichtern. Dies erklärt auch, warum die französische Idee sich
mit solcher Blitzesschnelle in Europa Bahn brach. Ge wöhnlich beginnt sich der intellektuelle Einfluß einer Natton erst dann im Ausland zu verbreiten, wenn ihr Werk nahezu vollbracht ist. Italien hatte schon sein
17 Bestes geleistet, als gegen den Anfang des 16. Jahr
hunderts sein Denken und seine Werke das übrige Europa zu beeinflussen begannen.
Jahre später ging
Aber noch mehr als hundert
Europa nach
Rom,
Bologna und
Neapel, als schon VelaSquez und Murillo, Poussin und
Claude, Rubens und Van Dyk im Stande waren, ihre Lehrer zu lehrm. land der Fall.
Dasselbe war bei Spanien und Eng
Ebenso ist es mit Deutschland, das schon
um 1850 mit seiner originellen und schöpferischen Arbeit fertig und beinah zu Ende war, indeß die Welt es noch
heute als das Gedantenlaboratorium für Europa ansieht.
Frankreich ist vielleicht das einzige Land, das seine geistigen Waaren sogleich exportirte, sogar noch ehe der ganze Vor rath beisammen und bereit lag.
Die Zeit Voltaires und
der Encyklopädisten war auch die Humes und Gibbons.
Es war Deutschland vorbehalten, gegen bett allzu absoluten Gedanken Frankreichs zu protestiren und das
Restaurationswerk auf einer festeren Basis zu beginnen als die, welche Spanien zwei Jahrhunderte früher zu legen versucht hatte.
führlicher Aufgabe
Es wäre interessant, etwas aus
darzustellen, wie Deutschland sich auf diese vorbereitete,
wie
Resultate erzielt wurden.
es
sie
vollbrachte,
welche
Um dies richtig darzustellen,
müßte man indeß nachweisen, wie es einen Theil seiner
intellektuellen Freiheit England verdankte, wie es ohne Frage von dort her den Anstoß zu seinem eigenen Schaffen
empfing, wie es Philosophie und Geschichte erneuerte
und verschiedene neue Wissenschaften schuf, die seitdem ihren Platz unter den Errungenschaften des menschlichen Geistes eingenommen haben.
Es genüge zu constatiren,
daß, ebenso wie der französische Rationalismus, Hillebrand, CulturgeschichtlicheS.
2
der
18
englische Empirismus, die spanische Dogmatik und ber
italienische Humanismus seit lange integrirende Bestand theile der geistigen Verfassung Europas sind, so Deutsch
land ein für allemal die Idee des „Organismus" dem europäischen Denken zugebracht hat.
Wir können in der-
That weder den Homer im selben Geiste lesen, wie unsere
Vorväter ihn
lasen
ehe Wolff seine „Prolegomena“
geschrieben, noch die Natur mit denselben Augen ansehen,
wie wir sie vor Newtons „Principia“ angesehen hätten, den Staat wie vor Montesquieus „Esprit des lois.“
Wir haben ein
gemeinsames Kapital von Ideen,,
an welchen wir Alle zehren, in denen wir leben, oft ohne uns dessen recht bewußt zu sein.
Lassen wir selbst den.
gläubigsten Katholiken sich fragen, ob er die Geschichte
der Menschheit noch so ansehen könnte, wie es der
Thomas und der hl. Dominikus thaten, ehe die italienische Renaissance gleichsam den Zusammenhang der Geschichte
hergestellt und den Abgrund ausgefüllt hatte, der die Menschheit entzwei schnitt.
Wer könnte wohl heutzutage
öffentliches und private» Leben mit derselben grundsatzlosen Naivetät betrachten, wie die Zeitgenossen Macchiavellis,.
ehe Spanien das AutoritätSprincip wieder hergestellt hatte? Wer könnte ferner nur einen Augenblick die physikalischen Entdeckungen de» 17. Jahrhunderts vergessen und sich
die Erde, wie Dante, als den Mittelpunkt der Schöpfung denken?
Und ist es nicht mit unsern polittschen und
philosophischen Ansichten dasselbe?
Hat die Anwendung
der französischen rationalistischen Methode nicht unsern Geist neu gemodelt?
Könnten wir noch, selbst wenn
wir wollten, das göttliche
Recht der Monarchie oder
die Offenbarung so ansehen wie Boffuet und Fönölon?
19
—
Nun hat etwas Analoges seit Voltaires und Rouffeaus Tode stattgefunden.
Ein anderer neuer Gedanke ist inte-
grirender Bestandtheil des europäischen Geistes geworden. Hume könnte ebensowenig seinen Essay über „National
Character“ heute schreiben, wie Augustin Thierry im
vorigen Jahrhundert seine „Conquete d’Angleterre“ hätte verfassen können, oder irgend jemand in unserer Zeit Voltaires „Pucelle“. Warum? Weil nicht nur in Philo
sophie und Ethnographie Entdeckungen gemacht worden sind, welche eine Erklärung historischer Facta, wie sie Hume und Gibbon gaben, thatsächlich nicht mehr zulassen, sondern auch eine neue Idee in die Welt geworfen ist, die unsere ganze Denkweise von Grund aus modifizirt
hat.
Diese Idee nun ist es, welche in Deutschland von
der zweiten Hälfte dös vorigen bis zur Mitte dieses
Jahrhunderts ausgearbeitet worden ist — und in so
engem Zusammenhang diese Arbeit mit dem deutschen poetischen Schaffen und dem eigentlichen Philosophiren während dieser Zeit steht, so darf sie doch nicht damit
zusammengeworfen werden. Es handelt sich weder um den literarischen Geist, noch um die metaphysische Spekulation, noch um die wissenschaftliche Thätigkeit der Natur, sondern
um
den
allgemeinen
Gedankengang und Standpunkt,
welchen die Deutschen für sich geschaffen und in diesen siebzig, achtzig Jahren der europäischen Cultur eröffnet
und zugebracht haben;
schauung
solch
eine
allgemeine Weltan
wird aber nur mittelbar durch Poesie und
eigentliche Wissenschaft beeinflußt.
Poesie ist eine Kunst
und als solche dem Gesetz des Fortschritts nicht unter
worfen: somit steht sie eigentlich außerhalb der Geschichte . als etwas Absolutes, Ewiges.
Die Ilias ist heute so 2*
20 wahr wie vor dreitausend Jahren, da der Hauptgegen
stand der Poesie 'bet unwandelbare Theil der Menschen Nicht so die Wissenschaft, der Gedanke,
natur ist. Politik.
die
Diese unterliegen dem Gesetz der Entwicklung.
Wenn wir bei Dante von Francescas Liebe und Pias Tod lesen, ergreift es uns, wie es seine Zeitgenossen ergriffen
haben mag; wenn er uns aber seine KoSmographie aus
einandersetzt, so lächeln wir und schlagen vielleicht il suo
volume zu.
Hier sprechen wir also von zwei verschiedenen
Thätigkeiten des menschlichen Geistes, die zuweilen in verschiedenen Generationen und Ländern, zuweilen gleich zeitig und am fetten Ort an der Arbeit sind.
Englands
philosophisches Tagewerk begann erst nach Shakespeare, Frankreichs nach Meine und Molidre, wogegen in Spanien Calderon und Cervantes die Zeitgenossen von Suarez
und Molina waren, und in Deutschland Goethe und
Schiller
zugleich mit Kant und Wolff, Humboldt und
Niebuhr lebten.
Dieser scheinbar zufällige Umstand hat
eine wichtige Folge.
Wenn Poesie und Philosophie, gleich
zeitig wirken, so durchdringen sie einander, in mancher Beziehung zu ihrem gegenseitigen Vortheil, zu ihrem
großen Nachtheil in anderer.
Der Geist von Calderons
Poesie ist auch der Geist Ignatius Loyolas, bei Schiller hören wir das Echo von Kants Moralphilosophie.
Die
große Literatur der Franzosen dagegen — die Redekrast Boffuets und der Enthusiasmus Corneilles — drückt eine
Weltanschauung aus, die jenem Geist des 18. Jahrhunderts, den die Welt par excellence den französischen Geist nennt,
in manchen Punkten geradezu entgegengesetzt ist.
Ich
könnte von Shakespeare reden, für dessen klares, tiefes Auge es kein Gestern noch Morgen, kein Hier noch Dort
31 giebt, ohne nur zu erwähnen, daß er ein Zeitgenosse Bacons ist; aber ich könnte nicht von Goethe sprechen,
ohne daran zu erinnern, daß er ein Freund Herders,
ein Leser W. von Humboldts war. Noch eine andere Thatsache von großer Bedeutung ist der politische Zustand Deutschlands während der Aus-
arbeitung seiner Weltanschauung und die Wirkung dieser Weltanschauung auf die fernere Umgestaltung des deutschen
Staates.
Die große Periode, in welcher die Geistescultur
Deutschlands aufgebaut oder wenigstens vollendet wurde,
war die Zeit, wo die alte deutsche Gesellschaft fich auf
löste und das politische Leben in völligem Verfall war. Ist es möglich, gleichzeitig im öffentlichen Leben und in
wiffenschastlicher und spekulativer Thätigkeit groß und fruchtbar zu sein?
Aristoteles
den
Wenn wir denken, daß Plato und
Grund
zu
aller
wahren
und
hohen
Philosophie in der Periode des Verfalls legten, welche
auf jene Epoche gefolgt war, die man den griechischen
Bürgerkrieg nennen könnte; wenn wir die politische Ent zweiung und das Elend Italiens zur Zeit der Renaiffance
betrachten; wenn wir England während der keineswegs ruhmreichen Zeiten Jakobs I. und Karls II. auf das
thätigste zu dem intellektuellen Reichthum Europas bei steuern sehen; wenn wir beobachten, wie Frankreich die Welt durch Voltaires und Rouffeaus Feder regiert, die Missionäre seines Geistes nach Petersburg und Neapel, nach Kopenhagen und Lissabon schickt und gleichzeitig bei
Roßbach geschlagen, zum Frieden von Aix-la-Chapelle
und dem von Versailles gezwungen, und aus Indien
und den Colonien vertrieben wird; wenn wir daran denken, wie Deutschland seinen Kant und Herder zur Zeit.
22 der äußersten Ohnmacht und Hilflosigkeit, ja der Fremd
herrschaft hervorbrachte: so könnten wir versucht sein, zu glauben, daß vielleicht die beiden Thätigkeiten unverträg
lich oder wenigstens nur ausnahmsweise verträglich seien.
Und warum sollte es anders sein?
die verschiedenen Fähigkeiten des
Müssen nicht
menschlichen
Geistes
von Zeit zu Zeit ausruhen und einander ablösen, wenn die Quellen nicht vor der Zeit versiegen sollen?
Es hat
religiöse Zeitalter gegeben, wie die ersten Jahrhunderte
unserer Aera und das 16. Jahrhundert, die ganz und gar auf das Schaffen und Definiren religiöser Dogmm
gerichtet waren, deren Eifer nur den
religiösen Fragen
und Jnteressm galt; und darauf folgten verhältnißmäßig stille Perioden, wo die Menschheit,
der theologischen
DiScussionen müde, gleichgültig gegen religiöse Gegen stände, ruhig die vorhandenen Formen der Religion hin nahm und'darin verharrte.
Die Welt hatte vier Jahr
hunderte vor Christus ein großes künstlerisches Zeitalter gesehen, das durch Hunderte von Jahren sich langsam vorbereitete und nach einer kurzen glänzenden Blüthezeit
durch Hunderte von Jahren langsam ausstarb.
Dann
lag die Gabe der künstlerischen Intuition eine lange, lange Zeit schlafend, bis sie gegen Ende des Mittelalters
langsam erwachte und im 15. Jahrhundert zu einem
kurzen, doch leuchtenden Aufblühen kam, nur um wieder
eines langsamen Todes hinzusterben, der, wie ich fürchte, jetzt nahezu völlig eingetreten ist.
Doch muß ich hier
aufs neue warnen, daß man meine Worte nicht allzu
buchstäblich nehme.
Es hat ausgezeichnete Staatsmänner
wie Richelieu in wissenschaftlichen, religiöse Apostel wie
Savonarola in künstlerischen Zeitaltern gegeben: so können
23 auch in unserer Zeit ausgezeichnete Künstler auftauchen — aber sie wirken als vereinzelte Individuen. Warum sollte nicht die Befähigung für politisches
und wiffenschaftliches Leben zuweilen brach liegen, da die religiöse und die künstlerische Fähigkeit solcher zeitweiligen Pause bedürfen? Warum sollten sie nicht alle abwechS-
lungsweise ausruhen? Warum sollten wir vor allem darüber streiten, welche Größe mehr werth sei, die Voltaires ober die Napoleons, die Newtons oder die Cromwells? Ueber diese Fragen werden sich die Menschen niemals einigen, denn es handelt sich hier um keine Meinungsver schiedenheit, sondern um eine Verschiedenheit des Tempe raments und Charakters. Nur den einen Punkt wird man zugeben müssen. Wenn eine Nation instinktiv oder mit Bewußtsein fühlt, daß ein Tagewerk vollbracht ist, und sich an das nächste begiebt, so taffe man sie gewähren und wolle nicht klüger sein als Geschichte und Natur. Wenn eine Nation sich eine Zeitlang darein versenkt, eifrig und vielleicht ungeschickt ein neues Haus zu bauen, in
dem sie unbehelligt und ihrer eigenen Natur und Geschichte -gemäß wohnen kann, so taffe man sie gewähren und
verlange nicht vom Mannesalter den Flaum der Jugend, moch vom Sommer die satten Farben und reichen Früchte des Herbstes. Das alles sind im Grund eitle Fragen — ungefähr so, als wollte man dem Apfelbaum vorwerfen, daß er keine Orangen trägt. Wenn die Nation, welche die intellektuelle Führerschaft Europas an eine andere Nation abtreten mußte, weil sie dringendere Arbeit zur Hand hatte — vielleicht auch weil sie müde war und eines Wechsels bedurfte — sich von dem geistigen Leben -Europas zurückzieht, wie Spanien im 17. und 18. Jahr-
24 hundert, wird sie eine schwere Strafe zu zahlen haben.
Wenn sie dagegen fortfährt, an der geistigm Bewegung Europas theilzunehmen, wie es England im 18. und
19. Jahrhundert that, so kann sie überzeugt sein, daß
sie
eines
Tages
die
Führerschaft
zurückerlangen
und
früher oder später, wäre es auch nur auf kurze Zeit,
den
ersten Platz
im
geistigen • Laboratorium
Europas
wieder einnehmen wird.
Wer aber als Betrachter solch einem Gegenstände, wie es der Beitrag einer Nation zu Europas gemein schaftlichem Gedankenschatze ist, gerecht werden will, der
wird
wohl daran
thun,
sich alles Parteigeistes, des
nationalen wie des politischen und religiösen zu entäußernDer Parteigeist hat seine rechte Stelle im praktischen
Wenn es sich darum handelt, unsern Glauben
Leben.
oder unser Vaterland zu- vertheidigen, gewisse positive Zwecke zu erreichen, die einzig durch disciplinirte GesamAI-
kräste erreicht werden können, so wollen und sollen wir zu einer Partei gehören und bei ihr bleiben usque ad
mortem.
Aber wenn wir es versuchen, die Geschichte der
Menschheit zu verstehen und ihre gehetmnißvollen Bahnen zu erkunden; ja, sobald immer wir einen Boden betreten,
wo jene praktischen Interessen nicht bedroht sind, wo
kein Kampf, kein Streit waltet, wo wir einfach mitein ander zu leben, einander
zu kennen, höchstenfalls ein
ander zu beurtheilen haben, — ha wollen und sollen wir solche
unliebsamen Unterscheidungen vergessen und ein
ander, behandeln, als ob wir alle zu einer Nation, einer Partei, einem Glauben gehörten.
Hülm wir uns, an
Völker oder Thatsachen oder Ideen mit einem vorgefaßten Urtheil heranzutreten oder sie argwöhnisch nach ihrem
25 Paß zu fragen, anstatt sie auf ihren inneren Werth zu
prüfen.
Hüten wir uns, Menschen und Thatsachen und
Ideen zu verdammen oder heilig zu sprechen, weil sie russischer oder italienischer Herkunft sind, eine katholische
oder
protestantische
Aufschrift
tragen,
aus
servativen oder liberalen Lager kommen.
nichts anderes als Barbarei
sein
—
dem con-
Dies würde
eine Barbarei,
welche, so fürchte ich, die Menschheit mehr und mehr in
ihre Gewalt bekommen wird,
in dem Maße als die
politische Demokratie mit ihrer oberflächlichen Aufklärung
und wissenschaftlichen Halbcultur vorschreitet.
Je größer
die Zahl derer wird, welche am politischen Leben theil-
nehmen, desto mehr wird die politische, religiöse, nationale Leidenschaft der Gerechtigkeit, Billigkeit und Gutmütig
keit den Garaus machen.
Denn ein Jeder, der sich in
die Knechtschaft der Parteibande begiebt, muß noth wendiger Weise einen Theil der Wahrheit, die er kennt, einen Theil seiner moralischen und intellektuellen Freiheit, einen Theil seiner selbst opfern.
Auf der anderen Seite
wird bei Denen, welche sich von solchen Leidenschaften
frei machen, um die Dinge mit eigenen Augen zu sehen, nach eigenem Sinn zu beurtheilen, die Liebe zur Wahr
heit in demselben Maße an Kraft zunehmen, als ihre Zahl gering ist.
Geben wir uns wenigstens die Mühe,
zu diesen'wenigen zu gehören; denn sie sind nicht allein
die einzigen Freunde der Wahrheit, sie sind nicht allein die einzig freien Geister, sie allein sind auch die wirklich
Gerechten. Und was immer unser verweichlichtes Zeitalter
behaupten mag, Gerechtigkeit ist noch das, wird immer dar das sein, wofür Plato und Aristoteles sie erklärten,
die höchste und männlichste aller Tugenden.
II.
Zur Entwickelungsgeschichte der abendländischen Gesellschaft. Das Wort Gesellschaft wird in verschiedenem Sinne
gebraucht.
Die StaatSwiftenschast meint damit die Ge
meinschaft der staatlich verbundenen Menschheit; in der
Unterhaltungssprache gereifter vornehmer Kreise in Paris
und London bedeutet das Wort eine Verbindung von Sippschaften, deren Hauptsorge es ist, ihre Thüren ge schlossen zu halten, damit sie das wichtige Geschäft des
SichamüstrenS unter sich betreiben können.
Hier soll
weder von Rousseau's Gesellschaft, noch von der haupt städtischen Societät die Rede sein; sondern von der Gesammt
heit der Stände, welche die Träger jeder nationalen Cultur find, diese eigentlich erst produciren und auch vorzugsweise
consumiren, der Stände, welche der nationalen Thätig keit vorstehen, Staat und Religion, Handel und Gewerbe,
Literatur und Wissenschaft leiten,
kurz, jener ganzen
Schicht der Nation, die man in Deutschland bezeichnender
Weise „die Gebildeten" zu nennen pflegt.
Der Charakter
und der Habitus dieser Gesellschaft hat sich bei den ver schiedenen Nationen zu
verschiedenen Zeiten festgesetzt,
unterm bestimmenden Einfluß hier dieser, dort jener be stimmenden Classe, unterm Vorherrschen bald des einen.
27 bald des anderen Jntereffes.
Es ist offenbar von nicht
geringer Bedeutung, ob eine nationale Gesellschaft sich
im
16. oder im 18. Jahrhundert constituirt hat, ob
Bürgerthum oder Waffenadel dabei die ausschlaggebende Rolle gespielt, ob sie sich
unterm Princip der Kunst
oder der Religion, des Staats oder der Wiffenschast ge bildet hat.
Es dürfte von Jntereffe sein, diesem ver
schiedenen Entwickelungsgang bei verschiedenen Nationen zu folgen, wäre es auch nur auf der Hauptstraße und
ohne unterwegs zu verweilen, oder gar in die hundert Seitenwege einzubiegen, die von allen Seiten laden. I.
Das Mittelalter kannte keine nationale Gesellschaft. Sein ganzer Geist war ein universeller: die Religion,
die Wissenschaft, ja selbst die Staatsform war eine und
dieselbe in Europa;
sogar
in der Literatur war der
Stoff wenigstens ein allen Nattonen gemeinsamer.
Auf
der anderen Seite war jede . Nation gespalten in streng
abgeschlossene Stände.
Das Bürgerthum stand der Geist
lichkeit, diese dem Ritterthume unvermittelt gegenüber;
und die Dialekte hinderten den geistigen Verkehr zwischen
Provinz und Provinz, oder nöthigten wieder zum Ge brauch des Latein, d. h. eines universellen Werkzeugs, welches die Aeußerung des Nationalgeistes
kommen ließ.
kaum
auf
Erst mit der Renaissance begannen natio
nale Gesellschaften sich zu entwickeln: denn erst mit der Renaissance begannen die europäischen Völker sich wirklich
in Nationen zu gliedern, diese ihre sprachliche und staat liche Einheit auszubilden, begannen die gebildeten Stände
sich einander zu nähern, Gedanken und Gefühle auszu-
28 tauschen, mit einander zu handeln, zu leben, sich für ge meinsame Interessen zu erwärmen. Italien war hier allen Nationen voraus, wenn es auch noch keinen Nationalstaat bildete, wie die geeinten Reiche von Spanien, England und Frankreich am Ende des 15. Jahrhunderts. Aber es fühlte sich feit dem letzten deutschen Römerzuge als. eine unabhängige Nation, wie einst Griechenland den Barbaren gegenüber.. Seine Schriftsprache war schon ein Menschenalter früher als solche anerkannt von den Alpen bis zum Paffaro; vor Allem die Standesunterschiede unter Gebildeten hatten fast ganz aufgehört, als die Wiederbelebung des classischen Alterthums ihnen Allen ein gemeinsames Interesse gab. Es war aber nicht das Heer, noch die Geistlichkeit, es war der Bürgerstand — i popolani grassi —, ins besondere der handeltreibende Bürgerstand, welcher die anderen Stände an sich heranzog, in sich aufnahm, oder sie doch mit seinem Geiste tränkte. Die italienische Ge sellschaft war eine städtische, und sie ist es geblieben.
ES waren die Städte, welche im geistigen, wie im staatlichen Leben im Vordergrund standen: Mailand- und Gmua, Venedig und Florenz, Bologna, Pisa, Siena, Perugia. Einige unter ihnen warm im 15. Jahrhundert und bis in den Beginn des 16. europäische Großmächte, etwa von der Bedeutung der Niederlande im 17. Jahr hundert. Und in den meisten dieser Städte hatte der großhandeltreibende Bürgerstand schon frühe dm Waffmadel dmtschm Ursprungs überwältigt, sich selber der
Herrschaft bemächtigt: wer weiß nicht aus Dante's Bei spiel, daß in Flormz kein Adliger am Staatswesen theilnehmen durste, der sich nicht vorher mtadelt, einer Zunft
29 hatte zuschreiben
lassen?
Und die Heere, mit denen
jene Staaten ihre unblutigen Schlachten schlugen, waren
Wenig angesehen,
keine Pflanzschulen eines neuen Adels.
aus niederem Volke rekrutirt, von geringem Einfluß auf
den Staat, blieben sie stets im Verhältniß der Abhängig keit zu den Stadtherren.
Selbst wo ihre Generale —
meist Männer gemeiner Herkunft — sich gegen Ende jener
Zeit der Gewalt bemächtigten, wie die Sforza in Mai land, bildeten ihre Officiere keinen Waffenadel, der die
Gesellschaft der Städte beherrscht hätte.
Aehnlich war's
Bei der allgemeinen Verweltlichung
mit der Geistlichkeit.
der Bildung war ihr Einfluß ein geringer, auch gesell
schaftlich war sie in keinem Sinne tonangebend, genoß
keiner privilegirten Stellung, keiner besonderen Verehrung. Sie ging eben wie alle anderen Classen im Bürgerthume
auf, aus dem sie , auch meist hervorging: war ein Prälat besonders angesehen, so war's seine Gelehrsamkeit, seine Persönlichkeit, seine Verbindung mit bedeutenden Bürgern, nicht seine geistliche Würde, welche ihm dieses Ansehen
verschafften.
Wer sich im Staate, in der Literatur, der
Kunst hervorgethan, gehörte fast ausschließlich dem Bürger stande
an:
Petrarca
war
der
Sohn
eines
Notars,
Boccaccio der eines Kaufmanns, Macchiavelli, Guicciar-
dini waren bürgerlicher Herkunft.
Auch nachdem sich
oder Gruppen
von
Familien zu Oligarchien ausgebildet, fuhren sie
fort
einzelne
Familien
zu Dynastien,
Handel zu treiben, nicht immer zum Vortheil des Staates,
den sie zugleich verwalteten, und das Verhältniß zu den thatsächlichen Unterthanen blieb in der Form das von Mitbürgern zu Mtbürgern. Freund
als
Cosimo de' Medici war mehr
Beschützer Donatello's und Brunelleschi's,
30 und der Umgang seines Enkels Lorenzo mit den Pnlci und Angelo Poliziano war auf dem Fuße vollständiger Gleichheit. Es waren doch eben keine fremden Eroberer, wie anderswo und früher in Italien selber, noch hatten ihre
Vorfahren seit unvordenklichen Zeiten ein getrenntes, unnahbares Dasein geführt. Man war mit einander aufgewachsen, hatte Geschäfte miteinander gemacht, die Fiction, daß die Herren nur unter Zustimmung des gesammten Volkes herrschten, ward noch aufrecht erhalten. Daher der Ton vollständiger Gleichheit, der in diesen Kreisen galt. Und nicht nur in Florenz, selbst in Ferrara, dem einzigen Staate Oberitaliens, deffen Fürsten noch dem
Adel der Eroberer angehörten, herrschte ein solcher Ton, wenn auch weniger frei. Das Beispiel der Städte wirkte eben durchaus bestimmend. Und diese demokratische Gleich heit hat sich, äußerlich wenigstens, bis auf unsere Tage erhalten. Nirgends bestehen im täglichen Verkehr weniger konventionelle Formen als in Italien, man sucht sie nur bei großen Staatsangelegenheiten hervor; im übrigen Leben herrscht ein vertrauliches Sichgehenlaffen, das bei dem durch uralte Cultur gezüchteten Volke selten in Un schönheit ausartet. Natürlich aber auch hatte und hat diese italienische Gesellschaft, trotz allen Mutterwitzes, aller Heiterkeit und natürlichen Anmuth nicht den Reiz, den die französische, die spanische, wie wir sie aus den
Lustspielen und Romanen des 16. Jahrhunderts heraus lesen, in so hervorragender Weise besitzen und der darin besteht,' sich innerhalb conventioneller Formen frei zu be wegen, dieselben geschmeidig und sich dienstbar zu machen,
die Persönlichkeit trotz ihrer zur Geltung zu bringen. Alles zu sagen, ohne sie zu verletzten, woraus denn ein
31 höheres Spiel wird, das seine Gefahren wie seine Vor
züge hat, und von der bequemen Gemüthlichkeit so ferne ist, als das Sonett vom Knittelvers.
Knittelverse wie
die des „Faust" und des „ewigen Juden" sind freilich
alle Sonette Petrarca's werth;
aber selbst ein Goethe
wagt nicht immer sich ihnen zu überlassen und greift
selber zum Sonett: fühlt er doch sehr wohl, daß eben „wenn sich
die Geister gar gewaltig regen", die Be
schränkung sich lieben lernt.
Im Grunde aber ist es
„so mit aller Bildung auch beschaffen."
Jene gesellschaftliche Gleichheit, die keine Oberen
anerkannte, wenn sie sie auch thatsächlich gewähren ließ, war in Italien des 15. Jahrhunderts mit einer seltenen Einheit der Bildung verbunden.
Nicht länger waren die
Menschen getheilt in Kaufleute, Staatsmänner, Gelehrte,
Künstler: jede Specialität erwuchs auf dem Boden ge
meinsamer Bildung.
Wer kann sagen, was einen Niccolö
da Uzzano mehr in Anspruch nahm, sein Wollengeschäst, die Staatsangelegenheiten, welche der Kreis ihm ver
bündeter Familien noch leitete, die Arbeiten seines Freundes Donatello oder die Universität (studio), die er auf eigene
Kosten zu gründen unternommen?
Selbst die Frauen
nahmen vollen Antheil an dieser Bildung und dieser Ge
sellschaft. nahme.
Noch war die klösterliche Erziehung eine Aus
Die Patriziertöchter wurden mit den Brüdern
gemeinsam daheim unterrichtet im Griechischen, Lateini schen, der Mathematik.
So gähnte nirgends die Kluft,
die heutzutage die Geschlechter trennt, und der moderne
Blaustrumpf konnte nicht aufkommen: er ist ja ein Product des unnatürlichen Zustandes, welcher die Frauen von der
Männerbildung ausschließt, diejenige, welche sich diese
—
32
—
Männerbildung auf eigene Hand erwirbt, in ihrem Ge
schlecht vereinzelt, sie so als „unweiblich" erscheinen läßt
und wirklich „unweiblich" macht.
Recht im Gegentheil
war, wie Janitschek schön sagt, beit Frauen der Re naissance „die Bildung der Zeit nur zum Werkzeug ge
worden,
das
weibliche Naturell zu
glänzendster
Ent
faltung zu bringen . . ., nicht Ergebniß äußerer, con-
ventioneller Erziehung, sondern Harmonie, die aus einem
Zusammenwirken aller Kräfte der weiblichen Natur her vorgeht."*
Wohl mochte Ariosi von seiner Zeit rühmen:
Ben mi par di veder eh’ al secol nostro Tanta virtü fra belle donne emerga, Che puö dar opra a carte ed ad inchiostro. Perche nei futuri anni si disperga.
Denn sie sind zahlreich, jene hochgebildeten Frauen
des 15. Jahrhunderts, welche an der Unterhaltung, den geistigen Genüffen, den Geschäften sogar der Männer
vollen Antheil nahmen; aber es ist keine darunter, die
darum aufgehört hätte ganz Frau zu sein.
Man denke
an Lucrezia Tornabuoni, die Dichterin und Dichterfreundin,
die Mutter Lorenzo'S de' Medici, welche selbst die Er ziehung des begabten Sohnes geleitet, dem großen Hause, • Hubert Janitschek: Die Gesellschaft der Renaissance
in Italien und
die Kunst.
und geistreiches, auch
trefflich
Stuttgart 1879;
geschriebenes Büchlein,
ein gelehrtes
das
leider
durch manche Nachlässigkeit verunziert wird; so macht der Verfasser
auS Lucrezia Tornabuoni die Frau Lorenzo'S il Magnifico, dessen Mutter sie war; daS Wandgemälde Mantsgna'S in Mantua stellt nicht den „Musenhof" Jsabella's d'Este dar, sondern den Barbara'S
von Hohenzollern und ihres Gemahls; Sta. Maria del Fiore wird
Sta. Liperata statt Sta. Reparata; der ehemalige Ministerpräsident Marco Minghetti wird Carlo Minghetti re.
33 dessen Chef Piero fast immer leidend war, sorgsam und
klug vorstand, und man lese den reizenden Brief, in welchem sie die Schönheit ihrer künftigen Schwiegertochter, Clarice Orsini, mit weiblichem Kennerauge analysirt.
Ist sie nicht Weib in Allem? Die Weise wie Sandro Botticelli die junge Albizzi, auf den herrlichen Fresken der Villa Lemmi bei Florenz, mit Pico della Mirandola in Verbindung bringt, beweist doch wohl, — wenn auch kein Chronist oder Briefschreiber der Zeit uns über die Optimatentochter eine jener Notizen gebracht, deren wir
so viele über Andere ihres Gleichen besitzen, — daß der schöne Wunderjüngling, der alles Wißbare seiner Zeit wußte, ein Hausfreund und Gespiele des holden Mädchens war. Und außerhalb Florenz — blieb nicht Caterina Cornaro, auch nachdem sie ihre cyprische Krone nieder gelegt und wieder eine einfache venetianische Patrizierin geworden, noch immer die Beschützerin der Künste und Wissenschaften, die einem Bembo die ersten Schritte in der wechselvollen Laufbahn erleichterte? Zählte nicht Elisabeth von Urbino einen Castiglione, einen Bernardo Accolti, den zu wenig gekannten Dichter der „Virginia", zu ihren vertrautesten Freunden? Waren nicht Bojardo und Guarini, der Humanist, die Tischgenoffen der älteren Eleonore von Ferrara, wie Taffo und Guarini, der Dichter, zwei Menschenalter später bei der jüngeren Eleonore Gunst uyd Schutz fanden? Und wie hochgelehrt war nicht Torquato's Mutter, die anmuthige und häusliche Portia? Wer gedenkt nicht der Muse Michelangelo's, der schönen Vittoria Colonna? Wo vor Allem ist ein schöneres Bei spiel edler Weiblichkeit als das Jsabella's von Mantua, deren Briefe an den Gemahl, die Schwägerin von Urbino, Hillebrand. Cultur geschichtliches. 3
34 die
befreundeten
Künstler,
durch die etwas ungelenke
Form die anmuthigste Frauenseele durchscheinen lassen? Sie nimmt aus Aldus Manutius' Hand die gelehrtesten Werke des Alterthums entgegen; ihr unterbreitet Ariosto den Plan seines
rasenden Roland; Bellini kann ihr
nie genug thun; sie hört Plautus' Komödien, ja, Cardinal Bibbiena's „Calandra", die heute kaum ein Mann taut
lesen möchte, heiter mit an, wie die Männer ihrer Ge sellschaft ; und wie Niemand, der sie gesehen, sie minder weiblich fand, weil sie den Vitruvius las, so fiel es
Niemanden ein, zweifeln,
an ihrer Keuschheit und Reinheit zn
weil .sie über Macchiavelli's
recht herzlich zu lachen verstand.
„Mandragola"
Natürlich nahmen junge
Mädchen unter zwanzig Jahren, so wenig wie die Knaben dieses Alters, an der Geselligkeit der Erwachsenen An
theil: unverheirathete Frauen über zwanzig aber waren
etwas so ganz Ausnahmsweises, daß sie hier gar nicht in Betracht kommen.
Der Einfluß der Frauen auf die Politik war meist nur ein ganz mittelbarer, obschon auch gewisse Persön-
lichkeitm, wie z. B. Caterina Sforza in offen führender Stellung hervortraten. Im Allgemeinen beschränkte sich die
Theilnahme der Frauen echt weiblich aufs Empfangen
und Wiedergeben, nicht aus's Schaffen und Handeln nach
Außen: sie gaben dem Leben jener unbändigen Männer, wenn der unerbittliche Kampf um's Dasein ruhte, Masi
und Anmuth und Schönheit. lich
So verwirklichten sie eigent
erst jenes Ideal der Kunst, das der ganzen Zeit
vorschwebte.
Denn die Kunst, d. h. die deutende Dar
stellung der Natur,
Zeit durchdrang.
war das Princip, das jene ganze
Als Karl V. mit Papst Clemens VIL
35 jene denkwürdige Zusammenkunft in Bologna hatte, welche die Geschicke Italiens auf Jahrzehnte hin bestimmen sollte,
machte die kunstreiche Agrafe Benvenuto Cellini's, welche den Mantel
des
heiligen Vaters zusammenhielt, beide
Herren eine Viertelstunde lang vergessen, warum sie zu sammengekommen waren.
und
Kleidung,
Und nicht allein die Umgebung
Wohnung,
Hausrath,
Garten,
nicht
allein die Vergnügungen und Feste sollten künstlerisch sein; der Staat sogar, vor Allem die Persönlichkeit selber, sollte ihnen zum Kunstwerk werden. Hier nun gerieth die Renaiffance, der jeder conventionelle Compaß fehlte,
nur allzubald an die Klippen, an denen das Schiff der italienischen Gesellschaft zerschellen mußte.
In der Kunst
selber erreichte sie das Höchste, weil hier das Gesetz die
Freiheit beherrschte und Ariosto ist der Welt das größte Beispiel dieser
scheinbar unterdrückten, in Wirklichkeit Nicht so im Leben.
streng begränzten Freiheit geblieben.
Zu sehr vergaß man, daß die Muse es wohl begleiten
mag, aber es zu leiten nicht versteht. einem
Eine Zeit, die in
Cesare Borgia nicht mehr Schuld sah, als in
einem schönen Tiger, der sich seine Beute er lauert und
erpackt, mußte aus Rand und Band gehen. ist sittlich indifferent;
sittliche Convention nicht bestehen. bittlich
wahr;
Heuchelei.
die
Die Kunst
die Gesellschaft aber kann ohne
Gesellschaft
Die Kunst ist uner
bedarf
einer
gewissen
Die absolute Gleichgültigkeit gegen gesellschaft
liche Moral, die unumwundene Wahrheitsliebe jener Zeit
— eine Wahrheitsliebe, die sich mit der direkten Lüge
und Verstellung zu Erreichung eines gegebenen Zweckes sehr wohl verträgt —, der Cultus der Natur als des
Unfehlbaren und die Verachtung jedweder Autorität außer 3*
36 ihr, mußte zur Auflösung dieser Gesellschaft führen und
hatte dazu geführt, noch ehe der spanische Einfluß das
ganze italienische Leben in Banden schlug. Die ungemessene Staatsfteiheit war schon in pein lichsten Despotismus ausgeschlagen, noch ehe die unbe
grenzte
Geistesfteiheit
in
engste
Bigotterie
umschlug.
Wohl ward die Kunst noch weiter gepflegt; aber sie ward
etwas ganz Aeußerliches und artete unbegreiflich schnell in Mrtuosität aus, wie die Wissenschaft zur Buchstaben
gelehrsamkeit, die Poesie in akademische Pedanterei, die
Geselligkeit in Beftiedigung leerster Eitelkeit und rohester Genußsucht ausarteten.
Der Handel verfiel und
ihm der freie, stolze Bürgerstand.
mit
Die Arbeit kam in
Unehre: nur vom Ererbten durfte ein vornehmer Mann
leben und noch heute nennt der Italiener Signore nur
den, der ohne Arbeit leben kann.
Das alte städtische
Patriziat ward selber Adel, aber nicht streitbarer Waffen adel, sondern Hofadel.
Und welche Höfe waren es, an
denen die Abkömmlinge der großen Kaufherren des 14. Jahrhunderts dienten, von denen sie sich Titel und
Würden schenken ließen,, selbst wenn die neuen Fürsten
wie in Florenz einem Handelshause entsprossen waren, dessen Firma ein Jahrhundert weniger zählte als die eigne?
Es waren die Höfe kleiner Vasallen ftemder
Großmächte.
Der Horizont war verengt.
Nirgends.mehr
öffnete sich eine Aussicht auf das weite Meer der euro päischen Politik.
Die edle Freiheit des Umganges, wie
sie im vorhergehenden
Jahrhundert geherrscht, machte
peinlicher Etikette Platz; ein steifes, spanisches Ceremoniell
trat an die Stelle der ftüheren Vertraulichkeit.
Wohl
bestand eine solche noch außerhalb der Höfe fort zwischen
37 dem neubetitelten Adel —
der Titel wurden so viele,
daß sie alle Bedeutung verloren — und dem gebildeten
Mttelstand, aber nur ganz äußerlich; und diese aus der
Renaiffancezeit noch herübergekommene äußere Gleichheit kann bloß den flüchtigen Hinblick täuschen.
Der Graf
und Marquis dutzte den Advocaten und Profeffor nach
wie vor; aber er that es nur, weil er wußte, daß die innerliche Entfernung
unüberschreitbar war;
so scherzt
Don Juan ungestraft mit Leporello, weil eine Welt im
Busen ihn von dem Diener trennt.
In Wirklichkeit trat
durchaus ein Clientenverhältniß an die Stelle der ehe maligen Gleichheit.
Der Verfall des Handels und Ge
werbes, die Ausdehnung des Hof- und Staatsdienstes
hatten ja auch die immer zunehmende Verarmung und Servilität des Mittelstandes zur Folge: das Parasiten-
Im Gegen
thum nahm immer größere Verhältnisse an.
satz zu andern Ländern ward die Kirche, die Justiz, die
Verwaltung zur Zufluchtsstätte dieser verarmten Stände, welche die Protection der Reichen nicht mehr als eine
Demüthigung empfanden. Die Würde, welche die Religion,
das Richteramt, der Staat anderswo den Trägern mit theilen, galt hier für gar Nichts: der Pfarrer war nicht
mehr
als
ein bequemer Hagestolz, der kleine gesellige
Functionen verrichtete; der Gelehrte und Dichter, meist auch ein Abate, war der Verherrlicher oder auch Amuseur
des vornehmen Hauses, der Richter kaum mehr als der
Geschäftsmann, walter
der
der Herren
Regierungsrath
—
Signori.
als
der Gutsver
Die Frauen dieses
gebildeten Mittelstandes — denn der Handel war fast ganz
zum Krämerthum
.Dunkel und
herabgesunken —
in der äußersten Dürfttgkeit,
lebten
im
als Mägde,.
38
die nur
an Feiertagen
einmal an die Sonne fernen.
Die Frauen der höherm Stände fuhren freilich fort der Mittelpunkt der „Gesellschaft" im aristokratischen Sinne
zu sein; aber auch sie sprangen wie Jene aus dem Kloster in die Ehe; auch auf sie wirkte die Abwesenheit alles
öffentlichen Lebens niederdrückend und geisttödtend; auch sie waren von den Interessen der Männer ausgeschlossen;
auch sie gingen, wie die Männer, auf in der Kleinlich keit des Cermoniells, der Rangeifersucht, der Bigotterie — oder aber sie überließen sich bei verschlossenen Thüren
allen Launen der Leidenschaft und
des Müßigganges.
Nur der anerkannte Sigisbeismus erleichtert und bereichert
in Etwas die trostlose Oede dieser Frauenexistenzen; und die angeborene Grazie, die der Natur so nahe Kindlich
keit der Italienerin, die Erbschaft wohl auch der ältesten
Cultur Europa's verschönerten, milderten einigermaßen die innere Armuth dieses Lebens.
Noch sind die Spuren
jenes Daseins des 17. und 18. Jahrhunderts nicht ganz verwischt: doch ist Italien vielleicht das Land, in welchem
seit etwa vierzig Jahren die größte gesellschaftliche Um wälzung vor sich gegangen ist und noch vor sich geht.
Die ftanzösische Herrschaft
am Anfänge dieses Jahr
hunderts, der seitdem ununterbrochene Einfluß der fran-
zösischen Literatur, Gesellschaft und Politik, das Nieder reißen der inneren Grenzen, die zeitweilige Herrschaft der Piemontesen—eines Menschenschlages, der dem Schweizer
näher verwandt ist als dem Italiener — vor Allem aber das
Herauflommen
eines neuen herrschenden Standes,
eben jenes, zwei Jahrhunderte lang so armen und unter würfigen Mittelstandes, der heute Alles ist und den Vor theil seiner Stellung wohl wahrzunehmen weiß, — Alles
39 Las hat eine Umwandlung zur Folge gehabt, die noch lange nicht vollendet ist.
II. Auch in Frankreich machte sich, nach dem italienischen, der spanische Einfluß stark geltend: aber das National
leben der Franzosen war zu intensiv, um sich jene Ein flüsse nicht bald und vollständig zu assimiliren und unter zuordnen. Von jeher hatte dort der Waffen- und Ge richtsadel den Staat geleitet, die Kirche beherrscht, die Pflege der Literatur und Wissenschaft an sich genommen. Beide Stände hatten sich mit der Krone gegen die hohe Aristokratie verbunden. Je unabhängiger aber das König thum von dieser ward, desto mehr wuchs das Ansehen und der Einfluß der Verbündeten. Nach der endgültigen Unterwerfung des hohen Adels durch Richelieu trat auch dieser in die Dienste des Hofes, und bald war der Hof der Mittelpunkt des ganzen französischen Lebens, zuerst in Paris, dann in Fontainebleau, St. Germain, Ver sailles. Und mit der Bedeutung des Hofes wuchs auch die Bedeutung. des Pariser Parlamentes, das sich als Macht dem Könige gegenüber fühlte, es ihn wohl auch fühlen ließ; denn Jeffreys kannte Altfrankreich nicht: der Richterstand behauptete stets seine politische und sociale Selbständigkeit, da der Einzelne seiner halb ererbten, halb erkauften Stelle nicht entsetzt werden konnte und der Wohlstand der Familien durch die Verbindung mit reichen Bürgertöchtern stets erneut wurde. Um das Pariser Parlament nun gruppirte sich die „Stadt", wie
um den König der „Hof". So hielt die geistige Centralisation mit der staatlichen Schritt. „Hof und
40
Stadt" werden gleichbedeutend mit Trägern der Cultur.
Montesquieu sagt ganz naiv: „J’appelle gönie d’une Nation les mceurs et le caractere d’esprit des difltirents peuples diriges par l’influence d’une m6me cour et d’une m6me Capitale“. Deutschland konnte offenbar in Montesquieu's Augen nicht auf eine nationale Cultur Anspruch machen. Hof und Stadt aber meinten Waffen- und
Gerichtsadel mit Allem, was damit zusammenhing; und bis zur Revolution hin, ja noch in der Nationalver sammlung von 1789, insbesondere aber während der Restauration (1814—1830), die so recht als ein Wieder aufleben Altfrankreichs anzusehen ist, waren es durchaus der Höfling und der Jurist, welche der ftanzösischen Cultur ihre eigenthümliche Physiognomie gaben: ja noch heute sind die Gewohnheiten, Formen und Anschauungen beider Stände, wenn nicht im Staate, so doch in dem, was ich die Gesellschaft genannt, durchaus die herrschen den. Zu der Zeit, wo diese nationale Gesellschaft zu gleich mit der nationalen Literatur ihre bestimmte Form annahm, d. h. im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts, als diese die spanischen Feffeln abwarf, jene die spanischen
Formen frei umwandelte, geschah es schon durch die Initiative jener beiden eng verbundenen Stände. Im Salon der Marquise von Rambouillet trafen sich mit einem Conde und Retz die Voiture und Balzac, die Corneille und
Malherbe, welche alle in fernerer oder näherer Beziehung zu parlamentarischen Familien (familles de robe) standen. Pascal, wie fast ganz Port-Royal, gehörte von
Haus aus dem Gerichtsadel an, wie früher Montaigne, später Montesquieu. Auch der große Gallikaner, welcher der ftanzösischen Kirche und der ftanzösischen Kanzelbe-
41 redsamkeit ihr bleibendes Gepräge gab, Bofsuet, war der Sohn eines Richters.
Er wurde aber eines der Gestirne
von Versailles, wie später Bourdaloue, Flöchier, Massillon
und so viele andere ausgezeichnete Prälaten des alten Frankreich, welche nicht weniger als die Höflinge hohen
Adels, ein Larochefoucault, ein Saint-Simon, dazu bei trugen, die Literatur ihres Vaterlandes zu bereichern. Auch Schriftsteller vom Handwerk lebten in Versailles:
der Hof lieferte einem Labruyöre seine bekanntesten Typen;
und Racine besang in „Berenice" daß Verhältniß Ludwig's XIV. zu Mlle.
und „Esther"
de la Balliere;
für Mme.
er dichtete „Athalie"
de Maintenon's
Saint- Cyr.
Reben den Würdenträgern der Kirche aber und den Ver
tretern der Literatur drängten sich die hohen Staatsbe
amten und
die
Officiere um den Hof und die Person
des Königs, verbanden sich in Freundschaft mit jenen Männern, theilten ihre Jntereffen, bildeten sich an ihnen,
wie sich jene wiederum
in
freier weltmännischer Auf-
faffung der Dinge von diesen bilden ließen. Jede vornehme
Familie aber war ein Versailles im Kleinen, hatte ihre Abbe's und ihre Literaten, die als Freunde, nicht als
Clienten, mit ihr verkehrten, sie geistig anregten, von
ihr Weite des Ausblicks gewannen: denn der Hof, welcher
den Mittelpunkt und das Vorbild dieser ganzen Gesell bildete,
schaft
oder Parma:
staates,
ja
war kein Duodezhof roie' der von Lucca
er war der
eines unabhängigen Groß
des europäischen Großstaates xar tl-oxyv.
Nichts beengte den Gesichtskreis.
Die höchsten Interessen
fanden hier ihre Erörterung und Entscheidung; nichts war
hier
kleinlich, selbst nicht das Hofceremoniell,
weil es
nicht wie in Italien zugleich der Inhalt, sondern immer
42 nur die Form des Lebens war.
Hier hatten die Kämpfe
zwischen Jansenisten und Jesuiten, zwischen Protestantis mus und Katholicismus, zwischen der Nationalkirche und der römischen Curie ihr Echo. Hier wurde die Beherrschung
des Festlandes, hier die Vertheidigung des Vaterlandes ge plant. Hier wurden die neuesten Komödien Moliöre'S mit derselben Lebhafttgkeit besprochen als Pascal's Briefe gegen die Gesellschaft Jesu oder Bossuet's Leichenrede auf den großen Condö. Und wie der Hof, so die Stadt: alle Gebildeten, Besitzenden, welchem Stande sie auch angehören mochten, nahmen Antheil an diesen Fragen, welche sofort nationale Fragen wurden. Nicht am mindesten die Frauen. Noch hundert Jahre später meinte Sterne, die Franzosen seien „ein Volk, wo Nichts salisch sei als die Monarchie." In der That waren und sind es die Frauen, welche herrschten und herrschen. Zumal in der Hauptstadt. Selbst Bonaparte, der doch den Weibern sicherlich nicht gern viel Spielraum ließ, mußte bekennen, als er 1795, ein sechsundzwanzigjähriger Jüngling, nach Paris kam: „Hier nur verdienten sie das Steuer zu führen.... Die Männer dächten nur an sie, lebten nur durch und für sie. Eine Frau müsse sechs Monate in Paris gewesen sein, um zu wissen, was ihr zukomme und wie sie zu herrschen vermöge." Das Geheimniß ist leicht zu verrathen. Die Französinnen jener Zeiten kämpften stets nur mit Frauenwaffen. Eine Sövignß, eine Mme. de Lafayette waren in erster Linie Frauen, das Schriftstellerthum war etwas Beiläufiges, wenn man anders ihr Schreiben Schriftstellerthum nennen kann. Freilich gab'ü auch Schriftstellerinnen vom Hand werke, wie die Scudöry und die Deshouliöres, aber auch sie bestimmten den Ton der Gesellschaft mehr durch ihre
43 Persönlichkeit als durch ihre Schriften, und ihre Zeit war eine kurze.
Von der Volljährigkeit Ludwigs XIV. an
traten die Frauen — die politischen des 17. Jahrhunderts, wie die
philosophischen des 18. — nicht mehr direct
vor's Publikum.
Selbst noch Mme. de Staöl — eigent
lich nur halb Französin — schlug ihre persönlichen Ver-
hältniffe höher an als ihre Bücher, erwärmte sich noch
mehr für ihre politischen Freunde, als für ihre politischen
Grundsätze.
Doch ist nicht zu leugnen, daß bei ihr schon
das Unweibliche sich störend mit vordrängt.
Die Frauen
des alten Rögime scheuten die Oeffentlichkeit; sie begnüg ten sich mit dem mittelbaren Einfluß, beherrschten die Herrscher auf allen Gebieten, ohne je zur Kampfesweise der Männer zu greifen.
Anakreon sagt, die Natur habe
jedem geschaffenen Wesen seine Waffen mitgegeben, dem Stiere die
Hörner, dem Pferde den Huf, dem Manne
die Vernunft, der Frau die Schönheit.
Das soll nun
keineswegs heißen, daß die Frauen unvernünftig und die Männer unschön sind, noch auch, daß alle Männer ver
nünftig und alle Frauen schön sind: wohl aber, daß jeder
Frau ohne Ausnahme von der Natur eine gewiffe An muth gegeben ist — die sie freilich oft sehr erfolgreich
loszuwerden bemüht ist. Wenn selbst der stolze Ludwig XIV.
den Hut vor der letzten Küchenmagd lüftete, der er anf einer Hintertreppe
des
Versailler Schlosses
begegnen
mochte, so war es doch eben nur ein Tribut, den das
verkörperte Frankreich dem Geschlechte zahlte, das in der demüthigten Gestalt die Rechte der Anmuth und der Schwäche beanspruchen durste.
Diese Anmuth ist ihm
ja nicht nur in den kurzen Jahren der Blüthe gegeben, noch auch ist sie auf das Körperliche beschränkt.
Es giebt
44 auch eine Grazie des Gemüthes speciell
und des Geistes, die
weiblich ist; und so sind neben der List, den
Thränen, der Gefallsucht, auch die Selbstentäußerung
und die Hingabe, die Fähigkeit des Duldens, die geistige
Frische und anregende Naivität, das kluge directe Urtheil
und die ebenso kluge und directe Rede Frauenwaffen,
die den Männern selten zu Gebote stehen.
Diesen Waffen
nun, nicht einem unschönen Bestreben es mit den Männem
auf dem eigenen Gebiete aufzunehmen, verdankten die
Französinnen jener beiden
schönen Jahrhunderte,
von
Mme. de Chevreuse bis auf Mme. Roland, ihre Herr
schaft über so viele, ja fast alle Helden der That und
des Gedankens.
Denn kein Jntereffe war ihnen fremd;
und wie sie dem geselligen Leben vorstanden, so war ihr Einfluß im Staate, in der Religion, der Literatur durch
aus bestimmend.
Und ich spreche hier keineswegs nur
von den hervorragenden Gestalten, einer Mme. de Lon-
gueville, die den Gemahl und den Bruder, — den großen Condö — ja sogar einen Larochefoucault und Turenne zum Kampf gegen die Krone zu verleiten wußte*, oder
einer Mme. de Maintenon, welche so lange Ludwig's XIV.
innere Politik bestimmte, einer Angölique Arnauld oder Mme. Guyon, welche die Seelen des französischen Jan senismus und Quietismus waren,
einer Tencin
und
Geoffrin, deren Salons für die Gesellschaft des ganzen
Jahrhunderts tonangebend wurden —; ich rede von jenen Hunderten von Frauen, deren Namen selbst nicht in die *
Zur Zeit der Fronde waren solche
Schutz-
und Trutz
bündnisse einflußreicher Frauen und ehrgeiziger Politiker etwas ganz
Alltägliches, so zwischen Retz und Mme. de Chevreuse, Beaufort und Mme. de Montbazon, Conde und Mme. de Chatillon.
45 Oeffentlichkeit drang, obschon sie hinter den ersten Männern
der Politik, der Literatur, der Gesellschaft standen, wie uns alljährlich neue Entdeckungen der Forscher und Freunde jenes einzigen Jahrhunderts lehren. Und man urtheile doch nicht gar zu rasch ab über die „Korruption" oder auch nur die laxe Moral jener Zeit.
Sie bietet
auch schöne Beispiele, und keineswegs vereinzelte, von ehelicher Treue und Liebe. So jene derbe Herzogin von
Chaulnes, von der uns St. Simon erzählt, daß sie ihren Gemahl nicht überleben wollte; so jene Herzogin von Choiseul, die Freundin Mcke. Du Deffand's und des Abbe Bartholomy, die ihren zwanzig Jahre älteren Gatten, den Minister Lutuvig's XV., wahrhaft ver götterte; so jene Marquise Costa de Beauregard, deren vor wenig Jahren veröffentlichte Briefe an den Gatten und die Kinder uns in ein so schönes Gemüth haben blicken lassen; so die Marschallin von Beauveau und wie viele Andere. Oft auch waren jene freieren Verbindun gen, welche das Jahrhundert duldete, im Grunde selber eheliche Verhältnisse; oder wie sollte man die Verbindung des Herzogs von Nivernais mit Mme. de Rochefort, die des Chevalier de Boufflers mit Mme. de Sabran anders nennen, selbst ehe sie, die eine nach vierzig, die andere nach zwanzig Jahren durch die erst so spät möglich ge wordene Trauung geheiligt worden?* Giebt es etwas Reineres als die Beziehungen Mlle. de Condo's zu M. * Aehrilich waren die Verhältnisse des Grafen von Toulouse zu Mme. de Gondrin, des Herzogs von Sully zu Mme. de Vaur, des Marquis de Sainte-Aulaire zu Mme. de Lambert, des Grafen Lassaye zu Mme. de Bourbon, des Marschalls d'Urelles zu Mme. de Ferriol, welche letztere jedoch nicht durch die Ehe bestätigt werden konnte.
46 de la Gervaisais, der im Kriege, wie sie im Kloster, vergebens eine Liebe zu vergeffen sucht, welche die Krönung
durch die Ehe nicht hoffen durfte?
Und selbst jene pro
faneren Verhältniffe einer Mme. d'Houdetöt und St. Lambert's, Mme. Du Deffand's und H. Walpole's, Mme.
du Chatelet's und Voltaire's, so vieler anderer zu geschweigen, welche lange Jahre dauern und aus dem ge meinsamen Interesse für die höchsten Gegenstände der
Menschheit ihre Nahrung ziehen, darf man sie mit den
leichtfertigen Verbindungen zusammenwerfen, die die Laune gebiert, die Laune vernichtet?
Und wer an dem sittlichen
Werthe jener Frauen des alten Regime zweifelt, der
denke der großen Revolution und mit welchem Muthe, welcher Festigkeit, welcher Resignation jene heiteren Frauen
gestalten das verhängnißvolle Schaffst erstiegen, auf dem sie ihre Begeisterung für die Ideale ihrer Jugend büßen sollten. Es ist bezeichnend für die französische Gesellschaft,
daß die Mädchen strenge davon ausgeschlossen waren —
bezeichnend, aber nur folgerichtig.
Es war ja nicht so
sehr die Furcht, daß ein Mädchen sich thörichter Weise
verlieben, eine thörichte Ehe eingehen könnte, welche diesen
Ausschluß veranlaßte, als der Wunsch, über alles reden zu können, auch über das, was Mädchen nicht verstehen,
was sie langweilt oder aber ihnen zu hören nicht gut ist.
Die Unterhaltung war ja der Hauptzweck der fran
zösischen Geselligkeit, diese Geselligkeit aber Selbstzweck. Sie war für sie was die Kunst für die Italiener der
Renaissance:
Thätigkeit.
zugleich Inhalt und Form der geistigm „On dit que. Fhomme est un animal ao-
ciable, sagt Montesquieu; sur ce pied-lä il me parait que le Franpais est plus komme qu’un autre; c’est
47 l’hojnme par excellence, car il semble etre fait unique-
ment pour la societe.“
Nicht das einsame Denken und
Dichten und Fühlen, nicht die directe Anschauung der Natur und ihr Wiedergeben, nicht das Handeln und Thun,
das
Handhaben von Interessen,
sondern
die
geistige
Elaboration, welche man Gespräch nennt, — d. h. die jenige Form geistiger Thätigkeit, in der Dinge, Gedanken
und
Gefühle eher als Anlässe gebraucht werden, um
unsere Fähigkeiten anzuregen und in freie Bewegung zu setzen, als daß sie Zweck und Gegenstand dieser Fähig
keiten bildeten — war die • Blüthe jener Cultur.
Die
laute Zeugung der Gedanken in lebendiger Berührung;
die Kunst, dieses Spiel unmerklich zu wenden und leiten ; die Genugthuung, dem Einfall eine schöne
oder
eine
reizende oder eine beredte Form zu geben, die höchsten Gegenstände in die Unterhaltung zu ziehen ohne uner
reichbar, die gemeinsten ohne roh zu werden, alle Natür lichkeit mit Ziemlichkeit, alles Künstliche mit Natürlichkeit
zu sagen, über die Dinge hinzugleiten und doch im Vor
übergehen anzuregen, andern auf den Grund zu gehen ohne eine Anstrengung fühlen zu lassen, rasche Ausblicke
zu öffnen, durch Anspielungen das Persönliche zu streifen ohne darin aufzugehen, durch schelmische Zweideutigkeiten
zu reizen, vor Allem aber die eigene Eitelkeit zu befrie
digen, indem man der des Anderen schmeichelte — diese Kunst verbreitet ihren Geist über die ganze Cultur eines
Volkes, dessen Heerdentrieb es nicht in der Einsamkeit duldet, das ohne Convention nicht leben kann, aber sich
innerhalb dieser willkürlichen Grenzen frei und anmuthig zu
bewegen
das
Bedürfniß fühlt.
Sie
theilte
dem
Familienleben, wie der öffentlichen Thätigkeit und der
48 Literatur etwas von ihrem Geiste mit und machte aus den gebildeten Kreisen dieser Nation
eine Gesellschaft,
deren ungeschriebene Gesetze, deren ungreifbarer Organis
mus selbst die Revolution und die Schreckensherrschaft überdauerten, eine Gesellschaft, die sich geistig und mora
lisch nur im Tricotkleide der Sitte wohl fühlte, weil ihm dieses Kleid zur zweiten Haut angewachsen war — was freilich sagen will, daß dieser Gesellschaft der Be griff des Nackten, d. h. der letzten Wahrheit und Natur
ganz abhanden gekommen war.
Ich sagte, diese Sitte,
wie das Vorherrschen der beiden Stände, welche sie im Laufe der Jahrhunderte ausgebildet, hätte noch lange fortgedauert, nachdem die staatlichen Privilegien derselbm
vernichtet wurden: man denke an die Männer der Con
stituante : die Malouet, Lally-Tollendal, Lameth, Lafayette
u. A., an die Girondisten, fast Alle Männer der Justiz und
Hüter der
Kreise
alten Formen;
an die tonangebenden
der Restauration und Louis Philipps.
Selbst
bis unterm zweiten Kaiserreich und der dritten Republik
nahm die Akademie Herzöge, Prälaten und Rechtsan wälte ohne alle literarischen Leistungen in ihrem Schoße
auf, als Vertreter des altfranzösischen Geschmacks in der modernen Gesellschaft.
Wohl sind diese Formen nicht
mehr so rein, wohl hat die Leidenschaft mehr als einmal den Zaun der.Sitte durchbrochen, selbst in den ausge suchtesten Kreisen; im Wesen aber lebt die Ueberlieferung
noch heute und vielleicht wird der jetzige Ausschluß aller gebildeten und gesellschaftlich angesehenen Stände vom
Staatswesen wenigstens die gute Folge haben, daß sich der französische Geist wiederfindet, sich ungestört von den politischen Jntereffen sein Reich langsam wiederherstellt.
49
III. Es hatte sich in England unter den Tudor's und
Stuart's etwas Aehnliches wie das französische Hofleben zu entwickeln begonnen, und
auch hier bildeten Kirche,
Heer und Justiz, eng mit einander verbunden und um den Thron geschaart, die tonangebende Gesellschaft: noch bis auf den heuttgen Tag sind Church, Law and Army
die drei Professionen, welche das Recht auf die Benennung
Gentleman nicht nur nicht entziehen, sondern verleihen. Doch waren selbst vor der großen Rebellion des 17.
Jahrhunderts Kunst wie gesellige Unterhaltung, obschon
beide gepflegt und hochgehallen,
nicht das bestimmende
Princip der englischen Gesellschaft: das Staatsintereffe
war schon damals das vorherrschende.
Der Ton war
ein freier und zugleich hoher in der Gesellschaft, wie sie
uns aus Shakespeare und Ben Jonson entgegentritt, wie sie uns Männer von Spencer's, Bacon'S, Sidney'S, Ruffell's Schlag vergegenwärtigen.
Die Frauen spielten
darin eine bedeutende und noch durchaus weibliche Rolle.
Die Freiheit der Rede war groß und artete nur selten in Rohheit aus; die classische Bildung war allgemein
und tief, auch die Frauen waren ihrer theilhaftig; das Interesse an Kunst und Literatur war äußerst rege.
Es
schien einen Augenblick, als ob England berufen sei, das
Ideal der modernen Gesellschaft darzustellen, in welcher
Freiheit und Sitte, Individualität und Cultureinheit,
Kunstsinn, heitere und geistreiche Geselligkeit sich unter
dem kräftigenden Einflüsse des öffentlichen Lebens schön
und reich entfalten sollte. diese
gesunde
Entwickelung.
Hillebrand, Culturgeschichtliches.
Die Revolution unterbrach
Es
ist unhistorisch,
4
von
50 irgend einem großen Complex von Begebenheiten, welcher das Ergebniß einer langen Reihe von Thatsachen und
Umständen ist, zu sagen, es hätte anders kommen sollen. Sagen darf man aber doch, daß die große Revolution, welche Englands Unabhängigkeit, die protestantische Religion
und die politische Freiheit gerettet hat, für die englische Geistes- und Gemüthsbildung vyn Uebel war.
Allein
sie war unvermeidlich: denn sie war das Ergebniß einer zweiten Entwickelung, welche sich im Schoße der Nation, parallel mit jener höheren
gehenden, vollzog.
von der Renaissance aus
Wie dem auch sei, der Puritanismus
hat die Blüthe des englischen Geistes abgestreift. nahm
Aufschwung,
auch
Wohl
er nachher noch einmal einen neuen gewaltigen der von Locke bis auf Hume England
geistig wieder in die erste Reihe stellte; ja, es er
wuchs noch einmal eine schöne Literatur, der das Europa des vorigen Jahrhunderts nichts zur Seite stellen konnte: aber so groß auch der Werth dieser Literatur sein mag,
jener Duft, welcher über Chaucer'S und Shakespeare'» Schöpfungen ruht, weht selbst nicht in den unnachahm lichen Werken, welche die Nachgeborenen
und de Foe bis auf bracht, haben.
von Dryden
Goldsmith und Sterne hervorge
Um die zarteste Blüthe war's gethan;
der Schmelz, den der Fraueneinfluß über eine Literatur verbreitet,
war zerstört:
die englische Literatur ward
eine Männerliteratur, wie die englische Gesellschaft eine
Männergesellschast wurde.
Der neue Anlauf unter Karl II.
war nur eine wüste Nachahmung der französischen Sitten
gewesen; selbst ein St. Eoremond und ein Grammont
verloren die Fühlung mit der vaterländischen Cultur: das ganze Treiben war eine rohe Carricatur des ftan-
51 Mischen Wesens. Der edle Epikuräismus der französischen
Gesellschaft artete an der Themse in gemeine Sinnlich keit aus; Freiheit .wurde zur Frechheit, Heiterkeit zur
Ausgelassenheit, Eleganz zu Prunk.
Erst nach der zweiten
Revolution von 1688 bildete sich dann wieder die neue Gesellschaft, die bis in unser Jahrhundert hinein bestan
den hat. Schon unter Wilhelm III. und Anna, entschiedener noch unter den beiden ersten Georgen, zog sich der schmol lende
Adel mehr und mehr auf seine Güter zurück.
Mochten auch nicht gerade Alle in so derben Ausdrücken
wie Squire Western von den „damned Hanoverians“
sprechen, die Meisten dachten wie der Vater Sophiens. So ward der Landaufenthalt, der dem Engländer von jeher theuer gewesen, die Normalexistenz der Vornehmen.
Sogar als die Gentry unter R. Walpole — der ja selbst
ein solcher Landedelmann war — sich mit dem Hofe auszusöhnen begann, blieb die Gewohnheit, außer der Parlamentszeit, d. h. dem Frühjahr, auf dem Lande zu
bleiben,
während unter Elisabeth und Jacob
Viertel des Jahres in London zugebracht wurden.
I. drei Wohl
machten die Londoner Witzköpfe und Stutzer Anfangs noch den verbauerten Junker zur Zielscheibe ihres Spottes; aber
gar. bald
ward
aus der lächerlichen Figm Sir
Wilful Witwoud's, der „seit der Revolution" nicht in der Stadt gewesen (1700, Congreve), die sympathisch
humoristische
Sir Roger de Coverley's (Addison), bis
endlich diejenige Mr. Allworthy's (Fielding) zum Inbe
griff aller englischen Tugenden ward.
Denn es war ja
zum größten Theil kein betitelter Adel, diese Gentry; ein Adel war's immerhin und mehr als ein einfacher
4*
52 Mr. verfolgte seinen Stammbaum bis auf die Zeit des
Eroberers.
traten
Zugleich
die
jüngeren
Söhne der
Aristokratie (nobility) in die Gentry hinunter, sei's direct,
sei es durch eine jener drei „genteelen" Professionen,
von denen die Rede mar, während reich gewordene Kauf leute durch Ankauf von Gütern oder durch Eintritt in
eben jene drei Professionen ihre Söhne oder Enkel, — die Engländer sagen, es brauche drei Generationen, um
einen Gentleman zu machen, — in die Reihen des Land
adels einführten.
Auch der Geistliche, dessen Güter ja
in der ^Reformation nicht confiscirt worden, war und ist ein wohlhabender Landedelmann, dessen Rectorei es mit
manchem Rittergut aufnimmt.
Und er war verheirathet,
hatte Töchter und Söhne, die an den geselligen Ver gnügungen des Landadels Theil nahmen: er war nicht,
wie der
ewige Junggeselle der italienischen und fran
zösischen Geistlichkeit, von jeder inneren Verbindung mit den Familien ausgeschlossen und er war nicht so blutarm als der deutsche Landprediger, der'S kaum dem Bauer
nachthun konnte.
Auch
der
erfolgreiche Advocat und
Richter — der Stand fing 1688 an thatsächlich, wenn
nicht gesetzlich, die Unabsetzbarkeit zu erlangen- welche stäs die Bürgschaft der Unabhängigkeit des ftanzösischen Richterstandes gewesen —, der penstonirte Officier, der zurückgezogene Kaufmann, später der aus Indien heim
gekehrte Rabob wurden ihrerseits durch Erwerb von Län
dereien Landedellente. der neuen
Dieser Landadel war'S, welcher
englischen Gesellschaft ihren Ton gab; der
englischen, denn in Schottland entwicketten sich die Ver hältnisse anders und in einem der deutschen Entwickelung
ähnlicheren Sinne.
Er bestand aus unabhängigen, freien
53 Leuten, die wohlhabend waren, meist in Cambridge oder Oxford studirt hatten, zum Theil selber im Parlament
saßen,
daheim
das Dorf
verwalteten,
das auf ihren
Gütern lag. Recht sprachen, die Miliz befehligten: kurz er leistete dem Staate unentgeltlich die größten Dienste und ward schon dadurch, bei der Abwesenheit aller besolde
ten directen Staatsdiener, ausschlaggebend im Staate. Der Jurist spielte ja in England weder politisch noch literarisch die Rolle, welche er in Frankreich spielte. Ich wüßte
keinen bedeutenden Schriftsteller, keinen hervorragenden Staatsmann des vorigen Jahrhunderts, der der Advocatenbank oder dem Richterstande angehörte. Fielding war zwar Anwalt und sogar Londoner Friedensrichter, aber
er war von Geburt und durch Erziehung ganz ein Adliger; und Burke wie Sheridan mochten in ihrer Jugend die juristische Laufbahn gestreift haben, sie ge
hörten nicht zum Stande, während Lord Melville d. Ae., der wirklich wie früher Lord Bacon, später Lord Brougham, aus der Magistratur hervorging, doch nie eine maß gebende Stellung einnahm. Die ganze politische Welt recrutirte sich eben fast ausschließlich aus dem Landadel; und wenn auch die Literatur eine vorzugsweise städtische und hauptstädtische war, so muß eben doch nicht vergessen
werden, daß fast alle ihre Träger von Addison, Steele und Swift bis auf Gibbon, Burke und Hume in den öffentlichen Dienst, d. h. in den Kreis jener Staats männer vom Landadel, übergingen, dessen gesellschaftliche Stellung, selbst wenn die demselben Angehörenden keine politische Rolle spielten und ihr Leben ganz auf dem Dorfe zubrachten, die beneidetste im Lande war. Roch heute, nachdem die staatlichen Verhältnisse sich durch die
84 Wahlreformen von 1832, 1867 nnd 1871, die wirthschaftlichen durch die Entwickelung der Industrie und die Handelsfteiheit so durchaus geändert habe«, ist die Existenz des Landedelmanns das Ideal jedes wohlhaben den Engländers; noch heute glaubt jeder Halbwegs vor nehme Engländer erst dann ein domo zu haben, wenn er ein Landhaus besitzt; und ein solches Landhaus ist Lebens zweck, das Ziel seines Ehrgeizes, für das er Jahrzehnte arbeitet, das eigene Vermögen, nnd mit ihm den Rationalreichthum, vermehrt. Wer noch nicht wohlhabend genug ist, einen solchen Landsitz zu erwerben, nimmt einstweilen mit Putney, Weybridge oder irgend einer anderen länd lichen Vorstadt vorlieb. Die Stadt ist nur das große Arbeitshaus, wo die Geschäfte gemacht werden, wo man das Geld gewinnt, das dann auf dem Lande ausgegeben wird, in Pferden und Hunden, Treibhäusern, Gartenan lagen, verschwenderischer Gastfreundschaft. Denn hier auf dem Lande mußten lange Mahlzeiten und tiefes Bechern, Sport aller Art — Jagd, Crickettspiel, Rudern, Lawntennis, Bogenschießen, Liebeln der Mädchen und Jünglinge die langen Tage und Abende ausfüllen; daneben freilich 'auch die gemeinnützigen Ge schäfte der Ortsverwaltung, der Rechtspflege, das Lesen namentlich in den reichen Landbibliotheken — noch heute sind die Engländer das lefendste Volk der Welt. Frei lich etwas roh und lärmend ging's manchmal her in den Schlössern, aber es lebte doch ein gesunder, kräftiger Geist in dem Stande, dem die Leibesübungen und die öffentliche Thätigkeit Körper und Geist frisch erhielten. Und im Wesentlichen ist's noch heute so. Die wahre englische Geselligkeit, an der beide Geschlechter Theil
55 nehmen, lebt eigentlich nur auf dem Lande; denn in den paar Frühlingsmonaten in der Hauptstadt ist sie doch immer
mehr Arbeit als Genuß:
ein
vorhergesehenes,
einge
ladenes Zusammenkommen, ein steifes Ausharren neben
einander ohne Beweglichkeit und Freiheit,
ein schwer
fälliges Austauschen von Gemeinplätzen und ein stunden
langes Vertilgen unverdaubarer Speisen.
Was in der
Stadt an freier, lebendiger Geselligkeit besteht, ist noch
heute wie vor hundert Jahren ausschließlich Männer
gesellschaft ; nur daß sie heute sich im Club begegnet — das Parlament ist eine Art großen
auch
Clubs
während sie sich im 18. Jahrhundert in Will's Caffee-
haus oder im Türkenkopf begegnete.
Während der guten
Zeit Englands ist die Frau — ich sage nicht das Mädchen —
wie abwesend aus dem höheren Leben der Nation, und ich
wüßte
eigentlich
nur Lady Montague und Lady
Holland von Damen zu nennen, die gesellschaftliche Mittel punkte gebildet; Beide aber ermangelten gerade jener Anmuth/ welche der Handhabung des Frauenscepters erst
ihren Reiz giebt. Nirgends begegnen wir einer Jacqueline
Pascal — Hannah More's Wirkung beschränkte sich ganz auf Kreise des niederen Mittelstandes —, einer Lespinaffe,
einer Bouffiers, welche auf das religiöse, literarische und gesellschaftliche
Leben
des herrschenden Standes einen
bestimmenden Einfluß üben, geschweige denn einer jener
Hunderte von Frauen, die von Diane de Poitiers bis auf Madame du Cayla, stimmt haben.
die
Politik
Frankreichs
be
Der Staat, die Religion, die Literatur
waren eben, wie die Gesellschaft in England, Männer
sache.
Von Addison bis
auf Johnson ist das
ganze
Geistesleben der Engländer durchaus männlichen Charak-
56 ters.
Nichts in Swift's Werken verräth, welchen Einstuß
doch
thatsächlich die Frauenverhältniffe auf sein Leben
geübt. Was wir in den Schriften Pope's und Richardson's, Fielding's und Goldsmith's von den Frauen lesen, macht
uns den Eindruck, als ob nur die Mädchen mitzählten, als ob die Frauen nach dem fünfundzwanzigsten Jahre
entweder sich ganz von der Welt zurückzögen, um nur
noch häuslichen Pflichten zu lebm, oder aber daß sie die
Geselligkeit nur im fänge
Prunk, Theater und Kartenspiel
Die Aera der Blaustrümpfe begann erst im An
sahen.
dieses
Jahrhunderts mit Mß Austen und Mß
Edgeworth, wiewohl der Name bereits zur Zeit Lady Montague's entstand. Seitdem hat sich das Blaustrumpfwesen auch auf andere Zweige der Männerthätigkeit ge
worfen,
als
die Literatur und es soll ihm gelungen
sein, den Verkehr zwischen Frauen und Männern, auf
welchem aller Reiz der Gesellschaft am Ende doch beruht, gründlich zu fälschen: außer zwischen Jünglingen und
Mädchen — wo er äußerst natürlich und gefällig geblieben ist, freilich
aber auch
auf den Namen „Geselligkeit"
kaum Anspruch machen kann, da er sich doch wohl mehr
auf einen Austausch von Gefühlen beschränkt, was etwas
ganz anderes ist als Geselligkett — außer zwischen unverheiratheten jungen Leuten ist der Verkehr ein durch
aus unnatürlicher geworden.
So groß scheinbar auch
die Rolle der Frauen in der englischen Stadtgesellschaft, so stark sie namentlich numerisch in derselben vertreten sein mögen, ihr wirklicher Einfluß, namentlich auf den
Staat, ist sehr gering.
Fast möchte man Sterne's Wort
über Frankreich umkehren Mes salisch
und
sagen, in England sei
außer der Monarchie.
Wie die Königin
57 den Ministerrath präsidirt, so sitzen die Frauen in allen
scboolboards, Wohlthätigkeitscomitö's u. s. w.; die wahre Arbeit wird aber doch von den Männern verrichtet und von ihnen geht auch wohl die letzte Entscheidung aus. Die Frau des Right Honorable Mr. So-and-so, welche neben ihrem Gemahl auf den Hustings erscheint — was
selbigen in Frankreich für immer lächerlich, d. h. unmög lich machen würde — begnügt sich, ihren Mann, ihr Eigenthum zu hüten und zu bewundern, sie leitet seine
politischen Schritte nicht, wie die Französin es von den Coulissen aus thut. Ich will hiermit keine Superiorität oder Inferiorität stabilirt haben; ich constatire nur den
Unterschied. Niemand hat eine aufrichtigere Sympathie als Schreiber dieses für die ächte Engländerin, die nur in ihrem Manne lebt, seine Erfolge genießt, seine Sorgen
theilt, aber dann doch für die Unterhaltung seiner Freunde bereiten Witz, gesunden Verstand und eine reiche Be lesenheit übrig behält, in ihrem einfachen aber sauberen Anzug eleganter ist als alle Priesterinnen der „hohen
Kunst". Leider verschwindet sie immer mehr aus der Gesellschaft und statt ihrer strömen herein die Schrift stellerinnen, Aerztinnen, Prophetinnen der „Frauenrechte" u. s. w., die nur allzu oft sich darin gefallen, als Ge schlechtslose aufzutreten, was dann gleichbedeutend mit einflußlos ist: denn durch ihr Geschlecht nur wirken die Frauen. Gesellige Kameraderei ohne geschlechtliche Hin tergedanken, und geschäftliche Concurrenz bei Wahrung geschlechtlicher Rücksichten sind falsche Verhältnisse, die
auf die Dauer unmöglich sind, wie alles Unnatürliche. Entweder taugt die weibliche Leistung die männliche nicht, dann zieht sie eben den Kürzeren, oder sie kommt ihr
58 nahe, dann bricht die Urheberin selber unter der über triebenen Anstrengung zusammen.
ES würde ebenso sein,
wollten wir Frauenarbeit verrichten: denn „Zwanzig Männer verbunden ertrügen nicht all' die Beschwerde"
einer Familienmutter ober gar einer Weltdame. „Und sie sollen es nicht; doch sollen sie dankbar es einsehen,"
einsehen auch, daß man nicht ungestraft den Gesetzen der
Natur zuwider handelt, welche beiden Geschlechtern ver schiedenste Felder zügewiesen und auf dem Beiden gemein samen
Gebiete
Jedem verschiedene Rollen
zugetheilt.
Wie der Mann, der auf diesem gemeinsamen Gebiete zu
Frauenwaffen greift, der Verachtung und dem Spotte anheimfällt und nichts Ersprießliches. leistet, so büßt die
Frau allen ihren Reiz ein, sobald sie die Waffen der Männer
zu handhaben, die KampfeSweise der Männer
anzunehmen sucht.
Das
Verhältniß wird aber
noch
mehr gefälscht, wenn bei dieser Vernichtung aller Grenz linien, doch die Rücksicht auf die Schwäche des anderen Geschlechtes gewahrt werden soll, wie dies aufs Pein
lichste in der
englischen Gesellschaft der Fall ist. Im
Kampfe um's Dasein, welchen die Concurrenz darstellt, müssen alle Kämpfer gleich sein; sonst werden die Be
dingungen des Kampfes ungleich.
Das tirez les Premiers,
Messieurs- les Anglais! ist Ritterthum, es ist nicht Krieg;
und wenn ich meinem Concurrenten, etwa weil er schwind süchtig ist, einen Gewinnst gönne, den ich selbst gewinnen
könnte, so ist das wohl Edelmuth, aber es ist kein Ge
schäft mehr.
In der Geselligkeit aber beruht das ganze
Spiel auf der Verschiedenheit der Naturen bei der Gleich heit der geistigen Interessen: die Rücksicht, welche dem
Manne der Frau gegenüber eine übertriebene Decenz,
59 ja Prüderie auferlegt, macht allen freien Verkehr unmög
Maxima debetur puero reverentia: darum eben
lich.
gehören die pueri und namentlich die puellae nicht in
die Gesellschaft. muß
an
Wer an der Gesellschaft Theil nimmt,
den sie beseelenden Interessen vollen Antheil
Eine Frau, die wirklich ihren Einfluß
nehmen können.
in der Gesellschaft behaupten will, muß einer philoso
phischen Erörterung folgen können ohne zurückzubleiben, und einer politischen Auseinandersetzung ohne zu gähnen; sie muß
aber auch
ohne zu erröthen.
ein derbes Wort anhören können,
Sie braucht deshalb nicht selber neue
Philosopheme vorzubringen, politische Theorien zu ent
wickeln, oder gar Zoten zu reißen: auch im Kampfe um's Dasein haben ja die Frauen nicht die Offensive, oder
doch nur eine versteckte Offensive, und in dem großen Werke
der Welterhaltung
und
-entwickelung
ist ihre
Thätigkeit eine empfangende und wiedergebärende, keine gebmde und zeugende. Daß sie aber in der Geselligkeit
auf jene übertriebene Rücksicht verzichten können ohne
unweiblich zu werden, das beweisen die edlen Frauen
des
italienischen Quattrocento und Altfrankreichs
zur
Genüge; daß diese ganze Prüderie nicht in der englischen
Natur liegt, daß sie ein Produkt der modernen Conven
tion ist, das beweisen die bezaubernden Gestalten einer Beatrice und Rosalinde, einer Porti« und Isabella, einer
Imogen und Ophelia,
deren Sittsamkeit und Reinheit,
wahrlich durch die Unbefangenheit, mit der sie die Dinge bei ihrem
Namen nennen oder
scherzen, nicht
getrübt wird.
über das
Natürliche
Oder sollte Shakespeare
etwa diese unwiderstehlichen Jungfrauen und Frauen nie gesehen, nur aus seiner Phantasie hervorgezaubert haben?
60 Die Hauptschuld an dieser Unnatur der englischen Gesellschaft hat wohl die religiöse Bewegung gehabt, welche gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die schöne gesellschaftliche Entwickelung Englands ein zweites Mal unterbrach, wie die gleichzeitige politische Reaktion die staatliche Entwickelung unterbrach. Ich habe früher hier
ausgeführt, wie die englische Geistesfreiheit, die sich sieg reich aus den Banden des Puritanismus und dem Schlamme der Restauration erhoben hatte, wieder zer stört wurde und der Cant, wieder, wie im 17. Jahr hundert, wenn auch in etwas anderer Gestalt, die unum schränkte Herrschaft des englischen Geistes an sich riß. Noch unumschränkter war seine Herrschaft über die Ge
sellschaft. Wer sich gegen sie auflehnte, wie Byron und Shelley, mußte ins Exil wyndern. Heuchlerische Respek tabilität breitete ihre grauen Schleier über'S ganze . Leben, bleierne Gravität lagerte sich über die Geselligkeit, ortho pädische Prüderie legte ihr ihre Zwangsjacke an. Wohl
war da- England des vorigen Jahrhunderts nicht sehr fein und heikel in ben Sitten; aber mochte auch ein Addison allabendlich etwas über ben Durst trinken, ein Fielding des Guten etwas zu viel thun in freier Rede, ein Goldsmith dem Zigemlerthum allzu rücksichtslos hul digen: wo ein solches künstlerisches Formgefühl, ein solches Maß im politischen Urtheil herrschte, da hätte sich auch bald ein gesellschaftliches Maaß ausgebildet und eine Clariffa Harlowe, an deren Tugend wir doch nicht zweifeln können, eine Sophia Western, deren Unschuld aus.jedem
Worte spricht, zeigen, daß auch die Frauen schon auf dem Wege waren, Freiheit und Sitte, Natur und Bildung in sich zu vermählen. Seit das engste religiöse Jntereffe
61 wieder in den Vordergrund
trat und gegen die freie
Bildung des Jahrhunderts reagirte, wie einst der Puri tanismus gegen die Renaissance, wurde auch die Gesell
schaft tief davon bestimmt.
Glücklicher Weise ward's
einigermaßen durch das politische Leben, das stets Eng
land wie ein erfrischender Luftzug gereinigt und gekräftigt
hat, im Schach gehalten. Denn die Politik blieb selbst jetzt noch,
was die
Kunst einst für Italien gewesen war: das Alles beherrschende.
Alles durchdringende nationale Interesse.
Ihr ist es zu
danken, daß die englische Gesellschaft im Ganzen so ge
sund geblieben.
Sie auch erhielt die Einheit der natio
nalen Cultur, welche das Sectenwesen zu zersplittern
drohte, wie die politische Freiheit die Jsolirung der Stände, die politische Centralisation
die Vereinzelung
durch's Landleben verhinderte und so ein gegliederter,
in seinen Gliedern ganz freier Organismus Herauswuchs, der von der centralisirten Mechanik des
französtschen
Staates so entfernt war, als von der Zusammenhangs-
lostgkeit des deutschen Nationallebens.
In dieser kräfti-
gen Atmosphäre der Oeffentlichkeit mag wohl die schöne Blüthe der Geselligkeit, wie sie die italienische Renaissance
und Altfrankreich kannten, nicht gedeihen; aber man darf
auch den Werth einer solchen Geselligkeit nicht überschätzen. Ein gesundes öffentliches Leben, eine fruchtbare geistige,
eine lebhafte wirthschaftliche Thätigkeit, ein voller, wenn auch nicht eben verfeinerter Lebensgenuß sind Dinge, die
schon im Einzelnen, wievielmehr noch zusammengenommen, jenen Vorzug wohl bei Weitem aufwiegen: und
wenn
die nicht eben glückliche, ja oft etwas lächerliche Sucht nicht da wäre, eine solche Geselligkeit herzustellen, ohne
62 doch ihre Bedingungen annehmen zu wollen, so würde
der Fremde kaum daran denken, diese Lücke im eng lischen Leben als eine Lücke zu empfinden.
Am Wenigsten
der Deutsche, der ja selbst diese Art höherer Geselligkeit, wie sie
Italien und Frankreich einst ausgebildet, so
gänzlich entbehrt.
IV. Hat
nun
Deutschland
überhaupt
eine
nationale
„Gesellschaft" in dem Sinne, wie die andern Cultur völker Europas — eine Gesellschaft, die ja auch ohne höhere
Geselligkeit recht gut gedacht werden kann? versucht, es zu bestreiten»
Man ist
Wohl hatten wir eine solche
Gesellschaft vor dreihundert Jahren, aber sie wurde zer
stört im dreißigjährigen Kriege und wir arbeiten seitdem an ihrer Wiederherstellung, namentlich jetzt, wo unser
nationaler Staat glücklich wieder hergestellt ist. Vor 1618 war die deutsche Gesellschaft
der italienischen nicht un
ähnlich, wie benn überhaupt die historische Entwickelung
beider Rationen eine anffallende, obschon leicht erklär lich- Aehnlichkeit besitzt.
Unsere Städte
bildeten dm
Mittelpunkt der Cultur und in diesen Städten war es
der Handelsstand,
welcher den Ton
angab.
Großer
Wohlstand, europäische Beziehungen, gediegene Bildung hatten eine gewisse Großartigkeit des Lebens zur Folge, die seitdem abhanden gekommen ist.
Man liebte eine
schöne Umgebung, ein anmuthig geschmücktes Haus, ele gante Jnnungs- und Zunstsäle, reiche und künstlerisch vollendete öffentliche Gebäude;
aber von eigentlichem
Luxus find nur wenige Spuren erhalten.
Das Leben
wie die Bildung, war eine allen höheren Ständen und
63 und beiden Geschlechtern gemeinsame, wie in Italien, und die Interessen — religiöse, politische, wie literarische und künstlerische — waren ebenso gemeinsam als die Bildung. Ritterliche Spiele, an denen Adlige und Patrizier ohne Standesunterschied theilnahmen, wechselten mit harter Arbeit auf dem Comptoir: denn der Erwerb war noch nicht als Schande angesehen und der Handel, der zwar viel durch die neuen Seewege gelitten, war noch immer blühend. Die Hansestädte hatten zwar etwas von ihrer Bedeutung eingebüßt, obschon namentlich Lübeck noch immer das Beispiel eines großstädtischen Lebensstyles gab; aber die ersten Firmen von Augsburg, Nürnberg, Frankfurt: die Fugger und Welser, die Hochstetter und Tücher, die Peutinger, Pirckheimer, Glauburg waren noch unerschüttert und die Inhaber dieser Firmen waren die Freunde von Fürsten und Edelleuten, Künstlern und Gelehrten; ihre Verhältnisse zu Reuchlin, Hutten, Dürer, Erasmus, Melanchthon waren die vertrautesten und die Töchter und Frauen waren nicht vom Verkehre mit den
Vertretern der. klassischen Bildung und ,der Kunst aus geschlossen. Das ward Alles anders nach dem furchtbaren Kriege. Städte und Dörfer waren zerstört, der Wohlstand ver nichtet, der Handel im Verfall, das freie Bürgerthum gebrochen. Wie in Italien war die Arbeit in Unehre gefallen. Nur wer vom Ererbten zehrte, galt noch für
vornehm. Alle geistige Bildung wax untergegangen; die Sprache selbst war verwildert. Eine fahle Gleichgültig keit war an Stelle des lebhaften Interesses getreten, welches die höheren Stände des vorhergehenden Jahr hunderts für religiöse, literarische oder politische Fragen
64 an den Tag gelegt hatten. Wie das Patriziat der Städte, so hatte auch der Kleinadel seine Unabhängigkeit einge büßt ; nur die Fürsten hatten — auf Kosten der Centtal
gewalt wie der höheren Mittelstände — ihre Bedeutung und ihre Macht vergrößert. Sie begannen nun die Organisirung dieser Macht durch ein zahlreiches Beamtenthum. In ihre Dienste ging der verarmte Kleinadel und bald auch das verarmende städtische Bürgerthum. Und wer einmal in diese Kaste überttat, kam nicht wieder heraus: die jüngeren
Söhne traten nicht wieder zurück ins Bürgerthum wie in England; und wer einmal einen Titel hatte, dem und dessen Kindeskindern war die freie Arbeit auf immer untersagt. Denn es war die Zeit, wo das Titelunwesen begann. Natürlich genug: nur Betitelte konnten Rittergüter er werben, nur Betitelte konnten Staatsämter bekleiden, nur Betttelte waren hoffähig: und die Höfe — es gab deren nicht weniger als 500, ohne die dreimal so große Zahl der unmittelbaren Herren zu rechnen — waren die Mittelpunkte alles geselligen und staatlichen Leben», ihr
Thun und Treiben der Gegenstand aller Unterhaltungen. Und welche Höfe! Ohne Größe, ohne Bildung, ohne alle Originalität, hatten sie keine Jntereffen als die der Eitelkeit, keinen höheren Ehrgeiz als die Nachahmung der Außenseite fremder Cultur. Ihr Adel gefiel sich im leeren Lakaienthum; selbst der Kriegsdienst in den Duodez heeren ward vernachlässigt. Von geistigem Streben keine Spur, außer wo zufällig eine ausgezeichnete Frau ben Riegel sprengte und eine bessere Luft von Außen einströmen ließ. Draußen war's freilich kaum besser: bei der Abwesenheit jeder Centralisatton, ohne Hauptstadt,
ohne gemeinsames Interesse, zersplitterte sich Staat wie
65 Gesellschaft
in Hunderte, in lausende kleinster Kreise.
Immer mehr verengte sich der Horizont, immer ärm
licher gestaltete sich das Leben.
Kleinstädtische Neugierde,
Klatsch und Neid entwickelten sich über alle Maßen. Die Abhängigkeit erzeugte Servilität; die ewige Bevormundung
zusammen mit der Abwesenheit allgemeingültiger Formen hatte jene Unsicherheit und Befangenheit
zur Folge, die
noch heute unsern Landsleuten anhaftet, sobald sie aus dem gewohnten Kreise der „Gemüthlichkeit" oder dem
Arbeitszimmer heraustreten und welche den Ausländern
so leicht als Ziererei vorkommt.
„Les ADemands sont
les plus sinceres des bommes, mais non pas les plus naturels,“ sagte der junge CH. de Rönmsat von uns, als er seine erste Reise durch Deutschland machte.
Immer
bester freilich, als wenn man von uns sagen könnte, wir seien die natürlichsten, aber nicht die wahrsten Menschen.
Auch von jener Kleinlichkeit im geselligen Verkehr, welche sich im 17. Jahrhundert entwickelte, sind noch nicht alle
Spuren verwischt und nicht mit Unrecht meint G. Freytag, unter jenen Verhältnissen wären „im Wesen der Deutschen einige Eigenschaften herausgebildet worden, welche noch
heute nicht ganz verschwunden seien; Sucht nach Rang
und Titeln;
innere Unfreiheit gegen Solche, welche als
Beamte oder Betitelte in höherer Stellung leben; Scheu
vor der Oeffentlichkeit; und vor Allem auffällige Neigung, das Wesen und Leben Andrer grämlich, kleinlich und stop-
tisch zu beurtheilen."
Und was hätten sie anders beur
theilen und besprechen sollen?
Von aller Theilnahme,
oder doch wenigstens aller bestimmenden Theilnahme an
den Staatsgeschäften ausgeschlossen,
lichkeit,
ohne ein
Gemeinwesen,
Hillebiand, Culuu geschichtliches.
ohne alle Oeffent
das den vereinzelten 5
66 Gliedern belebendes Blut zugeführt hätte, ganz auf die
Amtsstube und die Kneipe angewiesen, ohne commercielle, wie ohne politische Beziehung zum Ausland, in armseligen Verhältnissen, immer mit dem Bedürfniß ringend, —wie hätte sich der Mittelstand zu freier und und großer Welt anschauung aufringen können? Nur äußerst langsam mehrte sich der nationale Reichthum — denn Handel und
Großgewerbe erhoben sich erst wieder — und mit ihm entfaltete sich in unserm Jahrhundert ein freies Bürgerthum nach Stein's Verwaltungs- und Eigenthumsreformen, der Abschaffung der Privilegien, nachdem der Zollverein die
inneren Schranken beseitigt, die Flußzölle abgelöst, das Münzwesen immer mehr vereinfacht worden ist: denn unsre Väter haben noch alle jene willkürlichen Hemmnisse des Handels und Verkehrs in voller Blüthe gesehen, welche Deutschland, man möchte glauben, geflissentlich hindern sollten, die zweihundert Jahre Vorsprung, welche der dreißigjährige Krieg den übrigen Nationen vor uns ge geben, wieder einzuholen. Wie sich nun das Leben räumlich zersplitterte, Stadt mit Stadt fast alle Fühlung verlor, so theilte es sich auch ständisch: das Heer vom Beamtenstand, das Bürger thum vom Landadel, der immer mehr verwilderte, ver armte und, dem Gemeinwesen unnütz, seine Kraft ver geudete, bis er durch die preußische Armee zum Dienste
des Staates herangezogen wurde und sich nach und nach wieder in's nationale Leben einlebte. Unter diesen so getrennten Ständen nun ward bald das studirte Beamtenthum vorherrschend, eben weil der Landesfürst, dessen Organ es war, die einzige anerkannte Autorität bildete. Es ward für Deutschland, was der Großhandel-
67 itanb, der Waffen- und Gerichtsadel, die Gentry für
Italien, Frankreich und England waren: der herrschende Typus der deutschen Gesellschaft im 18. Jahrhundert. WaS sonst noch
an
„Honoratioren" in einer Keinen
Stadt lebte — der Professor, Arzt, Anwalt, die wenigen gebildeten Kaufleute — modelten sich nach ihm.
Es
war aber kein unabhängiger Stand, wie der wohlhabende,
unabsetzbare,
französische
Gerichtsadel.
Der
deutsche
Richter war ein Werkzeug des Fürsten wie jeder Beamte, erhielt aber nicht den fürstlichen Gehalt, der dem eng lischen Richterstand erlaubt, eine so große gesellschaftliche
Rolle zu spielen, sondern war und blieb auch ein, in dieser wie in jener Hinsicht, bescheidener unterwürfiger
Beamte: redlich, fleißig und pflichtgetreu, aber ohne be
stimmenden Einfluß in Staat oder Gesellschaft, arm und bedürftig, schüchtern und demüthig.
Schon seit dem Be
ginne des Jahrhunderts hatte man wieder, wie in früheren
Zeiten, zu Bürgerlichen greifen müssen und der Amts titel verlieh jetzt Rang in Gesellschaft, wie vorher der Geburtstitel. Es mußten „studirte" Leute sein und da alle
jene sogenannten Honoratioren in die Lateinschule gingen —
die einzige Schule, welche ein solcher Ort besaß — so be
kamen auch Alle, selbst die wenigen Kaufleute, die mit ihnen verkehren durften, eine gemeinsame und zwar ge
lehrte Bildung, was nun wieder der Weg zum Heil
wurde. Wie durch die Zucht dieses BeamtenthumS allmälig
der Staat wieder erstarkte, so durch seine Vorschule das
geistige Leben der Nation.
Aus Gymnasium und Uni
versität ist unsere neue Literatur hervorgegangen, welche auf mehr denn hundert Jahre für Deutschland das sein 5*
68 sollte, was die Kunst einst für Italien, die Politik für
England gewesen war: das nationale Interesse, das der
ganzen Cultur ihre Signatur gab.
Kein Wunder, daß
diese Literatur eine kritisch gelehrte war, innig verbun
den mit der Wissenschaft, durchdrungen von der Philo sophie, gepflegt vom Lehrerstande — eine Profefforenund Pfarrerliteratur, wie sie kein Volk und keine Zeit
je gekannt.
Das hat denn wohl seine Nachtheile, es hat
aber auch seine Vortheile für uns gehabte unsere schöne
Literatur schildert meist kleine Verhältnisse; ihr Ton ist
oft ein zu lehrhafter, ihrer Form mangelt es zuweilen an Eleganz; die Interessen, um die sie sich dreht, sind rein geistige; es weht kein Luftzug öffentlichen Lebens
durch ihre Seiten und bei ihrem vorherrschenden Idealis mus kommt die Wirklichkeit ost zu kurz; aber welchen
inneren Adel verleiht ihr auch wieder dieser Idealismus! Welche Tiefe dieses Vorherrschen des Seelenlebens des.
Einzelnen über das Außenleben der Gesammtheit! Eben
weil die Kreise, aus denen diese Literatur hervorging, der Wirklichkeit so ferne standen, konnten wir zu dieser einzigen Freiheit der Weltanschauung kommen, welche
unsere Nation vor allen Andern auszeichnete.
Eine fest
gefügte Gesellschaft hält nur durch den Kitt der Vorurtheile, der Conventionen zusammen; der Charakter unserer
Cultur aber war die Vorurtheilslosigkeit während jenes Jahrhunderts.
Man denke an das Leben in Weimar
und Berlin; man vergegenwättige sich die Stellung der Juden, der Komödianten;, die Toleranz in Beurtheilung
der Eheverhältniffe — man kann sagen, unsere Literatur,
geboren zur Zeit der Empfindsamkeit, hat eigentlich erst die Liebesheirath in Deutschland eingeführt, wo bis dahin
69 allein die Vernunftehe gelitten war — man denke an die religiöse Duldung bei so tiefem religiösem Sinne. Diese Literatur vor allem gab uns die geistige Einheit, die dann thatsächlich auch der staatlichen Einheit den Weg gebahnt hat. In der That hatte die Nation durch
sie wieder einen Mittelpunkt gefunden, um den sie sich sammeln konnte. Das literarisch-wissenschaftliche Interesse trat für eine Zeit durchaus in den Vordergrund. Im Gegensatz zu dem, was bei allen anderen Völkern gesehen
worden, folgten die höheren Stände freiwillig der Leitung des Lehrstandes: Fürsten, Edelleute, Officiere, Beamte, Kaufleute, Frauen empfingen ihre Bildung, ja ihr ganzes geistiges Leben von diesem Stande. Die Frauen nament lich standen von Anfang an in engster Beziehung mit dem Gelehrtenthum und wirkten auf dasselbe fast ebenso sehr, als sie von ihm beeinflußt wurden. Von Sophie Charlotte, der Freundin Leibnitzens, bis auf Wieland's Gönnerin, Anna Amalia, zählt Deutschland überall aus gezeichnete Fürstinnen und Edelfrauen, welche das geistige Leben förderten. Man weiß aus Herder's und Goethe's Leben, welchen Einfluß Marie zur Lippe und Fräulein von Klettenberg auf die religiösen Anschauungen dieser unserer Culturbegründer gehabt. Wem ist die Rolle der thüringischen Damen— einer Stein, einer Kalb, der beiden Lengefeld —, wem die der Berliner Jüdinnen—einer Rahel, Henriette Herz, Dorothea Mendelssohn — nicht lebhaft gegenwärtig? Die Gelehrtenfrauen aber — eine Caroline Herder, eine Ernestine Voß, eine Caroline Schlegel — wett eiferten, wie die Frauen des Pempelforter und Ehrenbreit-
steiner Kreises, mit den Großstädterinnen und den adligen Damen. Das Alles soll sich seitdem gewaltig verändert
70 haben:
die Stände haben sich wieder mehr getrennt, so
sagt man,
wie die Geschlechter wieder in ein andere»
Verhältniß
zu einander
getreten find;
sogar religiöse
Gegensätze find, trotz — oder in Folge — verminderter
Religiosität wieder in unser Leben eingedrungen. der weltbürgerliche
Auch
Sinn scheint einem engerm patrio
tischen Gefühle Platz gemacht zu habm — alles Dinge, die ja wohl nöthig waren, wenn wir dazu kommen sollten,
eine nationale Gesellschaft aufzubauen, und welche auch
gar nicht so schlimm find, als die Bewunderer einer ab soluten sittlichen und geistigen Freiheit wohl anzunehmen
geneigt sind, vorausgesetzt, daß sie in Schrankm gehalten werden und nicht in Intoleranz, Kastengeist und starren Convmtionalismus ausartm.
Aber haben wir auch das
Gut wirklich erlangt, wofür wir diesen hohen Preis ge zahlt?
Haben wir eine nationale Gesellschaft in dem
Sinne, in dem ich Eingangs davon sprach?
Und wenn
nicht, was haben wir zu thun, um jene sociale Einheit
zu erlangen, ohne doch den Rest von Vorurtheilslosigkeit und Individualismus auftugeben, dm wir noch herüber gerettet aus unserer großen Zeit?
Und das ist nur wenig:
denn wenn wir auch noch keine Heerde bildm, wie z. B. die
sogenannte englische Gesellschaft, so bildm wir doch immer noch zwanzig Heerdm, bei denen die Individualität nicht
besser wegkömmt: Liberale, Ultramontane, Professoren,
Kauflmte und was es der Nationen mehr in der Nation
geben mag, bilden Welten für sich, die durch anscheinend unüberbrückbare
Kluftm
von
einander
getrennt
sind
und in jeder dieser Welten giebt's wieder der stillschwei genden Freimaurerschasten die Fülle.
Manches ist freilich
schon im Werke, was diesen Zustand innerer Zersplitte-
71 rung zu heilen verspricht ;
vor Allem hat der materielle
Wohlstand, der die Grundlage aller schönen Lebensformen ist, bedeutend zugenommen. Zugleich hat sich unserm ge
lehrten Mittelständen und armen kleinen Binnenstädtern,
durch den erleichterten Verkehr und die Verbindungen mit fernen Ländern, eine immer weitere Aussicht eröffnet,
haben sich die Berührungen mit der Wirklichkeit zusehends
vervielfältigt.
Immer mehr Jünglinge aus studirten
Kreisen treten in Handel und Gewerbe ein, kämpfen den
Kampf der freien Concurrenz und vermehren zugleich den nationalen Reichthum, indem sie den eigenen Charak ter stählen, sich zur Selbstständigkeit heranziehen. Ueberall,
im fernen Osten Jndien's, wie im fernen Westen Amerika's begegnet man unseren Pfarrerssöhnm, die sich als kräftige,
entschloffene,
praktische
Männer
entpuppen
und
als
unabhängige, freie Leute zurückkommen, die nicht mehr vor jedem Polizeidiener zittern. Unser politisches Leben wird von Tag zu Tag öffentlicher, und in dieser Oeffentlichkeit verschwindet immer
mehr jmes kleinliche Interesse ftir's Privatleben, welches selbst in der besten Zeit unserer geistigen Geschichte so
peinlich wirkte.
Die staatliche Einheit hat uns nicht nur
ein gewisses Selbstgefühl gegeben, das uns sehr mangelte und das bei allen Gutm ebenso entfernt von nationalem Dünkel als von der früheren Demuth ist, sie hat uns auch ein gemeinsames politisches Interesse gegeben.
Die
Armee, der wir so unendlich viel verdanken, die aber trotz des
großen,
nationalen Aufschwungs von
1813 doch
während des langen Friedens noch viel von ihrer junker
lichen Ausschließlichkeit bewahrt hatte, ist seit unserer
staatlichen Wiedergeburt der Nation wieder näher ge-
72 treten, verschmilzt immer mehr mit ihr.
Ist sie doch
jetzt für ganz Deutschland die gemeinsame Schule, in
der sich die Söhne aller gebildeten Stände erst als Frei willige, dann als Reserve- oder Landwehrofficiere
be
gegnen — und ich müßte mich sehr irren, wenn dieser
Bürger-Officier nicht einmal der Typus der deutschen Gebildeten werden sollte, wie der Mann der Gentry, der Gentleman, der der englischen geworden ist, zumal wenn
das Freiwilligenthum durch Hinausrücken der Berechtigung in die letzte Gymnasialklaffe wirklich wieder auf die Ge
bildeten beschränkt wird,
anstatt wie jetzt viele uneben
bürtige Elemente aufzunehmen, und wenn das Officiercorps der stehenden Armee sich, wie's seit fünfzehn Jahren
geschieht, täglich mehr aus den bürgerlichen Kreisen zu recrutiren fortfährt.
War bislang
der Beamte mit
seinen bald philisterhaften, bald burschikosen Gewohnheiten
der vorherrschende und tonangebende Repräsentant der
deutschen Gesellschaft, so wird's immer mehr der unab hängige Kaufmann und Industrielle, der zugleich Officier im nationalen Heere ist und dessen allzugroße Bequem
lichkeit durch die soldatische Zucht, dessen militärische
Steifheit durch die Gewohnheit der freien Bewegung vor-
theilhaft corrigirt werden. liche.
Doch dies ist nur das Aeußer-
Wie unsere Beamten auf der Universität den Geist
wiffenschaftlicher Bildung und idealer Freiheit athmen,
welcher sie so hoch über die Commis der französischen Bureaukratie erhebt,
so
begegnen
sich
unsere jungen
Männer während ihrer Militärpflicht im Dienste eines
Höheren, Außergewöhnlichen, was einer ganzen Cultur eigentlich erst ihre Weihe giebt.
Allerdings erzieht diese
militärische Schule unsere Söhne doch in erster Linie
73 nur zu Deutschen, will sie nur zu Deutschen erziehen.
Sie sollten aber auch zu Menschen erlogen werden: das thun unsere Gymnasien, unsere Realschulen, unsere Handels
schulen, Cadettenschulen nicht, oder nicht mehr: sie er ziehen sie zu Kaufleuten, zu Profefforen, zu Ingenieuren
und Militärs, was Alles erst die Aufgabe der Fachschulen, der Lehrzeit oder des Lebens ist.
Dagegen muß ge
arbeitet werden, als gegen die größte Gefahr, welche der
deutschen Cultur droht.
Erst wenn wieder alle Söhne
der Gebildeten, welche Laufbahn sie auch später ergreifen mögen, bis zu ihrem achtzehnten Jahre auf derselben
Bank sitzen, an denselben Vergnügungen Theil nehmen, an derselben Quelle ihre geistige Nahrung schöpfen, kann auch wieder von einer deutschen Gesellschaft die Rede sein; nur so können wir uns, wie wir uns die literarische
Einheit erarbeitet, die staatliche Einheit erfochten haben,
die gesellschaftliche Einheit, die wir Alle vermissen, an
erziehen.
in. Illngdeutsche und Kleindeulsche (1830—1860).* Eine Vorlesung. Deutschland
hat
seit 1830
nicht
brach gelegen.
Es hat einen Dichter von Gmie und viele von Talent
hervorgebracht.
Es hat der Welt große wissenschaftliche
und historische Werke gegeben, welche selbst in der Epoche,
die wir zusammen finden.
studirt haben, ihres Gleichen nicht
Große Entdeckungen in bett Naturwissenschaften
sind gemacht worden. ken,
wie
Aber neue, bahnbrechende Gedan
die der sechszig bis siebenzig Jahre,
betrachtet haben, sind
Wissenschaft
nicht hebvorgetreten.
ist geschaffen worden.
die wir
Keine neue
Der deutsche Geist
ist eben seit Goethes Tode damit beschäftigt gewesen, die
Ideen der drei Generationen von 1760, von 1780 und
von 1800, denen die Nation ihre Wiedergeburt verdankt, weiter zu entwickeln und praktisch zu verwirklichen, aber
auch sie zu bestreiten und umzugestalten.
Wir haben
diese Ideen mit einander geprüft, und ich brauche nicht * Dieser, bereits 1881 in der „Gegenwart" veröffentlichte Aufsatz bildete das Nachwort zu einem Cyklus von 6 Vorlesungen über „die Entwickelung der deutschen Weltanschauung vom siebenjährigen Krieg bis zum Tode Göthes", welche der Verfasser int Frühjahr 1879 in der Royal Institution in London hielt. Hieraus erklärt sich die
Form der Anrede, in der er abgefaßt ist, wie das häusige Ver weisen auf Vorhergehendes. Die Herausgeberin.
75 länger dabei zu verweilen — oder wenn ich es thun
wollte, so müßte ich Sie um fünfzig Zusammenkünfte mehr ersuchen —, wohl aber bitte ich Sie, im Auge zu behalten, was ich als das eigentliche Wesen und die Ab sicht dieser Vorlesungen betrachtet wissen möchte: den Nachweis nämlich, daß die Weltanschauung, welche sich
für die letzten fünfzig Jahre als die europäische bezeichnen läßt, in Wahrheit von Deutschland eröffnet worden ist. Lassen wir uns nicht, weil gewisse Gedankenströmun gen die ganze Welt durchziehen, über deren Ursprung täuschen. Als ganz Europa an der mechanischen Natur erklärung mitzuarbeiten schien; als Galilei, Kepler, Des cartes dieser Aufgabe ihr Leben weihten, war es doch immer England, welches, nachdem es durch Harvey, Gil bert, Bacon den Anstoß gegeben, durch Hobbes, Newton, Locke die Leitung der Bewegung in Händen hielt. In ähnlicher Weise breitete sich die französische Welt anschauung des vorigen. Jahrhunderts aus. Kaum hatten die Montesquieu und Voltaire, die Rousseau und Diderot ihren Ideen Ausdruck gegeben, so gingen diese Ideen so fort in die europäische Circulation über, um überall
gleichsam in Landesmünze umgeprägt zu werden. Die selbe Erscheinung kann in den verschiedenen Phasen des Zeitalters beobachtet werden, während dessen Deutsch land die geistige Hegemonie besaß, d. h. etwa von 1763 bis 1830. Kaum hatte Winckelmann der Herrschaft des Rococo den Krieg erklärt, so schlugen überall in Europa die Skulptur, die Malerei und die Baukunst die neue klassische Richtung ein. Und als fünfzig Jahre später eine Reaktion gegen den style empire eintrat — der
ja nur eine Uebertreibung der Winckelmann'schen Theorien
76 war — als Chateaubriand in Frankreich und Walter Scott in England das Mttelalter in die Mode brachten, folgten sie, wenn auch nur unbewußt, der durch die deut schen Romantiker gegebenen Anregung. Das Gleiche endlich war der Fall mit der noch wichtigeren Umwälzung
in den historischen und Naturwiffenschaften, auch sie ergriff
von Deutschland aus ganz Europa. Nicht allein Augustin Thierry und Thomas Carlyle wären ohne die deutsche Gedankenrevolution unmöglich gewesen, auch die Betrachtungsweise, welche unser Jahr hundert dem Alterthum entgegenbringt und die so sehr von der Pope's und Voltaire's abweicht, auch sie ist das Werk Winckelmann's und Lessing's. Wenn nicht die Methode, so doch der Standpunkt, der heutzutage in der Naturwissenschaft der allgemein anerkannte ist, wurde zuerst von Goethe eingenommen. Die historischen Wiffenschaften — und darunter begreifen wir nicht allein Staats- und Literaturgeschichte, sondern auch Theologie, Philologie, Archäologie und Jurisprudenz — haben wäh rend des ganzen Jahrhunderts unter dem Einflüsse von Herder's Evolutionsideen gestanden, haben sich diesem Einflüsse auch heute noch nicht entzogen. Die verglei chende Linguistik, mögen wir sie nun als einen Zweig der Geistes- oder der Naturwissenschaften betrachten, hat noch nicht die Bahnen verlassen, welche W. von Hum boldt und Bopp eröffneten; und die romanische Philo logie hat bis jetzt ebenso wenig die Vaterschaft Diez'
verleugnet, als die germanistische nette Fundament der Philosophie worden. Schiller's Auffassung der mehr Anhänger gewonnen. Die
die Grimm's. Das ist von Kant gelegt Kunst hat sich immer Religionswissenschaft
77 und die unbefangene Gesinnung, in welcher unsere Zeit die Geschichte des Christenthums behandelt und we.lche sich so sehr von der Feindseligkeit des vorigen Jahrhun
derts unterscheidet, dankt Europa den deutschen Jüngern
Herder's.
Vor Allem aber die Bewußtheit, mit welcher
der Individualismus — ein, wenn auf deutsche Weise verstanden, conservatives Princip — noch hier und da
der überwältigenden Fluth der Gleichmacherei unsrer Zeit
widersteht, ist deutschen Ursprungs.
Ebenso die Bewußt
heit, mit der das Recht der genialen Anschauung — eines aristokratischen Princips — noch gegen die Alles
erobernde Methode der Analyse und des Rationalismus aufrecht erhalten wird, eine Methode, die in ihren letzten Ergebnissen ja immer das demokratische Interesse fördern muß, weil sie sich an die allgemeinste der menschlichen
Thätigkeiten
wendet.
Die Thatsache dieses Kampfes
genügt, um zu beweisen, daß die Grundideen der deutschen
Weltanschauung nicht ohne Widerspruch in Europa triumphirt haben.
Und übrigens läßt sich kaum behaupten,
sie hätten in Deutschland selbst triumphirt; denn auch da sind sie durch neue Strömungen bedeutsam modificirt
und corrigirt worden, gerade wie sie ihrerseits die eng
lischen und französischen Strömungen der Vergangenheit bedeutsam modificirt und corrigirt hatten.
„Die Romantiker waren Leute, welche mit den ihnen
durch die Epoche der Aufklärung . . . gelieferten Waffen die Aufklärung bekämpften in Wissenschaft, Kunst, Ethik
und Politik."
Mit diesen Worten charakterisirt einer
der begabtesten Junghegelianer, welche um 1830 gegen die Romantik
ausstanden, Arnold Rüge,
seine Gegner.
In der That rief die Uebertreibung der romantischen
78 Bewegung, wie es immer der Fall sein muß, eine starke
Gegenbewegung hervor.
Diese Reaktion fand auf allen
Gebieten des geistigen Lebens statt, wie ja auch die Ro mantik
hatte.
alle Gebiete
der geistigen Thätigkeit ergriffen
Das historische Princip war so auf die Spitze
getrieben worden, daß es zu der Rechtfertigung jedes Mßbrauches und jedes Verbrechens der guten alten Zeit hergehalten hatte, ja zu Plänen und Bemühungen die
Welt in jene gute alte Zeit zurückzuversetzen.
Hegel selbst ging nicht so weit.
Er blieb bis zuletzt
dem Ideal des modernen Staates und der protestantischen
Religion treu.
Feudalität
und Katholicismus blieben
ihm allezeit Dinge der Vergangenheit, welche durch keine Anstrengung wieder ins Leben zu rufen waren; aber er
sah in dem büreaukratischen Staate Friedrich Wilhelm'SlII.
das krönende Ergebniß aller historischen Evolutionen, das Ziel, auf das die ganze Geschichte Deutschlands hinge
steuert habe.
Er betrachtete die „evangelische Union"
Friedrich Wilhelm's III., deren Zweck war, Reformirte
und Lutheraner zusammenzubringen, als den letzten Aus druck der religiösen Entwickelung seines Landes.
Run
war aber diese Entwickelung — wenn wir der Identitäts
philosophie glauben sollen, die er modiftcirt, aber nicht
aufgegeben hatte — nichts Anderes als die Entwickelung der Weltvernunst selber in Zeit und Raum; und er gab dieser Ansicht ihre philosophische Formel, wenn er erklärt:
„Alles Seiende ist vernünftig
und
alles Vernünftige
seiend", — eine wohl zu pertheidigende Theorie, wenn man nur Hegels Prämisse annimmt, nämlich: daß seine dialektische Methode ein Denkproceß sei, identisch mit dem
Proceß der Dinge an sich, welch letzterer hinwiederum
79 nur der Proceß des sich selbst denkenden ewigen Gedan
kens sei.
Hegel hatte der Werdeidee Herders eine dialek
tische und metaphysische Form gegeben, denn die „imma
nente Negativität" der Dinge — d. h. daß jedes Ding sich ohn' Unterlaß selbst negirt, weil es sich ohn' Unterlaß
verändert — ist in der Form des Gedankens dasselbe,
was der Werdeproceß in der Erscheinungswelt ist.
Auf
dieselbe Weise hat er es unternommen zu beweisen, daß das Christenthum dem Bewußtsein des Absoluten in seiner
reinsten Gestalt, soweit Phantasie und Gefühl in Betracht
kommen, Ausdruck gegeben habe, daß es folglich die abso lute Religion sei, wie seine Philosophie natürlich die abso lute Philosophie war.
Zuletzt war er so weit gegangen,
alle die verschiedenen Dogmen des Christenthums so zu
deuten, daß sie Symbole seiner eigenen Philosophie nmrbeit.
Dies
forderte
Schüler heraus.
die
Rebellion
seiner
bedeutendsten
Strauß und Feuerbach, B. Bauer und
A. Rüge trennten sich von ihm und bildeten den linken
Flügel des Hegelianismus oder wie sie sich selber nannten, der „Junghegelianer". Strauß griff den Supernaturälismus sowohl als den theologischen Rationalismus mit
den Waffen der historischen Forschung „Leben Jesu", welches 1835 erschien.
an in seinem
Hegels früheren
Ideen getreu, stellte er in diesem denkwürdigen Buche den Ursprung des Christenthums als natürlich aus den Gedanken, Gefühlen und Zuständen der Zeit herausge wachsen dar, nicht als auf einen Schlag, durch einen
Zauberstab
geschaffen.
Er zeigte,
inwieweit Legende,
Mythe und Volksphantasie an der Entstehung des Christen thums theilgenommen, indem er gleicherweise die über natürliche wie die rationalistische Erklärung der Wunder,
80 ebenso warm aber auch die ehrfurchtslosen Ideen des
18. Jahrhunderts bekämpfte, welche in allen Religions gründern nur Thaumaturgen und Betrüger gesehen hatten. Er wurde so, zusammen mit F. C. Baur, der zugleich sein Vorgänger und Fortsetzer war, der Vater der neuen
theologischen Schule, welche als die Tübinger Schule be
kannt ist; während Feuerbach die theoretische Seite von
Hegels Lehre noch strenger der von seinem Meister ge lehrten
dialektischen Methode unterzog, indem er
das
Wesen der Religion im Allgemeinen erforschte, und bald
trat eine zahlreiche Schaar junger Denker in seine Fuß stapfen.
Eine Rückkehr zum gemeinen Menschenverstand
in der Philosophie, zur Kritik in der Theologie, war die
Folge dieser Anwendung von dem Hohenpriester der „offi-
ciellen" Philosophie. Selbst auf dem Gebiete der heidnischen Mythologie stand der Geist der Aufklärung noch einmal auf gegen den Geist dämmernder Ahnung; und Voß wie Lobeck warfen Creuzer im Namen von Verstand »md Ver
nunft den Handschuh hin. Etwas Aehnliches erfolgte in der Rechtswissenschaft
und der eigentlichen Geschichte.
Savigny wie Eichhorn
hatten gelehrt, daß unsere Zeit weder Beruf noch Befähi gung zur Gesetzgebung habe; daß alle fruchtbare Gesetz
gebung das Werk von Generationen sei; daß das römische Recht, welches noch in allen Ländern des Continents lebte,
das deutsche Recht, welches noch in England vorherrschte, nur der Ausdruck des Geistes, der Sitte, der Ueberliefe rung und örtlichen Bedingungen der Nationen fei. Schon
zu Hegels Lebzeiten hatte sein beredtester Schüler, Gans,
gegen die historische Schule die Rechte der Lebenden ver theidigt und zugleich auch die Rechte der Vernunft.
Und
81 inzwischen erschien die erstaunliche Entwickelung der friedericianischen und napoleonischen Gesetzgebung als lebendige
Widerlegung der historischen Theorie, wenn sie so weit
getrieben ward, wie es die Romantiker gethan hatten. Es war noch nicht eine Generation ins Grab gestiegen seit dem großen Werk Bonapartes, und der Code Na
poleon erwies sich schon als unausreißbar festgewurzelt in Frankreich.
Ja, das nichtpreußische Deutschland be
trachtete diese einfache verständige Gesetzgebung, welche
so sehr gegen seine eigenen mannigfaltigen, verwickelten und veralteten Gesetze abstach, mit dem Auge des Neides. Wohl hatte Napoleon seinen Code civil sowohl als seinen
Code pdnal und seinen Code de procädure — wie Fried rich II. dreißig Jahre vorher sein weniger umfassendes Landrecht — aus Bruchstücken früherer historischer Ge
setzgebung zusammengesetzt, genau wie seine Verwaltung nur die der alten Monarchie in einer Verkleidung war.
Doch dies wurde eben von dem Geschlechte von 1830
noch nicht klar eingesehen: es war noch überzeugt, diese ganze neue Organisation sei aus des Kaisers Haupt,
wie Minerva aus dem Jupiters, gesprungen und er habe sie ausschließlich gemäß den abstracten Grundsätzen der
Gerechtigkeit und Nützlichkeit gestaltet.
An allen deutschen
Universitäten bestieg das Naturrecht, d. h. die rationa listischen Rechtstheorien, wie sie das 18. Jahrhundert seit Thomasius gelehrt, wieder die Katheder und vindicirte
die Rechte der Vernunft gegen den Absolutismus der
historischen Schule, über welche Goethe sich in so geist reicher Weise zum Voraus lustig gemacht hatte:
„Es erben sich Gesetz' und Rechte Wie eine ew'ge Krankheit fort, Hillebrand, CulturgeschichtlicheS.
6
82 Sie wälzen von Geschlecht sich zu Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage, Weh' Dir, daß Du ein Enkel bist,
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Bon dem ist leider nie die Frage."
Zahlreiche Geschichtsschreiber schlugen die Wege der neuen rationalistischen Rechtsschule ein. Deutschland ward
mit Geschichtswerken überschwemmt, welche die ganze Ver
gangenheit mit Beziehung auf die Gegenwart behandelten und sich nicht begnügten, die Thatsachen zu erzählen, sondern dieselben vom Standpunkte der französischen Libe
ralen oder der französischen Republikaner jener Tage commentirten. Rottecks und Weickers großes Staatslexi kon, welches ganz unter dem Einfluffe des formellen fran zösischen ConstitutionalismuS geschrieben war, wurde die Bibel der neuen liberalen Doctrinäre, die überall in Deutschland austraten und in den kleinen Kammern von Karlsruhe und Darmstadt die großen rednerischen Tur niere von Paris unter der Restauration und Louis Phi
lipp nachmachten. Wenn der praktischste aller Staats männer, wenn Lord Palmerston naiv glaubte, das Recept einer parlamentarischen Verfaffung, reinlich geschrieben auf weißem Papier, könne in Spanien und Griechenland arbeiten, wie das Gebilde der Jahrhunderte, welches die brittische Constitution heißt, in England arbeitet, so waren die deutschen Profefforen von 1830 gewiß zu entschuldi gen, wenn sie wähnten, sie könnten diese zarteste und abnormste Regierungsform in ihre bureaukratischen Staa ten einführen. Hatten die französischen ConstitutionSfabrikanten, Benjamin Constant an ihrer Spitze, dieselbe
nicht für festländischen Gebrauch hergerichtet?
83
Indeß gab es eine Partei, die noch weiter ging als
die konstitutionellen.
„Jung-Deutschland" — so nennen
wir die Gruppe jugendlicher Schriftsteller, geboren um das Jahr 1810, welche gegen 1830 in die Fußstapfen
Börnes und Heines traten — Jung-Deutschland blieb
nicht bei der Repräsentativmonarchie stehen, wie sie in
der Philosophie nicht beim Deismus stehen blieben, ob gleich Heine selber immer der Theorie eines beschränkten
Königthums anhing und am Ende seines Lebens zu dem
„einfältigen Glauben an den lieben Gott des gemeinen Mannes" zurückkehrte, wie er selber zu sagen pflegte.
Laube und Gutzkow, Wienbarg und Rüge griffen das
Christenthum und sogar das Hegelthum, in welchem sie groß geworden, mit der Heftigkeit der französischen Re volutionäre von 1792 an.
Sie legten eine ausgesprochene
Hinneigung zum Atheismus und Materialismus in der Philosophie, zum Jacobinismus in der Politik an den
Tag; sie predigten sogar mit den Saint-Simonisteu die
Emancipation der Frauen und die Abschaffung des persön lichen Eigenthums. Geister.
Sie nannten sich stolz „moderne"
Sie erhoben Einsprache gegen jede Form der
Aristokratie, der gesellschaftlichen sowohl als der geistigen. Der Staat sollte die eine Alles regelnde Macht werden,
aber nicht der historische Staat, wie er im Laufe der
Jahrhunderte emporgewachsen, sondern der moderne Staat, aufgebaut nach den Vorschriften der Vernunft — oder Jean Jacques'; nicht einmal der Staat von 1790, son
dern der demokratische von 1793.
Die Stelle, welche
bis dahin die Großen — Könige, Aristokraten, Genies — eingenommen, sollten fortan vom Volke eingenommen
werden, das zum Helden der Geschichte und des öffent-
6*
84 lichen Lebens roetben sollte.
Zugleich forderten sie, nicht
nur für das Volk, sondern für sich selber, das Recht auf
materiellen Genuß, ja auf Luxus; nicht die Gleichheit im Elend, sondern die Gleichheit im Wohlstand war ihr unerreichbares Ideal.
Ihre Religion war die Wiederher
stellung des Fleisches; Wissenschaft und Dichtkunst waren ihnen nur Mttel, um ihr neues Evangelium zu predigen und
zu verbreiten. Ihr letzter und gefährlichster Schüler, Lassalle, starb erst vor fünfzehn Jahren, nicht ohne Deutschland sein
verhängnißvolles Vermächtniß hinterlassen zu haben.
Börne und Heine, welche das erste Zeichen zu dieser Reaktion zu Gunsten des Rattonalismus gegen die Ge schichte, und der französischen Idee gegen die deutsche
gegeben hatten, gingen, wie gesagt, nicht so weit.
Heine
war zu sehr Künstler, um von solchen Ausschreitungen nicht verletzt zu werden; Börne zu sehr Stoiker, um solche Ausschreitungen mitzumachen: sein Ideal war der
unbestechliche Robespierre, nicht der Epikuräer Danton. Heinen lieferte die Politik wie die Religion, die Geschichte wie die Philosophie nur die Themata für seine dichte rischen Variationen.
In Wirklichkeit waren sie ihm so
gleichgültig, als die religiösen Gegenstände der großen
Kunstwerke der italienischen Renaissance den Künstlern,
die diese Werke hervorgebracht
haben.
Trotz
alledem
waren es Börne und Heine, welche das Beispiel gegeben hatten.
Heine selber hatte, wie ich schon bemerkt, der
romantischen Schule angehört, ja er war der persönliche Schüler A. W. Schlegels gewesen.
Er hatte mit zwei
romantischen Tragödien angefangen, welche nur zu deut lich die Spuren des Einflusses seines Lehrers
an
sich
tragen und es war ihm vorbehalten, im „Atta Troll"
85
und im „Romanzero", das zu schaffen, was die Roman
tiker selber nie fähig gewesen waren zu schaffen:
das
ideale romantische Gedicht; selbst die so sehr anempfohlene
Ironie Friedrich Schlegel's fehlte nicht darin.
Allein
Heine war immer ein etwas undisciplinirter Schüler ge wesen.
Schon mit sechszehn Jahren hatte er sein Lied
von den napoleonischen Grenadieren gesungen,
welches
mit der ganzen Richtung seines Lehrers im Widerspruch
stand; und Sie misten, wie er das Thema des Napoleon cultus in dem unvergleichlichen Prosagedicht vom „Tam
bour
Legrand"
darstellte.
Nun
vernachlässigte
aber
Deutschland eine Zeit lang Heine, den unsterblichen Dichter, für Heine den ephemeren Politiker und Philosophen — es giebt viele Ausländer, die das immer noch thun —
und
ließ
sich von dem unwiderstehlichen Zauber einer
Prosa und eines Verses, wie es sie seit den großen Tagen Goethe'« und Schiller's nicht mehr gehört, dazu verführen,
die dürftigste aller Lehren anzunehmen, während Börnes
unerreichter Witz eine Zeit lang vergessen machte, daß sein politisches Ideal noch seichter war als das Heine's. Die befreiende Bewegung von 1813, die Erhebung
der ganzen Nation gegen das fremde Joch, hatte unter
der Inspiration der Romantik stattgefunden. die Gestalt
Sie hatte
eines Kreuzzugs angenommen, nicht allein
-egen Napoleon und die Franzosen, sondern auch gegen
Radikalismus, Demokratie und die kosmopolitischen Forde-
-rungen des 18. Jahrhunderts und der großen Revolution. Sie hatte sich an den christlich frommen Sinn, die deutsche
Vaterlandsliebe, die feudale Treue gegen die angestammten
Fürsten gewendet;
und diese Gefühle waren noch sehr
stark, als Börne und Heine gegen 1825 den Aspira-
86 Honen des jungen Geschlechts Ausdruck gaben, welches die
Härte des fremden Druckes nicht gefühlt und dem die staatliche Wirklichkeit, welche der begeisterten Erhebung von 1813 gefolgt war, nur bitterste Enttäuschungen ge
bracht hatte.
Der schamlose Despotismus der Väter des
Vaterlandes — meistens von Napolöon's eigener Mach'
oder wenigstens doch Beförderung —, die kleinliche Ty rannei ihrer Werkzeuge und
der' religiöse Fanatismus
oder die religiöse Heuchelet,
welche schon angefangen
hatten sich
in den amtlichen Sphären Süddeutschlands
zu zeigen, waren ganz genügend, die Jugend der romantischen Sache zu entfremden. Es war die Zeit, wo Grabbe
seine Tragödie der „Hundert Tage" schrieb, wo Zedlitz sein Gedicht von der „nächtlichen Heerschau" des todten Cäsar dichtete, wo W. Müller's Griechenlieder und Mosen's
Polengesänge in den Straßen jeder deutschen Stadt wieder hallten.
Die Reaktion zu Gunsten des Kosmopolitismus
und des Humanitarismus gegen patriotische Einseitigkeit,
und französischer Sympathien
gegen deutsch-nationale
Vorurtheile war zugleich eine halbe Rückkehr zu den Ideen, welche in den Zeiten Schiller's und Goethe'« geherrscht
hatten und deren Darstellung der eigentliche Gegenstand dieser Vorlesungen gewesen
ist.
Eine halbe Rückkehr,
sage ich — denn indem man der Aristokratie die Demokratie,
dem Individualismus die Maffen, den Ideen des Wach
sens und Sichentwickelns das mechanische Machen des Staats und der Gesetze entgegenstellte, war man ja im Widerspruch mit der Weltanschauung Herder's und Goethe's.
Aber in ihrem Kosmopolitismus und Heidenthum stand die Zeit ganz unter der Herrschaft des großen Humani-
tariers und des großen Heiden.
87 Die franzosenfreundliche, demokratische und rationali stische Strömung, welche von Börne, Heine und Jung-
Deutschland ausging, herrschte fast ein Merteljahrhundert vor, von 1825 bis etwa 1850. Als aber, in Folge der fehl
geschlagenen Versuche von 1848, eine große Ernüchterung eintrat und mehr noch unter den Eindrücken, welcher der Ban kerott der französischen Demokratie 1849 hervorrief, kam wie
der eine entgegengesetzte Strömung in Deutschland obenauf. Schon gegen 1840 hatte diese neue Strömung begonnen, die Strömung des deutschen Nationalfinnes gegen fremden Einfluß und vor Allem gegen Frankreich. Von 1840—1848 waren die Germanistenversammlungen, d. h. Begegnungen deutscher Philologen, Juristen und Historiker, für Deutschland, was die congressi scientifici für Italien waren: Vorwand und Gelegenheit, die Ein heit Deutschlands zu verkünden und anzubahnen. Denn es stand geschrieben, daß unsre politischen Ideen ihre Gestalt von Profefforen empfangen sollten, wie Profefforen unseren literarischen und künstlerischen, unseren religiösen und philosophischen Ideen ihre Gestalt gegeben hatten. Wohl waren die beiden Männer — der, welcher uns eine nationale Dichtung und der, welcher uns einen nationalen Staat gegeben hat — keine Profefforen; aber hätten sie ihr Werk ausrichten können, wenn die Profefforen nicht den Boden für sie vorbereitet hätten? Würden sie es nicht in noch befriedigenderer Weise ausgerichtet haben, wenn die
Profefforen nicht fortgefahren hätten sich hineinzumischen?
Der Ausbruch des französischen Chauvinismus — das häßliche Wort scheint in allen neuen Sprachen Bürger recht erworben zu haben — und die Eroberungslust, welche die Franzosen 1840 verriethen, die Rufe nach dem Rhein»
88
welche in Paris erschollen, sobald nur Europa durch die orientalischen Verwicklungen mit einem allgemeinen Krieg bedroht war, trugen nicht wenig dazu bei, diese Strömung zu verstärken, namentlich in den bedrohten linksrheinischen Provinzen, welche ein besonderer Heerd der romantischen Bewegung gewesen waren. Doch war diese Strömung nichts desto weniger sehr verschieden von der von 1813, und sie wurde es nimmer mehr nach 1848, nachdem die romantischen Träume einer Wiederherstellung von Friedrich
Barbaroffas Reich unter der Form eines Siebzig-MillionenDeutschlands die Gründung des nationalen Staats ver
hindert hatten. Sie war im. Allgemeinen hauptsächlich gegen das gerichtet, was undeutsch war in dem politischen Rationalismus Jungdeutschlands — dessen beste Mäpner, von Börne, Gans und Heine bis auf F. Laffalle, merk würdiger Weise wirklich nicht deutschen Blutes, vielmehr Juden von Geburt, wenn auch nicht von Glauben waren. Die Kriegserklärung selbst war ein heftiges Pamphlet gegen Börne aus der Feder Gervinus'. Allein die 1850er Reaktion kleidete sich nicht in ein malerisches und poetisches Costüm wie die von 1813. Die neuen Patrioten hielten es für unnütz und kindisch, ihre Vaterlandsliebe durch weiße Hemdkragen, bloße Hälse und langes Haar an den Tag zu legen. Im Gegentheil affecttrten sie eher ein etwas bürgerliches und unauffälliges Aeußere. Sie fürchteten ja so sehr für unpraktische Schwärmer angesehen zu werden; ihr höchster Ehrgeiz war ja, für „positive" Leute zu gelten. Ihr idealer Typus in der Geschichte war der biedere, ehren
feste, prosaische Bürger des 16. Jahrhunderts, nicht der romantische Ritter des Mittelalters oder der teutonische
89
Häuptling barbarischer Zeiten. Die Stärke der Nation sahen ste im Mittelstand, und sie wandten sich gegen den Junkeradel ganz ebenso sehr wie gegen die demokratischen Massen. Sie träumten nicht von einem überlieferten
Königthum, sondern von einem Vertragskönigthum, wie es das englische seit 1688 ist. Sie zeigten keinerlei
Sympathien für die Kirche oder irgend welche religiöse Mystik, wie die, welche die Dichter von 1813 inspirirt hatte; sie wünschten im Gegentheil, die Welt recht fest davon zu überzeugen, daß sie Protestanten waren —nüchterne, un poetische Protestanten — zugleich aber auch Erben Kants, deffen rein sittliche Religion, ohne Dogmen und Cultus formen, die deutsche Religion par excellence sein sollte, d. h. die endgültige Form des Protestantismus, wie für die eng lischen Deisten des vorigen Jahrhunderts der Unitarianismus die endgültige Form des englischen Protestantismus war. Wenn sie aber Schüler Kants, des Moralisten waren, so ignorirten sie sehr nachdrucksvoll Kant, den Meta physiker. Jung-Deutschland war noch sehr stark mit
spekulativem Geist getränkt gewesen; es war unter Hegels unbestrittener Herrschaft herangewachsen. Die neue Schule wandte entschieden der Metaphysik den Mcken. Während ihrer Herrschaft über die öffentliche Meinung, wo nicht über Staat und Kirche, d. h. von 1850 bis 1866 un gefähr, schien sich eine Art von Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen Abneigung, gegen die philosophische Spekulation der Nation bemächtigt zu haben, geweckt wie sie war, und ernüchtert aus ihren metaphysischen Ausschweifungen. Sogar in der Behandlung der Wissenschaft ging man bis zum entgegengesetzten Extrem. Der große Vortheil von Kant's Einfluß war gewesen, daß die Wissenschaft während
90 der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts immer im philo
sophischen Geist getrieben ward.
Gewiß kamen Ueber
treibungen vor, sowohl in der sogenannten Naturphilo
sophie, wie in der Philosophie der Geschichte, welche beide nur zu oft die nüchterne und genaue Beobachtung
und Feststellung der Thatsachen verhinderten. Schule wollte positiver sein.
Die neue
Allgemeine Ideen hätten
nichts mit der Wiffenschast zu thun; ja man ging sogar so weit, die Geschichte als eine exakte Wiffenschast zu
behandeln.
Die berühmte „deutsche Methode" datirt von
dieser Zeit.
Phantasie und sogar Intuition wurden aus
den historischen Studien so gut wie aus der Naturforsckung verbannt.
Thatsachen allein sollten ausgesucht,
gesichtet und angehäust werden, keine andere Verbindung der Thatsachen wurde zugelaffen, als die von Ursache
und Wirkung; und die Schüler wurden so gut dressirt,
daß es ihnen schließlich gelang, nicht nur die Thatsachen zu finden, der sie bedurften und sie in dem Lichte zu sehen, welches ihnen diente, sondern auch das Leben aus der Geschichte hinauszutreiben, welche doch nur Entwickelung
des
Lebens ist.
Selbst die gegenwärtige Generation,
welche zur lange vernachlässigten Philosophie zurückgekehrt
ist, wird in ihren Forschungen von einem ganz andern
Geiste beseelt, als der war, welcher in Hegels Zeiten vorherrschte.
Es ist in der That Kant's Kritik der reinen
Vernunft, mit ihrem streng experimentalen
Charakter,
und ihrem Gegensatz zu aller aprioristischen Spekulation, zu welcher der auf die Thatsachen gerichtete Nachwuchs
von heute wieder gegriffen hat.
Mit anderen Worten, die
Enkel sind zu dem Punkte zurückgekehrt, von dem aus ihre Großväter einst ausgezogen waren auf ihre merk-
91
würdige Odyssee, und es kommt ihnen auf ihrer neuen Fahrt all das Licht zu statten, welches der mittlerweile erzielte Fortschritt der Naturwissenschaften auf ihre Bahn
wirft. Aber nicht die zünftigen Philosophen allein, die Männer der Wiffenschaft selbst, namentlich die Physiologen, treten heute mit sicherem Fuße in die Spuren des großen Erneuerers der modernen Gedankenwelt. So völlig aber die Männer von 1850 sich von allen philosophischen Ideen abkehrten, so wenig ver
schmähten sie politische Ideen; ja, die Geschichte wurde bald unter ihren Händen ein Zeughaus von Argumenten
für ihre politischen Ansichten.
Die „Gothaer" —
so
nannte man sie in Folge des Gothaer Parlaments von 1849, wo sie die Mehrheit bildeten — dachten, wenn sie es auch nicht sagten, die Politik allein verdiene eine mündig gewordene Nation zu beschäftigen. Sie waren tüchüge Liberale constitutioneller Schule; aber ihr Ideal war die alte englische Constitution, nicht die französische
von 1830. Im Allgemeinen hegten ihre Führer, von Dahlmann und Gervinus bis auf Weitz und Gneist, Sybrl und Häufler, entschieden englische Sympathien, bis — ja bis zu einer Zeit, welche jenseits der Grenzen des Vegenstandes liegt, den ich hier zu behandeln habe. Wie die englischen Liberalen der alten Schule, warm sie zu einer Art von Compromiß gelangt zwischen dem politischen Rationalismus und dem „Historicismus". Sie hielten noch fest an der deutschen Idee der Entwicke
lung — der einzigen großen deutschen Idee, der sie treu bliebm; aber sie corrigirten dieselbe bewußt, wie die Engkinder fast unbewußt gethan hatten, durch die An-
paffmg der Vergangenheit an die Forderungen der Gegen-
92 wart.
Sie sahen historischen Sinn nicht in der Rückkehr
zur Vergangenheit, oder in einem Jnnehalten in der Geschichte an einem gegebenen Punkte, sondern im fort
währenden Fortschritt.
Ueberdies, da sie- obschon meist
Professoren, praktische Politiker zu sein behaupteten, keine Träumer und Theoretiker, so war's ihnen nicht darum zu thun, Friedrich den Rothbart in seinem Kyffhäuser zu wecken
und das „heilige römische Reich deutscher Nation" mit seinen 70 Millionen Seelen und seiner Herrschaft über Ungarn und Italien, Polen und Burgund wieder ins Leben zu rufen.
Sie wollten nur einen Nationalstaat haben, der
stark genug wäre, sich ftemder Angriffe zu erwehren,
nicht so mächtig, daß er die Furcht oder den Argwohn benachbarter Nationen hervorriefe, ein Staat gleich denen, welche Ludwig XI. von Frankreich, Heinrich VII. von
England, Ferdinand der Katholische von Spanien ge
gründet oder doch vollendet hatten.
In Folge dessen
legten sie höchst bezeichnender Weise Protest ein gegen die Ottonen und Friedriche des Mittelalters, die anstatt
die verständige und maßvolle Polittk Heinrich des Finklers zu verfolgen, sich in Rom die Cäsarenkrone holten.
Und
da Oesterreich noch als der natürliche Erbe des heiligen
römischen Reiches betrachtet wurde, und sich selber als solchen
bettachtete; da seine Besitzungen zum großen Theile außer halb der Grenzen der deutschen Sprache und der deutschen Interessen lagen; da-es durchaus katholisch war: wurde
der Ausschluß Oesterreichs ein Artikel und Hauptartikel des
neuen politischen
zwar der
Glaubens.
Daher
der Name der Partei „Kleindeutsche", im Gegensatz zu jenen im Jahre 1848 noch zahlreichen Nachzüglern der
romantischen Schule, welche die deutschen Interessen „am
93 Mincio" vertheidigt wissen wollten, Oesterreich als den
Vorkämpfer deutscher Größe ansahen und gewöhnlich die
„großdeutsche" Partei genannt wurden.
Die Kleindeutschen hatten in der That von Anfang an die klare Einsicht, daß das protestantische Preußen die Macht
sei, welche den ersehnten Nationalstaat zu verwirklichen
bestimmt wäre, stark genug seine Unabhängigkeit zu ver
theidigen, ohne doch nach einer politischen Hegemonie in Europa zu trachten, wie die, nach welcher ein Karl V. oder Ludwig XIV. die Hände ausgestreckt, und wie sie
noch in den Köpfen der Patrioten von 1813 gespukt, als sie davon träumten, den Tod des jungen Konradin zu rächen und das Reich seines Ahnen wiederherzustellen.
Ihr Ziel sollte ein durchaus realistisches sein; ja sie hingen gerne eine Verachtung für hochfliegende oder em pfindsame Ideen heraus, welche im Auslande nicht genug
sam als die fanfaronnade de vice aufgefaßt ward, die sie im Grunde war.
Es lag ihnen so sehr am Herzen,
der Welt zu zeigen, sie seien nicht mehr schüchterne,
bescheidene,
träumerische Gefühlsmenschen, daß sie
manchmal übertrieben;
denn sie reagirten
es
nicht allein
gegen die Laxheit der sittlichen Prinzipien, das Zigeunerthum, den Jacobinismus und
die französirende
Weise
Jung-Deutschlands, deren gallischer Frivolität sie
ihren
teutonischen Ernst entgegensetzten, sondern auch
gegen
die Manie für poetische Phantasiecostüme und den un praktischen Enthusiasmus der Patrioten von 1813.
Mehr
als das, sie reagirten auch gegen den Idealismus der
Goethe- und Schiller'schen Zeit, gegen ihren übertriebenen Individualismus, gegen
ihr
ewiges
Sichselbsterziehen,
gegen den ganzen Cultus der schönen Seelen, gegen ihren
94 Kosmopolitismus, auch gegen ihre Humanitätsbestrebungen
und ihre Vorurtheilslosigkeit; vor Allem aber gegen ihre Entfremdung vom öffentlichen Leben, ihre ausschließliche
Bewunderung der Kunst und
des Denkens, als
der
beiden höchsten menschlichen Thätigkeiten. GervinuS bricht am Ende
seiner, Geschichte
der
deutschen Dichtung, welche 1835 bis 1843 erschien und eine Art patriotischen Pamphlets in fünf dicken Bänden war, in folgende Worte aus, welche der halbunterdrückten Idee Ausdruck gaben, die sein ganzes Buch durchzieht,
wie sie die Unterströmung in seiner ganzen Generation gewesen ist: es bedürfe keiner Umwälzung, meint er; „wir
möchten Kräfte endlich gebrauchen, die wir haben . . ., wir begehren ein Regiment, das des Volkes innere Kräfte schätzen lerne und ihnen Spielraum gebe; wir möchten die Nation, die den Kern des Welttheils bildet,
der spöttischen Stellung entnommen sehen, die sie ein nimmt; wir wollten die Mündigkeit antreten . . .
Mit
welchen Mitteln aber auch die Erreichung dieses Zieles zu bewirken sein sollte, auf dem Wege unsrer bisherigen
Poesie würde weder der Zweck noch das Mttel erreicht werden ....
Ein Mann thut uns
noth ... wie
Luther war, der jetzt dieses Werk endlich aufnähme, das
der große Reformator schon Lust zu beginnen hatte .... Doch er verzweifelte an diesem Werke und wohl aus dem leidigen Grunde, daß er in diesem Volke keine politische
Natur erkannte. Denn was aus Kraft der Natur geschieht, sagte er, das geht frisch hindurch auch ohne alle Gesetze,
reißt auch wohl durch alle Gesetze; aber wo die Natur nicht da ist und soll's mit Gesetzen herausbringen, das
ist Bettelei und Flickwerk.
Nur so
ganz möchten wir
95 darum doch nicht an diesem Volkskörper verzagen . . . Wir wollen nicht glauben, daß eine Nation in Kunst,
Religion und Wissenschaft das Größte erreicht habe und im Staate gar nichts vermöge . . .
Was an uns liegt,
ist, ob wir die Winke der Zeit verstehen, die Zersplitterung unsrer Thätigkeit aufheben und unser Wirken nach dem
Punkte richten wollm, nach dem die ungestümsten Wünsche am lautesten geworden sind. Der Wettkampf der Kunst ist
vollendet: jetzt sollten wir uns das andere Ziel stecken, das
noch kein Schütze bei uns getroffen hat, ob uns Apollo auch da den Ruhm gewährt, den er uns dort nicht versagte. Der „Mann wie Luther war" kam, und der Erste,
der ihm den Rücken kehrte, war derjenige, der ihn so herbeigewünscht.
Der „Mann aber wie Luther war"
sah, was Luther gesehen hatte, nämlich daß die politische Begabung nicht in der Natur unsrer Nation liege, und
nachdem er umsonst versucht, den Nationalstaat mit Hülfe der Nation zu errichten, errichtete er ihn am Ende ohne
die Nation.
Kaum hatte er aber das Werk gethan, so
überschütteten ihn die Kleindeutschen, die ihn nicht begriffen
und ihn bekämpft hatten, mit Lob; denn sie sahen wohl ein, daß es ihr Traum war, den er verwirklicht hatte.
So rief er sie denn wieder zum gemeinsamen Werk, das darin bestand, das neue Gebäude einzurichten, und sie legten ihre Hand ans Werk, und sie bewiesen von Neuem, daß die politische Begabung nicht in ihrer Natur lag, und so trennten sie sich von Neuem, vielleicht für immer. Nichtsdestoweniger haben sie sich redlich bemüht und
bemühen sie sich redlich, eine politische Nation zu werden. Um zu diesem Ergebnisse zu gelangen, mußte Deutsch land, das sich während der vorhergehenden fünfzig Jahre
96 von allen gesellschaftlichen, religiösen und nationalen Vor
urtheilen fteigemacht hatte, sich dieselben künstlich wieder aneignen, oder doch wenigstens einen neuen „cake of
custom“, einen Complex solcher Vorurtheile Herstellen, wie sie für die prattischen Zwecke eines nationalen und politischen Lebens nothwendig sind.
Ein Mensch, der
alle Seiten einer Frage sieht, den die Leidenschaften des
Patrioten und des Parteimannes nicht rühren, der mehr
daran' denkt, in Ruhe gelassen zu werden, als auf Andere zu wirken, ein Mensch ohne Vorurtheile, in einem Worte,
der ideale Mensch der
Goethe'schen Zett, war wenig
befähigt für die neue Aufgabe. gute,
Für dieses Werk waren
kräftige, enge gesellschaftliche und sonstige Vor-
urtheile eine Nothwendigkeit.
Die Befestigung demnach
von Vorurtheilen, vor Allem dem nationalen Vorurtheile, war das hauptsächlichste, wenn auch unbewußte Ziel der
deutschen geistigen Bewegung seit 1850, und was das nationale Vorurtheil anlangt, so ist die Sache in der That gelungen.
Wann und wo auch immer nationale
Interessen in Frage kommen, halten wir Alle zusammen,
wie unsere Väter es nie gethan, und zeigen einen Gemein geist, der ihnen durchaus unbekannt war.
Ich kann das
selbe noch nicht von den Fällen sagen, wo die Interessen der Freiheit, einer guten Verwaltung, des Freihandelsu. s. w. in Frage kommen.
Es ist etwas Großes, daß
wir wenigstens in nationalen Fragen einig und einver standen sind, fast überttieben so.
Wie ich in meiner letzten
Vorlesung sagte*, der Niedergang des Individualismus,, ♦ In der That hatte ich bereits in der fünften (vorletzten) Vorlesung, nach Auseinandersetzung von Schiller's und W. von
Humboldt's Ansichten über ästhetische Erziehung und die Grenzen
97 dem wir seit 1850 beiwohnen, scheint eine Verneinung
der deutschen Idee x«t Qoxqv zu sein.
Allein er war
Punkte nothwendig, eben weil
zu einem gewissen
bis
übertriebener Individualismus den Menschen zum öffent lichen Lebm untauglich macht. Eines der ersten Mittel, jene Vorurtheile zu schaffen
und
eine ihrer letzten Folgen,
war die Schaffung des
Rattonalstolzes, einer Tugend oder eines Lasters, welches der Staatswirksamkeit, zum Schluffe folgende Aeußerung über Neu
deutschland gethan :
„Eines ist immerhin sicher: Schiller's Stand
punkt blieb der des ganzen Zeitalters in seinen größten Vertretern.
schwache
Die
Seite desselben fällt in die Augen; eine grausame
Wirklichkeit störte Deutschland bald auf, indem sie ihm rauh genug darthat, daß der so verachtete Staat der nothwendige Boden ist, auf
welchem allein der Mensch sich mit Würde und Sicherheit seiner ästhetischen Vervollkommnung hingeben kann.
sich seitdem umgekehrt in Deutschland. Schiller'S Zeit so
ganz
verwischt erschien, ist ausnehmend rege
ist
geneigt,
ihr Alles
Schiller's Idee ist darum nicht erloschen.
So lange
und mächtig geworden,
zu opfern.
Die Dinge haben
Die Staatsidee, welche in
und
die
Nation
der Nationalstaat, dessen Abwesenheit im Augenblick der Noth so bitter
empfunden worden,
noch im Bauen begriffen ist, ist es
natürlich, daß die Nation eine gewisse Einseitigkeit und Ausschließ lichkeit nach dieser Richtung hin an den Tag legen muß.
Für den
Augenblick scheint der Individualismus, wie ihn die großen Pfad
finder der deutschen Cultur gepredigt haben, fast verschwunden.
Die
Nation, in der Madame de Staäl keine zwei Köpfe fand, welche gleich über einen Gegenstand dachten, ist merkwürdig heerdenartig geworden, ja fast einförmig; der große Producent und Consument von Originalideen (als den wir Deutschland kennen gelernt) scheint heute damit zufrieden, von einigen wenigen mechanisch wiederholten Schlagworten zu leben. In der That sind der Individualismus,
der Humanismus, die Vorurteilslosigkeit und
die Abwesenheit
gesellschaftlicher Conventionen, wenn sie soweit getrieben werden, wie sie die Generation von Goethe und Schiller trieb, Hillebrand, Culturgeschichtliches.
7
absolute
98 der großen Periode von 1790 gänzlich unbekannt war.
Dieser neue Patriotismus nun hatte nicht die Unbefangen heit des französischen oder griechischen, welcher alle andern Rationen einfach als Barbaren betrachtet; noch die demüthige und empfindliche Zärtlichkeit des italienischen, der fich an sein wieder errungenes Vaterland anschmiegt,
wie eine Mutter an ihr Kind, welches vom Tode gerettet, aber noch schwach und zatt ist und kaum im Stande Hindernisse für das öffentliche Leben, welches nur vom Opfern der
individuellen Interessen und Ueberzeugungen zu Gunsten von Partei
grundsätzen und Nationalinteressen lebt.
Eine Nation,
Gesellschaftsklasse, oder eine Partei in einer
oder eine
Nation ist nur dann
unwiderstehlich, wenn fie eine ganze Reihe von gemeinsamen. Ge
danken, Gefühlen und Formen hat. eigenen
Weg
geht,
eristiren
So lange jeder Einer seinen
Klasse und
Nation,
Worten und können nicht dem schwächsten neuere deutsche Geschichte beweist das
Partei nur
Stoß widerstehen.
in Die
auf jeder ihrer Seiten. —
Der Individualismus hat aber nicht allein der Einförmigkeit, der Humanismus der Vaterlandsliebe Platz gemacht; Schiller's Gedanke selber, daß die Kunst die höchste Form
daß das gefällige,
praktische Leben
menschlicher Thätigkeit sei,
einem höheren
Leben
unter
geordnet werden müsse, ist, sozusagen, verschwunden, für den Augen blick wenigstens; denn ich hege die feste Zuversicht, daß, sobald der
langersehnte Nationalstaat vollendet und gegen innere
und
äußere
Feinde gesichert ist, Deutschland auch wieder zum
Credo
lichen Gründer seiner Cultur zurückkehren wird.
Freilich wird eS
dasselbe nur mit Modificationen wieder aufnehmen können.
der wirk
Es wird
sich nie wieder zu der unausgesprochenen Verachtung für den Staat bekennen, welche der ganzen Weltanschauung von Schiller's Generation
zu Grunde lag; aber es wird auch nicht länger int
Staate einen
Zweck sehen, wie eS thut, sondern ein Mittel — ein nothwendigeMittel, ein edles Mittel sogar, ein Mittel immerhin, keinen Znleck.
Es
erscheint
in
der
That
unmöglich,
daß die Nation
Lesfing'S
und Herder's, Goethe's. und Kant's nicht der Politik müde werden sollte,
wie
sie längst
der
Theologie
müde
geworden;
daß
sie
99 das rauhe Schulleben mit handfesten Kameraden mitzu machen. Er hatte auch nicht die kräftige Gesundheit des römischen und altenglischen, welcher einfach die .Existenz
aller derer ignorirte, die nicht „römische Bürger" oder „brittische Unterthanen" waren. Der neue deutsche Patriotis mus, welcher nicht mit dem altpreußischen verwechselt werden darf, war und ist nicht naiv. Er ist bewußt, er
ist absichtlich, er hat einen leichten Anflug von Pedanterie, weil er von Gelehrten und Literaten gemacht worden ist. nicht,
den
Theologen
Politikern die Politik überlastend,
die Theologie
überlassen
hat,
wie sie einst den
wieder
die Arbeit
an
dem idealen Lebensinhalt, anstatt an dessen enthaltenden Formen,
sich zur Ausgabe machen sollte.
Darin ist kein Widerspruch, wie
eS auf den ersten Blick erscheinen möchte.
Menn es Gebiete der
menschlichen Thätlichkeit giebt, wo der absolute Individualismus vom Uebel ist und ein Zeichen der Selbstsucht, so giebt eS andere, wo er so fruchtbar als edel ist. Collectivismus,
So ist es aber auch mit dem
wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf; ein
Segen auf einem Felde des Lebens, ist er ein Fluch auf dem andern. Ist es aber wirklich unmöglich, jeden von beiden in die Grenzen zu bannen, die ihn heilsam machen?
Das Deutschland von 1800
kannte nur den Individualismus; das Deutschland von 1879 scheint nur den CollectiviSmus zu kennen.
Das Deutschland der Zukunft,
wollen wir hoffen, wird sich dem Collectivismus unterwerfen und bereit sein, individuelles Denken und Fühlen zu opfern, wo
nöthig ist, es zu opfern, d. h. im Staat und der Gesellschaft.
es
Aber
es wird volle Freiheit des persönlichen Denkens und Fühlens bean
spruchen, wo der Individualismus allein Früchte tragen kann, d. i. in der Kunst und Wissenschaft.
Indem es aber dies thut, wird es
sÜhlen, daß es das bessere Theil erwählt hat: denn wer die Welt
— d. h. Menschen und Natur — zu durchdringen, treu und liebevoll
zn deuten sucht, sei's durch die Anschauung und Wiederschöpfung des Künstlers, sei's durch den Verstand und das Kennen des Gelehrten,
der hat eine höhere Thätigkeit erwählt, als derjenige, welcher nur in dem Staat und für den Staat und seine vorübergehenden Interessen lebt."
7*
100 Er ist entsprungen aus einem Gefühl des Mangel» an Patriotismus, der Vaterlandslosigkeit, welche vorher geherrscht hatte und gegen die eine Reaction nothwendig war. Er gleicht in dieser Beziehung der Religion der deutschen Romantiker, die' fast alle Freidenker gewesen
waren und sich eines schönen Tages entschlossen, sie wollten Gläubige werden, weil der Glaube eine noth wendige Grundlage für jede dichterische Vortrefflichkeit sei. Daher auch die Uebertreibungen des deutschen Pa triotismus. Er kam nicht natürlich oder spontan zur Welt; er war eine Frucht der Reflexion. Das nimmt ihm nichts von seiner Berechtigung; denn er war wirklich nothwendig für die Herstellung eines Nationalstaates. Nun sind aber, nächst der gerechten und gesetzlichen Ordnung, welche der wahre Daseinsgrund der Staaten ist, die nationale Unabhängigkeit und die nationale Macht, welche diese Unabhängigkeit gewährleistet, die unumgänglichsten Bedingungen für das Wohlergehen einer Nation. Wenn eine Nation dieselben nicht besitzt, so muß sie Alles aufopfern, selbst die Freiheit, um sie zu er langen. Die Spanier gaben ein Beispiel dafür im Anfang unseres Jahrhunderts, weil sie wenigstens die Ueberlegenheil über Deutschland hatten, daß sie einen Nationalstaat besaßen — schlechter gewiß als der, den die Französen
ihnen aufzwingen wollten — immerhin einen Nationalstaat. Ist dieser Hafen einmal erreicht, so muß der Kampf um die Freiheit beginnen mit seinen mannichfaltigen Wechsel fällen von Sieg und Niederlage, wie England ihn seit der Zerstörung der Armada bis zur Regierung Georg's IV. geführt hat; und erst wenn diese Eroberung befestigt ist, kann sich die Ration wieder den Luxus so freier Ge-
101 danken und Gefühle erlauben, als die waren, welche die
großen Gründer der deutschen Bildung beseelten.
Mittlerweile tragen diese Ideen tausendfache Frucht über die ganze Welt hin und keimen selbst auf fern ab liegenden Gefilden, auf die ste der Wind der Geschichte
getragen.
Auch zu Hause bleibt noch und wird immer
bleiben eine stille unbeachtete Gemeinde von Treuen, welche fromm den Schatz bewahren, der dem Vaterland
von seinen großen Heroen des Gedankens und der Kunst hinterlassen worden.
Sie leben abseits der Kämpfe des
öffentlichen Lebens, schauen manchmal hin mit Bedauern, ost mit Zorn, aber immer mit Hoffnung.
Sie werden
nicht gestatten, daß Deutschland, welches der Welt die Ideen Lessing's und Herder's, Goethe's und Schiller's ge
geben, dieselben für immer aus seinem nationalen Glauben ausscheide.
Sie werden Sorge tragen, daß wenn der
Tag gekommen ist, Deutschland jenen großen Ideen wieder
ben Ehrenplatz gebe an dem Heerde, von welchem sie hinausgezogen in die weite Welt.
gekommen
ist,
Wenn der Augenblick
wird — ich wenigstens zweifle nicht
daran — wird Deutschland, das jetzt hauptsächlich zu leben scheint für die egoistische, wenn auch nothwendige Aufgabe, sein Haus gegen die Stürnie zu befestigen, die
es bedrohen könnten und es wohnlicher zu machen, als es bisher war, mit ganzem Herzen wieder das Seinige mitthun en dem gemeinsamen Werke Europas; das aber
ist durch alle nationale Formen hindurch, die es annehmen
mag, die Civilisation der Menschheit.
IV. Die Werther-Krankheit in Europa. I. Der Weltschmerz — auch Wertherismus und Byro nismus genannt — war eine moralische Krankheit, welche
in verschiedenem Grade und unter verschiedenen Formen in ganz Europa während des ersten Viertels dieses Jahr Ich sage:
hunderts ihre Opfer gesucht und gefunden hat.
in verschiedenem Grade und unter verschiedenen Formen,
denn sie nahm in Frankreich eine andere Gestalt an als
in Deutschland und sie trat weniger heftig in England und Italien als -in Deutschland und Frankreich auf. ES
ist nur natürlich, daß ein ganz innerliches Uebel, ein Uebel der Phantasie noch mehr als des Geistes, be
sonders gefährlich werden müßte in einem Lande wie Deutschland, das damals alles öffentlichen Lebens ent«
behrte, das eigentlich nur ein innerliches Leben führte,
dem keine gesunde Thätigkeit offen stand.
Aber auch
Frankreich mußte heftiger als andere Länder davon heim
gesucht werden; denn seine Cultur war alt, greisenhaft-blasirt
Katastrophe durchgemacht, schaft -fett der
beinahe
und es hatte eben die furchtbarste welche die menschliche Gesell
Völkerwanderung erschüttert hatte.
ES
war kaum zu verwundern, wenn in der Nation, die so
103
unablässig auf der Bresche gestanden, dann so furchtbar gerüttelt, endlich so gründlich berauscht worden war, sich
nach 1815 eine gewisse katzenjämmerliche Müdigkeit ein stellte. Dazu die vollständige Abwesenheit aller Prin cipien, staatlicher wie gesellschaftlicher, religiöser wie sitt licher. Die Revolution hatte alles in Frage gestellt. Noch hat der französische Staat kein allgemein anerkanntes Princip wiedergefunden, noch krankt er schwer in Folge davon; dagegen haben die Religion, die Moral und die Gesellschaft Frankreichs in der Convenienz eine Autorität aufgerichtet, um die wir sie nicht beneiden wollen, die aber jedenfalls bequemer ist als Glaube, Gewissen und Pflichtgefühl, welche bei anderen Völkern die Grundlage der Religion, Moral und Gesellschaft bilden. Dem war nicht so 1815; die traditionelle Autorität war vernichtet; eine innere aufturichten war man nicht im Stande; eine äußerliche war noch nicht hergestellt. „Die ganze Krank heit des Jahrhunderts," sagt der französische Dichter, der am meisten daran gelitten, in dem Werke, in dem er sie am eingehendsten geschildert, „die ganze Krankheit des Jahrhunderts," sagt Alfred de Muffet in den „Con sessions d’un enfant du siede“, „kommt von zwei Ur-
sachen. Das Volk, das 1793 und 1794 durchgemacht hat, trägt zwei Herzenswunden mit sich herum: Alles, was, war, ist nicht mehr — Alles, was sein wird, ist noch nicht. Sucht nirgendwo anders das Geheimniß unseres Wehs." Anders lagen die Dinge in England und Italien. Dieses war zu leidenschaftlich und jugendlich aufgeregt, jenes zu männlich und zu kräftig, um sich einer so trüb seligen Neigung hinzugeben. Es klingt freilich beinahe
104 wie ein Paradoxon, von der Jugendfrische und Gesund heit Italiens zu sprechen ; ist es
doch eben die Eigen
thümlichkeit der öffentlichen Meinung, daß fie die Wirklich
keit erst dann anerkennt, wenn sie schon aufgehört hat, Wirklichkeit zu sein.
Nur deßhalb leben so viele hohle
Urtheile noch als todte Formeln im Volksmunde: der leichtsinnige und ritterliche Franzose, der harte und ego
istische Engländer, der träumerische, schwärmende Deutsche
existiren noch immer in der gedankenlosen Sprache der Menge, wie der „entmannte" Italiener, an den Richard
Wagner so tactvoll erinnert in seinem Dankschreiben an
die Stadt Bologna, die ihm das Ehrenbürgerrecht ver-
liehm hatte.
Wahrscheinlich wird auch diesmal die Nach
welt jene Frische und Jugendlichkeit Italiens anerkennen und feiern, wenn sie schon längst vorüber ist.
Sind wir
nicht Alle genährt worden von Kindesbeinen auf mit dem
Bilde eines Italien voll eleganter, weltlicher Abbates, geistig
und körperlich
herabgekommener Nobili, eitler
Mäcene und Dilettanten, pedantischer Akademiker und corrupter Bettler, käuflicher Diplomaten und ebenso käuf
licher vornehmer Damen, serviler Facchini, fauler Lazzaroni, weibischer CtciSbei, trillernder Tenors und plrouettirender Tänzerinnen?
Und in der That bot das Italien
Metastasio'S ein ähnliches Gemälde dar: aber schon war's
im Verschwinden, al» der Corse über die Alpen stieg; und gerade der italienische Wertherianer Ugo Foscolo war, nächst Alfieri, der Hauptverkünder einer neuen Zeit.
Wer den italienischen Mttelstand und seinen fast über
triebenen Stolz, wer die bescheidene Unbescholtenheit der italienischen Staatsmänner, die kühne und kräftige Dich
tung eines Leopardi und Niccolini, die beinahe kindisch
105
naive Moralität des modernen italienischen Dramas, wer die Reihe von Namen kennt, deren Träger sechszig Jahre lang Verbannung und Kerker für ihr Vaterland würde
voll und männlich erduldet — der wird zugeben, daß wenig mehr übrig ist von dem Italien Winckelmann's
und des Präsidenten de Broffe'S, von dem wir in unserer Jugend so viel gehört.
Ein solches Italien aber, so
lebendig, so gesund,. so beschäftigt mit dem reellsten aller
Jntereffen, das zugleich auch das ideellste ist, mit dem Jntereffe für's Vaterland, ein so heftig erregtes, so leiden
schaftliches Volk hatte weder das Temperament noch die Zeit, sich so recht con amore dem Weltschmerz« hinzugeben.
England aber, so sollte man meinen, mit seinem vielbesprochenen düsteren Himmel, der zum träumerischm
Nachdenken so recht einzuladen scheint, das grämliche,
mürrische England, dessen größte Geister einen Zug tiefer Melancholie nicht zu unterdrücken vermochten — England hätte der traurigen Epidemie einen günstigeren Boden
al» jedes andere Land bieten müssen.
Und doch sind die
zwei edlen Opfer, welche das Uebel ihm abgefordert, sind Byron und Shelley nur glänzende Ausnahmen ge wesen, outlaws der englischen Gesellschaft, prächtige, aber
einsame Meteore, die fern von ihrem Vaterlande ihre leuchtende Bahn verfolgen mußten und sogar in dieser Schwächekrankheit noch jene echt brittische Kraft bewährten, welche in unseren Tagen zu erlöschen droht.
Was die
Generation Englands vom Jahre 1815 vor jenem Uebel bewahrte, war nicht allein die noch robuste Gesundheit
des Volkes, die munter und rüstig dem Gewinn und dem Genuß nachging, es war die nationale Enge ihrer Welt
anschauung, die Ignoranz alles dessen, was nicht auf
106 dem eigenen Wege lag, die Concentration auf dieses Nächst
liegende, die Intensität des religiösen Gefühles und das feste Beharren bei der religiösen wie bei der politischen
Autorität, die eingewurzelte Gewohnheit des Individuums, nichts von der Gesellschaft zu verlangen und zu erwarten, und demzufolge das Wegfallen aller weibischen Klagen
über diese unbarmherzige grausame Gesellschaft, vor Allem aber das öffentliche Leben, welches allen bedeutenden Geistern,
jeder gediegenen Bildung, jedem Willensstärken Charakter die Gelegenheit bot, sich zu entfalten, die Kräfte zu üben.
Bei dem Ersterben des Nationalgefühls, dem Sichverlieren der nationalen Geistesschranken, dem Verschwinden der alten nationalen Vorurtheile, dem wir im heutigen England bei
wohnen, würde der Weltschmerz weit leichter seine Rechnung finden, als im England Canning's und Wellington's. Vielleicht dürste es von Interesse sein, des Näheren auf die Krankengeschichte einzugehen und die Symptome
wie den verschiedenartigen Charatter der Krankheit an
einigen berühmten „Subjecten" zu studiren.
Denn ich
spreche hier ja nicht von einer literarischen Schule, sondern
von einer moralischen Seuche, deren Spuren fich in der
Literatur der Zeit deutlich erkennen lassen, weil es die Aufgabe der Literatur ist, die herrschenden Ideen und
Leidenschaften einer Zeit zu schildern, wie es mir die Aufgabe des Literarhistorikers zu sein scheint, jenen Spuren
in den Geisteswerken nachzugehen.
Jene Unterscheidung
ist also durchaus keine Subtilität; ich möchte in der That
durchaus keine ästhetische Vergleichung verschiedener be deutender Dichtwerke anstelle», sondern die Fortschritte
verschiedener Phasen und verschiedener Aeußerungen einer
Gemüthskrankheit verfolgen und darlegen.
Von Nach-
107
ahmung, wie sie in einer literarischen Schule, bewußt oder unbewußt, doch'immer stattfindet, ist aber hier durch
aus nicht die Rede; eigentlich kann nur Ein Werk der Weltschmerz-Literatur als
werden:
ich
eine Nachahmung betrachtet
meine „Jacopo Ortis".
Die Reihe der
übrigen Werke, namentlich Romane, von denen ich reden
möchte, sind einfach in demselben Geiste concipirt, aus
einer ähnlichen Stimmung hervorgegangen: „Manfred" ist so wenig dem „Faust" nachgeahmt, als „Werther"
der „Nouvelle Heloise“, wie vielfach behauptet worden;
ein gleicher Gemüthszustand hat analoge Erzeugnisse her vorgebracht.
Wie das junge Deutschland von 1770 zum Welt schmerz« kam, hat Goethe selbst so fein und gründlich in „Dichtung und Wahrheit" auseinandergesetzt; wie sich
jener Weltschmerz gestaltete, hat er so wunderbar und so lebendig im „Werther" dargestellt, daß es Anmaßung
wäre, einen unnützen Versuch zu machen, den größten
deutschen Dichter, der auch der größte deutsche Literar historiker war, ergänzen oder gar verbessern zu wollen. ES genüge, daran zu erinnern, wie der Meister dem
langen Frieden, der Thatenlosigkeit, der Enge der bürger lichen Verhältnisse, dem Widerstreite einer erbärmlichen
Wirklichkeit mit höchsten Idealen jene Stimmung der deutschen Jugend zuschrieb, die sich gegen alle Schranken
des Individuums auflehnte, ob diese Schranken nun ge
sellschaftliche Sitte oder Staatsgesetz, religiöse Satzung oder literarische Regel hießen.
Er hat uns erzählt, wie
sich die greisenhaft übercivilisirte Welt nach einem ge
träumten Naturzustande zurücksehnte; wie man hoffte, jenes goldene Zeitalter zurückführen zu können, wo „erlaubt
108 war, was beliebt".
Er hat gezeigt, wie die Jünglinge
jener Zeit bald dramatisch-activ, drangvoll-stürmend die
alte Veste zu zertrümmern suchten, um für ihre Ideale Raum zu finden, bald sich der verhaßten Weltordnung gegenüber elegisch-passiv, weinerlich-sentimental, weiblich empfindlich verhielten, sich krankhaft vor ihr zurückzogen,
sobald sie das „verzärtelte Herzchen" etwas unsanft be rührte und in einsamer Träumerei, in nervöser Ueberreizung einer unfruchtbaren, selbstverzehrenden Melancholie nachhingen, sich selbstgefällig darin wiegten, sich eine ideale Welt aufbauten, die im Grunde nichts war als das Reich unumschränkter individueller Willkür und ungehemmten Gefühles, die sich dann freilich gar prächtig und weich neben der rauhen Wirklichkeit ausnahm. Er hat an den Stolberg, Voß, Schubarth, Sonnenfels, Klinger, Gersten berg, wie an den Milbe, Hölty, Hahn und vornehmlich an sich selbst gezeigt, wohin diese verschiedene Bethäti gung derselben falschen Weltauffafsung eine aufgeregte oder ermattete Jugend führen mußte; wie der Einfluß des Eindringens der englischen und französischen Literatur, Hamlet'scher Verdüsterung, Richardson'scher Sentimentali tät, Doung'scher Nachtgedanken, Ossian'scher Nebelgestalten einerseits, Rouffeau'scherUeberspanntheit undBoltaire'scher Ironie andererseits sich mit dem trostlosen politischen Zu stande Deutschlands verband, um die Jugend immer mehr auf die Nachtseite des Lebens hinzuweisen: „Jedermann glaubte, er dürfe ebenso melancholisch sein als der Prinz von Dänemark, ob er gleich keinen Geist gesehen und keinen königlichen Vater zu rächen hatte." Die folgende Entwickelung über die Neigung zum Selbstmorde, welche in jener Generation herrschte, gehört zum Vollendetsten,
109 ivas die Psychologie kennt
schließt
und die ganze Schilderung
ab mit der Entstehungsgeschichte „Werther'S"-
dem ebenso vollendeten Typus des Weltschmerzes.
E»
dürfte von Jntereffe sein, zu sehen, welche Gestalt das Uebel, das Goethe mannhaft zu überwinden wußte und dem Byron ruhmvoll erlag, im übrigen Europa annahm. II.
Der Wertherismus ist ein speciell deutsches Product. Sobald die Krankheit über die Grenze ging, unter anderen
Verhältnissen andere Organisationen ergriff, zeigte sie sich
in durchaus veränderter Gestalt.
Deutschland hatte die
bewegende Idee des achtzehnten Jahrhunderts auf seine
Weise erfaßt.
Es hatte sich wie Frankreich und England
gegen das Autoritätsprincip in Kirche und Staat, in Wissenschaft und Dichtkunst aufgelehnt; wie jene, aber in
noch übertriebenerem Maße, hatte es ihm das individuelle Gefühl, die Vernunft, ja die Sinnlichkeit entgegensetzt;
und dieser Kampf des Individualismus gegen die Tradition
erreichte in den Siebziger-Jahren einen wahren Paroxismus.
Die freie Forschung, die Frömmigkeit des Ge
müthes, die dichterische Begeisterung und der Absolutismus
des Genies trinmphirten
über
die
besiegte Scholastik
und Orthodoxie, über die Regel und den Formalismus; aber die. persönliche Freiheit rüttelte noch erfolglos am
morschen Staatsbau und eine veraltete Civilisation hemmte noch immer die gewünschte Rückkehr zu Mutter Natur. In diesem Kampfe gegen die Feffeln der bestehenden Ge
sellschaft nahm das Individuum je nach seinem Charakter
eine verschiedene Attitüde an: entweder stülpte es himmel stürmend Pelion auf Offa in titanischer Empörung; oder
110 aber es setzte dem Druck ohnmächtige Klagen, rührende
Thränen, weiche Entsagung entgegen. In dem Einen Goethe aber, in dem sich die ganze, innere Geschichte Deutschlands von 1770—1820 wie in einem Mikrokos mus widerspielt, begegneten sich Beide, Klinger und Hölty: er sang, das Sturmlied der Titanen, den „Prometheus", und er faßte im „Werther" die Zähren der Unglücklichen wie Diamanten in goldenem Reif.
Er hat uns selbst
erzählt, wie sich in ihm die Werther-Stimmung heran gebildet; in diesem, seinem wunderbarsten Werke selbst
aber zeigt er uns, was diese Krankheit war, und indem er sie künstlerisch beschrieb, fand er selbst Genesung. Der Dichter soll seine Zeit, seine Nation malen; was bot Goethen im Jahre 1772 seine Zeit und seine Nation? Eine moralische Krankheit. Goethe schilderte sie. Wo
war das Interesse seines Volkes, was beschäftigte die Gebildeten, was bewegte die Besten? Werther sagt es uns. Bei oberflächlicher Bekanntschaft erscheint uns Werther als ein braver, redlicher junger Mann, einfach, gutmüthig, reinen Herzens, reiner Sitte. Seine Gewohnheiten, feine Neigungen sind bescheiden. Er gehört den Mittelklassen an, bewohnt eine Mansarde. Mäßig in materiellen Ge nüssen, ist er still vergnügt bei einer Taffe schlechten Kaffee» im benachbarten Dörfchen unter der Linde. Sein blauer Frack dauert ihm ein ganzes Jahr. Ev liebt, ja vergöttert die Kinder. Wie freut er sich, wenn er ihnen Bonbons bringen, ihnen Märchen erzählen kann. Lär mende Gesellschaften-flieht er; wie sollte er seinen ge liebten Homer, seinen Ossian um so hohlen Umgang aufgeben! Die Welt kennt er nicht, ihre Genüsse flieht er instinktiv. Aber er täuscht uns nicht lange. Unter
111 diesem Scheine der Ruhe, des Friedens und der Gesund
heit verbirgt sich eine todtkranke Seele.
Der Dichter
war Dichter genug, um uns, wie die griechischen Tragiker,
die letzte Krise, die Katastrophe dieser Krankheit zu zeigen; er hütete sich wohl, uns die Vorgeschichte und den ganzen
Verlauf des Uebels zu erzählen; beim ersten Eintritt ist
Werther schon! moralisch schwindsüchtig, schon dem Ver derben verfallen, das fühlen wir.
Werther ist ganz ein Kind seiner Zeit, seines Volkes.
Die herrschende
Geschmacksrichtung
ist
die seine;
er
ist genährt mit der Philosophie des achtzehnten Jahr hunderts.
Seine Ansichten über Dichtkunst, über Reli
gion, über Gesellschaft sind die aller Jünglinge von 1770.
Die Natur hat ihm eine Organisation gegeben,
die sich
mehr durch Feinheit als durch Tüchtigkeit auszeichnet: etwas Weibliches, um nicht zu sagen Weibisches, ist ihm angeboren.
Er gefällt sich im Leiden; das Handeln ist
ihm zuwider. Er läßt sich deshalb auf den offnenen Kampf mit der ungerechten Gesellschaft nicht ein, die ihn so un sanft berührt.
In seiner sentimentalen Ueberreiztheit
flüchtet er sich in einsame Träumereien und fühlt sich
wohl in seiner unfruchtbaren Melancholie.
Die ideale
Welt, die er träumt, die er aber nicht herzustellen ver
mag, er schafft sie sich in seinem Innern, in seiner Phan tasie, und indem er der äußeren Welt die Macht der
Trägheit entgegenstellt, weint er und verkümmert.
Und
wenn er hätte handeln wollen, handeln können, welch
ein Feld für das Handeln hätte ihm sein Vaterland ge boten 1
Werther, sagte ich, gehört ganz seiner Zeit an;
er theilt alle ihre Antipathien und Sympathien, namentlich aber ihre Illusionen, ihren Glauben an die Unfehlbarkeit
112 des Individuums, als sittlicher Mensch wie als Künstler. Ihm zufolge zerstött die Gesellschaft den Genius, wie sie die Natürlichkeit vernichtet, und er sucht das Paradoxon sophistisch in der Literatur wie im Leben nachzuweisen.
Was Wunder, wenn er sich in seine innere ideale Welt flüchtet; birgt doch dieser anspruchsvolle Name den naivsten Egoismus.
Werther ist ganz und durchaus von feinen
Gefühlen beherrscht, von seinen augenblicklichen Stim mungen, von seiner Laune, und er weiß sich was darauf.
Er geht sogar soweit, darein den wahren Werth des Lebens zu setzen — ein verhängnißvoller Irrthum, der ihn ins Verderben führen muß.
Man verkennt nicht
ungestraft das Gesetz der Arbeit und der gesellschafttichen Thätigkeit; ein Sichbeschränken auf das innere Leben, so
rein und schön es sein mag, muß zum Pessimismus führen.
Der Pessimismus aber mag das letzte Wort des Meta physikers fein; für den zum Handeln berufenen Menschen ist er der Anfang alles Uebels.
Nun ist aber Werther
durch feine Stellung zum Handeln berufen, stürzt sich jedoch mit Wonne in den exquisitesten Müßiggang. Wäre Werther kein impönitenter Faullenzer, so wäre er die poetische Figur nicht, die Goethe aus dem Leben gegriffen.
Die Jugend Deutschlands verkam am Müßiggang; sie vergaß Vaterland, Wissenschaft, Amt, kurz jede bürger liche Thättgkeit.
Nur seine innere Wett ist wirklich für Werthem; die äußere will er nicht anerkennen, und wo sie ihn be rührt, verwundet sie sein reizbare«, verwöhntes mora lisches Epiderm.
Er flicht die Menschen, die ihn in seiner
träumerischen Muße stören, und er flieht zur Natur, der passiven, guten, die ihm keinen Widerstand entgegensetzt.
113 Unter den Menschen hängt er sich nur an die Beschei denen, Geringen, die Leute aus dem Volke, Bauern
bursche, Kinder, welche die Civilisation noch nicht corrumpirt hat, wie er sich glauben machen will, die ihm
untergeordnet sind oder sich ihm unterordnen, ihn nicht in seinem Selbst-Cultus stören, wenn wir den Dingen auf den Grund sehen.
Obschon er von der Ferne die
Menschen bewundert, die großer Leidenschaften fähig sind
und — ihnen nachgeben, so hält er sich doch eben immer
in kluger Entfemung. Er verzeiht ihnen, wie sich selbst,
daß sie sich nicht beherrschen; denn jeder Zwang, jede Beschränkung, die der „Natur" auferlegt wird, ist ja für ihn Heuchelei.
schaft nur,
Seine Zeit glaubte ja an die Leiden
wenn der Mensch ihr unterlag; besiegte er
sie, so meinte man, die Leidenschaft wäre wohl nicht so gar mächtig gewesen.
Und in Werther hat sich diese
Anschauungsweise bis zum Selbstmord zugespitzt.
Hätte
er nur ein wenig Energie, ein wenig Muth — wie der
Dichter selber sie hatte — er könnte kämpfen, sich retten, siegen; aber nein, der Kampf erschreckt ihn,
er zieht
es vor, sein Herzchen wie ein krankes, verwöhntes Kind zu behandeln, dem man jeden Willen thun muß.
Werther
ist blasirt, blasirter als der corrupteste Wüstling; wiewohl
es der Idealismus, nicht der Materialismus ist, der ihn blasirt hat. Es giebt aber auch einen idealistischen Egoismus, wie's einen materialistischen giebt.
Wir sehen Frankreich
an dem letzteren zu Grunde gehen; Deutschland kranke am ersteren und obschon nur edle Naturen solcher Krank heit verfallen, ein Glück war's doch, daß Deutschland
davon genas.
Wie es davon genesen sollte, hat Goethe
selbst gezeigt in seinem Leben, in seinen Werken. Hillebrand, Culturgeschichtliches. 8
Er
114 zuerst gab das unftuchtbare Herumwühlen und Herum
grübeln in sich selbst, das ewige Sichläuternwollen, an sich selbst Herumarbeiten auf, und ergriff das Leben:
frischen Genuß, Thätigkeit im Amte, Aufgehen im Un persönlichsten, der Wissenschaft.
Unter veränderten Ver
hältnissen setzt heute das gesundete Deutschland nur diese
Thätigkeit des Dichters fort. Erst im Jahre 1798, unmittelbar nach dem Frieden von Campo Formio, erschien die berühmte italienische
Nachahmung des „Werther": der „Jacopo Ortis" des Ugo Foscolo.
Ich sage absichtlich: die Nachahmung, ob
schon man ost versucht hat, den italienischen Dichter
gegen diesen Vorwurf in Schutz zu nehmen.
Er soll den
„Werther" nicht gekannt haben- fünfundzwanzig Jahre nach seiner Erscheinung nicht gekannt haben, als schon sogar der Chinese
„
Malte mit ängstlicher Hand Werthern und Lotten auf's Glas." *
Uebrigens ist die Nachahmung ganz offenbar: wir
haben genau dieselben Ereignisse, dieselben Personen, die selbe Katastrophe. Ganze Scenen, wie die zwischen Werther
und den Kindern, wie die des Gewitters, sind beinahe
frei ins Italienische übertragen.
Zahlreiche Themen, die
der deutsche Dichter nur angedeutet hatte, sind von Ugo Foscolo amplificirt worden, wie denn sein Haupttalent die Amplisication ist oder — um es weniger scharf aus
zudrücken — die Ausführung, Entwickelung und Variation.
Ein Anderes, das dem Italiener und speciell seinem „Jacopo Ortis" eigenthümlich ist,
Deklamation.
ist die Macht der
Gerade durch diese beiden,
ich möchte
* Die venetianischen Epigramme, welche jene beiden Verse ent halten, sind bekanntlich schon 1790 geschrieben.
115 sagen,
romanischen Eigenschaften unterscheidet
italienische Roman wiederum durchaus vom
sich der deutschen,
dessen Styl und Composition einfach sind wie der Charakter
der Helden.
Wichtiger für uns hier, die wir ja keine
ästhetischen, sondern historisch-pathologische Studien an stellen, ist der Unterschied zwischen der Leidenschaft, welche
den deutschen und den italienischen Werther zum frühen
Ende führt. Alles ist schmachtend, unbestimmt, allgemein, beinahe chronisch in Werther's Qualen; Alles ist klar, kräftig, acut
in denen Jacopo's.
Teresens, vom
Nicht allmälig fesseln ihn die Reize
ersten Anblick
ist er heftig
entbrannt
und liebt mit einer leidenschaftlichen Liebe, die nichts
von der edlen Entsagung Werther's an sich hat.
Der
Deutsche hat eine wahre Zuneigung zu Albert, wirft sich vor, ein Gefühl zu nähren, das dem Freunde gegenüber
Unrecht ist; der Italiener haßt den Bräutigam seiner Geliebten vom ersten Tage an, wie nur Italiener zu
Haffen verstehen.
Lotte bietet aus freien Stücken einem
Manne, den sie achtet und für den sie eine ruhige und sichere Neigung empfindet, ihre Hand.
Teresa verabscheut
Odoardo und heirathet ihn nur gezwungen, durch rohe
Gewalt gezwungen. Man denke sich nur den stillen, fried
lichen Werther neben dem kochenden, stets beinahe rasenden Italiener, der „wie ein Löwe brüllt", jeden ersten Besten, den er verachten zu müssen glaubt, zum Duell heraus fordert, dessen indole, nemica d’ogni servitü, nur Zorn,
Rache, Haß schnaubt.
Mehr sinnlich als empfindsam,
bekämpft er in heftigem Angriffe Alles, was sich seinen
Leidenschaften entgegenstellt; Werther, der Sentimentale,
läßt sich weinend und beinahe passiv von den Verhält-
8*
116 nissen zermalmen. Der Hauptunterschied jedoch liegt in der Quelle der allgemeinen Stimmung jedes der beiden Helden. ES ist nicht ein unbestimmtes Mißbehagen, ein unklarer Pessimismus, wie bei Werther, es ist eine be
stimmte Thatsache von schreiender, empörmdster Ungerech tigkeit, es ist der Friede von Campo Formio, der Unter gang seines Vaterlandes, welcher Jacopo Ortis in den
krankhaften Zustand versetzt, an dem er zu Grunde geht. „II sacrificio della patria nostra e consumato. Tutto
6 perduto,“ schreibt Jacopo, als er die Nachricht erhält; „la vita, seppure ne verrä concessa, non ci resterä ehe per piangere le nostre sciagure e la nostra infamia.“ Jacopo ist Patriot, er ist zum Handeln ge boren, nicht zur Schwärmerei. Vom Anfang bis zum Ende seiner Briefe ertönen die Klagen oder vielmehr die Wuthausbrüche über das Joch der Fremdherrschaft, welches Italien tragen muß. Nicht Einen Tag vergißt er das Motto, das er von Dante's Cato entlehnt hat: „Libertä. va cercando, ehe e si cara, come sa chi per lei vita rifiuta.“ Bonaparte ist in seinen Augen ein gemeiner Verbrecher. Ueberall und immer beherrscht ihn die Idee des Vaterlandes, die Werthern auch nicht einmal in den Sinn kommt. „Mein Patriotismus überreizt alle
meine anderen Leidenschaften." Warum sollte er heirathen? Seine Söhne würden kein Vaterland haben. Nicht Ossian ist's, der ihn, den empörten Staatsbürger, auf seinen Spaziergängen begleitet; es ist Plutarch. Schon daran erkennt man unter aller romantischen Ver kleidung den klassischen Italiener. Auch wenn er Teresen vorliest, ist's nicht Klopstock oder Aoung's „Nachtgedanken",
sondern Sappho, die hellenische Muse, die vom brennen-
117 den Feuer der Venus verzehrte, welche er hervorsucht.
Ueberall ist es eben der leidenschaftliche italienische Patriot, bei dem die eigentlich charakteristischen Symptome des Wertherismus gar nicht zu entdecken sind.
Jacopo Ortis
ist eine gesunde Natur, welche von einer hitzigen Krank
heit
ergriffen und
weggerafft wird; Werther ist eine
kränkelnde Seele, die einem zehrenden Uebel unterliegt.
Auch die Dichtungen des größten italienischen Dichters
seit Dante, auch die Dichtungen Leopardi's athmen eine
Schwermuth der Verzweiflung,
die man versucht sein
könnte, für die Krankheit des Jahrhunderts zu halten.
Bei etwas näherem Zusehen indeß wird man sich leicht
überzeugen,
daß man Unrecht thut,
wenn man aus
Leopardi einen Werther oder Obermann macht.
Freilich
ist der italienische Sänger in tiefster Seele betrübt, ja
trostloser betrübt als Werther selbst; aber er ist's nicht ohne vorhergangenen Kampf und Widerstand.
Seine ist
keine willensschwache Seele wie die Obermann's; es ist
eine stoische Heldenseele, die, eingeschloffen in einer ver krüppelten Hülle, kräftig gestritten hat gegen die Härte des Vaters, gegen Hunger
tödtliche Körperkrankheit.
ten Schmerzen,
und Armuth, gegen eine
Das waren keine eingebilde
nicht einmal unbestimmte;
sie waren
nur zu wirklich, nur zu bestimmt und wenn auch ihm,
wie uns Allen, das persönliche Empfinden und Sein zu
einer
Weltanschauung
wurde
—
in seinem Fall
natürlich zu einer pessimistischen — so war er deshalb
nicht mehr Wertherianer,
als
sein
Schopenhauer zu Frankfurt am Main.
Gesinnungsgenoffe
Auch suchte der
ganz antik gestimmte Italiener nicht in schwärmerischer
Träumerei, noch in müßiggängerischer Einsamkeit Zuflucht
118 vor seinen Schmerzen oder gar ein Heilmittel gegen sie,
das, wie bei Werther, nur zur gefährlichen Nahrung der
Krankheit Thätigkeit,
geworben wäre.
Gesunde und angestrengte
ernsteste philologische
Studien,
lebhafteste
Theilnahme am Geschicke des Vaterlandes erfüllten dies
von Schmerz und Unglück so furchtbar heimgesuchte Dasein. Wenn aber ein starker Wille, unausgesetzte Thätigkeit
und lebhaft empfundener Patriotismus auch nicht vor Kummer und Gram zu, schützen vermögen, so wird's doch
immer der Kummer einer starken Seele sein, der Gram,
wie ihn selbst die Helden des Alterthums so tief, ja tiefer empfinden mochten als die Zeitgenoffen Byron's
und Leöpardi's.
Auch ist von moderner Blasirtheit bei
dem italienischen Märtyrer nichts zu spüren.
In ihm
hatte kein Uebergenuß sinnlicher Freuden und gesellschaft
licher Eitelkeiten Ekel und Ueberdruß erzeugen, die Quelle reiner und gesunder Empfindungen vertrocknen können;
er hat von vornherein die menschliche Gesellschaft als eine Räuberhöhle angesehen, wo das bellum omnium contra omnes herrsche aber er hat ihr nie, wie Werther,
ein Verbrechen daraus gemacht, daß sie den Werth seiner zarten Seele nicht genug anerkmne.
Wäre Leopardi ge
sunden Körpers gewesen; hätte seine Gestalt dem edlen
Antlitze entsprochen,
das er zwischen
seinen erhöhten
Schultern trug; wäre Leopardi der Sorge ums liebe
Brot enthoben gewesen ; hätte er in einem freien Staate gelebt: er würde sicherlich mitgestritten und mitgenoffen haben als ein echter Mann.
Bon der Natur und dem
Schicksal grausam verfolgt, hat er weder weibisch ge
weint, noch demüthig feige refignirt, sondern er ist, auf seinem Posten ausharrend, unterlegen; er ist stehend ge-
119 sterben wie der
römische Kaiser,
das laboremus im
Sinne, wenn auch nicht auf den Lippen.
Wenn Leopardi
das vanitas vanitatum vanitas in seinen unsterblichen
Dialogen variirt, so ist's der tiefsinnige Metaphysiker, der redet, nicht das verzärtelte Seelchen, das sich allzu rauh angefühlt dünkt, noch der verlebte Rouö, der das
Leben wie ein alter Spieler den Spieltisch ansieht, an dem er sein Vermögen verloren hat.
III. Nicht mehr als in Italien waren in England National-
Charakter, Nationalsitten und öffentliche Zustände am
Anfänge dieses Jahrhunderts dazu angethan, den Welt
schmerz zu entwickeln.
Shelley's Atheistnus war durch
aus davon nicht angekränkelt, und obschon man Byronis mus und Wertherismus meist für synonym hält, so will
uns doch bedünken, daß sie wenig mit einander gemein
haben.
Unser naiver junger Werther, der nie aus dem
friedlich ruhigen
deutschen Kleinleben
des achtzehnten
Jahrhunderts herausgekommen; unser Werther, mit seinen reinen Sitten, seiner beinahe jungfräulichen, zarten, nur zu zarten Seele, die vor dem Geräusche und Getümmel
der Welt schmerzhaft zurückbebt; unser Werther, der die
vornehme Ausschweifung wie das laute öffentliche Leben
europäischer Großstädte nur aus Büchern kennt — Werther ein Lord Byron!
Nein, wahrlich.
Gegen den armen,
fransen deutschen Jüngling gehalten, strotzt ja der Eng länder von Kraft und Fülle.
Elze hat uns den herr
lichen Britten wieder recht nahe gebracht, und trotz aller Fehler, Schwächen, Sünden und Schatten wird's Einem ganz wohl zu Muthe in dieser lebensvollen Gesellschaft.
120 Wenn man bedenkt, was Byron Alles gegen sich hatte:
das körperliche Gebrechen, die Erziehung, die Verfolgung der englischen Gesellschaft, vor Allem aber die unselige
Ehe, die er eingegangen war, so muß man sich wundern über die eingeborene echt englische Kraft und Gesundheit dieser Natur, die das Alles überwand.
Hätte sich Byron
ungehemmt, harmonisch entwickeln können, er wäre wohl nicht der Dichter des „Childe Harold" und des „Don
Juan" geworden; aber vielleicht hätte er sich zu einem schönen Exemplare des herrlichsten Menschentypus. ent
faltet, den die Geschichte seit Perikles' Zeiten gekannt : dem Typus des englischen Edelmannes, der mit seiner
Bildung in seiner Nation und' zugleich über ihr steht.
Ja, wir möchten behaupten — wenn man uns erlauben will, so lange bei einer Parenthese zu verweilen — daß
selbst Hellas zu seiner besten Zeit keine schönere Menschen
blume aufwies, als England vor seinem Verfalle, dessen Anfang wir ja noch Alle miterlebt und der seiner höch
sten Blüthe so nahe auf dem Fuße gefolgt ist.
Fehlten
doch dem Griechen die edle Wahrhaftigkeit, der kühne Freimath,
die männliche Würde und
die gemüthvolle
Innerlichkeit, die den achten brittischen Gentleman
nicht minder zierten, als die körperliche Kraft, Gewandt heit und Schönheit, die geistige Frische und Unmittelbar keit, die sittliche Noblesse, der nationale Stolz, der poli
tische Klarsinn, welche wir gerne dem Hellenen zuschreiben. Leider, vom menschlichen, nicht vom dichterischen Stand
punkte
aus, ist
irregeleitet worden.
und
die herrliche Kraft Byrons zu früh
in verhängnißvolle Bahnen
gedrängt
Man muß in Elze's trefflicher, sicherlich nicht
parteiischer Biographie lesen, wie von Anbeginn Alles
121 zu conspiriren schien, um diese schön angelegte Natur
recht gründlich
zu verderben.
Wie dem auch sei, von
schwächlichem, weinerlichem Wertherismus ist bei Byron
nichts zu spüren.
In der
strömenden Bewegung der
Welt, in dem ausschweifenden Wirbel der größten Haupt
stadt bringt er die besten Jahre seiner stürmischen Jugend in jeder Art von Rausch und Aufregung hin.
Sitz
und
Rede in einem freien
Er hat
Parlamente.
Ruhm
und Frauengunst — nach Goethe's „Taffo" die höchsten Preise des Erdenlebens — hat er frühe gekannt und in vollen Zügen eingeschlürft.
hat er erschöpft:
Alle sinnlichen Genüsse
er ist blasirt, verdorben,
enttäuscht
durch's Leben; während Werther von alledem nur durch
Hörensagen etwas weiß und gerade weil er das Leben nicht kennt, der Verzweiflung anheimfällt. es anders sein sollen?
Und wie hätte
Der deutsche Jüngling von 1772
sah vor sich ein thatenloses Leben, eng und beschränkt.
Er fühlte in sich eine Welt und außer sich, über sich einen Wust von Trümmerwerk, verdorrtem Holze und faulem
Laube, daß er erst zersprengen mußte, ehe das junge, frische Leben wieder blühen konnte.
Dem Werther der
Dichtung gelingt es nicht und er erstickt unter der Last; der Dichter des Werther aber vollbringt die große That und ihm dankt seine Natton ihren neuen lebensvollen Früh
ling.
Lord Byron — dem das Leben sich kräftig strotzend
von allen Seiten darbot, als Genuß und als Thätigkeit —
konnte nicht anders, als das Leben versuchen; er konnte die Enttäuschung erst fühlen, nachdem er es durchgenossen
und durchgekämpft.
Auch sind sein „Childe Harold", sein
„Don Juan", sein „Conrad" so
schuldig und corrupt,
als Welcher rein und unschuldig ist: hat doch Jeder den
122 Becher des Lebens bis auf die Hefe geleert. the fulness of satiety“, sagt
Lieblingshelden.
„He feit
der Dichter von seinem
Nur darin gleicht er Werther, daß er,
ungleich dem englischen Jünglinge, der in der Zucht der öffentlichen Schule herangebildet worden, nie gelernt hat, sich einen Zwang irgend einer Art aufzulegen,
„ ... and thue untaught In youth my, heart to tarne, My springe of life were poisoned.“ Aber er ist ganz ebenso unfähig und unwillig, sein Denken dem Denken Anderer zu unterwerfen (untaught
to submit bis thoughts to others).
Auch er sucht, wie
Werther, die Freundschaft'der Natur auf; aber eine be
scheidene, lieblich beschränkte Natur genügt ihm nicht: er braucht die Alpen und das Weltmeer.
„Where rose the mountains, there to him were friends, Where rolled the ocean, thereon was his hörne.“ Für ihn, den Uebersättigten:
„High mountains are a feeling, but the hum of human cities torture“ Aber wiederum, welche brittische Kraft in dieser
Misanthropie, verglichen mit der resignirten Passivität
Werthers!
Byrons Verzweiflung
ist himmelstürmend:
Alles, was sie gereizt, möchte sie titanisch zertrümmern. Er haßt die ganze Welt.
Werther fühlt sich unsanft von
ihr berührt und zieht sich zusammen wie eine Sinn
pflanze. . Heftig, wie seine Verzweiflung, ist Byron'»
Stolz.
Werther ist anspruchslos, bescheiden: selbst wenn
er, wie beim Gesandten, gedemüthigt wird, so klagt er,
er empört sich nicht;
fühle fähig.
er ist eigentlich nur sanfter Ge
Bei Byron haben zwar auch manche zar
tere Empfindungen
den verwüstenden Orkan überlebt
123 und
mehr
einmal
als
zitterte die Thräne in seinem
Blicke:
„But pride congeaFd the drop within his eye.“ Oft auch coquettirt er nur mit der Sentimentalität und wer weiß, wieviel wahre Empfindung, wieviel Pose
darin ist, wenn er in dem rührendsten seiner Gedichte ausbricht:
„Oh, could I weep as once I wept“ Im Grunde nämlich, trotz all seines Menschenhafses
und seines Ekels, ist der Ekel des korrupten englischen Dandy
bei Weitem nicht so tief als der des jungen
Deutschen, der die Welt noch nicht einmal kennt. Childe Harold interessirt sich für Alles: er thut nur, als wäre ihm Alles einerlei, er prahlt mit der Blasirtheit, wie er
ein fanfaron de vice ist.
auf seiner
Kein Punkt der Erde, den er
Pilgerfahrt berührt und der ihm nicht die
Großthaten der Vergangenheit oder der Zeitgeschichte ins
Gedächtniß
ruft:
und Waterloo.
Napoleon Er
und Hannibal, Saragossa
conspirirt für die Unabhängigkeit
Italiens und er stirbt für die Freiheit Griechenlands. Im
Grunde ist er eben weit weniger blasirt als der
unschuldig aussehende junge Werther mit seiner Candi-
daten-Miene, und er hätte doch ein viel größeres Recht fich über die Welt zu beklagen als sein deutscher Vor
gänger im Weltschmerz; denn ihn hatte die Welt derb angefaßt und die Hälfte seiner Leiden kam von der Härte, der Rohheit, der Bosheit der Gesellschaft, welche den
armen
kleinen
Werther vollständig ignorirte und gar
keine Ahnung davon hatte, daß sie ein so edles Opfer langsam hinmordete. Auch steht Byron's Krankheitsfall in
England vereinzelt da; in Deutschland wimmelte es von
124 SiegwartS und — bei dem Engländer lähmte das Uebel
den edlen Kranken nicht, sondern verdoppelte seine Energie. Wir hatten demnach ein Recht zu sagen, daß der Wertherismus eigentlich in England keinen günstigen Boden fand. Die psychische Krankheit der Weltverachtung hat dort doch nur schon verlebte, ja verderbte Individuen anstecken können oder solche, die, wie Byron, die dort so allgemein
verbreitete positive Religiosität — wenn ich mich so auSdrücken darf — nicht theilten und sich in den Skepticismus gestürzt hatten und selbst dann war sie unfähig, die an geborene Kraft zu zerstören.
IV. Warum gerade Frankreich von der moralischen Seuche des Weltschmerzes besonders ergriffen und mitgenommen
worden sein mag, haben wir früher versucht, kurz anzubeuteti. Welche Gestalt sie bei den größten Vertretern der französischen Bildung zwischen 1800 und 1830, bei Chateaubriand, Benjamin Constant, Lamartine, Muffet und George Sand angenommen, scheint eine Frage von Interesse zu sein und wirft ein merkwürdiges Licht auf Charakter und Stimmung der Nation. Alle diese heute ganz unverständlich, vielfach sogar ungenießbar geworde nen Werke, wie „Obermann", „Rens", „Adolphe", „Lölia" und so viele andere, waren zwar einerseits Er zeugnisse der durch die materialistische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, die Anstrengung der Revolution, das Absterben der alten, das Entstehen der neuen Gesell schaft hervorgebrachten geistigen und sittlichen Verwirrung;
sie waren aber auch e andrerseits wieder Ursache der seit fünfundzwanzig Jahren in der Sitte Frankreichs herr
schenden Stimmung.
Die Männer, welche am Ende des
125 vorigen Jahrhunderts geboren wurden, wußten sich ent weder überhaupt vor Ansteckung zu bewahren oder nach durchgemachter Krankheit der wiedergewonnenen Gesund
heit thätig zu genießen; nur sehr Wenige unterlagen. Das Geschlecht, das gegen 1830 die Welt erblickte, beim Eintritt ins wirkliche Leben Zeuge einer muthwilligen
Revolution war, welche ohne jedes tiefere Motiv die fran zösische Gesellschaft und den französischen Staat in ihren Fundamenten erschütterte, das dann die besten Jugend jahre in der Grabesstille der ersten Jahre des Kaiser reiches, von jeder gesunden öffentlichen Thätigkeit aus geschloffen, rühmlos und thatlos hinlebte, sog das Gift jener Kranken-Romane begierig ein, und vielleicht ist
jenen Werken nicht ein geringer Theil der Schuld zuzu schreiben, wenn die Generation, die heute Frankreich be herrschen sollte, in ihrer Entmannung auch nicht Einen wirklich bedeutenden Mann im Staate, in der Literatur, der Kunst oder der Wissenschaft hervorgebracht hat. (Die einzigen Jünglinge, welche Frankreich im Jahre 1873 noch aufzuweisen hat, heißen Thiers, Dufaure, Mignet, und sind Kinder des achtzehnten Jahrhunderts.)
Der Erste, der in Frankreich jenem geheimnißvollen Wehe des Ueberdruffes eine Stimme lieh, war Chateau briand. Es ist hier nicht der Platz, die wunderbare Schönheit, die in ihrer Einfachheit so majestätische Sprache, die im kleinen Rahmen so vollendete Composition des sonderbaren Büchleins ins Licht zu setzen, welches in den Augen der Nachwelt immer als das Meisterwerk des frucht baren Staatsmannes gelten wird. Für uns handelt es sich jetzt nur um den Stoff.
Ein Abgrund trennt, trotz aller
scheinbaren Analogien, die Krankheit Werther's von der
126 Gar Manches
Rens's.
ist beiden Helden gemein:
die
Jugend, die Grundlosigkeit ihrer Schwermuth, die gefähr
liche Speise des Ossianismus, mit der sie ihre Schmerzen nähren. Aber welche Verschiedenheiten auch!
Vor Allem
erscheint es uns als ein großer Mißgriff Chateaubriand's,
aus Rens einen Gläubigen gemacht zu haben.
Man be
greift, daß ein junger Skeptiker wie Werther beim An
blicke der scheinbaren Unordnung und Ungerechtigkeit der Welt,
die er nicht versteht, von Schwermuth ergriffen
wird; aber Rens's inbrünstige Frömmigkeit sollte überall
nur Harmonie erblicken und, wenn es ihm nicht möglich
wäre dieselbe zu erblicken, sich in das Kloster oder in
kirchliche Werkthätigkeit flüchten, wo er dann der Welt, die ihn verletzt, vergeffen, auf eine bessere, schönere hoffen
könnte.
Auch macht sich Rene einen Begriff von seinem
Genie, seiner Kraft, von welchem dene Werther keine Ahnung hat.
der
arme,
beschei
Rens thut immer, als
hätte er jeden Augenblick ein Rapolson sein können, .wenn er nur geglaubt hätte, daß es der Mühe lohnte.
Werther
mißtraut sich selbst und wenn er sich auch im Müßiggang
gefällt, so läßt ihn doch wenigstens die Eitelkeit in Ruhe. Er sucht nur die zarten Freuden des Gemüthes, und da er seine Wünsche nur befriedigen kann indem er die ge
sellschaftlichen Schranken niederreißt,
wozu es ihm an
er sich selbst.
Was Rens fehlt,
Kraft gebricht,
opfert
sind nicht zarte Neigungen, sondern Gelegenheiten zu
glänzen ;
was er zu befriedigen wünscht, ist nicht sein
Liebebedürfniß, sondern sein amour-propre.
Trotz
all
seines Kosmopolitismus bleibt er aber ein Stockfranzose von Chateaubriand's und Lamarttne's Schlage.
Er liebt
im Grunde nichts und Niemanden als sich selbst; er
127 nimmt nur an dem Theil, was seine grandiose Selbst sucht mittelbar oder unmittelbar berührt; ihm fällt nicht
ein, wie dem schlichten Werther, mit Kindern zu spielen, mit armen Bauersleuten zu plaudern, den Kummer des
Geringsten sich zu Herzen zu nehmen; seine Schmerzen sind zu vornehm, um sich in so schlechte Gesellschaft zu
begeben.
Der stolze ennui Rene's hat nur in unbefrie
digtem Ehrgeize seinen Grund.
Was ihn eigentlich quält
— was Chateaubriand sein ganzes Leben über quälte — ist,
daß.die Welt sich herausnahm,
Anderem als mit ihm zu beschäftigen.
sich mit etwas
Es kam ihm vor,
als ob alle Aufmerksamkeit, die man Anderen zuwandte, ihm gestohlen sei, dem sie allein gebühre.
Man hat ganz
den Eindruck, daß Ren« den großen Napoleon um das Geräusch beneidet,
das sein Name verursacht;
daß er,
Renö, überzeugt ist, er könne jeden Augenblick dieselben
Thaten verrichten, wenn er nur wolle.
Aber warum will
er nicht? Und hat man nicht das Recht, ihn — wie die
meisten Derer, die sich beklagen, daß sie nicht den ihnen zukommenden Platz in der Welt einnehmen — int Verdachte
zu haben,
daß
er unfähig war,
sich ihn zu erobern?
Renö's Blick umfaßt die ganze Welt: er hat Italien und den Orient gesehen, Schottland und Spanien bereist, er
hat den Kämpfen der großen Revolution und dem ame
rikanischen Freiheitskriege beigewohnt; aber keines von
den
beiden
ungeheuren Zeitereignissen
genügt, seinem
Thatendurst, weil dieser Durst im Grunde nur ein Ruh
mesdurst ist und weil Anderer Ruhm die Welt erfüllte,
neben dem der seine nicht aufzukommen vermochte.
Wie
beschränkt ist Werther's Theater neben diesem unermeß
lichen Schauplatze!
Wie wenig bietet ihm das öffentliche
128 Leben seiner Nation!
Nichts fordert ihn zum Handeln
auf; seine Geburt schließt ihn von einer großen Laufbahn
aus, während Renö's Geburt, Reichthum, Genius, Um gebung, Zeit — Alles, in Einem Worte, ihn aufruft ein
zugreifen, ihm zu
sagen scheint:
„Hic Rhodus, hie
salta!“ Stolz und Eitelkeit allein verhindern ihn daran. Was nun aber gar Rene's Leidenschaft anlangt, so
ist darin schon mehr als ein Auffehnen gegen willkürliche
gesellschaftliche Satzungen.
Denn in der auch nur gedach
ten Blutschande liegt schon, unserem Gefühle, wenn auch
nicht der Wirklichkeit nach, ein Empören gegen nothwen
dige Naturgesetze.
Wir glauben schon darin eine gewisse
Korruption zu verspüren, die uns an Byron's weniger sympathische Schöpfungen erinnert.
Auch ist die Phan
tasie bei Rens mehr entstammt als das Herz: diese ganze
psychologische Entwicklung ist echt modern gesucht, künst lich und doch wahr, oder vielmehr wirklich, wie so man
ches Künstliche und Verzwickte.
Rens
hat Amelie nie
anders als mit brüderlicher Neigung geliebt; erst als er erfährt, daß sie seine Schwester ist und welche Art von
Gefühlen sie für ihn nährt, fängt er an, sich in ihrer
Abwesenheit seine eigene sinnliche Leidenschaft in den Kopf zu setzen.
Auch literarisch erinnert Rene wenig an Werther.
Die immer etwas gehobene Beredtsamkeit in Chateaubriand's Styl ermüdet selbst in so kleinen Verhältnissen. Werther's einfache, feste und doch bewegte Sprache wiegt den Leser, ohne ihn je einzuschläfern. Wie natürlich ist die
Unterhaltung der deutschen Bauern, verglichen mit der
pomphaften Declamation von Chateaubriand's Rothhäuten! Wie wenig bedarf der Deutsche, um sich im Genuß der
129 Natur zu versenken und zu vergessen; wie unbehaglich würde sich Rens in dem kleinen bescheidenen Lahnthale fühlen, er, der immer gleich Steppen, Oceane und Schnee berge haben muß, wenn ihm die Natur etwas sagen sott. Und wie fremd und kalt steht ihm selbst diese große Natur gegenüber, während sie bei Werther eine Seele annimmt,
sich ihm individualisirt und lebt, wie die Personen des Romanes leben, nicht formlose Schattenbilder wie Reps's Berge und Bäume, Helden und Heldinnen, Gedanken und Gefühle, sondern leibhaftig wie die Natur selber. Bald nach „Rens" (1804) erschien, anfangs wenig bemerkt, das sonderbare Buch Ssnancour's „Obermann", das erst zehn, zwanzig Jahre später, mitten in der Re staurationszeit, seinen wahren Erfolg hatte. Von allen berühmten Kranken des Jahrhunderts ist Obermann un zweifelhaft der kränkste. Auch könnte man von dem bi zarren Werke sagen, daß es wahrer ist als alle anderen, welche ähnliche Zustände behandeln, wahrer sogar als „Werther". Wenn aber Niemand den Weltschmerz aufrich tiger empfunden hat als der Verfasser „Obermann's", so hat auch Keiner weniger sich davon zu befreien gewußt. Es ist dies im Grunde die schwache Seite des Buches: es interessirt nur durch seinen Stoff und ist folglich für alle Die, welche dieser Stoff nicht mehr interessirt — und man darf wohl annehmen, daß die Zahl sehr groß ist — geradezu unlesbar; während „Werther" und „Rens", „Childe Harold" und „Jacopo OrtiS" ewig gelesen sein
werden, -weil sie den Stoff dichterisch behandelt, verall gemeinert, in Einem Worte ewig gemacht haben. „Ober mann" ist eine pathologische, eine gräulich wahre Studie; es ist ein Werk der beschreibenden Wissenschaft, kein KunstHillebrand, kulturgeschichtliches.
9
130 werk.
Der Styl ist einfach, aber ohne irgend eine Be
sonderheit im ®uten wie im Schlimmen, ost sogar zu farblos, zu neutral, wenn ich so sagen darf.
Von Com-
position keine Spur; Situationen, Handlung, Charaktere
abwesend.
Auch wird das Buch fortan wohl nur noch
von Solchen gelesen werden können, die den Muth haben, die
moralische Geschichte des XIX. Jahrhunderts zn
schreiben.
Niemandem wird es in den Sinn kommen,
es zur Unterhaltung oder zur Erbauung zu lesen.
Fragm wir uns nun nach der besonderen Natur der Krankheit, welche dieses einst so viel gelesene medi-
cinische Werk schildert, so können wir nicht besser thun, als George Sand's treffendes ResumS anführen, das in
seiner Kürze Alles sagt.
„Renö", meint sie, „ist das
Genie ohne Willen; Obermann sittliche Höhe ohne Genie,
kränkliche Empfindlichkeit, grausig vereinsamt in Abwesen
heit thatenlustigen Willens. Ren« sagt: „Wenn ich wollen könnte, könnte ich handeln."
wollen?
Obermann sagt: „Wozu
Ich könnte ja doch nicht."
Man lese die ganze
Herrliche Vorrede, welche die große Romanschriftstellerin
dem Buche Cenancour's vorangeschickt; es ist unmöglich, den schmerzlichen Puntt besser zu treffen.
Melleicht be
steht sie indessen doch nicht genug auf einer Prätenfion
Obermann's, die einen bedeutenden Platz in dem eigen thümlichen Buche ausfüllt: ich meine, seine unglückliche Sucht zu philosophiren, welche ihre Quelle in seiner Eitelkeit hat, denn auch hier, wie in allen Werken der
Art, spielt die Eitelkeit eine hervorragende Rolle.
Ober
mann glänzt nicht durch Willensstärke; doch hätte er immer noch genug, um sich aus seinem träumerischen Müßiggänge herauszureißen, wenn er die Mittelmäßigkeit
131 nicht verachtete und sich nicht unfähig fühlte, sich über
die Mittelmäßigkeit zu erheben — und das heißt doch wohl Eitelkeit. Obermann giebt sich vollständig Rechenschaft über
sich selbst: er weiß, daß es ihm leicht wird, daß er nicht
unbegabt ist,
daß
er einen trefflichen Arbeiter abgebm
könnte, vorausgesetzt, daß er sich mit dem zweiten Range
begnügte, er weiß auch, daß er durchaus nicht dazu ge
macht wäre, die erste Stelle einzunehmen.
Diese Aufrich
tigkeit sich selbst gegenüber ist ein treffliches Gefühl, und
es muß ihm hoch angerechnet werden; aber warum übt er denn nicht seine Fähigkeiten in jenem zweiten Range, der ihm offen steht?
daran.
Nur die liebe Eitelkeit hindert ihn
Das ist nun Eines unter den wenigen Dingen,
die er sich nicht gesteht.
Lieber macht er sich eine Art
skeptischer Philosophie zurecht über die Nutzlosigkeit mensch
licher Anstrengungen, die Lehrheit des Lebens und andere
Gemeinplätze.
Indeß ist, dem armen Obermann gerecht
zu werden, diese seine Eitelkeit nicht ganz unbegründet. Obermann ist in einer Hinsicht den meisten Menschm
überlegen, und da er nichts gethan hat als sich selbst zu
studiren, an sich selbst herumzugrübeln, so ist er sich
dieser seiner Ueberlegenheit sehr wohl bewußt, eine seltene Feinfühligkeit.
er hat
Nichts ist gewöhnlicher in
der Welt als eine Superiorität des Geistes und des
Willens, die sich mit der Gemeinheit, ja mit der Rohheit
des Gefühles verträgt.
Niemand ist schmerzlicher von
diesem Gegensatze berührt als Obermann'- zartes Gemüth, das bei jeder rauhen Berührung sich krampfhaft auf sich
selbst zurückzieht.
Es ist nun aber eine durchaus unge
rechtfertigte, wenn auch allzu verbreitete Prätension der sentimentalen Seelen, sich um dieser Sentimentalität und
9*
132 Sensibilität willen eine thatsächliche Ueberlegenheit über
die Menschen roheren Stoffes zuzuerkennen — eine Präten sion, die noch viel weniger Berechtigung hat als die, sich des Handelns entbunden zu glauben, weil Jeder mann diesem Zartgefühl keine Gerechtigkeit widerfahren läßt. Die Welt, die Gesellschaft, betrachten mit Recht diese Tngend als die untergeordnetste aller Tugenden; Verstand, Willen, Beharrlichkeit, Muth, Redlichkeit sind die Eigenschaften, welche sie am höchsten stellt, weil sie die thätigsten sind und weil sie am meisten produciren: Obermann'S Eigenschaft — die Feinheit des Gefühls — mag einen großen Zauber ausüben, aber sie ist mehr eine passive als active Tugend, der Gesellschaft unnütz, weil sie nichts für sie hervorbringt, weil sie ihr unfruchtbar erscheint, und sie bringt sie nur dann in Rechnung, wenn sie von anderen, wesentlicheren Eigenschaften begleitet ist. Die Moral, die Kunst, die Psychologie können solche Naturen nicht nur fteisprechen, sondern ihnen noch einen hohen Werth beilegen; das thätige Leben duldet sie nicht. Auch spielt Werther'S Selbstmord die Rolle des Schicksals in der antiken Tragödie: er löst das anders unlösbare Drama. In „Obermann" ist kein Drama und der Selbst mord ist keine Handlung, es ist ein Verschwinden. Der Roman zergeht, er löst sich nicht. Die meisten ftanzösischen Kritiker und Literarhisto riker rechnen Benjamin Constant's „Adolphe" unter die Werther-Romane. Nichts scheint uns diese Assimi lation zu rechtfertigen. „Adolphe" ist unbestreitbar in Bezug auf Form eines der bewundernswerthesten Meister werke einer Literatur, die gerade an Werken vollendeter Form so besonders reich ist. Der Styl einfach, correct, belebt und
133 ergreifend,
darf dem der größten Meister französischer
Prosa beigezählt werden, die Charakterzeichnung ist wahr und lebendig, die Oekonomie von unendlicher, ja einziger
Kunst.
Das Ganze trägt das Gepräge der hohen, sehr
vorgeschrittenen, aber auch verderbten Civilisation, deren
Frucht es ist.
Dieses so formvollendete Werk, so voll
richtiger, ja tiefer Bemerkungen und weitester Lebens erfahrung, ist, unserer Ansicht nach, eines der schlimmsten
Bücher die existiren, gerade weil alle Leidenschaften und Gefühle die es schildert, Leidenschaften und Gefühle sind,
die nur eine verderbte Gesellschaft erzeugen kann.
Jene Lage, die der sonderbaren Erzählung ihre Ein heit giebt, ist unnatürlich und falsch — nicht vom Stand
punkte der Wirklichkeit aus falsch, sondern vom Stand
punkte der gesunden menschlichen Natur aus.
Die Con-
venienz-Moral, die darin gepredigt wird, verbirgt nur
sehr unvollkommen die Unsittlichkeit der Anschauung, bje• zu Grunde liegt.
Auch die Gefühle sind wirklich, aber
künstlich. Die beiden Charaktere endlich, die so vollständig
und so gründlich beobachtet und analysirt sind, die Cha-
rattere Adolphen's und Ellönore's, sind ungesund und corrupt an sich.
Beiden gebricht es an Würde — eine
Tugend, die weder Werther noch Jacopo Ortis, weder
den Helden Byron's noch
dem Chateaubriand's fehlt.
Nun sind aber durchaus würdelose Charattere — und
Ellönore namentlich geht unendlich weit in dieser Hin
sicht — nicht dazu angethan, als dramatische Helden, ja nur als Axen eines Romanes zu dienen.
Das Buch hat
nichts Werther'sches, sagten wir, denn der Wertherismus bedeutet im europäischen Sprachgebrauch ein Uebel ohne
anscheinende Ursache, unserem Jahrhundert eigenthümlich.
134 zusammengesetzt aus einer gewissen Reinheit und Aufrichtigkeit, einer übertriebenen Zartheit des Gefühles und
einer falschgeleitetm Phantasie; es ist der tragische Kampf
des edleren, inneren Lebens gegen die Gesellschaft und
ihre äußerlichen Gesetze; in jedem echten Wertherianer steckt ein Misanthrop, wie Molieres „Alceste".
Das hat
«her mit Adolphe's Uebel gar nichts zu thun.
Seine
Krankheit hat sich zu allen Zeiten des Verfalles entwickeln
müssen, in Griechenland, in Rom, im Italien des Seicento — wie die Fäulniß einer altgewordenen Vegeta
tion.
Rens, Werther, Jacopo, Childe Harold, Conrad
kämpfen Alle oder opfern sich auf.
Adolphe bleibt fort
während passiv und bleibt bei allem inneren Wehe ein Mcht ein spontanes
höchst korrekter Gesellschastsmensch.
Gefühl, nicht eine natürliche Bewegung in alledem. Er
liebt Ellönore nicht einmal, nur die Eitelkeit läßt es ihm
ipünschenswerth erscheinen, von einer so glänzenden Erschei nung unterschieden und geliebt zu werden; ja er achtet sie selbst nicht und zeigt es zur Genüge.
Nichts verhindert
ihn an der Arbeit; er verachtet durchaus weder die Welt noch ihre Thätigkeit, wie der echte Pessimist aus Werther'S
Schule, aber er schätzt die Thätigkeit nur so weit, als sie seine Eitelkeit befriedigt; nur die Hoffnung, in den
Salons zu glänzen, bestimmt ihn, endlich wieder thätig ins Leben einzugreifen, nachdem er eine Zeit lang mit
Ellsnore entfernt von der Welt gelebt.
Kurz, Adolphe
hegt gar keinen Haß gegen die Gesellschaft, noch gegen den Staat, noch gegen die herrschende Moral, noch gegen die
Religion;
recht im Gegentheil
unterwirft er sich
bereitwilligst allen Forderungm der Gesellschaft, so un
gerechtfertigt sie auch sein mögen.
Wenn er nur einmal
135 ihren Satzungen und Konvenienzen trotzen wollte, könnte er ja Frieden und Ruhe finden: er braucht nur Ellenore zu heirathen, fie ist frei, und nachdem die Gesellschaft
gemurrt und getadelt hätte, würde sie ihn
ein wenig
freigesprochen
haben.
In einem
keine Werther-Natur und
Worte: Adolphe ist
kein Byron'scher Charakter,
denn weit entfernt, der geschworene Feind der Gesellschaft
zu sein, ist er ihr servilster Sklave.
Es ist eben mit
dem Buche wie mit dem Autor: Niemand hat deutsches
Wesen besser anempfunden als Benjamin Constant, Nie mand ist im Grunde ein eingefleischterer Franzose geblieben als er
und nur ein eingefleischter moderner Franzose
konnte einen „Adolphe" schreiben. Noch haben wir die Liste der französischen Werther lange nicht erschöpft: Frankreich hat deren
und Byron
mehr als irgend eine andere Nation aufzuweisen: Lamartine in
seinen
„Meditation»“ und „Harmonie»“;
Sainte-
Beuve in seinem „Josephe Delome“ und in „Volupte“;
George Sand in „Lelia“, Alfred de Müsset in seinen „Confessions d’un Enfant du siede“, haben Alle diese
Saite berührt, ohne Alle gleich tief von dem sonderbaren
Wehe ergriffen zu sein.
Auch ist die Analogie der drei
erwähnten Dichter mit Byron und Goethe mehr scheinbar als wirklich.
Der Sänger Elviren'S drapirt sich mehr
in seinen Schmerz, als daß er wirklich davon durchdrungen ist; in den malerischesten Stellungen „sitzt" er vor dem Publikum, weiß mit Anmuth zu weinen und mit Eleganz zu seufzen.
Seine Dichtungen haben mehr Aufsehen als
Eindruck gemacht.
Der wunderbare Zauber der Verse,
die einschmeichelnde Musik der Sprache hat über die Leere
des Inhaltes getäuscht,
und die allgemeine Stimmung
136 kam dem Dichter zu Hilfe, indem sie gütig genug war, Gefühle in seinen Gedichten zu staben, die sie selbst hin
einlegte. Sainte Beuve's Josephe Delorme ist «och weniger
Elvirens
als
Geliebter vom Uebel des Jahrhunderts
ergriffen: Josephe Delorme ist einfach Beaumarchais' und
Moliöre's Cherubin — ogni donna lo fa palpitar —
aber ein Cherubin ohne Frische.
Erwachen
Nun. sind aber dieses
der Sinnlichkeit im Knabenalter, diese Art
schülerhafter Corruption der Phantasie, diese Ungeduld, nicht, schnell
genug durchzudringen in der Welt ganz
normale Erscheinungen der Menschennatur und gehören als solche allen Zeiten
und allen Nationen an.
von dem tiefschmerzlichen
Auch
Buche George Sand's,
von
„Lelia“, ist schwer zu reden, ohne eine Art von Vivi sektion
anznstellen, die weder nach unserem Geschmacke,
noch in unseren Gewohnheiten ist.
Wohl an Lamartine
hat die literarische Kritik schon zu seinen Lebzeiten mehr als billig moralisches Splitterrichteramt geübt; aber er
hat sie durch seine unaufhörlichen Selbstbekenntniffe nur
zu sehr herausgefordert.
Mit Sainte-Benve war der
Schreiber dieser Zeilen persönlich befreundet; zwar auch über ihm hat sich da« Grab schon geschloffen, ja lange
vor seinem Tode sah der Verfaffer der „Causeries du
Lundi“ auf den Verfaffer von „Voluptd“, wie auf einen
alten
längstgeschwundenen
Jugendfreund
hin.
George
Sand aber lebt noch* und die von ihr in „Lelia“ an* Dieser Aufsatz wurde vor mehrere» Jahren geschrieben, seit dem ist die große Schriftstellerin auch dahin geschieden; doch schien es gerathen, diesen Paragraphen stehen zu kaffen.
Die Herausgeberin.
137 geregten Probleme sind
sönlichster Natur, daß
so delikater und dabei so per
man nicht daran rühren kann,
ohne die Persönlichkeit der großen Dichterin selbst recht Nun handelt sich's heute
indiskret ins Auge zu fassen.
und hier gerade nicht um den künstlerischen Werth oder
Unwerth dichterischer Erzeugniffe — über die man sich auch Zeitgenossen, ja Freunden gegenüber stets mit Freimuth aussprechen sollte —
sondern es handelt fich um eine
Seelenkrankheit, bei deren Analyse oder Schilderung die Diskretion die erste Pflicht ist.
Nichts verhindert uns, noch mit einem Worte des jenigen französischen Dichters zu gedenken, welcher als der vollkommenste Typus des
Byronismus
angesehen
werden kann, welcher, zum eigenen und zu seines Vater landes Unglück, dem Uebel erlag, des größten poetischen Genius, den Frankreich seit dem siebzehnten Jahrhundert
hervorgebracht: Alfred de Muffet's.
Da haben wir es
wieder einmal, wie bei Goethe, Byron, Heine, mit einem
jener Sterblichen zu
thun,
welche
die Natur selbst
zu den Verkündern ihrer Geheimnisse auserlesen, mit
einem
vas Dei,
aber das zu schwach ist, den Gott im
Busen zu Herbergen.
Muffet war andererseits in einer
gesellschaftlichen Sphäre geboren, die, ohne glänzend zu
sein, der Aristokratie näher stand als dem Bürgerthum und mit eleganten, feinen Sitten eine schöne und gediegene Mldung vereinigte.
Uebel, das
Anlage wie Bildung unterlagen dem
ihn früh ergriff und ihn schmerzlicher und
vollständiger als alle Anderen zerrüttete.
Kaum entdeckt
man in seiner ganzen reichen Hinterlassenschaft hie und da eine
frische, kleine Blume, die der Pesthauch nicht
angekränkelt.
Denn selbst in seinem Scherzen ist Muffet
138 traurig; er weiß wohl das Scherzen der Ironie wie das
der Heiterkeit zu finden.
Seine Byron'schen Gedichte,
wie „Namöuna“ und „Mardoche“ mit all ihrem gallischen
Witze, ihrem dichterischen Schwünge, mit all ihrer frivolen Leichtfertigkeit und
spöttischen Lachlust, sind Erzeugnisse
einer tief krankenden Seele, die sich zu betäuben, die zu
Da ist nichts von Rabelais' derber,
vergessen sucht.
unauslöschlicher Lache, nichts das
um Voltaire's Mund
von dem feinen Lächeln,
spielt und
den bösen alten
Herrn nie am Schlafen gehindert hat; es ist das höhnisch
bittere
Lachen der Selbstverachtung und der Weltver
des
achtung,
quälenden
Zweifels,
des
ungenügenden
Glaubens, der ohnmächtig ankämpst gegen diesen Zweifel:
Muffet spottet der ihn umgebenden Wirklichkeit als eitel Scheines, ohne doch an die Wirklichkeit feines inneren Menschen zu glauben und indem er schon sein Spotten
bereut,
noch
ehe
er den Satz beendigt.
Doch in den
ernsten, melancholischen Gedichten fühlt sich sein tiefsinniger Genius noch mehr zu Hause; hier leiht er dem Zweifel,
der Enttäuschung, der desesp^rance — wie er selbst es
nennt — die unwiderstehlichst dichterische Stimme.
Von
Werther jedoch ist hier eigentlich nur noch die Jugend
und
die
geblieben.
zarte überreizte Feinheit des Gefühles übrig Zu diesen Werther-Eigenschaften gesellt sich
aber eine frühzeitige bittere Erfahrung, gesellt sich vor
Allem die nervös erregte Künstlernatur, die Muffet zu einer ganz besonderen Figur machen.
In ihm haben
wir vielleicht das vollständigste Specimen unserer Krank
heit, d. h. alle äußeren und inneren Ursachen des Uebels und alle seine Folgen auf ein einziges Wesen zusammen
gedrängt, das schon durch seine Organisation prädisponirt
139 ist, alle Gemüthseindrücke besonders lebhaft zu empfinden. Musset's Seele ist eine unablässig vibrirende, leidende Saite. Rolla — wir nehmen den Namen, unter dem der immer sich selbst gleiche Held der Muffet'schen Muse am berühmtesten geworden — Rolla ist jung, aber schon welt
erfahren, und die Welt, die er kennt, ist nicht die bürger liche Welt einer deutschen Kleinstadt, sondern die raffinirte
Welt der Hauptstadt Europas. Er vereinigt die äußerste Zartheit des Gefühls mit vorzeitiger Verderbtheit. Er ist genährt worden mit der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts; aber das historische und künstlerische Dilettanten-Christenthum des neunzehnten Jahrhunderts, das Christenthum Chateaubriand's und der deutschen Roman tiker, hat ihn durch seine poetische Seite verführt. Alles widerspricht und bekämpft sich in ihm, und nur ein Motiv beherrscht alles Andere: die Künstlernatur. George Sand, in einem Roman, der, sittlich betrachtet, eine schlechte That war/ der, wie alle Werke der großen Dich terin, mittelmäßig komponirt, aber in stylistischer und psy chologischer Hinsicht eines ihrer Meisterwerke ist — George Sand hat uns in „Elle et Lui“ ein unübertreffliches Porträt des armen Muffet gelaffen, das zugleich als eine naturgeschichtliche Beschreibung L la Buffon der Künstlernatur gelten kann. Man wäre versucht zu glauben, es sei ein Kommentar zu den Gedichten Muffet'S, welche ja eine lange Beichte bilden, wenn wir nicht wüßten, daß er aus persönlichster Erfahrung und Beob achtung geschöpft ist. Aber dieses Persönlichste kann zu gleich als das Allgemeinste bienen, als Typus der modernen Künstlernatur: äußerste Erregbarkeit und nervöse Empfind-
140 lichkeit, fortwährende Alternativen von Leidenschaft nnd Enthusiasmus, von Ermüdung und Entmuthigung, eine schön angelegte Organisation, die sich aufreibt, weil sie weder Ruhe noch Gleichgewicht finden kann. Er selbst
schildert sich, weniger pathologisch, aber auch poetischer als seine einstige Freundin, und immer ist's derselbe Akkord, den er ins Unendliche melodisch variirt: die unwiederbringliche Poesie vergangener Zeiten, die Prosa
des modernen Lebens, Sehnsucht nach ferner Schönheit: Regrettez-vous les temps oü le ciel sur la terre Marchait et respirait en un peuple de Dieux? Oü Venus Astarte, fille de l’onde amere, Secouait, vierge encore, les larmes de sa mere Et fecondait le Monde en tordant ses cheveux ?
Und nach dem Alterthume ist's das Mittelalter, das ihn anzieht; nie wagt er, sich zu sagen: „Sieh, das Schöne liegt so nahe!" nur in nebliger Ferne will er es
sehen, in der Nähe wird seinem kranken Auge Alles tonund farblos. Hier aber liegt der Unterschied zwischen dem robusten Genius des wahren, souveränen Dichter königs und dem zarten, aber in seinem Keime schon angefreffenen Dichtertalent. Wäre Muffet ein Goethe ge wesen, wie er hätte er sich der Jngendkrankheit ent rissen, und anstatt der vielen, freilich wunderbar schönen Fragmente, die er gelassen, uns Werke gegeben, in welchen er, wie in „Hermann und Dorothea", die Poesie
der Wirklichkeit der Gegenwart geoffenbart hätte. Er hätte sich nicht in „unfruchtbaren Wünschen" (Les voeux steriles) gefallen, hätte nicht Goethe den ganz üngerecht-
ferttgten Vorwurf gemacht, durch seine Werther-Leiden und Faust-Zweifel seine Jugend vergiftet zu haben. Wie
141 der deutsche Dichter nach Werther's Verklärung sich in
die
reinen und. gesunden Regionen der einfach großen
Poesie erhoben; wie „aus der Asche von Chartas Freunde,
begraben an den Ufern des Mechacobe, der Redner und der Dichter sich erhob, der in Frankreich groß ward" (Worte
von George Sand);
Harold's"
wie der Sänger „Childe
ein schuldvolles Leben büßte, indem er das
Einzige opferte, was ihm nach so vielen Verlusten nnd Enttäuschungen
übrig
blieb;
wie er sein Leben selbst
opferte für die Sache des geknechteten Volkes: so hätte
Alfred
de Muffet, anstatt ein trauriges Dasein hinzu
schleppen — unfruchtbar für sich und unfruchtbar für sein Land — bis zu einem nicht minder traurigen Ende, das
Niemandem zugute kam, seiner Nation nnd seinem Ge schlechte das sein können, was ihnen so sehr Noth that:
ein Dichter, an dem sie sich gestärkt und aufgerichtet, während sie jetzt an ihm einen Dichter haben, der sie
in ihrem Zweifeln und Verzweifeln nur bestärken kann.
Und doch war sein Ende wie sein Leben lehrreich, schmerz lich lehrreich; denn es bewies wieder einmal, daß die größten Gaben der Natur nicht hinreichen, einen großen
Dichter zu machen; daß auch die sittlichen Eigenschaften
des Muthes und des Willens dazu nöthig sind und daß auch von der Kunst, wie von jeglichem Schönen, des alten
Hesiod Worte gelten: „Vor den Lohn setzten die unsterb lichen Götter die Arbeit."
aus
Dies
nun gerade ist die Lehre, die sich überhaupt
dieser
nothwendigerweise sehr unvollständigen und
sehr oberflächlichen Skizze ziehen läßt.
Die Dichtung
hatte das Recht, ja die Pflicht, eine so allgemein gewordene psychologische Krankheit zu schildern, welche die Jugend ganz
143 Europas erfaßt hatte, beinahe fünfzig Jahre mehr oder
minder heftig gewüthet, die mächtigsten. Geister heimge sucht, die zartesten zerstört hat. leisesten Regungen
Der Poet soll auf die
seiner Zeit lauschen;
wie sollte er
diesem Wehe nicht seine Stimme geliehen haben? Aber er durfte und konnte es nur dann würdig thun, wenn er sich selbst davon befteite.
Er mußte durchgehen, nicht
darin verweilen, noch weniger darin untergehen.
Goethe
aber ist der Einzige der diese Aufgabe des Dichters ganz
gelöst:
die Aufgabe, ganz seiner Zeit zu gehören und
doch ganz über ihr zu stehen.
Er ist Werther gewesen,
er ist nicht Werther geblieben: und so ist das erste der
Werke dieser Art, der Zeit nach, auch das erste geblieben dem Werthe nach: ein unvergängliches Denkmal der Macht,
mit welcher der Genius die Wirklichkeit beherrscht. Zeit läuft keine
Unsere
Gefahr mehr, im Selbstgrübeln und
Selbstwühlen Thätigkeit und Gesundheit zu verlieren; aber es wäre ein Beweis von wenig Pietät und wenig
Einsicht in die wunderbaren Wege geschichtlicher Entwicke lung, wenn wir nur spöttisches Lächeln oder rohes Mß-
verstehen hätten für die edlen Verwirrungen unserer Väter, denen die Aelteren unter uns noch selbst verfallen
sind; denn nur edle Naturen konnten so irren.
V.
Ueber die Convention in -er französischen Literalnr.* Denke Dir, liebster PhoSphorus, während Du im Gewühl« der Großstadt Dich am Allermodernsten ergötztest und ereifertest, habe ich in meiner Waldeinsamkeit eine Entdeckung gemacht auf dem Felde der Prähistorie: die Entdeckung, daß das grand siede wirklich ein großes Jahrhundert war. Wie'S dem Menschen doch ergehen kann! Da lebt Einer zwanzig Jahre in Frankreich, * Dieser Aufsatz ist allerdings nur ein Fragment, nur die
erste Hälfte eines Essay, welcher unter dem Titel: tion und
„Ueber Conven
Naturalismus in der französischen Literatur"
und an
knüpfend an H. Homberger's in der „Deutschen Rundschau", (Juli
1882) erschienenen gegen den modernen Naturalismus gerichteten Aufsatz: „Wereschagin'S Katalog.
der französischen
Ein Gespräch", die Entwickelung
Literaturaus dem Conventionellen ins Natura
listische darzeigen und
erläutern wollte.
Leider hat der Verfasser
nur den aus die „Convention" bezüglichen Theil niederschreiben und an die Adresse PhoSphorus', d. i. einer der im Homberger'schen Ge
spräch redenden Personen richten können.
welche erwähnt wird,
Unter der Waldeinsamkeit,
ist Arcachon bei Bordeaux zu verstehen, wo
Hillebrand, bereits schwer erkrant,
den
Winter 1881/82 verbrachte.
So sehr bedauert werden muß, daß der Essay nur Bruchstück geblieben
ist, so schien doch die Veröffentlichung desselben,
auch in
dieser
Gestalt wünschenswerth und wir hoffen, daß sie den Beifall der Leser finden wird.
Es war dieser Aufsatz beinahe das Letzte, was der
Verfasser schrieb.
Die Herausgeberin.
144 präparirt alle seine Examina wie ein guter Collögien, lernt seinen Racine hübsch auswendig und macht Auszüge aus dem Discours sur l’histoire universelle, promovirt an der Sorbonne, wird am Ende gar wohlbestallter Ordinarius-Publikus an einer französischen Fakultät, und — bei alledem kommt er nie recht dahinter, daß eine gescheid.tr Nation wohl weiß was sie thut, wenn sie ein stimmig und dauernd eine Zeit, einen Menschen, ein Werk groß nennt. Richt als ob besagter Besserwissenwoller nicht einzelne Geister, wie Pascal und Moliöre, von vornherein gewürdigt und liebgewonnen, noch als ob er je die Schönheit ber Form an fast allen Schrift stellern jener Zeit verkannt oder unterschätzt hätte; aber der Geist, das wahre Wesen des ganzen Jahrhunderts entging ihm doch. Da sitzt er einmal, lange, lange Jahre nachdem sich sein Verhältniß zu der Nation gelöst, einen Winter über in ihrer Mitte als Fremder, unbekannt und unbeachtet, ohne jede Berührung mit den Lebenden, allein in der Gesellschaft jener mißachteten Todten, ohne daß ein eifriger Fürsprech oder leidenschaftlicher Gegner die lautlose Unterhaltung stört, ohne daß Vorurtheil, Ge wohnheit, Umgebung, die reine Wirkung trübend, drein reden, und siehe da, es geht ihm ein Licht auf, daß Er der Blöde war, und im Grunde auch der Eingebildete, nicht aber das Volk, das mit solchem Stolze und schein bar blinder Verehrung auf seine „große" Zeit zurückblickt. Das kommt wohl mit vom heilsamen Sauerteig der Kritik, der unser Einem nicht erlaubt, literarische oder historische Dogmen ohne Weiteres hinzunehmen; aber doch auch von der leidigen Verknöcherung jener Kritik und ihrer Dogmen, welche uns dazu verleitet, die gesummte
145 Cultur, von deren Uebeln allein unsere Väter uns zu
befreien gestrebt und uns befreit haben, unbesehen,
als
werthlos zu verwerfen. Umsonst protestirten schon Schiller
und Goethe gegen dies unterschiedslose Verfahren, welches das Kind mit dem Bade ausschüttet.
Nur natürlich war
und ist der Widerwille gegen allen und jeden Conven tionalismus
bei
einer
Nation,
deren geistiges Leben
durch den Kampf gegen die Convention geweckt wurde,
deren gesellschaftliches Leben noch immer die Convention zu ignoriren scheint.
Und wo hätte sich eine Literatur,
eine Gesellschaft je in conventionelleren Formen bewegt als die französische des 17. Jahrhunderts?
Daher das
Vorurtheil gegen die Gründer der französischen Cultur,
das wir von den Gründern unserer Cultur geerbt — bei ihnen war's noch kein Vorurtheil — und das sich
bei
fortschreitender Ignoranz
dazu
gesteigert hat,
an
jener besiegten Welt, die man nicht mehr kennt, über haupt nichts Gutes anerkennen zu wollen.* Dazu kommt, daß der substantielle Deutsche, dem
wenig an der Form gelegen ist, die Dinge vor Allem nach ihrem Inhalte fragt.
„Worum handelt es sich denn
in jener Literatur?" höre ich ihn einwerfen.
„Um Er-
♦ Wie verbreitet noch immer dies Vorurtheil ist, beweist u. A. folgender Satz, den ich in derselben Nummer der „Deutschen Rund schau", finde, in welchem Homberger's Gespräch über Wereschagin's Katalog abgedruckt ist: „Doch des Zeitalters des Roi soleil und
Racine's welcher, nach Vacquerie's (!) Ausspruch, nicht so sehr durch das, was er gesagt als durch das, was er nicht zu sagen wagte, berühmt geworden ist, kann kaum Jemand froh werden außer einem regelrechten französischen Legitimisten, der in Cabinetsjustiz, Er
oberungspolitik und Hospoesie einen gehobenen Dreiklang zu hören vermag." Hillebrand, kulturgeschichtliches.
10
146 örterungen über das pouvoir prochain und die opinion
probable, die gräce actuelle,
süffisante, um
prevenante,
efficace,
Constructionen der Weltgeschichte,
die
uns so willkürlich als absurd erscheinen, um rhetorische
Verherrlichung von Größen, die für uns keine sind, um Satiren
gegen Verhältnisse und Sitten,
die, Gott sei
Dank, längst aufgehört haben, die französische Gesellschaft zu charakterisiren — roenn’s hoch kommt,
um tragische
Motive, welche, wie das des Ehrenpunkts oder der Loya lität, der heutigen Generation ganz abhanden gekommen sind.
Und um welche Interessen dreht sich die politische
Geschichte jener Zeit? Um Fragen des Ranges und Titels,
kleinliche Hofintriguen, Cabinetspolitik, der keinerlei Idee, fonbem nur die baare Selbstsucht zu Grunde liegt. Wie
viel näher steht uns da doch das 18. Jahrhundert! Wir
theilen nicht alle seine Ideen, aber wir verstehen sie doch;
sie bewegen noch heute einen großen Theil der Geschichte machenden
Menschheit;
Montesquieu's
constitutionelle,
Rouffeau's demokratische Theorien, Voltaire's Deismus
und Condillac's Sensualismus sind noch nicht todt und begraben, wie Boffuet's und Fvnölon'S theologische Streit fragen; sie begegnen uns auf Schritt und Tritt, ja sie
verlegen uns oft recht unbequem den Weg.
Selbst die
Motive der Familienromane und -Dramen des vorigen
Jahrhunderts verfehlen noch immer nicht ihre Wirkung, und beide Gattungen werden noch eifrigst gepflegt, während die klassische Tragödie mitsammt der sie bewegenden Denk-
und Fühlweise für immer ausgelebt zu haben scheint." „Ja, aber die Form!"
ruft der Franzose alter
Observanz, „die Form! Was ist aus dem Styl, was aus der Sprache geworden, erst unter der Hand der Philo-
147 sophen, dann unter der der Romantiker, und endlich unter
der der Realisten?" — „Was nennt Ihr Form, was nennt Ihr Styl?" entgegnet der hartnäckige Deutsche, der doch nur
halb
den Zauber
einer vollendeten Sprache
fühlt, welche nicht die seine ist: „Form, Styl ist ja nur Ausdruck des Gedankens.
Wo der Gedanke dürftig oder
abwesend ist, werft Ihr umsonst rhetorische Purpurlappen über Eure Nichtigkeit — nur das Kostüm ist schön, das einen schönen Körper zeichnet."
Schon recht; aber was
nennt Ihr Gedanken? Ist nur die raisonnirende Abstrak tion Gedanke? Sind nur allgemeine Ideen Ideen? Sind
concrete Anschauungen
etwa
habt Ihr ganz vergessen, daß
keine Ideen mehr?
Und
idea von löeiv, schauen,
kommt? Sind überdies Fühlen, Wollen, Thun nicht eben
sowohl dazu angethan, in der Sprache ausgedrückt zu werden, als das Gedachte? Ist vor Allem die Persön lichkeit, wo sie sich ganz ausspricht, nicht alle Gedanken
der Welt werth? Wo ist aber je eine Sprache geschrieben worden, welche den speculativen Gedanken wie die concrete
Anschauung mit allen ihren Schattirungen, das Gefühl, die Leidenschaft, den ganzen Menschen in einem Worte,
getreuer und lebendiger, großartiger und dabei knapper wiedergiebt, als das Französische Descartes' und Pascal's,
Racine'S und Moliöre's, Labruyöre's und St. Simon's? Sehet Euch
einmal die Sache von der Seite an,
und
es wird Euch nicht schwer werden zu begreifen, warum die lebensvolle Literatur und Geschichte des 17. Jahr
hunderts
noch immer für den von der politischen und
literarischen Revolution nicht durchaus verdorbenen Fran zosen einen ganz anderen Reiz hat als die, mit wenig
Ausnahmen, blaffe unb abstracte literarische Production io*
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und
die
schwächliche, inconseqnente Politik der beiden
folgenden Jahrhunderte.
Was man so gewöhnlich In
halt nennt, ist ja eigentlich gar nicht Inhalt, sondern Stoff, an dem sich Geist manifestirt. Inhalt eines
Der wahre Gehalt und
jeden Kunstwerkes,
wie auch jeder That,
ist der Mensch, der sich darin kundgiebt. Nicht der Gegen stand des peloponnesischen Krieges machte das Interesse
desselben aus, sondern die
großen Menschen, die ihn
geführt: wenn zwei Negerstämme um die Herrschaft über
eine kleine Halbinsel Afrika's stritten, so wäre uns das höchst gleichgültig.
Gleicherweise sind es nicht die Distinc-
tionen Bauny's und Escobar's die uns interessiren, son dern Pascal; wie wir uns ja auch nicht für oder wider
Göze's und
Klotz' Aufstellungen erwärmen, sondern für
Lessing. Unstreitig sind die Ideen und Interessen, welche das
18. Jahrhundert bewegten, allgemeinerer
wenn nicht höherer, so doch
Art, folglich wichtiger für uns als die
theologischen Streitfragen oder die Vortrittsrivalitäten,
für die sich die Männer des 17. Jahrhunderts ereiferten;
aber man vergesse doch nicht, daß, neben jenen Tages
und Personenfragen, die speculative Philosophie, welche dem
Zeitalter
der
„Philosophen"
schon ganz fremd
geworden war, Geister wie Descartes und Malebranche in Bewegung setzte und daß die Regierung eine nationale
Politik verfolgte, welche wahrhaftig nicht kleinlich war
und
den begeisterten Beifall der ganzen Nation hatte.
Zugleich
muß wiederholt werden, daß die Ideen und
Interessen, welche die Handlungen der thätigen Menschen bestimmen, beinahe ebenso, ich will nicht sagen unwichtig,
aber doch nebensächlich sind als die Gegenstände, welche
149 Dichter und Künstler behandeln, wenn wir sie gegen die menschlichen und künstlerischen Eigenschaften halten, denen
diese Ideen, Jntereffen und Gegenstände die Gelegenheit boten, sich an den Tag zu legen. die
Allgemeinheit
Endlich benimmt gerade
der Ideen und Interessen denselben
Etwas von ihrer Kraft und Lebendigkeit, wie ja auch
die Vorkämpfer solcher Allgemeinheiten selten die klare richtige Einsicht in
-und
Menschen und Dinge
haben,
welche die Vertreter bestimmter, gegebener Interessen und
Ideen auszeichnet: Turgot ist ein gar kläglicher Staats mann neben Richelieu, der nie eine volkswirthschaftliche
Theorie gekannt;
die Psychologie Jean Jacques',
die
jenige Voltaire's sogar, ist recht flach gegen dieLabruyöre's
und Larochefoucault's, welche nicht einmal wußten, daß sie Psychologen waren; die Philantropie eines heiligen
Franz von Paola hatte sicherlich mehr „Milch mensch licher Güte" in sich, als alle die anonymen Wohlthätigkeitsanstalten unserer Zeit, mit denen wir das Recht zur
Gleichgültigkeit haben glauben.
für jedes
besondere Unglück erkauft zu
Man sollte meinen, die Philosophen des
vorigen Jahrhunderts hätten so viel an den Menschen gedacht, daß sie darüber die Kenntniß der Menschen ver
loren.
Sie
sahen
allgemeiner Ideen
eben das Leben durch den Schleier
—
später, zur Zeit der Revolution
gar durch einen Schleier von Worten —; ihre Väter sahen es unmittelbar von Angesicht zu Angesicht. Gewiß waren die Leute des vorigen Jahrhunderts
in einem Sinne besser, weicher im Gefühl, hochfliegender
in ihrem Streben als die des vorhergehenden, bei denen Neid, Haß, Ehrgeiz, Eitelkeit eine, wenn nicht bedeuten
dere, so doch viel augenfälligere Rolle spielen. Dabei haben
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diese aber eine unvergleichliche Würde und Größe, die ihren Nachfolgern ganz abgeht: Größe im Charakter, im in der Sprache. Wer wollte leugnen, daß das 17. Jahrhundert keinen so liebenswürdigen Menschen aufzuweisen hat als Montesquieu, keinen so geistreichen als Voltaire, keinen so freien als Diderot, keinen so empfindsamen als Rousseau? Und doch, wie klein er scheinen die Montesquieu und Voltaire, Diderot und Rousseau neben einem Bossuet, einem Conde, einem Beauvilliers! Selbst in England haben die Strafford und Cromwell, die Milton und Newton einen Zug von Großheit, der den Walpoles und Goldsmiths ganz fremd ist, des Mangels an Würde nicht zu gedenken, der die Staatsmänner und Schriftsteller dieser Zeit im Gegensatz zu ihren Vätern so auffallend kennzeichnet. „Was nennst du denn aber .Größe