Zeiten, Völker und Menschen. Band 7 Culturgeschichtliches: Aus dem Nachlasse [Reprint 2020 ed.] 9783112378526, 9783112378519


320 58 20MB

German Pages 345 [356] Year 1885

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Vorwort
Inhalts-Verzeichniß
1. Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischen Weltanschauung
2. Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischen Gesellschaft
3. Jungdeutsche und Kleindeutsche (1830—1860)
4. Die Werther-Krankheit in Europa
5. Ueber die Convention in der französischen Literatur
6. Born alten und neuen Roman
7. Ueber die Fremdensucht in England
8. Ueber das religiöse Leben in England
9. Der Engländer auf dem Continent
Druckfehler - Verzeichnis
Recommend Papers

Zeiten, Völker und Menschen. Band 7 Culturgeschichtliches: Aus dem Nachlasse [Reprint 2020 ed.]
 9783112378526, 9783112378519

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Zeiten, Völker und Menschen von

Karl Hillebrand.

Siebenter Band.

Llllturgeschichtliches.

Straßburg. Verlag von Karl I. Trübner. 1885.

CullurgeschichNiches. Aus dem Nachlasse von

Karl Hillebrand. Herausgegeben

Zessie Hillebrand.

Mit dem Bildnisse des Verfassers in Holzstich nach der Büste von Adols Hildebrand in Florenz.

Straßburg. Verlag von Karl I. Trübner.

1885.

Alle Rechte vorbehalten.

Druck von L. H. Schulze A Lo. in Gräfenhainichen.

Den näheren Freunden ihres d a h i n g e sch i e d e n e n Gatten widmet

(liefe Aufsätze aus dessen Nachlaß

Vorwort. Indem ich den siebenten Band der „Zeiten, Völker

und Menschen" der Oeffentlichkeit übergebe, verhehle ich mir keineswegs die Verantwortlichkeit, die ich damit über­

nehme.

Aber das Vertrauen meines verewigten Mannes,

welcher kein Bedenken trug, mir seinen gesammten Nach­

laß zur freien Verfügung zu vermachen,

andererseits

meine genaue Kenntniß der Absichten, die er in Betreff

dieses Nachlasses hatte, schienen es mir zur Pflicht zu machen, diese Absichten, soweit ich es konnte, zur Aus­ führung zu bringen.

Diese Empfindung ist es, welche

mir zu der wehmüthigen Aufgabe den Muth gegeben hat. Wenn ich den vorliegenden Aufsätzen einige Worte

vorausschicke, so thue ich es lediglich, um sowohl allen Mißverständnissen über die Absichten des Verfassers vor­

zubeugen, als auch um allen Vermuthungen über meinen

Antheil an der Wahl, Zusammenstellung und Revision zuvorzukommen.

Etwa fünf Monate vor seinem Tode Hillebrand

hat Karl

den Plan zu diesem siebenten Bande ent­

worfen und ich habe mich im Ganzen streng an seinen

Plan gehalten.

Die wenigen Aenderungen, die, mit einer

Ausnahme, unvermeidlich waren, sind möglichst treu im

Sinne des Dahingeschiedenen vorgenommen worden.

viii Dem ursprünglichen Plan zufolge sollte dieser Baitd aus zehn Aufsätzen kritischen und historischen, nicht bio­ graphischen Inhalts bestehen, die zum Theil noch unver­ öffentlicht, zum Theil früher in ausländischen Zeitschrift«» erschienen waren. Nun ist, von zwei zur Aufnahme bestimmten Aufsätze«, welche aus der letzten Lebenszeit des Berfaffers herrühre«, der eine, „Ueber die Convention in der französische» Lit«ratur" — er hieß ursprünglich „Ueber ConventionaliSnm» und Naturalismus in der französischen Literatur" — nur zur Hälfte fertig geworden. Dennoch stellte sich dieser Aufsatz als so bedeutend, so charakteristisch sür die Anschauungs- und Ausdrucksweise des Verfassers heraus, daß die Beibehaltung desselben, als Fragment, geboten erschien. Auch ist er seitdem in der „Deutschen Rund­ schau" veröffentlicht worden. Ein dritter, ebenfalls für diesen Band bestimmter Aufsatz, „Ueber den DandpiSmu» in der Polittk und in der Literatur", welcher da» Gegen­ stück zu dem Aufsatze „Ueber die Wertherkrankheit in Europa" bilden sollte, ist leider, obgleich im Entwurf fertig, nicht mehr zur Ausführung gekommen. Gewiß hätte er zu dem Eigenthümlichsten und Geistreichsten gehört, was der Verfasser je geschrieben! Al» Ersatz für denselben ist ein schon früher in der „Gegenwart" erschienmer Aufsatz: „Jungdeutsche und Kleindeutsche" gewähtt worden, welcher da» Nachwort blldet zu den sechs Vorlesungen „Ueber die Entwickelung der deutschen Welt-Anschauung", die Karl Hillebrand im Frühjahr 1879 zu London (Royal Institution of Great Britain) hielt, denen auch der erste Aufsatz: „Zur Entwickelungsgeschichte der abendländischen Weltanschauung", entnommen ist.

IX Außer dieser Aufnahme eines ursprünglich nicht für

diesen

Band

bestimmten Aufsatzes,

und einer,

behuf­

zweckmäßigerer Anordnung vorgenommenen Aenderung in der Reihenfolge der Anffätze, ist nur noch eine Abweichung

von dem ersten Plane Karl Hillebrand'S zu erwähnen: die Unterdrückung eines vor einigen Jahren geschriebenen

AnfsatzeS, der den Schluß des Bandes bilden sollte.

Da

indeffen der Gegenstand desselben für deutsche Leser kein Interesse mehr haben konnte, und da außerdem Vieles

darin Gesagte in einem vorhergehenden,

von dem Ver­

fasser nach Abfaffnng des Planes geschriebenen Aufsatz besseren Ausdruck gefunden hatte, so habe ich die feste

Ueberzeugung, mit Weglassung diese» Schlußaufsatzes voll­

ständig im Sinne, des Verstorbenen gehandelt zu haben.

Was endlich die deutsche Fassung mehrerer der vor­ liegenden, weder ursprünglich in deutscher Sprache geschriebenen, noch für deutsche Leser bestimmten Aufsätze

anlangt, so ist darauf zu verweisen, daß einige derselben, z. B. Nr. 2, 3 und 6, schon bei Lebzeiten de» Verfassers

in deutschem Gewände erschienen stnd.

Andere hatte er

selbst einer talentvollen Schriftstellerin, Fräulein Isolde Kurz in Florenz übergeben, welche da« große Vertrauen,

das er ihrer Gewandtheit und Gewissenhaftigkeit schenkte, bei der nicht letchten^Aufgabe im vollsten Maße gerecht­

fertigt hat.

Mögen diese kurzen Andeutungen genügen, um den

Leser zu überzeugen, daß weder bei der Wahl und Zusam­ menstellung de» Materials, noch bei den geringen Aende­

rungen, zu demnach mich veranlaßt gefühlt habe, will­ kürlich verfahren worden ist.

Wie sehr sich der Verfasser,

trotz de» langenZLeidens, bis zuletzt die ihm eigenthümliche

Schärfe, Klarheit und Frische des Geistes bewahrt hatte,

beweisen zur Genüge die beiden zuletzt geschriebenen Auf­

sätze:

Nr. 5

und 9.

Auch

setzte

ja die Lebhaftigkeit

seiner Unterhaltung und sein reges allgemeines Interesse

Me in Erstaunen, welche ihn in den letzten Monaten

größter körperlicher Schwäche sahen. Zum Schluß ist es mir Bedürfniß, den treuen Freun­

den meines verstorbenen Mannes, die mir als Rathgeber und Mitarbeiter an diesem Bande beigestanden haben,

meinen besonderen Dank auszusprechen: zunächst Herrn Dr. Heinrich Homberger, der mit pietätvoller Anhäng­

lichkeit an den Dahingeschiedenen, mit verständigster Sach-

kenntniß mir jede Klippe vermeiden half, die meine Unerfahrenheit bedrohte; dann Herrn Dr.,Conrad Fiedler,

an dem ich eine ebenso bereitwillige und nicht weniger kräftige Stütze fand — though last not least, dem Bild­

hauer Adolf Hildebrand, welcher der nahen, freund­ schaftlichen Beziehung, die ihn mit dem Verstorbenen ver­

band, in seiner meisterhaften Büste ein unvergängliches Denkmal gestiftet hat und es möglich machte, das Buch

mit dem Bilde des Verfasser» zu zieren.

Möge dieser letzte Wiederhall der kaum verklungenen Stimme den Lesern eine willkommene Erinnerung an den

Verewigten sein, und sich derselben fteundlichen Aufnahme

erfreuen, wie seine früheren Schriften. ChiSlehurst, 24. Juni 1885.

Äessie Hillebra«-.

Inhalts-Verzeichniß. Seite 1. Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischen Weltan­ schauung ..............................................................................................

1

2. Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischen Gesellschaft

26

....

74

3. Jungdeutsche und Kleindeutsche (1830—1860)

4. Die Werther-Krankheit in Europa...............................................102 5. Ueber die Convention in der französischen Literatur

.

.

143

6. Born alten und neuen Roman..................................................... 168 7. Ueber die Fremdensucht in England..............................

197

8. Ueber da- religiöse Leben in England........................................ 246

9. Der Engländer auf dem Continent...............................................310

I. Zur Entwicklungsgeschichte -er abendländischen Weltanschauung. Wir dürfen das mittelalterliche Europa als eine große Familie betrachten, die eine Zeitlang glaubte, sie könne für immer unter einem Dache wohnen und

gemeinsam an dem großen Werke der Civilisation arbeiten. Eine Sprache — die lateinische, ein Glaube, — der katholische, ein Gesetz — das römische, ein Souverän — der Kaiser — sollten die Oberherrschaft führen und allen Gliedern der Familie Schirm gewähren. In Wirk­ lichkeit wurde dieses Ideal nie völlig erreicht. Aber es beherrschte die Gemüther das ganze Mittelalter hindurch, und noch in späteren Zeiten hielt es gewisse Geister ge­ fangen, die nach Einheit und Ordnung dürsteten und nicht im Stande waren, sie in der Mannigfaltigkeit und der Freiheit zu finden. Das Gesetz der Natur war gleich­ wohl stärker als die Gesetze der Menschen: Europa ent­ wuchs dem Stammhaus, so geräumig es gebaut schien. Kaum hatte jeder Herd seine eigene Familiensprache, so wünschten auch schon die um ihn Versammelten, den Ge­ danken und Gefühlen ihres alltäglichen wie ihres höheren Lebens in dieser Sprache Luft zu machen. An dem Tag, an welchem ein philosophischer Gedanke in nationaler Hillebrand, Culturgeschichtliche?. 1

2 Sprache ausgedrückt wurde, hatte jene Theilung Europas begonnen, aus welcher sich während des 15. Jahrhunderts die nationalen Monarchien von England, Frankreich und

Spanien, die italienische Renaissance und die Reformation in Deutschland entwickelten. Die Theilung, sage ich,' nicht die Spaltung. Das Werk, welches bis dahin Europa gesummt und gleichzeitig verrichtet hatte, mußte nun in Theilen, bald von dem, bald von jenem verrichtet werden, so daß, wie Algarotti von seiner eigenen Nation sagte: „wer früh vor den andern aufstand und hart schaffte, unter Tag wohl ein wenig rasten durfte." Gleichwohl ist die von dem mo­ dernen Europa geleistete Arbeit in Wahrheit eine einzige, wenn anch die Arbeiter einander verschiedene Male ab­ gelöst und ihren Nachfolgern die Fackel des geistigen Lebens eingehändigt haben: „Vitae lampada tradunt.“ Es ist ein Grundstock, ein Kapital, — das Kapi­ tal der Menschheit, — das sie gesammelt haben, indem der Reihe nach ein Jeder die Frucht seiner Mühen beisteuerte. Selbstverständlich Mrfen diese und ähnliche Ausdrücke nicht allzu wörtlich genommen werden. Die Menschheit ist ein lebender Körper, wo -jeder Theil innig mit dem andern zusammenhängt, wo jede Trennung wie ein Schwertstreich empfunden wird, zugleich schmerzhaft und lebensgefährlich. Doch wie der Philosoph das Recht hat, Gedächtniß und Phantasie, Willen und Empfindung, Ver­ stand und Vernunft zu trennens die zusammen das lebende Individuum bilden, so muß der Geschichtsschreiber um die Erlaubniß bitten, im Geiste zu theilen, was in Wirk­ lichkeit eng verbunden ist. Als England zum erstenmal

3 die Intellektuelle Hegemonie über Europa führte, zur Zeit, wo Gilbert und Harvey, Bacon und Hobbes, Newton

und Locke schrieben und dachten, hatte Italien seinen Galileo, Frankreich seinen Pascal, Deutschland seinen

Leibniz.

Doch für jeden unparteiischen Beobachter der

Geschichte des Gedankens war England der Brennpunkt

der Bewegung. Italien wurde zuerst unter den europäischen Natio­

nen mündig und rüttelte an der väterlichen Autorität. Schon im Anfang des 14. Jahrhunderts rühmte es sich

eines Gedichtes in nationaler Mundart, welches das garye

geistige Leben des Mittelalters in sich zusammenfaßte; und anderthalb Jahrhunderte später begann es sich von

jenem selben Gedankensystem zu emanzipiren, dem Dante

den schönsten und angemessensten Ausdruck gegeben hatte. Das Tagewerk Italiens kann von 1450 bis 1525 gerech­

net werden; allein, wie gesagt, solche Grenzlinien sind cum grano salia zu nehmen.

Niemand kann genau den

Punkt bestimmen, wo der Arm aufhört und die Schulter

anfängt, aber der Anatom muß nothwendig irgendwo die Scheidung machen.

Allen sind die Ereignisse gegen­

wärtig, die um die Mitte des 15. Jahrhunderts Italien erweckten, sowie die traurigen Begebenheiten, die es fünf­

undsiebzig Jahre später in das Grab oder wenigstens in eine lange, trübe Lethargie versenkten.

Wir wissen, wie

Italien die Schätze griechischer Kunst und Wissenschaft so zu sagen entdeckte, wie es sie putzte, flickte und zugänglich

machte und diese rein weltliche und menschliche Bildung

aller modernen Kultur zur Grundlage gab.

Das Wichttge

für uns ist, mit einem Wort die Natur der intellektuellen Arbeit zu charakteristren, die Italien in jenen Jahren 1*

4 unaufhörlichen, fast fieberhaften Schaffens vollbracht hat. Die italienische Renaissance war die Rehabilitirung der menschlichen Natur; und der Instinkt der Geschichte hat fich nicht geirrt, wenn er bis auf unsere Tage die Re­

präsentanten jenes Zeitalters die Humanisten, ihre

Kultur den Humanismus nennt.

Das Mittelalter

und der Katholicismus hatten die Gegenwart der Zukunft,

die Freiheit der Autorität, das Menschliche dem Gött­ lichen untergeordnet.

die Dinge um.

Die italienische Renaissance kehrte

Für den naiven Skeptizismus eines

Lorenzo und Filelfo, eines Angelo Poliziano und Mar-

silio Ficino hatte nur die Gegenwart Realität, und in diesem Sinne sollte sie verstanden, beschrieben, genossen

werden, wie die Griechen zu Perikle»' Zeiten sie zu ver­ stehen, beschreiben und genießen versucht hatten.

Alles

in der Natur war gut und schön, der Instinkt war der sicherste Führer, natürliche Kraft und Schönheit waren die ächtesten Zeichen und Rechtstitel der Superiorität.

Mr dürfm uns durch ihr formelles Festhalten an der Kirche, so wenig wie durch ihre Begeisterung für Platos erhabenen Idealismus irreführen lassen.

Die Kirche war

ihnen nicht mehr als ein gleichgültiges Gewand, das man nicht ohne Noth gegen ein anderes umtauschen oder ganz

und gar ablegen mag.

Der Platonismus war eine Form

poetischer Träumerei, keine philosophische Ueberzeugung.

Das Ziel, das sie verfolgten, war die Kenntniß der menschlichen Natur, der geistigen und physischen, und

der menschlichen Gesellschaft,

nicht wie beides sein sollte

oder könnte, sondern wie es in Wirklichkeit war. Macchiavelli politisches Leben beschreibt,

Ob

wie in seinem

„Principe“, in seinen „Dekaden", in seiner „Geschichte

5 von Florenz", oder ob er die sozialen Zustände seiner Zeit schildert, wie in den Komödien, er giebt sich nie mit der

Frage von Gut oder Böse ab, er begnügt, sich die Dinge

zu verstehen.

Ebenso die Philosophen, die Dichter, die

Künstler der Zeit.

Ihnen

ist die Kunst das,

wofür

Goethe sie erklärt, und was unser Jahrhundert so gänz­ lich aus dem Auge verloren zu haben scheint — „der

Dolmetsch der Natur", nicht mehr, noch weniger. Dies hätte ebenso harmlos sein können,

wie es

richtig war, wenn es auf die Kunst und das Denken beschränkt geblieben wäre, aber die Renaiffance wollte

Leben und Handeln danach regeln.

Unser Temperament

und unser geistiges Wesen gestalten unsere Meinungen, meist ohne daß wir es wiffen.

Die Sinnlichkeit ihres

Temperaments und Geistes machte die Italiener besonders geeignet zu ihrer historischen Mission, aber sie führte sie

so weit, daß sie der Strafe verfielen, die auf übermäßi­

gem Versinken in die eigenen Gedanken und Neigungen

steht.

Sie sahen alles im Lichte der Kunst, gaben jedem

Ding eine künstlerische Form, betrachteten Alles und Jedes, den öffentlichen Gottesdienst, den Staat, selbst das Pri­

vatleben als in das Gebiet der Kunst gehörig; und der Gedanke, daß sie lebten wie die Griechen, rechtfertigte

Alles in ihren Angen.

Sie vergaßen, daß in Griechen­

land „die Muse das Leben begleitete, nicht lenkte".

Wo­

hin das führte, sagen uns die Namen der Borgia und

der Sforza laut genug.

Eine starke Reaktton trat ein — eine doppelte Re­

aktion : die eine, volksthümlich, an die innere Autorität des Gewiffens appellirend; die andere, von oben her und bemüht,

die änßere Autorität der Traditton und der

6 kollektiven Gewalt wieder herzustellen: Luthers Reforma­

tion und die Gesellschaft Jesu.

Die Reformation, obschon der Zett nach die frühere, gewann erst hundert Jahre später in England, zweihundert

Jahre später in Deutschland ihren vollen Einfluß auf

das Gebiet des höheren Jesu wirkte sogleich,

Gedankens.

Die Gesellschaft

und es war Spanien, das dieser

Bewegung bett Anstoß gab.

Als, zehn Jahre nach der

Gründung des Jesuitenordens durch den Spanier Igna­

tius Loyola, das Tridentiner Konzil berufenen Andmkens tagte, wurde Loyolas Nachfolger, der Spanier Lainez,

sogleich der leitende Genius jener großen Versammlung, welche dm Katholicismus rmovirte, indem sie ihm die

Form , gab, in welcher er die letztm dreihundert Jahre hindurch gelebt und geblüht hat.

Ich finde unsere Zeit

etwas geneigt, die Rolle Spaniens in der Geschichte des

europäischm Gedankens

zu unterschätzen.

Freilich war

die Wirkung Spaniens vor allem eine negative, aber es

nahm doch auch positiv an der Arbeit theil.

Richt nur

daß die Reorganisirung der Kirche gänzlich das Werk

Spanien» war,

die absolute Monarchie des göttlichen

Rechts, wie sie währmd des 17. Jahrhunderts in Blüthe

stand, war gleichfalls spanischen Ursprungs.

Man denke

an den Unterschied zwischen der mittelalterlichm Auffassung der Souveränetät und derjmigen, welche Ludwig XIV., ja selbst dm protestantischm Jakob II. und

bis zu den

kleinsten italienischen und deutschen Duodezfürsten beseelte;

an den Unterschied zwischen

der Mannigfaltigkeit des

feudalen Königthums des Mittelalters mit seinen fast unabhängigen Basallm, und der Einförmigkeit der modemm Monarchie mit ihrem I'ätat c’est moi.

Nun

7 könnte man sagen, die Monarchie Ludwigs XIV. sei ein­

fach der Despotismus Philipps II., gemildert durch den den Franzosen angeborenen Sinn für Maaß und Ge­ schmack, belebt durch ihre natürliche Heiterkeit und Ele­ ganz. Dies ist jedoch nur eine Seite der Frage und für unseren Gegenstand nicht die wichtigste. Zu gleicher Zeit, als das Prinzip der Autorität, der religiösen wie der politischen, von Spanien einen

neuen Anstoß empfing und nach hartnäckigem Kampf die größere Hälfte Europa's sich unterwarf, indem es den Protestantismus in Italien, Frankreich, Belgien, Süd­ deutschland, Böhmen und Oesterreich ausrottete, unter­ lagen Literatur und Philosophie dem gleichen Einfluß. Im selben Augenblick, wo Italien das Monopol der bildenden Künste verlor, und hohe Schulen der Malerei in Madrid, Sevilla und den spanischen Niederlanden entstanden,. verbreitete sich eine neue Poesie und ein neuer poetischer Styl von Spanien aus über ganz Europa. Nicht allein, daß die italienischen und deutschen Mari­ nisten Nachahmer der spanischen Gongoristen waren, selbst der englische Euphuismus zu Shakespeares Zeiten ent­ sprang aus dem spanischen „culteranismo“; und nicht nur Form und Styl, sondern auch der Geist und die Stoffe der Literatur waren hauptsächlich spanisch. Denken wir: nur an CorneilleS „Cid“, der 1636 entstand, an seinen^ „Polyeucte“, der unter Ealderons autos sagramentales figuriren könnnte. Noch in der zweiten Hälfte des Jahr­ hunderts nimmt Moliöre die Süjets zu seinem „Festin de Pierre“, seiner „Princesse d’ tilide“, seiner „ticole des Maris“ von Moreto und Tirso. Grimmelshausen führt in Deutschland, Scarron in Frankreich den „roman

8 picaresque“ der Spanier ein, deffen anerkannte Meister Lesage und Smollet im folgenden Jahrhundert wurden. Viel größer noch ist der Einfluß, den Spanien während des 17. Jahrhunderts auf das philosophische Denken Europas ausübte. Der Tod der Individualität, den die spanische Herrschaft, wohin sie auch kam, in Stäat, Kirche

und Schule mit sich brachte und zum Gefolge hatte, be­ drohte sogar die spekulative Thätigkeit. Nicht daß die Philosophie Molinas und Suarez' — wenn man Philo­ sophie nennen darf, was im Grunde nur Theologie war — jemals wirklich in die höheren Schichten des intellek­ tuellen Lebens gedrungen wäre, da ja selbst die Elite des Klerus dagegen protestirte, wie sie sich in unseren Tagen gegen das Dogma der Jnfalltbilität erklärte; aber das Autoritätsprinzip, das Spanien in der ganzen Welt hergestellt hatte, war dem Denken des Continents ein mächtiger, zuweilen wohlthätiger, öfter aber höchst ver­ derblicher Hemmschuh. Es ist sicher, daß keine Gesell­ schaft auf die Länge mit den Prinzipien oder vielmehr Mit der Prinzipienlosigkeit der italienischen Renaiffance bestehen könnte. Durch die Wiederherstellung der Auto­ rität wurde kecken Geistern, für die das licet quia libet eine Art Dogma geworden war, ein heilsamer Zügel aufgelegt. Wenn wir jedoch bedenken, wie Malebranche und selbst Descartes durch die herrschende Dogmatik

ihrer Zeit in ihrem Gedanken gefesselt waren, so dürfen wir uns wohl fragen, ob die Wohlthat nicht zu theuer erkauft war. „Je trouve bon qu’on n’approfondisse

pas Fopinion de Oopernic.“ sagt der große Jesuiten­ feind selber. Weil das katholische Europa sich mit dieser „opinian“ nicht einzulassen wagte, ging die Führerschaft

9 des modernen Denkens an die protestantischen Länder England und Holland über, wo keine heilige Inquisition

die Forschungen eines Galileo unterbrach, keine unbeug­ same Orthodoxie dem mächtigen Gedanken eines Pascal Halt gebot. Die Reformation war eine populäre Bewegung gewesen, keine aristokratische, was eine wissenschaftliche Thätigkeit immer und überall sein muß. Die großen Protestantischen Gelehrten des vorhergehenden Jahrhun­ derts, die Reuchlin und Erasmus, Henri Estienne und Justus Scaliger waren Söhne der italienischen Re­ naissance, nicht der deutschen Reformation. Ihr Geist war ein durchaus weltlicher, er wirkte auf die Bildungs­ aristokratie, nicht auf die Massen. Die Reformation entsprang mehr aus einem Gefühl sittlicher Auflehnung, als aus einem Bedürfniß nach intellektueller Freiheit. Dies ist der Grund, warum wir ihrer hier kaum erwäh­ nen, wo wir nur nach der Gestaltung der europäischen

Weltanschauung fragen, wie sie sich in der höheren Sphäre der auserwählten Geister offenbart. Denn, wie auch das moralische Leben beschaffen sei, im geistigen Leben wird das paucis vivit genus humanum immer eine Wahrheit bleiben. Wenn jedoch die Reformation ursprünglich keine philosophische Bewegung war, so hatte sie doch durch ihre Folgen auf die philosophische Bewegung den wich­ tigsten Einfluß. Denn wenn der moderne Katholicisnius, wie ihn die Jesuiten «ährend des 16. Jahrhunderts gestalteten, nicht geradezu die klassische Kultur und Lite­ ratur bekämpfte, welche von der Renaissance gewissermaßen erschlossen und der Menschheit ^urückgegeben worden war, so wußte er doch ihren Einfluß auf's wirksamste zu

10 paralyfiren.

Nirgends wurde die griechische und latei­

nische Literatur eifriger studirt als in den Jesuitenschulen,

aber sie wurde zuvor unschädlich gemacht.

Das Gift des

freien Gedankens wurde herausgenommen, ehe man der

Jugend das Gericht austrug.

Literaturen

aller

wurde

Die freieste und lebendigste

zu einer Sammlung

todter

rhetorischer Formeln zum Auswendiglernen und zu ge­

legentlichem Gebrauch. . Der Stoff wurde

für gänzlich

werthlos, die Form nur für ein reizendes und geschicktes Spiel ausgegebe«.

Ebenso dreihundert Jahre später, als

es nicht mehr möglich war, die Entwicklung der Raturwiffenfchasten unbeachtet zu lasten, zwängten die Jesuiten

die gefammten Ergebnisse langer universeller Forschung in Handbücher behufs mechanischer Anwendung für prak­

tische Zwecke

oder mechanischen Auswendiglernens fürs

Examm, und hier hat sich denn auch das Ding so gut

bewährt, daß die „nie des Postes“ zehnmal erfolgreichere Schüler

für

die ticole polytechnique drillt, als jede

Laienanstalt, wenn auch die Geschichte von keinem Mann

der Wiffenschast weiß, den sie hervorgebracht hätte. diese Leute sind klug genug,

Denn

die wissenschaftlichen Data

zu lehren, ohne jenen Geist der Forschung zu wecken und

zu spornen, in dem der ideale Werth der Naturwissen­ schaft besteht, wie Gedankenfreiheit der wahre ideale Ge­

halt antiker Literatur ist.

Nicht so der Protestantismus.

Auch er hatte die Autorttät wieder eingesetzt an Stelle jener Lehre

der

von der schrankenlosen Freiheit,

italienischen

Renaissance

welche zur Zeit

die Laune

Schiedsrichter des Lebens machte.

zum

obersten

Aber seine Autorität

war keine äußerliche, es war die Autorität des individu­

ellen Gewissens.

Sein Hauptprincip war die freie Unter«

11 suchung, die zuerst auf die Bibel angewandt wurde;

aber nachdem man ihr einmal den Lauf gelassen, konnte

niemand voraus sagen, wo sie Halt machen würde, und in der That machte sie nicht bei der Bibel Halt.

Es war jedoch nicht die Wiege des Protestantismus, welche zuerst diese Früchte des neuen Glaubens sah.

Der

deutsche Protestantismus war zeitweilig so gut wie aus­

gebrannt, als die Reaktion gegen die spanische Dogmatik

in Europa einsetzte, und dem armen Kepler fehlte fast der

Athem zu seinen Bemühungen, das System des Kopernikus

zu entwickeln.

Deutschland war in den heillosesten, bar­

barischsten Krieg verwickelt, den die Geschichte der Menschheit ve^eichnet, als die edle wiffenschaftliche Bewegung des 17.

Jahrhunderts in ihrer vollen Blüthe stand. England, dem seine große Königin den Schatz religiöser Unabhängigkeit gerettet hatte, war es vorbehalten, das Signal zum Bor­

rücken zu geben, während Holland, das siegreich aus dem

langen, männlichen Kampfe gegen das katholische Spanien hervorgegangen war, sich mit England zu der glorreichen

Aufgabe verband. Diese selbstgestellte Aufgabe war die Kenntniß der

Natur und ihrer Gesetze.

Das 15. Jahrhundert hatte

gleichsam die zerrissenen Glieder der Zeit zusammengefügt;

das 17. erschloß den Raum.

Das erstere hatte dem

Menschen seinen Platz in der Geschichte angewiesen, das

zweite

gab ihm seine Stellung in der

Natur.

Die

Welt war der Rhetorik und der Worte müde, ebenso

wie der abstrakten, in den Wolken schwebenden Spekulation. Sie dürstete nach Thatsachen.

Sie hatte lange genug

bona fide die fertigen Lösungen aller Fragen angenommen, die ihr durch die Autorität geboten wurden, und war

12 NUN entschlossen, selbst nach der Ursache der Dinge zu forschen. Die Schlüsse einer Philosophie a priori genügten ihr nicht länger: heimlich und fast unbewußt sehnte sie sich nach einer auf Beobachtung gegründeten Erkenntniß, die eine methodische Erkenntniß sein sollte. Bacon war es, der dem tiefinnersten Wunsch seiner Generation Worte lieh, als er die inductive Methode einführte und empfahl. Freilich hatte Kopernikus vor ihm und besser als er beobachtet. Kepler übte gerade damals die „Jnduction" aus Beobachtungen mit positiven Resultaten, deren Bacon

sich nicht rühmen konnte, während Galileo gleichzeitig die Experimentalmethode anwandte, die Bacon. noch sehr ungeschickt handhabte. Gleichwohl ist es Bacon, nicht Kepler oder Galileo, der mit Recht als der Vater des modernen Gedankens angesehen wird. Denn Kepler und Galileo wandten die inductive und experimentelle Methode ungefähr so an, wie Monsieur Zourdain seine Prosa schrieb — sang le savoir. Freilich wurde der Fortschritt der Wissenschaft darum nicht minder gefördert, daß Galileos große, schlichte Natur und Keplers edler, unbeugsamer Geist über dem suchen nach Wahrheit, womit sie beschäftigt waren, der geistigen Revolution nicht gewahr wurden, die sie hervorbringen halfen. Allein für die Geschichte des Gedankens bleibt doch der Mann, der die neue Methode zuerst mit dem vollen Bewußtsein von der Wichtigkeit des darin ausgesprochenen Princips verkündete und formulirte, der Repräsentant des Zeit­ alters. Es ist heutzutage, wenigstens auf dem Continent, Mode, auf Bacon herabzusehen, weil er ein mittel­ mäßiger Beobachter und zuweilen ein kindischer Experi­

mentator, em wenig auch, weil er ein glänzender Schrift-

13 stelln war und unsere Zeit nun einmal schöne Sprache mit einem gewissen Mißtrauen ansieht. Es ist jedoch nicht mehr als billig, zu bedenken, daß Bacons ganze

Erziehung noch der rhetorischen Periode angehörte, daß seine innerste Natur künstlerisch angelegt war, und vor Allem daß, wenn er die Wisienschast durch seine Ent­ deckungen nicht sonderlich gefördert hat, er sie durch Auf­

stellung der neuen Methode um einen gewaltigen Ruck vorwärts brachte. Man könnte sagen, erst von da an sei der Boden gewonnen worden, auf dem sich der methodische Empirismus frei bewegen konnte. Nicht nur

daß Hobbes von Bacon ausgeht, auch Alles, was Eng­ land auf dem Gebiete der Naturphilosophie von Harvey bis Newton entdeckte. Alles, was es an psychologischer Philosophie von Locke bis Hume hervorbrachte, wäre unmöglich gewesen, wenn das Novum Organon nicht die Gesetze der exacten Methode aufgestellt hätte.

Die neuen Errungenschaften wären gleichwohl un­ möglich gewesen, hätte nicht England damals den prote­ stantischen Glauben aufrecht erhalten. Das traurige Loos Keplers, G. Brunos und Galileos hätte auch jene kühnen Ringer nach Wahrheit getroffen, wenn sie nicht auf protestantischem Boden gelebt hätten. Die drei größten Denker des Continents im mathematischen Zeit­ alter — Descartes, Spinoza, Leibniz — konnten ihr Werk nur deshalb vollenden, weil sie den größten Theil

ihres Lebens in protestantischen Ländern verbrachten. Wenn der

englische

Empirismus* eine Reaktion

1 Unter Empirismus vei stehe ich den Geist des 17. Jahr­ hunderts, d. h. die mechanische und mathematische Erklärung der Natur, wie sie unternommen und in ausgedehntem Maße durchgeführt wurde.

14 gegen die spanische Dogmatik war, wie die

spanische

Dogmatik eine Reaktion gegen den italienischen HumaniSmus gewesen, so war der französische Rationalismus, der

im folgenden

Jahrhundert

die Oberherrschaft

führte,

eine Fortsetzung -er intellektuellen Strömung in England,

keine Opposition gegen dieselbe.

Eine Art Ansteckung, die

sich den Franzosen mittheilte, trieb ihre ausgezeichnetsten Genies, von

Saint-Evremond bis Montesquieu, von

Voltaire bis Buffon und selbst Rousseau, einen um den

andern über den Canal, und noch vor der Ueberfahrt waren sie zu Newton und Locke in die Schule gegangen. die Führung übernommen,

Kaum hatte Frankreich

so

gab es der Bewegung jenen eigenthümlich französischen, logischen Charakter, der gerade auf das Ziel losgeht und

nie vor den letzten Schlüffen zurückbebt. englischen

Denker

des

begnügten sich damit,

vorhergehenden

Die großen

Jahrhunderts

Dinge und Facta zu studiren,

ohne Folgemngen, welche allzu gefährlich werden konnten, daraus zu ziehen, oder gar sie auf Religion und Politik anzuwenden.

Locke selbst hielt in tiefster Ehrfurcht vor

der Offenbarung und dem Throne inne. Franzose«.

Nicht so die

Ihre rationalistische Geistesrichtung und ihr

ungeduldiges Temperament führten sie sogleich zu dem Ertrem,

Kirche

und

Staat derselben

Untersuchungs­

methode zu unterwerfen, die mit so großem Erfolg auf Natur und Geist angewandt worden war.

Aber Logik

und Leidenschaft trieben sie viel weiter als sie anfangs beabsichtigten und ließen sie häufig jene geduldige Beob­

achtung und sorgfältige

Vergleichung

der

Thatsachen

vergessen, die so außerordentliche Resultate in England

erzielt hatte.

Schon Descartes — in dieser Hinsicht ein

15 echter Franzose — hatte sich sogleich mit der mechanischen

Erklärung der Dinge zufrieden gegeben, indem er das Thier zu einer Maschine machte, und da er im Grund

des Herzens Spiritualist blieb, wollte es ihm

nie ganz

gelingen, die beiden Welten von Stoff und Geist zu ver­

söhnen.

Die Franzosen von Bayles Schule — ich sage

nicht Bayle selbst — wußten von keinen solchen Hinder­ nissen.

Sie erkannten

Ziel war einfach

die

gar keine Autorität

absolute Losreißung

Convention und aller Autorität.

an.

Ihr

von

aller

Ohne es zu merken,

verfielen sie wieder in den Autoritätsgeist, gegen den sich die englische Reaktion gerichtet hatte.

nicht mehr die

Nur waren

Offenbarung, noch die Tradition ihre

Autorität, sondern die Sinne und die menschliche Ver­ nunft — die menschliche Vernunft unabhängig, wenn

nicht von natürlichen, wenigstens von historischon Facten. Sie träumten entweder von politischen Constitutionen, die nicht die Resultate der Geschichte, d. h. widerstreiten­

der Interessen, sondern einer allgemeinen, abstrakten, vorge­

faßten Idee von Staat und Gesellschaft sein sollten; oder von einem Naturrecht, das an Stelle der ererbten Gesetzbücher

und Gewohnheiten treten sollte, ebenso wie sie von einer natürlichen oder vielmehr rationellen Religion träumten,

die als ein schüchterner Deismus, — sehr ähnlich dem Tolands und Clarkes, — begann und mit der Throner­

hebung der Göttin der Vernunft oder der völligen Verleug­ nung jener Welt des Geistes endigte, von der Descartes keine

Brücke in die Welt des Stoffes zu schlagen gewußt hatte. Was auch immer die verhängnißvollen Folgen dieser

Methode für Frankreich gewesen sein mögen — obwohl

sie durch ihre wohlthätigen Resultate reichlich ausgewogen

16 sind — die Methode selbst bewirkte die Befreiung Europas,

des Menschengeschlechts. Es scheint, daß es die historische Mission Frankreichs war, jedenfalls war es Frankreichs Verdienst, das nie genug «anerkannt werden kann, die Axt schonungslos an dieses Dickicht intellektueller Con­ ventionen gelegt und uns den Weg geebnet zu haben. Freilich konnte nicht mit allem aufgeräumt werden — das war nicht einmal wünschenswerth — und ein guter Theil des abgeholzten Reisigs ist wieder ins Laub geschaffen. Doch war es das erste Mal in der Geschichte, daß man die Dinge im Licht der Vernunft zu betrachten und zu ordnen wagte. Viele nationale Eigenschaften hatten gerade Frankreich zu dieser Aufgabe befähigt, viele Um­ stände halfen dazu, daß eS seine Mission mit sofortigem Erfolge erfüllte. Die Klarheit des französischen Geistes, die sich in der französischen Sprache offenbart; die geographische Lage des Landes zwischen England, Spanien und Deutschland; die polittsche Hegemonie über Europa, die es unter Ludwig XIV. erlangt; der weittragende Ein­ fluß, den es bereits durch seine poetische LUeratur er­ worben; und last, not least, die Einfachheit des neuen Bekenntniffes, das auf das allgemeinste'Charakteristikum des Menschen, den gesunden Menschenverstand, gegründet und durch das verführerischste aller Instrumente, die Logik, durchgeführt war — das Alles trug dazu bei, Frankreich die Aufgabe zu erleichtern. Dies erklärt auch, warum die französische Idee sich

mit solcher Blitzesschnelle in Europa Bahn brach. Ge­ wöhnlich beginnt sich der intellektuelle Einfluß einer Natton erst dann im Ausland zu verbreiten, wenn ihr Werk nahezu vollbracht ist. Italien hatte schon sein

17 Bestes geleistet, als gegen den Anfang des 16. Jahr­

hunderts sein Denken und seine Werke das übrige Europa zu beeinflussen begannen.

Jahre später ging

Aber noch mehr als hundert

Europa nach

Rom,

Bologna und

Neapel, als schon VelaSquez und Murillo, Poussin und

Claude, Rubens und Van Dyk im Stande waren, ihre Lehrer zu lehrm. land der Fall.

Dasselbe war bei Spanien und Eng­

Ebenso ist es mit Deutschland, das schon

um 1850 mit seiner originellen und schöpferischen Arbeit fertig und beinah zu Ende war, indeß die Welt es noch

heute als das Gedantenlaboratorium für Europa ansieht.

Frankreich ist vielleicht das einzige Land, das seine geistigen Waaren sogleich exportirte, sogar noch ehe der ganze Vor­ rath beisammen und bereit lag.

Die Zeit Voltaires und

der Encyklopädisten war auch die Humes und Gibbons.

Es war Deutschland vorbehalten, gegen bett allzu absoluten Gedanken Frankreichs zu protestiren und das

Restaurationswerk auf einer festeren Basis zu beginnen als die, welche Spanien zwei Jahrhunderte früher zu legen versucht hatte.

führlicher Aufgabe

Es wäre interessant, etwas aus­

darzustellen, wie Deutschland sich auf diese vorbereitete,

wie

Resultate erzielt wurden.

es

sie

vollbrachte,

welche

Um dies richtig darzustellen,

müßte man indeß nachweisen, wie es einen Theil seiner

intellektuellen Freiheit England verdankte, wie es ohne Frage von dort her den Anstoß zu seinem eigenen Schaffen

empfing, wie es Philosophie und Geschichte erneuerte

und verschiedene neue Wissenschaften schuf, die seitdem ihren Platz unter den Errungenschaften des menschlichen Geistes eingenommen haben.

Es genüge zu constatiren,

daß, ebenso wie der französische Rationalismus, Hillebrand, CulturgeschichtlicheS.

2

der

18

englische Empirismus, die spanische Dogmatik und ber

italienische Humanismus seit lange integrirende Bestand­ theile der geistigen Verfassung Europas sind, so Deutsch­

land ein für allemal die Idee des „Organismus" dem europäischen Denken zugebracht hat.

Wir können in der-

That weder den Homer im selben Geiste lesen, wie unsere

Vorväter ihn

lasen

ehe Wolff seine „Prolegomena“

geschrieben, noch die Natur mit denselben Augen ansehen,

wie wir sie vor Newtons „Principia“ angesehen hätten, den Staat wie vor Montesquieus „Esprit des lois.“

Wir haben ein

gemeinsames Kapital von Ideen,,

an welchen wir Alle zehren, in denen wir leben, oft ohne uns dessen recht bewußt zu sein.

Lassen wir selbst den.

gläubigsten Katholiken sich fragen, ob er die Geschichte

der Menschheit noch so ansehen könnte, wie es der

Thomas und der hl. Dominikus thaten, ehe die italienische Renaissance gleichsam den Zusammenhang der Geschichte

hergestellt und den Abgrund ausgefüllt hatte, der die Menschheit entzwei schnitt.

Wer könnte wohl heutzutage

öffentliches und private» Leben mit derselben grundsatzlosen Naivetät betrachten, wie die Zeitgenossen Macchiavellis,.

ehe Spanien das AutoritätSprincip wieder hergestellt hatte? Wer könnte ferner nur einen Augenblick die physikalischen Entdeckungen de» 17. Jahrhunderts vergessen und sich

die Erde, wie Dante, als den Mittelpunkt der Schöpfung denken?

Und ist es nicht mit unsern polittschen und

philosophischen Ansichten dasselbe?

Hat die Anwendung

der französischen rationalistischen Methode nicht unsern Geist neu gemodelt?

Könnten wir noch, selbst wenn

wir wollten, das göttliche

Recht der Monarchie oder

die Offenbarung so ansehen wie Boffuet und Fönölon?

19



Nun hat etwas Analoges seit Voltaires und Rouffeaus Tode stattgefunden.

Ein anderer neuer Gedanke ist inte-

grirender Bestandtheil des europäischen Geistes geworden. Hume könnte ebensowenig seinen Essay über „National

Character“ heute schreiben, wie Augustin Thierry im

vorigen Jahrhundert seine „Conquete d’Angleterre“ hätte verfassen können, oder irgend jemand in unserer Zeit Voltaires „Pucelle“. Warum? Weil nicht nur in Philo­

sophie und Ethnographie Entdeckungen gemacht worden sind, welche eine Erklärung historischer Facta, wie sie Hume und Gibbon gaben, thatsächlich nicht mehr zulassen, sondern auch eine neue Idee in die Welt geworfen ist, die unsere ganze Denkweise von Grund aus modifizirt

hat.

Diese Idee nun ist es, welche in Deutschland von

der zweiten Hälfte dös vorigen bis zur Mitte dieses

Jahrhunderts ausgearbeitet worden ist — und in so

engem Zusammenhang diese Arbeit mit dem deutschen poetischen Schaffen und dem eigentlichen Philosophiren während dieser Zeit steht, so darf sie doch nicht damit

zusammengeworfen werden. Es handelt sich weder um den literarischen Geist, noch um die metaphysische Spekulation, noch um die wissenschaftliche Thätigkeit der Natur, sondern

um

den

allgemeinen

Gedankengang und Standpunkt,

welchen die Deutschen für sich geschaffen und in diesen siebzig, achtzig Jahren der europäischen Cultur eröffnet

und zugebracht haben;

schauung

solch

eine

allgemeine Weltan­

wird aber nur mittelbar durch Poesie und

eigentliche Wissenschaft beeinflußt.

Poesie ist eine Kunst

und als solche dem Gesetz des Fortschritts nicht unter­

worfen: somit steht sie eigentlich außerhalb der Geschichte . als etwas Absolutes, Ewiges.

Die Ilias ist heute so 2*

20 wahr wie vor dreitausend Jahren, da der Hauptgegen­

stand der Poesie 'bet unwandelbare Theil der Menschen­ Nicht so die Wissenschaft, der Gedanke,

natur ist. Politik.

die

Diese unterliegen dem Gesetz der Entwicklung.

Wenn wir bei Dante von Francescas Liebe und Pias Tod lesen, ergreift es uns, wie es seine Zeitgenossen ergriffen

haben mag; wenn er uns aber seine KoSmographie aus­

einandersetzt, so lächeln wir und schlagen vielleicht il suo

volume zu.

Hier sprechen wir also von zwei verschiedenen

Thätigkeiten des menschlichen Geistes, die zuweilen in verschiedenen Generationen und Ländern, zuweilen gleich­ zeitig und am fetten Ort an der Arbeit sind.

Englands

philosophisches Tagewerk begann erst nach Shakespeare, Frankreichs nach Meine und Molidre, wogegen in Spanien Calderon und Cervantes die Zeitgenossen von Suarez

und Molina waren, und in Deutschland Goethe und

Schiller

zugleich mit Kant und Wolff, Humboldt und

Niebuhr lebten.

Dieser scheinbar zufällige Umstand hat

eine wichtige Folge.

Wenn Poesie und Philosophie, gleich­

zeitig wirken, so durchdringen sie einander, in mancher Beziehung zu ihrem gegenseitigen Vortheil, zu ihrem

großen Nachtheil in anderer.

Der Geist von Calderons

Poesie ist auch der Geist Ignatius Loyolas, bei Schiller hören wir das Echo von Kants Moralphilosophie.

Die

große Literatur der Franzosen dagegen — die Redekrast Boffuets und der Enthusiasmus Corneilles — drückt eine

Weltanschauung aus, die jenem Geist des 18. Jahrhunderts, den die Welt par excellence den französischen Geist nennt,

in manchen Punkten geradezu entgegengesetzt ist.

Ich

könnte von Shakespeare reden, für dessen klares, tiefes Auge es kein Gestern noch Morgen, kein Hier noch Dort

31 giebt, ohne nur zu erwähnen, daß er ein Zeitgenosse Bacons ist; aber ich könnte nicht von Goethe sprechen,

ohne daran zu erinnern, daß er ein Freund Herders,

ein Leser W. von Humboldts war. Noch eine andere Thatsache von großer Bedeutung ist der politische Zustand Deutschlands während der Aus-

arbeitung seiner Weltanschauung und die Wirkung dieser Weltanschauung auf die fernere Umgestaltung des deutschen

Staates.

Die große Periode, in welcher die Geistescultur

Deutschlands aufgebaut oder wenigstens vollendet wurde,

war die Zeit, wo die alte deutsche Gesellschaft fich auf­

löste und das politische Leben in völligem Verfall war. Ist es möglich, gleichzeitig im öffentlichen Leben und in

wiffenschastlicher und spekulativer Thätigkeit groß und fruchtbar zu sein?

Aristoteles

den

Wenn wir denken, daß Plato und

Grund

zu

aller

wahren

und

hohen

Philosophie in der Periode des Verfalls legten, welche

auf jene Epoche gefolgt war, die man den griechischen

Bürgerkrieg nennen könnte; wenn wir die politische Ent­ zweiung und das Elend Italiens zur Zeit der Renaiffance

betrachten; wenn wir England während der keineswegs ruhmreichen Zeiten Jakobs I. und Karls II. auf das

thätigste zu dem intellektuellen Reichthum Europas bei­ steuern sehen; wenn wir beobachten, wie Frankreich die Welt durch Voltaires und Rouffeaus Feder regiert, die Missionäre seines Geistes nach Petersburg und Neapel, nach Kopenhagen und Lissabon schickt und gleichzeitig bei

Roßbach geschlagen, zum Frieden von Aix-la-Chapelle

und dem von Versailles gezwungen, und aus Indien

und den Colonien vertrieben wird; wenn wir daran denken, wie Deutschland seinen Kant und Herder zur Zeit.

22 der äußersten Ohnmacht und Hilflosigkeit, ja der Fremd­

herrschaft hervorbrachte: so könnten wir versucht sein, zu glauben, daß vielleicht die beiden Thätigkeiten unverträg­

lich oder wenigstens nur ausnahmsweise verträglich seien.

Und warum sollte es anders sein?

die verschiedenen Fähigkeiten des

Müssen nicht

menschlichen

Geistes

von Zeit zu Zeit ausruhen und einander ablösen, wenn die Quellen nicht vor der Zeit versiegen sollen?

Es hat

religiöse Zeitalter gegeben, wie die ersten Jahrhunderte

unserer Aera und das 16. Jahrhundert, die ganz und gar auf das Schaffen und Definiren religiöser Dogmm

gerichtet waren, deren Eifer nur den

religiösen Fragen

und Jnteressm galt; und darauf folgten verhältnißmäßig stille Perioden, wo die Menschheit,

der theologischen

DiScussionen müde, gleichgültig gegen religiöse Gegen­ stände, ruhig die vorhandenen Formen der Religion hin­ nahm und'darin verharrte.

Die Welt hatte vier Jahr­

hunderte vor Christus ein großes künstlerisches Zeitalter gesehen, das durch Hunderte von Jahren sich langsam vorbereitete und nach einer kurzen glänzenden Blüthezeit

durch Hunderte von Jahren langsam ausstarb.

Dann

lag die Gabe der künstlerischen Intuition eine lange, lange Zeit schlafend, bis sie gegen Ende des Mittelalters

langsam erwachte und im 15. Jahrhundert zu einem

kurzen, doch leuchtenden Aufblühen kam, nur um wieder

eines langsamen Todes hinzusterben, der, wie ich fürchte, jetzt nahezu völlig eingetreten ist.

Doch muß ich hier

aufs neue warnen, daß man meine Worte nicht allzu

buchstäblich nehme.

Es hat ausgezeichnete Staatsmänner

wie Richelieu in wissenschaftlichen, religiöse Apostel wie

Savonarola in künstlerischen Zeitaltern gegeben: so können

23 auch in unserer Zeit ausgezeichnete Künstler auftauchen — aber sie wirken als vereinzelte Individuen. Warum sollte nicht die Befähigung für politisches

und wiffenschaftliches Leben zuweilen brach liegen, da die religiöse und die künstlerische Fähigkeit solcher zeitweiligen Pause bedürfen? Warum sollten sie nicht alle abwechS-

lungsweise ausruhen? Warum sollten wir vor allem darüber streiten, welche Größe mehr werth sei, die Voltaires ober die Napoleons, die Newtons oder die Cromwells? Ueber diese Fragen werden sich die Menschen niemals einigen, denn es handelt sich hier um keine Meinungsver­ schiedenheit, sondern um eine Verschiedenheit des Tempe­ raments und Charakters. Nur den einen Punkt wird man zugeben müssen. Wenn eine Nation instinktiv oder mit Bewußtsein fühlt, daß ein Tagewerk vollbracht ist, und sich an das nächste begiebt, so taffe man sie gewähren und wolle nicht klüger sein als Geschichte und Natur. Wenn eine Nation sich eine Zeitlang darein versenkt, eifrig und vielleicht ungeschickt ein neues Haus zu bauen, in

dem sie unbehelligt und ihrer eigenen Natur und Geschichte -gemäß wohnen kann, so taffe man sie gewähren und

verlange nicht vom Mannesalter den Flaum der Jugend, moch vom Sommer die satten Farben und reichen Früchte des Herbstes. Das alles sind im Grund eitle Fragen — ungefähr so, als wollte man dem Apfelbaum vorwerfen, daß er keine Orangen trägt. Wenn die Nation, welche die intellektuelle Führerschaft Europas an eine andere Nation abtreten mußte, weil sie dringendere Arbeit zur Hand hatte — vielleicht auch weil sie müde war und eines Wechsels bedurfte — sich von dem geistigen Leben -Europas zurückzieht, wie Spanien im 17. und 18. Jahr-

24 hundert, wird sie eine schwere Strafe zu zahlen haben.

Wenn sie dagegen fortfährt, an der geistigm Bewegung Europas theilzunehmen, wie es England im 18. und

19. Jahrhundert that, so kann sie überzeugt sein, daß

sie

eines

Tages

die

Führerschaft

zurückerlangen

und

früher oder später, wäre es auch nur auf kurze Zeit,

den

ersten Platz

im

geistigen • Laboratorium

Europas

wieder einnehmen wird.

Wer aber als Betrachter solch einem Gegenstände, wie es der Beitrag einer Nation zu Europas gemein­ schaftlichem Gedankenschatze ist, gerecht werden will, der

wird

wohl daran

thun,

sich alles Parteigeistes, des

nationalen wie des politischen und religiösen zu entäußernDer Parteigeist hat seine rechte Stelle im praktischen

Wenn es sich darum handelt, unsern Glauben

Leben.

oder unser Vaterland zu- vertheidigen, gewisse positive Zwecke zu erreichen, die einzig durch disciplinirte GesamAI-

kräste erreicht werden können, so wollen und sollen wir zu einer Partei gehören und bei ihr bleiben usque ad

mortem.

Aber wenn wir es versuchen, die Geschichte der

Menschheit zu verstehen und ihre gehetmnißvollen Bahnen zu erkunden; ja, sobald immer wir einen Boden betreten,

wo jene praktischen Interessen nicht bedroht sind, wo

kein Kampf, kein Streit waltet, wo wir einfach mitein­ ander zu leben, einander

zu kennen, höchstenfalls ein­

ander zu beurtheilen haben, — ha wollen und sollen wir solche

unliebsamen Unterscheidungen vergessen und ein­

ander, behandeln, als ob wir alle zu einer Nation, einer Partei, einem Glauben gehörten.

Hülm wir uns, an

Völker oder Thatsachen oder Ideen mit einem vorgefaßten Urtheil heranzutreten oder sie argwöhnisch nach ihrem

25 Paß zu fragen, anstatt sie auf ihren inneren Werth zu

prüfen.

Hüten wir uns, Menschen und Thatsachen und

Ideen zu verdammen oder heilig zu sprechen, weil sie russischer oder italienischer Herkunft sind, eine katholische

oder

protestantische

Aufschrift

tragen,

aus

servativen oder liberalen Lager kommen.

nichts anderes als Barbarei

sein



dem con-

Dies würde

eine Barbarei,

welche, so fürchte ich, die Menschheit mehr und mehr in

ihre Gewalt bekommen wird,

in dem Maße als die

politische Demokratie mit ihrer oberflächlichen Aufklärung

und wissenschaftlichen Halbcultur vorschreitet.

Je größer

die Zahl derer wird, welche am politischen Leben theil-

nehmen, desto mehr wird die politische, religiöse, nationale Leidenschaft der Gerechtigkeit, Billigkeit und Gutmütig­

keit den Garaus machen.

Denn ein Jeder, der sich in

die Knechtschaft der Parteibande begiebt, muß noth­ wendiger Weise einen Theil der Wahrheit, die er kennt, einen Theil seiner moralischen und intellektuellen Freiheit, einen Theil seiner selbst opfern.

Auf der anderen Seite

wird bei Denen, welche sich von solchen Leidenschaften

frei machen, um die Dinge mit eigenen Augen zu sehen, nach eigenem Sinn zu beurtheilen, die Liebe zur Wahr­

heit in demselben Maße an Kraft zunehmen, als ihre Zahl gering ist.

Geben wir uns wenigstens die Mühe,

zu diesen'wenigen zu gehören; denn sie sind nicht allein

die einzigen Freunde der Wahrheit, sie sind nicht allein die einzig freien Geister, sie allein sind auch die wirklich

Gerechten. Und was immer unser verweichlichtes Zeitalter

behaupten mag, Gerechtigkeit ist noch das, wird immer­ dar das sein, wofür Plato und Aristoteles sie erklärten,

die höchste und männlichste aller Tugenden.

II.

Zur Entwickelungsgeschichte der abendländischen Gesellschaft. Das Wort Gesellschaft wird in verschiedenem Sinne

gebraucht.

Die StaatSwiftenschast meint damit die Ge­

meinschaft der staatlich verbundenen Menschheit; in der

Unterhaltungssprache gereifter vornehmer Kreise in Paris

und London bedeutet das Wort eine Verbindung von Sippschaften, deren Hauptsorge es ist, ihre Thüren ge­ schlossen zu halten, damit sie das wichtige Geschäft des

SichamüstrenS unter sich betreiben können.

Hier soll

weder von Rousseau's Gesellschaft, noch von der haupt­ städtischen Societät die Rede sein; sondern von der Gesammt­

heit der Stände, welche die Träger jeder nationalen Cultur find, diese eigentlich erst produciren und auch vorzugsweise

consumiren, der Stände, welche der nationalen Thätig­ keit vorstehen, Staat und Religion, Handel und Gewerbe,

Literatur und Wissenschaft leiten,

kurz, jener ganzen

Schicht der Nation, die man in Deutschland bezeichnender

Weise „die Gebildeten" zu nennen pflegt.

Der Charakter

und der Habitus dieser Gesellschaft hat sich bei den ver­ schiedenen Nationen zu

verschiedenen Zeiten festgesetzt,

unterm bestimmenden Einfluß hier dieser, dort jener be­ stimmenden Classe, unterm Vorherrschen bald des einen.

27 bald des anderen Jntereffes.

Es ist offenbar von nicht

geringer Bedeutung, ob eine nationale Gesellschaft sich

im

16. oder im 18. Jahrhundert constituirt hat, ob

Bürgerthum oder Waffenadel dabei die ausschlaggebende Rolle gespielt, ob sie sich

unterm Princip der Kunst

oder der Religion, des Staats oder der Wiffenschast ge­ bildet hat.

Es dürfte von Jntereffe sein, diesem ver­

schiedenen Entwickelungsgang bei verschiedenen Nationen zu folgen, wäre es auch nur auf der Hauptstraße und

ohne unterwegs zu verweilen, oder gar in die hundert Seitenwege einzubiegen, die von allen Seiten laden. I.

Das Mittelalter kannte keine nationale Gesellschaft. Sein ganzer Geist war ein universeller: die Religion,

die Wissenschaft, ja selbst die Staatsform war eine und

dieselbe in Europa;

sogar

in der Literatur war der

Stoff wenigstens ein allen Nattonen gemeinsamer.

Auf

der anderen Seite war jede . Nation gespalten in streng

abgeschlossene Stände.

Das Bürgerthum stand der Geist­

lichkeit, diese dem Ritterthume unvermittelt gegenüber;

und die Dialekte hinderten den geistigen Verkehr zwischen

Provinz und Provinz, oder nöthigten wieder zum Ge­ brauch des Latein, d. h. eines universellen Werkzeugs, welches die Aeußerung des Nationalgeistes

kommen ließ.

kaum

auf­

Erst mit der Renaissance begannen natio­

nale Gesellschaften sich zu entwickeln: denn erst mit der Renaissance begannen die europäischen Völker sich wirklich

in Nationen zu gliedern, diese ihre sprachliche und staat­ liche Einheit auszubilden, begannen die gebildeten Stände

sich einander zu nähern, Gedanken und Gefühle auszu-

28 tauschen, mit einander zu handeln, zu leben, sich für ge­ meinsame Interessen zu erwärmen. Italien war hier allen Nationen voraus, wenn es auch noch keinen Nationalstaat bildete, wie die geeinten Reiche von Spanien, England und Frankreich am Ende des 15. Jahrhunderts. Aber es fühlte sich feit dem letzten deutschen Römerzuge als. eine unabhängige Nation, wie einst Griechenland den Barbaren gegenüber.. Seine Schriftsprache war schon ein Menschenalter früher als solche anerkannt von den Alpen bis zum Paffaro; vor Allem die Standesunterschiede unter Gebildeten hatten fast ganz aufgehört, als die Wiederbelebung des classischen Alterthums ihnen Allen ein gemeinsames Interesse gab. Es war aber nicht das Heer, noch die Geistlichkeit, es war der Bürgerstand — i popolani grassi —, ins­ besondere der handeltreibende Bürgerstand, welcher die anderen Stände an sich heranzog, in sich aufnahm, oder sie doch mit seinem Geiste tränkte. Die italienische Ge­ sellschaft war eine städtische, und sie ist es geblieben.

ES waren die Städte, welche im geistigen, wie im staatlichen Leben im Vordergrund standen: Mailand- und Gmua, Venedig und Florenz, Bologna, Pisa, Siena, Perugia. Einige unter ihnen warm im 15. Jahrhundert und bis in den Beginn des 16. europäische Großmächte, etwa von der Bedeutung der Niederlande im 17. Jahr­ hundert. Und in den meisten dieser Städte hatte der großhandeltreibende Bürgerstand schon frühe dm Waffmadel dmtschm Ursprungs überwältigt, sich selber der

Herrschaft bemächtigt: wer weiß nicht aus Dante's Bei­ spiel, daß in Flormz kein Adliger am Staatswesen theilnehmen durste, der sich nicht vorher mtadelt, einer Zunft

29 hatte zuschreiben

lassen?

Und die Heere, mit denen

jene Staaten ihre unblutigen Schlachten schlugen, waren

Wenig angesehen,

keine Pflanzschulen eines neuen Adels.

aus niederem Volke rekrutirt, von geringem Einfluß auf

den Staat, blieben sie stets im Verhältniß der Abhängig­ keit zu den Stadtherren.

Selbst wo ihre Generale —

meist Männer gemeiner Herkunft — sich gegen Ende jener

Zeit der Gewalt bemächtigten, wie die Sforza in Mai­ land, bildeten ihre Officiere keinen Waffenadel, der die

Gesellschaft der Städte beherrscht hätte.

Aehnlich war's

Bei der allgemeinen Verweltlichung

mit der Geistlichkeit.

der Bildung war ihr Einfluß ein geringer, auch gesell­

schaftlich war sie in keinem Sinne tonangebend, genoß

keiner privilegirten Stellung, keiner besonderen Verehrung. Sie ging eben wie alle anderen Classen im Bürgerthume

auf, aus dem sie , auch meist hervorging: war ein Prälat besonders angesehen, so war's seine Gelehrsamkeit, seine Persönlichkeit, seine Verbindung mit bedeutenden Bürgern, nicht seine geistliche Würde, welche ihm dieses Ansehen

verschafften.

Wer sich im Staate, in der Literatur, der

Kunst hervorgethan, gehörte fast ausschließlich dem Bürger­ stande

an:

Petrarca

war

der

Sohn

eines

Notars,

Boccaccio der eines Kaufmanns, Macchiavelli, Guicciar-

dini waren bürgerlicher Herkunft.

Auch nachdem sich

oder Gruppen

von

Familien zu Oligarchien ausgebildet, fuhren sie

fort

einzelne

Familien

zu Dynastien,

Handel zu treiben, nicht immer zum Vortheil des Staates,

den sie zugleich verwalteten, und das Verhältniß zu den thatsächlichen Unterthanen blieb in der Form das von Mitbürgern zu Mtbürgern. Freund

als

Cosimo de' Medici war mehr

Beschützer Donatello's und Brunelleschi's,

30 und der Umgang seines Enkels Lorenzo mit den Pnlci und Angelo Poliziano war auf dem Fuße vollständiger Gleichheit. Es waren doch eben keine fremden Eroberer, wie anderswo und früher in Italien selber, noch hatten ihre

Vorfahren seit unvordenklichen Zeiten ein getrenntes, unnahbares Dasein geführt. Man war mit einander aufgewachsen, hatte Geschäfte miteinander gemacht, die Fiction, daß die Herren nur unter Zustimmung des gesammten Volkes herrschten, ward noch aufrecht erhalten. Daher der Ton vollständiger Gleichheit, der in diesen Kreisen galt. Und nicht nur in Florenz, selbst in Ferrara, dem einzigen Staate Oberitaliens, deffen Fürsten noch dem

Adel der Eroberer angehörten, herrschte ein solcher Ton, wenn auch weniger frei. Das Beispiel der Städte wirkte eben durchaus bestimmend. Und diese demokratische Gleich­ heit hat sich, äußerlich wenigstens, bis auf unsere Tage erhalten. Nirgends bestehen im täglichen Verkehr weniger konventionelle Formen als in Italien, man sucht sie nur bei großen Staatsangelegenheiten hervor; im übrigen Leben herrscht ein vertrauliches Sichgehenlaffen, das bei dem durch uralte Cultur gezüchteten Volke selten in Un­ schönheit ausartet. Natürlich aber auch hatte und hat diese italienische Gesellschaft, trotz allen Mutterwitzes, aller Heiterkeit und natürlichen Anmuth nicht den Reiz, den die französische, die spanische, wie wir sie aus den

Lustspielen und Romanen des 16. Jahrhunderts heraus­ lesen, in so hervorragender Weise besitzen und der darin besteht,' sich innerhalb conventioneller Formen frei zu be­ wegen, dieselben geschmeidig und sich dienstbar zu machen,

die Persönlichkeit trotz ihrer zur Geltung zu bringen. Alles zu sagen, ohne sie zu verletzten, woraus denn ein

31 höheres Spiel wird, das seine Gefahren wie seine Vor­

züge hat, und von der bequemen Gemüthlichkeit so ferne ist, als das Sonett vom Knittelvers.

Knittelverse wie

die des „Faust" und des „ewigen Juden" sind freilich

alle Sonette Petrarca's werth;

aber selbst ein Goethe

wagt nicht immer sich ihnen zu überlassen und greift

selber zum Sonett: fühlt er doch sehr wohl, daß eben „wenn sich

die Geister gar gewaltig regen", die Be­

schränkung sich lieben lernt.

Im Grunde aber ist es

„so mit aller Bildung auch beschaffen."

Jene gesellschaftliche Gleichheit, die keine Oberen

anerkannte, wenn sie sie auch thatsächlich gewähren ließ, war in Italien des 15. Jahrhunderts mit einer seltenen Einheit der Bildung verbunden.

Nicht länger waren die

Menschen getheilt in Kaufleute, Staatsmänner, Gelehrte,

Künstler: jede Specialität erwuchs auf dem Boden ge­

meinsamer Bildung.

Wer kann sagen, was einen Niccolö

da Uzzano mehr in Anspruch nahm, sein Wollengeschäst, die Staatsangelegenheiten, welche der Kreis ihm ver­

bündeter Familien noch leitete, die Arbeiten seines Freundes Donatello oder die Universität (studio), die er auf eigene

Kosten zu gründen unternommen?

Selbst die Frauen

nahmen vollen Antheil an dieser Bildung und dieser Ge­

sellschaft. nahme.

Noch war die klösterliche Erziehung eine Aus­

Die Patriziertöchter wurden mit den Brüdern

gemeinsam daheim unterrichtet im Griechischen, Lateini­ schen, der Mathematik.

So gähnte nirgends die Kluft,

die heutzutage die Geschlechter trennt, und der moderne

Blaustrumpf konnte nicht aufkommen: er ist ja ein Product des unnatürlichen Zustandes, welcher die Frauen von der

Männerbildung ausschließt, diejenige, welche sich diese



32



Männerbildung auf eigene Hand erwirbt, in ihrem Ge­

schlecht vereinzelt, sie so als „unweiblich" erscheinen läßt

und wirklich „unweiblich" macht.

Recht im Gegentheil

war, wie Janitschek schön sagt, beit Frauen der Re­ naissance „die Bildung der Zeit nur zum Werkzeug ge­

worden,

das

weibliche Naturell zu

glänzendster

Ent­

faltung zu bringen . . ., nicht Ergebniß äußerer, con-

ventioneller Erziehung, sondern Harmonie, die aus einem

Zusammenwirken aller Kräfte der weiblichen Natur her­ vorgeht."*

Wohl mochte Ariosi von seiner Zeit rühmen:

Ben mi par di veder eh’ al secol nostro Tanta virtü fra belle donne emerga, Che puö dar opra a carte ed ad inchiostro. Perche nei futuri anni si disperga.

Denn sie sind zahlreich, jene hochgebildeten Frauen

des 15. Jahrhunderts, welche an der Unterhaltung, den geistigen Genüffen, den Geschäften sogar der Männer

vollen Antheil nahmen; aber es ist keine darunter, die

darum aufgehört hätte ganz Frau zu sein.

Man denke

an Lucrezia Tornabuoni, die Dichterin und Dichterfreundin,

die Mutter Lorenzo'S de' Medici, welche selbst die Er­ ziehung des begabten Sohnes geleitet, dem großen Hause, • Hubert Janitschek: Die Gesellschaft der Renaissance

in Italien und

die Kunst.

und geistreiches, auch

trefflich

Stuttgart 1879;

geschriebenes Büchlein,

ein gelehrtes

das

leider

durch manche Nachlässigkeit verunziert wird; so macht der Verfasser

auS Lucrezia Tornabuoni die Frau Lorenzo'S il Magnifico, dessen Mutter sie war; daS Wandgemälde Mantsgna'S in Mantua stellt nicht den „Musenhof" Jsabella's d'Este dar, sondern den Barbara'S

von Hohenzollern und ihres Gemahls; Sta. Maria del Fiore wird

Sta. Liperata statt Sta. Reparata; der ehemalige Ministerpräsident Marco Minghetti wird Carlo Minghetti re.

33 dessen Chef Piero fast immer leidend war, sorgsam und

klug vorstand, und man lese den reizenden Brief, in welchem sie die Schönheit ihrer künftigen Schwiegertochter, Clarice Orsini, mit weiblichem Kennerauge analysirt.

Ist sie nicht Weib in Allem? Die Weise wie Sandro Botticelli die junge Albizzi, auf den herrlichen Fresken der Villa Lemmi bei Florenz, mit Pico della Mirandola in Verbindung bringt, beweist doch wohl, — wenn auch kein Chronist oder Briefschreiber der Zeit uns über die Optimatentochter eine jener Notizen gebracht, deren wir

so viele über Andere ihres Gleichen besitzen, — daß der schöne Wunderjüngling, der alles Wißbare seiner Zeit wußte, ein Hausfreund und Gespiele des holden Mädchens war. Und außerhalb Florenz — blieb nicht Caterina Cornaro, auch nachdem sie ihre cyprische Krone nieder­ gelegt und wieder eine einfache venetianische Patrizierin geworden, noch immer die Beschützerin der Künste und Wissenschaften, die einem Bembo die ersten Schritte in der wechselvollen Laufbahn erleichterte? Zählte nicht Elisabeth von Urbino einen Castiglione, einen Bernardo Accolti, den zu wenig gekannten Dichter der „Virginia", zu ihren vertrautesten Freunden? Waren nicht Bojardo und Guarini, der Humanist, die Tischgenoffen der älteren Eleonore von Ferrara, wie Taffo und Guarini, der Dichter, zwei Menschenalter später bei der jüngeren Eleonore Gunst uyd Schutz fanden? Und wie hochgelehrt war nicht Torquato's Mutter, die anmuthige und häusliche Portia? Wer gedenkt nicht der Muse Michelangelo's, der schönen Vittoria Colonna? Wo vor Allem ist ein schöneres Bei­ spiel edler Weiblichkeit als das Jsabella's von Mantua, deren Briefe an den Gemahl, die Schwägerin von Urbino, Hillebrand. Cultur geschichtliches. 3

34 die

befreundeten

Künstler,

durch die etwas ungelenke

Form die anmuthigste Frauenseele durchscheinen lassen? Sie nimmt aus Aldus Manutius' Hand die gelehrtesten Werke des Alterthums entgegen; ihr unterbreitet Ariosto den Plan seines

rasenden Roland; Bellini kann ihr

nie genug thun; sie hört Plautus' Komödien, ja, Cardinal Bibbiena's „Calandra", die heute kaum ein Mann taut

lesen möchte, heiter mit an, wie die Männer ihrer Ge­ sellschaft ; und wie Niemand, der sie gesehen, sie minder weiblich fand, weil sie den Vitruvius las, so fiel es

Niemanden ein, zweifeln,

an ihrer Keuschheit und Reinheit zn

weil .sie über Macchiavelli's

recht herzlich zu lachen verstand.

„Mandragola"

Natürlich nahmen junge

Mädchen unter zwanzig Jahren, so wenig wie die Knaben dieses Alters, an der Geselligkeit der Erwachsenen An­

theil: unverheirathete Frauen über zwanzig aber waren

etwas so ganz Ausnahmsweises, daß sie hier gar nicht in Betracht kommen.

Der Einfluß der Frauen auf die Politik war meist nur ein ganz mittelbarer, obschon auch gewisse Persön-

lichkeitm, wie z. B. Caterina Sforza in offen führender Stellung hervortraten. Im Allgemeinen beschränkte sich die

Theilnahme der Frauen echt weiblich aufs Empfangen

und Wiedergeben, nicht aus's Schaffen und Handeln nach

Außen: sie gaben dem Leben jener unbändigen Männer, wenn der unerbittliche Kampf um's Dasein ruhte, Masi

und Anmuth und Schönheit. lich

So verwirklichten sie eigent­

erst jenes Ideal der Kunst, das der ganzen Zeit

vorschwebte.

Denn die Kunst, d. h. die deutende Dar­

stellung der Natur,

Zeit durchdrang.

war das Princip, das jene ganze

Als Karl V. mit Papst Clemens VIL

35 jene denkwürdige Zusammenkunft in Bologna hatte, welche die Geschicke Italiens auf Jahrzehnte hin bestimmen sollte,

machte die kunstreiche Agrafe Benvenuto Cellini's, welche den Mantel

des

heiligen Vaters zusammenhielt, beide

Herren eine Viertelstunde lang vergessen, warum sie zu­ sammengekommen waren.

und

Kleidung,

Und nicht allein die Umgebung

Wohnung,

Hausrath,

Garten,

nicht

allein die Vergnügungen und Feste sollten künstlerisch sein; der Staat sogar, vor Allem die Persönlichkeit selber, sollte ihnen zum Kunstwerk werden. Hier nun gerieth die Renaiffance, der jeder conventionelle Compaß fehlte,

nur allzubald an die Klippen, an denen das Schiff der italienischen Gesellschaft zerschellen mußte.

In der Kunst

selber erreichte sie das Höchste, weil hier das Gesetz die

Freiheit beherrschte und Ariosto ist der Welt das größte Beispiel dieser

scheinbar unterdrückten, in Wirklichkeit Nicht so im Leben.

streng begränzten Freiheit geblieben.

Zu sehr vergaß man, daß die Muse es wohl begleiten

mag, aber es zu leiten nicht versteht. einem

Eine Zeit, die in

Cesare Borgia nicht mehr Schuld sah, als in

einem schönen Tiger, der sich seine Beute er lauert und

erpackt, mußte aus Rand und Band gehen. ist sittlich indifferent;

sittliche Convention nicht bestehen. bittlich

wahr;

Heuchelei.

die

Die Kunst

die Gesellschaft aber kann ohne

Gesellschaft

Die Kunst ist uner­

bedarf

einer

gewissen

Die absolute Gleichgültigkeit gegen gesellschaft­

liche Moral, die unumwundene Wahrheitsliebe jener Zeit

— eine Wahrheitsliebe, die sich mit der direkten Lüge

und Verstellung zu Erreichung eines gegebenen Zweckes sehr wohl verträgt —, der Cultus der Natur als des

Unfehlbaren und die Verachtung jedweder Autorität außer 3*

36 ihr, mußte zur Auflösung dieser Gesellschaft führen und

hatte dazu geführt, noch ehe der spanische Einfluß das

ganze italienische Leben in Banden schlug. Die ungemessene Staatsfteiheit war schon in pein­ lichsten Despotismus ausgeschlagen, noch ehe die unbe­

grenzte

Geistesfteiheit

in

engste

Bigotterie

umschlug.

Wohl ward die Kunst noch weiter gepflegt; aber sie ward

etwas ganz Aeußerliches und artete unbegreiflich schnell in Mrtuosität aus, wie die Wissenschaft zur Buchstaben­

gelehrsamkeit, die Poesie in akademische Pedanterei, die

Geselligkeit in Beftiedigung leerster Eitelkeit und rohester Genußsucht ausarteten.

Der Handel verfiel und

ihm der freie, stolze Bürgerstand.

mit

Die Arbeit kam in

Unehre: nur vom Ererbten durfte ein vornehmer Mann

leben und noch heute nennt der Italiener Signore nur

den, der ohne Arbeit leben kann.

Das alte städtische

Patriziat ward selber Adel, aber nicht streitbarer Waffen­ adel, sondern Hofadel.

Und welche Höfe waren es, an

denen die Abkömmlinge der großen Kaufherren des 14. Jahrhunderts dienten, von denen sie sich Titel und

Würden schenken ließen,, selbst wenn die neuen Fürsten

wie in Florenz einem Handelshause entsprossen waren, dessen Firma ein Jahrhundert weniger zählte als die eigne?

Es waren die Höfe kleiner Vasallen ftemder

Großmächte.

Der Horizont war verengt.

Nirgends.mehr

öffnete sich eine Aussicht auf das weite Meer der euro­ päischen Politik.

Die edle Freiheit des Umganges, wie

sie im vorhergehenden

Jahrhundert geherrscht, machte

peinlicher Etikette Platz; ein steifes, spanisches Ceremoniell

trat an die Stelle der ftüheren Vertraulichkeit.

Wohl

bestand eine solche noch außerhalb der Höfe fort zwischen

37 dem neubetitelten Adel —

der Titel wurden so viele,

daß sie alle Bedeutung verloren — und dem gebildeten

Mttelstand, aber nur ganz äußerlich; und diese aus der

Renaiffancezeit noch herübergekommene äußere Gleichheit kann bloß den flüchtigen Hinblick täuschen.

Der Graf

und Marquis dutzte den Advocaten und Profeffor nach

wie vor; aber er that es nur, weil er wußte, daß die innerliche Entfernung

unüberschreitbar war;

so scherzt

Don Juan ungestraft mit Leporello, weil eine Welt im

Busen ihn von dem Diener trennt.

In Wirklichkeit trat

durchaus ein Clientenverhältniß an die Stelle der ehe­ maligen Gleichheit.

Der Verfall des Handels und Ge­

werbes, die Ausdehnung des Hof- und Staatsdienstes

hatten ja auch die immer zunehmende Verarmung und Servilität des Mittelstandes zur Folge: das Parasiten-

Im Gegen­

thum nahm immer größere Verhältnisse an.

satz zu andern Ländern ward die Kirche, die Justiz, die

Verwaltung zur Zufluchtsstätte dieser verarmten Stände, welche die Protection der Reichen nicht mehr als eine

Demüthigung empfanden. Die Würde, welche die Religion,

das Richteramt, der Staat anderswo den Trägern mit­ theilen, galt hier für gar Nichts: der Pfarrer war nicht

mehr

als

ein bequemer Hagestolz, der kleine gesellige

Functionen verrichtete; der Gelehrte und Dichter, meist auch ein Abate, war der Verherrlicher oder auch Amuseur

des vornehmen Hauses, der Richter kaum mehr als der

Geschäftsmann, walter

der

der Herren

Regierungsrath



Signori.

als

der Gutsver­

Die Frauen dieses

gebildeten Mittelstandes — denn der Handel war fast ganz

zum Krämerthum

.Dunkel und

herabgesunken —

in der äußersten Dürfttgkeit,

lebten

im

als Mägde,.

38

die nur

an Feiertagen

einmal an die Sonne fernen.

Die Frauen der höherm Stände fuhren freilich fort der Mittelpunkt der „Gesellschaft" im aristokratischen Sinne

zu sein; aber auch sie sprangen wie Jene aus dem Kloster in die Ehe; auch auf sie wirkte die Abwesenheit alles

öffentlichen Lebens niederdrückend und geisttödtend; auch sie waren von den Interessen der Männer ausgeschlossen;

auch sie gingen, wie die Männer, auf in der Kleinlich­ keit des Cermoniells, der Rangeifersucht, der Bigotterie — oder aber sie überließen sich bei verschlossenen Thüren

allen Launen der Leidenschaft und

des Müßigganges.

Nur der anerkannte Sigisbeismus erleichtert und bereichert

in Etwas die trostlose Oede dieser Frauenexistenzen; und die angeborene Grazie, die der Natur so nahe Kindlich­

keit der Italienerin, die Erbschaft wohl auch der ältesten

Cultur Europa's verschönerten, milderten einigermaßen die innere Armuth dieses Lebens.

Noch sind die Spuren

jenes Daseins des 17. und 18. Jahrhunderts nicht ganz verwischt: doch ist Italien vielleicht das Land, in welchem

seit etwa vierzig Jahren die größte gesellschaftliche Um­ wälzung vor sich gegangen ist und noch vor sich geht.

Die ftanzösische Herrschaft

am Anfänge dieses Jahr­

hunderts, der seitdem ununterbrochene Einfluß der fran-

zösischen Literatur, Gesellschaft und Politik, das Nieder­ reißen der inneren Grenzen, die zeitweilige Herrschaft der Piemontesen—eines Menschenschlages, der dem Schweizer

näher verwandt ist als dem Italiener — vor Allem aber das

Herauflommen

eines neuen herrschenden Standes,

eben jenes, zwei Jahrhunderte lang so armen und unter­ würfigen Mittelstandes, der heute Alles ist und den Vor­ theil seiner Stellung wohl wahrzunehmen weiß, — Alles

39 Las hat eine Umwandlung zur Folge gehabt, die noch lange nicht vollendet ist.

II. Auch in Frankreich machte sich, nach dem italienischen, der spanische Einfluß stark geltend: aber das National­

leben der Franzosen war zu intensiv, um sich jene Ein­ flüsse nicht bald und vollständig zu assimiliren und unter­ zuordnen. Von jeher hatte dort der Waffen- und Ge­ richtsadel den Staat geleitet, die Kirche beherrscht, die Pflege der Literatur und Wissenschaft an sich genommen. Beide Stände hatten sich mit der Krone gegen die hohe Aristokratie verbunden. Je unabhängiger aber das König­ thum von dieser ward, desto mehr wuchs das Ansehen und der Einfluß der Verbündeten. Nach der endgültigen Unterwerfung des hohen Adels durch Richelieu trat auch dieser in die Dienste des Hofes, und bald war der Hof der Mittelpunkt des ganzen französischen Lebens, zuerst in Paris, dann in Fontainebleau, St. Germain, Ver­ sailles. Und mit der Bedeutung des Hofes wuchs auch die Bedeutung. des Pariser Parlamentes, das sich als Macht dem Könige gegenüber fühlte, es ihn wohl auch fühlen ließ; denn Jeffreys kannte Altfrankreich nicht: der Richterstand behauptete stets seine politische und sociale Selbständigkeit, da der Einzelne seiner halb ererbten, halb erkauften Stelle nicht entsetzt werden konnte und der Wohlstand der Familien durch die Verbindung mit reichen Bürgertöchtern stets erneut wurde. Um das Pariser Parlament nun gruppirte sich die „Stadt", wie

um den König der „Hof". So hielt die geistige Centralisation mit der staatlichen Schritt. „Hof und

40

Stadt" werden gleichbedeutend mit Trägern der Cultur.

Montesquieu sagt ganz naiv: „J’appelle gönie d’une Nation les mceurs et le caractere d’esprit des difltirents peuples diriges par l’influence d’une m6me cour et d’une m6me Capitale“. Deutschland konnte offenbar in Montesquieu's Augen nicht auf eine nationale Cultur Anspruch machen. Hof und Stadt aber meinten Waffen- und

Gerichtsadel mit Allem, was damit zusammenhing; und bis zur Revolution hin, ja noch in der Nationalver­ sammlung von 1789, insbesondere aber während der Restauration (1814—1830), die so recht als ein Wieder­ aufleben Altfrankreichs anzusehen ist, waren es durchaus der Höfling und der Jurist, welche der ftanzösischen Cultur ihre eigenthümliche Physiognomie gaben: ja noch heute sind die Gewohnheiten, Formen und Anschauungen beider Stände, wenn nicht im Staate, so doch in dem, was ich die Gesellschaft genannt, durchaus die herrschen­ den. Zu der Zeit, wo diese nationale Gesellschaft zu­ gleich mit der nationalen Literatur ihre bestimmte Form annahm, d. h. im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts, als diese die spanischen Feffeln abwarf, jene die spanischen

Formen frei umwandelte, geschah es schon durch die Initiative jener beiden eng verbundenen Stände. Im Salon der Marquise von Rambouillet trafen sich mit einem Conde und Retz die Voiture und Balzac, die Corneille und

Malherbe, welche alle in fernerer oder näherer Beziehung zu parlamentarischen Familien (familles de robe) standen. Pascal, wie fast ganz Port-Royal, gehörte von

Haus aus dem Gerichtsadel an, wie früher Montaigne, später Montesquieu. Auch der große Gallikaner, welcher der ftanzösischen Kirche und der ftanzösischen Kanzelbe-

41 redsamkeit ihr bleibendes Gepräge gab, Bofsuet, war der Sohn eines Richters.

Er wurde aber eines der Gestirne

von Versailles, wie später Bourdaloue, Flöchier, Massillon

und so viele andere ausgezeichnete Prälaten des alten Frankreich, welche nicht weniger als die Höflinge hohen

Adels, ein Larochefoucault, ein Saint-Simon, dazu bei­ trugen, die Literatur ihres Vaterlandes zu bereichern. Auch Schriftsteller vom Handwerk lebten in Versailles:

der Hof lieferte einem Labruyöre seine bekanntesten Typen;

und Racine besang in „Berenice" daß Verhältniß Ludwig's XIV. zu Mlle.

und „Esther"

de la Balliere;

für Mme.

er dichtete „Athalie"

de Maintenon's

Saint- Cyr.

Reben den Würdenträgern der Kirche aber und den Ver­

tretern der Literatur drängten sich die hohen Staatsbe­

amten und

die

Officiere um den Hof und die Person

des Königs, verbanden sich in Freundschaft mit jenen Männern, theilten ihre Jntereffen, bildeten sich an ihnen,

wie sich jene wiederum

in

freier weltmännischer Auf-

faffung der Dinge von diesen bilden ließen. Jede vornehme

Familie aber war ein Versailles im Kleinen, hatte ihre Abbe's und ihre Literaten, die als Freunde, nicht als

Clienten, mit ihr verkehrten, sie geistig anregten, von

ihr Weite des Ausblicks gewannen: denn der Hof, welcher

den Mittelpunkt und das Vorbild dieser ganzen Gesell­ bildete,

schaft

oder Parma:

staates,

ja

war kein Duodezhof roie' der von Lucca

er war der

eines unabhängigen Groß­

des europäischen Großstaates xar tl-oxyv.

Nichts beengte den Gesichtskreis.

Die höchsten Interessen

fanden hier ihre Erörterung und Entscheidung; nichts war

hier

kleinlich, selbst nicht das Hofceremoniell,

weil es

nicht wie in Italien zugleich der Inhalt, sondern immer

42 nur die Form des Lebens war.

Hier hatten die Kämpfe

zwischen Jansenisten und Jesuiten, zwischen Protestantis­ mus und Katholicismus, zwischen der Nationalkirche und der römischen Curie ihr Echo. Hier wurde die Beherrschung

des Festlandes, hier die Vertheidigung des Vaterlandes ge­ plant. Hier wurden die neuesten Komödien Moliöre'S mit derselben Lebhafttgkeit besprochen als Pascal's Briefe gegen die Gesellschaft Jesu oder Bossuet's Leichenrede auf den großen Condö. Und wie der Hof, so die Stadt: alle Gebildeten, Besitzenden, welchem Stande sie auch angehören mochten, nahmen Antheil an diesen Fragen, welche sofort nationale Fragen wurden. Nicht am mindesten die Frauen. Noch hundert Jahre später meinte Sterne, die Franzosen seien „ein Volk, wo Nichts salisch sei als die Monarchie." In der That waren und sind es die Frauen, welche herrschten und herrschen. Zumal in der Hauptstadt. Selbst Bonaparte, der doch den Weibern sicherlich nicht gern viel Spielraum ließ, mußte bekennen, als er 1795, ein sechsundzwanzigjähriger Jüngling, nach Paris kam: „Hier nur verdienten sie das Steuer zu führen.... Die Männer dächten nur an sie, lebten nur durch und für sie. Eine Frau müsse sechs Monate in Paris gewesen sein, um zu wissen, was ihr zukomme und wie sie zu herrschen vermöge." Das Geheimniß ist leicht zu verrathen. Die Französinnen jener Zeiten kämpften stets nur mit Frauenwaffen. Eine Sövignß, eine Mme. de Lafayette waren in erster Linie Frauen, das Schriftstellerthum war etwas Beiläufiges, wenn man anders ihr Schreiben Schriftstellerthum nennen kann. Freilich gab'ü auch Schriftstellerinnen vom Hand­ werke, wie die Scudöry und die Deshouliöres, aber auch sie bestimmten den Ton der Gesellschaft mehr durch ihre

43 Persönlichkeit als durch ihre Schriften, und ihre Zeit war eine kurze.

Von der Volljährigkeit Ludwigs XIV. an

traten die Frauen — die politischen des 17. Jahrhunderts, wie die

philosophischen des 18. — nicht mehr direct

vor's Publikum.

Selbst noch Mme. de Staöl — eigent­

lich nur halb Französin — schlug ihre persönlichen Ver-

hältniffe höher an als ihre Bücher, erwärmte sich noch

mehr für ihre politischen Freunde, als für ihre politischen

Grundsätze.

Doch ist nicht zu leugnen, daß bei ihr schon

das Unweibliche sich störend mit vordrängt.

Die Frauen

des alten Rögime scheuten die Oeffentlichkeit; sie begnüg­ ten sich mit dem mittelbaren Einfluß, beherrschten die Herrscher auf allen Gebieten, ohne je zur Kampfesweise der Männer zu greifen.

Anakreon sagt, die Natur habe

jedem geschaffenen Wesen seine Waffen mitgegeben, dem Stiere die

Hörner, dem Pferde den Huf, dem Manne

die Vernunft, der Frau die Schönheit.

Das soll nun

keineswegs heißen, daß die Frauen unvernünftig und die Männer unschön sind, noch auch, daß alle Männer ver­

nünftig und alle Frauen schön sind: wohl aber, daß jeder

Frau ohne Ausnahme von der Natur eine gewiffe An­ muth gegeben ist — die sie freilich oft sehr erfolgreich

loszuwerden bemüht ist. Wenn selbst der stolze Ludwig XIV.

den Hut vor der letzten Küchenmagd lüftete, der er anf einer Hintertreppe

des

Versailler Schlosses

begegnen

mochte, so war es doch eben nur ein Tribut, den das

verkörperte Frankreich dem Geschlechte zahlte, das in der demüthigten Gestalt die Rechte der Anmuth und der Schwäche beanspruchen durste.

Diese Anmuth ist ihm

ja nicht nur in den kurzen Jahren der Blüthe gegeben, noch auch ist sie auf das Körperliche beschränkt.

Es giebt

44 auch eine Grazie des Gemüthes speciell

und des Geistes, die

weiblich ist; und so sind neben der List, den

Thränen, der Gefallsucht, auch die Selbstentäußerung

und die Hingabe, die Fähigkeit des Duldens, die geistige

Frische und anregende Naivität, das kluge directe Urtheil

und die ebenso kluge und directe Rede Frauenwaffen,

die den Männern selten zu Gebote stehen.

Diesen Waffen

nun, nicht einem unschönen Bestreben es mit den Männem

auf dem eigenen Gebiete aufzunehmen, verdankten die

Französinnen jener beiden

schönen Jahrhunderte,

von

Mme. de Chevreuse bis auf Mme. Roland, ihre Herr­

schaft über so viele, ja fast alle Helden der That und

des Gedankens.

Denn kein Jntereffe war ihnen fremd;

und wie sie dem geselligen Leben vorstanden, so war ihr Einfluß im Staate, in der Religion, der Literatur durch­

aus bestimmend.

Und ich spreche hier keineswegs nur

von den hervorragenden Gestalten, einer Mme. de Lon-

gueville, die den Gemahl und den Bruder, — den großen Condö — ja sogar einen Larochefoucault und Turenne zum Kampf gegen die Krone zu verleiten wußte*, oder

einer Mme. de Maintenon, welche so lange Ludwig's XIV.

innere Politik bestimmte, einer Angölique Arnauld oder Mme. Guyon, welche die Seelen des französischen Jan­ senismus und Quietismus waren,

einer Tencin

und

Geoffrin, deren Salons für die Gesellschaft des ganzen

Jahrhunderts tonangebend wurden —; ich rede von jenen Hunderten von Frauen, deren Namen selbst nicht in die *

Zur Zeit der Fronde waren solche

Schutz-

und Trutz­

bündnisse einflußreicher Frauen und ehrgeiziger Politiker etwas ganz

Alltägliches, so zwischen Retz und Mme. de Chevreuse, Beaufort und Mme. de Montbazon, Conde und Mme. de Chatillon.

45 Oeffentlichkeit drang, obschon sie hinter den ersten Männern

der Politik, der Literatur, der Gesellschaft standen, wie uns alljährlich neue Entdeckungen der Forscher und Freunde jenes einzigen Jahrhunderts lehren. Und man urtheile doch nicht gar zu rasch ab über die „Korruption" oder auch nur die laxe Moral jener Zeit.

Sie bietet

auch schöne Beispiele, und keineswegs vereinzelte, von ehelicher Treue und Liebe. So jene derbe Herzogin von

Chaulnes, von der uns St. Simon erzählt, daß sie ihren Gemahl nicht überleben wollte; so jene Herzogin von Choiseul, die Freundin Mcke. Du Deffand's und des Abbe Bartholomy, die ihren zwanzig Jahre älteren Gatten, den Minister Lutuvig's XV., wahrhaft ver­ götterte; so jene Marquise Costa de Beauregard, deren vor wenig Jahren veröffentlichte Briefe an den Gatten und die Kinder uns in ein so schönes Gemüth haben blicken lassen; so die Marschallin von Beauveau und wie viele Andere. Oft auch waren jene freieren Verbindun­ gen, welche das Jahrhundert duldete, im Grunde selber eheliche Verhältnisse; oder wie sollte man die Verbindung des Herzogs von Nivernais mit Mme. de Rochefort, die des Chevalier de Boufflers mit Mme. de Sabran anders nennen, selbst ehe sie, die eine nach vierzig, die andere nach zwanzig Jahren durch die erst so spät möglich ge­ wordene Trauung geheiligt worden?* Giebt es etwas Reineres als die Beziehungen Mlle. de Condo's zu M. * Aehrilich waren die Verhältnisse des Grafen von Toulouse zu Mme. de Gondrin, des Herzogs von Sully zu Mme. de Vaur, des Marquis de Sainte-Aulaire zu Mme. de Lambert, des Grafen Lassaye zu Mme. de Bourbon, des Marschalls d'Urelles zu Mme. de Ferriol, welche letztere jedoch nicht durch die Ehe bestätigt werden konnte.

46 de la Gervaisais, der im Kriege, wie sie im Kloster, vergebens eine Liebe zu vergeffen sucht, welche die Krönung

durch die Ehe nicht hoffen durfte?

Und selbst jene pro­

faneren Verhältniffe einer Mme. d'Houdetöt und St. Lambert's, Mme. Du Deffand's und H. Walpole's, Mme.

du Chatelet's und Voltaire's, so vieler anderer zu geschweigen, welche lange Jahre dauern und aus dem ge­ meinsamen Interesse für die höchsten Gegenstände der

Menschheit ihre Nahrung ziehen, darf man sie mit den

leichtfertigen Verbindungen zusammenwerfen, die die Laune gebiert, die Laune vernichtet?

Und wer an dem sittlichen

Werthe jener Frauen des alten Regime zweifelt, der

denke der großen Revolution und mit welchem Muthe, welcher Festigkeit, welcher Resignation jene heiteren Frauen­

gestalten das verhängnißvolle Schaffst erstiegen, auf dem sie ihre Begeisterung für die Ideale ihrer Jugend büßen sollten. Es ist bezeichnend für die französische Gesellschaft,

daß die Mädchen strenge davon ausgeschlossen waren —

bezeichnend, aber nur folgerichtig.

Es war ja nicht so

sehr die Furcht, daß ein Mädchen sich thörichter Weise

verlieben, eine thörichte Ehe eingehen könnte, welche diesen

Ausschluß veranlaßte, als der Wunsch, über alles reden zu können, auch über das, was Mädchen nicht verstehen,

was sie langweilt oder aber ihnen zu hören nicht gut ist.

Die Unterhaltung war ja der Hauptzweck der fran­

zösischen Geselligkeit, diese Geselligkeit aber Selbstzweck. Sie war für sie was die Kunst für die Italiener der

Renaissance:

Thätigkeit.

zugleich Inhalt und Form der geistigm „On dit que. Fhomme est un animal ao-

ciable, sagt Montesquieu; sur ce pied-lä il me parait que le Franpais est plus komme qu’un autre; c’est

47 l’hojnme par excellence, car il semble etre fait unique-

ment pour la societe.“

Nicht das einsame Denken und

Dichten und Fühlen, nicht die directe Anschauung der Natur und ihr Wiedergeben, nicht das Handeln und Thun,

das

Handhaben von Interessen,

sondern

die

geistige

Elaboration, welche man Gespräch nennt, — d. h. die­ jenige Form geistiger Thätigkeit, in der Dinge, Gedanken

und

Gefühle eher als Anlässe gebraucht werden, um

unsere Fähigkeiten anzuregen und in freie Bewegung zu setzen, als daß sie Zweck und Gegenstand dieser Fähig­

keiten bildeten — war die • Blüthe jener Cultur.

Die

laute Zeugung der Gedanken in lebendiger Berührung;

die Kunst, dieses Spiel unmerklich zu wenden und leiten ; die Genugthuung, dem Einfall eine schöne

oder

eine

reizende oder eine beredte Form zu geben, die höchsten Gegenstände in die Unterhaltung zu ziehen ohne uner­

reichbar, die gemeinsten ohne roh zu werden, alle Natür­ lichkeit mit Ziemlichkeit, alles Künstliche mit Natürlichkeit

zu sagen, über die Dinge hinzugleiten und doch im Vor­

übergehen anzuregen, andern auf den Grund zu gehen ohne eine Anstrengung fühlen zu lassen, rasche Ausblicke

zu öffnen, durch Anspielungen das Persönliche zu streifen ohne darin aufzugehen, durch schelmische Zweideutigkeiten

zu reizen, vor Allem aber die eigene Eitelkeit zu befrie­

digen, indem man der des Anderen schmeichelte — diese Kunst verbreitet ihren Geist über die ganze Cultur eines

Volkes, dessen Heerdentrieb es nicht in der Einsamkeit duldet, das ohne Convention nicht leben kann, aber sich

innerhalb dieser willkürlichen Grenzen frei und anmuthig zu

bewegen

das

Bedürfniß fühlt.

Sie

theilte

dem

Familienleben, wie der öffentlichen Thätigkeit und der

48 Literatur etwas von ihrem Geiste mit und machte aus den gebildeten Kreisen dieser Nation

eine Gesellschaft,

deren ungeschriebene Gesetze, deren ungreifbarer Organis­

mus selbst die Revolution und die Schreckensherrschaft überdauerten, eine Gesellschaft, die sich geistig und mora­

lisch nur im Tricotkleide der Sitte wohl fühlte, weil ihm dieses Kleid zur zweiten Haut angewachsen war — was freilich sagen will, daß dieser Gesellschaft der Be­ griff des Nackten, d. h. der letzten Wahrheit und Natur

ganz abhanden gekommen war.

Ich sagte, diese Sitte,

wie das Vorherrschen der beiden Stände, welche sie im Laufe der Jahrhunderte ausgebildet, hätte noch lange fortgedauert, nachdem die staatlichen Privilegien derselbm

vernichtet wurden: man denke an die Männer der Con­

stituante : die Malouet, Lally-Tollendal, Lameth, Lafayette

u. A., an die Girondisten, fast Alle Männer der Justiz und

Hüter der

Kreise

alten Formen;

an die tonangebenden

der Restauration und Louis Philipps.

Selbst

bis unterm zweiten Kaiserreich und der dritten Republik

nahm die Akademie Herzöge, Prälaten und Rechtsan­ wälte ohne alle literarischen Leistungen in ihrem Schoße

auf, als Vertreter des altfranzösischen Geschmacks in der modernen Gesellschaft.

Wohl sind diese Formen nicht

mehr so rein, wohl hat die Leidenschaft mehr als einmal den Zaun der.Sitte durchbrochen, selbst in den ausge­ suchtesten Kreisen; im Wesen aber lebt die Ueberlieferung

noch heute und vielleicht wird der jetzige Ausschluß aller gebildeten und gesellschaftlich angesehenen Stände vom

Staatswesen wenigstens die gute Folge haben, daß sich der französische Geist wiederfindet, sich ungestört von den politischen Jntereffen sein Reich langsam wiederherstellt.

49

III. Es hatte sich in England unter den Tudor's und

Stuart's etwas Aehnliches wie das französische Hofleben zu entwickeln begonnen, und

auch hier bildeten Kirche,

Heer und Justiz, eng mit einander verbunden und um den Thron geschaart, die tonangebende Gesellschaft: noch bis auf den heuttgen Tag sind Church, Law and Army

die drei Professionen, welche das Recht auf die Benennung

Gentleman nicht nur nicht entziehen, sondern verleihen. Doch waren selbst vor der großen Rebellion des 17.

Jahrhunderts Kunst wie gesellige Unterhaltung, obschon

beide gepflegt und hochgehallen,

nicht das bestimmende

Princip der englischen Gesellschaft: das Staatsintereffe

war schon damals das vorherrschende.

Der Ton war

ein freier und zugleich hoher in der Gesellschaft, wie sie

uns aus Shakespeare und Ben Jonson entgegentritt, wie sie uns Männer von Spencer's, Bacon'S, Sidney'S, Ruffell's Schlag vergegenwärtigen.

Die Frauen spielten

darin eine bedeutende und noch durchaus weibliche Rolle.

Die Freiheit der Rede war groß und artete nur selten in Rohheit aus; die classische Bildung war allgemein

und tief, auch die Frauen waren ihrer theilhaftig; das Interesse an Kunst und Literatur war äußerst rege.

Es

schien einen Augenblick, als ob England berufen sei, das

Ideal der modernen Gesellschaft darzustellen, in welcher

Freiheit und Sitte, Individualität und Cultureinheit,

Kunstsinn, heitere und geistreiche Geselligkeit sich unter

dem kräftigenden Einflüsse des öffentlichen Lebens schön

und reich entfalten sollte. diese

gesunde

Entwickelung.

Hillebrand, Culturgeschichtliches.

Die Revolution unterbrach

Es

ist unhistorisch,

4

von

50 irgend einem großen Complex von Begebenheiten, welcher das Ergebniß einer langen Reihe von Thatsachen und

Umständen ist, zu sagen, es hätte anders kommen sollen. Sagen darf man aber doch, daß die große Revolution, welche Englands Unabhängigkeit, die protestantische Religion

und die politische Freiheit gerettet hat, für die englische Geistes- und Gemüthsbildung vyn Uebel war.

Allein

sie war unvermeidlich: denn sie war das Ergebniß einer zweiten Entwickelung, welche sich im Schoße der Nation, parallel mit jener höheren

gehenden, vollzog.

von der Renaissance aus­

Wie dem auch sei, der Puritanismus

hat die Blüthe des englischen Geistes abgestreift. nahm

Aufschwung,

auch

Wohl

er nachher noch einmal einen neuen gewaltigen der von Locke bis auf Hume England

geistig wieder in die erste Reihe stellte; ja, es er­

wuchs noch einmal eine schöne Literatur, der das Europa des vorigen Jahrhunderts nichts zur Seite stellen konnte: aber so groß auch der Werth dieser Literatur sein mag,

jener Duft, welcher über Chaucer'S und Shakespeare'» Schöpfungen ruht, weht selbst nicht in den unnachahm­ lichen Werken, welche die Nachgeborenen

und de Foe bis auf bracht, haben.

von Dryden

Goldsmith und Sterne hervorge­

Um die zarteste Blüthe war's gethan;

der Schmelz, den der Fraueneinfluß über eine Literatur verbreitet,

war zerstört:

die englische Literatur ward

eine Männerliteratur, wie die englische Gesellschaft eine

Männergesellschast wurde.

Der neue Anlauf unter Karl II.

war nur eine wüste Nachahmung der französischen Sitten

gewesen; selbst ein St. Eoremond und ein Grammont

verloren die Fühlung mit der vaterländischen Cultur: das ganze Treiben war eine rohe Carricatur des ftan-

51 Mischen Wesens. Der edle Epikuräismus der französischen

Gesellschaft artete an der Themse in gemeine Sinnlich­ keit aus; Freiheit .wurde zur Frechheit, Heiterkeit zur

Ausgelassenheit, Eleganz zu Prunk.

Erst nach der zweiten

Revolution von 1688 bildete sich dann wieder die neue Gesellschaft, die bis in unser Jahrhundert hinein bestan­

den hat. Schon unter Wilhelm III. und Anna, entschiedener noch unter den beiden ersten Georgen, zog sich der schmol­ lende

Adel mehr und mehr auf seine Güter zurück.

Mochten auch nicht gerade Alle in so derben Ausdrücken

wie Squire Western von den „damned Hanoverians“

sprechen, die Meisten dachten wie der Vater Sophiens. So ward der Landaufenthalt, der dem Engländer von jeher theuer gewesen, die Normalexistenz der Vornehmen.

Sogar als die Gentry unter R. Walpole — der ja selbst

ein solcher Landedelmann war — sich mit dem Hofe auszusöhnen begann, blieb die Gewohnheit, außer der Parlamentszeit, d. h. dem Frühjahr, auf dem Lande zu

bleiben,

während unter Elisabeth und Jacob

Viertel des Jahres in London zugebracht wurden.

I. drei Wohl

machten die Londoner Witzköpfe und Stutzer Anfangs noch den verbauerten Junker zur Zielscheibe ihres Spottes; aber

gar. bald

ward

aus der lächerlichen Figm Sir

Wilful Witwoud's, der „seit der Revolution" nicht in der Stadt gewesen (1700, Congreve), die sympathisch­

humoristische

Sir Roger de Coverley's (Addison), bis

endlich diejenige Mr. Allworthy's (Fielding) zum Inbe­

griff aller englischen Tugenden ward.

Denn es war ja

zum größten Theil kein betitelter Adel, diese Gentry; ein Adel war's immerhin und mehr als ein einfacher

4*

52 Mr. verfolgte seinen Stammbaum bis auf die Zeit des

Eroberers.

traten

Zugleich

die

jüngeren

Söhne der

Aristokratie (nobility) in die Gentry hinunter, sei's direct,

sei es durch eine jener drei „genteelen" Professionen,

von denen die Rede mar, während reich gewordene Kauf­ leute durch Ankauf von Gütern oder durch Eintritt in

eben jene drei Professionen ihre Söhne oder Enkel, — die Engländer sagen, es brauche drei Generationen, um

einen Gentleman zu machen, — in die Reihen des Land­

adels einführten.

Auch der Geistliche, dessen Güter ja

in der ^Reformation nicht confiscirt worden, war und ist ein wohlhabender Landedelmann, dessen Rectorei es mit

manchem Rittergut aufnimmt.

Und er war verheirathet,

hatte Töchter und Söhne, die an den geselligen Ver­ gnügungen des Landadels Theil nahmen: er war nicht,

wie der

ewige Junggeselle der italienischen und fran­

zösischen Geistlichkeit, von jeder inneren Verbindung mit den Familien ausgeschlossen und er war nicht so blutarm als der deutsche Landprediger, der'S kaum dem Bauer

nachthun konnte.

Auch

der

erfolgreiche Advocat und

Richter — der Stand fing 1688 an thatsächlich, wenn

nicht gesetzlich, die Unabsetzbarkeit zu erlangen- welche stäs die Bürgschaft der Unabhängigkeit des ftanzösischen Richterstandes gewesen —, der penstonirte Officier, der zurückgezogene Kaufmann, später der aus Indien heim­

gekehrte Rabob wurden ihrerseits durch Erwerb von Län­

dereien Landedellente. der neuen

Dieser Landadel war'S, welcher

englischen Gesellschaft ihren Ton gab; der

englischen, denn in Schottland entwicketten sich die Ver­ hältnisse anders und in einem der deutschen Entwickelung

ähnlicheren Sinne.

Er bestand aus unabhängigen, freien

53 Leuten, die wohlhabend waren, meist in Cambridge oder Oxford studirt hatten, zum Theil selber im Parlament

saßen,

daheim

das Dorf

verwalteten,

das auf ihren

Gütern lag. Recht sprachen, die Miliz befehligten: kurz er leistete dem Staate unentgeltlich die größten Dienste und ward schon dadurch, bei der Abwesenheit aller besolde­

ten directen Staatsdiener, ausschlaggebend im Staate. Der Jurist spielte ja in England weder politisch noch literarisch die Rolle, welche er in Frankreich spielte. Ich wüßte

keinen bedeutenden Schriftsteller, keinen hervorragenden Staatsmann des vorigen Jahrhunderts, der der Advocatenbank oder dem Richterstande angehörte. Fielding war zwar Anwalt und sogar Londoner Friedensrichter, aber

er war von Geburt und durch Erziehung ganz ein Adliger; und Burke wie Sheridan mochten in ihrer Jugend die juristische Laufbahn gestreift haben, sie ge­

hörten nicht zum Stande, während Lord Melville d. Ae., der wirklich wie früher Lord Bacon, später Lord Brougham, aus der Magistratur hervorging, doch nie eine maß­ gebende Stellung einnahm. Die ganze politische Welt recrutirte sich eben fast ausschließlich aus dem Landadel; und wenn auch die Literatur eine vorzugsweise städtische und hauptstädtische war, so muß eben doch nicht vergessen

werden, daß fast alle ihre Träger von Addison, Steele und Swift bis auf Gibbon, Burke und Hume in den öffentlichen Dienst, d. h. in den Kreis jener Staats­ männer vom Landadel, übergingen, dessen gesellschaftliche Stellung, selbst wenn die demselben Angehörenden keine politische Rolle spielten und ihr Leben ganz auf dem Dorfe zubrachten, die beneidetste im Lande war. Roch heute, nachdem die staatlichen Verhältnisse sich durch die

84 Wahlreformen von 1832, 1867 nnd 1871, die wirthschaftlichen durch die Entwickelung der Industrie und die Handelsfteiheit so durchaus geändert habe«, ist die Existenz des Landedelmanns das Ideal jedes wohlhaben­ den Engländers; noch heute glaubt jeder Halbwegs vor­ nehme Engländer erst dann ein domo zu haben, wenn er ein Landhaus besitzt; und ein solches Landhaus ist Lebens­ zweck, das Ziel seines Ehrgeizes, für das er Jahrzehnte arbeitet, das eigene Vermögen, nnd mit ihm den Rationalreichthum, vermehrt. Wer noch nicht wohlhabend genug ist, einen solchen Landsitz zu erwerben, nimmt einstweilen mit Putney, Weybridge oder irgend einer anderen länd­ lichen Vorstadt vorlieb. Die Stadt ist nur das große Arbeitshaus, wo die Geschäfte gemacht werden, wo man das Geld gewinnt, das dann auf dem Lande ausgegeben wird, in Pferden und Hunden, Treibhäusern, Gartenan­ lagen, verschwenderischer Gastfreundschaft. Denn hier auf dem Lande mußten lange Mahlzeiten und tiefes Bechern, Sport aller Art — Jagd, Crickettspiel, Rudern, Lawntennis, Bogenschießen, Liebeln der Mädchen und Jünglinge die langen Tage und Abende ausfüllen; daneben freilich 'auch die gemeinnützigen Ge­ schäfte der Ortsverwaltung, der Rechtspflege, das Lesen namentlich in den reichen Landbibliotheken — noch heute sind die Engländer das lefendste Volk der Welt. Frei­ lich etwas roh und lärmend ging's manchmal her in den Schlössern, aber es lebte doch ein gesunder, kräftiger Geist in dem Stande, dem die Leibesübungen und die öffentliche Thätigkeit Körper und Geist frisch erhielten. Und im Wesentlichen ist's noch heute so. Die wahre englische Geselligkeit, an der beide Geschlechter Theil

55 nehmen, lebt eigentlich nur auf dem Lande; denn in den paar Frühlingsmonaten in der Hauptstadt ist sie doch immer

mehr Arbeit als Genuß:

ein

vorhergesehenes,

einge­

ladenes Zusammenkommen, ein steifes Ausharren neben­

einander ohne Beweglichkeit und Freiheit,

ein schwer­

fälliges Austauschen von Gemeinplätzen und ein stunden­

langes Vertilgen unverdaubarer Speisen.

Was in der

Stadt an freier, lebendiger Geselligkeit besteht, ist noch

heute wie vor hundert Jahren ausschließlich Männer­

gesellschaft ; nur daß sie heute sich im Club begegnet — das Parlament ist eine Art großen

auch

Clubs

während sie sich im 18. Jahrhundert in Will's Caffee-

haus oder im Türkenkopf begegnete.

Während der guten

Zeit Englands ist die Frau — ich sage nicht das Mädchen —

wie abwesend aus dem höheren Leben der Nation, und ich

wüßte

eigentlich

nur Lady Montague und Lady

Holland von Damen zu nennen, die gesellschaftliche Mittel­ punkte gebildet; Beide aber ermangelten gerade jener Anmuth/ welche der Handhabung des Frauenscepters erst

ihren Reiz giebt. Nirgends begegnen wir einer Jacqueline

Pascal — Hannah More's Wirkung beschränkte sich ganz auf Kreise des niederen Mittelstandes —, einer Lespinaffe,

einer Bouffiers, welche auf das religiöse, literarische und gesellschaftliche

Leben

des herrschenden Standes einen

bestimmenden Einfluß üben, geschweige denn einer jener

Hunderte von Frauen, die von Diane de Poitiers bis auf Madame du Cayla, stimmt haben.

die

Politik

Frankreichs

be­

Der Staat, die Religion, die Literatur

waren eben, wie die Gesellschaft in England, Männer­

sache.

Von Addison bis

auf Johnson ist das

ganze

Geistesleben der Engländer durchaus männlichen Charak-

56 ters.

Nichts in Swift's Werken verräth, welchen Einstuß

doch

thatsächlich die Frauenverhältniffe auf sein Leben

geübt. Was wir in den Schriften Pope's und Richardson's, Fielding's und Goldsmith's von den Frauen lesen, macht

uns den Eindruck, als ob nur die Mädchen mitzählten, als ob die Frauen nach dem fünfundzwanzigsten Jahre

entweder sich ganz von der Welt zurückzögen, um nur

noch häuslichen Pflichten zu lebm, oder aber daß sie die

Geselligkeit nur im fänge

Prunk, Theater und Kartenspiel

Die Aera der Blaustrümpfe begann erst im An­

sahen.

dieses

Jahrhunderts mit Mß Austen und Mß

Edgeworth, wiewohl der Name bereits zur Zeit Lady Montague's entstand. Seitdem hat sich das Blaustrumpfwesen auch auf andere Zweige der Männerthätigkeit ge­

worfen,

als

die Literatur und es soll ihm gelungen

sein, den Verkehr zwischen Frauen und Männern, auf

welchem aller Reiz der Gesellschaft am Ende doch beruht, gründlich zu fälschen: außer zwischen Jünglingen und

Mädchen — wo er äußerst natürlich und gefällig geblieben ist, freilich

aber auch

auf den Namen „Geselligkeit"

kaum Anspruch machen kann, da er sich doch wohl mehr

auf einen Austausch von Gefühlen beschränkt, was etwas

ganz anderes ist als Geselligkett — außer zwischen unverheiratheten jungen Leuten ist der Verkehr ein durch­

aus unnatürlicher geworden.

So groß scheinbar auch

die Rolle der Frauen in der englischen Stadtgesellschaft, so stark sie namentlich numerisch in derselben vertreten sein mögen, ihr wirklicher Einfluß, namentlich auf den

Staat, ist sehr gering.

Fast möchte man Sterne's Wort

über Frankreich umkehren Mes salisch

und

sagen, in England sei

außer der Monarchie.

Wie die Königin

57 den Ministerrath präsidirt, so sitzen die Frauen in allen

scboolboards, Wohlthätigkeitscomitö's u. s. w.; die wahre Arbeit wird aber doch von den Männern verrichtet und von ihnen geht auch wohl die letzte Entscheidung aus. Die Frau des Right Honorable Mr. So-and-so, welche neben ihrem Gemahl auf den Hustings erscheint — was

selbigen in Frankreich für immer lächerlich, d. h. unmög­ lich machen würde — begnügt sich, ihren Mann, ihr Eigenthum zu hüten und zu bewundern, sie leitet seine

politischen Schritte nicht, wie die Französin es von den Coulissen aus thut. Ich will hiermit keine Superiorität oder Inferiorität stabilirt haben; ich constatire nur den

Unterschied. Niemand hat eine aufrichtigere Sympathie als Schreiber dieses für die ächte Engländerin, die nur in ihrem Manne lebt, seine Erfolge genießt, seine Sorgen

theilt, aber dann doch für die Unterhaltung seiner Freunde bereiten Witz, gesunden Verstand und eine reiche Be­ lesenheit übrig behält, in ihrem einfachen aber sauberen Anzug eleganter ist als alle Priesterinnen der „hohen

Kunst". Leider verschwindet sie immer mehr aus der Gesellschaft und statt ihrer strömen herein die Schrift­ stellerinnen, Aerztinnen, Prophetinnen der „Frauenrechte" u. s. w., die nur allzu oft sich darin gefallen, als Ge­ schlechtslose aufzutreten, was dann gleichbedeutend mit einflußlos ist: denn durch ihr Geschlecht nur wirken die Frauen. Gesellige Kameraderei ohne geschlechtliche Hin­ tergedanken, und geschäftliche Concurrenz bei Wahrung geschlechtlicher Rücksichten sind falsche Verhältnisse, die

auf die Dauer unmöglich sind, wie alles Unnatürliche. Entweder taugt die weibliche Leistung die männliche nicht, dann zieht sie eben den Kürzeren, oder sie kommt ihr

58 nahe, dann bricht die Urheberin selber unter der über­ triebenen Anstrengung zusammen.

ES würde ebenso sein,

wollten wir Frauenarbeit verrichten: denn „Zwanzig Männer verbunden ertrügen nicht all' die Beschwerde"

einer Familienmutter ober gar einer Weltdame. „Und sie sollen es nicht; doch sollen sie dankbar es einsehen,"

einsehen auch, daß man nicht ungestraft den Gesetzen der

Natur zuwider handelt, welche beiden Geschlechtern ver­ schiedenste Felder zügewiesen und auf dem Beiden gemein­ samen

Gebiete

Jedem verschiedene Rollen

zugetheilt.

Wie der Mann, der auf diesem gemeinsamen Gebiete zu

Frauenwaffen greift, der Verachtung und dem Spotte anheimfällt und nichts Ersprießliches. leistet, so büßt die

Frau allen ihren Reiz ein, sobald sie die Waffen der Männer

zu handhaben, die KampfeSweise der Männer

anzunehmen sucht.

Das

Verhältniß wird aber

noch

mehr gefälscht, wenn bei dieser Vernichtung aller Grenz­ linien, doch die Rücksicht auf die Schwäche des anderen Geschlechtes gewahrt werden soll, wie dies aufs Pein­

lichste in der

englischen Gesellschaft der Fall ist. Im

Kampfe um's Dasein, welchen die Concurrenz darstellt, müssen alle Kämpfer gleich sein; sonst werden die Be­

dingungen des Kampfes ungleich.

Das tirez les Premiers,

Messieurs- les Anglais! ist Ritterthum, es ist nicht Krieg;

und wenn ich meinem Concurrenten, etwa weil er schwind­ süchtig ist, einen Gewinnst gönne, den ich selbst gewinnen

könnte, so ist das wohl Edelmuth, aber es ist kein Ge­

schäft mehr.

In der Geselligkeit aber beruht das ganze

Spiel auf der Verschiedenheit der Naturen bei der Gleich­ heit der geistigen Interessen: die Rücksicht, welche dem

Manne der Frau gegenüber eine übertriebene Decenz,

59 ja Prüderie auferlegt, macht allen freien Verkehr unmög­

Maxima debetur puero reverentia: darum eben

lich.

gehören die pueri und namentlich die puellae nicht in

die Gesellschaft. muß

an

Wer an der Gesellschaft Theil nimmt,

den sie beseelenden Interessen vollen Antheil

Eine Frau, die wirklich ihren Einfluß

nehmen können.

in der Gesellschaft behaupten will, muß einer philoso­

phischen Erörterung folgen können ohne zurückzubleiben, und einer politischen Auseinandersetzung ohne zu gähnen; sie muß

aber auch

ohne zu erröthen.

ein derbes Wort anhören können,

Sie braucht deshalb nicht selber neue

Philosopheme vorzubringen, politische Theorien zu ent­

wickeln, oder gar Zoten zu reißen: auch im Kampfe um's Dasein haben ja die Frauen nicht die Offensive, oder

doch nur eine versteckte Offensive, und in dem großen Werke

der Welterhaltung

und

-entwickelung

ist ihre

Thätigkeit eine empfangende und wiedergebärende, keine gebmde und zeugende. Daß sie aber in der Geselligkeit

auf jene übertriebene Rücksicht verzichten können ohne

unweiblich zu werden, das beweisen die edlen Frauen

des

italienischen Quattrocento und Altfrankreichs

zur

Genüge; daß diese ganze Prüderie nicht in der englischen

Natur liegt, daß sie ein Produkt der modernen Conven­

tion ist, das beweisen die bezaubernden Gestalten einer Beatrice und Rosalinde, einer Porti« und Isabella, einer

Imogen und Ophelia,

deren Sittsamkeit und Reinheit,

wahrlich durch die Unbefangenheit, mit der sie die Dinge bei ihrem

Namen nennen oder

scherzen, nicht

getrübt wird.

über das

Natürliche

Oder sollte Shakespeare

etwa diese unwiderstehlichen Jungfrauen und Frauen nie gesehen, nur aus seiner Phantasie hervorgezaubert haben?

60 Die Hauptschuld an dieser Unnatur der englischen Gesellschaft hat wohl die religiöse Bewegung gehabt, welche gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die schöne gesellschaftliche Entwickelung Englands ein zweites Mal unterbrach, wie die gleichzeitige politische Reaktion die staatliche Entwickelung unterbrach. Ich habe früher hier

ausgeführt, wie die englische Geistesfreiheit, die sich sieg­ reich aus den Banden des Puritanismus und dem Schlamme der Restauration erhoben hatte, wieder zer­ stört wurde und der Cant, wieder, wie im 17. Jahr­ hundert, wenn auch in etwas anderer Gestalt, die unum­ schränkte Herrschaft des englischen Geistes an sich riß. Noch unumschränkter war seine Herrschaft über die Ge­

sellschaft. Wer sich gegen sie auflehnte, wie Byron und Shelley, mußte ins Exil wyndern. Heuchlerische Respek­ tabilität breitete ihre grauen Schleier über'S ganze . Leben, bleierne Gravität lagerte sich über die Geselligkeit, ortho­ pädische Prüderie legte ihr ihre Zwangsjacke an. Wohl

war da- England des vorigen Jahrhunderts nicht sehr fein und heikel in ben Sitten; aber mochte auch ein Addison allabendlich etwas über ben Durst trinken, ein Fielding des Guten etwas zu viel thun in freier Rede, ein Goldsmith dem Zigemlerthum allzu rücksichtslos hul­ digen: wo ein solches künstlerisches Formgefühl, ein solches Maß im politischen Urtheil herrschte, da hätte sich auch bald ein gesellschaftliches Maaß ausgebildet und eine Clariffa Harlowe, an deren Tugend wir doch nicht zweifeln können, eine Sophia Western, deren Unschuld aus.jedem

Worte spricht, zeigen, daß auch die Frauen schon auf dem Wege waren, Freiheit und Sitte, Natur und Bildung in sich zu vermählen. Seit das engste religiöse Jntereffe

61 wieder in den Vordergrund

trat und gegen die freie

Bildung des Jahrhunderts reagirte, wie einst der Puri­ tanismus gegen die Renaissance, wurde auch die Gesell­

schaft tief davon bestimmt.

Glücklicher Weise ward's

einigermaßen durch das politische Leben, das stets Eng­

land wie ein erfrischender Luftzug gereinigt und gekräftigt

hat, im Schach gehalten. Denn die Politik blieb selbst jetzt noch,

was die

Kunst einst für Italien gewesen war: das Alles beherrschende.

Alles durchdringende nationale Interesse.

Ihr ist es zu

danken, daß die englische Gesellschaft im Ganzen so ge­

sund geblieben.

Sie auch erhielt die Einheit der natio­

nalen Cultur, welche das Sectenwesen zu zersplittern

drohte, wie die politische Freiheit die Jsolirung der Stände, die politische Centralisation

die Vereinzelung

durch's Landleben verhinderte und so ein gegliederter,

in seinen Gliedern ganz freier Organismus Herauswuchs, der von der centralisirten Mechanik des

französtschen

Staates so entfernt war, als von der Zusammenhangs-

lostgkeit des deutschen Nationallebens.

In dieser kräfti-

gen Atmosphäre der Oeffentlichkeit mag wohl die schöne Blüthe der Geselligkeit, wie sie die italienische Renaissance

und Altfrankreich kannten, nicht gedeihen; aber man darf

auch den Werth einer solchen Geselligkeit nicht überschätzen. Ein gesundes öffentliches Leben, eine fruchtbare geistige,

eine lebhafte wirthschaftliche Thätigkeit, ein voller, wenn auch nicht eben verfeinerter Lebensgenuß sind Dinge, die

schon im Einzelnen, wievielmehr noch zusammengenommen, jenen Vorzug wohl bei Weitem aufwiegen: und

wenn

die nicht eben glückliche, ja oft etwas lächerliche Sucht nicht da wäre, eine solche Geselligkeit herzustellen, ohne

62 doch ihre Bedingungen annehmen zu wollen, so würde

der Fremde kaum daran denken, diese Lücke im eng­ lischen Leben als eine Lücke zu empfinden.

Am Wenigsten

der Deutsche, der ja selbst diese Art höherer Geselligkeit, wie sie

Italien und Frankreich einst ausgebildet, so

gänzlich entbehrt.

IV. Hat

nun

Deutschland

überhaupt

eine

nationale

„Gesellschaft" in dem Sinne, wie die andern Cultur­ völker Europas — eine Gesellschaft, die ja auch ohne höhere

Geselligkeit recht gut gedacht werden kann? versucht, es zu bestreiten»

Man ist

Wohl hatten wir eine solche

Gesellschaft vor dreihundert Jahren, aber sie wurde zer­

stört im dreißigjährigen Kriege und wir arbeiten seitdem an ihrer Wiederherstellung, namentlich jetzt, wo unser

nationaler Staat glücklich wieder hergestellt ist. Vor 1618 war die deutsche Gesellschaft

der italienischen nicht un­

ähnlich, wie benn überhaupt die historische Entwickelung

beider Rationen eine anffallende, obschon leicht erklär­ lich- Aehnlichkeit besitzt.

Unsere Städte

bildeten dm

Mittelpunkt der Cultur und in diesen Städten war es

der Handelsstand,

welcher den Ton

angab.

Großer

Wohlstand, europäische Beziehungen, gediegene Bildung hatten eine gewisse Großartigkeit des Lebens zur Folge, die seitdem abhanden gekommen ist.

Man liebte eine

schöne Umgebung, ein anmuthig geschmücktes Haus, ele­ gante Jnnungs- und Zunstsäle, reiche und künstlerisch vollendete öffentliche Gebäude;

aber von eigentlichem

Luxus find nur wenige Spuren erhalten.

Das Leben

wie die Bildung, war eine allen höheren Ständen und

63 und beiden Geschlechtern gemeinsame, wie in Italien, und die Interessen — religiöse, politische, wie literarische und künstlerische — waren ebenso gemeinsam als die Bildung. Ritterliche Spiele, an denen Adlige und Patrizier ohne Standesunterschied theilnahmen, wechselten mit harter Arbeit auf dem Comptoir: denn der Erwerb war noch nicht als Schande angesehen und der Handel, der zwar viel durch die neuen Seewege gelitten, war noch immer blühend. Die Hansestädte hatten zwar etwas von ihrer Bedeutung eingebüßt, obschon namentlich Lübeck noch immer das Beispiel eines großstädtischen Lebensstyles gab; aber die ersten Firmen von Augsburg, Nürnberg, Frankfurt: die Fugger und Welser, die Hochstetter und Tücher, die Peutinger, Pirckheimer, Glauburg waren noch unerschüttert und die Inhaber dieser Firmen waren die Freunde von Fürsten und Edelleuten, Künstlern und Gelehrten; ihre Verhältnisse zu Reuchlin, Hutten, Dürer, Erasmus, Melanchthon waren die vertrautesten und die Töchter und Frauen waren nicht vom Verkehre mit den

Vertretern der. klassischen Bildung und ,der Kunst aus­ geschlossen. Das ward Alles anders nach dem furchtbaren Kriege. Städte und Dörfer waren zerstört, der Wohlstand ver­ nichtet, der Handel im Verfall, das freie Bürgerthum gebrochen. Wie in Italien war die Arbeit in Unehre gefallen. Nur wer vom Ererbten zehrte, galt noch für

vornehm. Alle geistige Bildung wax untergegangen; die Sprache selbst war verwildert. Eine fahle Gleichgültig­ keit war an Stelle des lebhaften Interesses getreten, welches die höheren Stände des vorhergehenden Jahr­ hunderts für religiöse, literarische oder politische Fragen

64 an den Tag gelegt hatten. Wie das Patriziat der Städte, so hatte auch der Kleinadel seine Unabhängigkeit einge­ büßt ; nur die Fürsten hatten — auf Kosten der Centtal­

gewalt wie der höheren Mittelstände — ihre Bedeutung und ihre Macht vergrößert. Sie begannen nun die Organisirung dieser Macht durch ein zahlreiches Beamtenthum. In ihre Dienste ging der verarmte Kleinadel und bald auch das verarmende städtische Bürgerthum. Und wer einmal in diese Kaste überttat, kam nicht wieder heraus: die jüngeren

Söhne traten nicht wieder zurück ins Bürgerthum wie in England; und wer einmal einen Titel hatte, dem und dessen Kindeskindern war die freie Arbeit auf immer untersagt. Denn es war die Zeit, wo das Titelunwesen begann. Natürlich genug: nur Betitelte konnten Rittergüter er­ werben, nur Betitelte konnten Staatsämter bekleiden, nur Betttelte waren hoffähig: und die Höfe — es gab deren nicht weniger als 500, ohne die dreimal so große Zahl der unmittelbaren Herren zu rechnen — waren die Mittelpunkte alles geselligen und staatlichen Leben», ihr

Thun und Treiben der Gegenstand aller Unterhaltungen. Und welche Höfe! Ohne Größe, ohne Bildung, ohne alle Originalität, hatten sie keine Jntereffen als die der Eitelkeit, keinen höheren Ehrgeiz als die Nachahmung der Außenseite fremder Cultur. Ihr Adel gefiel sich im leeren Lakaienthum; selbst der Kriegsdienst in den Duodez­ heeren ward vernachlässigt. Von geistigem Streben keine Spur, außer wo zufällig eine ausgezeichnete Frau ben Riegel sprengte und eine bessere Luft von Außen einströmen ließ. Draußen war's freilich kaum besser: bei der Abwesenheit jeder Centralisatton, ohne Hauptstadt,

ohne gemeinsames Interesse, zersplitterte sich Staat wie

65 Gesellschaft

in Hunderte, in lausende kleinster Kreise.

Immer mehr verengte sich der Horizont, immer ärm­

licher gestaltete sich das Leben.

Kleinstädtische Neugierde,

Klatsch und Neid entwickelten sich über alle Maßen. Die Abhängigkeit erzeugte Servilität; die ewige Bevormundung

zusammen mit der Abwesenheit allgemeingültiger Formen hatte jene Unsicherheit und Befangenheit

zur Folge, die

noch heute unsern Landsleuten anhaftet, sobald sie aus dem gewohnten Kreise der „Gemüthlichkeit" oder dem

Arbeitszimmer heraustreten und welche den Ausländern

so leicht als Ziererei vorkommt.

„Les ADemands sont

les plus sinceres des bommes, mais non pas les plus naturels,“ sagte der junge CH. de Rönmsat von uns, als er seine erste Reise durch Deutschland machte.

Immer

bester freilich, als wenn man von uns sagen könnte, wir seien die natürlichsten, aber nicht die wahrsten Menschen.

Auch von jener Kleinlichkeit im geselligen Verkehr, welche sich im 17. Jahrhundert entwickelte, sind noch nicht alle

Spuren verwischt und nicht mit Unrecht meint G. Freytag, unter jenen Verhältnissen wären „im Wesen der Deutschen einige Eigenschaften herausgebildet worden, welche noch

heute nicht ganz verschwunden seien; Sucht nach Rang

und Titeln;

innere Unfreiheit gegen Solche, welche als

Beamte oder Betitelte in höherer Stellung leben; Scheu

vor der Oeffentlichkeit; und vor Allem auffällige Neigung, das Wesen und Leben Andrer grämlich, kleinlich und stop-

tisch zu beurtheilen."

Und was hätten sie anders beur­

theilen und besprechen sollen?

Von aller Theilnahme,

oder doch wenigstens aller bestimmenden Theilnahme an

den Staatsgeschäften ausgeschlossen,

lichkeit,

ohne ein

Gemeinwesen,

Hillebiand, Culuu geschichtliches.

ohne alle Oeffent­

das den vereinzelten 5

66 Gliedern belebendes Blut zugeführt hätte, ganz auf die

Amtsstube und die Kneipe angewiesen, ohne commercielle, wie ohne politische Beziehung zum Ausland, in armseligen Verhältnissen, immer mit dem Bedürfniß ringend, —wie hätte sich der Mittelstand zu freier und und großer Welt­ anschauung aufringen können? Nur äußerst langsam mehrte sich der nationale Reichthum — denn Handel und

Großgewerbe erhoben sich erst wieder — und mit ihm entfaltete sich in unserm Jahrhundert ein freies Bürgerthum nach Stein's Verwaltungs- und Eigenthumsreformen, der Abschaffung der Privilegien, nachdem der Zollverein die

inneren Schranken beseitigt, die Flußzölle abgelöst, das Münzwesen immer mehr vereinfacht worden ist: denn unsre Väter haben noch alle jene willkürlichen Hemmnisse des Handels und Verkehrs in voller Blüthe gesehen, welche Deutschland, man möchte glauben, geflissentlich hindern sollten, die zweihundert Jahre Vorsprung, welche der dreißigjährige Krieg den übrigen Nationen vor uns ge­ geben, wieder einzuholen. Wie sich nun das Leben räumlich zersplitterte, Stadt mit Stadt fast alle Fühlung verlor, so theilte es sich auch ständisch: das Heer vom Beamtenstand, das Bürger­ thum vom Landadel, der immer mehr verwilderte, ver­ armte und, dem Gemeinwesen unnütz, seine Kraft ver­ geudete, bis er durch die preußische Armee zum Dienste

des Staates herangezogen wurde und sich nach und nach wieder in's nationale Leben einlebte. Unter diesen so getrennten Ständen nun ward bald das studirte Beamtenthum vorherrschend, eben weil der Landesfürst, dessen Organ es war, die einzige anerkannte Autorität bildete. Es ward für Deutschland, was der Großhandel-

67 itanb, der Waffen- und Gerichtsadel, die Gentry für

Italien, Frankreich und England waren: der herrschende Typus der deutschen Gesellschaft im 18. Jahrhundert. WaS sonst noch

an

„Honoratioren" in einer Keinen

Stadt lebte — der Professor, Arzt, Anwalt, die wenigen gebildeten Kaufleute — modelten sich nach ihm.

Es

war aber kein unabhängiger Stand, wie der wohlhabende,

unabsetzbare,

französische

Gerichtsadel.

Der

deutsche

Richter war ein Werkzeug des Fürsten wie jeder Beamte, erhielt aber nicht den fürstlichen Gehalt, der dem eng­ lischen Richterstand erlaubt, eine so große gesellschaftliche

Rolle zu spielen, sondern war und blieb auch ein, in dieser wie in jener Hinsicht, bescheidener unterwürfiger

Beamte: redlich, fleißig und pflichtgetreu, aber ohne be­

stimmenden Einfluß in Staat oder Gesellschaft, arm und bedürftig, schüchtern und demüthig.

Schon seit dem Be­

ginne des Jahrhunderts hatte man wieder, wie in früheren

Zeiten, zu Bürgerlichen greifen müssen und der Amts­ titel verlieh jetzt Rang in Gesellschaft, wie vorher der Geburtstitel. Es mußten „studirte" Leute sein und da alle

jene sogenannten Honoratioren in die Lateinschule gingen —

die einzige Schule, welche ein solcher Ort besaß — so be­

kamen auch Alle, selbst die wenigen Kaufleute, die mit ihnen verkehren durften, eine gemeinsame und zwar ge­

lehrte Bildung, was nun wieder der Weg zum Heil

wurde. Wie durch die Zucht dieses BeamtenthumS allmälig

der Staat wieder erstarkte, so durch seine Vorschule das

geistige Leben der Nation.

Aus Gymnasium und Uni­

versität ist unsere neue Literatur hervorgegangen, welche auf mehr denn hundert Jahre für Deutschland das sein 5*

68 sollte, was die Kunst einst für Italien, die Politik für

England gewesen war: das nationale Interesse, das der

ganzen Cultur ihre Signatur gab.

Kein Wunder, daß

diese Literatur eine kritisch gelehrte war, innig verbun­

den mit der Wissenschaft, durchdrungen von der Philo­ sophie, gepflegt vom Lehrerstande — eine Profefforenund Pfarrerliteratur, wie sie kein Volk und keine Zeit

je gekannt.

Das hat denn wohl seine Nachtheile, es hat

aber auch seine Vortheile für uns gehabte unsere schöne

Literatur schildert meist kleine Verhältnisse; ihr Ton ist

oft ein zu lehrhafter, ihrer Form mangelt es zuweilen an Eleganz; die Interessen, um die sie sich dreht, sind rein geistige; es weht kein Luftzug öffentlichen Lebens

durch ihre Seiten und bei ihrem vorherrschenden Idealis­ mus kommt die Wirklichkeit ost zu kurz; aber welchen

inneren Adel verleiht ihr auch wieder dieser Idealismus! Welche Tiefe dieses Vorherrschen des Seelenlebens des.

Einzelnen über das Außenleben der Gesammtheit! Eben

weil die Kreise, aus denen diese Literatur hervorging, der Wirklichkeit so ferne standen, konnten wir zu dieser einzigen Freiheit der Weltanschauung kommen, welche

unsere Nation vor allen Andern auszeichnete.

Eine fest­

gefügte Gesellschaft hält nur durch den Kitt der Vorurtheile, der Conventionen zusammen; der Charakter unserer

Cultur aber war die Vorurtheilslosigkeit während jenes Jahrhunderts.

Man denke an das Leben in Weimar

und Berlin; man vergegenwättige sich die Stellung der Juden, der Komödianten;, die Toleranz in Beurtheilung

der Eheverhältniffe — man kann sagen, unsere Literatur,

geboren zur Zeit der Empfindsamkeit, hat eigentlich erst die Liebesheirath in Deutschland eingeführt, wo bis dahin

69 allein die Vernunftehe gelitten war — man denke an die religiöse Duldung bei so tiefem religiösem Sinne. Diese Literatur vor allem gab uns die geistige Einheit, die dann thatsächlich auch der staatlichen Einheit den Weg gebahnt hat. In der That hatte die Nation durch

sie wieder einen Mittelpunkt gefunden, um den sie sich sammeln konnte. Das literarisch-wissenschaftliche Interesse trat für eine Zeit durchaus in den Vordergrund. Im Gegensatz zu dem, was bei allen anderen Völkern gesehen

worden, folgten die höheren Stände freiwillig der Leitung des Lehrstandes: Fürsten, Edelleute, Officiere, Beamte, Kaufleute, Frauen empfingen ihre Bildung, ja ihr ganzes geistiges Leben von diesem Stande. Die Frauen nament­ lich standen von Anfang an in engster Beziehung mit dem Gelehrtenthum und wirkten auf dasselbe fast ebenso sehr, als sie von ihm beeinflußt wurden. Von Sophie Charlotte, der Freundin Leibnitzens, bis auf Wieland's Gönnerin, Anna Amalia, zählt Deutschland überall aus­ gezeichnete Fürstinnen und Edelfrauen, welche das geistige Leben förderten. Man weiß aus Herder's und Goethe's Leben, welchen Einfluß Marie zur Lippe und Fräulein von Klettenberg auf die religiösen Anschauungen dieser unserer Culturbegründer gehabt. Wem ist die Rolle der thüringischen Damen— einer Stein, einer Kalb, der beiden Lengefeld —, wem die der Berliner Jüdinnen—einer Rahel, Henriette Herz, Dorothea Mendelssohn — nicht lebhaft gegenwärtig? Die Gelehrtenfrauen aber — eine Caroline Herder, eine Ernestine Voß, eine Caroline Schlegel — wett­ eiferten, wie die Frauen des Pempelforter und Ehrenbreit-

steiner Kreises, mit den Großstädterinnen und den adligen Damen. Das Alles soll sich seitdem gewaltig verändert

70 haben:

die Stände haben sich wieder mehr getrennt, so

sagt man,

wie die Geschlechter wieder in ein andere»

Verhältniß

zu einander

getreten find;

sogar religiöse

Gegensätze find, trotz — oder in Folge — verminderter

Religiosität wieder in unser Leben eingedrungen. der weltbürgerliche

Auch

Sinn scheint einem engerm patrio­

tischen Gefühle Platz gemacht zu habm — alles Dinge, die ja wohl nöthig waren, wenn wir dazu kommen sollten,

eine nationale Gesellschaft aufzubauen, und welche auch

gar nicht so schlimm find, als die Bewunderer einer ab­ soluten sittlichen und geistigen Freiheit wohl anzunehmen

geneigt sind, vorausgesetzt, daß sie in Schrankm gehalten werden und nicht in Intoleranz, Kastengeist und starren Convmtionalismus ausartm.

Aber haben wir auch das

Gut wirklich erlangt, wofür wir diesen hohen Preis ge­ zahlt?

Haben wir eine nationale Gesellschaft in dem

Sinne, in dem ich Eingangs davon sprach?

Und wenn

nicht, was haben wir zu thun, um jene sociale Einheit

zu erlangen, ohne doch den Rest von Vorurtheilslosigkeit und Individualismus auftugeben, dm wir noch herüber­ gerettet aus unserer großen Zeit?

Und das ist nur wenig:

denn wenn wir auch noch keine Heerde bildm, wie z. B. die

sogenannte englische Gesellschaft, so bildm wir doch immer noch zwanzig Heerdm, bei denen die Individualität nicht

besser wegkömmt: Liberale, Ultramontane, Professoren,

Kauflmte und was es der Nationen mehr in der Nation

geben mag, bilden Welten für sich, die durch anscheinend unüberbrückbare

Kluftm

von

einander

getrennt

sind

und in jeder dieser Welten giebt's wieder der stillschwei­ genden Freimaurerschasten die Fülle.

Manches ist freilich

schon im Werke, was diesen Zustand innerer Zersplitte-

71 rung zu heilen verspricht ;

vor Allem hat der materielle

Wohlstand, der die Grundlage aller schönen Lebensformen ist, bedeutend zugenommen. Zugleich hat sich unserm ge­

lehrten Mittelständen und armen kleinen Binnenstädtern,

durch den erleichterten Verkehr und die Verbindungen mit fernen Ländern, eine immer weitere Aussicht eröffnet,

haben sich die Berührungen mit der Wirklichkeit zusehends

vervielfältigt.

Immer mehr Jünglinge aus studirten

Kreisen treten in Handel und Gewerbe ein, kämpfen den

Kampf der freien Concurrenz und vermehren zugleich den nationalen Reichthum, indem sie den eigenen Charak­ ter stählen, sich zur Selbstständigkeit heranziehen. Ueberall,

im fernen Osten Jndien's, wie im fernen Westen Amerika's begegnet man unseren Pfarrerssöhnm, die sich als kräftige,

entschloffene,

praktische

Männer

entpuppen

und

als

unabhängige, freie Leute zurückkommen, die nicht mehr vor jedem Polizeidiener zittern. Unser politisches Leben wird von Tag zu Tag öffentlicher, und in dieser Oeffentlichkeit verschwindet immer

mehr jmes kleinliche Interesse ftir's Privatleben, welches selbst in der besten Zeit unserer geistigen Geschichte so

peinlich wirkte.

Die staatliche Einheit hat uns nicht nur

ein gewisses Selbstgefühl gegeben, das uns sehr mangelte und das bei allen Gutm ebenso entfernt von nationalem Dünkel als von der früheren Demuth ist, sie hat uns auch ein gemeinsames politisches Interesse gegeben.

Die

Armee, der wir so unendlich viel verdanken, die aber trotz des

großen,

nationalen Aufschwungs von

1813 doch

während des langen Friedens noch viel von ihrer junker­

lichen Ausschließlichkeit bewahrt hatte, ist seit unserer

staatlichen Wiedergeburt der Nation wieder näher ge-

72 treten, verschmilzt immer mehr mit ihr.

Ist sie doch

jetzt für ganz Deutschland die gemeinsame Schule, in

der sich die Söhne aller gebildeten Stände erst als Frei­ willige, dann als Reserve- oder Landwehrofficiere

be­

gegnen — und ich müßte mich sehr irren, wenn dieser

Bürger-Officier nicht einmal der Typus der deutschen Gebildeten werden sollte, wie der Mann der Gentry, der Gentleman, der der englischen geworden ist, zumal wenn

das Freiwilligenthum durch Hinausrücken der Berechtigung in die letzte Gymnasialklaffe wirklich wieder auf die Ge­

bildeten beschränkt wird,

anstatt wie jetzt viele uneben­

bürtige Elemente aufzunehmen, und wenn das Officiercorps der stehenden Armee sich, wie's seit fünfzehn Jahren

geschieht, täglich mehr aus den bürgerlichen Kreisen zu recrutiren fortfährt.

War bislang

der Beamte mit

seinen bald philisterhaften, bald burschikosen Gewohnheiten

der vorherrschende und tonangebende Repräsentant der

deutschen Gesellschaft, so wird's immer mehr der unab­ hängige Kaufmann und Industrielle, der zugleich Officier im nationalen Heere ist und dessen allzugroße Bequem­

lichkeit durch die soldatische Zucht, dessen militärische

Steifheit durch die Gewohnheit der freien Bewegung vor-

theilhaft corrigirt werden. liche.

Doch dies ist nur das Aeußer-

Wie unsere Beamten auf der Universität den Geist

wiffenschaftlicher Bildung und idealer Freiheit athmen,

welcher sie so hoch über die Commis der französischen Bureaukratie erhebt,

so

begegnen

sich

unsere jungen

Männer während ihrer Militärpflicht im Dienste eines

Höheren, Außergewöhnlichen, was einer ganzen Cultur eigentlich erst ihre Weihe giebt.

Allerdings erzieht diese

militärische Schule unsere Söhne doch in erster Linie

73 nur zu Deutschen, will sie nur zu Deutschen erziehen.

Sie sollten aber auch zu Menschen erlogen werden: das thun unsere Gymnasien, unsere Realschulen, unsere Handels­

schulen, Cadettenschulen nicht, oder nicht mehr: sie er­ ziehen sie zu Kaufleuten, zu Profefforen, zu Ingenieuren

und Militärs, was Alles erst die Aufgabe der Fachschulen, der Lehrzeit oder des Lebens ist.

Dagegen muß ge­

arbeitet werden, als gegen die größte Gefahr, welche der

deutschen Cultur droht.

Erst wenn wieder alle Söhne

der Gebildeten, welche Laufbahn sie auch später ergreifen mögen, bis zu ihrem achtzehnten Jahre auf derselben

Bank sitzen, an denselben Vergnügungen Theil nehmen, an derselben Quelle ihre geistige Nahrung schöpfen, kann auch wieder von einer deutschen Gesellschaft die Rede sein; nur so können wir uns, wie wir uns die literarische

Einheit erarbeitet, die staatliche Einheit erfochten haben,

die gesellschaftliche Einheit, die wir Alle vermissen, an­

erziehen.

in. Illngdeutsche und Kleindeulsche (1830—1860).* Eine Vorlesung. Deutschland

hat

seit 1830

nicht

brach gelegen.

Es hat einen Dichter von Gmie und viele von Talent

hervorgebracht.

Es hat der Welt große wissenschaftliche

und historische Werke gegeben, welche selbst in der Epoche,

die wir zusammen finden.

studirt haben, ihres Gleichen nicht

Große Entdeckungen in bett Naturwissenschaften

sind gemacht worden. ken,

wie

Aber neue, bahnbrechende Gedan­

die der sechszig bis siebenzig Jahre,

betrachtet haben, sind

Wissenschaft

nicht hebvorgetreten.

ist geschaffen worden.

die wir

Keine neue

Der deutsche Geist

ist eben seit Goethes Tode damit beschäftigt gewesen, die

Ideen der drei Generationen von 1760, von 1780 und

von 1800, denen die Nation ihre Wiedergeburt verdankt, weiter zu entwickeln und praktisch zu verwirklichen, aber

auch sie zu bestreiten und umzugestalten.

Wir haben

diese Ideen mit einander geprüft, und ich brauche nicht * Dieser, bereits 1881 in der „Gegenwart" veröffentlichte Aufsatz bildete das Nachwort zu einem Cyklus von 6 Vorlesungen über „die Entwickelung der deutschen Weltanschauung vom siebenjährigen Krieg bis zum Tode Göthes", welche der Verfasser int Frühjahr 1879 in der Royal Institution in London hielt. Hieraus erklärt sich die

Form der Anrede, in der er abgefaßt ist, wie das häusige Ver­ weisen auf Vorhergehendes. Die Herausgeberin.

75 länger dabei zu verweilen — oder wenn ich es thun

wollte, so müßte ich Sie um fünfzig Zusammenkünfte mehr ersuchen —, wohl aber bitte ich Sie, im Auge zu behalten, was ich als das eigentliche Wesen und die Ab­ sicht dieser Vorlesungen betrachtet wissen möchte: den Nachweis nämlich, daß die Weltanschauung, welche sich

für die letzten fünfzig Jahre als die europäische bezeichnen läßt, in Wahrheit von Deutschland eröffnet worden ist. Lassen wir uns nicht, weil gewisse Gedankenströmun­ gen die ganze Welt durchziehen, über deren Ursprung täuschen. Als ganz Europa an der mechanischen Natur­ erklärung mitzuarbeiten schien; als Galilei, Kepler, Des­ cartes dieser Aufgabe ihr Leben weihten, war es doch immer England, welches, nachdem es durch Harvey, Gil­ bert, Bacon den Anstoß gegeben, durch Hobbes, Newton, Locke die Leitung der Bewegung in Händen hielt. In ähnlicher Weise breitete sich die französische Welt­ anschauung des vorigen. Jahrhunderts aus. Kaum hatten die Montesquieu und Voltaire, die Rousseau und Diderot ihren Ideen Ausdruck gegeben, so gingen diese Ideen so­ fort in die europäische Circulation über, um überall

gleichsam in Landesmünze umgeprägt zu werden. Die­ selbe Erscheinung kann in den verschiedenen Phasen des Zeitalters beobachtet werden, während dessen Deutsch­ land die geistige Hegemonie besaß, d. h. etwa von 1763 bis 1830. Kaum hatte Winckelmann der Herrschaft des Rococo den Krieg erklärt, so schlugen überall in Europa die Skulptur, die Malerei und die Baukunst die neue klassische Richtung ein. Und als fünfzig Jahre später eine Reaktion gegen den style empire eintrat — der

ja nur eine Uebertreibung der Winckelmann'schen Theorien

76 war — als Chateaubriand in Frankreich und Walter Scott in England das Mttelalter in die Mode brachten, folgten sie, wenn auch nur unbewußt, der durch die deut­ schen Romantiker gegebenen Anregung. Das Gleiche endlich war der Fall mit der noch wichtigeren Umwälzung

in den historischen und Naturwiffenschaften, auch sie ergriff

von Deutschland aus ganz Europa. Nicht allein Augustin Thierry und Thomas Carlyle wären ohne die deutsche Gedankenrevolution unmöglich gewesen, auch die Betrachtungsweise, welche unser Jahr­ hundert dem Alterthum entgegenbringt und die so sehr von der Pope's und Voltaire's abweicht, auch sie ist das Werk Winckelmann's und Lessing's. Wenn nicht die Methode, so doch der Standpunkt, der heutzutage in der Naturwissenschaft der allgemein anerkannte ist, wurde zuerst von Goethe eingenommen. Die historischen Wiffenschaften — und darunter begreifen wir nicht allein Staats- und Literaturgeschichte, sondern auch Theologie, Philologie, Archäologie und Jurisprudenz — haben wäh­ rend des ganzen Jahrhunderts unter dem Einflüsse von Herder's Evolutionsideen gestanden, haben sich diesem Einflüsse auch heute noch nicht entzogen. Die verglei­ chende Linguistik, mögen wir sie nun als einen Zweig der Geistes- oder der Naturwissenschaften betrachten, hat noch nicht die Bahnen verlassen, welche W. von Hum­ boldt und Bopp eröffneten; und die romanische Philo­ logie hat bis jetzt ebenso wenig die Vaterschaft Diez'

verleugnet, als die germanistische nette Fundament der Philosophie worden. Schiller's Auffassung der mehr Anhänger gewonnen. Die

die Grimm's. Das ist von Kant gelegt Kunst hat sich immer Religionswissenschaft

77 und die unbefangene Gesinnung, in welcher unsere Zeit die Geschichte des Christenthums behandelt und we.lche sich so sehr von der Feindseligkeit des vorigen Jahrhun­

derts unterscheidet, dankt Europa den deutschen Jüngern

Herder's.

Vor Allem aber die Bewußtheit, mit welcher

der Individualismus — ein, wenn auf deutsche Weise verstanden, conservatives Princip — noch hier und da

der überwältigenden Fluth der Gleichmacherei unsrer Zeit

widersteht, ist deutschen Ursprungs.

Ebenso die Bewußt­

heit, mit der das Recht der genialen Anschauung — eines aristokratischen Princips — noch gegen die Alles

erobernde Methode der Analyse und des Rationalismus aufrecht erhalten wird, eine Methode, die in ihren letzten Ergebnissen ja immer das demokratische Interesse fördern muß, weil sie sich an die allgemeinste der menschlichen

Thätigkeiten

wendet.

Die Thatsache dieses Kampfes

genügt, um zu beweisen, daß die Grundideen der deutschen

Weltanschauung nicht ohne Widerspruch in Europa triumphirt haben.

Und übrigens läßt sich kaum behaupten,

sie hätten in Deutschland selbst triumphirt; denn auch da sind sie durch neue Strömungen bedeutsam modificirt

und corrigirt worden, gerade wie sie ihrerseits die eng­

lischen und französischen Strömungen der Vergangenheit bedeutsam modificirt und corrigirt hatten.

„Die Romantiker waren Leute, welche mit den ihnen

durch die Epoche der Aufklärung . . . gelieferten Waffen die Aufklärung bekämpften in Wissenschaft, Kunst, Ethik

und Politik."

Mit diesen Worten charakterisirt einer

der begabtesten Junghegelianer, welche um 1830 gegen die Romantik

ausstanden, Arnold Rüge,

seine Gegner.

In der That rief die Uebertreibung der romantischen

78 Bewegung, wie es immer der Fall sein muß, eine starke

Gegenbewegung hervor.

Diese Reaktion fand auf allen

Gebieten des geistigen Lebens statt, wie ja auch die Ro­ mantik

hatte.

alle Gebiete

der geistigen Thätigkeit ergriffen

Das historische Princip war so auf die Spitze

getrieben worden, daß es zu der Rechtfertigung jedes Mßbrauches und jedes Verbrechens der guten alten Zeit hergehalten hatte, ja zu Plänen und Bemühungen die

Welt in jene gute alte Zeit zurückzuversetzen.

Hegel selbst ging nicht so weit.

Er blieb bis zuletzt

dem Ideal des modernen Staates und der protestantischen

Religion treu.

Feudalität

und Katholicismus blieben

ihm allezeit Dinge der Vergangenheit, welche durch keine Anstrengung wieder ins Leben zu rufen waren; aber er

sah in dem büreaukratischen Staate Friedrich Wilhelm'SlII.

das krönende Ergebniß aller historischen Evolutionen, das Ziel, auf das die ganze Geschichte Deutschlands hinge­

steuert habe.

Er betrachtete die „evangelische Union"

Friedrich Wilhelm's III., deren Zweck war, Reformirte

und Lutheraner zusammenzubringen, als den letzten Aus­ druck der religiösen Entwickelung seines Landes.

Run

war aber diese Entwickelung — wenn wir der Identitäts­

philosophie glauben sollen, die er modiftcirt, aber nicht

aufgegeben hatte — nichts Anderes als die Entwickelung der Weltvernunst selber in Zeit und Raum; und er gab dieser Ansicht ihre philosophische Formel, wenn er erklärt:

„Alles Seiende ist vernünftig

und

alles Vernünftige

seiend", — eine wohl zu pertheidigende Theorie, wenn man nur Hegels Prämisse annimmt, nämlich: daß seine dialektische Methode ein Denkproceß sei, identisch mit dem

Proceß der Dinge an sich, welch letzterer hinwiederum

79 nur der Proceß des sich selbst denkenden ewigen Gedan­

kens sei.

Hegel hatte der Werdeidee Herders eine dialek­

tische und metaphysische Form gegeben, denn die „imma­

nente Negativität" der Dinge — d. h. daß jedes Ding sich ohn' Unterlaß selbst negirt, weil es sich ohn' Unterlaß

verändert — ist in der Form des Gedankens dasselbe,

was der Werdeproceß in der Erscheinungswelt ist.

Auf

dieselbe Weise hat er es unternommen zu beweisen, daß das Christenthum dem Bewußtsein des Absoluten in seiner

reinsten Gestalt, soweit Phantasie und Gefühl in Betracht

kommen, Ausdruck gegeben habe, daß es folglich die abso­ lute Religion sei, wie seine Philosophie natürlich die abso­ lute Philosophie war.

Zuletzt war er so weit gegangen,

alle die verschiedenen Dogmen des Christenthums so zu

deuten, daß sie Symbole seiner eigenen Philosophie nmrbeit.

Dies

forderte

Schüler heraus.

die

Rebellion

seiner

bedeutendsten

Strauß und Feuerbach, B. Bauer und

A. Rüge trennten sich von ihm und bildeten den linken

Flügel des Hegelianismus oder wie sie sich selber nannten, der „Junghegelianer". Strauß griff den Supernaturälismus sowohl als den theologischen Rationalismus mit

den Waffen der historischen Forschung „Leben Jesu", welches 1835 erschien.

an in seinem

Hegels früheren

Ideen getreu, stellte er in diesem denkwürdigen Buche den Ursprung des Christenthums als natürlich aus den Gedanken, Gefühlen und Zuständen der Zeit herausge­ wachsen dar, nicht als auf einen Schlag, durch einen

Zauberstab

geschaffen.

Er zeigte,

inwieweit Legende,

Mythe und Volksphantasie an der Entstehung des Christen­ thums theilgenommen, indem er gleicherweise die über­ natürliche wie die rationalistische Erklärung der Wunder,

80 ebenso warm aber auch die ehrfurchtslosen Ideen des

18. Jahrhunderts bekämpfte, welche in allen Religions­ gründern nur Thaumaturgen und Betrüger gesehen hatten. Er wurde so, zusammen mit F. C. Baur, der zugleich sein Vorgänger und Fortsetzer war, der Vater der neuen

theologischen Schule, welche als die Tübinger Schule be­

kannt ist; während Feuerbach die theoretische Seite von

Hegels Lehre noch strenger der von seinem Meister ge­ lehrten

dialektischen Methode unterzog, indem er

das

Wesen der Religion im Allgemeinen erforschte, und bald

trat eine zahlreiche Schaar junger Denker in seine Fuß­ stapfen.

Eine Rückkehr zum gemeinen Menschenverstand

in der Philosophie, zur Kritik in der Theologie, war die

Folge dieser Anwendung von dem Hohenpriester der „offi-

ciellen" Philosophie. Selbst auf dem Gebiete der heidnischen Mythologie stand der Geist der Aufklärung noch einmal auf gegen den Geist dämmernder Ahnung; und Voß wie Lobeck warfen Creuzer im Namen von Verstand »md Ver­

nunft den Handschuh hin. Etwas Aehnliches erfolgte in der Rechtswissenschaft

und der eigentlichen Geschichte.

Savigny wie Eichhorn

hatten gelehrt, daß unsere Zeit weder Beruf noch Befähi­ gung zur Gesetzgebung habe; daß alle fruchtbare Gesetz­

gebung das Werk von Generationen sei; daß das römische Recht, welches noch in allen Ländern des Continents lebte,

das deutsche Recht, welches noch in England vorherrschte, nur der Ausdruck des Geistes, der Sitte, der Ueberliefe­ rung und örtlichen Bedingungen der Nationen fei. Schon

zu Hegels Lebzeiten hatte sein beredtester Schüler, Gans,

gegen die historische Schule die Rechte der Lebenden ver­ theidigt und zugleich auch die Rechte der Vernunft.

Und

81 inzwischen erschien die erstaunliche Entwickelung der friedericianischen und napoleonischen Gesetzgebung als lebendige

Widerlegung der historischen Theorie, wenn sie so weit

getrieben ward, wie es die Romantiker gethan hatten. Es war noch nicht eine Generation ins Grab gestiegen seit dem großen Werk Bonapartes, und der Code Na­

poleon erwies sich schon als unausreißbar festgewurzelt in Frankreich.

Ja, das nichtpreußische Deutschland be­

trachtete diese einfache verständige Gesetzgebung, welche

so sehr gegen seine eigenen mannigfaltigen, verwickelten und veralteten Gesetze abstach, mit dem Auge des Neides. Wohl hatte Napoleon seinen Code civil sowohl als seinen

Code pdnal und seinen Code de procädure — wie Fried­ rich II. dreißig Jahre vorher sein weniger umfassendes Landrecht — aus Bruchstücken früherer historischer Ge­

setzgebung zusammengesetzt, genau wie seine Verwaltung nur die der alten Monarchie in einer Verkleidung war.

Doch dies wurde eben von dem Geschlechte von 1830

noch nicht klar eingesehen: es war noch überzeugt, diese ganze neue Organisation sei aus des Kaisers Haupt,

wie Minerva aus dem Jupiters, gesprungen und er habe sie ausschließlich gemäß den abstracten Grundsätzen der

Gerechtigkeit und Nützlichkeit gestaltet.

An allen deutschen

Universitäten bestieg das Naturrecht, d. h. die rationa­ listischen Rechtstheorien, wie sie das 18. Jahrhundert seit Thomasius gelehrt, wieder die Katheder und vindicirte

die Rechte der Vernunft gegen den Absolutismus der

historischen Schule, über welche Goethe sich in so geist­ reicher Weise zum Voraus lustig gemacht hatte:

„Es erben sich Gesetz' und Rechte Wie eine ew'ge Krankheit fort, Hillebrand, CulturgeschichtlicheS.

6

82 Sie wälzen von Geschlecht sich zu Geschlechte

Und rücken sacht von Ort zu Ort.

Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage, Weh' Dir, daß Du ein Enkel bist,

Vom Rechte, das mit uns geboren ist,

Bon dem ist leider nie die Frage."

Zahlreiche Geschichtsschreiber schlugen die Wege der neuen rationalistischen Rechtsschule ein. Deutschland ward

mit Geschichtswerken überschwemmt, welche die ganze Ver­

gangenheit mit Beziehung auf die Gegenwart behandelten und sich nicht begnügten, die Thatsachen zu erzählen, sondern dieselben vom Standpunkte der französischen Libe­

ralen oder der französischen Republikaner jener Tage commentirten. Rottecks und Weickers großes Staatslexi­ kon, welches ganz unter dem Einfluffe des formellen fran­ zösischen ConstitutionalismuS geschrieben war, wurde die Bibel der neuen liberalen Doctrinäre, die überall in Deutschland austraten und in den kleinen Kammern von Karlsruhe und Darmstadt die großen rednerischen Tur­ niere von Paris unter der Restauration und Louis Phi­

lipp nachmachten. Wenn der praktischste aller Staats­ männer, wenn Lord Palmerston naiv glaubte, das Recept einer parlamentarischen Verfaffung, reinlich geschrieben auf weißem Papier, könne in Spanien und Griechenland arbeiten, wie das Gebilde der Jahrhunderte, welches die brittische Constitution heißt, in England arbeitet, so waren die deutschen Profefforen von 1830 gewiß zu entschuldi­ gen, wenn sie wähnten, sie könnten diese zarteste und abnormste Regierungsform in ihre bureaukratischen Staa­ ten einführen. Hatten die französischen ConstitutionSfabrikanten, Benjamin Constant an ihrer Spitze, dieselbe

nicht für festländischen Gebrauch hergerichtet?

83

Indeß gab es eine Partei, die noch weiter ging als

die konstitutionellen.

„Jung-Deutschland" — so nennen

wir die Gruppe jugendlicher Schriftsteller, geboren um das Jahr 1810, welche gegen 1830 in die Fußstapfen

Börnes und Heines traten — Jung-Deutschland blieb

nicht bei der Repräsentativmonarchie stehen, wie sie in

der Philosophie nicht beim Deismus stehen blieben, ob­ gleich Heine selber immer der Theorie eines beschränkten

Königthums anhing und am Ende seines Lebens zu dem

„einfältigen Glauben an den lieben Gott des gemeinen Mannes" zurückkehrte, wie er selber zu sagen pflegte.

Laube und Gutzkow, Wienbarg und Rüge griffen das

Christenthum und sogar das Hegelthum, in welchem sie groß geworden, mit der Heftigkeit der französischen Re­ volutionäre von 1792 an.

Sie legten eine ausgesprochene

Hinneigung zum Atheismus und Materialismus in der Philosophie, zum Jacobinismus in der Politik an den

Tag; sie predigten sogar mit den Saint-Simonisteu die

Emancipation der Frauen und die Abschaffung des persön­ lichen Eigenthums. Geister.

Sie nannten sich stolz „moderne"

Sie erhoben Einsprache gegen jede Form der

Aristokratie, der gesellschaftlichen sowohl als der geistigen. Der Staat sollte die eine Alles regelnde Macht werden,

aber nicht der historische Staat, wie er im Laufe der

Jahrhunderte emporgewachsen, sondern der moderne Staat, aufgebaut nach den Vorschriften der Vernunft — oder Jean Jacques'; nicht einmal der Staat von 1790, son­

dern der demokratische von 1793.

Die Stelle, welche

bis dahin die Großen — Könige, Aristokraten, Genies — eingenommen, sollten fortan vom Volke eingenommen

werden, das zum Helden der Geschichte und des öffent-

6*

84 lichen Lebens roetben sollte.

Zugleich forderten sie, nicht

nur für das Volk, sondern für sich selber, das Recht auf

materiellen Genuß, ja auf Luxus; nicht die Gleichheit im Elend, sondern die Gleichheit im Wohlstand war ihr unerreichbares Ideal.

Ihre Religion war die Wiederher­

stellung des Fleisches; Wissenschaft und Dichtkunst waren ihnen nur Mttel, um ihr neues Evangelium zu predigen und

zu verbreiten. Ihr letzter und gefährlichster Schüler, Lassalle, starb erst vor fünfzehn Jahren, nicht ohne Deutschland sein

verhängnißvolles Vermächtniß hinterlassen zu haben.

Börne und Heine, welche das erste Zeichen zu dieser Reaktion zu Gunsten des Rattonalismus gegen die Ge­ schichte, und der französischen Idee gegen die deutsche

gegeben hatten, gingen, wie gesagt, nicht so weit.

Heine

war zu sehr Künstler, um von solchen Ausschreitungen nicht verletzt zu werden; Börne zu sehr Stoiker, um solche Ausschreitungen mitzumachen: sein Ideal war der

unbestechliche Robespierre, nicht der Epikuräer Danton. Heinen lieferte die Politik wie die Religion, die Geschichte wie die Philosophie nur die Themata für seine dichte­ rischen Variationen.

In Wirklichkeit waren sie ihm so

gleichgültig, als die religiösen Gegenstände der großen

Kunstwerke der italienischen Renaissance den Künstlern,

die diese Werke hervorgebracht

haben.

Trotz

alledem

waren es Börne und Heine, welche das Beispiel gegeben hatten.

Heine selber hatte, wie ich schon bemerkt, der

romantischen Schule angehört, ja er war der persönliche Schüler A. W. Schlegels gewesen.

Er hatte mit zwei

romantischen Tragödien angefangen, welche nur zu deut­ lich die Spuren des Einflusses seines Lehrers

an

sich

tragen und es war ihm vorbehalten, im „Atta Troll"

85

und im „Romanzero", das zu schaffen, was die Roman­

tiker selber nie fähig gewesen waren zu schaffen:

das

ideale romantische Gedicht; selbst die so sehr anempfohlene

Ironie Friedrich Schlegel's fehlte nicht darin.

Allein

Heine war immer ein etwas undisciplinirter Schüler ge­ wesen.

Schon mit sechszehn Jahren hatte er sein Lied

von den napoleonischen Grenadieren gesungen,

welches

mit der ganzen Richtung seines Lehrers im Widerspruch

stand; und Sie misten, wie er das Thema des Napoleon­ cultus in dem unvergleichlichen Prosagedicht vom „Tam­

bour

Legrand"

darstellte.

Nun

vernachlässigte

aber

Deutschland eine Zeit lang Heine, den unsterblichen Dichter, für Heine den ephemeren Politiker und Philosophen — es giebt viele Ausländer, die das immer noch thun —

und

ließ

sich von dem unwiderstehlichen Zauber einer

Prosa und eines Verses, wie es sie seit den großen Tagen Goethe'« und Schiller's nicht mehr gehört, dazu verführen,

die dürftigste aller Lehren anzunehmen, während Börnes

unerreichter Witz eine Zeit lang vergessen machte, daß sein politisches Ideal noch seichter war als das Heine's. Die befreiende Bewegung von 1813, die Erhebung

der ganzen Nation gegen das fremde Joch, hatte unter

der Inspiration der Romantik stattgefunden. die Gestalt

Sie hatte

eines Kreuzzugs angenommen, nicht allein

-egen Napoleon und die Franzosen, sondern auch gegen

Radikalismus, Demokratie und die kosmopolitischen Forde-

-rungen des 18. Jahrhunderts und der großen Revolution. Sie hatte sich an den christlich frommen Sinn, die deutsche

Vaterlandsliebe, die feudale Treue gegen die angestammten

Fürsten gewendet;

und diese Gefühle waren noch sehr

stark, als Börne und Heine gegen 1825 den Aspira-

86 Honen des jungen Geschlechts Ausdruck gaben, welches die

Härte des fremden Druckes nicht gefühlt und dem die staatliche Wirklichkeit, welche der begeisterten Erhebung von 1813 gefolgt war, nur bitterste Enttäuschungen ge­

bracht hatte.

Der schamlose Despotismus der Väter des

Vaterlandes — meistens von Napolöon's eigener Mach'

oder wenigstens doch Beförderung —, die kleinliche Ty­ rannei ihrer Werkzeuge und

der' religiöse Fanatismus

oder die religiöse Heuchelet,

welche schon angefangen

hatten sich

in den amtlichen Sphären Süddeutschlands

zu zeigen, waren ganz genügend, die Jugend der romantischen Sache zu entfremden. Es war die Zeit, wo Grabbe

seine Tragödie der „Hundert Tage" schrieb, wo Zedlitz sein Gedicht von der „nächtlichen Heerschau" des todten Cäsar dichtete, wo W. Müller's Griechenlieder und Mosen's

Polengesänge in den Straßen jeder deutschen Stadt wieder­ hallten.

Die Reaktion zu Gunsten des Kosmopolitismus

und des Humanitarismus gegen patriotische Einseitigkeit,

und französischer Sympathien

gegen deutsch-nationale

Vorurtheile war zugleich eine halbe Rückkehr zu den Ideen, welche in den Zeiten Schiller's und Goethe'« geherrscht

hatten und deren Darstellung der eigentliche Gegenstand dieser Vorlesungen gewesen

ist.

Eine halbe Rückkehr,

sage ich — denn indem man der Aristokratie die Demokratie,

dem Individualismus die Maffen, den Ideen des Wach­

sens und Sichentwickelns das mechanische Machen des Staats und der Gesetze entgegenstellte, war man ja im Widerspruch mit der Weltanschauung Herder's und Goethe's.

Aber in ihrem Kosmopolitismus und Heidenthum stand die Zeit ganz unter der Herrschaft des großen Humani-

tariers und des großen Heiden.

87 Die franzosenfreundliche, demokratische und rationali­ stische Strömung, welche von Börne, Heine und Jung-

Deutschland ausging, herrschte fast ein Merteljahrhundert vor, von 1825 bis etwa 1850. Als aber, in Folge der fehl­

geschlagenen Versuche von 1848, eine große Ernüchterung eintrat und mehr noch unter den Eindrücken, welcher der Ban­ kerott der französischen Demokratie 1849 hervorrief, kam wie­

der eine entgegengesetzte Strömung in Deutschland obenauf. Schon gegen 1840 hatte diese neue Strömung begonnen, die Strömung des deutschen Nationalfinnes gegen fremden Einfluß und vor Allem gegen Frankreich. Von 1840—1848 waren die Germanistenversammlungen, d. h. Begegnungen deutscher Philologen, Juristen und Historiker, für Deutschland, was die congressi scientifici für Italien waren: Vorwand und Gelegenheit, die Ein­ heit Deutschlands zu verkünden und anzubahnen. Denn es stand geschrieben, daß unsre politischen Ideen ihre Gestalt von Profefforen empfangen sollten, wie Profefforen unseren literarischen und künstlerischen, unseren religiösen und philosophischen Ideen ihre Gestalt gegeben hatten. Wohl waren die beiden Männer — der, welcher uns eine nationale Dichtung und der, welcher uns einen nationalen Staat gegeben hat — keine Profefforen; aber hätten sie ihr Werk ausrichten können, wenn die Profefforen nicht den Boden für sie vorbereitet hätten? Würden sie es nicht in noch befriedigenderer Weise ausgerichtet haben, wenn die

Profefforen nicht fortgefahren hätten sich hineinzumischen?

Der Ausbruch des französischen Chauvinismus — das häßliche Wort scheint in allen neuen Sprachen Bürger­ recht erworben zu haben — und die Eroberungslust, welche die Franzosen 1840 verriethen, die Rufe nach dem Rhein»

88

welche in Paris erschollen, sobald nur Europa durch die orientalischen Verwicklungen mit einem allgemeinen Krieg bedroht war, trugen nicht wenig dazu bei, diese Strömung zu verstärken, namentlich in den bedrohten linksrheinischen Provinzen, welche ein besonderer Heerd der romantischen Bewegung gewesen waren. Doch war diese Strömung nichts desto weniger sehr verschieden von der von 1813, und sie wurde es nimmer mehr nach 1848, nachdem die romantischen Träume einer Wiederherstellung von Friedrich

Barbaroffas Reich unter der Form eines Siebzig-MillionenDeutschlands die Gründung des nationalen Staats ver­

hindert hatten. Sie war im. Allgemeinen hauptsächlich gegen das gerichtet, was undeutsch war in dem politischen Rationalismus Jungdeutschlands — dessen beste Mäpner, von Börne, Gans und Heine bis auf F. Laffalle, merk­ würdiger Weise wirklich nicht deutschen Blutes, vielmehr Juden von Geburt, wenn auch nicht von Glauben waren. Die Kriegserklärung selbst war ein heftiges Pamphlet gegen Börne aus der Feder Gervinus'. Allein die 1850er Reaktion kleidete sich nicht in ein malerisches und poetisches Costüm wie die von 1813. Die neuen Patrioten hielten es für unnütz und kindisch, ihre Vaterlandsliebe durch weiße Hemdkragen, bloße Hälse und langes Haar an den Tag zu legen. Im Gegentheil affecttrten sie eher ein etwas bürgerliches und unauffälliges Aeußere. Sie fürchteten ja so sehr für unpraktische Schwärmer angesehen zu werden; ihr höchster Ehrgeiz war ja, für „positive" Leute zu gelten. Ihr idealer Typus in der Geschichte war der biedere, ehren­

feste, prosaische Bürger des 16. Jahrhunderts, nicht der romantische Ritter des Mittelalters oder der teutonische

89

Häuptling barbarischer Zeiten. Die Stärke der Nation sahen ste im Mittelstand, und sie wandten sich gegen den Junkeradel ganz ebenso sehr wie gegen die demokratischen Massen. Sie träumten nicht von einem überlieferten

Königthum, sondern von einem Vertragskönigthum, wie es das englische seit 1688 ist. Sie zeigten keinerlei

Sympathien für die Kirche oder irgend welche religiöse Mystik, wie die, welche die Dichter von 1813 inspirirt hatte; sie wünschten im Gegentheil, die Welt recht fest davon zu überzeugen, daß sie Protestanten waren —nüchterne, un­ poetische Protestanten — zugleich aber auch Erben Kants, deffen rein sittliche Religion, ohne Dogmen und Cultus­ formen, die deutsche Religion par excellence sein sollte, d. h. die endgültige Form des Protestantismus, wie für die eng­ lischen Deisten des vorigen Jahrhunderts der Unitarianismus die endgültige Form des englischen Protestantismus war. Wenn sie aber Schüler Kants, des Moralisten waren, so ignorirten sie sehr nachdrucksvoll Kant, den Meta­ physiker. Jung-Deutschland war noch sehr stark mit

spekulativem Geist getränkt gewesen; es war unter Hegels unbestrittener Herrschaft herangewachsen. Die neue Schule wandte entschieden der Metaphysik den Mcken. Während ihrer Herrschaft über die öffentliche Meinung, wo nicht über Staat und Kirche, d. h. von 1850 bis 1866 un­ gefähr, schien sich eine Art von Gleichgültigkeit, um nicht zu sagen Abneigung, gegen die philosophische Spekulation der Nation bemächtigt zu haben, geweckt wie sie war, und ernüchtert aus ihren metaphysischen Ausschweifungen. Sogar in der Behandlung der Wissenschaft ging man bis zum entgegengesetzten Extrem. Der große Vortheil von Kant's Einfluß war gewesen, daß die Wissenschaft während

90 der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts immer im philo­

sophischen Geist getrieben ward.

Gewiß kamen Ueber­

treibungen vor, sowohl in der sogenannten Naturphilo­

sophie, wie in der Philosophie der Geschichte, welche beide nur zu oft die nüchterne und genaue Beobachtung

und Feststellung der Thatsachen verhinderten. Schule wollte positiver sein.

Die neue

Allgemeine Ideen hätten

nichts mit der Wiffenschast zu thun; ja man ging sogar so weit, die Geschichte als eine exakte Wiffenschast zu

behandeln.

Die berühmte „deutsche Methode" datirt von

dieser Zeit.

Phantasie und sogar Intuition wurden aus

den historischen Studien so gut wie aus der Naturforsckung verbannt.

Thatsachen allein sollten ausgesucht,

gesichtet und angehäust werden, keine andere Verbindung der Thatsachen wurde zugelaffen, als die von Ursache

und Wirkung; und die Schüler wurden so gut dressirt,

daß es ihnen schließlich gelang, nicht nur die Thatsachen zu finden, der sie bedurften und sie in dem Lichte zu sehen, welches ihnen diente, sondern auch das Leben aus der Geschichte hinauszutreiben, welche doch nur Entwickelung

des

Lebens ist.

Selbst die gegenwärtige Generation,

welche zur lange vernachlässigten Philosophie zurückgekehrt

ist, wird in ihren Forschungen von einem ganz andern

Geiste beseelt, als der war, welcher in Hegels Zeiten vorherrschte.

Es ist in der That Kant's Kritik der reinen

Vernunft, mit ihrem streng experimentalen

Charakter,

und ihrem Gegensatz zu aller aprioristischen Spekulation, zu welcher der auf die Thatsachen gerichtete Nachwuchs

von heute wieder gegriffen hat.

Mit anderen Worten, die

Enkel sind zu dem Punkte zurückgekehrt, von dem aus ihre Großväter einst ausgezogen waren auf ihre merk-

91

würdige Odyssee, und es kommt ihnen auf ihrer neuen Fahrt all das Licht zu statten, welches der mittlerweile erzielte Fortschritt der Naturwissenschaften auf ihre Bahn

wirft. Aber nicht die zünftigen Philosophen allein, die Männer der Wiffenschaft selbst, namentlich die Physiologen, treten heute mit sicherem Fuße in die Spuren des großen Erneuerers der modernen Gedankenwelt. So völlig aber die Männer von 1850 sich von allen philosophischen Ideen abkehrten, so wenig ver­

schmähten sie politische Ideen; ja, die Geschichte wurde bald unter ihren Händen ein Zeughaus von Argumenten

für ihre politischen Ansichten.

Die „Gothaer" —

so

nannte man sie in Folge des Gothaer Parlaments von 1849, wo sie die Mehrheit bildeten — dachten, wenn sie es auch nicht sagten, die Politik allein verdiene eine mündig gewordene Nation zu beschäftigen. Sie waren tüchüge Liberale constitutioneller Schule; aber ihr Ideal war die alte englische Constitution, nicht die französische

von 1830. Im Allgemeinen hegten ihre Führer, von Dahlmann und Gervinus bis auf Weitz und Gneist, Sybrl und Häufler, entschieden englische Sympathien, bis — ja bis zu einer Zeit, welche jenseits der Grenzen des Vegenstandes liegt, den ich hier zu behandeln habe. Wie die englischen Liberalen der alten Schule, warm sie zu einer Art von Compromiß gelangt zwischen dem politischen Rationalismus und dem „Historicismus". Sie hielten noch fest an der deutschen Idee der Entwicke­

lung — der einzigen großen deutschen Idee, der sie treu bliebm; aber sie corrigirten dieselbe bewußt, wie die Engkinder fast unbewußt gethan hatten, durch die An-

paffmg der Vergangenheit an die Forderungen der Gegen-

92 wart.

Sie sahen historischen Sinn nicht in der Rückkehr

zur Vergangenheit, oder in einem Jnnehalten in der Geschichte an einem gegebenen Punkte, sondern im fort­

währenden Fortschritt.

Ueberdies, da sie- obschon meist

Professoren, praktische Politiker zu sein behaupteten, keine Träumer und Theoretiker, so war's ihnen nicht darum zu thun, Friedrich den Rothbart in seinem Kyffhäuser zu wecken

und das „heilige römische Reich deutscher Nation" mit seinen 70 Millionen Seelen und seiner Herrschaft über Ungarn und Italien, Polen und Burgund wieder ins Leben zu rufen.

Sie wollten nur einen Nationalstaat haben, der

stark genug wäre, sich ftemder Angriffe zu erwehren,

nicht so mächtig, daß er die Furcht oder den Argwohn benachbarter Nationen hervorriefe, ein Staat gleich denen, welche Ludwig XI. von Frankreich, Heinrich VII. von

England, Ferdinand der Katholische von Spanien ge­

gründet oder doch vollendet hatten.

In Folge dessen

legten sie höchst bezeichnender Weise Protest ein gegen die Ottonen und Friedriche des Mittelalters, die anstatt

die verständige und maßvolle Polittk Heinrich des Finklers zu verfolgen, sich in Rom die Cäsarenkrone holten.

Und

da Oesterreich noch als der natürliche Erbe des heiligen

römischen Reiches betrachtet wurde, und sich selber als solchen

bettachtete; da seine Besitzungen zum großen Theile außer­ halb der Grenzen der deutschen Sprache und der deutschen Interessen lagen; da-es durchaus katholisch war: wurde

der Ausschluß Oesterreichs ein Artikel und Hauptartikel des

neuen politischen

zwar der

Glaubens.

Daher

der Name der Partei „Kleindeutsche", im Gegensatz zu jenen im Jahre 1848 noch zahlreichen Nachzüglern der

romantischen Schule, welche die deutschen Interessen „am

93 Mincio" vertheidigt wissen wollten, Oesterreich als den

Vorkämpfer deutscher Größe ansahen und gewöhnlich die

„großdeutsche" Partei genannt wurden.

Die Kleindeutschen hatten in der That von Anfang an die klare Einsicht, daß das protestantische Preußen die Macht

sei, welche den ersehnten Nationalstaat zu verwirklichen

bestimmt wäre, stark genug seine Unabhängigkeit zu ver­

theidigen, ohne doch nach einer politischen Hegemonie in Europa zu trachten, wie die, nach welcher ein Karl V. oder Ludwig XIV. die Hände ausgestreckt, und wie sie

noch in den Köpfen der Patrioten von 1813 gespukt, als sie davon träumten, den Tod des jungen Konradin zu rächen und das Reich seines Ahnen wiederherzustellen.

Ihr Ziel sollte ein durchaus realistisches sein; ja sie hingen gerne eine Verachtung für hochfliegende oder em­ pfindsame Ideen heraus, welche im Auslande nicht genug­

sam als die fanfaronnade de vice aufgefaßt ward, die sie im Grunde war.

Es lag ihnen so sehr am Herzen,

der Welt zu zeigen, sie seien nicht mehr schüchterne,

bescheidene,

träumerische Gefühlsmenschen, daß sie

manchmal übertrieben;

denn sie reagirten

es

nicht allein

gegen die Laxheit der sittlichen Prinzipien, das Zigeunerthum, den Jacobinismus und

die französirende

Weise

Jung-Deutschlands, deren gallischer Frivolität sie

ihren

teutonischen Ernst entgegensetzten, sondern auch

gegen

die Manie für poetische Phantasiecostüme und den un­ praktischen Enthusiasmus der Patrioten von 1813.

Mehr

als das, sie reagirten auch gegen den Idealismus der

Goethe- und Schiller'schen Zeit, gegen ihren übertriebenen Individualismus, gegen

ihr

ewiges

Sichselbsterziehen,

gegen den ganzen Cultus der schönen Seelen, gegen ihren

94 Kosmopolitismus, auch gegen ihre Humanitätsbestrebungen

und ihre Vorurtheilslosigkeit; vor Allem aber gegen ihre Entfremdung vom öffentlichen Leben, ihre ausschließliche

Bewunderung der Kunst und

des Denkens, als

der

beiden höchsten menschlichen Thätigkeiten. GervinuS bricht am Ende

seiner, Geschichte

der

deutschen Dichtung, welche 1835 bis 1843 erschien und eine Art patriotischen Pamphlets in fünf dicken Bänden war, in folgende Worte aus, welche der halbunterdrückten Idee Ausdruck gaben, die sein ganzes Buch durchzieht,

wie sie die Unterströmung in seiner ganzen Generation gewesen ist: es bedürfe keiner Umwälzung, meint er; „wir

möchten Kräfte endlich gebrauchen, die wir haben . . ., wir begehren ein Regiment, das des Volkes innere Kräfte schätzen lerne und ihnen Spielraum gebe; wir möchten die Nation, die den Kern des Welttheils bildet,

der spöttischen Stellung entnommen sehen, die sie ein­ nimmt; wir wollten die Mündigkeit antreten . . .

Mit

welchen Mitteln aber auch die Erreichung dieses Zieles zu bewirken sein sollte, auf dem Wege unsrer bisherigen

Poesie würde weder der Zweck noch das Mttel erreicht werden ....

Ein Mann thut uns

noth ... wie

Luther war, der jetzt dieses Werk endlich aufnähme, das

der große Reformator schon Lust zu beginnen hatte .... Doch er verzweifelte an diesem Werke und wohl aus dem leidigen Grunde, daß er in diesem Volke keine politische

Natur erkannte. Denn was aus Kraft der Natur geschieht, sagte er, das geht frisch hindurch auch ohne alle Gesetze,

reißt auch wohl durch alle Gesetze; aber wo die Natur nicht da ist und soll's mit Gesetzen herausbringen, das

ist Bettelei und Flickwerk.

Nur so

ganz möchten wir

95 darum doch nicht an diesem Volkskörper verzagen . . . Wir wollen nicht glauben, daß eine Nation in Kunst,

Religion und Wissenschaft das Größte erreicht habe und im Staate gar nichts vermöge . . .

Was an uns liegt,

ist, ob wir die Winke der Zeit verstehen, die Zersplitterung unsrer Thätigkeit aufheben und unser Wirken nach dem

Punkte richten wollm, nach dem die ungestümsten Wünsche am lautesten geworden sind. Der Wettkampf der Kunst ist

vollendet: jetzt sollten wir uns das andere Ziel stecken, das

noch kein Schütze bei uns getroffen hat, ob uns Apollo auch da den Ruhm gewährt, den er uns dort nicht versagte. Der „Mann wie Luther war" kam, und der Erste,

der ihm den Rücken kehrte, war derjenige, der ihn so herbeigewünscht.

Der „Mann aber wie Luther war"

sah, was Luther gesehen hatte, nämlich daß die politische Begabung nicht in der Natur unsrer Nation liege, und

nachdem er umsonst versucht, den Nationalstaat mit Hülfe der Nation zu errichten, errichtete er ihn am Ende ohne

die Nation.

Kaum hatte er aber das Werk gethan, so

überschütteten ihn die Kleindeutschen, die ihn nicht begriffen

und ihn bekämpft hatten, mit Lob; denn sie sahen wohl ein, daß es ihr Traum war, den er verwirklicht hatte.

So rief er sie denn wieder zum gemeinsamen Werk, das darin bestand, das neue Gebäude einzurichten, und sie legten ihre Hand ans Werk, und sie bewiesen von Neuem, daß die politische Begabung nicht in ihrer Natur lag, und so trennten sie sich von Neuem, vielleicht für immer. Nichtsdestoweniger haben sie sich redlich bemüht und

bemühen sie sich redlich, eine politische Nation zu werden. Um zu diesem Ergebnisse zu gelangen, mußte Deutsch­ land, das sich während der vorhergehenden fünfzig Jahre

96 von allen gesellschaftlichen, religiösen und nationalen Vor­

urtheilen fteigemacht hatte, sich dieselben künstlich wieder aneignen, oder doch wenigstens einen neuen „cake of

custom“, einen Complex solcher Vorurtheile Herstellen, wie sie für die prattischen Zwecke eines nationalen und politischen Lebens nothwendig sind.

Ein Mensch, der

alle Seiten einer Frage sieht, den die Leidenschaften des

Patrioten und des Parteimannes nicht rühren, der mehr

daran' denkt, in Ruhe gelassen zu werden, als auf Andere zu wirken, ein Mensch ohne Vorurtheile, in einem Worte,

der ideale Mensch der

Goethe'schen Zett, war wenig

befähigt für die neue Aufgabe. gute,

Für dieses Werk waren

kräftige, enge gesellschaftliche und sonstige Vor-

urtheile eine Nothwendigkeit.

Die Befestigung demnach

von Vorurtheilen, vor Allem dem nationalen Vorurtheile, war das hauptsächlichste, wenn auch unbewußte Ziel der

deutschen geistigen Bewegung seit 1850, und was das nationale Vorurtheil anlangt, so ist die Sache in der That gelungen.

Wann und wo auch immer nationale

Interessen in Frage kommen, halten wir Alle zusammen,

wie unsere Väter es nie gethan, und zeigen einen Gemein­ geist, der ihnen durchaus unbekannt war.

Ich kann das­

selbe noch nicht von den Fällen sagen, wo die Interessen der Freiheit, einer guten Verwaltung, des Freihandelsu. s. w. in Frage kommen.

Es ist etwas Großes, daß

wir wenigstens in nationalen Fragen einig und einver­ standen sind, fast überttieben so.

Wie ich in meiner letzten

Vorlesung sagte*, der Niedergang des Individualismus,, ♦ In der That hatte ich bereits in der fünften (vorletzten) Vorlesung, nach Auseinandersetzung von Schiller's und W. von

Humboldt's Ansichten über ästhetische Erziehung und die Grenzen

97 dem wir seit 1850 beiwohnen, scheint eine Verneinung

der deutschen Idee x«t Qoxqv zu sein.

Allein er war

Punkte nothwendig, eben weil

zu einem gewissen

bis

übertriebener Individualismus den Menschen zum öffent­ lichen Lebm untauglich macht. Eines der ersten Mittel, jene Vorurtheile zu schaffen

und

eine ihrer letzten Folgen,

war die Schaffung des

Rattonalstolzes, einer Tugend oder eines Lasters, welches der Staatswirksamkeit, zum Schluffe folgende Aeußerung über Neu­

deutschland gethan :

„Eines ist immerhin sicher: Schiller's Stand­

punkt blieb der des ganzen Zeitalters in seinen größten Vertretern.

schwache

Die

Seite desselben fällt in die Augen; eine grausame

Wirklichkeit störte Deutschland bald auf, indem sie ihm rauh genug darthat, daß der so verachtete Staat der nothwendige Boden ist, auf

welchem allein der Mensch sich mit Würde und Sicherheit seiner ästhetischen Vervollkommnung hingeben kann.

sich seitdem umgekehrt in Deutschland. Schiller'S Zeit so

ganz

verwischt erschien, ist ausnehmend rege

ist

geneigt,

ihr Alles

Schiller's Idee ist darum nicht erloschen.

So lange

und mächtig geworden,

zu opfern.

Die Dinge haben

Die Staatsidee, welche in

und

die

Nation

der Nationalstaat, dessen Abwesenheit im Augenblick der Noth so bitter

empfunden worden,

noch im Bauen begriffen ist, ist es

natürlich, daß die Nation eine gewisse Einseitigkeit und Ausschließ­ lichkeit nach dieser Richtung hin an den Tag legen muß.

Für den

Augenblick scheint der Individualismus, wie ihn die großen Pfad­

finder der deutschen Cultur gepredigt haben, fast verschwunden.

Die

Nation, in der Madame de Staäl keine zwei Köpfe fand, welche gleich über einen Gegenstand dachten, ist merkwürdig heerdenartig geworden, ja fast einförmig; der große Producent und Consument von Originalideen (als den wir Deutschland kennen gelernt) scheint heute damit zufrieden, von einigen wenigen mechanisch wiederholten Schlagworten zu leben. In der That sind der Individualismus,

der Humanismus, die Vorurteilslosigkeit und

die Abwesenheit

gesellschaftlicher Conventionen, wenn sie soweit getrieben werden, wie sie die Generation von Goethe und Schiller trieb, Hillebrand, Culturgeschichtliches.

7

absolute

98 der großen Periode von 1790 gänzlich unbekannt war.

Dieser neue Patriotismus nun hatte nicht die Unbefangen­ heit des französischen oder griechischen, welcher alle andern Rationen einfach als Barbaren betrachtet; noch die demüthige und empfindliche Zärtlichkeit des italienischen, der fich an sein wieder errungenes Vaterland anschmiegt,

wie eine Mutter an ihr Kind, welches vom Tode gerettet, aber noch schwach und zatt ist und kaum im Stande Hindernisse für das öffentliche Leben, welches nur vom Opfern der

individuellen Interessen und Ueberzeugungen zu Gunsten von Partei­

grundsätzen und Nationalinteressen lebt.

Eine Nation,

Gesellschaftsklasse, oder eine Partei in einer

oder eine

Nation ist nur dann

unwiderstehlich, wenn fie eine ganze Reihe von gemeinsamen. Ge­

danken, Gefühlen und Formen hat. eigenen

Weg

geht,

eristiren

So lange jeder Einer seinen

Klasse und

Nation,

Worten und können nicht dem schwächsten neuere deutsche Geschichte beweist das

Partei nur

Stoß widerstehen.

in Die

auf jeder ihrer Seiten. —

Der Individualismus hat aber nicht allein der Einförmigkeit, der Humanismus der Vaterlandsliebe Platz gemacht; Schiller's Gedanke selber, daß die Kunst die höchste Form

daß das gefällige,

praktische Leben

menschlicher Thätigkeit sei,

einem höheren

Leben

unter­

geordnet werden müsse, ist, sozusagen, verschwunden, für den Augen­ blick wenigstens; denn ich hege die feste Zuversicht, daß, sobald der

langersehnte Nationalstaat vollendet und gegen innere

und

äußere

Feinde gesichert ist, Deutschland auch wieder zum

Credo

lichen Gründer seiner Cultur zurückkehren wird.

Freilich wird eS

dasselbe nur mit Modificationen wieder aufnehmen können.

der wirk­

Es wird

sich nie wieder zu der unausgesprochenen Verachtung für den Staat bekennen, welche der ganzen Weltanschauung von Schiller's Generation

zu Grunde lag; aber es wird auch nicht länger int

Staate einen

Zweck sehen, wie eS thut, sondern ein Mittel — ein nothwendigeMittel, ein edles Mittel sogar, ein Mittel immerhin, keinen Znleck.

Es

erscheint

in

der

That

unmöglich,

daß die Nation

Lesfing'S

und Herder's, Goethe's. und Kant's nicht der Politik müde werden sollte,

wie

sie längst

der

Theologie

müde

geworden;

daß

sie

99 das rauhe Schulleben mit handfesten Kameraden mitzu­ machen. Er hatte auch nicht die kräftige Gesundheit des römischen und altenglischen, welcher einfach die .Existenz

aller derer ignorirte, die nicht „römische Bürger" oder „brittische Unterthanen" waren. Der neue deutsche Patriotis­ mus, welcher nicht mit dem altpreußischen verwechselt werden darf, war und ist nicht naiv. Er ist bewußt, er

ist absichtlich, er hat einen leichten Anflug von Pedanterie, weil er von Gelehrten und Literaten gemacht worden ist. nicht,

den

Theologen

Politikern die Politik überlastend,

die Theologie

überlassen

hat,

wie sie einst den

wieder

die Arbeit

an

dem idealen Lebensinhalt, anstatt an dessen enthaltenden Formen,

sich zur Ausgabe machen sollte.

Darin ist kein Widerspruch, wie

eS auf den ersten Blick erscheinen möchte.

Menn es Gebiete der

menschlichen Thätlichkeit giebt, wo der absolute Individualismus vom Uebel ist und ein Zeichen der Selbstsucht, so giebt eS andere, wo er so fruchtbar als edel ist. Collectivismus,

So ist es aber auch mit dem

wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf; ein

Segen auf einem Felde des Lebens, ist er ein Fluch auf dem andern. Ist es aber wirklich unmöglich, jeden von beiden in die Grenzen zu bannen, die ihn heilsam machen?

Das Deutschland von 1800

kannte nur den Individualismus; das Deutschland von 1879 scheint nur den CollectiviSmus zu kennen.

Das Deutschland der Zukunft,

wollen wir hoffen, wird sich dem Collectivismus unterwerfen und bereit sein, individuelles Denken und Fühlen zu opfern, wo

nöthig ist, es zu opfern, d. h. im Staat und der Gesellschaft.

es

Aber

es wird volle Freiheit des persönlichen Denkens und Fühlens bean­

spruchen, wo der Individualismus allein Früchte tragen kann, d. i. in der Kunst und Wissenschaft.

Indem es aber dies thut, wird es

sÜhlen, daß es das bessere Theil erwählt hat: denn wer die Welt

— d. h. Menschen und Natur — zu durchdringen, treu und liebevoll

zn deuten sucht, sei's durch die Anschauung und Wiederschöpfung des Künstlers, sei's durch den Verstand und das Kennen des Gelehrten,

der hat eine höhere Thätigkeit erwählt, als derjenige, welcher nur in dem Staat und für den Staat und seine vorübergehenden Interessen lebt."

7*

100 Er ist entsprungen aus einem Gefühl des Mangel» an Patriotismus, der Vaterlandslosigkeit, welche vorher geherrscht hatte und gegen die eine Reaction nothwendig war. Er gleicht in dieser Beziehung der Religion der deutschen Romantiker, die' fast alle Freidenker gewesen

waren und sich eines schönen Tages entschlossen, sie wollten Gläubige werden, weil der Glaube eine noth­ wendige Grundlage für jede dichterische Vortrefflichkeit sei. Daher auch die Uebertreibungen des deutschen Pa­ triotismus. Er kam nicht natürlich oder spontan zur Welt; er war eine Frucht der Reflexion. Das nimmt ihm nichts von seiner Berechtigung; denn er war wirklich nothwendig für die Herstellung eines Nationalstaates. Nun sind aber, nächst der gerechten und gesetzlichen Ordnung, welche der wahre Daseinsgrund der Staaten ist, die nationale Unabhängigkeit und die nationale Macht, welche diese Unabhängigkeit gewährleistet, die unumgänglichsten Bedingungen für das Wohlergehen einer Nation. Wenn eine Nation dieselben nicht besitzt, so muß sie Alles aufopfern, selbst die Freiheit, um sie zu er­ langen. Die Spanier gaben ein Beispiel dafür im Anfang unseres Jahrhunderts, weil sie wenigstens die Ueberlegenheil über Deutschland hatten, daß sie einen Nationalstaat besaßen — schlechter gewiß als der, den die Französen

ihnen aufzwingen wollten — immerhin einen Nationalstaat. Ist dieser Hafen einmal erreicht, so muß der Kampf um die Freiheit beginnen mit seinen mannichfaltigen Wechsel­ fällen von Sieg und Niederlage, wie England ihn seit der Zerstörung der Armada bis zur Regierung Georg's IV. geführt hat; und erst wenn diese Eroberung befestigt ist, kann sich die Ration wieder den Luxus so freier Ge-

101 danken und Gefühle erlauben, als die waren, welche die

großen Gründer der deutschen Bildung beseelten.

Mittlerweile tragen diese Ideen tausendfache Frucht über die ganze Welt hin und keimen selbst auf fern ab­ liegenden Gefilden, auf die ste der Wind der Geschichte

getragen.

Auch zu Hause bleibt noch und wird immer

bleiben eine stille unbeachtete Gemeinde von Treuen, welche fromm den Schatz bewahren, der dem Vaterland

von seinen großen Heroen des Gedankens und der Kunst hinterlassen worden.

Sie leben abseits der Kämpfe des

öffentlichen Lebens, schauen manchmal hin mit Bedauern, ost mit Zorn, aber immer mit Hoffnung.

Sie werden

nicht gestatten, daß Deutschland, welches der Welt die Ideen Lessing's und Herder's, Goethe's und Schiller's ge­

geben, dieselben für immer aus seinem nationalen Glauben ausscheide.

Sie werden Sorge tragen, daß wenn der

Tag gekommen ist, Deutschland jenen großen Ideen wieder

ben Ehrenplatz gebe an dem Heerde, von welchem sie hinausgezogen in die weite Welt.

gekommen

ist,

Wenn der Augenblick

wird — ich wenigstens zweifle nicht

daran — wird Deutschland, das jetzt hauptsächlich zu leben scheint für die egoistische, wenn auch nothwendige Aufgabe, sein Haus gegen die Stürnie zu befestigen, die

es bedrohen könnten und es wohnlicher zu machen, als es bisher war, mit ganzem Herzen wieder das Seinige mitthun en dem gemeinsamen Werke Europas; das aber

ist durch alle nationale Formen hindurch, die es annehmen

mag, die Civilisation der Menschheit.

IV. Die Werther-Krankheit in Europa. I. Der Weltschmerz — auch Wertherismus und Byro­ nismus genannt — war eine moralische Krankheit, welche

in verschiedenem Grade und unter verschiedenen Formen in ganz Europa während des ersten Viertels dieses Jahr­ Ich sage:

hunderts ihre Opfer gesucht und gefunden hat.

in verschiedenem Grade und unter verschiedenen Formen,

denn sie nahm in Frankreich eine andere Gestalt an als

in Deutschland und sie trat weniger heftig in England und Italien als -in Deutschland und Frankreich auf. ES

ist nur natürlich, daß ein ganz innerliches Uebel, ein Uebel der Phantasie noch mehr als des Geistes, be­

sonders gefährlich werden müßte in einem Lande wie Deutschland, das damals alles öffentlichen Lebens ent«

behrte, das eigentlich nur ein innerliches Leben führte,

dem keine gesunde Thätigkeit offen stand.

Aber auch

Frankreich mußte heftiger als andere Länder davon heim­

gesucht werden; denn seine Cultur war alt, greisenhaft-blasirt

Katastrophe durchgemacht, schaft -fett der

beinahe

und es hatte eben die furchtbarste welche die menschliche Gesell­

Völkerwanderung erschüttert hatte.

ES

war kaum zu verwundern, wenn in der Nation, die so

103

unablässig auf der Bresche gestanden, dann so furchtbar gerüttelt, endlich so gründlich berauscht worden war, sich

nach 1815 eine gewisse katzenjämmerliche Müdigkeit ein­ stellte. Dazu die vollständige Abwesenheit aller Prin­ cipien, staatlicher wie gesellschaftlicher, religiöser wie sitt­ licher. Die Revolution hatte alles in Frage gestellt. Noch hat der französische Staat kein allgemein anerkanntes Princip wiedergefunden, noch krankt er schwer in Folge davon; dagegen haben die Religion, die Moral und die Gesellschaft Frankreichs in der Convenienz eine Autorität aufgerichtet, um die wir sie nicht beneiden wollen, die aber jedenfalls bequemer ist als Glaube, Gewissen und Pflichtgefühl, welche bei anderen Völkern die Grundlage der Religion, Moral und Gesellschaft bilden. Dem war nicht so 1815; die traditionelle Autorität war vernichtet; eine innere aufturichten war man nicht im Stande; eine äußerliche war noch nicht hergestellt. „Die ganze Krank­ heit des Jahrhunderts," sagt der französische Dichter, der am meisten daran gelitten, in dem Werke, in dem er sie am eingehendsten geschildert, „die ganze Krankheit des Jahrhunderts," sagt Alfred de Muffet in den „Con­ sessions d’un enfant du siede“, „kommt von zwei Ur-

sachen. Das Volk, das 1793 und 1794 durchgemacht hat, trägt zwei Herzenswunden mit sich herum: Alles, was, war, ist nicht mehr — Alles, was sein wird, ist noch nicht. Sucht nirgendwo anders das Geheimniß unseres Wehs." Anders lagen die Dinge in England und Italien. Dieses war zu leidenschaftlich und jugendlich aufgeregt, jenes zu männlich und zu kräftig, um sich einer so trüb­ seligen Neigung hinzugeben. Es klingt freilich beinahe

104 wie ein Paradoxon, von der Jugendfrische und Gesund­ heit Italiens zu sprechen ; ist es

doch eben die Eigen­

thümlichkeit der öffentlichen Meinung, daß fie die Wirklich­

keit erst dann anerkennt, wenn sie schon aufgehört hat, Wirklichkeit zu sein.

Nur deßhalb leben so viele hohle

Urtheile noch als todte Formeln im Volksmunde: der leichtsinnige und ritterliche Franzose, der harte und ego­

istische Engländer, der träumerische, schwärmende Deutsche

existiren noch immer in der gedankenlosen Sprache der Menge, wie der „entmannte" Italiener, an den Richard

Wagner so tactvoll erinnert in seinem Dankschreiben an

die Stadt Bologna, die ihm das Ehrenbürgerrecht ver-

liehm hatte.

Wahrscheinlich wird auch diesmal die Nach­

welt jene Frische und Jugendlichkeit Italiens anerkennen und feiern, wenn sie schon längst vorüber ist.

Sind wir

nicht Alle genährt worden von Kindesbeinen auf mit dem

Bilde eines Italien voll eleganter, weltlicher Abbates, geistig

und körperlich

herabgekommener Nobili, eitler

Mäcene und Dilettanten, pedantischer Akademiker und corrupter Bettler, käuflicher Diplomaten und ebenso käuf­

licher vornehmer Damen, serviler Facchini, fauler Lazzaroni, weibischer CtciSbei, trillernder Tenors und plrouettirender Tänzerinnen?

Und in der That bot das Italien

Metastasio'S ein ähnliches Gemälde dar: aber schon war's

im Verschwinden, al» der Corse über die Alpen stieg; und gerade der italienische Wertherianer Ugo Foscolo war, nächst Alfieri, der Hauptverkünder einer neuen Zeit.

Wer den italienischen Mttelstand und seinen fast über­

triebenen Stolz, wer die bescheidene Unbescholtenheit der italienischen Staatsmänner, die kühne und kräftige Dich­

tung eines Leopardi und Niccolini, die beinahe kindisch

105

naive Moralität des modernen italienischen Dramas, wer die Reihe von Namen kennt, deren Träger sechszig Jahre lang Verbannung und Kerker für ihr Vaterland würde­

voll und männlich erduldet — der wird zugeben, daß wenig mehr übrig ist von dem Italien Winckelmann's

und des Präsidenten de Broffe'S, von dem wir in unserer Jugend so viel gehört.

Ein solches Italien aber, so

lebendig, so gesund,. so beschäftigt mit dem reellsten aller

Jntereffen, das zugleich auch das ideellste ist, mit dem Jntereffe für's Vaterland, ein so heftig erregtes, so leiden­

schaftliches Volk hatte weder das Temperament noch die Zeit, sich so recht con amore dem Weltschmerz« hinzugeben.

England aber, so sollte man meinen, mit seinem vielbesprochenen düsteren Himmel, der zum träumerischm

Nachdenken so recht einzuladen scheint, das grämliche,

mürrische England, dessen größte Geister einen Zug tiefer Melancholie nicht zu unterdrücken vermochten — England hätte der traurigen Epidemie einen günstigeren Boden

al» jedes andere Land bieten müssen.

Und doch sind die

zwei edlen Opfer, welche das Uebel ihm abgefordert, sind Byron und Shelley nur glänzende Ausnahmen ge­ wesen, outlaws der englischen Gesellschaft, prächtige, aber

einsame Meteore, die fern von ihrem Vaterlande ihre leuchtende Bahn verfolgen mußten und sogar in dieser Schwächekrankheit noch jene echt brittische Kraft bewährten, welche in unseren Tagen zu erlöschen droht.

Was die

Generation Englands vom Jahre 1815 vor jenem Uebel bewahrte, war nicht allein die noch robuste Gesundheit

des Volkes, die munter und rüstig dem Gewinn und dem Genuß nachging, es war die nationale Enge ihrer Welt­

anschauung, die Ignoranz alles dessen, was nicht auf

106 dem eigenen Wege lag, die Concentration auf dieses Nächst­

liegende, die Intensität des religiösen Gefühles und das feste Beharren bei der religiösen wie bei der politischen

Autorität, die eingewurzelte Gewohnheit des Individuums, nichts von der Gesellschaft zu verlangen und zu erwarten, und demzufolge das Wegfallen aller weibischen Klagen

über diese unbarmherzige grausame Gesellschaft, vor Allem aber das öffentliche Leben, welches allen bedeutenden Geistern,

jeder gediegenen Bildung, jedem Willensstärken Charakter die Gelegenheit bot, sich zu entfalten, die Kräfte zu üben.

Bei dem Ersterben des Nationalgefühls, dem Sichverlieren der nationalen Geistesschranken, dem Verschwinden der alten nationalen Vorurtheile, dem wir im heutigen England bei­

wohnen, würde der Weltschmerz weit leichter seine Rechnung finden, als im England Canning's und Wellington's. Vielleicht dürste es von Interesse sein, des Näheren auf die Krankengeschichte einzugehen und die Symptome

wie den verschiedenartigen Charatter der Krankheit an

einigen berühmten „Subjecten" zu studiren.

Denn ich

spreche hier ja nicht von einer literarischen Schule, sondern

von einer moralischen Seuche, deren Spuren fich in der

Literatur der Zeit deutlich erkennen lassen, weil es die Aufgabe der Literatur ist, die herrschenden Ideen und

Leidenschaften einer Zeit zu schildern, wie es mir die Aufgabe des Literarhistorikers zu sein scheint, jenen Spuren

in den Geisteswerken nachzugehen.

Jene Unterscheidung

ist also durchaus keine Subtilität; ich möchte in der That

durchaus keine ästhetische Vergleichung verschiedener be­ deutender Dichtwerke anstelle», sondern die Fortschritte

verschiedener Phasen und verschiedener Aeußerungen einer

Gemüthskrankheit verfolgen und darlegen.

Von Nach-

107

ahmung, wie sie in einer literarischen Schule, bewußt oder unbewußt, doch'immer stattfindet, ist aber hier durch­

aus nicht die Rede; eigentlich kann nur Ein Werk der Weltschmerz-Literatur als

werden:

ich

eine Nachahmung betrachtet

meine „Jacopo Ortis".

Die Reihe der

übrigen Werke, namentlich Romane, von denen ich reden

möchte, sind einfach in demselben Geiste concipirt, aus

einer ähnlichen Stimmung hervorgegangen: „Manfred" ist so wenig dem „Faust" nachgeahmt, als „Werther"

der „Nouvelle Heloise“, wie vielfach behauptet worden;

ein gleicher Gemüthszustand hat analoge Erzeugnisse her­ vorgebracht.

Wie das junge Deutschland von 1770 zum Welt­ schmerz« kam, hat Goethe selbst so fein und gründlich in „Dichtung und Wahrheit" auseinandergesetzt; wie sich

jener Weltschmerz gestaltete, hat er so wunderbar und so lebendig im „Werther" dargestellt, daß es Anmaßung

wäre, einen unnützen Versuch zu machen, den größten

deutschen Dichter, der auch der größte deutsche Literar­ historiker war, ergänzen oder gar verbessern zu wollen. ES genüge, daran zu erinnern, wie der Meister dem

langen Frieden, der Thatenlosigkeit, der Enge der bürger­ lichen Verhältnisse, dem Widerstreite einer erbärmlichen

Wirklichkeit mit höchsten Idealen jene Stimmung der deutschen Jugend zuschrieb, die sich gegen alle Schranken

des Individuums auflehnte, ob diese Schranken nun ge­

sellschaftliche Sitte oder Staatsgesetz, religiöse Satzung oder literarische Regel hießen.

Er hat uns erzählt, wie

sich die greisenhaft übercivilisirte Welt nach einem ge­

träumten Naturzustande zurücksehnte; wie man hoffte, jenes goldene Zeitalter zurückführen zu können, wo „erlaubt

108 war, was beliebt".

Er hat gezeigt, wie die Jünglinge

jener Zeit bald dramatisch-activ, drangvoll-stürmend die

alte Veste zu zertrümmern suchten, um für ihre Ideale Raum zu finden, bald sich der verhaßten Weltordnung gegenüber elegisch-passiv, weinerlich-sentimental, weiblich­ empfindlich verhielten, sich krankhaft vor ihr zurückzogen,

sobald sie das „verzärtelte Herzchen" etwas unsanft be­ rührte und in einsamer Träumerei, in nervöser Ueberreizung einer unfruchtbaren, selbstverzehrenden Melancholie nachhingen, sich selbstgefällig darin wiegten, sich eine ideale Welt aufbauten, die im Grunde nichts war als das Reich unumschränkter individueller Willkür und ungehemmten Gefühles, die sich dann freilich gar prächtig und weich neben der rauhen Wirklichkeit ausnahm. Er hat an den Stolberg, Voß, Schubarth, Sonnenfels, Klinger, Gersten­ berg, wie an den Milbe, Hölty, Hahn und vornehmlich an sich selbst gezeigt, wohin diese verschiedene Bethäti­ gung derselben falschen Weltauffafsung eine aufgeregte oder ermattete Jugend führen mußte; wie der Einfluß des Eindringens der englischen und französischen Literatur, Hamlet'scher Verdüsterung, Richardson'scher Sentimentali­ tät, Doung'scher Nachtgedanken, Ossian'scher Nebelgestalten einerseits, Rouffeau'scherUeberspanntheit undBoltaire'scher Ironie andererseits sich mit dem trostlosen politischen Zu­ stande Deutschlands verband, um die Jugend immer mehr auf die Nachtseite des Lebens hinzuweisen: „Jedermann glaubte, er dürfe ebenso melancholisch sein als der Prinz von Dänemark, ob er gleich keinen Geist gesehen und keinen königlichen Vater zu rächen hatte." Die folgende Entwickelung über die Neigung zum Selbstmorde, welche in jener Generation herrschte, gehört zum Vollendetsten,

109 ivas die Psychologie kennt

schließt

und die ganze Schilderung

ab mit der Entstehungsgeschichte „Werther'S"-

dem ebenso vollendeten Typus des Weltschmerzes.



dürfte von Jntereffe sein, zu sehen, welche Gestalt das Uebel, das Goethe mannhaft zu überwinden wußte und dem Byron ruhmvoll erlag, im übrigen Europa annahm. II.

Der Wertherismus ist ein speciell deutsches Product. Sobald die Krankheit über die Grenze ging, unter anderen

Verhältnissen andere Organisationen ergriff, zeigte sie sich

in durchaus veränderter Gestalt.

Deutschland hatte die

bewegende Idee des achtzehnten Jahrhunderts auf seine

Weise erfaßt.

Es hatte sich wie Frankreich und England

gegen das Autoritätsprincip in Kirche und Staat, in Wissenschaft und Dichtkunst aufgelehnt; wie jene, aber in

noch übertriebenerem Maße, hatte es ihm das individuelle Gefühl, die Vernunft, ja die Sinnlichkeit entgegensetzt;

und dieser Kampf des Individualismus gegen die Tradition

erreichte in den Siebziger-Jahren einen wahren Paroxismus.

Die freie Forschung, die Frömmigkeit des Ge­

müthes, die dichterische Begeisterung und der Absolutismus

des Genies trinmphirten

über

die

besiegte Scholastik

und Orthodoxie, über die Regel und den Formalismus; aber die. persönliche Freiheit rüttelte noch erfolglos am

morschen Staatsbau und eine veraltete Civilisation hemmte noch immer die gewünschte Rückkehr zu Mutter Natur. In diesem Kampfe gegen die Feffeln der bestehenden Ge­

sellschaft nahm das Individuum je nach seinem Charakter

eine verschiedene Attitüde an: entweder stülpte es himmel­ stürmend Pelion auf Offa in titanischer Empörung; oder

110 aber es setzte dem Druck ohnmächtige Klagen, rührende

Thränen, weiche Entsagung entgegen. In dem Einen Goethe aber, in dem sich die ganze, innere Geschichte Deutschlands von 1770—1820 wie in einem Mikrokos­ mus widerspielt, begegneten sich Beide, Klinger und Hölty: er sang, das Sturmlied der Titanen, den „Prometheus", und er faßte im „Werther" die Zähren der Unglücklichen wie Diamanten in goldenem Reif.

Er hat uns selbst

erzählt, wie sich in ihm die Werther-Stimmung heran­ gebildet; in diesem, seinem wunderbarsten Werke selbst

aber zeigt er uns, was diese Krankheit war, und indem er sie künstlerisch beschrieb, fand er selbst Genesung. Der Dichter soll seine Zeit, seine Nation malen; was bot Goethen im Jahre 1772 seine Zeit und seine Nation? Eine moralische Krankheit. Goethe schilderte sie. Wo

war das Interesse seines Volkes, was beschäftigte die Gebildeten, was bewegte die Besten? Werther sagt es uns. Bei oberflächlicher Bekanntschaft erscheint uns Werther als ein braver, redlicher junger Mann, einfach, gutmüthig, reinen Herzens, reiner Sitte. Seine Gewohnheiten, feine Neigungen sind bescheiden. Er gehört den Mittelklassen an, bewohnt eine Mansarde. Mäßig in materiellen Ge­ nüssen, ist er still vergnügt bei einer Taffe schlechten Kaffee» im benachbarten Dörfchen unter der Linde. Sein blauer Frack dauert ihm ein ganzes Jahr. Ev liebt, ja vergöttert die Kinder. Wie freut er sich, wenn er ihnen Bonbons bringen, ihnen Märchen erzählen kann. Lär­ mende Gesellschaften-flieht er; wie sollte er seinen ge­ liebten Homer, seinen Ossian um so hohlen Umgang aufgeben! Die Welt kennt er nicht, ihre Genüsse flieht er instinktiv. Aber er täuscht uns nicht lange. Unter

111 diesem Scheine der Ruhe, des Friedens und der Gesund­

heit verbirgt sich eine todtkranke Seele.

Der Dichter

war Dichter genug, um uns, wie die griechischen Tragiker,

die letzte Krise, die Katastrophe dieser Krankheit zu zeigen; er hütete sich wohl, uns die Vorgeschichte und den ganzen

Verlauf des Uebels zu erzählen; beim ersten Eintritt ist

Werther schon! moralisch schwindsüchtig, schon dem Ver­ derben verfallen, das fühlen wir.

Werther ist ganz ein Kind seiner Zeit, seines Volkes.

Die herrschende

Geschmacksrichtung

ist

die seine;

er

ist genährt mit der Philosophie des achtzehnten Jahr­ hunderts.

Seine Ansichten über Dichtkunst, über Reli­

gion, über Gesellschaft sind die aller Jünglinge von 1770.

Die Natur hat ihm eine Organisation gegeben,

die sich

mehr durch Feinheit als durch Tüchtigkeit auszeichnet: etwas Weibliches, um nicht zu sagen Weibisches, ist ihm angeboren.

Er gefällt sich im Leiden; das Handeln ist

ihm zuwider. Er läßt sich deshalb auf den offnenen Kampf mit der ungerechten Gesellschaft nicht ein, die ihn so un­ sanft berührt.

In seiner sentimentalen Ueberreiztheit

flüchtet er sich in einsame Träumereien und fühlt sich

wohl in seiner unfruchtbaren Melancholie.

Die ideale

Welt, die er träumt, die er aber nicht herzustellen ver­

mag, er schafft sie sich in seinem Innern, in seiner Phan­ tasie, und indem er der äußeren Welt die Macht der

Trägheit entgegenstellt, weint er und verkümmert.

Und

wenn er hätte handeln wollen, handeln können, welch

ein Feld für das Handeln hätte ihm sein Vaterland ge­ boten 1

Werther, sagte ich, gehört ganz seiner Zeit an;

er theilt alle ihre Antipathien und Sympathien, namentlich aber ihre Illusionen, ihren Glauben an die Unfehlbarkeit

112 des Individuums, als sittlicher Mensch wie als Künstler. Ihm zufolge zerstött die Gesellschaft den Genius, wie sie die Natürlichkeit vernichtet, und er sucht das Paradoxon sophistisch in der Literatur wie im Leben nachzuweisen.

Was Wunder, wenn er sich in seine innere ideale Welt flüchtet; birgt doch dieser anspruchsvolle Name den naivsten Egoismus.

Werther ist ganz und durchaus von feinen

Gefühlen beherrscht, von seinen augenblicklichen Stim­ mungen, von seiner Laune, und er weiß sich was darauf.

Er geht sogar soweit, darein den wahren Werth des Lebens zu setzen — ein verhängnißvoller Irrthum, der ihn ins Verderben führen muß.

Man verkennt nicht

ungestraft das Gesetz der Arbeit und der gesellschafttichen Thätigkeit; ein Sichbeschränken auf das innere Leben, so

rein und schön es sein mag, muß zum Pessimismus führen.

Der Pessimismus aber mag das letzte Wort des Meta­ physikers fein; für den zum Handeln berufenen Menschen ist er der Anfang alles Uebels.

Nun ist aber Werther

durch feine Stellung zum Handeln berufen, stürzt sich jedoch mit Wonne in den exquisitesten Müßiggang. Wäre Werther kein impönitenter Faullenzer, so wäre er die poetische Figur nicht, die Goethe aus dem Leben gegriffen.

Die Jugend Deutschlands verkam am Müßiggang; sie vergaß Vaterland, Wissenschaft, Amt, kurz jede bürger­ liche Thättgkeit.

Nur seine innere Wett ist wirklich für Werthem; die äußere will er nicht anerkennen, und wo sie ihn be­ rührt, verwundet sie sein reizbare«, verwöhntes mora­ lisches Epiderm.

Er flicht die Menschen, die ihn in seiner

träumerischen Muße stören, und er flieht zur Natur, der passiven, guten, die ihm keinen Widerstand entgegensetzt.

113 Unter den Menschen hängt er sich nur an die Beschei­ denen, Geringen, die Leute aus dem Volke, Bauern­

bursche, Kinder, welche die Civilisation noch nicht corrumpirt hat, wie er sich glauben machen will, die ihm

untergeordnet sind oder sich ihm unterordnen, ihn nicht in seinem Selbst-Cultus stören, wenn wir den Dingen auf den Grund sehen.

Obschon er von der Ferne die

Menschen bewundert, die großer Leidenschaften fähig sind

und — ihnen nachgeben, so hält er sich doch eben immer

in kluger Entfemung. Er verzeiht ihnen, wie sich selbst,

daß sie sich nicht beherrschen; denn jeder Zwang, jede Beschränkung, die der „Natur" auferlegt wird, ist ja für ihn Heuchelei.

schaft nur,

Seine Zeit glaubte ja an die Leiden­

wenn der Mensch ihr unterlag; besiegte er

sie, so meinte man, die Leidenschaft wäre wohl nicht so gar mächtig gewesen.

Und in Werther hat sich diese

Anschauungsweise bis zum Selbstmord zugespitzt.

Hätte

er nur ein wenig Energie, ein wenig Muth — wie der

Dichter selber sie hatte — er könnte kämpfen, sich retten, siegen; aber nein, der Kampf erschreckt ihn,

er zieht

es vor, sein Herzchen wie ein krankes, verwöhntes Kind zu behandeln, dem man jeden Willen thun muß.

Werther

ist blasirt, blasirter als der corrupteste Wüstling; wiewohl

es der Idealismus, nicht der Materialismus ist, der ihn blasirt hat. Es giebt aber auch einen idealistischen Egoismus, wie's einen materialistischen giebt.

Wir sehen Frankreich

an dem letzteren zu Grunde gehen; Deutschland kranke am ersteren und obschon nur edle Naturen solcher Krank­ heit verfallen, ein Glück war's doch, daß Deutschland

davon genas.

Wie es davon genesen sollte, hat Goethe

selbst gezeigt in seinem Leben, in seinen Werken. Hillebrand, Culturgeschichtliches. 8

Er

114 zuerst gab das unftuchtbare Herumwühlen und Herum­

grübeln in sich selbst, das ewige Sichläuternwollen, an sich selbst Herumarbeiten auf, und ergriff das Leben:

frischen Genuß, Thätigkeit im Amte, Aufgehen im Un­ persönlichsten, der Wissenschaft.

Unter veränderten Ver­

hältnissen setzt heute das gesundete Deutschland nur diese

Thätigkeit des Dichters fort. Erst im Jahre 1798, unmittelbar nach dem Frieden von Campo Formio, erschien die berühmte italienische

Nachahmung des „Werther": der „Jacopo Ortis" des Ugo Foscolo.

Ich sage absichtlich: die Nachahmung, ob­

schon man ost versucht hat, den italienischen Dichter

gegen diesen Vorwurf in Schutz zu nehmen.

Er soll den

„Werther" nicht gekannt haben- fünfundzwanzig Jahre nach seiner Erscheinung nicht gekannt haben, als schon sogar der Chinese



Malte mit ängstlicher Hand Werthern und Lotten auf's Glas." *

Uebrigens ist die Nachahmung ganz offenbar: wir

haben genau dieselben Ereignisse, dieselben Personen, die­ selbe Katastrophe. Ganze Scenen, wie die zwischen Werther

und den Kindern, wie die des Gewitters, sind beinahe

frei ins Italienische übertragen.

Zahlreiche Themen, die

der deutsche Dichter nur angedeutet hatte, sind von Ugo Foscolo amplificirt worden, wie denn sein Haupttalent die Amplisication ist oder — um es weniger scharf aus­

zudrücken — die Ausführung, Entwickelung und Variation.

Ein Anderes, das dem Italiener und speciell seinem „Jacopo Ortis" eigenthümlich ist,

Deklamation.

ist die Macht der

Gerade durch diese beiden,

ich möchte

* Die venetianischen Epigramme, welche jene beiden Verse ent­ halten, sind bekanntlich schon 1790 geschrieben.

115 sagen,

romanischen Eigenschaften unterscheidet

italienische Roman wiederum durchaus vom

sich der deutschen,

dessen Styl und Composition einfach sind wie der Charakter

der Helden.

Wichtiger für uns hier, die wir ja keine

ästhetischen, sondern historisch-pathologische Studien an­ stellen, ist der Unterschied zwischen der Leidenschaft, welche

den deutschen und den italienischen Werther zum frühen

Ende führt. Alles ist schmachtend, unbestimmt, allgemein, beinahe chronisch in Werther's Qualen; Alles ist klar, kräftig, acut

in denen Jacopo's.

Teresens, vom

Nicht allmälig fesseln ihn die Reize

ersten Anblick

ist er heftig

entbrannt

und liebt mit einer leidenschaftlichen Liebe, die nichts

von der edlen Entsagung Werther's an sich hat.

Der

Deutsche hat eine wahre Zuneigung zu Albert, wirft sich vor, ein Gefühl zu nähren, das dem Freunde gegenüber

Unrecht ist; der Italiener haßt den Bräutigam seiner Geliebten vom ersten Tage an, wie nur Italiener zu

Haffen verstehen.

Lotte bietet aus freien Stücken einem

Manne, den sie achtet und für den sie eine ruhige und sichere Neigung empfindet, ihre Hand.

Teresa verabscheut

Odoardo und heirathet ihn nur gezwungen, durch rohe

Gewalt gezwungen. Man denke sich nur den stillen, fried­

lichen Werther neben dem kochenden, stets beinahe rasenden Italiener, der „wie ein Löwe brüllt", jeden ersten Besten, den er verachten zu müssen glaubt, zum Duell heraus fordert, dessen indole, nemica d’ogni servitü, nur Zorn,

Rache, Haß schnaubt.

Mehr sinnlich als empfindsam,

bekämpft er in heftigem Angriffe Alles, was sich seinen

Leidenschaften entgegenstellt; Werther, der Sentimentale,

läßt sich weinend und beinahe passiv von den Verhält-

8*

116 nissen zermalmen. Der Hauptunterschied jedoch liegt in der Quelle der allgemeinen Stimmung jedes der beiden Helden. ES ist nicht ein unbestimmtes Mißbehagen, ein unklarer Pessimismus, wie bei Werther, es ist eine be­

stimmte Thatsache von schreiender, empörmdster Ungerech­ tigkeit, es ist der Friede von Campo Formio, der Unter­ gang seines Vaterlandes, welcher Jacopo Ortis in den

krankhaften Zustand versetzt, an dem er zu Grunde geht. „II sacrificio della patria nostra e consumato. Tutto

6 perduto,“ schreibt Jacopo, als er die Nachricht erhält; „la vita, seppure ne verrä concessa, non ci resterä ehe per piangere le nostre sciagure e la nostra infamia.“ Jacopo ist Patriot, er ist zum Handeln ge­ boren, nicht zur Schwärmerei. Vom Anfang bis zum Ende seiner Briefe ertönen die Klagen oder vielmehr die Wuthausbrüche über das Joch der Fremdherrschaft, welches Italien tragen muß. Nicht Einen Tag vergißt er das Motto, das er von Dante's Cato entlehnt hat: „Libertä. va cercando, ehe e si cara, come sa chi per lei vita rifiuta.“ Bonaparte ist in seinen Augen ein gemeiner Verbrecher. Ueberall und immer beherrscht ihn die Idee des Vaterlandes, die Werthern auch nicht einmal in den Sinn kommt. „Mein Patriotismus überreizt alle

meine anderen Leidenschaften." Warum sollte er heirathen? Seine Söhne würden kein Vaterland haben. Nicht Ossian ist's, der ihn, den empörten Staatsbürger, auf seinen Spaziergängen begleitet; es ist Plutarch. Schon daran erkennt man unter aller romantischen Ver­ kleidung den klassischen Italiener. Auch wenn er Teresen vorliest, ist's nicht Klopstock oder Aoung's „Nachtgedanken",

sondern Sappho, die hellenische Muse, die vom brennen-

117 den Feuer der Venus verzehrte, welche er hervorsucht.

Ueberall ist es eben der leidenschaftliche italienische Patriot, bei dem die eigentlich charakteristischen Symptome des Wertherismus gar nicht zu entdecken sind.

Jacopo Ortis

ist eine gesunde Natur, welche von einer hitzigen Krank­

heit

ergriffen und

weggerafft wird; Werther ist eine

kränkelnde Seele, die einem zehrenden Uebel unterliegt.

Auch die Dichtungen des größten italienischen Dichters

seit Dante, auch die Dichtungen Leopardi's athmen eine

Schwermuth der Verzweiflung,

die man versucht sein

könnte, für die Krankheit des Jahrhunderts zu halten.

Bei etwas näherem Zusehen indeß wird man sich leicht

überzeugen,

daß man Unrecht thut,

wenn man aus

Leopardi einen Werther oder Obermann macht.

Freilich

ist der italienische Sänger in tiefster Seele betrübt, ja

trostloser betrübt als Werther selbst; aber er ist's nicht ohne vorhergangenen Kampf und Widerstand.

Seine ist

keine willensschwache Seele wie die Obermann's; es ist

eine stoische Heldenseele, die, eingeschloffen in einer ver­ krüppelten Hülle, kräftig gestritten hat gegen die Härte des Vaters, gegen Hunger

tödtliche Körperkrankheit.

ten Schmerzen,

und Armuth, gegen eine

Das waren keine eingebilde­

nicht einmal unbestimmte;

sie waren

nur zu wirklich, nur zu bestimmt und wenn auch ihm,

wie uns Allen, das persönliche Empfinden und Sein zu

einer

Weltanschauung

wurde



in seinem Fall

natürlich zu einer pessimistischen — so war er deshalb

nicht mehr Wertherianer,

als

sein

Schopenhauer zu Frankfurt am Main.

Gesinnungsgenoffe

Auch suchte der

ganz antik gestimmte Italiener nicht in schwärmerischer

Träumerei, noch in müßiggängerischer Einsamkeit Zuflucht

118 vor seinen Schmerzen oder gar ein Heilmittel gegen sie,

das, wie bei Werther, nur zur gefährlichen Nahrung der

Krankheit Thätigkeit,

geworben wäre.

Gesunde und angestrengte

ernsteste philologische

Studien,

lebhafteste

Theilnahme am Geschicke des Vaterlandes erfüllten dies

von Schmerz und Unglück so furchtbar heimgesuchte Dasein. Wenn aber ein starker Wille, unausgesetzte Thätigkeit

und lebhaft empfundener Patriotismus auch nicht vor Kummer und Gram zu, schützen vermögen, so wird's doch

immer der Kummer einer starken Seele sein, der Gram,

wie ihn selbst die Helden des Alterthums so tief, ja tiefer empfinden mochten als die Zeitgenoffen Byron's

und Leöpardi's.

Auch ist von moderner Blasirtheit bei

dem italienischen Märtyrer nichts zu spüren.

In ihm

hatte kein Uebergenuß sinnlicher Freuden und gesellschaft­

licher Eitelkeiten Ekel und Ueberdruß erzeugen, die Quelle reiner und gesunder Empfindungen vertrocknen können;

er hat von vornherein die menschliche Gesellschaft als eine Räuberhöhle angesehen, wo das bellum omnium contra omnes herrsche aber er hat ihr nie, wie Werther,

ein Verbrechen daraus gemacht, daß sie den Werth seiner zarten Seele nicht genug anerkmne.

Wäre Leopardi ge­

sunden Körpers gewesen; hätte seine Gestalt dem edlen

Antlitze entsprochen,

das er zwischen

seinen erhöhten

Schultern trug; wäre Leopardi der Sorge ums liebe

Brot enthoben gewesen ; hätte er in einem freien Staate gelebt: er würde sicherlich mitgestritten und mitgenoffen haben als ein echter Mann.

Bon der Natur und dem

Schicksal grausam verfolgt, hat er weder weibisch ge­

weint, noch demüthig feige refignirt, sondern er ist, auf seinem Posten ausharrend, unterlegen; er ist stehend ge-

119 sterben wie der

römische Kaiser,

das laboremus im

Sinne, wenn auch nicht auf den Lippen.

Wenn Leopardi

das vanitas vanitatum vanitas in seinen unsterblichen

Dialogen variirt, so ist's der tiefsinnige Metaphysiker, der redet, nicht das verzärtelte Seelchen, das sich allzu rauh angefühlt dünkt, noch der verlebte Rouö, der das

Leben wie ein alter Spieler den Spieltisch ansieht, an dem er sein Vermögen verloren hat.

III. Nicht mehr als in Italien waren in England National-

Charakter, Nationalsitten und öffentliche Zustände am

Anfänge dieses Jahrhunderts dazu angethan, den Welt­

schmerz zu entwickeln.

Shelley's Atheistnus war durch­

aus davon nicht angekränkelt, und obschon man Byronis­ mus und Wertherismus meist für synonym hält, so will

uns doch bedünken, daß sie wenig mit einander gemein

haben.

Unser naiver junger Werther, der nie aus dem

friedlich ruhigen

deutschen Kleinleben

des achtzehnten

Jahrhunderts herausgekommen; unser Werther, mit seinen reinen Sitten, seiner beinahe jungfräulichen, zarten, nur zu zarten Seele, die vor dem Geräusche und Getümmel

der Welt schmerzhaft zurückbebt; unser Werther, der die

vornehme Ausschweifung wie das laute öffentliche Leben

europäischer Großstädte nur aus Büchern kennt — Werther ein Lord Byron!

Nein, wahrlich.

Gegen den armen,

fransen deutschen Jüngling gehalten, strotzt ja der Eng­ länder von Kraft und Fülle.

Elze hat uns den herr­

lichen Britten wieder recht nahe gebracht, und trotz aller Fehler, Schwächen, Sünden und Schatten wird's Einem ganz wohl zu Muthe in dieser lebensvollen Gesellschaft.

120 Wenn man bedenkt, was Byron Alles gegen sich hatte:

das körperliche Gebrechen, die Erziehung, die Verfolgung der englischen Gesellschaft, vor Allem aber die unselige

Ehe, die er eingegangen war, so muß man sich wundern über die eingeborene echt englische Kraft und Gesundheit dieser Natur, die das Alles überwand.

Hätte sich Byron

ungehemmt, harmonisch entwickeln können, er wäre wohl nicht der Dichter des „Childe Harold" und des „Don

Juan" geworden; aber vielleicht hätte er sich zu einem schönen Exemplare des herrlichsten Menschentypus. ent­

faltet, den die Geschichte seit Perikles' Zeiten gekannt : dem Typus des englischen Edelmannes, der mit seiner

Bildung in seiner Nation und' zugleich über ihr steht.

Ja, wir möchten behaupten — wenn man uns erlauben will, so lange bei einer Parenthese zu verweilen — daß

selbst Hellas zu seiner besten Zeit keine schönere Menschen­

blume aufwies, als England vor seinem Verfalle, dessen Anfang wir ja noch Alle miterlebt und der seiner höch­

sten Blüthe so nahe auf dem Fuße gefolgt ist.

Fehlten

doch dem Griechen die edle Wahrhaftigkeit, der kühne Freimath,

die männliche Würde und

die gemüthvolle

Innerlichkeit, die den achten brittischen Gentleman

nicht minder zierten, als die körperliche Kraft, Gewandt­ heit und Schönheit, die geistige Frische und Unmittelbar­ keit, die sittliche Noblesse, der nationale Stolz, der poli­

tische Klarsinn, welche wir gerne dem Hellenen zuschreiben. Leider, vom menschlichen, nicht vom dichterischen Stand­

punkte

aus, ist

irregeleitet worden.

und

die herrliche Kraft Byrons zu früh

in verhängnißvolle Bahnen

gedrängt

Man muß in Elze's trefflicher, sicherlich nicht

parteiischer Biographie lesen, wie von Anbeginn Alles

121 zu conspiriren schien, um diese schön angelegte Natur

recht gründlich

zu verderben.

Wie dem auch sei, von

schwächlichem, weinerlichem Wertherismus ist bei Byron

nichts zu spüren.

In der

strömenden Bewegung der

Welt, in dem ausschweifenden Wirbel der größten Haupt­

stadt bringt er die besten Jahre seiner stürmischen Jugend in jeder Art von Rausch und Aufregung hin.

Sitz

und

Rede in einem freien

Er hat

Parlamente.

Ruhm

und Frauengunst — nach Goethe's „Taffo" die höchsten Preise des Erdenlebens — hat er frühe gekannt und in vollen Zügen eingeschlürft.

hat er erschöpft:

Alle sinnlichen Genüsse

er ist blasirt, verdorben,

enttäuscht

durch's Leben; während Werther von alledem nur durch

Hörensagen etwas weiß und gerade weil er das Leben nicht kennt, der Verzweiflung anheimfällt. es anders sein sollen?

Und wie hätte

Der deutsche Jüngling von 1772

sah vor sich ein thatenloses Leben, eng und beschränkt.

Er fühlte in sich eine Welt und außer sich, über sich einen Wust von Trümmerwerk, verdorrtem Holze und faulem

Laube, daß er erst zersprengen mußte, ehe das junge, frische Leben wieder blühen konnte.

Dem Werther der

Dichtung gelingt es nicht und er erstickt unter der Last; der Dichter des Werther aber vollbringt die große That und ihm dankt seine Natton ihren neuen lebensvollen Früh­

ling.

Lord Byron — dem das Leben sich kräftig strotzend

von allen Seiten darbot, als Genuß und als Thätigkeit —

konnte nicht anders, als das Leben versuchen; er konnte die Enttäuschung erst fühlen, nachdem er es durchgenossen

und durchgekämpft.

Auch sind sein „Childe Harold", sein

„Don Juan", sein „Conrad" so

schuldig und corrupt,

als Welcher rein und unschuldig ist: hat doch Jeder den

122 Becher des Lebens bis auf die Hefe geleert. the fulness of satiety“, sagt

Lieblingshelden.

„He feit

der Dichter von seinem

Nur darin gleicht er Werther, daß er,

ungleich dem englischen Jünglinge, der in der Zucht der öffentlichen Schule herangebildet worden, nie gelernt hat, sich einen Zwang irgend einer Art aufzulegen,

„ ... and thue untaught In youth my, heart to tarne, My springe of life were poisoned.“ Aber er ist ganz ebenso unfähig und unwillig, sein Denken dem Denken Anderer zu unterwerfen (untaught

to submit bis thoughts to others).

Auch er sucht, wie

Werther, die Freundschaft'der Natur auf; aber eine be­

scheidene, lieblich beschränkte Natur genügt ihm nicht: er braucht die Alpen und das Weltmeer.

„Where rose the mountains, there to him were friends, Where rolled the ocean, thereon was his hörne.“ Für ihn, den Uebersättigten:

„High mountains are a feeling, but the hum of human cities torture“ Aber wiederum, welche brittische Kraft in dieser

Misanthropie, verglichen mit der resignirten Passivität

Werthers!

Byrons Verzweiflung

ist himmelstürmend:

Alles, was sie gereizt, möchte sie titanisch zertrümmern. Er haßt die ganze Welt.

Werther fühlt sich unsanft von

ihr berührt und zieht sich zusammen wie eine Sinn­

pflanze. . Heftig, wie seine Verzweiflung, ist Byron'»

Stolz.

Werther ist anspruchslos, bescheiden: selbst wenn

er, wie beim Gesandten, gedemüthigt wird, so klagt er,

er empört sich nicht;

fühle fähig.

er ist eigentlich nur sanfter Ge­

Bei Byron haben zwar auch manche zar­

tere Empfindungen

den verwüstenden Orkan überlebt

123 und

mehr

einmal

als

zitterte die Thräne in seinem

Blicke:

„But pride congeaFd the drop within his eye.“ Oft auch coquettirt er nur mit der Sentimentalität und wer weiß, wieviel wahre Empfindung, wieviel Pose

darin ist, wenn er in dem rührendsten seiner Gedichte ausbricht:

„Oh, could I weep as once I wept“ Im Grunde nämlich, trotz all seines Menschenhafses

und seines Ekels, ist der Ekel des korrupten englischen Dandy

bei Weitem nicht so tief als der des jungen

Deutschen, der die Welt noch nicht einmal kennt. Childe Harold interessirt sich für Alles: er thut nur, als wäre ihm Alles einerlei, er prahlt mit der Blasirtheit, wie er

ein fanfaron de vice ist.

auf seiner

Kein Punkt der Erde, den er

Pilgerfahrt berührt und der ihm nicht die

Großthaten der Vergangenheit oder der Zeitgeschichte ins

Gedächtniß

ruft:

und Waterloo.

Napoleon Er

und Hannibal, Saragossa

conspirirt für die Unabhängigkeit

Italiens und er stirbt für die Freiheit Griechenlands. Im

Grunde ist er eben weit weniger blasirt als der

unschuldig aussehende junge Werther mit seiner Candi-

daten-Miene, und er hätte doch ein viel größeres Recht fich über die Welt zu beklagen als sein deutscher Vor­

gänger im Weltschmerz; denn ihn hatte die Welt derb angefaßt und die Hälfte seiner Leiden kam von der Härte, der Rohheit, der Bosheit der Gesellschaft, welche den

armen

kleinen

Werther vollständig ignorirte und gar

keine Ahnung davon hatte, daß sie ein so edles Opfer langsam hinmordete. Auch steht Byron's Krankheitsfall in

England vereinzelt da; in Deutschland wimmelte es von

124 SiegwartS und — bei dem Engländer lähmte das Uebel

den edlen Kranken nicht, sondern verdoppelte seine Energie. Wir hatten demnach ein Recht zu sagen, daß der Wertherismus eigentlich in England keinen günstigen Boden fand. Die psychische Krankheit der Weltverachtung hat dort doch nur schon verlebte, ja verderbte Individuen anstecken können oder solche, die, wie Byron, die dort so allgemein

verbreitete positive Religiosität — wenn ich mich so auSdrücken darf — nicht theilten und sich in den Skepticismus gestürzt hatten und selbst dann war sie unfähig, die an­ geborene Kraft zu zerstören.

IV. Warum gerade Frankreich von der moralischen Seuche des Weltschmerzes besonders ergriffen und mitgenommen

worden sein mag, haben wir früher versucht, kurz anzubeuteti. Welche Gestalt sie bei den größten Vertretern der französischen Bildung zwischen 1800 und 1830, bei Chateaubriand, Benjamin Constant, Lamartine, Muffet und George Sand angenommen, scheint eine Frage von Interesse zu sein und wirft ein merkwürdiges Licht auf Charakter und Stimmung der Nation. Alle diese heute ganz unverständlich, vielfach sogar ungenießbar geworde­ nen Werke, wie „Obermann", „Rens", „Adolphe", „Lölia" und so viele andere, waren zwar einerseits Er­ zeugnisse der durch die materialistische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, die Anstrengung der Revolution, das Absterben der alten, das Entstehen der neuen Gesell­ schaft hervorgebrachten geistigen und sittlichen Verwirrung;

sie waren aber auch e andrerseits wieder Ursache der seit fünfundzwanzig Jahren in der Sitte Frankreichs herr­

schenden Stimmung.

Die Männer, welche am Ende des

125 vorigen Jahrhunderts geboren wurden, wußten sich ent­ weder überhaupt vor Ansteckung zu bewahren oder nach durchgemachter Krankheit der wiedergewonnenen Gesund­

heit thätig zu genießen; nur sehr Wenige unterlagen. Das Geschlecht, das gegen 1830 die Welt erblickte, beim Eintritt ins wirkliche Leben Zeuge einer muthwilligen

Revolution war, welche ohne jedes tiefere Motiv die fran­ zösische Gesellschaft und den französischen Staat in ihren Fundamenten erschütterte, das dann die besten Jugend­ jahre in der Grabesstille der ersten Jahre des Kaiser­ reiches, von jeder gesunden öffentlichen Thätigkeit aus­ geschloffen, rühmlos und thatlos hinlebte, sog das Gift jener Kranken-Romane begierig ein, und vielleicht ist

jenen Werken nicht ein geringer Theil der Schuld zuzu­ schreiben, wenn die Generation, die heute Frankreich be­ herrschen sollte, in ihrer Entmannung auch nicht Einen wirklich bedeutenden Mann im Staate, in der Literatur, der Kunst oder der Wissenschaft hervorgebracht hat. (Die einzigen Jünglinge, welche Frankreich im Jahre 1873 noch aufzuweisen hat, heißen Thiers, Dufaure, Mignet, und sind Kinder des achtzehnten Jahrhunderts.)

Der Erste, der in Frankreich jenem geheimnißvollen Wehe des Ueberdruffes eine Stimme lieh, war Chateau­ briand. Es ist hier nicht der Platz, die wunderbare Schönheit, die in ihrer Einfachheit so majestätische Sprache, die im kleinen Rahmen so vollendete Composition des sonderbaren Büchleins ins Licht zu setzen, welches in den Augen der Nachwelt immer als das Meisterwerk des frucht­ baren Staatsmannes gelten wird. Für uns handelt es sich jetzt nur um den Stoff.

Ein Abgrund trennt, trotz aller

scheinbaren Analogien, die Krankheit Werther's von der

126 Gar Manches

Rens's.

ist beiden Helden gemein:

die

Jugend, die Grundlosigkeit ihrer Schwermuth, die gefähr­

liche Speise des Ossianismus, mit der sie ihre Schmerzen nähren. Aber welche Verschiedenheiten auch!

Vor Allem

erscheint es uns als ein großer Mißgriff Chateaubriand's,

aus Rens einen Gläubigen gemacht zu haben.

Man be­

greift, daß ein junger Skeptiker wie Werther beim An­

blicke der scheinbaren Unordnung und Ungerechtigkeit der Welt,

die er nicht versteht, von Schwermuth ergriffen

wird; aber Rens's inbrünstige Frömmigkeit sollte überall

nur Harmonie erblicken und, wenn es ihm nicht möglich

wäre dieselbe zu erblicken, sich in das Kloster oder in

kirchliche Werkthätigkeit flüchten, wo er dann der Welt, die ihn verletzt, vergeffen, auf eine bessere, schönere hoffen

könnte.

Auch macht sich Rene einen Begriff von seinem

Genie, seiner Kraft, von welchem dene Werther keine Ahnung hat.

der

arme,

beschei­

Rens thut immer, als

hätte er jeden Augenblick ein Rapolson sein können, .wenn er nur geglaubt hätte, daß es der Mühe lohnte.

Werther

mißtraut sich selbst und wenn er sich auch im Müßiggang

gefällt, so läßt ihn doch wenigstens die Eitelkeit in Ruhe. Er sucht nur die zarten Freuden des Gemüthes, und da er seine Wünsche nur befriedigen kann indem er die ge­

sellschaftlichen Schranken niederreißt,

wozu es ihm an

er sich selbst.

Was Rens fehlt,

Kraft gebricht,

opfert

sind nicht zarte Neigungen, sondern Gelegenheiten zu

glänzen ;

was er zu befriedigen wünscht, ist nicht sein

Liebebedürfniß, sondern sein amour-propre.

Trotz

all

seines Kosmopolitismus bleibt er aber ein Stockfranzose von Chateaubriand's und Lamarttne's Schlage.

Er liebt

im Grunde nichts und Niemanden als sich selbst; er

127 nimmt nur an dem Theil, was seine grandiose Selbst­ sucht mittelbar oder unmittelbar berührt; ihm fällt nicht

ein, wie dem schlichten Werther, mit Kindern zu spielen, mit armen Bauersleuten zu plaudern, den Kummer des

Geringsten sich zu Herzen zu nehmen; seine Schmerzen sind zu vornehm, um sich in so schlechte Gesellschaft zu

begeben.

Der stolze ennui Rene's hat nur in unbefrie­

digtem Ehrgeize seinen Grund.

Was ihn eigentlich quält

— was Chateaubriand sein ganzes Leben über quälte — ist,

daß.die Welt sich herausnahm,

Anderem als mit ihm zu beschäftigen.

sich mit etwas

Es kam ihm vor,

als ob alle Aufmerksamkeit, die man Anderen zuwandte, ihm gestohlen sei, dem sie allein gebühre.

Man hat ganz

den Eindruck, daß Ren« den großen Napoleon um das Geräusch beneidet,

das sein Name verursacht;

daß er,

Renö, überzeugt ist, er könne jeden Augenblick dieselben

Thaten verrichten, wenn er nur wolle.

Aber warum will

er nicht? Und hat man nicht das Recht, ihn — wie die

meisten Derer, die sich beklagen, daß sie nicht den ihnen zukommenden Platz in der Welt einnehmen — int Verdachte

zu haben,

daß

er unfähig war,

sich ihn zu erobern?

Renö's Blick umfaßt die ganze Welt: er hat Italien und den Orient gesehen, Schottland und Spanien bereist, er

hat den Kämpfen der großen Revolution und dem ame­

rikanischen Freiheitskriege beigewohnt; aber keines von

den

beiden

ungeheuren Zeitereignissen

genügt, seinem

Thatendurst, weil dieser Durst im Grunde nur ein Ruh­

mesdurst ist und weil Anderer Ruhm die Welt erfüllte,

neben dem der seine nicht aufzukommen vermochte.

Wie

beschränkt ist Werther's Theater neben diesem unermeß­

lichen Schauplatze!

Wie wenig bietet ihm das öffentliche

128 Leben seiner Nation!

Nichts fordert ihn zum Handeln

auf; seine Geburt schließt ihn von einer großen Laufbahn

aus, während Renö's Geburt, Reichthum, Genius, Um­ gebung, Zeit — Alles, in Einem Worte, ihn aufruft ein­

zugreifen, ihm zu

sagen scheint:

„Hic Rhodus, hie

salta!“ Stolz und Eitelkeit allein verhindern ihn daran. Was nun aber gar Rene's Leidenschaft anlangt, so

ist darin schon mehr als ein Auffehnen gegen willkürliche

gesellschaftliche Satzungen.

Denn in der auch nur gedach­

ten Blutschande liegt schon, unserem Gefühle, wenn auch

nicht der Wirklichkeit nach, ein Empören gegen nothwen­

dige Naturgesetze.

Wir glauben schon darin eine gewisse

Korruption zu verspüren, die uns an Byron's weniger sympathische Schöpfungen erinnert.

Auch ist die Phan­

tasie bei Rens mehr entstammt als das Herz: diese ganze

psychologische Entwicklung ist echt modern gesucht, künst­ lich und doch wahr, oder vielmehr wirklich, wie so man­

ches Künstliche und Verzwickte.

Rens

hat Amelie nie

anders als mit brüderlicher Neigung geliebt; erst als er erfährt, daß sie seine Schwester ist und welche Art von

Gefühlen sie für ihn nährt, fängt er an, sich in ihrer

Abwesenheit seine eigene sinnliche Leidenschaft in den Kopf zu setzen.

Auch literarisch erinnert Rene wenig an Werther.

Die immer etwas gehobene Beredtsamkeit in Chateaubriand's Styl ermüdet selbst in so kleinen Verhältnissen. Werther's einfache, feste und doch bewegte Sprache wiegt den Leser, ohne ihn je einzuschläfern. Wie natürlich ist die

Unterhaltung der deutschen Bauern, verglichen mit der

pomphaften Declamation von Chateaubriand's Rothhäuten! Wie wenig bedarf der Deutsche, um sich im Genuß der

129 Natur zu versenken und zu vergessen; wie unbehaglich würde sich Rens in dem kleinen bescheidenen Lahnthale fühlen, er, der immer gleich Steppen, Oceane und Schnee­ berge haben muß, wenn ihm die Natur etwas sagen sott. Und wie fremd und kalt steht ihm selbst diese große Natur gegenüber, während sie bei Werther eine Seele annimmt,

sich ihm individualisirt und lebt, wie die Personen des Romanes leben, nicht formlose Schattenbilder wie Reps's Berge und Bäume, Helden und Heldinnen, Gedanken und Gefühle, sondern leibhaftig wie die Natur selber. Bald nach „Rens" (1804) erschien, anfangs wenig bemerkt, das sonderbare Buch Ssnancour's „Obermann", das erst zehn, zwanzig Jahre später, mitten in der Re­ staurationszeit, seinen wahren Erfolg hatte. Von allen berühmten Kranken des Jahrhunderts ist Obermann un­ zweifelhaft der kränkste. Auch könnte man von dem bi­ zarren Werke sagen, daß es wahrer ist als alle anderen, welche ähnliche Zustände behandeln, wahrer sogar als „Werther". Wenn aber Niemand den Weltschmerz aufrich­ tiger empfunden hat als der Verfasser „Obermann's", so hat auch Keiner weniger sich davon zu befreien gewußt. Es ist dies im Grunde die schwache Seite des Buches: es interessirt nur durch seinen Stoff und ist folglich für alle Die, welche dieser Stoff nicht mehr interessirt — und man darf wohl annehmen, daß die Zahl sehr groß ist — geradezu unlesbar; während „Werther" und „Rens", „Childe Harold" und „Jacopo OrtiS" ewig gelesen sein

werden, -weil sie den Stoff dichterisch behandelt, verall­ gemeinert, in Einem Worte ewig gemacht haben. „Ober­ mann" ist eine pathologische, eine gräulich wahre Studie; es ist ein Werk der beschreibenden Wissenschaft, kein KunstHillebrand, kulturgeschichtliches.

9

130 werk.

Der Styl ist einfach, aber ohne irgend eine Be­

sonderheit im ®uten wie im Schlimmen, ost sogar zu farblos, zu neutral, wenn ich so sagen darf.

Von Com-

position keine Spur; Situationen, Handlung, Charaktere

abwesend.

Auch wird das Buch fortan wohl nur noch

von Solchen gelesen werden können, die den Muth haben, die

moralische Geschichte des XIX. Jahrhunderts zn

schreiben.

Niemandem wird es in den Sinn kommen,

es zur Unterhaltung oder zur Erbauung zu lesen.

Fragm wir uns nun nach der besonderen Natur der Krankheit, welche dieses einst so viel gelesene medi-

cinische Werk schildert, so können wir nicht besser thun, als George Sand's treffendes ResumS anführen, das in

seiner Kürze Alles sagt.

„Renö", meint sie, „ist das

Genie ohne Willen; Obermann sittliche Höhe ohne Genie,

kränkliche Empfindlichkeit, grausig vereinsamt in Abwesen­

heit thatenlustigen Willens. Ren« sagt: „Wenn ich wollen könnte, könnte ich handeln."

wollen?

Obermann sagt: „Wozu

Ich könnte ja doch nicht."

Man lese die ganze

Herrliche Vorrede, welche die große Romanschriftstellerin

dem Buche Cenancour's vorangeschickt; es ist unmöglich, den schmerzlichen Puntt besser zu treffen.

Melleicht be­

steht sie indessen doch nicht genug auf einer Prätenfion

Obermann's, die einen bedeutenden Platz in dem eigen­ thümlichen Buche ausfüllt: ich meine, seine unglückliche Sucht zu philosophiren, welche ihre Quelle in seiner Eitelkeit hat, denn auch hier, wie in allen Werken der

Art, spielt die Eitelkeit eine hervorragende Rolle.

Ober­

mann glänzt nicht durch Willensstärke; doch hätte er immer noch genug, um sich aus seinem träumerischen Müßiggänge herauszureißen, wenn er die Mittelmäßigkeit

131 nicht verachtete und sich nicht unfähig fühlte, sich über

die Mittelmäßigkeit zu erheben — und das heißt doch wohl Eitelkeit. Obermann giebt sich vollständig Rechenschaft über

sich selbst: er weiß, daß es ihm leicht wird, daß er nicht

unbegabt ist,

daß

er einen trefflichen Arbeiter abgebm

könnte, vorausgesetzt, daß er sich mit dem zweiten Range

begnügte, er weiß auch, daß er durchaus nicht dazu ge­

macht wäre, die erste Stelle einzunehmen.

Diese Aufrich­

tigkeit sich selbst gegenüber ist ein treffliches Gefühl, und

es muß ihm hoch angerechnet werden; aber warum übt er denn nicht seine Fähigkeiten in jenem zweiten Range, der ihm offen steht?

daran.

Nur die liebe Eitelkeit hindert ihn

Das ist nun Eines unter den wenigen Dingen,

die er sich nicht gesteht.

Lieber macht er sich eine Art

skeptischer Philosophie zurecht über die Nutzlosigkeit mensch­

licher Anstrengungen, die Lehrheit des Lebens und andere

Gemeinplätze.

Indeß ist, dem armen Obermann gerecht

zu werden, diese seine Eitelkeit nicht ganz unbegründet. Obermann ist in einer Hinsicht den meisten Menschm

überlegen, und da er nichts gethan hat als sich selbst zu

studiren, an sich selbst herumzugrübeln, so ist er sich

dieser seiner Ueberlegenheit sehr wohl bewußt, eine seltene Feinfühligkeit.

er hat

Nichts ist gewöhnlicher in

der Welt als eine Superiorität des Geistes und des

Willens, die sich mit der Gemeinheit, ja mit der Rohheit

des Gefühles verträgt.

Niemand ist schmerzlicher von

diesem Gegensatze berührt als Obermann'- zartes Gemüth, das bei jeder rauhen Berührung sich krampfhaft auf sich

selbst zurückzieht.

Es ist nun aber eine durchaus unge­

rechtfertigte, wenn auch allzu verbreitete Prätension der sentimentalen Seelen, sich um dieser Sentimentalität und

9*

132 Sensibilität willen eine thatsächliche Ueberlegenheit über

die Menschen roheren Stoffes zuzuerkennen — eine Präten­ sion, die noch viel weniger Berechtigung hat als die, sich des Handelns entbunden zu glauben, weil Jeder­ mann diesem Zartgefühl keine Gerechtigkeit widerfahren läßt. Die Welt, die Gesellschaft, betrachten mit Recht diese Tngend als die untergeordnetste aller Tugenden; Verstand, Willen, Beharrlichkeit, Muth, Redlichkeit sind die Eigenschaften, welche sie am höchsten stellt, weil sie die thätigsten sind und weil sie am meisten produciren: Obermann'S Eigenschaft — die Feinheit des Gefühls — mag einen großen Zauber ausüben, aber sie ist mehr eine passive als active Tugend, der Gesellschaft unnütz, weil sie nichts für sie hervorbringt, weil sie ihr unfruchtbar erscheint, und sie bringt sie nur dann in Rechnung, wenn sie von anderen, wesentlicheren Eigenschaften begleitet ist. Die Moral, die Kunst, die Psychologie können solche Naturen nicht nur fteisprechen, sondern ihnen noch einen hohen Werth beilegen; das thätige Leben duldet sie nicht. Auch spielt Werther'S Selbstmord die Rolle des Schicksals in der antiken Tragödie: er löst das anders unlösbare Drama. In „Obermann" ist kein Drama und der Selbst­ mord ist keine Handlung, es ist ein Verschwinden. Der Roman zergeht, er löst sich nicht. Die meisten ftanzösischen Kritiker und Literarhisto­ riker rechnen Benjamin Constant's „Adolphe" unter die Werther-Romane. Nichts scheint uns diese Assimi­ lation zu rechtfertigen. „Adolphe" ist unbestreitbar in Bezug auf Form eines der bewundernswerthesten Meister­ werke einer Literatur, die gerade an Werken vollendeter Form so besonders reich ist. Der Styl einfach, correct, belebt und

133 ergreifend,

darf dem der größten Meister französischer

Prosa beigezählt werden, die Charakterzeichnung ist wahr und lebendig, die Oekonomie von unendlicher, ja einziger

Kunst.

Das Ganze trägt das Gepräge der hohen, sehr

vorgeschrittenen, aber auch verderbten Civilisation, deren

Frucht es ist.

Dieses so formvollendete Werk, so voll

richtiger, ja tiefer Bemerkungen und weitester Lebens­ erfahrung, ist, unserer Ansicht nach, eines der schlimmsten

Bücher die existiren, gerade weil alle Leidenschaften und Gefühle die es schildert, Leidenschaften und Gefühle sind,

die nur eine verderbte Gesellschaft erzeugen kann.

Jene Lage, die der sonderbaren Erzählung ihre Ein­ heit giebt, ist unnatürlich und falsch — nicht vom Stand­

punkte der Wirklichkeit aus falsch, sondern vom Stand­

punkte der gesunden menschlichen Natur aus.

Die Con-

venienz-Moral, die darin gepredigt wird, verbirgt nur

sehr unvollkommen die Unsittlichkeit der Anschauung, bje• zu Grunde liegt.

Auch die Gefühle sind wirklich, aber

künstlich. Die beiden Charaktere endlich, die so vollständig

und so gründlich beobachtet und analysirt sind, die Cha-

rattere Adolphen's und Ellönore's, sind ungesund und corrupt an sich.

Beiden gebricht es an Würde — eine

Tugend, die weder Werther noch Jacopo Ortis, weder

den Helden Byron's noch

dem Chateaubriand's fehlt.

Nun sind aber durchaus würdelose Charattere — und

Ellönore namentlich geht unendlich weit in dieser Hin­

sicht — nicht dazu angethan, als dramatische Helden, ja nur als Axen eines Romanes zu dienen.

Das Buch hat

nichts Werther'sches, sagten wir, denn der Wertherismus bedeutet im europäischen Sprachgebrauch ein Uebel ohne

anscheinende Ursache, unserem Jahrhundert eigenthümlich.

134 zusammengesetzt aus einer gewissen Reinheit und Aufrichtigkeit, einer übertriebenen Zartheit des Gefühles und

einer falschgeleitetm Phantasie; es ist der tragische Kampf

des edleren, inneren Lebens gegen die Gesellschaft und

ihre äußerlichen Gesetze; in jedem echten Wertherianer steckt ein Misanthrop, wie Molieres „Alceste".

Das hat

«her mit Adolphe's Uebel gar nichts zu thun.

Seine

Krankheit hat sich zu allen Zeiten des Verfalles entwickeln

müssen, in Griechenland, in Rom, im Italien des Seicento — wie die Fäulniß einer altgewordenen Vegeta­

tion.

Rens, Werther, Jacopo, Childe Harold, Conrad

kämpfen Alle oder opfern sich auf.

Adolphe bleibt fort­

während passiv und bleibt bei allem inneren Wehe ein Mcht ein spontanes

höchst korrekter Gesellschastsmensch.

Gefühl, nicht eine natürliche Bewegung in alledem. Er

liebt Ellönore nicht einmal, nur die Eitelkeit läßt es ihm

ipünschenswerth erscheinen, von einer so glänzenden Erschei­ nung unterschieden und geliebt zu werden; ja er achtet sie selbst nicht und zeigt es zur Genüge.

Nichts verhindert

ihn an der Arbeit; er verachtet durchaus weder die Welt noch ihre Thätigkeit, wie der echte Pessimist aus Werther'S

Schule, aber er schätzt die Thätigkeit nur so weit, als sie seine Eitelkeit befriedigt; nur die Hoffnung, in den

Salons zu glänzen, bestimmt ihn, endlich wieder thätig ins Leben einzugreifen, nachdem er eine Zeit lang mit

Ellsnore entfernt von der Welt gelebt.

Kurz, Adolphe

hegt gar keinen Haß gegen die Gesellschaft, noch gegen den Staat, noch gegen die herrschende Moral, noch gegen die

Religion;

recht im Gegentheil

unterwirft er sich

bereitwilligst allen Forderungm der Gesellschaft, so un­

gerechtfertigt sie auch sein mögen.

Wenn er nur einmal

135 ihren Satzungen und Konvenienzen trotzen wollte, könnte er ja Frieden und Ruhe finden: er braucht nur Ellenore zu heirathen, fie ist frei, und nachdem die Gesellschaft

gemurrt und getadelt hätte, würde sie ihn

ein wenig

freigesprochen

haben.

In einem

keine Werther-Natur und

Worte: Adolphe ist

kein Byron'scher Charakter,

denn weit entfernt, der geschworene Feind der Gesellschaft

zu sein, ist er ihr servilster Sklave.

Es ist eben mit

dem Buche wie mit dem Autor: Niemand hat deutsches

Wesen besser anempfunden als Benjamin Constant, Nie­ mand ist im Grunde ein eingefleischterer Franzose geblieben als er

und nur ein eingefleischter moderner Franzose

konnte einen „Adolphe" schreiben. Noch haben wir die Liste der französischen Werther lange nicht erschöpft: Frankreich hat deren

und Byron

mehr als irgend eine andere Nation aufzuweisen: Lamartine in

seinen

„Meditation»“ und „Harmonie»“;

Sainte-

Beuve in seinem „Josephe Delome“ und in „Volupte“;

George Sand in „Lelia“, Alfred de Müsset in seinen „Confessions d’un Enfant du siede“, haben Alle diese

Saite berührt, ohne Alle gleich tief von dem sonderbaren

Wehe ergriffen zu sein.

Auch ist die Analogie der drei

erwähnten Dichter mit Byron und Goethe mehr scheinbar als wirklich.

Der Sänger Elviren'S drapirt sich mehr

in seinen Schmerz, als daß er wirklich davon durchdrungen ist; in den malerischesten Stellungen „sitzt" er vor dem Publikum, weiß mit Anmuth zu weinen und mit Eleganz zu seufzen.

Seine Dichtungen haben mehr Aufsehen als

Eindruck gemacht.

Der wunderbare Zauber der Verse,

die einschmeichelnde Musik der Sprache hat über die Leere

des Inhaltes getäuscht,

und die allgemeine Stimmung

136 kam dem Dichter zu Hilfe, indem sie gütig genug war, Gefühle in seinen Gedichten zu staben, die sie selbst hin­

einlegte. Sainte Beuve's Josephe Delorme ist «och weniger

Elvirens

als

Geliebter vom Uebel des Jahrhunderts

ergriffen: Josephe Delorme ist einfach Beaumarchais' und

Moliöre's Cherubin — ogni donna lo fa palpitar —

aber ein Cherubin ohne Frische.

Erwachen

Nun. sind aber dieses

der Sinnlichkeit im Knabenalter, diese Art

schülerhafter Corruption der Phantasie, diese Ungeduld, nicht, schnell

genug durchzudringen in der Welt ganz

normale Erscheinungen der Menschennatur und gehören als solche allen Zeiten

und allen Nationen an.

von dem tiefschmerzlichen

Auch

Buche George Sand's,

von

„Lelia“, ist schwer zu reden, ohne eine Art von Vivi­ sektion

anznstellen, die weder nach unserem Geschmacke,

noch in unseren Gewohnheiten ist.

Wohl an Lamartine

hat die literarische Kritik schon zu seinen Lebzeiten mehr als billig moralisches Splitterrichteramt geübt; aber er

hat sie durch seine unaufhörlichen Selbstbekenntniffe nur

zu sehr herausgefordert.

Mit Sainte-Benve war der

Schreiber dieser Zeilen persönlich befreundet; zwar auch über ihm hat sich da« Grab schon geschloffen, ja lange

vor seinem Tode sah der Verfaffer der „Causeries du

Lundi“ auf den Verfaffer von „Voluptd“, wie auf einen

alten

längstgeschwundenen

Jugendfreund

hin.

George

Sand aber lebt noch* und die von ihr in „Lelia“ an* Dieser Aufsatz wurde vor mehrere» Jahren geschrieben, seit­ dem ist die große Schriftstellerin auch dahin geschieden; doch schien es gerathen, diesen Paragraphen stehen zu kaffen.

Die Herausgeberin.

137 geregten Probleme sind

sönlichster Natur, daß

so delikater und dabei so per­

man nicht daran rühren kann,

ohne die Persönlichkeit der großen Dichterin selbst recht Nun handelt sich's heute

indiskret ins Auge zu fassen.

und hier gerade nicht um den künstlerischen Werth oder

Unwerth dichterischer Erzeugniffe — über die man sich auch Zeitgenossen, ja Freunden gegenüber stets mit Freimuth aussprechen sollte —

sondern es handelt fich um eine

Seelenkrankheit, bei deren Analyse oder Schilderung die Diskretion die erste Pflicht ist.

Nichts verhindert uns, noch mit einem Worte des­ jenigen französischen Dichters zu gedenken, welcher als der vollkommenste Typus des

Byronismus

angesehen

werden kann, welcher, zum eigenen und zu seines Vater­ landes Unglück, dem Uebel erlag, des größten poetischen Genius, den Frankreich seit dem siebzehnten Jahrhundert

hervorgebracht: Alfred de Muffet's.

Da haben wir es

wieder einmal, wie bei Goethe, Byron, Heine, mit einem

jener Sterblichen zu

thun,

welche

die Natur selbst

zu den Verkündern ihrer Geheimnisse auserlesen, mit

einem

vas Dei,

aber das zu schwach ist, den Gott im

Busen zu Herbergen.

Muffet war andererseits in einer

gesellschaftlichen Sphäre geboren, die, ohne glänzend zu

sein, der Aristokratie näher stand als dem Bürgerthum und mit eleganten, feinen Sitten eine schöne und gediegene Mldung vereinigte.

Uebel, das

Anlage wie Bildung unterlagen dem

ihn früh ergriff und ihn schmerzlicher und

vollständiger als alle Anderen zerrüttete.

Kaum entdeckt

man in seiner ganzen reichen Hinterlassenschaft hie und da eine

frische, kleine Blume, die der Pesthauch nicht

angekränkelt.

Denn selbst in seinem Scherzen ist Muffet

138 traurig; er weiß wohl das Scherzen der Ironie wie das

der Heiterkeit zu finden.

Seine Byron'schen Gedichte,

wie „Namöuna“ und „Mardoche“ mit all ihrem gallischen

Witze, ihrem dichterischen Schwünge, mit all ihrer frivolen Leichtfertigkeit und

spöttischen Lachlust, sind Erzeugnisse

einer tief krankenden Seele, die sich zu betäuben, die zu

Da ist nichts von Rabelais' derber,

vergessen sucht.

unauslöschlicher Lache, nichts das

um Voltaire's Mund

von dem feinen Lächeln,

spielt und

den bösen alten

Herrn nie am Schlafen gehindert hat; es ist das höhnisch

bittere

Lachen der Selbstverachtung und der Weltver­

des

achtung,

quälenden

Zweifels,

des

ungenügenden

Glaubens, der ohnmächtig ankämpst gegen diesen Zweifel:

Muffet spottet der ihn umgebenden Wirklichkeit als eitel Scheines, ohne doch an die Wirklichkeit feines inneren Menschen zu glauben und indem er schon sein Spotten

bereut,

noch

ehe

er den Satz beendigt.

Doch in den

ernsten, melancholischen Gedichten fühlt sich sein tiefsinniger Genius noch mehr zu Hause; hier leiht er dem Zweifel,

der Enttäuschung, der desesp^rance — wie er selbst es

nennt — die unwiderstehlichst dichterische Stimme.

Von

Werther jedoch ist hier eigentlich nur noch die Jugend

und

die

geblieben.

zarte überreizte Feinheit des Gefühles übrig Zu diesen Werther-Eigenschaften gesellt sich

aber eine frühzeitige bittere Erfahrung, gesellt sich vor

Allem die nervös erregte Künstlernatur, die Muffet zu einer ganz besonderen Figur machen.

In ihm haben

wir vielleicht das vollständigste Specimen unserer Krank­

heit, d. h. alle äußeren und inneren Ursachen des Uebels und alle seine Folgen auf ein einziges Wesen zusammen­

gedrängt, das schon durch seine Organisation prädisponirt

139 ist, alle Gemüthseindrücke besonders lebhaft zu empfinden. Musset's Seele ist eine unablässig vibrirende, leidende Saite. Rolla — wir nehmen den Namen, unter dem der immer sich selbst gleiche Held der Muffet'schen Muse am berühmtesten geworden — Rolla ist jung, aber schon welt­

erfahren, und die Welt, die er kennt, ist nicht die bürger­ liche Welt einer deutschen Kleinstadt, sondern die raffinirte

Welt der Hauptstadt Europas. Er vereinigt die äußerste Zartheit des Gefühls mit vorzeitiger Verderbtheit. Er ist genährt worden mit der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts; aber das historische und künstlerische Dilettanten-Christenthum des neunzehnten Jahrhunderts, das Christenthum Chateaubriand's und der deutschen Roman­ tiker, hat ihn durch seine poetische Seite verführt. Alles widerspricht und bekämpft sich in ihm, und nur ein Motiv beherrscht alles Andere: die Künstlernatur. George Sand, in einem Roman, der, sittlich betrachtet, eine schlechte That war/ der, wie alle Werke der großen Dich­ terin, mittelmäßig komponirt, aber in stylistischer und psy­ chologischer Hinsicht eines ihrer Meisterwerke ist — George Sand hat uns in „Elle et Lui“ ein unübertreffliches Porträt des armen Muffet gelaffen, das zugleich als eine naturgeschichtliche Beschreibung L la Buffon der Künstlernatur gelten kann. Man wäre versucht zu glauben, es sei ein Kommentar zu den Gedichten Muffet'S, welche ja eine lange Beichte bilden, wenn wir nicht wüßten, daß er aus persönlichster Erfahrung und Beob­ achtung geschöpft ist. Aber dieses Persönlichste kann zu­ gleich als das Allgemeinste bienen, als Typus der modernen Künstlernatur: äußerste Erregbarkeit und nervöse Empfind-

140 lichkeit, fortwährende Alternativen von Leidenschaft nnd Enthusiasmus, von Ermüdung und Entmuthigung, eine schön angelegte Organisation, die sich aufreibt, weil sie weder Ruhe noch Gleichgewicht finden kann. Er selbst

schildert sich, weniger pathologisch, aber auch poetischer als seine einstige Freundin, und immer ist's derselbe Akkord, den er ins Unendliche melodisch variirt: die unwiederbringliche Poesie vergangener Zeiten, die Prosa

des modernen Lebens, Sehnsucht nach ferner Schönheit: Regrettez-vous les temps oü le ciel sur la terre Marchait et respirait en un peuple de Dieux? Oü Venus Astarte, fille de l’onde amere, Secouait, vierge encore, les larmes de sa mere Et fecondait le Monde en tordant ses cheveux ?

Und nach dem Alterthume ist's das Mittelalter, das ihn anzieht; nie wagt er, sich zu sagen: „Sieh, das Schöne liegt so nahe!" nur in nebliger Ferne will er es

sehen, in der Nähe wird seinem kranken Auge Alles tonund farblos. Hier aber liegt der Unterschied zwischen dem robusten Genius des wahren, souveränen Dichter­ königs und dem zarten, aber in seinem Keime schon angefreffenen Dichtertalent. Wäre Muffet ein Goethe ge­ wesen, wie er hätte er sich der Jngendkrankheit ent­ rissen, und anstatt der vielen, freilich wunderbar schönen Fragmente, die er gelassen, uns Werke gegeben, in welchen er, wie in „Hermann und Dorothea", die Poesie

der Wirklichkeit der Gegenwart geoffenbart hätte. Er hätte sich nicht in „unfruchtbaren Wünschen" (Les voeux steriles) gefallen, hätte nicht Goethe den ganz üngerecht-

ferttgten Vorwurf gemacht, durch seine Werther-Leiden und Faust-Zweifel seine Jugend vergiftet zu haben. Wie

141 der deutsche Dichter nach Werther's Verklärung sich in

die

reinen und. gesunden Regionen der einfach großen

Poesie erhoben; wie „aus der Asche von Chartas Freunde,

begraben an den Ufern des Mechacobe, der Redner und der Dichter sich erhob, der in Frankreich groß ward" (Worte

von George Sand);

Harold's"

wie der Sänger „Childe

ein schuldvolles Leben büßte, indem er das

Einzige opferte, was ihm nach so vielen Verlusten nnd Enttäuschungen

übrig

blieb;

wie er sein Leben selbst

opferte für die Sache des geknechteten Volkes: so hätte

Alfred

de Muffet, anstatt ein trauriges Dasein hinzu­

schleppen — unfruchtbar für sich und unfruchtbar für sein Land — bis zu einem nicht minder traurigen Ende, das

Niemandem zugute kam, seiner Nation nnd seinem Ge­ schlechte das sein können, was ihnen so sehr Noth that:

ein Dichter, an dem sie sich gestärkt und aufgerichtet, während sie jetzt an ihm einen Dichter haben, der sie

in ihrem Zweifeln und Verzweifeln nur bestärken kann.

Und doch war sein Ende wie sein Leben lehrreich, schmerz­ lich lehrreich; denn es bewies wieder einmal, daß die größten Gaben der Natur nicht hinreichen, einen großen

Dichter zu machen; daß auch die sittlichen Eigenschaften

des Muthes und des Willens dazu nöthig sind und daß auch von der Kunst, wie von jeglichem Schönen, des alten

Hesiod Worte gelten: „Vor den Lohn setzten die unsterb­ lichen Götter die Arbeit."

aus

Dies

nun gerade ist die Lehre, die sich überhaupt

dieser

nothwendigerweise sehr unvollständigen und

sehr oberflächlichen Skizze ziehen läßt.

Die Dichtung

hatte das Recht, ja die Pflicht, eine so allgemein gewordene psychologische Krankheit zu schildern, welche die Jugend ganz

143 Europas erfaßt hatte, beinahe fünfzig Jahre mehr oder

minder heftig gewüthet, die mächtigsten. Geister heimge­ sucht, die zartesten zerstört hat. leisesten Regungen

Der Poet soll auf die

seiner Zeit lauschen;

wie sollte er

diesem Wehe nicht seine Stimme geliehen haben? Aber er durfte und konnte es nur dann würdig thun, wenn er sich selbst davon befteite.

Er mußte durchgehen, nicht

darin verweilen, noch weniger darin untergehen.

Goethe

aber ist der Einzige der diese Aufgabe des Dichters ganz

gelöst:

die Aufgabe, ganz seiner Zeit zu gehören und

doch ganz über ihr zu stehen.

Er ist Werther gewesen,

er ist nicht Werther geblieben: und so ist das erste der

Werke dieser Art, der Zeit nach, auch das erste geblieben dem Werthe nach: ein unvergängliches Denkmal der Macht,

mit welcher der Genius die Wirklichkeit beherrscht. Zeit läuft keine

Unsere

Gefahr mehr, im Selbstgrübeln und

Selbstwühlen Thätigkeit und Gesundheit zu verlieren; aber es wäre ein Beweis von wenig Pietät und wenig

Einsicht in die wunderbaren Wege geschichtlicher Entwicke­ lung, wenn wir nur spöttisches Lächeln oder rohes Mß-

verstehen hätten für die edlen Verwirrungen unserer Väter, denen die Aelteren unter uns noch selbst verfallen

sind; denn nur edle Naturen konnten so irren.

V.

Ueber die Convention in -er französischen Literalnr.* Denke Dir, liebster PhoSphorus, während Du im Gewühl« der Großstadt Dich am Allermodernsten ergötztest und ereifertest, habe ich in meiner Waldeinsamkeit eine Entdeckung gemacht auf dem Felde der Prähistorie: die Entdeckung, daß das grand siede wirklich ein großes Jahrhundert war. Wie'S dem Menschen doch ergehen kann! Da lebt Einer zwanzig Jahre in Frankreich, * Dieser Aufsatz ist allerdings nur ein Fragment, nur die

erste Hälfte eines Essay, welcher unter dem Titel: tion und

„Ueber Conven­

Naturalismus in der französischen Literatur"

und an­

knüpfend an H. Homberger's in der „Deutschen Rundschau", (Juli

1882) erschienenen gegen den modernen Naturalismus gerichteten Aufsatz: „Wereschagin'S Katalog.

der französischen

Ein Gespräch", die Entwickelung

Literaturaus dem Conventionellen ins Natura­

listische darzeigen und

erläutern wollte.

Leider hat der Verfasser

nur den aus die „Convention" bezüglichen Theil niederschreiben und an die Adresse PhoSphorus', d. i. einer der im Homberger'schen Ge­

spräch redenden Personen richten können.

welche erwähnt wird,

Unter der Waldeinsamkeit,

ist Arcachon bei Bordeaux zu verstehen, wo

Hillebrand, bereits schwer erkrant,

den

Winter 1881/82 verbrachte.

So sehr bedauert werden muß, daß der Essay nur Bruchstück geblieben

ist, so schien doch die Veröffentlichung desselben,

auch in

dieser

Gestalt wünschenswerth und wir hoffen, daß sie den Beifall der Leser finden wird.

Es war dieser Aufsatz beinahe das Letzte, was der

Verfasser schrieb.

Die Herausgeberin.

144 präparirt alle seine Examina wie ein guter Collögien, lernt seinen Racine hübsch auswendig und macht Auszüge aus dem Discours sur l’histoire universelle, promovirt an der Sorbonne, wird am Ende gar wohlbestallter Ordinarius-Publikus an einer französischen Fakultät, und — bei alledem kommt er nie recht dahinter, daß eine gescheid.tr Nation wohl weiß was sie thut, wenn sie ein­ stimmig und dauernd eine Zeit, einen Menschen, ein Werk groß nennt. Richt als ob besagter Besserwissenwoller nicht einzelne Geister, wie Pascal und Moliöre, von vornherein gewürdigt und liebgewonnen, noch als ob er je die Schönheit ber Form an fast allen Schrift­ stellern jener Zeit verkannt oder unterschätzt hätte; aber der Geist, das wahre Wesen des ganzen Jahrhunderts entging ihm doch. Da sitzt er einmal, lange, lange Jahre nachdem sich sein Verhältniß zu der Nation gelöst, einen Winter über in ihrer Mitte als Fremder, unbekannt und unbeachtet, ohne jede Berührung mit den Lebenden, allein in der Gesellschaft jener mißachteten Todten, ohne daß ein eifriger Fürsprech oder leidenschaftlicher Gegner die lautlose Unterhaltung stört, ohne daß Vorurtheil, Ge­ wohnheit, Umgebung, die reine Wirkung trübend, drein reden, und siehe da, es geht ihm ein Licht auf, daß Er der Blöde war, und im Grunde auch der Eingebildete, nicht aber das Volk, das mit solchem Stolze und schein­ bar blinder Verehrung auf seine „große" Zeit zurückblickt. Das kommt wohl mit vom heilsamen Sauerteig der Kritik, der unser Einem nicht erlaubt, literarische oder historische Dogmen ohne Weiteres hinzunehmen; aber doch auch von der leidigen Verknöcherung jener Kritik und ihrer Dogmen, welche uns dazu verleitet, die gesummte

145 Cultur, von deren Uebeln allein unsere Väter uns zu

befreien gestrebt und uns befreit haben, unbesehen,

als

werthlos zu verwerfen. Umsonst protestirten schon Schiller

und Goethe gegen dies unterschiedslose Verfahren, welches das Kind mit dem Bade ausschüttet.

Nur natürlich war

und ist der Widerwille gegen allen und jeden Conven­ tionalismus

bei

einer

Nation,

deren geistiges Leben

durch den Kampf gegen die Convention geweckt wurde,

deren gesellschaftliches Leben noch immer die Convention zu ignoriren scheint.

Und wo hätte sich eine Literatur,

eine Gesellschaft je in conventionelleren Formen bewegt als die französische des 17. Jahrhunderts?

Daher das

Vorurtheil gegen die Gründer der französischen Cultur,

das wir von den Gründern unserer Cultur geerbt — bei ihnen war's noch kein Vorurtheil — und das sich

bei

fortschreitender Ignoranz

dazu

gesteigert hat,

an

jener besiegten Welt, die man nicht mehr kennt, über­ haupt nichts Gutes anerkennen zu wollen.* Dazu kommt, daß der substantielle Deutsche, dem

wenig an der Form gelegen ist, die Dinge vor Allem nach ihrem Inhalte fragt.

„Worum handelt es sich denn

in jener Literatur?" höre ich ihn einwerfen.

„Um Er-

♦ Wie verbreitet noch immer dies Vorurtheil ist, beweist u. A. folgender Satz, den ich in derselben Nummer der „Deutschen Rund­ schau", finde, in welchem Homberger's Gespräch über Wereschagin's Katalog abgedruckt ist: „Doch des Zeitalters des Roi soleil und

Racine's welcher, nach Vacquerie's (!) Ausspruch, nicht so sehr durch das, was er gesagt als durch das, was er nicht zu sagen wagte, berühmt geworden ist, kann kaum Jemand froh werden außer einem regelrechten französischen Legitimisten, der in Cabinetsjustiz, Er­

oberungspolitik und Hospoesie einen gehobenen Dreiklang zu hören vermag." Hillebrand, kulturgeschichtliches.

10

146 örterungen über das pouvoir prochain und die opinion

probable, die gräce actuelle,

süffisante, um

prevenante,

efficace,

Constructionen der Weltgeschichte,

die

uns so willkürlich als absurd erscheinen, um rhetorische

Verherrlichung von Größen, die für uns keine sind, um Satiren

gegen Verhältnisse und Sitten,

die, Gott sei

Dank, längst aufgehört haben, die französische Gesellschaft zu charakterisiren — roenn’s hoch kommt,

um tragische

Motive, welche, wie das des Ehrenpunkts oder der Loya­ lität, der heutigen Generation ganz abhanden gekommen sind.

Und um welche Interessen dreht sich die politische

Geschichte jener Zeit? Um Fragen des Ranges und Titels,

kleinliche Hofintriguen, Cabinetspolitik, der keinerlei Idee, fonbem nur die baare Selbstsucht zu Grunde liegt. Wie

viel näher steht uns da doch das 18. Jahrhundert! Wir

theilen nicht alle seine Ideen, aber wir verstehen sie doch;

sie bewegen noch heute einen großen Theil der Geschichte machenden

Menschheit;

Montesquieu's

constitutionelle,

Rouffeau's demokratische Theorien, Voltaire's Deismus

und Condillac's Sensualismus sind noch nicht todt und begraben, wie Boffuet's und Fvnölon'S theologische Streit­ fragen; sie begegnen uns auf Schritt und Tritt, ja sie

verlegen uns oft recht unbequem den Weg.

Selbst die

Motive der Familienromane und -Dramen des vorigen

Jahrhunderts verfehlen noch immer nicht ihre Wirkung, und beide Gattungen werden noch eifrigst gepflegt, während die klassische Tragödie mitsammt der sie bewegenden Denk-

und Fühlweise für immer ausgelebt zu haben scheint." „Ja, aber die Form!"

ruft der Franzose alter

Observanz, „die Form! Was ist aus dem Styl, was aus der Sprache geworden, erst unter der Hand der Philo-

147 sophen, dann unter der der Romantiker, und endlich unter

der der Realisten?" — „Was nennt Ihr Form, was nennt Ihr Styl?" entgegnet der hartnäckige Deutsche, der doch nur

halb

den Zauber

einer vollendeten Sprache

fühlt, welche nicht die seine ist: „Form, Styl ist ja nur Ausdruck des Gedankens.

Wo der Gedanke dürftig oder

abwesend ist, werft Ihr umsonst rhetorische Purpurlappen über Eure Nichtigkeit — nur das Kostüm ist schön, das einen schönen Körper zeichnet."

Schon recht; aber was

nennt Ihr Gedanken? Ist nur die raisonnirende Abstrak­ tion Gedanke? Sind nur allgemeine Ideen Ideen? Sind

concrete Anschauungen

etwa

habt Ihr ganz vergessen, daß

keine Ideen mehr?

Und

idea von löeiv, schauen,

kommt? Sind überdies Fühlen, Wollen, Thun nicht eben­

sowohl dazu angethan, in der Sprache ausgedrückt zu werden, als das Gedachte? Ist vor Allem die Persön­ lichkeit, wo sie sich ganz ausspricht, nicht alle Gedanken

der Welt werth? Wo ist aber je eine Sprache geschrieben worden, welche den speculativen Gedanken wie die concrete

Anschauung mit allen ihren Schattirungen, das Gefühl, die Leidenschaft, den ganzen Menschen in einem Worte,

getreuer und lebendiger, großartiger und dabei knapper wiedergiebt, als das Französische Descartes' und Pascal's,

Racine'S und Moliöre's, Labruyöre's und St. Simon's? Sehet Euch

einmal die Sache von der Seite an,

und

es wird Euch nicht schwer werden zu begreifen, warum die lebensvolle Literatur und Geschichte des 17. Jahr­

hunderts

noch immer für den von der politischen und

literarischen Revolution nicht durchaus verdorbenen Fran­ zosen einen ganz anderen Reiz hat als die, mit wenig

Ausnahmen, blaffe unb abstracte literarische Production io*

148

und

die

schwächliche, inconseqnente Politik der beiden

folgenden Jahrhunderte.

Was man so gewöhnlich In­

halt nennt, ist ja eigentlich gar nicht Inhalt, sondern Stoff, an dem sich Geist manifestirt. Inhalt eines

Der wahre Gehalt und

jeden Kunstwerkes,

wie auch jeder That,

ist der Mensch, der sich darin kundgiebt. Nicht der Gegen­ stand des peloponnesischen Krieges machte das Interesse

desselben aus, sondern die

großen Menschen, die ihn

geführt: wenn zwei Negerstämme um die Herrschaft über

eine kleine Halbinsel Afrika's stritten, so wäre uns das höchst gleichgültig.

Gleicherweise sind es nicht die Distinc-

tionen Bauny's und Escobar's die uns interessiren, son­ dern Pascal; wie wir uns ja auch nicht für oder wider

Göze's und

Klotz' Aufstellungen erwärmen, sondern für

Lessing. Unstreitig sind die Ideen und Interessen, welche das

18. Jahrhundert bewegten, allgemeinerer

wenn nicht höherer, so doch

Art, folglich wichtiger für uns als die

theologischen Streitfragen oder die Vortrittsrivalitäten,

für die sich die Männer des 17. Jahrhunderts ereiferten;

aber man vergesse doch nicht, daß, neben jenen Tages­

und Personenfragen, die speculative Philosophie, welche dem

Zeitalter

der

„Philosophen"

schon ganz fremd

geworden war, Geister wie Descartes und Malebranche in Bewegung setzte und daß die Regierung eine nationale

Politik verfolgte, welche wahrhaftig nicht kleinlich war

und

den begeisterten Beifall der ganzen Nation hatte.

Zugleich

muß wiederholt werden, daß die Ideen und

Interessen, welche die Handlungen der thätigen Menschen bestimmen, beinahe ebenso, ich will nicht sagen unwichtig,

aber doch nebensächlich sind als die Gegenstände, welche

149 Dichter und Künstler behandeln, wenn wir sie gegen die menschlichen und künstlerischen Eigenschaften halten, denen

diese Ideen, Jntereffen und Gegenstände die Gelegenheit boten, sich an den Tag zu legen. die

Allgemeinheit

Endlich benimmt gerade

der Ideen und Interessen denselben

Etwas von ihrer Kraft und Lebendigkeit, wie ja auch

die Vorkämpfer solcher Allgemeinheiten selten die klare richtige Einsicht in

-und

Menschen und Dinge

haben,

welche die Vertreter bestimmter, gegebener Interessen und

Ideen auszeichnet: Turgot ist ein gar kläglicher Staats­ mann neben Richelieu, der nie eine volkswirthschaftliche

Theorie gekannt;

die Psychologie Jean Jacques',

die­

jenige Voltaire's sogar, ist recht flach gegen dieLabruyöre's

und Larochefoucault's, welche nicht einmal wußten, daß sie Psychologen waren; die Philantropie eines heiligen

Franz von Paola hatte sicherlich mehr „Milch mensch­ licher Güte" in sich, als alle die anonymen Wohlthätigkeitsanstalten unserer Zeit, mit denen wir das Recht zur

Gleichgültigkeit haben glauben.

für jedes

besondere Unglück erkauft zu

Man sollte meinen, die Philosophen des

vorigen Jahrhunderts hätten so viel an den Menschen gedacht, daß sie darüber die Kenntniß der Menschen ver­

loren.

Sie

sahen

allgemeiner Ideen

eben das Leben durch den Schleier



später, zur Zeit der Revolution

gar durch einen Schleier von Worten —; ihre Väter sahen es unmittelbar von Angesicht zu Angesicht. Gewiß waren die Leute des vorigen Jahrhunderts

in einem Sinne besser, weicher im Gefühl, hochfliegender

in ihrem Streben als die des vorhergehenden, bei denen Neid, Haß, Ehrgeiz, Eitelkeit eine, wenn nicht bedeuten­

dere, so doch viel augenfälligere Rolle spielen. Dabei haben

150

diese aber eine unvergleichliche Würde und Größe, die ihren Nachfolgern ganz abgeht: Größe im Charakter, im in der Sprache. Wer wollte leugnen, daß das 17. Jahrhundert keinen so liebenswürdigen Menschen aufzuweisen hat als Montesquieu, keinen so geistreichen als Voltaire, keinen so freien als Diderot, keinen so empfindsamen als Rousseau? Und doch, wie klein er­ scheinen die Montesquieu und Voltaire, Diderot und Rousseau neben einem Bossuet, einem Conde, einem Beauvilliers! Selbst in England haben die Strafford und Cromwell, die Milton und Newton einen Zug von Großheit, der den Walpoles und Goldsmiths ganz fremd ist, des Mangels an Würde nicht zu gedenken, der die Staatsmänner und Schriftsteller dieser Zeit im Gegensatz zu ihren Vätern so auffallend kennzeichnet. „Was nennst du denn aber .Größe