Völker und Menschen: Auswahl aus dem Gesamtwerk “Zeiten, Völker und Menschen” [Reprint 2019 ed.] 9783111638973, 9783111256375


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German Pages 404 [412] Year 1914

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Table of contents :
Zur Einführung
Inhalt
Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischen Weltanschauung
Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischen Gesellschaft
Petrarca
Lorenzo de' Medici
Die Borgia
Macchiavelli
Torquato Tasso
John Milton
Defoë und Robinson Crusoe
Fieldings Tom Jones
Lawrence Sterne
England im achtzehnten Jahrhundert
Montesquieu
Die Werther-Krankheit in Europa
Anhang: Zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers
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Völker und Menschen: Auswahl aus dem Gesamtwerk “Zeiten, Völker und Menschen” [Reprint 2019 ed.]
 9783111638973, 9783111256375

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Völker und Menschen Von

Karl Hillebrand

Volksausgabe Nuswahl aus dem Gesamtwert „Zeiten, Völker und Menschen". Hebst einem An­ hang „Briese eines ästhetischen Ketzers"

Strahburg Verlag von Karl 0. Trübner

J 914

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung vorbehalten

Druck von Georg Reimer, Berlin W. JO

Jur Einführung „Betten, Völker und Menschen" nannte Karl Hille­ brand die Sammlung seiner im Laufe eines vielbewegten Lebensl) entstandenen Studien und Essays, und nur ein so in der Geisieskultur aller Völker des Abendlandes heimi­ scher Geist wie er durfte einen so stolzen Titel seinem Werke voransetzen. Er kannte die Kulturländer aus eigener, alles umfassender Anschauung, er war in der Weltliteratur zu Hause wie kaum einer seiner Zeitgenossen, er wußte mit Meisterschaft die Zusammenhänge zu erfassen und darzu­ legen, die die einzelnen Menschen, die Völker, die Zeiten in immer weiter gespanntem Rahmen miteinander ver­ binden. Hillebrands Schriften haben ihm den Namen „eines der größten Sprachtalente unter unseren neueren Pro­ saikern" in der Literaturgeschichte gesichert, und sie werden in ihrer Gesamtheit für den Kulturhistoriker nie den Reiz und den unvergleichlichen Genuß verlieren, den ihre blen­ dende Sprache, ihre von einer kraft- und temperament­ vollen Persönlichkeit getragenen Anschauungen bieten. Das i) Es ist hier aus Raumrückstchten auf «ine Darstellung des LebenSgangeS von Karl Hillebrand verzichtet. Dgl. darüber die aus, gezeichnete Studie von Prof. Richard M. Meyer in der „Allgemeinen deutschen Biographie" Bd. 50 S. 333 ff.

gilt nicht juletzt von den politischen Aufsätzen. Wer wissen will, wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einer der geistreichsten Menschen der damaligen Zeit zu den Fragen der Politik und Kultur Stellung nahm und seine Auf­ fassung vertrat, wie sehr und wie weit er dafür ein Echo fand, der wird eine unerschöpfliche Fülle von Anregung und Belehrung gerade in diesen Aufsätzen finden. Aber die Zeit schreitet fort. Zu den Dokumenten der Zeitgeschichte, die Hillebrand kannte, find viele hinzuge­ kommen, manche, die ganz neues Licht über Ereignisse und Persönlichkeiten breiteten; die geschichtliche Entwicklung hat hier und da ganz andere Wege genommen, hat verborgener schlummernde Kräfte im Leben der Völker zur Wirksamkeit kommen lassen, als gedacht und geahnt wurde. So gehört zur Lektüre dieser sich mit politischen Persönlichkeiten und Strömungen beschäftigenden Essays ein sehr reifes Ver­ ständnis, eine gewisse Biegsamkeit und Schnelligkeit des Urteils, das stch von Anschauungen, die uns heute in Fleisch und Blut übergegangen sind, ohne Voreingenom­ menheit lösen kann. Anders sieht es mit den Schriften Hillebrands, die ferner liegende Kulturepochen und literarische Persönlich­ keiten betreffen. Da kann jeder Leser fich dem vollen Ge­ nusse hingeben, da kann er die Wucht der Sprache, die den feinsten Verästelungen der Kulturgeschichte nachspürende Gelehrsamkeit auf sich wirken lassen und ein mit satten Farben gezeichnetes Weltbild sich zu eigen machen. Mit vollem Bedacht sind deshalb zu dieser Volks­ ausgabe die Schriften dieser Art ausgewählt worden. Hillebrands Charakterisierung geht ja immer auf den bleibenden Kulturwert eines Werkes aus, das Leben des betreffenden Verfassers wird nur insoweit herangezogen, als

das für die Beleuchtung dieses Wertes unerläßlich ist. Mag auch die literarische Forschung seither manche neuen Aufschlüsse gebracht haben, das sichere Urteil eines Mannes wie Hille­ brand, der alles in einen großen Zusammenhang stellte, wird dadurch wenig berührt. Man lese die beiden ersten Aussätze „Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischen Gesellschaft" und „Zur Entwicklungsgeschichte der abend­ ländischen Weltanschauung" und wird daraus klarer als aus weitschweifigen Begründungen die Richtigkeit dieser Auffassung bestätigt finden. Das Bestreben, die Geschlossenheit der Darstellung, die deren Dauerwert und nie veraltende Wirkung verbürgt, zu wahren, hat auch die geringen Äreichungen, die am Text vorgenommen wurden, nach sorgfältigster Prüfung veranlaßt. Es sind der Hauptsache nach Exkurse zu Tagesftagen, die gut entbehrt werden können, ohne daß die Linienführung irgendwie darunter leidet. „Die Briefe eines ästhetischen Ketzers" sind aber ohne jede Kürzung hier wiedergegeben. Es ist vielleicht schwer, sich in die Kunstwelt von damals zurückzuversetzen, aber das ist nicht die Hauptsache. Die Briefe sind ein Pro­ gramm des Verfassers, das man als Ganzes würdigt und versteht, wenn man seine andern lichtvolle« Schllderungen gelesen hat. Sie charakterisieren den Mann und seine Anschauungen, auf denen seine Bedeutung als Mensch und als Künstler beruht. Straßburg, im Aprll 1914. Dr. M. G. Gerhard

Inhalt Seite

Jur Entwicklungsgeschichte der abendländischenWeltanschauung. Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischenGesellschaft......... Petrarca ............................................................................. Lorenzo de' Medici.............................................................. Die Borgia ........................................................................ Macchiavelli........................................................................ Torquato Tasso................................................................... John Milton...................................................................... Defoe und Robinson Crusoe................................................. Fieldings Tom Jones.......................................... Lawrence Sterne.................................................................. England im 18. Jahrhundert................................................ Montesquieu ...................................................................... Die Werther,Krankheit in Europa ......................................... Anhang: Zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers......................

Hlllebrand, Völker und Menschen.

b

i 24 66 78 97 110 120 133 144 169 193 212 258 283 321

Zur Entwicklungsgeschichte der abendländischen Weltanschauung. Wir

dürfen

das

mittelalterliche

Europa

als

eine

große Familie betrachten, die eine Zeitlang glaubte, sie könne für immer unter einem Dache wohnen und gemeinsam an dem großen Werke der Zivilisation arbeiten. Eine Sprache — die lateinische, ein Glaube, — der katholische, e i n Gesetz — das römische, e i n Souverän — der Kaiser — sollten die Oberherrschaft führen und allen Gliedern der Familie Schirm gewähren. In Wirk­ lichkeit wurde dieses Ideal nie völlig erreicht. Aber es beherrschte die Gemüter das ganze Mittelalter hindurch, und noch in späteren Zeiten hielt es gewisse Geister ge­ fangen, die nach Einheit und Ordnung dürsteten und nicht imstande waren, sie in der Mannigfaltigkeit und der Freiheit zu finden. Das Gesetz der Natur war gleich­ wohl stärker als die Gesetze der Menschen: Europa ent­ wuchs dem Stammhaus, so geräumig es gebaut schien. Kaum hat jeder Herd seine eigene Familiensprache, so wünschten auch schon die um ihn Versammelten, den Ge­ danken und Gefühlen ihres alltäglichen wie ihres höheren Lebens in dieser Sprache Luft zu machen. An dem Tag, an welchem ein philosophischer Gedanke in nationaler Sprache ausgedrückt wurde, hatte jene Teilung Europas begonnen, aus welcher sich während des 15. Jahrhunderts die nationalen Monarchien von England, Frankreich und Spanien, die italienische Renaissance und die Reformation in Deutschland entwickelten. HtUebrand, Zeiten und Menschen.

Die Teilung, sage ich, nicht die Spaltung. Das Werk, welches bis dahin Europa gesamt und gleichzeitig verrichtet hatte, mußte nun in Teilen, bald von dem, bald von jenem verrichtet werden, so daß, wie Algarotti von seiner eigenen Nation sagte: „Wer früh vor den andern aufstand und hart schaffte, unter Tag wohl ein wenig rasten durfte." Gleichwohl ist die von dem mo­ dernen Europa geleistete Arbeit in Wahrheit eine einzige, wenn auch die Arbeiter einander verschiedene Male ab­ gelöst und ihren Nachfolgern die Fackel des geistigen Lebens eingehändigt haben: „Vitae lampada tradunt.“ Es ist ein Grundstock, ein Kapital, — das Kapital der Menschheit, — das sie gesammelt haben, indem der Reihe nach ein jeder die Frucht seiner Mühen beisteuerte. Selbstverständlich dürfen diese und ähnliche Ausdrücke nicht allzu wörtlich genommen werden. Die Menschheit ist ein lebender Körper, wo jeder Teil innig mit dem andern zusammenhängt, wo jede Trennung wie ein Schwertstreich empfunden wird, zugleich schmerzhaft und lebensgefährlich. Doch wie der Philosoph das Recht hat, Gedächtnis und Phantasie, Willen und Empfindung, Ver­ stand und Vernunft zu trennen, die zusammen das lebende Individuum bilden, so muß der Geschichtsschreiber um die Erlaubnis bitten, im Geiste zu teilen, was in Wirk­ lichkeit eng verbunden ist. Als England zum erstenmal die intellektuelle Hegemonie über Europa führte, zur Zeit, wo Gilbert und Harvey, Bacon und Hobbes, Newton und Locke schrieben und dachten, hatte Italien seinen Galileo, Frankreich seinen Pascal, Deutschland seinen Leibniz. Doch für jeden unparteiischen Beobachter der Geschichte des Gedankens war England der Brennpunkt der Bewegung.

Italien wurde zuerst unter den europäischen Natio­ nen mündig und rüttelte an der väterlichen Autorität. Schon im Anfang des 14. Jahrhunderts rühmte es sich eines Gedichtes in nationaler Mundart, welches das ganze geistige Leben des Mittelalters in sich zusammenfaßte; und anderthalb Jahrhunderte später begann es sich von jenem selben Gedankensystem zu emanzipieren, dem Dante den schönsten und angemessensten Ausdruck gegeben hatte. Das Tagewerk Italiens kann von 1450 bis 1525 gerech­ net werden; allein, wie gesagt, solche Grenzlinien sind cum grano salis zu nehmen. Niemand kann genau den Punkt bestimmen, wo der Arm aufhört und die Schulter anfängt, aber der Anatom muß notwendig irgendwo die Scheidung machen. Allen sind die Ereignisse gegen­ wärtig, die um die Mitte des 15. Jahrhunderts Italien erweckten, sowie die traurigen Begebenheiten, die es fünfundsiebzig Jahre später in das Grab oder wenigstens in eine lange, trübe Lethargie versenkten. Wir wissen, wie Italien die Schätze griechischer Kunst und Wissenschaft so­ zusagen entdeckte, wie es sie putzte, flickte, und zugänglich machte^und diese rein weltliche und menschliche Bildung aller modernen Kultur zur Grundlage gab. Das Wichtige für uns ist, mit einem Wort die Natur der intellektuellen Arbeit zu charakterisieren, die Italien in jenen Jahren unaufhörlichen, fast fieberhafte» Schaffens vollbracht hat. Die italienische Renaissance war die Rehabilitierung der menschlichen Natur; und der Instinkt der Geschichte hat sich nicht geirrt, wenn er bis auf unsere Tage die Re­ präsentanten jenes Zeitalters die Humanisten, ihre Kultur den Humanismus nennt. Das Mittelalter und der Katholizismus hatten die Gegenwart der Zukunft, die Freiheit der Autorität, das Menschliche dem Gött-

lichen untergeordnet. Die italienische Renaissance kehrte die Dinge um. Für den naiven Skeptizismus eines Lorenzo und Filelfo, eines Angelo Poliziano und Marsilio Ficino hatte nur die Gegenwart Realität, und in diesem Sinne sollte sie verstanden, beschrieben, genossen werden, wie die Griechen zu Perikles' Zeiten sie zu ver­ stehen, beschreiben und genießen versucht hatten. Alles in der Natur war gut und schön, der Instinkt war der sicherste Führer, natürliche Kraft nnd Schönheit waren die echtesten Zeichen und Rechtstitel der Superiorität. Wir dürfen uns durch ihr formelles Festhalten an der Kirche, sowenig wie durch ihre Begeisterung für Platos erhabenen Idealismus irreführen lassen. Die Kirche war ihnen nicht mehr als ein gleichgültiges Gewand, das man nicht ohne Not gegen ein anderes umtauschen oder ganz und gar ablegen mag. Der Platonismus war eine Form poetischer Träumerei, keine philosophische Überzeugung. Das Ziel, das sie verfolgten, war die Kenntnis der menschlichen Natur, der geistigen und physischen, und der menschlichen Gesellschaft, nicht wie beides sein sollte oder könnte, sondern wie es in Wirklichkeit war. Ob Macchiavelli politisches Leben beschreibt, wie in seinem „Principe“, in seinen „Dekaden", in seiner „Geschichte von Florenz", oder ob er die sozialen Zustände seiner Zeit schildert, wie in den Komödien, er gibt sich nie mit der Frage von Gut oder Böse ab, er begnügt sich, die Dinge zu verstehen. Ebenst) die Philosophen, die Dichter, die Künstler der Zeit. Ihnen ist die Kunst das, wofür Goethe sie erklärt, „der Dolmetsch der Natur", nicht mehr, noch weniger. Dies hätte ebenso harmlos sein können, wie es richtig war, wenn es auf die Kunst und das Denken

beschränkt geblieben wäre, aber die Renaissance wollte Leben «nd Handeln danach regeln. Unser Temperament und unser geistiges Wesen gestalten unsere Meinungen, meist ohne daß wir es wissen. Die Sinnlichkeit ihres Temperaments und Geistes machte die Italiener besonders geeignet ju ihrer historischen Mission, aber sie führte sie soweit, daß sie der Strafe verfielen, die auf übermäßi­ gem Versinken in die eigenen Gedanken und Neigungen steht. Sie sahen alles im Lichte der Kunst, gaben jedem Ding eine künstlerische Form, betrachteten alles und jedes, den öffentlichen Gottesdienst, den Staat, selbst das Pri­ vatleben als in das Gebiet der Kunst gehörig; und der Gedanke, daß sie lebten wie die Griechen, rechtfertigte alles in ihren Augen. Sie vergaßen, daß in Griechen­ land „die Muse das Leben begleitete, nicht lenkte". Wo­ hin das führte, sagen uns die Namen der Borgia und der Sforza laut genug. Eine starke Reaktion trat ein — eine doppelte Re­ aktion: die eine, volkstümlich, an die innere Autorität des Gewissens appellierend; die andere, von oben her und bemüht, die äußere Autorität der Tradition und der kollektiven Gewalt wiederherzustellen: Luthers Reforma­ tion und die Gesellschaft Jesu. Die Reformation, obschon der Zeit nach die frühere, gewann erst hundert Jahre später in England, zweihundert Jahre später in Deutschland ihren vollen Einfluß auf das Gebiet des höheren Gedankens. Die Gesellschaft Jesu wirkte sogleich, und es war Spanien, das dieser Bewegung den Anstoß gab. Als, zehn Jahre nach der Gründung des Jesuitenordens durch den Spanier Igna­ tius Loyola, das Tridentiner Konzil berufenen Anden­ kens tagte, wurde Loyolas Nachfolger, der Spanier Lainez,

sogleich der leitende Genius jener großen Versammlung, welche den Katholizismus renovierte, indem sie ihm die Form gab, in welcher er die letzten dreihundert Jahre hindurch gelebt und geblüht hat. Ich finde unsere Zeit etwas geneigt, die Rolle Spaniens in der Geschichte des europäischen Gedankens zu unterschätzen. Freilich war die Wirkung Spaniens vor allem eine negative, aber es nahm doch auch positiv an der Arbeit teil. Nicht nur daß die Reorganisierung der Kirche gänzlich das Werk Spaniens war, die absolute Monarchie des göttlichen Rechts, wie sie während des 17. Jahrhunderts in Blüte stand, war gleichfalls spanischen Ursprungs. Man denke an den Unterschied zwischen der mittelalterlichen Auffassung der Souveränetät und derjenigen, welche Ludwig XIV., ja selbst den protestantischen Jakob il. und bis zu den kleinsten italienischen und deutschen Duodezfürsten beseelte; an den Unterschied zwischen der Mannigfaltigkeit des feudalen Königtums des Mittelalters mit seinen fast unabhängigen Vasallen, und der Einförmigkeit der mo­ dernen Monarchie mit ihrem l'etat c’est moi. Nun könnte man sagen, die Monarchie Ludwigs XIV. sei ein­ fach der Despotismus Philipps II., gemildert durch den den Franzosen angeborenen Sinn für Maaß und Ge­ schmack, belebt durch ihre natürliche Heiterkeit und Ele­ ganz. Dies ist jedoch nur eine Seite der Frage und für unseren Gegenstand nicht die wichtigste. Zu gleicher Zeit, als das Prinzip der Autorität, der religiösen wie der politischen, von Spanien einen neuen Anstoß empfing und nach hartnäckigem Kampf die größere Hälfte Europas sich unterwarf, indem es den Protestan­ tismus in Italien, Frankreich, Belgien. Süddeutschland, Böhmen und Österreich ausrottete, unterlagen Literatur

und Philosophie dem gleichen Einfluß. Im selben Augen­ blick, wo Italien das Monopol der bildenden Künste verlor, und hohe Schulen der Malerei in Madrid, Sevilla und den spanischen Niederlanden entstanden, verbreitete sich eine neue Poesie und ein neuer poetischer Stil von Spanien aus über ganz Europa. Nicht allein, daß die italienischen und deutschen Marinisten Nachahmer der spanischen Gon­ goristen waren, selbst der englische Euphuismus ju Shake­ speares Zeiten entsprang aus dem spanischen „culteranismo“; und nicht nur Form und Stil, sondern auch der Geist und die Stoffe der Literatur waren hauptsächlich spamsch. Denken wir nur an Corneilles „Cid“, der 1636 entstand, an seinen „Polyeucte“, der unter Calderons autos sagramentales figurieren könnte. Noch in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nimmt Mokiere die Süjets zu seinem „Festin de Pierre“, seiner „Princesse d’Elide“, seiner „Ecole des Maris“ von Moreto und Tirso. Grimmels­ hausen führt in Deutschland, Scarron in Frankreich den „roman picaresque“ der Spanier ein, dessen anerkannte Meister Lesage und Smollet im folgenden Jahrhundert wurden. Viel größer noch ist der Einfluß, den Spanien während des 17. Jahrhunderts auf das philosophische Denken Europas ausübte. Der Tod der Individualität, den die spanische Herrschaft, wohin sie auch kam, in Staat, Kirche und Schule mit sich brachte und zum Gefolge hatte, bedrohte sogar die spekulative Tätigkeit. Nicht daß die Philosophie Molinas und Suarez' — wenn man Philo­ sophie nennen darf, was im Grunde nur Theologie war — jemals wirklich in die höheren Schichten des intellek­ tuellen Lebens gedrungen wäre, da ja selbst die Elite des Klerus dagegen protestierte, wie sie sich in unseren Tagen gegen das Dogma der Jnfallibilität erklärte; aber das

Atttoritätsprinjip, das Spanien in der ganzen Welt her­ gestellt hatte, war dem Denken des Kontinents ein mächtiger, zuweilen wohltätiger, öfter aber höchst verderblicher Hemm­ schuh. Es ist sicher, daß keine Gesellschaft auf die Länge mit den Prinzipien oder vielmehr mit der Prinzipienlosigkeit der italienischen Renaissance bestehen könnte. Durch die Wiederherstellung der Autorität wurde kecken Geistern, für die das licet quia übet eine Art Dogma geworden war, ein heilsamer Zügel angelegt. Wenn wir jedoch bedenken, wie Malebranche und selbst Descartes durch die herrschende Dogmatik ihrer Zeit in ihren Gedanken gefesselt waren, so dürfen wir uns wohl fragen, ob die Wohltat nicht zu teuer erkauft war. „Je trouve bon qu’on n’approfondisse pas l’opinion de Copernic“ sagt der große Jesuiten­ feind selber. Weil das katholische Europa sich mit dieser „opinion“ nicht einzulassen wagte, ging die Führerschaft des modernen Denkens an die protestantischen Länder England und Holland über, wo keine heilige Inquisition die Forschungen eines Galileo unterbrach, keine unbeug­ same Orthodoxie dem mächtigen Gedanken eines Pascal halt gebot. Die Reformation war eine populäre Bewegung gewesen, keine aristokratische, was eine wissenschaftliche Tätigkeit immer und überall sein muß. Die großen pro­ testantischen Gelehrten des vorhergehenden Jahrhunderts, die Reuchlin und Erasmus, Henri Estienne und Justus Scaliger waren Söhne der italienischen Renaissance, nicht der deutschen Reformation. Ihr Geist war ein durch­ aus weltlicher, er wirkte auf die Bildungsaristokratie, nicht auf die Massen. Die Reformation entsprang mehr aus einem Gefühl sittlicher Auflehnung, als aus einem Be­ dürfnis nach intellektueller Freiheit. Dies ist der Grund,

warum wir ihrer hier kaum erwähuen, wo wir nur nach der Gestaltung der europäischen Weltanschauung fragen, wie sie sich in der höheren Sphäre der auserwählten Geister offenbart. Denn, wie auch das moralische Leben beschaffen sei, im geistigen Leben wird das paucis vivit genus humanum immer eine Wahrheit bleiben. Wenn jedoch die Reformation ursprünglich keine philosophische Be­ wegung war, so hatte sie doch durch ihre Folgen auf die philosophische Bewegung den wichtigsten Einfluß. Denn wenn der moderne Katholizismus, wie ihn die Jesuiten während des 16. Jahrhunderts gestalteten, nicht geradezu die klassische Kultur und Literatur bekämpfte, welche von der Renaissance gewissermaßen erschlossen und der Mensch­ heit zurückgegeben worden war, so wußte er doch ihren Einfluß aufs wirksamste zu paralysieren. Nirgends wurde die griechische und lateinische Literatur eifriger studiert als in den Jesuitenschulen, aber sie wurde zuvor unschädlich gemacht. Das Gift des freien Gedankens wurde heraus­ genommen, ehe man der Jugend das Gericht auftrug. Die freieste und lebendigste aller Literaturen wurde zu einer Sammlung toter rhetorischer Formeln zum Aus­ wendiglernen und zu gelegentlichem Gebrauch. Der Stoff wurde für gänzlich wertlos, die Form nur für ein reizendes und geschicktes Spiel ausgegeben. Nicht so der Protestantismus. Auch er hatte die Autorität wieder eingesetzt an Stelle jener Lehre von der schrankenlosen Freiheit, welche zur Zeit der italienischen Renaissance die Laune zum obersten Schiedsrichter des Lebens machte. Aber seine Autorität war keine äußerliche, es war die Autorität des individuellen Gewissens. Sein Hauptprinzip war die freie Untersuchung, die zuerst auf die Bibel angewandt wurde; aber nachdem man ihr einmal

den Lauf gelassen, konnte niemand voraus sagen, wo sie haltmachen würde, und in der Tat machte sie nicht bei der Bibel halt. Es war jedoch nicht die Wiege des Protestantismus, welche jverst diese Früchte des neuen Glaubens sah. Der deutsche Protestantismus war zeitweilig so gut wie aus­ gebrannt, als die Reaktion gegen die spanische Dogmatik in Europa einsetzte, und dem armen Kepler fehlte fast der Atem zu seinen Bemühungen, das System des Kopernikus zu entwickeln. Deutschland war in den heillosesten, bar­ barischsten Krieg verwickelt, den die Geschichte der Menschheit verzeichnet, als die edle wissenschaftliche Bewegung des 17. Jahrhunderts in ihrer vollen Blüte stand. England, dem seine große Königin den Schatz religiöser Unabhängigkeit gerettet hatte, war es vorbehalten, das Signal zum Vor­ rücken zu geben, während Holland, das siegreich aus dem langen, männlichen Kampfe gegen das katholische Spanien hervorgegangen war, sich mit England zu der glorreichen Aufgabe verband. Diese selbstgestellte Aufgabe war die Kenntnis der Natur und ihrer Gesetze. Das 15. Jahrhundert hatte gleichsam die zerrissenen Glieder der Zeit zusammengefügt; das 17. erschloß den Raum. Das erstere hatte dem Menschen seinen Platz in der Geschichte angewiesen, das zweite gab ihm seine Stellung in der Natur. Die Welt war der Rhetorik und der Worte müde, ebenso wie der abstrakten, in den Wolken schwebenden Spekulation. Sie dürstete nach Tatsachen. Sie hatte lange genug bona fide die fertigen Lösungen aller Fragen angenommen, die ihr durch die Autorität geboten wurden, und war nun entschlossen, selbst nach der Ursache der Dinge zu forschen. Die Schlüsse einer Phllosophie a priori genügten

ihr nicht länger: heimlich und fast unbewußt sehnte sie sich nach einer auf Beobachtung gegründeten Erkenntnis, die eine methodische Erkenntnis sein sollte. Bacon war es, der dem tiefinnersten Wunsch seiner Generation Worte lieh, als er die induktive Methode einführte und empfahl. Freilich hatte Kopernikus vor ihm und besser als er be­ obachtet. Kepler übte gerade damals die „Induktion" aus Beobachtungen mit positiven Resultaten, deren Bacon sich nicht rühmen konnte, während Galileo gleichzeitig die Experimentalmethode anwandte, die Bacon noch sehr ungeschickt handhabte. Gleichwohl ist es Bacon, nicht Kepler oder Galileo, der mit Recht als der Vater des modernen Gedankens angesehen wird. Denn Kepler und Galileo wandten die induktive und experimentelle Methode ungefähr so an, wie Monsieur Jourdain seine Prosa schrieb — sans le savoir. Freilich wurde der Fortschritt der Wissenschaft darum nicht minder gefördert, daß Galileos große, schlichte Natur und Keplers edler, unbeugsamer Geist über dem Suchen nach Wahrheit, womit sie beschäftigt waren, der geistigen Revolution nicht gewahr wurden, die sie hervorbringen halfen. Allein für die Geschichte des Gedankens bleibt doch der Mann, der die neue Methode zuerst mit dem vollen Bewußtsein von der Wichtigkeit des darin ausgesprochenen Prinzips verkündete und formulierte, der Repräsentant des Zeit­ alters. Man könnte sagen, erst von da an sei der Boden gewonnen worden, auf dem sich der methodische Em­ pirismus frei bewegen konnte. Nicht nur daß Hobbes von Bacon ausgeht, auch alles, was England auf dem Gebiete der Naturphilosophie von Harvey bis Newton entdeckte, alles, was es an psychologischer Philosophie von Locke bis Hume hervorbrachte, wäre unmöglich ge-

wesen, wenn das Novum Organon nicht die Gesetze der exakten Methode aufgestellt hätte. Die neuen Errungenschaften wären gleichwohl un­ möglich gewesen, hätte nicht England damals den prote­ stantischen Glauben aufrechterhalten. Das traurige Los Keplers, G. Brunos und Galileos hätte auch jene kühnen Ringer nach Wahrheit getroffen, wenn sie nicht auf protestantischem

Boden

gelebt

hätten.

Die

drei

größten Denker des Kontinents im mathematischen Zeit­ alter — Descartes, Spinoza, Leibniz — konnten ihr Werk nur deshalb vollenden, weil sie den größten Teil ihres Lebens in protestantischen Ländern verbrachten. Wenn der englische Empirismus1 eine Reaktion gegen die spanische Dogmatik war, wie die spanische Dogmatik eine Reaktion gegen den italienischen Humanis­ mus gewesen, so war der französische Rationalismus, der im folgenden Jahrhundert die Oberherrschaft führte, eine Fortsetzung der intellektuellen Strömung in England, keine Opposition gegen dieselbe. Eine Art Ansteckung, die sich den Franzosen mitteilte, trieb ihre ausgezeichnetsten Genies, von Saint-Evremond bis Montesquieu, von Voltaire bis Buffon und selbst Rousseau, einen um den andern über den Kanal, und noch vor der Überfahrt waren sie zu Newton und Locke in die Schule gegangen. Kaum hatte Frankreich die Führung übernommen, so gab es der Bewegung jenen eigentümlich französischen, logischen Charakter, der gerade auf das Ziel losgeht und nie vor den letzten Schlüffen zurückbebt. Die großen 1 Unter Empirismus verstehe ich den Geist des 17. Jahr­ hunderts, d. h. die mechanische und mathematische Erklärung der Natur, wie sie unternommen und io ausgedehntem Maße durch­ geführt wurde.

englischen Denker des vorhergehenden Jahrhunderts begnügten sich damit, Dinge und Fakta jv studieren, ohne Folgerungen, welche allzu gefährlich werden konnten, daraus zu ziehen, oder gar sie auf Religion und Politik anzuwenden. Locke selbst hielt in tiefster Ehrfurcht vor der Offenbarung und dem Throne inne. Nicht so die Franzosen. Ihre rationalistische Geistesrichtung und ihr ungeduldiges Temperament führten sie sogleich zu dem Extrem, Kirche und Staat derselben Untersuchungs­ methode zu unterwerfen, die mit so großem Erfolg auf Natur und Geist angewandt worden war. Aber Logik und Leidenschaft trieben sie viel weiter als sie anfangs beabsichtigten und ließen sie häufig jene geduldige Beob­ achtung und sorgfältige Vergleichung der Tatsachen vergessen, die so außerordentliche Resultate in England erzielt hatte. Schon Descartes — in dieser Hinsicht ein echter Franzose — hatte sich sogleich mit der mechanischen Erklärung der Dinge zufriedengegeben, indem er das Tier zu einer Maschine machte, und da er im Grund des Herzens Spiritualist blieb, wollte es ihm nie ganz gelingen, die beiden Welten von Stoff und Geist zu ver­ söhnen. Die Franzosen von Bayles Schule — ich sage nicht Bayle selbst — wußten von keinen solchen Hinder­ nissen. Sie erkannten gar keine Autorität an. Ihr Ziel war einfach die absolute Losreißung von aller Konvention und aller Autorität. Ohne es zu merken, verfielen sie wieder in den Autoritätsgeist, gegen den sich die englische Reaktion gerichtet hatte. Nur waren nicht mehr die Offen­ barung, noch die Tradition ihre Autorität, sondern die Sinne und die menschliche Vernunft — die menschliche Vernunft unabhängig, wenn nicht von natürlichen, wenig­ stens von historischen Fakten. Sie träumten entweder

von politischen Konstitutionen, die nicht die Resultate der Geschichte, d. h. widerstreitender Interessen, sondern einer allgemeine«, abstrakten, vorgefaßten Idee von Staat und Gesellschaft sein sollten; oder von einem Natur­ recht, das an Stelle der ererbten Gesetzbücher und Ge­ wohnheiten treten sollte, ebenso wie ste von einer natür­ lichen oder vielmehr rationellen Religion träumten, die als ein schüchterner Deismus, — sehr ähnlich dem Tolands und Clarkes, — begann und mit der Thronerhebung der Göttin der Vernunft oder der völligen Verleugnung jener Welt des Geistes endigte, von der Descartes keine Brücke in die Welt des Stoffes zu schlagen gewußt hatte. Was auch immer die verhängnisvollen Folgen dieser Methode für Frankreich gewesen sein mögen — obwohl ste durch ihre wohltätigen Resultate reichlich ausgewogen sind — die Methode selbst bewirkte die Befreiung Europas, des Menschengeschlechts. Es scheint, daß es die historische Mission Frankreichs war, jedenfalls war es Frankreichs Verdienst, das nie genug anerkannt werden kann, die Axt schonungslos an dieses Dickicht intellektueller Kon­ ventionen gelegt und uns den Weg geebnet zu haben. Freilich konnte nicht mit allem aufgeräumt werden — das war nicht einmal wünschenswert — und ein guter Teil des abgeholzten Reisigs ist wieder ins Laub geschossen. Doch war es das erste Mal in der Geschichte, daß man die Dinge im Lichte der Vernunft zu betrachten und zu ordnen wagte. Viele nationale Eigenschaften hatten gerade Frankreich zu dieser Aufgabe befähigt, viele Um­ stände halfen dazu, daß es seine Mission mit sofortigem Erfolge erfüllte. Die Klarheit des französischen Geistes, die sich in der französischen Sprache offenbart; die geographische Lage des Landes zwischen England, Spanien

und Deutschland; die politische Hegemonie über Europa, die es unter Ludwig XIV. erlangt; der weittragende Ein­ fluß, den es bereits durch seine poetische Literatur er­ worben; und last, not least, die Einfachheit des neuen Bekenntnisses, das auf das allgemeinste Charakteristikum des Menschen, den gesunden Menschenverstand, gegründet und durch das verführerischste aller Instrumente, die Logik, durchgeführt war — das alles trug dazu bei, Frankreich die Aufgabe zu erleichtern. Dies erklärt auch, warum die französische Idee sich mit solcher Blitzesschnelle in Europa Bahn brach. Ge­ wöhnlich beginnt sich der intellektuelle Einfluß einer Nation erst dann im Ausland zu verbreiten, wenn ihr Werk nahezu vollbracht ist. Italien hatte schon sein Bestes geleistet, als gegen den Anfang des 16. Jahr­ hunderts sein Denken und seine Werke das übrige Europa zu beeinflussen begannen. Aber noch mehr als hundert Jahre später ging Europa nach Rom, Bologna und Neapel, als schon Velasquez und Murillo, Poussin und Claude, Rubens und Van Dyk imstande waren, ihre Lehrer zu lehren. Dasselbe war bei Spanien und Eng­ land der Fall. Ebenso ist es mit Deutschland, das schon um 1850 mit seiner originellen und schöpferischen Arbeit fertig und beinah zu Ende war, indes die Welt es noch heute als das Gedankenlaboratorium für Europa ansieht. Frankreich ist vielleicht das einzige Land, das seine geistigen Waren sogleich exportierte, sogar noch ehe der ganze Vor­ rat beisammen- und bereitlag. Die Zeit Voltaires und der Enzyklopädisten war auch die Humes und Gibbons. Es war Deutschland vorbehalten, gegen den allzu absoluten Gedanken Frankreichs zu protestieren und das Restaurationswerk auf einer festeren Basis zu beginnen

als die, welche Spanien zwei Jahrhunderte früher ju legen versucht hatte. Es wäre interessant, etwas aus­ führlicher darzustellen, wie Deutschland sich auf diese Aufgabe vorbereitete, wie es sie vollbrachte, welche Resultate erzielt wurden. Um dies richtig darzustellen, müßte man indes nachweisen, wie es einen Teil seiner intellektuellen Freiheit England verdankte, wie es ohne Frage von dort her den Anstoß zu seinem eigenen Schaffen empfing, wie es Philosophie und Geschichte erneuerte und verschiedene neue Wissenschaften schuf, die seitdem ihren Platz unter den Errungenschaften des menschlichen Geistes eingenommen haben. Es genüge zu konstatieren, daß, ebenso wie der französische Rationalismus, der englische Empirismus, die spanische Dogmatik und der italienische Humanismus seit langem integrierende Bestand­ teile der geistigen Verfassung Europas sind, so Deutsch­ land ein für allemal die Idee des „Organismus" dem europäischen Denken zugebracht hat. Wir können in der Tat weder den Homer im selben Geiste lesen, wie unsere Vorväter ihn lasen ehe Wolff seine „Prolegomena“ geschrieben, noch die Natur mit denselben Augen ansehen, wie wir sie vor Newtons „Principia" angesehen hätten, den Staat wie vor Montesquieus „Esprit des lots“. Wir haben ein gemeinsames Kapital von Ideen, an welchen wir alle zehren, in denen wir leben, oft ohne uns dessen recht bewußt zu sein. Lassen wir selbst den gläubigsten Katholiken sich fragen, ob er die Geschichte der Menschheit noch so ansehen könnte, wie es der hl. Thomas und der hl. Dominikus taten, ehe die italienische Renaissance gleichsam den Zusammenhang der Geschichte hergestellt und den Abgrund ausgefüllt hatte, der die Menschheit entzwei schnitt. Wer könnte wohl heutzutage

öffentliches und privates Leben mit derselben grundsatzlosen Naivetät betrachten, wie die Zeitgenossen Macchiavellis, ehe Spanien das Autoritätsprinjip wieder hergestellt hatte? Wer könnte ferner nur einen Augenblick die physikalischen Entdeckungen des 17. Jahrhunderts vergessen und sich die Erde, wie Dante, als den Mittelpunkt der Schöpfung denken? Und ist es nicht mit unsern politischen und philosophischen Ansichten dasselbe? Hat die Anwendung der französischen rationalistischen Methode nicht unsern Geist neu gemodelt? Könnten wir noch, selbst wenn wir wollten, das göttliche Recht der Monarchie oder die Offenbarung so ansehen wie Bossuet und F6n4lon? Nun hat etwas Analoges seit Voltaires und Rousseaus Tode stattgefunden. Ein anderer neuer Gedanke ist inte­ grierender Bestandteil des europäischen Geistes geworden. Hume könnte ebensowenig seinen Essay über „National Character“ heute schreiben, wie Augustin Thierry im vorigen Jahrhundert seine „Conqu6te d’Angleterre“ hätte verfassen können, oder irgend jemand in unserer Zeit Voltaires „Pucelle“. Warum? Well nicht nur in Philo­ sophie und Ethnographie Entdeckungen gemacht worden sind, welche eine Erklärung historischer Fakta, wie sie Hume und Gibbon gaben, tatsächlich nicht mehr zulassen, sondern auch eine neue Idee in die Welt geworfen ist, die unsere ganze Denkweise von Grund aus modifiziert hat. Diese Idee nun ist es, welche in Deutschland von der zweiten Hälfte des vorigen bis zur Mitte dieses Jahrhunderts ausgearbeitet worden ist — und in so engem Zusammenhang diese Arbeit mit dem deutschen poetischen Schaffen und dem eigentlichen Phllosophiereu während dieser Zeit steht, so darf sie doch nicht damit zusammengeworfen werden. Es handelt sich weder um den HiUebrand, Zeiten «ad Menschen.

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literarischen Geist, noch um die metaphysische Spekulation, noch um die wissenschaftliche Tätigkeit der Natur, sondern um den allgemeinen Gedankengang und Standpunkt, welchen die Deutschen für sich geschaffen und in diesen siebzig, achtzig Jahren der europäischen Kultur eröffnet und zugebracht haben; solch eine allgemeine Weltan­ schauung wird aber nur mittelbar durch Poesie und eigentliche Wissenschaft beeinflußt. Poesie ist eine Kunst und als solche dem Gesetz des Fortschritts nicht unter­ worfen: somit steht sie eigentlich außerhalb der Geschichte als etwas Absolutes, Ewiges. Die Ilias ist heute so wahr wie vor dreitausend Jahren, da der Hauptgegen­ stand der Poesie der unwandelbare Teil der Menschen­ natur ist. Nicht so die Wissenschaft, der Gedanke, die Politik. Diese unterliegen dem Gesetz der Entwicklung. Wenn wir bei Dante von Francescas Liebe und Pias Tod lesen, ergreift es uns, wie es seine Zeitgenossen ergriffen haben mag; wenn er uns aber seine Kosmographie aus­ einandersetzt, so lächeln wir und schlagen vielleicht il suo volume zu. Hier sprechen wir also von zwei verschiedenen Tätigkeiten des menschlichen Geistes, die zuweilen in verschiedenen Generationen und Ländern, zuweilen gleich­ zeitig und am selben Ort an der Arbeit sind. Englands philosophisches Tagewerk begann erst nach Shakespeare, Frankreichs nach Racine und Möllere, wogegen in Spanien Calderon und Cervantes die Zeitgenossen von Suarez und Molina waren, und in Deutschland Goethe und Schiller zugleich mit Kant und Wolff, Humboldt und Niebuhr lebten. Dieser scheinbar zufällige Umstand hat eine wichtige Folge. Wenn Poesie und Philosophie gleich­ zeitig wirken, so durchdringen sie einander, in mancher Beziehung zu ihrem gegenseitigen Vorteil, zu ihrem

großen Nachteil in anderer. Der Geist von Calderons Poesie ist auch der Geist Ignatius Loyolas, bei Schiller hören wir das Echo von Kants Moralphilosophie. Die große Literatur der Franzosen dagegen — die Redekraft Bossuets und der Enthusiasmus Corneilles — drückt eine Weltanschauung aus, die jenem Geist des 18. Jahrhunderts, den die Welt par excellence den französischen Geist nennt, in manchen Punkten geradezu entgegengesetzt ist. Ich könnte von Shakespeare reden, für dessen klares, tiefes Auge es kein Gestern noch Morgen, kein Hier noch Dort gibt, ohne nur zu erwähnen, daß er ein Zeitgenosse Bacons ist; aber ich könnte nicht von Goethe sprechen, ohne daran zu erinnern, daß er ein Freund Herders, ein Leser W. von Humboldts war. Noch eine andere Tatsache von großer Bedeutung ist der politische Zustand Deutschlands während der Aus­ arbeitung seiner Weltanschauung und die Wirkung dieser Weltanschauung auf die fernere Umgestaltung des deutschen Staates. Die große Periode, in welcher die Geisteskultur Deutschlands aufgebaut oder wenigstens vollendet wurde, war die Zeit, wo die alte deutsche Gesellschaft sich auf­ löste und das politische Leben in völligem Verfall war. Ist es möglich, gleichzeitig im öffentlichen Leben und in wissenschaftlicher und spekulativer Tätigkeit groß und fruchtbar zu sein? Wenn wir denken, daß Plato und Aristoteles den Grund zu aller wahren und hohen Philosophie in der Periode des Verfalls legten, welche auf jene Epoche gefolgt war, die man den griechischen Bürgerkrieg nennen könnte; wenn wir die politische Ent­ zweiung und das Elend Italiens zur Zeit der Renaissance betrachten; wenn wir England während der keineswegs ruhmreichen Zeiten Jakobs l. und Karls il. auf das

tätigste zu dem intellektuellen Reichtum Europas bei­ steuern sehen; wenn wir beobachte», wie Frankreich die Welt durch Voltaires und Rovffeaus Feder regiert, die Missionäre seines Geistes nach Petersburg und Neapel, nach Kopenhagen und Lissabon schickt und gleichzeitig bei Roßbach geschlagen, zum Frieden von Aix-la-Chapelle und dem von Versailles gezwungen, und aus Indien und den Kolonien vertrieben wird; wenn wir daran denken, wie Deutschland seine» Kant und Herder zur Zeit der äußersten Ohnmacht und Hilflosigkeit, ja der Fremd­ herrschaft hervorbrachte: so könnten wir versucht sein, zu glauben, daß vielleicht die beiden Tätigkeiten unverträg­ lich oder wenigstens nur ausnahmsweise verträglich seien. Und warum sollte es anders sein? Müssen nicht die verschiedenen Fähigkeiten des menschlichen Geistes von Zeit zu Zeit ausruhen und einander ablösen, wenn die Quellen nicht vor der Zeit versiegen sollen? Es hat religiöse Zeitalter gegeben, wie die ersten Jahrhunderte unserer Ära und das 16. Jahrhundert, die ganz und gar auf das Schaffen und Definieren religiöser Dogmen gerichtet waren, deren Eifer nur den religiösen Fragen und Interessen galt; und darauf folgten verhältnismäßig stille Perioden, wo die Menschheit, der theologischen Diskussionen müde, gleichgültig gegen religiöse Gegen­ stände, ruhig die vorhandenen Formen der Religion hin­ nahm und darin verharrte. Die Welt hatte vier Jahr­ hunderte vor Christus ein großes künstlerisches Zeitalter gesehen, das durch Hunderte von Jahren sich langsam vorbereitete und nach einer kurze» glänzenden Blütezeit durch Hunderte von Jahren langsam ausstarb. Dann lag die Gabe der künstlerische» Intuition eine lange, lange Zeit schlafend, bis sie gegen Ende des Mittelalters

langsam erwachte und im 15. Jahrhundert zu einem kurzen, doch leuchtenden Aufblühen kam, nur um wieder eines langsamen Todes hinzusterben. Warum sollte nicht die Befähigung für politisches und wissenschaftliches Leben zuweilen brachliegen, da die religiöse und die künstlerische Fähigkeit solcher zeitwelligen Pause bedürfen? Warum sollten sie nicht alle abwechs­ lungsweise ausruhen? Warum sollten wir vor allem darüber streiten, welche Größe mehr wert sei, die Voltaires oder die Napoleons, die Newtons oder die Cromwells? Über diese Fragen werden sich die Menschen niemals einigen, denn es handelt sich hier um keine Meinungsver­ schiedenheit, sondern um eine Verschiedenheit des Tempe­ raments und Charakters. Nur den einen Punkt wird man zugeben müssen. Wenn eine Nation instinktiv oder mit Bewußtsein fühlt, daß ein Tagewerk vollbracht ist, und sich an das nächste begibt, so lasse man sie gewähren und wolle nicht klüger sein als Geschichte und Natur. Wenn eine Nation sich eine Zeitlang darein versenkt, eifrig und vielleicht ungeschickt ein neues Haus zu bauen, in dem sie unbehelligt und ihrer eigenen Natur und Geschichte gemäß wohnen kann, so lasse man sie gewähren und verlange nicht vom Mannesalter den Flaum der Jugend, noch vom Sommer die satten Farben und reichen Früchte des Herbstes. Das alles sind im Grund eitle Fragen — ungefähr so, als wollte man dem Apfelbaum vorwerfe», daß er keine Orangen trägt. Wenn die Nation, welche die intellektuelle Führerschaft Europas an eine andere Nation abtreten mußte, weil sie dringendere Arbeit zur Hand hatte — vielleicht auch well sie müde war und eines Wechsels bedurfte — sich von dem geistigen Leben Europas zurückzieht, wie Spanien im 17. und 18. Jahr-

hundert, wird sie eine schwere Strafe $tt zahlen haben. Wenn sie dagegen fortfährt, an der geistigen Bewegung Europas teilzunehmen, wie es England im 18. und 19. Jahrhundert tat, so kann sie überzeugt sein, daß sie eines Tages die Führerschaft zurückerlavgen und früher oder später, wäre es auch nur auf kurze Zeit, den ersten Platz im geistigen Laboratorium Europas wieder ein­ nehmen wird. Wer aber als Betrachter solch einem Gegenstände, wie es der Beitrag einer Nation zu Europas gemein­ schaftlichem Gedankenschatze ist, gerecht werden will, der wird wohl daran tun, sich alles Parteigeistes, des nationalen wie des politischen und religiösen zu entäußern. Der Parteigeist hat seine rechte Stelle im praktischen Leben. Wenn es sich darum handelt, unsern Glauben oder unser Vaterland zu verteidigen, gewisse positive Zwecke zu erreichen, die einzig durch disziplinierte Gesamt­ kräfte erreicht werden können, so wollen und sollen wir zu einer Partei gehören und bei ihr bleiben usque ad mortem. Aber wenn wir es versuchen, die Geschichte der Menschheit zu verstehen und ihre geheimnisvollen Bahnen zu erkunden; ja, sobald immer wir einen Boden betreten, wo jene praktischen Interessen nicht bedroht sind, wo kein Kampf, kein Streit waltet, wo wir einfach mitein­ ander zu leben, einander zu kennen, höchstenfalls ein­ ander zu beurteilen haben, — da wollen und sollen wir solche unliebsamen Unterscheidungen vergessen und ein­ ander behandeln, als ob wir alle zu einer Nation, einer Partei, einem Glauben gehörten. Hüten wir uns, an Völker oder Tatsachen oder Ideen mit einem vorgefaßten Urteil heranzutreten oder sie argwöhnisch nach ihrem Paß zu fragen, anstatt sie auf ihren inneren Wert zu

prüfen. Hüten wir nns, Menschen nnd Tatsachen und Ideen zu verdammen oder heiligzusprechen, weil sie russischer oder italienischer Herkunft sind, eine katholische oder protestantische Aufschrift tragen, ans dem kon­ servativen oder liberalen Lager kommen. Gerechtigkeit ist noch das, wird immerdar das sein, wofür Plato und Aristoteles sie erklärten, die höchste und männlichste aller Tugenden.

Zur Entwickelungsgeschichte der abendländischen Gesellschaft.

Das Wort Gesellschaft wird in verschiedenem Sinne gebraucht. Die Staatswissenschaft meint damit die Ge­ meinschaft der staatlich verbundenen Menschheit; in der Unterhaltungssprache gewisser vornehmer Kreise in Paris und London bedeutet das Wort eine Verbindung von Sippschaften, deren Hauptsorge es ist, ihre Türen ge­ schlossen zu halten, damit fie das wichtige Geschäft des Sichamüsierens unter sich betreiben können. Hier soll weder von Rousseaus Gesellschaft, noch von der haupt­ städtischen Sozietät die Rede sein; sondern von der Gesamt­ heit der Stände, welche die Träger jeder nationalen Kultur sind, diese eigentlich erst produzieren und auch vorzugsweise konsumieren, der Stände, welche der nationalen Tätig­ keit vorstehen, Staat und Religion, Handel und Gewerbe, Literatur und Wissenschaft leiten, kurz, jener ganzen Schicht der Nation, die man in Deutschland bezeichnender­ weise „die Gebildeten" zu nennen pflegt. Der Charakter und der Habitus dieser Gesellschaft hat sich bei den ver­ schiedenen Nationen zu verschiedenen Zeiten festgesetzt, unterm bestimmenden Einfluß hier dieser, dort jener be­ stimmenden Klasse, unterm Vorherrschen bald des einen, bald des anderen Interesses. Es ist offenbar von nicht geringer Bedeutung, ob eine nationale Gesellschaft sich im 16. oder im 18. Jahrhundert konstituiert hat, ob Bürgertum oder Waffenadel dabei die ausschlaggebende Rolle gespielt, ob sie sich unterm Prinzip der Kunst

oder der Religion, des Staats oder der Wissenschaft ge­ bildet hat. Es dürfte von Interesse sein, diesem ver­ schiedenen Entwickelungsgang bei verschiedenen Nationen ju folgen, wäre es auch nur auf der Hauptstraße und ohne unterwegs zu verweilen, oder gar in die hundert Seitenwege einjubiegen, die von allen Seiten laden. I.

Das Mittelalter kannte keine nationale Gesellschaft. Sein ganzer Geist war ein universeller: die Religion, die Wissenschaft, ja selbst die Staatsform war eine und dieselbe in Europa; sogar in der Literatur war der Stoff wenigstens ein allen Nationen gemeinsamer. Auf der anderen Seite war jede Nation gespalten in streng abgeschlossene Stände. Das Bürgertum stand der Geist­ lichkeit, diese dem Rittertume unvermittelt gegenüber; und die Dialekte hinderten den geistigen Verkehr zwischen Provinz und Provinz, oder nötigten wieder zum Ge­ brauch des Latein, d. h. eines universellen Werkzeugs, welches die Äußerung des Nationalgeistes kaum auf­ kommen ließ. Erst mit der Renaissance begannen natio­ nale Gesellschaften sich zu entwickeln: denn erst mit der Renaissance begannen die europäischen Völker sich wirklich in Nationen zu gliedern, diese ihre sprachliche und staat­ liche Einheit auszubilden, begannen die gebildeten Stände sich einander zu nähern, Gedanken und Gefühle auszu­ tauschen, miteinander zu handeln, zu leben, sich für ge­ meinsame Interessen zu erwärmen. Italien war hier allen Nationen voraus, wenn es auch noch keinen Nationalstaat bildete, wie die geeinten Reiche von Spanien, England und Frankreich am Ende des 15. Jahrhunderts. Aber es fühlte sich seit dem

letzten deutschen Römerzuge als eine unabhängige Nation, wie einst Griechenland den Barbaren gegenüber. Seine Schriftsprache war schon ein Menschenalter früher als solche anerkannt von den Alpen bis zum Paffaro; vor allem die Standesunterschiede unter Gebildeten hatten fast ganz aufgehört, als die Wiederbelebung des klassischen Altertums ihnen allen ein gemeinsames Interesse gab. Es war aber nicht das Heer, noch die Geistlichkeit, es war der Bürgerstand — i popolani grassi —, insbesondere der handeltreibende Bürgerstand, welcher die anderen Stände an sich heranjvg, in sich aufnahm, oder sie doch mit seinem Geiste tränkte. Die italienische Gesellschaft war eine städtische, und sie ist es geblieben. Es waren die Städte, welche im geistigen, wie im staatlichen Leben im Vordergrund standen: Mailand und Genua, Venedig und Florenz, Bologna, Pisa, Siena, Perugia. Einige unter ihnen waren im 15. Jahrhundert und bis in den Beginn des 16. europäische Großmächte, etwa von der Bedeutung der Niederlande im 17. Jahrhundert. Und in den meisten dieser Städte hatte der großhandeltreibende Bürgerstand schon frühe den Waffenadel deutschen Ur­ sprungs überwältigt, sich selber der Herrschaft bemächtigt: wer weiß nicht aus Dantes Beispiel, daß in Florenz kein Adliger am Staatswesen teilnehmen durfte, der sich nicht vorher entadelt, einer Zunft hatte zuschreiben lassen? Und die Heere, mit denen jene Staaten ihre unblutigen Schlachten schlugen, waren keine Pflanzschulen eines neuen Adels. Wenig angesehen, aus niederem Volke rekrutiert, von geringem Einfluß auf den Staat, blieben sie stets im Verhältnis der Abhängigkeit zu den Stadt­ herren. Selbst wo ihre Generale — meist Männer gemeiner Herkunft — sich gegen Ende jener Zeit der Gewalt be-

»nächtigten, wie die Sforza in Mailand, bildeten ihre Offiziere keinen Waffenadel, der die Gesellschaft der Städte beherrscht hätte. Ähnlich war's mit der Geifilichkeit. Bei der allgemeinen Verweltlichung der Bildung war ihr Einfluß ein geringer, auch gesellschaftlich war fie in keinem Sinne tonangebend, genoß keiner privilegierten Stellung, keiner besonderen Verehrung. Sie ging eben wie alle anderen Klassen im Bürgertume auf, aus dem sie auch meist hervorging: war ein Prälat besonders an­ gesehen, so war's seine Gelehrsamkeit, seine Persönlichkeit, seine Verbindung mit bedeutenden Bürgern, nicht seine geistliche Würde, welche ihm dieses Ansehen verschafften. Wer sich im Staate, in der Literatur, der Kunst hervor­ getan, gehörte fast ausschließlich dem Bürgerstande an: Petrarca war der Sohn eines Notars, Boccaccio der eines Kaufmanns, Macchiavelli, Guicciardini waren bürgerlicher Herkunft. Auch nachdem sich einzelne Familien zu Dynastien, oder Gruppen von Familien zu Oligarchien ausgebildet, fuhren sie fort Handel zu treiben, nicht immer zum Vorteil des Staates, den sie zugleich verwalteten, und das Verhältnis zu den tatsächlichen Untertanen blieb in der Form das von Mitbürgern zu Mitbürgern. Cosimo de' Medici war mehr Freund als Beschützer Donatellos und Brunelleschis, und der Umgang seines Enkels Lorenzo mit den Pulci und Angelo Poliziano war auf dem Fuße vollständiger Gleichheit. Es waren doch eben keine fremden Eroberer, wie anderswo und früher in Italien selber, noch hatten ihre Vorfahren seit unvordenklichen Zeiten ein getrenntes, unnahbares Dasein geführt. Man war miteinander aufgewachsen, hatte Geschäfte miteinander gemacht, die Fiktion, daß die Herren nur unter Zustimmung des gesamten Volkes herrschten, ward noch aufrechterhalten.

Daher der Ton vollständiger Gleichheit, der in diesen Kreisen galt. Und nicht nur in Florenz, selbst in Ferrara, dem einzigen Staate Oberitaliens, dessen Fürsten noch dem Adel der Eroberer angehörten, herrschte ein solcher Ton, wenn auch weniger frei. Das Beispiel der Städte wirkte eben durchaus bestimmend. Und diese demokratische Gleich­ heit hat sich, äußerlich wenigstens, bis auf unsere Tage erhalten. Nirgends bestehen im täglichen Verkehr weniger konventionelle Formen als in Italien, man sucht sie nur bei großen Staatsangelegenheiten hervor; im übrigen Leben herrscht ein vertrauliches Sichgehenlassen, das bei dem durch uralte Kultur gezüchteten Volke selten in Un­ schönheit ausartet. Natürlich aber auch hatte und hat diese italienische Gesellschaft, trotz allen Mutterwitzes, aller Heiterkeit und natürlichen Anmut nicht den Reiz, den die französische, die spanische, wie wir sie aus den Lustspielen und Romanen des 16. Jahrhunderts heraus­ lesen, in so hervorragender Weise besitze» und der darin besteht, sich innerhalb konventioneller Formen frei zu be­ wegen, dieselben geschmeidig und sich dienstbar zu machen, die Persönlichkeit trotz ihrer zur Geltung zu bringen, alles zu sagen, ohne sie zu verletzen, woraus denn ein höheres Spiel wird, das seine Gefahren wie seine Vor­ züge hat, und von der bequemen Gemütlichkeit so ferne ist, als das Sonett vom Knittelvers. Knittelverse wie die des „Sauft" und des „ewigen Juden" sind freilich alle Sonette Petrarcas wert; aber selbst ein Goethe wagt nicht immer sich ihnen zu überlassen und greift selber zum Sonett: fühlt er doch sehr wohl, daß eben „wenn sich die Geister gar gewaltig regen", die Beschränkung sich lieben lernt. Im Grunde aber ist es „so mit aller Bildung auch beschaffen."

Jene gesellschaftliche Gleichheit, die keine Oberen anerkannte, wenn sie sie auch tatsächlich gewähren ließ, war in Italien des 15. Jahrhunderts mit einer seltenen Einheit der Bildung verbunden. Nicht länger waren die Menschen geteilt in Kaufleute, Staatsmänner, Gelehrte, KüniUer: jede Spejialität erwuchs auf dem Boden ge­ meinsamer Bildung. Wer kann sagen, was einen Niccolü da Uzzano mehr in Anspruch nahm, sein Wollengeschäft, die Staatsangelegenheiten, welche der Kreis ihm ver­ bündeter Familien noch leitete, die Arbeiten seines Freundes Donatello oder die Universität (studio), die er auf eigene Kosten ju gründen unternommen? Selbst die Frauen nahmen vollen Anteil an dieser Bildung und dieser Gesellschaft. Noch war die klösterliche Erziehung eine Ausnahme. Die Patriziertöchter wurden mit den Brüdern gemeinsam daheim unterrichtet im Griechischen, Lateinischen, der Mathematik. So gähnte nirgends eine Kluft. Den Frauen der Renaissance war, wie Janitschek schön sagt, „die Bildung der Zeit nur zum Werkzeug geworden, das weibliche Naturell zu glänzendster Entfaltung zu bringen..., nicht Ergebnis äußerer, kon­ ventioneller Erziehung, sondern Harmonie, die aus einem Zusammenwirken aller Kräfte der weiblichen Natur her­ vorgeht'". Wohl mochte Ariosi von seiner Zeit rühmen: Ben mi par di veder eh’ al secol nostro Tanta virtti fra belle donne emerga, Che puö dar opra a carte ed ad inchiostro. Perche nei futuri anni si disperga.

Denn sie sind zahlreich, jene hochgeblldeten Frauen des 15. Jahrhunderts, welche an der Unterhaltung, den 1 Hube« Janitschek: Die Gesellschaft der Renaissance in Italien und di« Kunst, 1879.

geistigen Genüssen, den Geschäften sogar der Männer vollen Anteil nahmen; aber es ist keine darunter, die darum aufgehört hätte ganz Frau zu sein. Man denke an Lucrezia Tornabuoni, die Dichterin und Dichterfrevndin, die Mutter Lorenzos i>e' Medici, welche selbst die Er­ ziehung des begabten Sohnes geleitet, dem großen Hause, dessen Chef Piero fast immer leidend war, sorgsam und klug vorstand, und man lese den reizenden Brief, in welchem sie die Schönheit ihrer künftigen Schwiegertochter, Clarice Orsini, mit weiblichem Kennerauge analysiert. Ist sie nicht Weib in allem? Die Weise wie Sandro Botticelli die junge Albizzi, auf den herrlichen Fresken der Villa Lemmi bei Florenz, mit Pico della Mirandola in Verbindung bringt, beweist doch wohl, — wenn auch kein Chronist oder Briefschreiber der Zeit uns über die Optimatentochter eine jener Notizen gebracht, deren wir so viele über andere ihresgleichen besitzen, — daß der schöne Wunderjüngling, der alles Wißbare seiner Zeit wußte, ein Hausfreund und Gespiele des holden Mädchens war. Und außerhalb Florenz — blieb nicht Caterina Cornaro, auch nachdem sie ihre zyprische Krone nieder­ gelegt und wieder eine einfache venetianische Patrizierin geworden, noch immer die Beschützerin der Künste und Wissenschaften, die einem Bembo die ersten Schritte in der wechselvollen Laufbahn erleichterte? Zählte nicht Elisabeth von Urbino einen Castiglione, einen Bernardo Accolti, den zu wenig gekannten Dichter der „Virginia", zu ihren vertrautesten Freunden? Waren nicht Bojardo und Guarini, der Humanist, die Tischgenossen der älteren Eleonore von Ferrara, wie Tasso und Guarini, der Dichter, zwei Menschenalter später bei der jüngeren Eleonore Gunst und Schutz fanden? Und wie hochgelehrt war nicht Tor-

quatos Mutter, die anmutige und häusliche Porti«? Wer gedenkt nicht der Muse Michelangelos, der schönen Dittoria Colonna? Wo vor allem ist ein schöneres Bei­ spiel edler Weiblichkeit als das Jsabellas von Mantua, deren Briefe an den Gemahl, die Schwägerin von Urbino, die befreundeten Künstler, durch die etwas ungelenke Form die anmutigste Frauenseele durchscheinen lassen? Sie nimmt aus Aldus Manutius" Hand die gelehrtesten Werke des Altertums entgegen; ihr unterbreitet Ariosto den Plan seines rasenden Roland; Bellini kann ihr nie genug tun; sie hört Plautus" Komödien, ja, Cardinal Bibbiena's „Calandra", die heute kaum ein Mann laut lesen möchte, heiter mit an, wie die Männer ihrer Ge­ sellschaft; und wie niemand, der sie gesehen, sie minder weiblich fand, weil sie den Vitruvius las, so fiel es niemanden ein, an ihrer Keuschheit und Reinheit zu zweifeln, weil sie über Macchiavellis „Mandragola" recht herzlich zu lachen verstand. Natürlich nahmen junge Mädchen unter zwanzig Jahren, sowenig wie die Knaben dieses Alters, an der Geselligkeit der Erwachsenen An­ teil: unverheiratete Frauen über zwanzig aber waren etwas so ganz Ausnahmsweises, daß sie hier gar nicht in Betracht kommen. Der Einfluß der Frauen auf die Politik war meist nur ein ganz mittelbarer, obschon auch gewisse Persön­ lichkeiten, wie z. B. Caterina Sforza in offen führender Stellung hervortreten. Im allgemeinen beschränkte sich die Teilnahme der Frauen echt weiblich aufs Empfangen und Wiedergeben, nicht aufs Schaffen und Handeln nach außen: sie gaben dem Leben jener unbändigen Männer, wenn der unerbittliche Kampf ums Dasein ruhte, Maß und Anmut und Schönheit. So verwirklichten sie eigent-

lich erst jenes Ideal der Kunst, das der ganzen Zeit vorschwebte. Denn die Kunst, d. h. die deutende Dar­ stellung der Natur, war das Prinzip, das jene ganze Zeit dnrchdrang. Als Karl V. mit Papst Clemens VH. jene denkwürdige Zusammenkunft in Bologna hatte, welche die Geschicke Italiens auf Jahrzehnte hin bestimmen sollte, machte die kunstreiche Agrafe Benvenuto Cellinis, welche den Mantel des Heiligen Vaters zusammenhielt, beide Herren eine Viertelstunde lang vergessen, warum sie zu­ sammengekommen waren. Und nicht allein die Umgebung und Kleidung, Wohnung, Hausrat, Garten, nicht allein die Vergnügungen und Feste sollten künstlerisch sein; der Staat sogar, vor allem die Persönlichkeit selber, sollte ihnen zum Kunstwerk werden. Hier nun geriet die Renaissance, der jeder konven­ tionelle Kompaß fehlte, nur allzubald an die Klippen, an denen das Schiff der italienischen Gesellschaft zerschellen mußte. In der Kunst selber erreichte sie das Höchste, weil hier das Gesetz die Freiheit beherrschte, und Ariosto ist der Welt das größte Beispiel dieser scheinbar unterdrückten, in Wirklichkeit streng begrenzten Freiheit geblieben. Nicht so im Leben. Zu sehr vergaß man, daß die Muse es wohl begleiten mag, aber es zu leiten nicht versteht. Eine Zeit, die in einem Cesare Borgia nicht mehr Schuld sah, als in einem schönen Tiger, der sich seine Beute erlauert und erpackt, mußte aus Rand und Band gehen. Die Kunst ist sittlich indifferent; die Gesellschaft aber kann ohne sittliche Konvention nicht bestehen. Die Kunst ist uner­ bittlich wahr; die Gesellschaft bedarf einer gewissen Heuchelei. Die absolute Gleichgültigkeit gegen gesellschaft­ liche Moral, die unumwundene Wahrheitsliebe jener Zeit — eine Wahrheitsliebe, die sich mit der direkten Lüge

und Verstellung zur Erreichung eines gegebenen Zweckes sehr wohl verträgt —, der Kultus der Natur als des Unfehlbaren und die Verachtung jedweder Autorität außer ihr, mußte zur Auflösung dieser Gesellschaft führen und hatte dazu geführt, noch ehe der spanische Einfluß das ganze italienische Leben in Banden schlug. Die ungemessene Staatsfreiheit war schon in pein­ lichsten Despotismus ausgeschlagen, noch ehe die unbe­ grenzte Geistesfreiheit in engste Bigotterie umschlug. Wohl ward die Kunst noch weiter gepflegt; aber sie ward etwas ganz Äußerliches und artete unbegreiflich schnell in Virtuosität aus, wie die Wissenschaft zur Buchstaben­ gelehrsamkeit, die Poesie in akademische Pedanterei, die Geselligkeit in Befriedigung leerster Eitelkeit und rohester Genußsucht ausarteten. Der Handel verfiel und mit ihm der freie, stolze Bürgerstand. Die Arbeit kam in Unehre: nur vom Ererbten durfte ein vornehmer Mann leben. Das alte städtische Patriziat ward selber Adel, aber nicht streitbarer Waffenadel, sondern Hofadel. Und welche Höfe waren es, an denen die Abkömmlinge der großen Kaufherren des 14. Jahrhunderts dienten, von denen sie sich Titel und Würden schenken ließen, selbst wenn die neuen Fürsten, wie in Florenz einem Handels­ hause entsprossen waren, dessen Firma ein Jahrhundert weniger zählte als die eigne? Es waren die Höfe kleiner Vasallen fremder Großmächte. Der Horizont war verengt. Nirgends mehr öffnete sich eine Aussicht auf das weite Meer der europäischen Politik. Die edle Freiheit des Umganges, wie sie im vorher­ gehenden Jahrhundert geherrscht, machte peinlicher Etikette Platz; ein steifes, spanisches Zeremoniell trat an die Stelle der früheren Vertraulichkeit. Wohl bestand eine solche tztttebrand, Zelten und Menschen.

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noch außerhalb der Höfe fort zwischen dem nenbetitelten Adel — der Titel wurden so viele, daß sie alle Bedeutung verloren — und dem gebildeten Mittelstand, aber nur ganz äußerlich; und diese aus der Renaissancezeit noch herübergekommene äußere Gleichheit kann bloß den flüchtigen Hinblick täuschen. Der Graf und Marquis duzte den Advokaten und Professor nach wie vor; aber er tat es nur, weil er wußte, daß die innerliche Entfernung unüberschreitbar war; so scherzt Don Juan ungestraft mit Leporello, weil eine Welt im Busen ihn von dem Diener trennt. In Wirklichkeit trat durchaus ein Klienten­ verhältnis an die Stelle der ehemaligen Gleichheit. Der Verfall des Handels und Gewerbes, die Ausdehnung des Hof- und Staatsdienstes hatten ja auch die immer zunehmende Verarmung und Servilität des Mittelstandes zur Folge: das Parasitentum nahm immer größere Ver­ hältnisse an. Im Gegensatz zu andern Ländern ward die Kirche, die Justiz, die Verwaltung zur Zufluchtsstätte dieser ver­ armten Stände, welche die Protektion der Reichen nicht mehr als eine Demütigung empfanden. Die Würde, welche die Religion, das Richteramt, der Staat anderswo den Trägern mitteilen, galt hier für gar nichts: der Pfarrer war nicht mehr als ein bequemer Hagestolz, der kleine gesellige Funktionen verrichtete; der Gelehrte und Dichter, meist auch ein Abate, war der Verherrlicher oder auch Amuseur des vornehmen Hauses, der Richter kaum mehr als der Geschäftsmann, der Regierungsrat als der Guts­ verwalter der Herren — Signori. Die Frauen dieses gebildeten Mittelstandes — denn der Handel war fast ganz zum Krämertum herabgesunken — lebten im Dunkel und. in der äußersten Dürftigkeit, als Mägde, die nur

an Feiertagen einmal an die Sonne kamen. Die Frauen der höheren Stände fuhren freilich fort der Mittelpunkt der „Gesellschaft" im aristokratischen Sinne zu sein; aber auch ste sprangen wie jene aus dem Kloster in die Ehe; auch auf sie wirkte die Abwesenheit alles öffentlichen Lebens niederdrückend und geisttötend; auch ste waren von den Interessen der Männer ausgeschlossen; auch sie gingen, wie die Männer, auf in der Kleinlichkeit des Zeremoniells, der Rangeifersucht, der Bigotterie — oder aber sie über­ ließen sich bei verschlossenen Türen allen Launen der Leiden­ schaft und des Müßigganges. Nur der anerkannte Sigisbeismus erleichtert und bereichert in etwas die trostlose Hde dieser Frauenexisienzen; und die angeborene Grazie, die der Natur so nahe Kindlichkeit der Italienerin, die Erbschaft wohl auch der ältesten Kultur Europas ver­ schönerten, milderten einigermaßen die innere Armut dieses Lebens. Noch sind die Spuren jenes Daseins des 17. und 18. Jahrhunderts nicht ganz verwischt: doch ist Italien vielleicht das Land, in welchem seit etwa vierzig Jahren die größte gesellschaftliche Umwälzung vor sich gegangen ist und noch vor sich geht. Die französische Herr­ schaft am Anfange dieses Jahrhunderts, der seitdem ununterbrochene Einfluß der französischen Literatur, Ge­ sellschaft und Politik, das Niederreißen der inneren Grenzen, die zeitweilige Herrschaft der Piemontesen — eines Menschen­ schlages, der dem Schweizer näher verwandt ist als dem Italiener — vor allem aber das Heraufkommen eines neuen herrschenden Standes, eben jenes, zwei Jahrhunderte lang so armen und unterwürfigen Mittelstandes, der heute alles ist und den Vorteil seiner Stellung wohl wahrzunehmen weiß, — alles das hat eine Umwandlung zur Folge gehabt, die noch lange nicht vollendet ist.

II. Auch in Frankreich machte sich, nach dem italienischen, der spanische Einfluß stark geltend: aber das Nationalleben der Franzosen war zu intensiv, um sich jene Ein­ flüsse nicht bald und vollständig zu assimilieren und unter­ zuordnen. Don jeher hatte dort der Waffen- und Ge­ richtsadel den Staat geleitet, die Kirche beherrscht, die Pflege der Literatur und Wissenschaft an sich genommen. Beide Stände hatten sich mit der Krone gegen die hohe Aristokratie verbunden. Je unabhängiger aber das König­ tum von dieser ward, desto mehr wuchs das Ansehen und der Einfluß der Verbündeten. Nach der endgültigen Unterwerfung des hohen Adels durch Richelieu trat auch dieser in die Dienste des Hofes, und bald war der Hof der) Mittelpunkt des ganzen französischen Lebens, zuerst in Paris, dann in Fontainebleau, St. Germain, Ver­ sailles. Und mit der Bedeutung des Hofes wuchs auch die Bedeutung des Pariser Parlamentes, das sich als Macht dem Könige gegenüber fühlte, es ihn wohl auch fühlen ließ; der Richterstand behauptete stets seine politische und soziale Selbständigkeit, da der einzelne seiner halb ererbten, halb erkauften Stelle nicht entsetzt «erden konnte und der Wohlstand der Familien durch die Verbindung mit reichen Bürgertöchtern stets erneut wurde. Um das Pariser Parlament nun gruppierte sich die „Stadt", wie um den König der „Hof". So hielt die geistige Zentrali­ sation mit der staatlichen Schritt. „Hof und Stadt" werden gleichbedeutend mit Trägern der Kultur. Montesquieu sagt ganz naiv: „J’appelle g6nie d’une nation les mceurs et le caractere d’esprit des differents peuples dirigds par l’influence d’une meme cour et d’une meme Capitale.“ Deutschland konnte offenbar in Montesquieus Augen

nicht auf eine nationale Kultur Anspruch machen. Hof und Stadt aber meinten Waffen- und Gerichtsadel mit allem, was damit jusammenhing; und bis jur Revolution hin, ja noch in der Nationalversammlung von 1789, insbesondere aber während der Restauration (1814—1830), die so recht als ein Wiederaufleben Altfrankreichs anzu­ sehen ist, waren es durchaus der Höfling und der Jurist, welche der französischen Kultur ihre eigentümliche Physio­ gnomie gaben: ja noch heute sind die Gewohnheiten, Formen und Anschauungen beider Stände, wenn nicht im Staate, so doch in dem, was ich die Gesellschaft genannt, durchaus die herrschenden. Zu der Zeit, wo diese nationale Gesellschaft zugleich mit der nationalen Literatur ihre bestimmte Form annahm, d. h. im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts, als diese die spanischen Fesseln abwarf, jene die spanischen Formen frei umwandelte, geschah es schon durch die Initiative jener beiden eng verbundenen Stände. Im Salon der Marquise von Rambouillet trafen sich mit einem Cond« und Retz die Doiture und Balzac, die Corneille und Malherbe, welche alle in fernerer oder näherer Beziehung zu parlamentarischen Familien (familles de rode) standen. Pascal, wie fast ganz Port-Royal, gehörte von Haus aus dem Gerichtsadel an, wie früher Montaigne, später Montesquieu. Auch der große Gallikaner, welcher der französischen Kirche und der französischen Kanzelberedsamkeit ihr bleibendes Gepräge gab, Bossuet, war der Sohn eines Richters. Er wurde aber eines der Gestirne von Versailles, wie später Bourdaloue, Flechier, Massillon und so viele andere ausgezeichnete Prälaten des alten Frankreich, welche nicht weniger als die Höflinge hohen Adels, ein Larochefoucault, ein Saint-Simon, dazu bei-

trugen, die Literatur ihres Vaterlandes tu bereichern. Auch Schriftsteller vom Handwerk lebten in Versailles: der Hof lieferte einem Labruyere seine bekanntesten Typen; und Racine besang in „BLrsnice" das Verhältnis Ludwigs XIV. ju Mlle. de la Balliere; er dichtete „Athalie" und „Esther" für Mme. de Maintenons Saint-Cyr. Neben den Würdenträgern der Kirche aber und den Vertretern der Literatur drängten fich die hohen Staatsbeamten und die Offiziere um den Hof und die Person des Königs, verbanden fich in Freundschaft mit jenen Männern, teilten ihre Interessen, bildeten fich an ihnen, wie fich jene wiederum in freier weltmännischer Auffassung der Dinge von diesen bilden ließen. Jede vornehme Familie aber war ein Ver­ sailles im kleinen, hatte ihre Abbes und ihre Literaten, die als Freunde, nicht als Klienten, mit ihr verkehrten, fie geistig anregten, von ihr Weite des Ausblicks gewannen: denn der Hof, welcher den Mittelpunkt und das Vorbild dieser ganzen Gesellschaft bildete, war kein Duodezhof wie der von Lucca oder Parma: er war der eines unab­ hängigen Großstaates, ja des europäischen Großstaates kot’ eEoxnv. Nichts beengte den Gesichtskreis. Die höchsten Interessen fanden hier ihre Erörterung und Entscheidung; nichts war hier kleinlich, selbst nicht das Hofzeremoniell, weil es nicht wie in Italien zugleich der Inhalt, sondern immer nur die Form des Lebens war. Hier hatten die Kämpfe zwischen Jansenisten und Jesuiten, zwischen Protestantismus und Katholizismus, zwischen der Nationalkirche und der römischen Kurie ihr Echo. Hier wurde die Beherrschung des Festlandes, hier die Verteidigung des Vaterlandes geplant. Hier wurden die neuesten Komödien Molieres mit derselben Lebhaftigkeit besprochen als Pascals Briefe gegen die Gesellschaft

Jesu oder Bossuets Leichenrede auf den großen Conde. Und wie der Hof, so die Stadt: alle Gebildeten, Besitzenden, welchem Stande sie auch angehören mochten, nahmen Anteil an diesen Fragen, welche sofort nationale Fragen wurden. Nicht am mindesten die Frauen. Noch hundert Jahre später meinte Sterne, die Franzosen seien „ein Volk, wo Nichts salisch sei als die Monarchie". In der Tat waren und sind es die Frauen, welche herrschten und herrschen. Zumal in der Hauptstadt. Selbst Bonaparte, der doch den Weibern sicherlich nicht gern viel Spielraum ließ, mußte bekennen, als er 1795, ein sechsundzwanzigjähriger Jüngling, nach Paris kam: „Hier nur verdienten sie das Steuer zu führen....Die Männer dächten nur an sie, lebten nur durch und für sie. Eine Frau müsse sechs Monate in Paris gewesen sein, um zu wissen, was ihr zukomme und wie sie zu herrschen ver­ möge." Das Geheimnis ist leicht zu verraten. Die Fran­ zösinnen jener Zeiten kämpften stets nur mit Frauenwaffen. Eine Sevigne, eine Mme. de Lafayette waren in erster Linie Frauen, das Schriftsiellertum war etwas Beiläufiges, wenn man anders ihr Schreiben Schriftsiellertum nennen kann. Freilich gab's auch Schriftstellerinnen vom Hand­ werke, wie die Scudery und die Deshoulieres, aber auch sie bestimmten den Ton der Gesellschaft mehr durch ihre Persönlichkeit als durch ihre Schriften, und ihre Zeit war eine kurze. Don der Volljährigkeit Ludwigs XIV. an traten die Frauen — die politischen des 17. Jahrhunderts, wie die philosophischen des 18. — nicht mehr direkt vors Publikum. Selbst noch Mme. de Stael — eigent­ lich nur halb Französin — schlug ihre persönlichen Ver­ hältnisse höher an als ihre Bücher, erwärmte sich noch mehr für ihre politischen Freunde, als für ihre politüchen

Grundsätze. Doch ist nicht zu leugnen, daß bei ihr schon das Unweibliche sich störend mit vordrängt. Die Frauen des alten Rögime scheuten die Öffentlichkeit; sie begnüg­ ten sich mit dem mittelbaren Einfluß, beherrschten die Herrscher auf allen Gebieten, ohne je zur Kampfesweise der Männer zu greifen. Anakreon sagt, die Natur habe jedem geschaffenen Wesen seine Waffen mitgegeben, dem Stiere die Hörner, dem Pferde den Huf, dem Manne die Vernunft, der Frau die Schönheit. Das soll nun keineswegs heißen, daß die Frauen unvernünftig und die Männer unschön sind, noch auch, daß alle Männer ver­ nünftig und alle Frauen schön sind: wohl aber, daß jeder Frau ohne Ausnahme von der Natur eine gewisse An­ mut gegeben ist — die sie freilich oft sehr erfolgreich los­ zuwerden bemüht ist. Wenn selbst der stolze Ludwig xiv. den Hut vor der letzten Küchenmagd lüftete, der er auf einer Hintertreppe des Versailler Schlosses begegnen mochte, so war es doch eben nur ein Tribut, den das verkörperte Frankreich dem Geschlechte zahlte, das in der demütigsten Gestalt die Rechte der Anmut und der Schwäche beanspruchen durfte. Diese Anmut ist ihm ja nicht nur in den kurzen Jahren der Blüte gegeben, noch auch ist sie auf das Körperliche beschränkt. Es gibt auch eine Grazie des Gemütes und des Geistes, die speziell weiblich ist; und so sind neben der List, den Tränen, der Gefallsucht, auch die Selbstentäußerung und die Hingabe, die Fähigkeit des Duldens, die geistige Frische und anregende Naivität, das kluge direkte Urteil und die ebenso kluge und direkte Rede Frauenwaffen, die den Männern selten zu Gebote stehen. Diesen Waffen nun, nicht einem unschönen Bestreben es mit den Männern auf dem eigenen Gebiete aufzunehmen, verdankten die Französinnen jener beiden

schönen Jahrhunderte, von Mme. de Chevreuse bis auf Mme. Roland, ihre Herrschaft über so viele, ja fast alle Helden der Tat und des Gedankens. Denn kein Interesse war ihnen fremd; und wie ste dem geselligen Leben vor­ standen, so war ihr Einfluß im Staate, in der Religion, der Literatur durchaus bestimmend. Und ich spreche hier keineswegs nur von den hervorragenden Gestalten, einer Mme. de Longueville, die den Gemahl und den Bruder, — den großen Conde — ja sogar einen Larochefoucault und Turenne jum Kampf gegen die Krone zu verleiten wußte, oder einer Mme. de Maintenon, welche so lange Ludwigs XIV. innere Politik bestimmte, einer Angelique Arnauld oder Mme. Guyon, welche die Seelen des fran­ zösischen Jansenismus und Quietismus waren, einer Tencin und Geoffrin, deren Salons für die Gesellschaft des ganzen Jahrhunderts tonangebend wurden —; ich rede von jenen Hunderten von Frauen, deren Namen selbst nicht in die Öffentlichkeit drang, obschon sie hinter den ersten Männern der Politik, der Literatur, der Gesellschaft standen, wie uns alljährlich neue Entdeckungen der Forscher und Freunde jenes einzigen Jahrhunderts lehren. Und man urteile doch nicht gar zu rasch ab über die „Korruption* oder auch nur die laxe Moral jener Zeit. Sie bietet auch schöne Beispiele, und keineswegs vereinzelte, von ehelicher Treue und Liebe. So jene derbe Herzogin von Chaulnes, von der uns St. Simon erzählt, daß ste ihren Gemahl nicht überleben wollte; so jene Herzogin von Choiseul, die Freundin Mme. Du Deffands und des Abbö Barthelemy, die ihren zwanzig Jahre älteren Gatten, den Minister Ludwigs XV., wahrhaft ver­ götterte; so jene Marquise Costa de Beauregard, deren Briefe an den Gatten und die Kinder uns in ein so schönes

Gemüt blicken lassen; so die Marschallin von Beauveau und wie viele andere. Ost anch waren jene freieren Ver­ bindungen, welche das Jahrhundert duldete, im Grunde selber eheliche Verhältnisse; oder wie sollte man die Ver­ bindung des Herzogs von Nivernais mit Mme. de Rochefort, die des Chevalier de Boufflers mit Mme. de Sabran anders nennen, selbst ehe sie, die eine nach vierzig, die andere nach zwanzig Jahren durch die erst so spät möglich gewordene Trauung geheiligt worden? Gibt es etwas Reineres als die Beziehungen Mlle. de Condes zu M. de la Gervaisais, der im Kriege, wie sie im Kloster, ver­ gebens eine Liebe zu vergessen sucht, welche die Krönung durch die Ehe nicht hoffen durfte? Und selbst jene pro­ faneren Verhältnisse einer Mme. d'Houdetöt und St. Lamberts, Mme. Du Deffand's und H. Walpole"s, Mme. du Chatelet's und Voltaires, so vieler anderer zu ge­ schweige», welche lange Jahre dauern und aus dem ge­ meinsamen Interesse für die höchsten Gegenstände der Menschheit ihre Nahrung ziehen, darf man sie mit den leichtfertigen Verbindungen zusammenwerfen, die die Laune gebiert, die Laune vernichtet? Und wer an den sittlichen Werte jener Frauen des alten Regime zweifelt, der denke der großen Revolution und mit welchem Mute, welcher Festigkeit, welcher Resignation jene heiteren Frauen­ gestalten das verhängnisvolle Schafott erstiegen, auf dem sie ihre Begeisterung für die Ideale ihrer Jugend büßen sollten. Es ist bezeichnend für die französische Gesellschaft, daß die Mädchen strenge davon ausgeschlossen waren — bezeichnend, aber nur folgerichtig. Es war ja nicht so sehr die Furcht, daß ein Mädchen sich törichterweise verlieben, eine törichte Ehe eingehen könnte, welche diesen

Ausschluß veranlaßte, als der Wunsch, über alles reden ju können, auch über das, was Mädchen nicht verstehen, was sie langweilt oder aber ihnen zu hören nicht gut ist. Die Unterhaltung war ja der Hauptzweck der fran­ zösischen Geselligkeit, diese Geselligkeit aber Selbstzweck. Sie war für sie, was die Kunst für die Italiener der Renaissance: zugleich Inhalt und Form der geistigen Tätigkeit. ,,0n dit que l’homme est un animal sociable, sagt Montesquieu; sur ce pied-lä il me parait que le Franqais est plus komme qu’un autre; c’est l’homme par excellence, car il semble etre fait uniquement pour la societe.“ Nicht das einsame Denken und

Dichten und Fühlen, nicht die direkte Anschauung der Natur und ihr Wiedergeben, nicht das Handeln und Tun, das Handhaben von Interessen, sondern die geistige Elaboration, welche man Gespräch nennt, — d. h. die­ jenige Form geistiger Tätigkeit, in der Dinge, Gedanken und Gefühle eher als Anlässe gebraucht werden, um unsere Fähigkeiten anzuregen und in freie Bewegung zu setzen, als daß sie Zweck und Gegenstand dieser Fähig­ keiten bildeten — war die Blüte jener Kultur. Die laute Zeugung der Gedanken in lebendiger Berührung; die Kunst, dieses Spiel unmerklich zu wenden und zu leiten; die Genugtuung, dem Einfall eine schöne oder eine reizende oder eine beredte Form zu geben, die höchsten Gegenstände in die Unterhaltung zu ziehen ohne unerreichbar, die ge­ meinsten ohne roh zu werden, alle Natürlichkeit mit Ziemlichkeit, alles Künstliche mit Natürlichkeit zu sagen, über die Dinge hinzugleiten und doch im Vorübergehen anzu­ regen, andern auf den Grund zu gehen, ohne eine An­ strengung fühlen zu lassen, rasche Ausblicke zu öffnen, durch Anspielungen das Persönliche zu streifen ohne darin

aufzugehen, durch schelmische Zweideutigkeiten zu reizen, vor allem aber die eigene Eitelkeit zu befriedigen, indem man der des anderen schmeichelte — diese Kunst verbreitet ihren Geist über die ganze Kultur eines Volkes, dessen Herdentrieb es nicht in der Einsamkeit duldet, das ohne Konvention nicht leben kann, aber sich innerhalb dieser willkürlichen Grenzen frei und anmutig zu bewegen das Bedürfnis fühlt. Sie teilte dem Familienleben, wie der öffentlichen Tätigkeit und der Literatur etwas von ihrem Geiste mit und machte aus den gebildeten Kreisen dieser Nation eine Gesellschaft, deren ungeschriebene Gesetze, deren ungreifbaren Organismus selbst die Revolution und die Schreckensherrschaft Überdauerten, eine Gesellschaft, die sich geistig und moralisch nur im Trikotkleide der Sitte wohlfühlte, weil ihm dieses Kleid zur zweiten Haut an­ gewachsen war — was freilich sagen will, daß dieser Ge­ sellschaft der Begriff des Nackten, d. h. der letzten Wahrheit und Natur ganz abhanden gekommen war. III.

Es hatte sich in England unter den Tudors und Stuarts etwas Ähnliches wie das französische Hofleben zu entwickeln begonnen, und auch hier bildeten Kirche, Heer und Justiz, eng miteinander verbunden und um den Thron geschart, die tonangebende Gesellschaft: noch bis auf den heutigen Tag sind Church, Law and Army die drei Professionen, welche das Recht auf die Benennung Gentleman nicht mir nicht entziehen, sondern verleihen. Doch waren selbst vor der großen Rebellion des 17. Jahr­ hunderts Kunst wie gesellige Unterhaltung, obschon beide gepflegt und hochgehalten, nicht das bestimmende Prinzip der englischen Gesellschaft: das Staatsinteresse war schon

damals das vorherrschende. Der Ton war ein freier und jugleich hoher in der Gesellschaft, wie sie uns aus Shakespeare und Ben Jonson entgegentritt, wie sie uns Männer von Spencers, Bacons, Sidneys, Russells Schlag ver­ gegenwärtigen. Die Frauen spielten darin eine bedeutende und noch durchaus weibliche Rolle. Die Freiheit der Rede war groß und artete nur selten in Roheit aus; die klassische Bildung war allgemein und tief, auch die Frauen waren ihrer teilhaftig; das Interesse an Kunst und Literatur war äußerst rege. Es schien einen Augenblick, als ob England berufen sei, das Ideal der modernen Gesellschaft dar­ zustellen, in welcher Freiheit und Sitte, Individualität und Kultureinheit, Kunstsinn, heitere und geistreiche Ge­ selligkeit sich unter dem kräftigenden Einflüsse des öffent­ lichen Lebens schön und reich entfalten sollten. Die Revolution unterbrach diese gesunde Entwickelung. Es ist unhistorisch, von irgendeinem großen Komplex von Begebenheiten, welcher das Ergebnis einer langen Reihe von Tatsachen und Umständen ist, zu sagen, es hätte anders kommen sollen. Sagen darf man aber doch, daß die große Revo­ lution, welche Englands Unabhängigkeit, die protestantische Religion und die politische Freiheit gerettet hat, für die englische Geistes- und Gemütsbildung von Übel war. Allein sie war unvermeidlich: denn sie war das Ergebnis einer zweiten Entwickelung, welche sich im Schoße der Nation, parallel mit jener höheren von der Renaissance aus­ gehenden, vollzog. Wie dem auch sei, der Puritanismus hat die Blüte des englischen Geistes abgestreift. Wohl nahm er nachher noch einmal einen neuen gewaltigen Auffchwung, der von Locke bis auf Hume England auch geistig wieder in die erste Reihe stellte; ja, es erwuchs noch einmal eine schöne Literatur, der das Europa des

vorigen Jahrhunderts nichts zur Seite stellen konnte: aber so groß auch der Wert dieser Literatur sein mag, jener Duft, welcher über Chaucers und Shakespeares Schöpfungen ruht, weht selbst nicht in den unnachahm­ lichen Werken, welche die Nachgeborenen von Dryden und de Foe bis auf Goldsmith und Sterne hervorge­ bracht haben. Um die jarteste Blüte war's getan; der Schmelz, den der Fraueneinfluß über eine Literatur ver­ breitet, war zerstört: die englische Literatur ward eine Männerliteratur, wie die englische Gesellschaft eine Männer­ gesellschaft wurde. Der neue Anlauf unter Karl II. war nur eine wüste Nachahmung der französischen Sitten gewesen; selbst ein St. Evremond und ein Grammont verloren die Fühlung mit der vaterländischen Kultur: das ganze Treiben war eine rohe Karrikatur des fran­ zösischen Wesens. Der edle Epikuräismus der französischen Gesellschaft artete an der Themse in gemeine Sinnlich­ keit aus; Freiheit wurde zur Frechheit, Heiterkeit zur Ausgelassenheit, Eleganz zu Prunk. Erst nach der zweiten Revolution von 1688 bildete sich dann wieder die neue Gesellschaft, die bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein bestanden hat. Schon unter WUhelm III. und Anna, entschiedener noch unter den beiden ersten Georgen, zog sich der schmol­ lende Adel mehr und mehr auf seine Güter zurück. Mochten auch nicht gerade alle in so derben Ausdrücken wie Squire Western von den „damned Hanoverians“ sprechen, die meisten dachten wie der Vater Sophiens. So ward der Landaufenthalt, der dem Engländer von jeher teuer gewesen, die Normalexistenz der Vornehmen. Sogar als die Gentry unter R. Walpole — der ja selbst ein solcher Landedelmann war — sich mit dem Hofe auszusöhnen begann, blieb die

Gewohnheit, außer der Parlamentszeit, d. h. dem Frühjahr, auf dem Lande zu bleiben, während unter Elisabeth und Jacob I. drei Viertel des Jahres in London zugebracht wurden. Wohl machten die Londoner Witzköpfe und Stutzer anfangs noch den verbauerten Junker zur Ziel­ scheibe ihres Spottes; aber gar bald ward aus der lächerlichen Figur Sir Wilful Witwouds, der „seit der Revolution" nicht in der Stadt gewesen (1700, Congreve), die sympatischhumoristische Sir Roger de Coverleys (Addison), bis endlich diejenige Mr. Allworthys (Fielding) zum Inbe­ griff aller englischen Tugenden ward. Denn es war ja zum größten Teil kein betitelter Adel, diese Gentry; ein Adel war^s immerhin und mehr als ein einfacher Mr. verfolgte seinen Stammbaum bis auf die Zeit des Er­ oberers. Zugleich traten die jüngeren Söhne der Aristokratie (nobility) in die Gentry hinunter, sei's direkt, sei es durch eine jener drei „genteelen" Professionen, von denen die Rede war, während reichgewordene Kaufleute durch Ankauf von Gütern oder durch Eintritt in eben jene drei Professionen ihre Söhne oder Enkel, — die Engländer sagen, es brauche drei Generationen, um einen Gentleman zu machen, — in die Reihen des Landadels einführten. Auch der Geistliche, dessen Güter ja in der Reformation nicht konfisziert worden, war und ist ein wohlhabender Landedelmann, dessen Rektorei es mit manchem Rittergut aufnimmt. Und er war verheiratet, hatte Töchter und Söhne, die an den geselligen Vergnügungen des Landadels teilnahmen: er war nicht, wie der ewige Junggeselle der italienischen und franzöfischen Geistlichkeit, von jeder inneren Verbindung mit den Familien ausgeschlossen, und er war nicht so blutarm wie der deutsche Landprediger, der^s kaum dem Bauer nachtun konnte. Auch der erfolgreiche

Advokat und Richter — der Stand fing 1688 an tatsächlich, wenn nicht gesetzlich, die Unabsetzbarkeit jv erlangen, welche stets die Bürgschaft der Unabhängigkeit des franzöfischen Richterstandes gewesen —, der pensionierte Offizier, der zurückgezogene Kaufmann, später der aus Indien heim­ gekehrte Nabob wurden ihrerseits durch Erwerb von Län­ dereien Landedelleute. Dieser Landadel war's, welcher der neuen englischen Gesellschaft ihren Ton gab; der englischen, denn in Schottland entwickelten fich die Ver­ hältnisse anders und in einem der deutschen Entwickelung ähnlicheren Sinne. Er bestand aus unabhängigen, freien Leuten, die wohlhabend waren, meist in Cambridge oder Oxford studiert hatten, zum Teil selber im Parlament saßen, daheim das Dorf verwalteten, das auf ihren Gütern lag, Recht sprachen, die Miliz befehligten: kurz, er leistete dem Staate unentgeltlich die größten Dienste und ward schon dadurch, bei der Abwesenheit aller besolde­ ten direkten Staatsdiener, ausschlaggebend im Staate. Der Jurist spielte ja in England weder politisch noch literarisch die Rolle, welche er in Frankreich spielte. Ich wüßte keinen bedeutenden Schriftsteller, keinen hervorragenden Staatsmann des vorigen Jahrhunderts, der der Advokaten­ bank oder dem Richterstande angehörte. Fielding war zwar Anwalt und sogar Londoner Friedensrichter, aber er war von Geburt und durch Erziehung ganz ein Adliger; und Burke wie Sheridan mochten in ihrer Jugend die juristische Laufbahn gestreift haben, sie ge­ hörten nicht zum Stande, während Lord Melville d. Ä., der wirklich wie früher Lord Bacon, später Lord Brougham, aus der Magistratur hervorging, doch nie eine maß­ gebende Stellung einnahm. Die ganze politische Welt rekrutierte sich eben fast ausschließlich aus dem Landadel;

und wenn auch die Literatur eine vorzugsweise städtische und hauptstädtische war, so muß eben doch nicht vergessen werden, daß fast alle ihre Träger von Addison, Steele und Swift bis auf Gibbon, Burke und Hume in den öffentlichen Dienst, d. h. in den Kreis jener Staats­ männer vom Landadel, übergingen, dessen gesellschaftliche Stellung, selbst wenn die demselben Angehörenden keine politische Rolle spielten und ihr Leben ganz auf dem Dorfe zubrachten, die beneidetste im Lande war. Noch heute, nachdem die staatlichen Verhältnisse sich durch die Wahlreformen, die wirtschaftlichen durch die Entwickelung der Industrie und die Handelsfreiheit so durchaus geändert haben, ist die Existenz des Landedelmanns das Ideal jedes wohlhabenden Engländers; noch heute glaubt jeder halbwegs vornehme Engländer erst dann ein home zu haben, wenn er ein Landhaus besitzt; und ein solches Landhaus ist Lebenszweck, das Ziel seines Ehrgeizes, für das er Jahr­ zehnte arbeitet, das eigene Vermögen, und mit ihm den Nationalreichtum, vermehrt. Wer noch nicht wohlhabend genug ist, einen solchen Landsitz zu erwerben, nimmt einstweilen mit Putney, Weybridge oder irgendeiner anderen ländlichen Vorstadt vorlieb. Die Stadt ist nur das große Arbeitshaus, wo die Geschäfte gemacht werden, wo man das Geld gewinnt, das dann auf dem Lande ausgegeben wird, in Pferden und Hunden, Treibhäusern, Gartenanlagen, verschwenderischer Gastfreundschaft. Denn hier auf dem Lande mußten lange Mahlzeiten und tiefes Bechern, Sport aller Art — Jagd, Kricket­ spiel, Rudern, Lawntennis, Bogenschießen, Liebeln der Mädchen und Jünglinge die langen Tage und Abend­ ausfüllen; daneben freilich auch die gemeinnützigen Ge­ schäfte der Ortsverwaltung, der Rechtspflege, das Lesen Hille brand, Zeiten und Menschen.

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namentlich in den reichen Landbibliotheken — noch heute sind die Engländer das lesendste Volk der Welt.

Frei­

lich etwas roh und lärmend ging's manchmal her in den Schlössern, aber es lebte doch ein gesunder, kräftiger Geist in dem Stande, dem die Leibesübungen und die öffentliche Tätigkeit Körper und Geist frisch erhielten. Und im wesentlichen ist^s noch heute so. Die wahre englische Geselligkeit, an der beide Geschlechter teilnehmen, lebt eigentlich nur auf dem Lande; denn in den paar Frühlingsmonaten in der Hauptstadt ist sie doch immer mehr Arbeit als Genuß: ein vorhergesehenes, einge­ ladenes Zusammenkommen, ein steifes Ausharren neben­ einander ohne Beweglichkeit und Freiheit, ein schwer­ fälliges Austauschen von Gemeinplätzen und ein stunden­ langes Vertilgen unverdaubarer Speisen. Was in der Stadt an freier, lebendiger Geselligkeit besteht, ist noch heute wie vor hundert Jahren ausschließlich Männer­ gesellschaft; nur daß sie heute sich im Klub begegnet — auch das Parlament ist eine Art großen Klubs — während sie sich im 18. Jahrhundert in Mills Kaffee­ haus oder im Türkenkopf begegnete. Während der guten Zeit Englands ist die Frau — ich sage nicht das Mädchen — wie abwesend aus dem höheren Leben der Nation, und ich wüßte eigentlich nur Lady Montague und Lady Holland von Damen zu nennen, die gesellschaftliche Mittel­ punkte gebildet; beide aber ermangelten gerade jener Anmut, welche der Handhabung des Frauenzepters erst ihren Reiz gibt. Nirgends begegnen wir einer Jacqueline Pascal — Hannah Mores Wirkung beschränkte sich ganz auf Kreise des niederen Mittelstandes —, einer Lespinasse, einer Boufflers, welche auf das religiöse, literarische und gesellschaftliche Leben des herrschenden Standes einen

bestimmenden Einfluß üben, geschweige denn einer jener Hunderte von Frauen, die von Diane de Poitiers bis auf Madame du Cayla, die Politik Frankreichs be­ stimmt haben. Der Staat, die Religion, die Literatur waren eben, wie die Gesellschaft in England, Männer­ sache. Von Addison bis auf Johnson ist das ganze Geistesleben der Engländer durchaus männlichen Charak­ ters. Nichts in Swifts Werken verrät, welchen Einfluß doch tatsächlich die Frauenverhältnisse auf sein Leben geübt. Was wir in den Schriften Popes und RichardsonsFieldings und Goldsmiths von den Frauen lesen, macht uns den Eindruck, als ob nur die Mädchen mitzählten, als ob die Frauen nach dem fünfundzwanzigsten Jahre entweder sich ganz von der Welt zurückzöge», um nur noch häusliche» Pflichten zu leben, oder aber daß sie die Geselligkeit nur im Prunk, Theater und Kartenspiel sahen. Die Ära der Blaustrümpfe begann erst im An­ fange des 19. Jahrhunderts mit Miß Austen und Miß Edgeworth, wiewohl der Name bereits zur Zeit Lady Montagues entstand. Seitdem hat sich das Blaustrumpf­ wesen auch auf andere Zweige der Männertätigkeit ge­ worfen als die Literatur, und es soll ihm gelungen sein, den Verkehr zwischen Frauen und Männern, auf welchem aller Reiz der Gesellschaft am Ende doch beruht, gründlich zu fälschen: außer zwischen Jünglingen und Mädchen — wo er äußerst natürlich und gefällig geblieben ist, freilich aber auch auf den Namen „Geselligkeit" kaum Anspruch machen kann, da er sich doch wohl mehr auf einen Austausch von Gefühlen beschränkt, was etwas ganz anderes ist als Geselligkeit — außer zwischen unverheirateten jungen Leuten ist der Verkehr ein durchaus unnatürlicher geworden. So groß scheinbar auch die Rolle der Frauen in der englischen

Stadtgesellschaft, so stark ste namentlich numerisch in der­ selben vertreten sein mögen, ihr wirklicher Einfluß, namentlich auf den Staat, ist sehr gering. Fast möchte man Sternes Wort über Frankreich umkehren und sagen, in England sei alles salisch außer der Monarchie. Wie die Königin den Ministerrat präsidiert, so sitzen die Frauen in allen schoolboards, Wohltätigkeitskomitees usw.; die wahre Arbeit wird aber doch von den Männern verrichtet, und von ihnen geht auch wohl die letzte Entscheidung aus. Die Frau des Right Honorable Mr. So-and-so, welche neben ihrem Gemahl auf den Hustings erscheint — was selbigen in Frankreich für immer lächerlich, d. h. unmög­ lich machen würde — begnügt sich, ihren Mann, ihr Eigentum zu hüten und zu bewundern, sie leitet seine politischen Schritte nicht, wie die Französin es von den Kulissen aus tut. Ich will hiermit keine Superiorität oder Inferiorität stabiliert haben; ich konstatiere nur den Unterschied. Niemand hat eine aufrichtigere Sympathie als Schreiber dieses für die echte Engländerin, die nur in ihrem Manne lebt, seine Erfolge genießt, seine Sorgen teilt, aber dann doch für die Unterhaltung seiner Freunde bereiten Witz, gesunden Verstand und eine reiche Be­ lesenheit übrig behält, in ihrem einfachen, aber sauberen Anzug eleganter ist als alle Priesterinnen der „hohen Kunst". Die Hauptschuld an einer gewissen Unnatur der englischen Gesellschaft hat wohl die religiöse Bewegung gehabt, welche gegen Ende des 18. Jahrhunderts die schöne gesellschaftliche Entwickelung Englands ein zweites Mal unterbrach, wie die gleichzeitige politische Reaktion die staatliche Entwickelung unterbrach. Ich habe an anderer Stelle ausgeführt, wie die englische Geistes-

freiheit, die sich siegreich aus den Banden des Puritanismus und dem Schlamme der Restauration erhoben hatte, wieder zerstört wurde und der Cant wieder, wie im 17. Jahr­ hundert, wenn auch in etwas anderer Gestalt, die unum­ schränkte Herrschaft des englischen Geistes an sich riß. Noch unumschränkter war seine Herrschaft über die Ge­ sellschaft. Wer sich gegen sie auflehnte, wie Byron und Shelley, mußte ins Exil wandern. Heuchlerische Respektabilität breitete ihre grauen Schleier übers ganze Leben, bleierne Gravität lagerte sich über die Geselligkeit, ortho­ pädische Prüderie legte ihr ihre Zwangsjacke an. Wohl war das England des 18. Jahrhunderts nicht sehr fein und heikel in den Sitten; aber mochte auch ein Addison allabendlich etwas über den Durst trinken, ein Fielding des Guten etwas zuviel tun in freier Rede, ein Goldsmith dem Zigeunertum allzu rücksichtslos hul­ digen: wo ein solches künstlerisches Formgefühl, ein solches Maß im politischen Urteil herrschte, da hätte sich auch bald ein gesellschaftliches Maß ausgebildet und eine Clarissa Harlowe, an deren Tugend wir doch nicht zweifeln können, eine Sophia Western, deren Unschuld aus jedem Worte spricht, zeigen, daß auch die Frauen schon auf dem Wege waren, Freiheit und Sitte, Natur und Bildung in sich zu vermählen. Seit das engste religiöse Interesse wieder in den Vordergrund trat und gegen die freie Bildung des Jahrhunderts reagierte, wie einst der Puri­ tanismus gegen die Renaissance, wurde auch die Gesell­ schaft tief davon bestimmt. Glücklicherweise ward's einigermaßen durch das politische Leben, das stets Eng­ land wie ein erfrischender Luftzug gereinigt und gekräftigt hat, im Schach gehalten. Denn die Politik blieb selbst jetzt noch, was die Kunst

einst für Italien gewesen war: das alles beherrschende, alles durchdringende nationale Interesse. Ihr ist es zu danken, daß die englische Gesellschaft im ganzen so ge­ sund geblieben. Sie auch erhielt die Einheit der natio­ nalen Kultur, welche das Sektenwesen zu zersplittern drohte, wie die politische Freiheit die Isolierung der Stände, die politische Zentralisation die Vereinzelung durchs Landleben verhinderte und so ein gegliederter, in seinen Gliedern ganz freier Organismus herauswuchs, der von der zentralisierten Mechanik des französischen Staates so entfernt war, als von der Zusammenhangs­ losigkeit des deutschen Nationallebens. In dieser kräfti­ gen Atmosphäre der Öffentlichkeit mag wohl die schöne Blüte der Geselligkeit, wie sie die italienische Renaissance und Altfrankreich kannten, nicht gedeihen; aber man darf auch den Wert einer solchen Geselligkeit nicht überschätzen. Ein gesundes öffentliches Leben, eine fruchtbare geistige, eine lebhafte wirtschaftliche Tätigkeit, ein voller, wenn auch nicht eben verfeinerter Lebensgenuß sind Dinge, die schon im einzelnen, wieviel mehr noch zusammengenommen, jenen Vorzug wohl bei weitem aufwiegen: und wenn die nicht eben glückliche, ja, oft etwas lächerliche Sucht nicht da wäre, eine solche Geselligkeit herzustellen, ohne doch ihre Bedingungen annehmen zu wollen, so würde der Fremde kaum daran denken, diese Lücke im englischen Leben als eine Lücke zu empfinden. IV.

Hat nun Deutschland überhaupt eine nationale „Gesellschaft" in dem Sinne, wie die andern Kultur­ völker Europas — eine Gesellschaft, die ja auch ohne höhere Geselligkeit recht gut gedacht werden kann? Man ist

versucht, es zu bestreiten. Wohl hatten wir eine solche Gesellschaft vor dreihundert Jahren, aber sie wurde zer­ stört im Dreißigjährigen Kriege, und wir arbeiten seitdem an ihrer Wiederherstellung, namentlich jetzt, wo unser nationaler Staat glücklich wiederhergestellt ist. Vor 1618 war die deutsche Gesellschaft der italienischen nicht un­ ähnlich, wie denn überhaupt die historische Entwickelung beider Nationen eine auffallende, obschon leicht erklär­ liche Ähnlichkeit besitzt. Unsere Städte bildeten den Mittelpunkt der Kultur, und in diesen Städten war es der Handelsstand, welcher den Ton angab. Großer Wohlstand, europäische Beziehungen, gediegene Bildung hatten eine gewisse Großartigkeit des Lebens zur Folge, die seitdem abhanden gekommen ist. Man liebte eine schöne Umgebung, ein anmutig geschmücktes Haus, ele­ gante Jnnungs- und Zunftsäle, reiche und künstlerisch vollendete öffentliche Gebäude; aber von eigentlichem Luxus sind nur wenige Spuren erhalten. Das Leben wie die Bildung war eine allen höheren Ständen und beiden Geschlechtern gemeinsame, wie in Italien, und die Interessen — religiöse, politische, wie literarische und künstlerische — waren ebenso gemeinsam als die Bildung. Ritterliche Spiele, an denen Adlige und Patrizier ohne Standesunterschied teilnahmen, wechselten mit harter Arbeit auf dem Kontor: denn der Erwerb war noch nicht als Schande angesehen, und der Handel, der zwar viel durch die neuen Seewege gelitten, war noch immer blühend. Die Hauptstädte hatten zwar etwas von ihrer Bedeutung eingebüßt, obschon namentlich Lübeck noch immer das Beispiel eines großstädtischen Lebensstiles gab; aber die ersten Firmen von Augsburg, Nürnberg, Frankfurt: die Fugger und Welser, die Hochstetter und

Lucher, die Peutinger, Pirckheimer, Glauburg waren noch unerschüttert, und die Inhaber dieser Firmen waren die Freunde von Fürsten und Edelleuten, Künstlern und Gelehrten; ihre Verhältnisse zu Reuchlin, Hutten, Dürer, Erasmus, Melanchthon waren die vertrautesten, und die TSchter und Frauen waren nicht vom Verkehre mit den Vertretern der klassischen Bildung und der Kunst aus­ geschlossen. Das war alles anders nach dem furchtbaren Kriege. Städte und Dörfer waren zerstört, der Wohlstand ver­ nichtet, der Handel im Verfall, das freie Bürgertum gebrochen. Wie in Italien war die Arbeit in Unehre gefallen. Nur wer vom Ererbten zehrte, galt noch für vornehm. Alle geistige Bildung war untergegangen; die Sprache selbst war verwildert. Eine fahle Gleichgültig­ keit war an Stelle des lebhaften Interesses getreten, welches die höheren Stände des vorhergehenden Jahr­ hunderts für religiöse, literarische oder politische Fragen an den Tag gelegt hatten. Wie das Patriziat der Städte, so hatte auch der Kleinadel seine Unabhängigkeit einge­ büßt; nur die Fürsten hatten — auf Kosten der Zentral­ gewalt wie der höheren Mittelstände — ihre Bedeutung und ihre Macht vergrößert. Sie begannen nun die Organi­ sierung dieser Macht durch ein zahlreiches Beamtentum. In ihre Dienste ging der verarmte Kleinadel und bald auch das verarmende städtische Bürgertum. Und wer einmal in diese Kaste übertrat, kam nicht wieder heraus: die jüngeren Söhne traten nicht wieder zurück ins Bürgertum wie in England; und wer einmal einen Titel hatte, dem und dessen Kivdeskindern war die freie Arbeit auf immer untersagt. Denn es war die Zeit, wo das Titelunwesen begann. Natürlich genug: nur Betitelte konnten Rittergüter er-

werben, nur Betitelte konnten Staatsämter bekleiden, nur Betitelte waren hoffähig: und die Höfe — es gab deren nicht weniger als 500, ohne die dreimal so große Zahl der unmittelbaren Herren zu rechnen — waren die Mittelpunkte alles geselligen und staatlichen Lebens, ihr Tun und Treiben der Gegenstand aller Unterhaltungen. Und welche Höfe! Ohne Größe, ohne Bildung, ohne alle Originalität, hatten sie keine Interessen als die der Eitelkeit, keinen höheren Ehrgeij als die Nachahmung der Außenseite fremder Kultur. Ihr Adel gefiel sich im leeren Lakaientum; selbst der Kriegsdienst in den Duodez­ heeren ward vernachlässigt. Von geistigem Streben keine Spur, außer wo zufällig eine ausgezeichnete Frau den Riegel sprengte und eine bessere Luft von außen ein­ strömen ließ. Draußen war's freilich kaum besser: bei der Abwesenheit jeder Zentralisation, ohne Hauptstadt, ohne gemeinsames Interesse, zersplitterte sich Staat wie Gesellschaft in hunderte, in tausende kleinster Kreise. Immer mehr verengte sich der Horizont, immer ärm­ licher gestaltete sich das Leben. Kleinstädtische Neugierde, Klatsch und Neid entwickelten sich über alle Maßen. Die Abhängigkeit erzeugte Servilität; die ewige Bevormundung zusammen mit der Abwesenheit allgemeingültiger Formen hatte jene Unsicherheit und Befangenheit zur Folge, die noch heute oft unsern Landsleuten anhaftet, sobald sie aus dem gewohnten Kreise der „Gemütlichkeit" oder dem Arbeitszimmer heraustreten, und welche den Ausländern so leicht als Ziererei vorkommt. „Les Allemands sont les plus sinceres des hommes, mais non pas les plus naturels“, sagte der junge Ch. de Remusat von uns,

als er seine erste Reise durch Deutschland machte. Immer besser freilich, als wenn man von uns sagen könnte, wir

seien die natürlichsten, aber nicht die wahrsten Menschen. Auch von jener Kleinlichkeit im geselligen Verkehr, welche sich im 17. Jahrhundert entwickelte, sind noch nicht alle Spuren verwischt, und nicht mit Unrecht meint G. Freytag, unter jenen Verhältnissen wären „im Wesen der Deutschen einige Eigenschaften herausgebildet worden, welche noch heute nicht ganz verschwunden seien; Sucht nach Rang und Titeln; innere Unfreiheit gegen solche, welche als Beamte oder Betitelte in höherer Stellung leben; Scheu vor der Öffentlichkeit; und vor allem auffällige Neigung, das Wesen und Leben anderer grämlich, kleinlich und skep­ tisch zu beurteilen". Und was hätten sie anders beur­ teilen und besprechen sollen? Von aller Teilnahme oder doch wenigstens aller bestimmenden Teilnahme an den Staatsgeschäften ausgeschlossen, ohne alle Öffentlichkeit, ohne ein Gemeinwesen, das den vereinzelten Gliedern belebendes Blut zugeführt hätte, ganz auf die Amtsstube und die Kneipe angewiesen, ohne kommerzielle wie ohne politische Beziehung zum Ausland, in armseligen Verhält­ nissen, immer mit dem Bedürfnis ringend, — wie hätte sich der Mittelstand zu freier und großer Weltanschauung aufringen können? Nur äußerst langsam mehrte sich der nationale Reichtum — denn Handel und Großgewerbe erhoben sich erst wieder — und mit ihm entfaltete sich in unserm Jahrhundert ein freies Bürgertum nach Steins Derwaltungs- und Eigentumsreformen, der Abschaffung der Privilegien, nachdem der Zollverein die inneren Schranken beseitigt, die Flußzölle abgelöst, das Münz­ wesen immer mehr vereinfacht worden ist: denn unsere Väter haben noch alle jene willkürlichen Hemmnisse des Handels und Verkehrs in voller Blüte gesehen, welche Deutschland, man möchte glauben, geflissentlich hindern

sollten, die zweihundert Jahre Vorsprung, welche der Dreißigjährige Krieg den übrigen Nationen vor uns ge­ geben, wieder einzuholen. Wie sich nun das Leben räumlich zersplitterte, Stadt mit Stadt fast alle Fühlung verlor, so teilte es sich auch ständisch: das Heer vom Beamtenstand, das Bürger­ tum vom Landadel, der immer mehr verwilderte, ver­ armte und, dem Gemeinwesen unnütz, seine Kraft ver­ geudete, bis er durch die preußische Armee zum Dienste des Staates herangezogen wurde und sich nach und nach wieder ins nationale Leben einlebte. Unter diesen so getrennten Ständen nun ward bald das studierte Be­ amtentum vorherrschend, eben well der Landesfürst, dessen Organ es war, die einzige anerkannte Autorität bildete. Es ward für Deutschland, was der Großhandel­ stand, der Waffen- und Gerichtsadel, die Gentry für Italien, Frankreich und England waren: der herrschende Typus der deutschen Gesellschaft im 18. Jahrhundert. Was sonst noch an „Honoratioren" in einer kleinen Stadt lebte — der Professor, Arzt, Anwalt, die wenigen ge­ bildeten Kaufleute — modelten sich nach ihm. Es war aber kein unabhängiger Stand, wie der wohlhabende unabsetzbare, französische Gerichtsadel. Der deutsche Richter war ein Werkzeug des Fürsten wie jeder Beamte, erhielt aber nicht den fürstlichen Gehalt, der dem eng­ lischen Richterstand erlaubt, eine so große gesellschaftliche Rolle zu spielen, sondern war und blieb auch ein, in dieser wie in jener Hinsicht, bescheidener unterwürfiger Beamte: redlich, fleißig und pflichtgetreu, aber ohne bestimmenden Einfluß in Staat oder Gesellschaft, arm und bedürftig, schüchtern und demütig. Schon seit dem Beginne des Jahrhunderts hatte man wieder, wie in früheren Zeiten,

ju Bürgerlichen greifen müssen, und der Amtstitel verlieh jetzt Rang in Gesellschaft, wie vorher der Geburtstitel. Es mußten „studierte" Leute sein, und da alle jene soge­ nannten Honoratioren in die Lateinschule gingen — die einzige Schule, welche ein solcher Ort besaß — so be­ kamen auch alle, selbst die wenigen Kaufleute, die mit ihnen verkehren durften, eine gemeinsame, und jwar ge­ lehrte Bildung, was nun wieder der Weg zum Heil wurde. Wie durch die Zucht dieses Beamtentums allmählich der Staat wieder erstarkte, so durch seine Vorschule das geistige Leben der Nation. Aus Gymnasium und Uni­ versität ist unsere neue Literatur hervorgegangen, welche auf mehr denn hundert Jahre für Deutschland das sein sollte, was die Kunst einst für Italien, die Politik für England gewesen war: das nationale Interesse, das der ganzen Kultur ihre Signatur gab. Kein Wunder, daß diese Literatur eine kritisch gelehrte war, innig verbun­ den mit der Wissenschaft, durchdrungen von der Philo­ sophie, gepflegt vom Lehrerstande — eine Professorenund Pfarrerliteratur, wie sie kein Volk und keine Zeit je gekannt. Das hat denn wohl seine Nachteile, es hat aber auch seine Vorteile für uns gehabt: unsere schöne Literatur schildert meist kleine Verhältnisse; ihr Ton ist oft ein zu lehrhafter, ihrer Form mangelt es zuwellen an Eleganz; die Interessen, um die sie sich dreht, sind rein geistige; es weht kein Luftzug öffentlichen Lebens durch ihre Seiten, und bei ihrem vorherrschenden Idealis­ mus kommt die Wirklichkeit oft zu kurz; aber welchen inneren Adel verleiht ihr auch wieder dieser Idealismus! Welche Tiefe dieses Vorherrschen des Seelenlebens des einzelnen über das Außenleben der Gesamtheit! Eben

weil die Kreise, aus denen diese Literatur hervorging, der Wirklichkeit so ferne standen, konnten wir zu dieser einzigen Freiheit der Weltanschauung kommen, welche unsere Nation vor allen andern auszeichnete. Eine fest­ gefügte Gesellschaft hält nur durch den Kitt der Vorur­ teile, der Konventionen zusammen; der Charakter unserer Kultur aber war die Vorurteilslostgkeit während jenes Jahrhunderts. Man denke an das Leben in Weimar und Berlin; man vergegenwärtige sich die Stellung der Juden, der Komödianten; die Toleranz in Beurteilung der Eheverhältniffe — man kann sagen, unsere Literatur, geboren zur Zeit der Empfindsamkeit, hat eigentlich erst die Liebesheirat in Deutschland eingeführt, wo bis dahin allein die Vernunftehe gelitten war — man denke an die religiöse Duldung bei so tiefem, religiösem Sinne. Diese Literatur vor allem gab uns die geistige Einheit, die dann tatsächlich auch der staatlichen Einheit den Weg gebahnt hat. In der Tat hatte die Nation durch sie wieder einen Mittelpunkt gefunden, um den fie sich sammeln konnte. Das literarisch-wissenschaftliche Interesse trat für eine Zeit durchaus in den Vordergrund. Im Gegensatz zu dem, was bei allen anderen Völkern gesehen worden, folgten die höheren Stände freiwillig der Leitung des Lehrstandes: Fürsten, Edelleute, Offiziere, Beamte, Kauf­ leute, Frauen empfingen ihre Bildung, ja, ihr ganzes geistiges Leben von diesem Stande. Die Frauen nament­ lich standen von Anfang an in engster Beziehung mit dem Gelehrtentum und wirkten auf dasselbe fast ebenso­ sehr, als sie von ihm beeinflußt wurden. Von Sophie Charlotte, der Freundin Leibnitzens, bis auf Wielands Gönnerin, Anna Amalia, zählt Deutschland überall aus­ gezeichnete Fürstinnen und Edelfrauen, welche das geistige

Leben förderten.

Man weiß aus Herders und Goethes

Leben, welchen Einfluß Marie zur Lippe und Fräulein von Klettenberg auf die religiösen Anschauungen dieser unserer Kulturbegründer gehabt. Wem ist die Rolle der thüringischen Damen — einer Stein, einer Kalb, der beiden Lengefeld — , wem die der Berliner Jüdinnen — einer Rahel, Henriette Herz, Dorothea Mendelssohn — nicht lebhaft gegenwärtig? Die Gelehrtenfrauen aber — eine Caroline Herder, eine Ernestine Voß, eine Caroline Schlegel — wetteiferten, wie die Frauen des Pempelforter und Ehrenbreitsteiner Kreises, mit den Großstädterinnen und den adligen Damen. Das alles soll sich seitdem gewaltig verändert haben: die Stände haben sich wieder mehr getrennt, so sagt man, wie die Geschlechter wieder in ein anderes Verhältnis zueinander getreten sind; sogar religiöse Gegensätze sind, trotz — oder infolge — verminderter Religiosität wieder in unser Leben einge­ drungen. Auch der weltbürgerliche Sinn scheint einem engeren patriotischen Gefühle Platz gemacht zu haben — alles Dinge, die ja wohl nötig waren, wenn wir dazu kommen sollten, eine nationale Gesellschaft aufzubauen, und welche auch gar nicht so schlimm sind, als die Be­ wunderer einer absoluten sittlichen und geistigen Freiheit wohl anzunehmen geneigt sind, vorausgesetzt, daß sie in Schranken gehalten werden und nicht in Intoleranz, Kasten­ geist und starren Konventionalismus ausarten. Aber haben wir auch das Gut wirklich erlangt, wofür wir diesen hohen Preis gezahlt? Haben wir eine nationale Gesellschaft in dem Sinne, in dem ich eingangs davon sprach? Und wenn nicht, was haben wir zu tun, um jene soziale Einheit zu erlangen, ohne doch den Rest von Vorurteilslosigkeit und Individualismus aufzugeben, den wir noch herüber-

gerettet aus unserer großen Zeit? Und das ist nur wenig: denn wenn wir auch noch keine Herde bilden, wie z. B. die sogenannte englische Gesellschaft, so bilden wir doch immer noch zwanzig Herden, bei denen die Individualität nicht besser wegkommt: Liberale, Ultramontane, Professoren, Kaufleute, und was es der Nationen mehr in der Nation geben mag, bilden Welten für sich, die durch anscheinend unüberbrückbare Kluften voneinander getrennt sind, und in jeder dieser Welten gibt's wieder der stillschwei­ genden Freimaurerschaften die Fülle. Manches ist freilich schon im Werke, was diesen Zustand innerer Zersplitte­ rung zu heilen verspricht; vor allem hat der materielle Wohlstand, der die Grundlage aller schönen Lebensformen ist, bedeutend zugenommen. Zugleich hat sich unseren ge­ lehrten Mittelständen und armen kleinen Binnenstädtern durch den erleichterten Verkehr und die Verbindungen mit fernen Ländern eine immer weitere Aussicht eröffnet, haben sich die Berührungen mit der Wirklichkeit zusehends vervielfältigt. Immer mehr Jünglinge aus studierten Kreisen treten in Handel und Gewerbe ein, kämpfen den Kampf der freien Konkurrenz und vermehren zugleich den nationalen Reichtum, indem sie den eigenen Charak­ ter stählen, sich zur Selbständigkeit heranziehen. Überall, im fernen Osten Indiens wie im fernen Westen Amerikas, begegnet man unseren Pfarrerssöhnen, die sich als kräftige, entschlossene, praktische Männer entpuppen und als un­ abhängige, freie Leute zurückkommen, die nicht mehr vor jedem Polizeidiener zittern. Unser politisches Leben wird von Tag zu Tag öffent­ licher, und in dieser Öffentlichkeit verschwindet immer mehr jenes kleinliche Interesse fürs Privatleben, welches selbst in der besten Zeit unserer geistigen Geschichte so

peinlich wirkte. Die staatliche Einheit hat uns nicht nur ei« gewisses Selbstgefühl gegeben, das uns sehr mangelte, und das bei allen Guten ebenso entfernt von nationalem Dünkel als von der früheren Demut ist, sie hat uns auch ein gemeinsames politisches Interesse gegeben. Die Armee, der wir so unendlich viel verdanken, die aber trotz des großen, nationalen Aufschwungs von 1813 doch während des langen Friedens noch viel von ihrer junkerlichen Aus­ schließlichkeit bewahrt hatte, ist seit unserer staatlichen Wiedergeburt der Nation wieder näher getreten, ver­ schmilzt immer mehr mit ihr. Ist sie doch jetzt für ganz Deutschland die gemeinsame Schule, in der sich die Söhne aller gebildeten Stände erst als Freiwillige, dann als Reserve- oder Landwehroffijiere begegnen. War bislang der Beamte mit seinen bald philisterhaften, bald burschikosen Gewohnheiten der vorherrschende und tonangebende Re­ präsentant der deutschen Gesellschaft, so wird's immer mehr der unabhängige Kaufmann und Industrielle, der zugleich Offizier im nationalen Heere ist und dessen allzu große Bequemlichkeit durch die soldatische Zucht, dessen militärische Steifheit durch die Gewohnheit der freien Bewegung vor­ teilhaft korrigiert werden. Doch dies ist nur das Äußer­ liche. Wie unsere Beamten auf der Universität den Geist wissenschaftlicher Bildung und idealer Freiheit atmen, so begegnen sich unsere jungen Männer während ihrer Militärpflicht im Dienste eines Höheren, Außergewöhnlichen, was einer ganzen Kultur eigentlich erst ihre Weihe gibt. Allerdings erzieht diese militärische Schule unsere Söhne doch in erster Linie nur zu Deutschen, will sie nur zu Deutschen erziehen. Sie sollten aber auch zu Menschen erzogen werden: das tun unsere Gymnasien, unsere Realschulen, unsere Handelsschulen, Kadettenschulen nicht, oder nicht mehr:

sie erziehen sie zu Kaufleuten, zu Professoren, zu Ingenieuren und Militärs, was alles erst die Aufgabe der Fachschulen, der Lehrzeit oder des Lebens ist. Dagegen muß gearbeitet werden, als gegen die größte Gefahr, welche der deutschen Kultur droht. Erst wenn wieder alle Söhne der Gebildeten, welche Laufbahn sie auch später ergreifen mögen, bis zu ihrem achtzehnten Jahre auf derselben Bank sitzen, an den­ selben Vergnügungen teilnehmen an derselben Quelle ihre geistige Nahrung schöpfen, kann auch wieder von einer deutschen Gesellschaft die Rede sein; nur so können wir uns, wie wir uns die literarische Einheit erarbeitet, die staatliche Einheit erfochten haben, die gesellschaftliche Einheit anerziehen.

Petrarca.

Petrarcas Ruhm ist ein dreifacher: seine Zeit wie die nachfolgenden Jahrhunderte verehrten und verehren in ihm den Dichter, den Patrioten und den Humanisten. Seine Stellung im Leben war eine einzige. Der Sohn eines Notars, geboren im Exil, aufgewachsen in der Fremde, ohne Glücksgüter, ohne Amt, ohne Adelstitel, war er von Städten und Fürsten, ja von Papst und Kaiser geehrt, wie kaum ein Schriftsteller vor oder nach ihm, übte er auf sein Vaterland einen bestimmenden Einfluß, auf die ganze moderne Bildung die nachhaltigste Wirkung. Giosue Carducci, in seiner Studie über die Entwicklung der italienischen National-Literatur, bemerkt so fein als treffend: „Petrarcas Krönung auf dem Kapitol, unter dem Beifallsrufe des Volkes, in glücklicher Abwesenheit von Papst und Kaiser, war gleichsam die Weihung der Renaissance inmitten des mittelalterigen Europa, auf das er zum großen Vorteile der Kultur seiner Zeit dieselbe Diktatur oder vielmehr Gesetzgebung des Geistes ausübte, welche Erasmus von Rotterdam auf das sechzehnte, Voltaire auf das achtzehnte Jahrhundert ausübten." Wie der große Jesuitenfeind, wirkte Petrarca nicht allein durch seine Werke, sondern auch durch seine zahlreichen Briefe, seine Reisen, seine persönliche Gegenwart. Das „Epistolario“ Petrarcas wenn auch weniger umfassend als die ,, Correspondance de Voltaire“ und obschvN der Verfasser

lieber die Waffe der Beredsamkeit als die des Witzes ge­ braucht, hat für das vierzehnte Jahrhundert ganz dieselbe Bedeutung, wie die unerschöpflichen brieflichen Mitteilungen des „Alten von Ferney". Wie dieser in der Jugend und im Mannesalter, bald in der Zurückgezogenheit der Provinz, bald im Geräusche von Paris, heute in England, morgen in der Schweiz, jahrelang am Hofe des Königs von Preußen, dann wieder bis zum Lebensschlusse auf dem eigenen einsamen Landsitze schrieb und wirkte, so lebte Petrarca bald in Avignon, Mailand oder Prag an den Höfen des Papstes, der Visconti oder Kaiser Karls IV., bald in stiller Zurückgezogenheit, sei^s im Tale von Vaucluse, sei's im versteckten Argus, durchzog Frankreich und Deutsch­ land als Wanderer, besuchte Rom und Neapel, Parma und Padua und konnte sich erst spät entschließen, sich dauernde Ruhe an einem entlegenen Orte zu gönnen. Das In­ strument, dessen er sich für seine Wirksamkeit bediente, war, wie das Voltaires, die gerade geltende Universal­ sprache, zu seiner Zeit die lateinische, die er besser handhabte als irgendein Neuerer, wie nicht wohl anders zu erwarten war von dem Manne, der eigentlich das römische Altertum wiedererweckte. In der Tat darf Petrarca wohl als der Vorläufer des Humanismus angesehen werden, und beherrscht sein Name als eines solchen das ganze Trecento. Sein Huma­ nismus aber, und dieser Punkt kann nicht genug betont werden, war ausschließlich römisch: daher der so grund­ verschiedene Geist und die so grundverschiedene Form, wenn wir die Renaissance des italienischen Quattrocento, die er vorbereitete, und den deutschen Humanismus der Reformationszeit miteinander vergleichen. So durch­ greifend aber war der Einfluß Petrarcas, verbunden und

unterstützt durch die Wahlverwandtschaft der römischen Bildung und der romanischen Nationen, daß noch heute das lateinische Element das über das griechische vorherr­ schende in der Kultur der lateinischen Völker geblieben ist. Eigentlich war die Tradition des alten Rom nie ganz erloschen in Italien. Die einzelnen Munizipien betrachteten und nannten sich Töchter Roms und gaben sich Verfassungen, welche die Benennungen und Formen an die Republik Scipios erinnerten. In Rom selber riefen schon im zehnten und zwölften Jahrhundert ein Crescentius und Arnaldo die Erinnerungen an jene alte Republik an, gerade wie Petrarcas Freund Cola di Rienzi im vierzehnten. Die Kontinuität des römischen Kaisertums von Cäsar bis auf Karl den Großen, Otto I., Friedrich Barbarossa wurde auch von Dante, der ein politisches Dogma daraus machte, nie in Zweifel gezogen, aber die Tradition war eine, ich möchte sagen, unbewußte, latente: Petrarca war der erste, der sie wissenschaftlich begründete, denn Dantes „Monarchia“ ist rein aprioristische, willkürliche Scholastik, verglichen mit Petrarcas politischen Schriften. Dante kannte, mit Ausnahme Virgils und einiger untergeordneter Lateiner, das klassische Altertum nur vom Hörensagen. Petrarca suchte und fand eine große Anzahl alter Manuskripte, veranstaltete eine ziemlich vollständige Bibliothek lateinischer Klassiker, las seinen Cicero, Sallust, Ovid durchaus und mit Kritik, und es ist gar nicht zu viel gesagt, wenn er, mit Hinblick auf die glückliche Entdeckung so vieler verloren geglaubter Werke und die kritische Wiederherstellung des Textes, als der Begründer der lateinischen Phllologie dargestellt wird. Daher auch seine sehr bezeichnende Ge­ ringschätzung der griechischen Literatur, die er nicht kannte, obschon er in vorgerücktem Alter die griechische Sprache

zu erlernen suchte. Ihm, wie noch heute allen aufrichtigen Romanen, und vielleicht mit aus denselben Gründen (Verwandtschaft, Tradition, vielleicht auch National-Eitelkeit und ungenügende Kenntnis des Griechischen) stand die hellenische Bildung viel tiefer als die römische, Cicero höher, weil näher, als Aristoteles und Demosthenes, Virgil als Homer, Livius als Thucydides. Das rhetorische Gewand, das die Lateiner alle mehr oder minder dem von Griechenland überkommene» Bildungskörper über­ geworfen hatten, wog und wiegt in ihren Augen reichlich den Mangel an Originalität auf, den sie doch an der römischen Literatur nicht leugnen können. Indes wenn auch Petrarca der erste war, welcher das römische Altertum an der Quelle studierte, der erste auch, welcher es ohne kirchliche Nebenabsichten durchforschte, — ganz frei stand auch er ihm nicht gegenüber. Jene poli­ tischen Traditionen vom römischen Weltreich hatten ihn zuerst auf dies Studium geführt, und er betrieb es immer, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, im Dienste seiner politischen Ideen. Petrarca war entschiedener Imperialist, wie Muffatus, wie Dante, wie alle Idealisten seiner Zeit; dadurch ward er äußerlich zum Ghibellinen, doch nur äußerlich. Innerlich fühlte er sich mit Recht, wie Dante, über allen Parteien. Er war begeistert für die Idee des Kaisertums. Seine Briefe an den nüchterne», haus­ backenen Karl IV., ihn zum Römerzug anzufeuern, sind in eben so flammenden Worten geschrieben, als Dantes Episteln an den enthusiastischen Romantiker Heinrich VII. Wenn er sich gegen Ludwig den Baier feindlich verhielt, so geschah es aus persönlichen Gründen; denn er war schon vor Ludwigs Römerzüg in inniger Freundschaft mit dessen Feinden, den Colonna und Robert von Neapel,

verbunden.

Wenn er so lebhaft Partei nahm für Cola

di Rienzi, den Volkstribun und Wiederhersteller der alten Republik, so war dies nur vorübergehend und als pis-aller; da er das alte Kaisertum nicht haben konnte, so wollte er wenigstens den alten Freistaat; im Grunde war er, wie alle Höhergebildeten seiner Zeit, wie auch die meisten Schriftsteller des römischen und griechischen Altertums, ein eingefleischter Aristokrat und Volksverächter. „Er lebe lieber unter dem härtesten Joche eines einzigen, als unter der Herrschaft eines tyrannischen Volkes", erklärt er mehr als einmal und spricht von der „Menge" nur in dem Tone des Shakespeareschen Coriolan. Selbst das Papsttum rief er, der Imperialist, an, damit es Rom wieder zum alten Glanze bringe, und wird auch nicht müde, die ihm befreundeten Päpste, vor allen Clemens VI. und Urban V., zur Rückkehr nach Rom aufzufordern. Das Treibende bei ihm ist der Patriotismus, und zwar ein Patriotismus, der seinen abstrakten Ursprung nicht ganz verleugnen kann. Es ist von deutscher wie italienischer Seite sehr fein bemerkt worden, wie gerade Petrarcas Entfernung von Italien und was damit zu­ sammenhängt, seine Gleichgültigkeit für die Parteikämpfe innerhalb der einzelnen italienischen Staaten, es ihm möglich machte», die Umrisse des Vaterlandes ins Auge zu fassen. Das Heranreifen in der Fremde ist noch stets für Menschen, die ein lebhaftes Gefühl für Zusammengehörigkeit und ein tiefes Bedürfnis des Zusammenhanges haben, eine hohe Schule des Patriotismus gewesen. Wer drinnen steht, sieht leicht vor Bäumen de» Wald nicht. Dem Draußen­ stehenden geht erst der rechte Sinn auf für das, was, trotz aller Verschiedenheiten und Widersprüche, das Gemeinsame des Vaterlandes ausmacht: die Vergleichung zeigt ihm erst

die Vorzüge desselben in Hellem Lichte; die Ferne glättet die kleinen Unebenheiten, die in der Nähe den Blick ver­ letzen, und der latente Gegensatz gegen das Land der eigenen Väter, der selbst den Eingebürgerten in der Fremde überall umgibt, fordert eine Reaktion zugunsten jenes heraus. Ganz anders der Patriotismus dessen, der bis ins Mannesalter in der Heimat gelebt; er ist mehr lokaler Natur, knüpft sich an Erinnerungen, kurz, er ist konkreter. Es ist nicht Florenz, das bell’ ovile, noch irgendeine andere besondere Stadt Italiens, nach welcher Petrarca sich sehnt, wie Dante, wie die Verbannten des Altertums; es ist die Abstraktion „Italien". Selbst Rom steht immer nur in seinen Augen mit dem Glanze der Geschichte, verklärt durch die Reflexion: kein naives Heimweh zieht ihn zur gewohnten und geliebten Stelle. Auch würde es dem Patrioten Petrarca durchaus nicht genügt haben, sein Vaterland als ein einiges, unabhängiges, freies und glückliches, gleichberechtigt mit andern Ländern dastehen zu sehen; nein, er verlangt durchaus für dasselbe das Primats; er will es nur als herrschendes sehe». Für ihn ist die Wiederherstellung der italienischen Weltherrschaft gleichbedeutend mit der Ehre und dem Glücke seines Vater­ landes. Die bei allen Italienern des Mittelalters, ja bei den meisten Italienern des Jahres 1874, noch heimlich lauernde Voraussetzung einer direkten, nicht abgebrochenen nationalen Entwicklung von Romulus bis auf die Gegenwart ist bei niemandem je absoluter, allgemeiner gewesen, als bei Petrarca. Die Kluft, welche für uns Nordländer Mittelalter und Altertum voneinander trennt, besteht durchaus nicht für ihn; er spricht von den Herren Scipios und den Schriften Ciceros nur als von den „Unsrigen",

gleich als ob der römische Staat, wie die römische Kultur und die römische Sprache sich jum Italien des vierzehnten Jahrhunderts verhielten, wie das Frankreich Ludwigs XL zu dem Ludwigs XV. Eigentlich sieht Petrarca, wie Dante, wie dieses ganze Jugendalter der Renaissance, noch ganz im Geiste des Mittelalters, die Einheit überall: in Kirche und Staat, in Gesetzgebung und Sprache; Italien aber ist in ihren Augen das auserwählte Volk, das der Welt diesen universellen Staat und diese universelle Kirche, diese einheitliche Gesetzgebung und diese gemeinsame Sprache gegeben hat. Alles, was, von zur Unterordnung bestimmten Nationen ausgehend, sich vordrängen will, ist Anmaßung; der römische Kaiser deutscher Nation selber ist „ein barbarischer König", wenn „er es wagt, einen Jüngling der ausonischen Muse zu schmücken", d. h. wenn er sich erlaubt, über das poetische Verdienst eines lateinisch dichtenden Italieners zu urteilen. Als der Doge von Venedig im Kampfe gegen Genua sich mit dem Könige von Aragon verbündet, wirft ihm Petrarca bitter vor, „Barbarenhilfe gegen eine italienische Stadt" angerufen zu haben. Wie alle gutgeartete Jugend, war auch diese jugendliche Renaissance voll abstrakten Posa-Enthusiasmus begeistert für einfache, symmetrische Ideale; sie schwärmte für die geistige und staatliche Universal-Monarchie, wie die Jugend des neunzehnten Jahrhunderts für die Republik. Was aber Petrarca von Dante und den Imperialisten des Trecento unterscheidet, was aus ihm den ersten „modernen Menschen" macht, ist, daß sein Ausgangspunkt nicht die Religion war, sondern die Wissenschaft, daß er nicht eine prästabilierte Ordnung der Dinge annahm, sondern zuerst von allen eine geschichtliche Entwicklung erriet, erkannte, verfolgte.

der Mitwelt aufdeckte. Petrarca gehörte selber der Geist­ lichkeit an; er stand in intimster Beziehung zum Ober­ haupte der Kirche, er war selbst durchaus orthodox: aber er ward dessen ungeachtet tatsächlich einer der schlimmsten Feinde der kirchlichen Weltordnung. Ihm dankte seine Zeit die Wiedereinsetzung der lateinischen Profan-Literatur in ihre Rechte; und wie konnte ein Geschlecht, das sich mit Cicero und Seneca genährt, das Christentum noch mit denselben Augen ansehen, wie das vorhergehende, für welches nur die Namen dieser Denker existierten? Wie ganz anders ist der Ton der Trauer, des Mitleidens und der Wehmut, mit dem ein Dante von den großen Philosophen und Dichtern des Altertums spricht, die, des Heiles un­ teilhaftig, zu ewiger Verdammnis, wenn auch nicht zu ewigen Qualen verurteilt sind, als die heiter bewundernde Weise, mit der Petrarca von einem Cicero redet, um dessen Platz in der Hölle er sich nicht besonders viel Sorgen zu machen scheint. Auch durch seine geographischen Studien — man dankt Petrarca die erste Karte Italiens — wirkte er in einem ähnlich befreienden Sinne, wie durch seine Ge­ schichtsstudien; galt es doch hier wie dort, die Wirklich­ keit des Diesseits zu erkennen, an der Stelle aprioristischer Scholastik und Weltkonstruktion die Kenntnis des Tat­ sächlichen zu setzen. Und wie gegen die aristotelische Scholastik, so gegen die herrschende Juristerei, die er in Bologna zur Genüge kennen gelernt hatte und deren Wiedergeburt er, vier Jahrhunderte vor Savigny, nur in einer geschichtlichen Behandlungsweise erkennen will, welche in der Aufdeckung des Entwicklungsganges des römischen Rechtes das einzige giltige System desselben sieht. Auch die Astrologie und die Medizin, welche damals nicht viel besser als Astrologie und Alchimie war und, wie diese, anstatt von der Beob-

achtung, von willkürlicher Theorie ausging, bekämpfte Petrarca unverdrossen und räumte auch dadurch auf für das kommende Jahrhundert, das wahre Jahrhundert der Erlösung. Kein Wunder, wenn die Pfaffen ihm gram waren, zumal die mutigen Denunziationen des schamlosen Treibens in Babylon-Avignon Schritt hielten mit diesen wissen­ schaftlichen Kreuzzügen. Als sein Freund Boccaccio ihm einst mitteilte, wie ein Mönch ihm von einem Traumgesichte erzählt, in welchem Christus ihn beauftragt habe, ihn, den Verfasser des „Decameron", wie seinen Freund, den Dichter der „Africa“, vor der Beschäftigung mit profanen Wissenschaften zu warnen, welche zur Ketzerei führen müßten, antwortete Petrarca, der schon gar oft als eifriger Leser des „Zauberers" Virgll unchristlicher Gefinnungen bezichtigt worden war, in folgenden Worten: „Wozu sollen wir die heidnischen Dichter und Schriftsteller meiden, welche von Christus nichts wissen, da man doch ungescheut die Werke der Ketzer liest, die Christus kennen und ihn doch leugnen? Glaube mir: Vieles, was Zeichen der Feigheit und Trägheit ist, wird als Wirkung klugen Rates und ernster Gesinnung ausgegeben. Die Menschen verachten oft, was sie nicht erreichen können; und gerade der Un­ wissenheit ist es eigentümlich, das zu verurteilen, was ihr versagt, und keinen dahin gelangen zu lassen, wohin ihr der Zutritt verwehrt ist. Wir aber, die wir die Wissen­ schaften kennen, dürfen ihnen weder durch Mahnung zur Tugend, noch zur Androhung des Todes entzogen werden, denn sie erregen dem strebenden Gemüte die Liebe zur Tugend und vernichten oder vermindern wenigstens die Todesfurcht; sie halten aber ihren Besitzer nicht von dem Wege der Vervollkommnung zurück, sondern unterstützen

ihn und ebnen ihm den Pfad. Wie aber der kranke und schwache Magen manche Speisen abweist, welche der gesunde und hungrige wohl verträgt, so mag dem schwächlichen Geist manches Verderben bringen, das dem heilen und kräftigen segensreich ist... Aller Guten Weg führt jum gedeihlichen Endziel: am ruhmvollsten aber jener, der frei und hoch daliegt. So ist auch das Wissen, das sich zum Glauben durchgedrungen hat, weit besser, als die Einfalt, und sei sie noch so heilig, und keiner der Toren, die ins Himmelreich eingegangen sind, steht so hoch wie ein Wissender, der die Krone der Seligkeit erlangt hat." Petrarca war weder eine Apostelnatur, noch ein Mann der Tat. Was er wirkte, das hat er durch seine Persönlichkeit und durch seinen Geist gewirkt. Er hatte nicht den Stoff dazu, ein Blutzeuge der Wahrheit zu werden, noch kannte er kein kluges Benützen der Umstände. Nichts in ihm erinnert an Savonarola, nichts an Luther. Sein war vor allem eine geistreiche und liebenswürdige Persönlichkeit. Niemand widerstand leicht diesem Zauber des echt Menschlichen, welcher über diesen ersten Humanisten ausgebreitet lag. Und wie sollte es anders sein? War ihm selber doch nichts Menschliches fremd. Heiter und beschaulich angelegt, wußte er ernst zu sein und Hand an­ zulegen an die gemeinsame Arbeit. Don geselliger Natur und dem Lebensgenüsse nicht abhold, zog er doch stets ein bescheidenes Mahl mit einigen bewährten Freunden dem Prunk und dem Geräusche einer glänzenden Tafel vor und kannte den Wert der Einsamkeit und Sammlung, brachte als ein Einsamer und sich Sammelnder die schönsten wie die letzten Lebensjahre im Schoße einer idyllischen Natur zu. „Wüßtest du nur," schreibt er einmal, „mit welcher Wollust ich allein und frei umherschweifend, zwischen

Bergen und Wäldern, jwischen Quellen und Flüssen, zwischen Büchern und den Geistern der größten Menschen atme und wie ich mich bestrebe, das Vergangene zu vergessen, das Gegenwärtige nicht zu sehen". Gerne in seiner Poetevund Gelehrten-Eitelkeit geschmeichelt, tat er nie, ste zu befriedigen, einen Schritt, über den er hätte erröten müssen. Ein Freund der Großen, wußte er, der arme Bürgerliche, mit Kaiser, Päpsten und Königen aufs vertrauteste zu verkehren, ohne je seine Würde preiszugeben, seine Un­ abhängigkeit zu opfern, seinen Freimut zum Schweigen zu bringen. Ein stets erfolgloser Politiker und Diplomat, brachte er denen, die ihm ihre Angelegenheiten anvertrauten, doch nie Unehre ein, und das praktische Mißlingen erkältete seinen idealistischen Eifer nie. Er wahrte die äußeren Formen, ohne ihr Sklave zu werden, wußte zu scherzen, ohne in Roheit zu verfallen, an sich zu halten, ohne sich der sittlichen Heuchelei, die wir Prüderie nennen, schuldig zu machen. Sein Glaube tat seiner Achtung der Vernunft keinen Abbruch und nie artete seine Forschungslust in Leugnung des nicht Erkennbaren aus. Von leicht gereizter Sinnlichkeit und anziehend für die Frauen, lernte er schon bei angehendem Mannesalter sich zu mäßigen und endlich zu bezwingen. Es ist ein Irrtum, der Jugend größere sittliche Reinheit und größere geistige Ursprünglichkeit zuzuschreiben, als dem Mannesalter; wie Shakespeare und Schiller, war der jugendliche Petrarca als Schriftsteller ein Nachahmer, als Mensch in den Banden erregbarster Sinnlichkeit; aber er rang sich durch, wie jene, zur eigenen Anschauung der Welt und zur Beherrschung seiner selbst. Eine wunderbare Klarheit ist über diese ganze Natur ausgegossen; man sieht in allen seinen Worten wie in seinem ganzen Leben, daß

es ihm ernst war um die Erlangung der Wahrheit, daß er allem Scheine feind war, daß er es ehrlich mit sich vnd anderen meinte. Wie harmonisch heiter ist dieser Mensch doch, verglichen mit dem düsteren Dante, de» er beneidet haben soll, er, der die „Göttliche Komödie" vom Helligen Geist selber diktiert nannte. Alles ist Maß und Gleich­ gewicht: die Leidenschaft ist wohl da und wärmt wohltuend das ganze Wesen des herrlichen Mannes. Wissenschaft, Vaterland, Geliebte, Freunde umfaßt er mit innigster, aufopferndster, dauerndster Liebe, aber nirgends und nie strömt die Leidenschaft vulkanisch zerstörend über. Wie vier Jahrhundert später am Zielpunkt der modernen Bildung unser Goethe, so steht am Ausgangspunkte dieses Ent­ wicklungsganges Petrarca als ein vollkommen „Humaner" da, er, der Gründer des Humanismus, welcher die Stelle der christlich-kirchlichen Kultur einnehmen sollte, selber ein Vorbild der Humanität.

Lorenzo de' Medici. I.

Es gibt zwei Namen in der Weltgeschichte, welche das Vorrecht haben, hell und heiter wie keine anderen an das Ohr der Menschen zn klingen: Athen und Florenz. Die lichten Namen aber jaubern uns sofort eine bestimmte Zeit vor die Augen: das fünfte Jahrhundert vor und das fünfzehnte nach Christus, die Zeitalter des Perikles und Lorenzos des Prächtigen. Es ist indes nicht allein der Glanz, den Kunst und Poesie über jene beiden Flecke und Momente ausgebreitet, welcher jenen einzigen Eindruck hervorbringt; auch nicht die größere Menschlichkeit, die sie vor anderen Staaten und Zeiten auszeichnet; an Blut hat's auch in Athen und Florenz leider nicht gefehlt, wenn's auch sparsamer als beispielsweise in Argos oder Perugia geflossen, und weder Perikles noch Lorenzo scheuten vor Gewaltmitteln zurück, so oft es die Unterdrückung der Gegner galt, wenn sie auch schonender als ein Philipp von Maze­ donien oder ein Ludwig XL verfuhren. Was jenen beiden kleinen Punkten den unwiderstehlichen und unvertilgbaren Reiz verleiht, de» kein Großstaat der Geschichte je geübt hat, ist die Harmonie, in der hier Natur und Mensch, Geist und Materie, Inhalt und Form, Staat und Kunst auftreten. Man wird gewahr, wie wenig auf die Aus­ dehnung ankommt, wie es die vollkommene Übereinstimmung

der Verhältnisse ist, und wären sie die bescheidensten, welche den mächtigen Eindruck, die dauerndste Wirkung hervor­ bringt: „Im kleinsten Punkte die größte Kraft". Wer das kleine Städtchen im Arnotale zum ersten­ male erblickt, ist kaum überrascht: nichts Gewaltiges, Un­ gewöhnliches stört seine Phantasie heftig auf. Erst nach und nach wirkt der Zauber dieses lieblichen Maßes. Nichts übertriebenes in Natur noch in Menschenwerk. Mäßige Hügel umschließen das offene, villenbelebte Tal, in dem man sich frei und doch begrenzt fühlt. Die Vegetation ist heiter, und die Stadt trägt nicht umsonst den Namen der Blumenstadt; aber sie ist nicht luxuriös, noch sind ihre Formen fremdartig. Zwischen dem weichen Blumengrün des bescheidenen Olivenlaubes zieht sich der Grundton der braunen Erde hin, und die dunkle Zypresse gibt Charakter und Farbe. Mit wunderbarem Natur- und Formensinn haben die Meister des Quattrocento Klöster und Kirchen, Land­ häuser und Schlösser den Linien des Terrains angepaßt, so daß sie dieselben abzuschließen, zu vollenden scheinen, wie sinniger Schmuck die Schönheit eines anziehenden Weibes. Und wiederum vereinigen sich, wie in inniger Umarmung, Stadt und Landschaft: nie fühlt sich der Bewohner der Natur entfremdet, in künstlicher Atmosphäre, wie der Groß­ städter; nie von der geselligen Kultur ausgeschlossen, wie der Bauer. Kühn geschwungene oder heiter belebte und bewohnte Brücken verbinden die beiden Ufer. Palast reiht sich an Palast, einfach, »»herausfordernd, wie die Schön­ heit der Toskanerin: man geht daran vorüber, ohne sie zu beobachten; da zieht ein Lächeln über die Lippen der Schönen, ein Sonnenstrahl fällt unerwartet auf die Loggia und die Rundbogen der Fenster, und plötzlich geht dem Vorüberwandelnden das Geheimnis der wunderbaren Har-

monie auf, die in dem anspruchslosen, ruhigen Antlitz schlummert. Und wie die Werke der Architektur, so die der Bildhauerkunst, der Malerei: Natürlichkeit und Sim­ plizität bei exquisiter Feinheit sind die Charaktere alles Toskanischen in Kunst und Staat, in Poesie und Leben. Denn alles hat Charakter. Hier ist nichts Nachge­ ahmtes, Hereingebrachtes. Alle Erzeugnisse der Kultur sind autochthon, wie in Athen, soweit überhaupt in der Geschichte etwas autochthon genannt werden kann. Naturgemäß, wie eia gesunder Körper, wie ein schöner Baum, ist die florentinische Kultur herausgewachsen, ohne gewaltsame Mittel, nicht als Treibhauspflanze ist sie langsam und stetig heran­ gereift. Der etruskische Keim hat sich nie verleugnet: latei­ nisches Staatswesen, römische Kirche, griechische Zivilisation haben die Entwicklung beeinflußt, ohne sie je zu hemmen oder gewaltsam in ihre fremde Bahnen zu reißen. Schon die ersten Früchte zeigen den eigentümlichen Charakter; Dante, Giotto, Arnolfo waren nur auf diesem Boden möglich und ihre Werke tragen ganz die toskanischen Famllienzüge: naturtreue Bestimmtheit der Umrisse, Voll­ endung des Details, Maß und Geschmack. Auch politisch und religiös hält sich das Florenz des Mittelalters fern von jeder Übertreibung. Intoleranz oder gar Fanatismus sind ihm eben so unbekannt, als revolutionäres Auflehnen gegen die bestehende Kirche1). Blutdürstige Tyrannen, wie Ezzelin, läßt es nicht aufkommen; der nordische FeudalAdel hemmt die munizipale Entwickelung nicht und muß schon früh dem eingeborenen Bürgertum den Platz räumen. Trotz so mancher Veränderungen behielt das Gemeinwesen bis auf diesen Tag den bürgerlichen Charakter, auch darin die eigentümliche Kontinuität aufweisend, die alles Flo*) Savonarola war bekanntlich kein Florentiner.

rentinische bezeichnet. Wir im Norden sind dnrch eine Kluft — Deutschland durch den Dreißigjährigen Krieg, Eng­ land durch die große Rebellion, Frankreich durch die Re­ volution — von unserer Vergangenheit getrennt; hier ist die lebendige Tradition in den meist noch blühenden Ge­ schlechtern, welche schon im dreizehnten Jahrhundert geglänzt hatten und den Zusammenhang lebhaft empfinden, den auch mittelalterliche Institutionen, wie die Misericordia, die Buonuomini di San Martine, die Compagnia de’ Battilani, uns noch heute vor die Sinne rufen. Jenes im besten Sinne demokratische Gemeinwesen war eben am Anfange des Quattrocento, nach vielen Umwälzungen und mannigfachen Verfassungs-Experimente», bei einer Regie­ rungsform angelangt, welche ihm erlaubte, sich von den Stürmen der Jugend auzuruhen und sich in Sicherheit einem veredelten Lebensgenüsse heiter hinzugebe». Und als nun gerade jetzt „Athen mit seinem heimischen Boden und all seiner Habe in die tuskische Stadt einzog", wie Poliziano meinte, da verriet sich sogleich die Wahlverwandtschaft. Kein Volk assimilierte sich die athenische Kultur wie das florentinische — ohne sich je selber dabei zu verlieren. Der Moment, wo ihm diese neue Nahrung zuströmte, war der glücklichste; denn ohne Glück gedeihen auch die besten menschlichen Dinge nicht. Florenz war in jener empfänglichen Frühlingsperiode, wo der ausgeruhte, frisch und sorgsam bebaute Boden das aufgenommene Samenkorn zu raschem Aufgehen fördert. Als Petrarca und Boccaccio starben, als die Loggia de’ Lanzi sich erhob, sah man schon der neuen Offenbarung mit der Gewißheit entgegen, mit welcher der Landmann die reifende Junisonne erwartet. Nahezu ein halbes Jahrhundert brauchte Florenz, das Neu­ aufgenommene zu verarbeiten; und während dieses halben Htllebrand, Zeiten und Menschen.

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Jahrhunderts schweigt die Muse der Dichtkunst. Nicht so die bildende Kunst, die ohne weiteres ans Werk geht, beinahe gleichzeitig empfangend und wiedergebend: Brunelleschi, Donatella, Masaccio gehören der Zeit Cosimos, des Pater patriae, an, als kein italienisches Lied mehr ertönte. Nie wieder hat die Weltgeschichte — mit Ausnahme Athens — ein so einziges Zusammentreffen von glücklichen Umständen auszuweisen, als in jener Blütezeit der Renaissance von 1470 bis 1495 etwa. Es ist der rasch vorübergehende Moment, wo der Jüngling sich zum Manne entwickelt. Florenz ist wie jener jugendliche Held Shakespeares: Sein Haupt noch grün, jedoch sein Urteil reif. An Jahren jung, doch an Erfahrung alt.

Dolle Zeugungskraft, nach Abschüttelung des Joches wilder Sinnlichkeit. Auch aus dem abstrakten Enthusiasmus für Worte, der auf der Unkenntnis der Dinge beruht, ist der Jüngling-Mann heraus; aber noch ist er dem Skep­ tizismus nicht verfallen, den der Kampf ums Leben, wiederholte Enttäuschung, Gewohnheit dem Alternden auf­ zwingen. Den Idealismus hat er sich bewahrt; noch glaubt er, daß auch außer der greifbaren Wirklichkeit eine Welt ist, und noch trennt er nicht das Ideal vom Leben; noch weiß er seine Persönlichkeit aufzugeben, um einem Höheren — Kunst, Wissenschaft, Vaterland —, das seine persönlichen Interessen unberührt läßt, nachzustreben; noch ist er der Begeisterung fähig, aber er begeistert sich nicht länger für das, was der Wahrheit oder des Inhalts entbehrt. Er kennt die Menschen und weiß, wie das Gemeine alles bändigt, aber um so höher hält er jene kleine Freistätte, die in den Besten dem alles bändigenden Joche sich entzieht. Er ver­ liert seine Stunden nicht mehr in steriler Träumerei, noch

in blindem Sinnentaumel; er verliert sich selber noch nicht in der Betäubung der Arbeit oder dem Scheinleben der Konvention, sondern greift tätig ein in das handelnde Leben, indem er sich den Sinn für das Beschauliche der Kunst wie der Philosophie wahrt. Auch täte man Unrecht, so meint schon ein Geschichtsschreiber des folgenden Jahr­ hunderts, „wollte man den Florentinern, weil sie Kaufleute sind, Adel der Gesinnung absprechen und sie für niedrig und plebejisch halten. Oft habe ich mich im stillen ge­ wundert," fährt der Mann in patriotischem Stolze fort, „wie Leute, die von Kindheit an sich mit Wollenballen und Seidensträngen Herumschleppen oder gleich Sklaven den Tag und einen Teil der Nacht am Webstuhl und am Farbkessel ihre Arbeit zu verrichten pflegen, häufig, wo es not­ tut, solche Hochherzigkeit und Seelengröße bekunde», daß sie so schön reden wie handeln. Die Luft, zwischen der scharfen von Arezzo und der schweren von Pisa die Mitte haltend, ist gewiß von Einfluß auf diese Erscheinung. Wer Natur und Sitte der Florentiner wohl beachtet, wird zum Schluffe kommen, daß sie mehr zum Herrschen als zum Gehorchen geschickt sind." Dem sollte freilich anders werden und der Floren­ tiner nach der Entmannung erscheint nicht gerade als zum Herrschen geboren; die Familienähnlichkeit ist noch immer da; aber die unzerstörbaren Charakter- und Geistesanlagen erscheinen unter den letzten Medicäern greisenhaft karikiert: die Sparsamkeit ist Geiz, die Ironie Witzelei, der Sinn für Maß ist Ängstlichkeit, die Achtung der bestehenden Religion Bigotterie oder Konventionalismus, die Sinnlichkeit Kor­ ruption geworden unter dem Regime des siebzehnten Jahr­ hunderts. Wie anders unter den Erste« des Geschlechts. Ein wohlgeordnetes Staatswesen, das der Freiheit 6*

und der Entwickelung des einjelnen Spielraum läßt, ohne das Interesse militärischem das sich willig aber nicht in

des Ganzen zu opfern, gleich entfernt von Zwang und roher Pöbelwillkür; ein Volk, einer bedeutenden Persönlichkeit unterordnet, ihre Hände abdankt; das Geist und Wissen

zu schätzen weiß, aber nicht vergißt, daß Geburt und Reich­ tum reelle Mächte sind, die man nicht ungestraft ignoriert; ein bürgerlicher Adel, der sich friedlichem Erwerb widmet, wohl aber, wenn es not tut, die Waffen zu führen ver­ steht, der am öffentlichen Leben teilnimmt, aber sich durch dasselbe nicht von der Betrachtung der höchsten Fragen, noch vom Genusse der edelsten Erzeugnisse des Menschen­ geistes abwenden läßt; ein Gelehrten- und Künstlerstand, der sich noch nicht von dem Leben ins Studierzimmer und die Werkstätte zurückgezogen hat; eine Geistlichkeit, die sich noch nicht dem schönen Diesseits in einseitiger sittlicher Entrüstung oder in pfäffischem Kastengeiste schroff gegen­ überstellt, sondern in griechischer Weisheit ein Morgenrot des Christentums, in griechischer Kunst einen Abglanz himmlischer Schönheit zu sehen wagt: das war die Bühne, so die Handelnden, die der Nachwelt das schöne Schauspiel der ersten Renaissance boten. Auf dieser Grenzlinie stand Florenz, als es ein Staatswesen und eine Gesellschaft, eine Kunst und eine Poesie entwickelte, dergleichen, fei'6 an Fülle, sei's an Eigentümlichkeit, sei's an Schönheit, die Geschichte nicht aufzuweisen hat. Kein Fleck der bewohnten Erde, nicht einmal Athen, war so fruchtbar an bedeutenden Männern und großen Werken jeder Art, als diese Viertel-Quadratmeile am Arno. Und dieser Reichtum hat nichts Überwältigendes, Ent­ mutigendes; er ist anspruchslos ansprechend. Die Kunst, die hier alles durchdringt, tritt uns menschlich nahe, indem

sie auch das Gemeinste veredelt, das ganze Leben verschönert, weder am häuslichen Herd noch im Gotteshaus, weder beim Fest noch in der Ratsversammlung fehlt. So entstand diese einzige Kultur, in der sich Frische mit Bildung vereint, wo das Wissen den Schwung nicht gelähmt, wo, wie zu Sokrates' Zeiten, unter mildem Himmel sich verhältnis­ mäßig natürliche Sitten bei höchster geistiger Entwicklung aufrechterhalten, wo die gedruckte Welt sich noch nicht zwischen die Dinge und das Auge des Künstlers oder Denkers geschoben, wo die konkrete Anschauung noch die Quelle, aber die durch die Schule griechischer Weisheit und Schönheit geläuterte Quelle der Gedanken und der Werke war. Daher bei aller Formvollendung die Naivetät der florentinischen Quattrocentisten, welche nicht, wie das sechzehnte und siebzehnte Jahrhundert, die Alten nach­ zuahmen suchten, sondern selber empfanden, dachten und schufen, wie die Alten schufen, dachten und empfanden. II.

Lorenzo war einundzwanzig Jahre alt, als sein Vater Piero starb, dreiundvierzig, als er selber endete, und sein Bild lebt im Andenken der Menschen als das eines „Jünglings näher dem Manne", auch darin der echte Vertreter seiner Zeit, dieser reifen Jugend der modernen Welt. Wäre Lorenzo schön gewesen, er dürfte eher denn irgendein athenischer Schüler Platons als die Verwirk­ lichung des hellenischen Ideals gelten; aber Lorenzo war häßlich von Antlitz, wenn auch männlich blühender Gestalt, deren angeborene Kraft und Biegsamkeit durch unausge­ setzte Übung ritterlicher Spiele erhöht, deren natürliche Grazie durch ausgesuchte, geschmackvolle Tracht hervorge­ hoben wurde. Lorenzo, der seine politische Laufbahn in

seinem siebzehnten Jahre mit einer diplomatischen Sendung nach Rom begann und dabei ungewöhnliche Klugheit und Selbstbeherrschung bewies, den seine Lehrer in die Weisheit Platons, in die Poesie Dantes, in die Schönheit der griechischen Sprache und in die tiefere Bedeutung der christlichen Lehre eingeweiht hatten — Lorenzo liebte das Vergnügen wie ein Jüngling, war weder dem Becher noch den Schönen abhold, verachtete keineswegs kostbaren Schmuck und reiche Kleidung, war ein leidenschaftlicher Pferdeliebhaber und ausgezeichneter Kenner, wußte, obschon einfach im täglichen Leben, schönere und glänzendere Feste als irgendein Fürst jener festliebenden Zeit zu veranstalten, zeichnete sich aus auf der Falkenjagd wie im Turnier und gefiel sich in zahlreicher und munterer Gesellschaft. Doch mußte er schon frühe den Wert der lärmenden Kameraden wohl zu unterscheide» von dem der happy few, mit denen er in kleinem Kreise heiteren, geistig angeregten Verkehr pflegte, wenn er des tollen Treibens müde war und die Staatsgeschäfte ihm die Muße ließen. Niemand wußte besser als er, bedeutende Menschen herauszufinden, an sich zu ziehen, zu fesseln. Das hatte er vom Großvater gelernt; und obschon Lorenzos Stellung, als Urenkel Giovanni d'Averardos, des ersten Medicäers von über­ wiegendem Einfluß im Staat, eine fürstlichere war als die Cosimos, blieb das Verhältnis zu Künstlern und Gelehrten, wie zu den Spielgenossen aus dem florentinischen Adel, doch dasselbe, wie früher im Hause der V i a L a r g a, ein VerhÄtnis der Gleichheit; und weder an Kenntnissen, noch an Eleganz der Rede, noch an Dialektik, Gedankenfülle und Gedankentiefe stand er irgendeinem der berühmten Humanisten, Dichter und Künstler seines Kreises nach. Auch die Arbeit im Geschäfte verschmähte der prinzlich

Erzogene nicht, der, ebenso gut als heute ein Rothschild, nachsah wie^s ans dem Kontor zuging, was ihn freilich nicht verhinderte, die Kasse des Hauses Medici bedenklich mit der des Staates Florenz zu vermengen, anfangs zum eigenen Nachteil, später wohl auch zum eigenen Vorteil. Die häuslichen Tugenden der Ahnen scheint Lorenzo nicht besessen zu haben, obschon er des Familiensinnes nicht entbehrte und von Jugend auf von edlen Frauen umgeben war. Voller Deferenz vor seiner klugen Großmutter, Contessina be' Bardi, der liebevollste Sohn für seine talent­ volle, hochgesinnte und bei aller Gelehrsamkeit durchaus weibliche Mutter, Lucrezia Tornabuoni, ein aufmerksamer, sorglicher Gatte für Clarice Orsini — eine echt adelige Prinzenmutter — überließ er die Erziehung seiner Söhne doch vorzugsweise ihr und dem Freunde Poliziano, der sich nicht zum besten mit der Mutter seiner Zöglinge vertrug; hörte keineswegs auf, seiner schönen Geliebten, Lucrezia Donati, seine persönlichen und gereimten Huldigungen dar­ zubringen, später mit Bartolommea be' Nasi in intimstem Verhältnis zu leben, und bewegte sich vorzugsweise in Männergesellschaft. Diese war die gewählteste und der in derselben herrschende Ton, wenn auch ein heiterer, keineswegs eia frivoler. Sei's, daß man sich in der waldigen Berg­ einsamkeit von Camaldoli oder auf der nahen Villa von Careggi, wo schon der Großvater die bedeutendsten Männer seiner Zeit um sich versammelt, zusammenfand; ob man mit jüngeren Genossen gleichen Standes oder mit älteren von verschiedener Lebenssphäre verkehrte, die Unterhaltung drehte sich beinahe ausschließlich um die höchsten Fragen, und der Name der platonischen Akademie war durchaus kein bloßes Aushängeschild. Landino, der platonisierende Kommentator der „Divina Commedia“, hat uns, den

sokratischen nachgebildete, Dialoge hinterlassen, die uns ein­ führen in jene anregenden Gespräche und die Hauptredner lebhaft vor unsere Vorstellung bringen, vor allen jenen einzigen Leon Battista Alberti, mit Lionardo den viel­ seitigsten und liebenswürdigsten Vertreter der Kultur jener Zeit. Natürlich durfte auch Marfilio Ficino, der Über­ setzer des „göttlichen Philosophen", nicht fehlen, und späterhin mochte wohl Angelo Polizianos Witz solchen Abenden eine willkommene Würze geben. Lorenzo hatte dem früh von Cosimo entdeckten und geförderten Dichter nicht nur die Erziehung seiner Kinder übergeben, sondern ihm noch eine einträgliche Professur am Studio di Firenze verschafft. Doch scheint ein Unstern von Anfang an über dieser Anstalt geschwebt zu haben; hundertmal reorganisiert, reichlichst dotiert, wollte sie doch nie zu recht dauerhaftem Gedeihen gelangen. Lorenzo schien selber einzusehen, daß anderswo mit wenigen Mitteln Besseres und mehr geleistet werden könne, und ohne der florentinischen Schule seine splendide Hilfe zu entziehen, stellte er die Universität von Pisa auf glänzende Weise wieder her. Welche politischen Nebenansichten auch dabei unterlaufen sein mögen, das Interesse für die Wissenschaft war jedenfalls das Hauptmotiv. Vieles von Lorenzos Stiftungen lebt noch heute; ihm dankt Florenz die voll­ ständigste Handschriften-Sammlung der Welt, mit welcher selbst damals nur die urbinatische des großen Federigo von Montefeltre wetteifern konnte. Und Geld allein tat es nicht; selbst treffliche Agenten wären ungenügend gewesen: man mußte selbst Interesse und Verständnis hinzubringen, keine Mühe scheuen, überall ein wachsames Auge haben, um Bibliotheken wie die Laurentianische und die von San Marco herzustellen und weiterzuführen. Die schönen

Gehäuse, die man diesen Schätzen gab, beweisen, wie liebeund ehrfurchtsvoll man diese Schätze behandelte. Die wun­ dervollen Büchersäle von San Marco und San Lorenzo stammen freilich aus der Zeit kurz vor und kurz nach der Herrschaft des Prächtigen; doch auch er war Kenner und Beförderer der Baukunst. Seines Großvaters Freund, der Architekt des mediceischen Palastes in Via Larga, Michelozzi, L. B. Alberti, die beiden Majano, die zwei San Gallo, der Cronaca wurden von ihm beschäftigt. Noch mehr dankten ihm Skulptur und Malerei. Haus und Garten füllte er mit Sammlungen aller Art, mit Gemälden und Statuen, so des Altertums wie seiner eigenen Zeit. Wer weiß nicht, was Michel Angelo ihm dankte, den er mit seinem Menschenblick schon als Knabe herausfand. Aber auch Mino da Fiesole, Verrocchio, Ghiberti fanden Unter­ stützung bei ihm; die liebenswürdigsten der Maler, Sandro Botticelli und Filippino Lippi, wurden von ihm beschäftigt, Ghirlandajos, Signorellis, Rosellis und des großen Lionardo nicht zu gedenken. Das Kunsthandwerk förderte er nicht minder als die eigentliche Kunst; die florentinische Mosaik und das Kameenschneiden erhielten von Lorenzo den Impuls und die Begünstigung, die ihnen eine so bedeutende Entwicklung sicherte. Dem berühmten Orgel­ bauer Squarcialupi war er ein nachsichtiger Freund, und, wenn auch in geringerem Maße als sein Sohn Leo X., genoß er die Musik und umgab er sich mit Musikern. Mit diesen Künstlern nun lebte er in vertrautem täglichen Verkehr — man erinnere sich nur aus Michel Angelos Leben, wie er als angehender Jüngling täglich an der Tafel Lorenzos seinen Platz hatte; noch näher aber standen ihm die Dichter und Gelehrten. Die Pulcis, ob­ schon verarmt, mochten immer noch als Standesgenossen

gelten, in noch höherem Grade Pico von Mirandola und Ruccellai, nicht so Angel» Poliziano oder Bernardo Accolti, der nicht genug geschätzte Verfasser der „Virginia“. Auch Lorenzos eigene poetische Leistungen sind j« beachten. Die Formvollendung und die Feinheit des Dichters der „Giostra“ und des „Orfeo“ erreichen freilich weder Luigi Pulci noch Lorenzo fce' Medici. Dagegen ist mehr Frische, Kraft und Naturtreue in beiden. Die poetische Schilderung des Turniers von Sta. Croce, aus dem Lorenzo als Sieger hervorging, ist sicherlich nicht zu vergleichen mit derjenigen, welche Poliziano nns von dem Turnier Guilianos hinter­ lassen, doch ist sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht von Luigi, sondern von Luca Pulci, und wäre sie auch von ersterem, es ist nicht billig, ein untergeordnetes Werk eines Dichters mit dem Meisterstücke eines anderen in Parallele zu stellen. Denkt man aber an den „Morgante Maggiore“, so wird sich das Verhältnis schon anders gestalten. Ebenso ist der „Orfeo“ ohne Zweifel ein drama­ tisches Werk, das Lorenzos Mirakel von „S. Giovanni und Paolo" in jeder Beziehung weit überlegen ist; doch möchte es schwer sein, bei dem Dichter von Montepulciano irgend etwas zu finden, das an Heiterkeit, Leben, Natür­ lichkit den Idyllen Lorenzos, vor allem der „Nencia da Barberino“ gleichkäme. Selbst die etwas derberen „Beoni“ und die Falkenjagd haben jene einzige Naivetät und Volks­ tümlichkeit, welche der Malerei und Skulptur dieser Zeit eigen sind. Der etwas realistische, aber durchaus poetische Geist eines Philippino Lippi spricht aus allen Gedichten Lorenzos, nicht am wenigsten aus seinen Tanzliedern und Karnevalsgesängen, die man jetzt noch aus dem Munde des Volkes vernehmen kann und welche selbst die witzigen Canzoni und Rispetti des florentinischen Voltaire, Messer

Angeles, weit hinter sich lassen an Schwung und Be­ wegung. Doch nicht von Lorenzo dem Dichter, von Lorenjo dem Dichterfreund soll hier die Rede sein; es genügt anzudeuten, daß dem Reichbegabten, der durch seinen Brief an Federigo von Neapel nebenbei als der erste Literaturhistoriker Italiens erscheint, auch das Geschenk der Muse nicht mangelte. III.

Wie im gesellschaftlichen Leben und im literarischen Verkehr, so war Lorenzo auch in der politischen Welt immer ein primus inter pares, herrschend durch Einfluß und Persönlichkeit, nicht durch Rang und Amt. Man weiß nicht, wie Benedetto Varchi es in seiner Leichenrede auf Michel Angelo schon ausdrückt, „ob man ihn einen bürger­ lichen König oder einen königlichen Bürger nennen soll". Sein Ansehen dankte er gewiß ebenso sehr seinen persönlichen Eigenschaften, als der ererbten Macht. Freilich, hätte nicht Cosimo schon die Optimatenherrschaft der Albizzi ge­ brochen und jene demokratische Alleinherrschaft gegründet, nach der schon sein Vater Giovanni mit kluger Mäßigung, sein Onkel Salvestro mit schlauer Kühnheit gestrebt, es wäre Lorenzo nicht so leicht geworden, seine hohe Stellung zu behaupten; doch darf man nicht vergessen, daß er kaum siebzehn Jahre zählte, als die gefährliche Verschwörung des Luca Pitti gegen seinen Vater Piero ausbrach, der damals gichtkrank in Careggi darniederlag. Nur dem jungen Lorenzo aber und seiner Geistesgegenwart war es zu verdanken gewesen, daß die Sache mißlang. Schon vorher hatte er eine diplomatische Mission auf dem glatten Boden Roms trefflich erfüllt; hatte mit den Sforza in Mailand und den

Aragon in Neapel persönliche Verbindungen angeknüpft, welche dem Staat Florenz zugute kommen sollten. Kaum zur Herrschaft gelangt — wenn man anders die Stellung eines Medici des fünfzehnten Jahrhunderts als Herrschaft bezeichnen kann — hatte er die Auflehnung einer nicht ohn­ mächtigen Bundesgenossenschaft, Volterras, zu dämpfen, sich gegen die Übergriffe und die Mißgunst Sixtus' iv., der schon ganz in der Weise wie sein Neffe Julius II. aufzutreten begann, zu schützen. Dann kam die schwere Prüfung von 1478, der Verlust des Bruders, der ihm eine große Stütze im florentinischen Adel gewesen, das eigene Entrinnen mit Lebensgefahr aus den mörderischen Händen der Pazzi. Doch das Schwerste stand bevor. Die harte Ahndung der Verschwörung, die einem hohen Würden­ träger angetane entehrende Todesstrafe, die Gefangennehmung eines Kardinals und Nepoten, erschwerten die Beziehungen zur Kurie; bald kam's zum Kriege gegen das verbündete Rom und Neapel. Die Gefahr war drohend: Lorenzo trat vor die Ratsversammlung, bot sich selber als Opfer dar, denn der Krieg galt ihm mehr als der Stadt Florenz. Doch ward sein Anerbieten natürlich von dem Volke abgewiesen, so dringend auch die Not war. Die Florentiner aber waren keine Soldaten mehr, wie in den Tagen von Campaldino. Die verbündeten Staaten von Mailand und Venedig waren lau und saumselig in ihrer Unterstützung. Ludwig XI. tat sein möglichstes, die alte treue Guelfenstadt, die stets ehrlich zu Frankreich ge­ halten hatte, und die ei» geheimer Zug der Wahlver­ wandtschaft noch mehr als das Interesse zu der französischen Allianz trieb, zu schützen; aber er war fein und zu vor­ sichtig, um sich in einen Kampf für sie einzulassen. Er schickte zwar Commines selber; aber auch Commines ver-

mochte nichts über den eigensinnigen heftigen Genueser im Vatikan. Zudem ging's schlecht im Felde. Die florentinischen Truppen waren überall im Nachtell. Noch einmal entschloß sich Lorenzo, diesmal ernst­ lich, selbst einzutreten. Wohl war seine Regierung eine persönliche, wie man heute zu sagen pflegt, aber er wies auch die Pflichten einer solchen Regierung nicht zurück und bezahlte mit seiner Person, wenn's galt. Er beschloß, sich an den Hof seines Feindes, König Ferrantes zu begeben, an dessen wohlverstandenes Interesse, an die Freundschaft seiner Söhne zu appellieren, die Macht seiner eigenen Per­ sönlichkeit an ihm zu versuchen. Aber König Ferrantes hervorragende Eigenschaft war nicht der Edelmut und die Menschlichkeit, und jene Zeit hielt es eher für eine Torheit als eine Schande, die Gelegenheit nicht zu benützen, einen mächtigen Gegner aus dem Wege zu schaffen. Lorenzo wußte, „daß er sich in Gefahr begebe", so sagte er den versammelten Notabeln im Palazza Vecchio; „aber er schätze das eigene Beste geringer als das allgemeine, sowohl der Pflicht eines jeden Bürgers gegen sein Vaterland als seiner besonderen Pflicht wegen, da keiner gleich ihm Gunst und Ansehen von der Bürgerschaft erlangt habe". Das gewagte Unternehmen gelang vollständig: Ferrante ward gewonnen, und auch Sixtus IV. mußte gute Miene zum bösen Spiel machen, Florenz von der Exkommunikation befreien, und — die Stadt hat keinen Zoll Erde in dem unglücklichen Kriege verloren. Lorenzos Stellung in der Stadt war mächtiger denn je. Als Retter und Triumphator wurde er empfangen. Ungestraft konnte er die Verfassung zu seinen Gunsten ändern, eine neue Verschwörung im Keime ersticken, seinem Sohne die Nachfolge sichern. Die Optimatenherrschaft

(1380—1434), welche die Vorteile und Verdienste aller aristokratischen Regierungen, aber auch ihre Nachteile hatte, war vom Großvater gestürzt, die Familie der Albizzi und ihr Anhang ins Exil gesendet worden. Unter dem Vater, Piero, war die Macht der Pitti gebrochen, durch Lorenzo selbst die der Pazzi auf immer vernichtet worden. Jetzt wurde die Gewalt immer mehr in der Familie Medici konzentriert und so unter vielen monarchischen NebenKühlern dem Freistaate die Möglichkeit einer konsequenten Politik nach außen verschafft, an die mit der alle zwei Monate wechselnden Signoria nicht zu denken gewesen wäre. Und die Folgen ließen nicht auf sich warten. Lorenzos Stellung und die der Republik dem übrigen Italien gegen­ über war glänzend zu nennen. Pietrasanta und Sarzana wurden zurückerobert, Pisa, für den Augenblick wenigstens versöhnt. Frankreich und das Deutsche Reich suchten sich Lorenzos Freundschaft zu erhalten und zu erwerben. Im Kriege zwischen Venedig und Ferrara, in dem zwischen dem König Ferrante und seinen Baronen, in den stets erneuten Kämpfen zwischen Neapel und Rom war Lorenzo der Vermittler, wurde er als Schiedsrichter angerufen, und angenommen. Das italienische Gleichgewicht war recht eigentlich der politische Gedanke Lorenzos, und er verwirk­ lichte ihn inmitten der größten Schwierigkeiten, bei einer Instabilität der Bündnisse und der Gegnerschaft, von der unsere Zeit, die doch die Versöhnung Österreichs und Italiens vier Jahre nach Custozzo erlebt, keinen Begriff mehr hat. Niemand dachte damals an eine Einigung der Halbinsel; aber die Unabhängigkeit derselben hat Lorenzo sans phrase höher geschätzt und besser bewahrt, als Julius 11. mit seinem prahlerischen fuori i barbari. Kein fremder Soldat setzte den Fuß auf italienischen Boden, solange

Lorenjos Politik die herrschende blieb. Kaum hatte er die Augen geschlossen, so gebot der Franzose in Mailand, der Spanier in Neapel. Freilich, alles war nicht Verdienst oder Tugend. Das Glück war Lorenzo günstig; auch die andern Regie­ rungen fanden ihren Vortell bei der Zustimmung zu seiner Politik. Die Schmeichelei der befreundeten Schriftsteller, die uns über den großen Staatsmann berichten, mag viel­ fach schöngemalt haben. List und ein wohlverstandener Egoismus halfen gar oft mit zum Erfolge: die Verheiratung seines Sohnes Piero mit einer Orsini, einer Verwandten Clarices, diejenige der Tochter Maddalena an den Sohn Jnnocenz" Vlii., Franceschetto Cybo, die Erhebung des dreizehnjährigen Lieblingssohnes Giovanni (später Leo X.) zum Kardinal — letzteres damals noch unerhört — waren nur durch Klugheit, Einschüchterung, Anwendung aller, selbst undelikater, Mittel erlangt worden. Auch mischten sich Mißtöne in all den Jubel, und Lorenzo brauchte wahrlich kein Juwel zu opfern, um der Götter Neid zu beschwören. Er war kein guter Finanzmann — die italieni­ schen Staatsmänner sind's nie gewesen; die medicäische Bank in Lyon entging nur mit Not dem Bankerott; schon hatte die Kreditanstalt für Mitgiften (monte delle doti) her­ halten müssen, um die ungeheuren Ausgaben des Leiters der Republik zu decken. Auch gegen den Luxus des öffentlichen Lebens und die freiere religiöse Anschauung von Lorenzos Kreise begann sich die Opposition zu regen, die bald nach seinem Tode die Oberhand gewinnen sollte. Trübe Ahnungen überkamen den frischen Geist Lorenzos. Schwere Todesfälle trafen die Familie; rasch hintereinander starben Lucrezia, die hochverehrte Mutter, und Clarice, die kluge, umsichtige Gemahlin und Leiterin des Hauses.

Lorenzos Briefe nach diesen Verlusten sind unaffektiert im Ausdrucke tiefer Trauer.

Die körperlichen Leiden, die ihn

schon früh geplagt, wurden immer quälender, und als das Ende nahte (8. April 1492), trat schon neben die Hellen, heiteren Gestalten Picos de la Mirandola und Angelo Polijianos an das Sterbebett des Prächtigen die finstere Mönchsgestalt des Ferraresers, die sechs Jahre lang den dorentinischen Tag überschatten sollte. Mit Lorenzo sank die Blüte der Renaissance ins Grab; ihm folgten auf dem Fuße Poliziano, Pico, Ficino, Barbaro, Bojardo, Landino, meist in noch blühendem Mannesalter, und wohl mochte Polijiano sich dem Schmerze hingeben und in dem Tode Lorenzos den Tod seiner Generation besingen: Wer gibt zur Klage Stimm" und Mut, Wer meinem Aug" die Tränenflut? Daß ich bei Tag in diesem Weh, Im Jammer mich bei Nacht ergeh"! So klagt der Tauber, einsam, müd". So singt der Schwan sein Sterbelied, Die Nachtigall, wenn Lenz entflieht; 0 weh mir Armen, trüb und bang, O bitt"rer Schmerz, der mich durchdrang! Vom Blitze liegt da jäh gefällt Der Sor&eer O Zierde dieser Welt, Der Lorbeer, den der Musen Chor Und Nymphen pries vor unserm Ohr; In dessen Schatten Poesie Und alles Schönen Harmonie In froher Herrlichkeit gedieh. Stumm ist nun alles ringsumher. Taub ist es wie auf ödem Meer. *) Laurus, Lorenzo.

Die Borgia. I.

Nur zu jener Übergangszeit, da Italien die Beute der Fremden zu werden anfing und die Renaissance schon zu ergreifen begann, konnten die Borgia zu der Bedeutung gelangen, die fle in der Geschichte haben; und Gregorovius bemerkt sehr richtig, daß sie nur durch die Bühne, auf der fie auftraten, die grelle Beleuchtung erhalten haben, in welcher sie sich uns stets darbieten. Aber es ist nicht allein, wenn auch vorzugsweise, der kirchliche Hintergrund und der durch ihn erzeugte Gegensatz zwischen einer ge­ wissen, stets vorausgesetzten, Helligkeit des Amtes und der tatsächlichen Ruchlosigkeit des Geschlechtes, es ist der ganze Rahmen, welcher den Scheußlichen ihr eigentümliches Relief gibt. Alles ist groß, übertrieben, düster in Rom: die Natur, die Kunst, die Geschichte. Nichts mutet uns an als unseres­ gleichen. Nichts lädt zum Annähern, Dertrautwerden ein. Nichts erheitert unser Gemüt. Wir fühlen uns nicht zu Hause, denken nicht daran, uns anzubauen; getrauen uns nicht der Umgebung, der Vergangenheit Ähnliches in Staat und Werk zu vollbringen. Mitten in einer Wüste, welche die Menschen geschaffen, lagert das zählebige Babylon, das großartigste Stadtbild in der großartigsten Landschaft. Großartig, aber unheimlich. Nichts hat dieser Vampir Htllebrand, Zetten und Menschen.

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aus sich hervorgebracht und die ganze Welt hat ihn mit ihrem Schweiße genährt. Und nicht das Gold allein der Welt floß in tausend Kanälen zwanzig Jahrhunderte lang in diesen alles aufsaugenden Schwamm; auch das Talent, der Wille, das Wissen der Menschheit ließ sich hinziehen, verbrauchen im Dienste des Idols. Alles ist importiert in Rom und die Geschichte nennt kaum einen römischen Dichter, Künstler, Philosophen; aber alles wird sofort assimiliert, bekommt römische Farbe, römische Pro­ portionen, wenn es sich nur dem Kreise nähert. Selbst der florentinische Genius, der Genius des Maßes und der Heiterkeit, verfällt ins Kolossale und Ernste, sobald er sich unter die Botmäßigkeit des Ungeheuers begibt: wo ein Kolosseum, Caracallasche Thermen und eine Moles des Hadrian ihre ungeheuren Massen ausbreiten, da muß selbst ein Michel Angelo die Erhabenheit ins Große treiben und einen Sankt Peter ersinnen. Die ganze Renaissance ver­ liert ihren Charakter, sobald sie von dem bürgerlichen Florenz und dem fürstlichen Ferrara in die Priesterstadt einzieht. Es ist getan um ihren Jugendschmelz und ihre Jugendkraft: sie legt Schminke auf und wird impotent. Wie sollte auch Frische und Gesundheit blühen auf diesem Boden angehäuften Detritus', mit dem eklen Blut­ geruch, wo jeder Stein spricht von Republikanerhärte, Cäsarenwahnsinn, Pfaffentrug, von Mord, Notzucht, Zer­ störung, Raub, Martyrtum, Aberglauben und Verrat? Hat doch die ganze römische Geschichte nicht eine heitere Seite aufzuweisen, wie die perikleische Athens, oder die erste Medicäerzeit in Florenz, nicht eine der Begeisterung, wie sie die deutsche und französische, die englische und spanische so zahlreich bieten. Selbst Patriotismus und Pflicht haben schon vor dem Erscheinen des Christentums,

d. h. ehe noch unser aller Geschichte eigentlich anfängt, aufgehört, treibende Motive in Rom ju sein. Was Wunder, daß die vaterlandslose „Weltbeherrscherin" mit gieriger Dienstbeflissenheit Herren annimmt — Kaiser oder Päpste — aus Syrien und Pannonien, aus Spanien oder Frank, reich; weiß sie doch, die Herren werden ihr dienen müssen, die Welt geißeln, aussaugen, um den Quirlten Schauspiele zu bereiten. Auf solchem Boden, in solcher Zeit wuchert die exotische Schlingpflanze der Borgia auf. Italien war seit Ezzolino an Blut und Verrat gewöhnt. Die Visconti in Mailand, die Malatesta in Rimini, die Baglioni in Perugia hatten die Halbinsel mit Schaudern erfüllt. Doch blieb den Fremden die Krone: einem Alfonso und einem Ferrante von Aragon, der in Neapel hauste, und dessen Sohn von noch perfideren Fremden, Ferdinand „dem Katholischen" und dem „guten" Ludwig XXL, überlistet werden sollte. Und doch ist Ferran, tes Namen vergessen, während der Cesare Borgias fortlebt, dank jener römischen Umgebung und dank Macchiavelli. Auch die Sittenlosigkeit der Borgia war keine vereinzelte Erscheinung. Die ihnen vorgeworfene Blutschande ist nicht erwiesen und im übrigen gab ihnen kaum ein italienischer Machthaber der Zeit etwas nach. Unbeschränkter Egoismus, Berechtigung aller Mittel, selbst der grausamsten, um zum Ziele zu gelangen, Befriedigung aller sinnlichen Begierden, galten überall für selbstver, stündlich; aber bei Alexander dem VI., dem romanisierten Spanier, ist weder eine Spur staatsmännischer Absichten, noch jener mildernde Sinn für Wissenschaft und Kunst, welcher seine Zeitgenossen, wenn nicht entschuldigt, so doch eine Stufe höher stellt als diesen genußsüchtigen Wüstling, dessen Feste sich durch nichts so sehr auszeichneten als

durch ein brutales Kanonieren und strömenden Wein. Man muß sich ihn vorstellen als einen äußerst begabten, aber ganz ungebildeten, gründlich verwöhnten Sohn einer reichen und mächtigen Famllie, der in den geistlichen Stand ge­ treten, wie er in den Militärdienst getreten wäre, wenn seine Familie dem Militärstande angehört hätte, um durch Kauf oder Gunst zu einträglichen Stellen zu gelangen. Schön von Gestalt und Antlitz, von eherner Gesundheit, von größter Eleganz, prachtliebend, verschwenderisch, lebt er dahin, wie wir in Paris und London Hunderte von vor­ nehmen Elegants hinleben sehen, ohne irgendein höheres Interesse und ohne nur je an die Möglichkeit zu denken, sich einem Wunsch zu versagen, auf eine Laune zu ver­ zichten. Dieser geistliche Louis XV. nun sitzt auf keinem er­ erbten Throne; er muß bei Lebzeiten seinen Bastarden — legitime Kinder kann er als Papst nicht haben — eine fürstliche Existenz für die Zukunft sichern: das kostet Geld, fast soviel als die Maitressen, der Luxus des Haushalts und der Kleiderprunk: man preßt und erpreßt, wo man kann, verkauft Pfründen, Ablaß und Begnadigungen; „nicht zehn Papsitümer würden ausreichen, diese Sippschaft zu befriedigen", schreibt der ferraresische Gesandte an seinen Herzog, den künftigen Schwiegervater von Alexanders Tochter. Bei alledem ist der ewig junge Dandy, der seinen Kinder« jeden Willen tut, wie man ihm jeden getan, seinem geliebten Cesare, vor dem er zittert, nichts abzu­ schlagen vermag, nicht einmal das Leben von ein paar Bischöfen mehr oder weniger, der aus lauter Vaterliebe stiehlt und aus Familiensinn mordet, nicht nur ein voll­ endeter Komödiant und poseur, sondern auch ein guter Christ, trotz eines belgischen zouave pontifical oder eines

französischen Legitimisten aus dem Jockeiklub. Die Re­ ligion verträgt sich ja sehr wohl mit dem Vergnügen; und Alexander ist nicht der Mann, den Platon zu lesen und sich durch ihn am Christentum irre machen zu lassen. Das überläßt er Lorenzo oder Pico, auf die er gerade so herabsieht, wie ein moderner adliger Lebemann auf gewisse „pedantische" Standesgenossen, die „sich auszeichnen" wollen. Dieses ganze Treiben des eitlen, verschwenderischen, liebens­ würdigen Wollüstlings bekommt erst durch die Stellung des Mannes als Hauptes der Christenheit, durch seine unge­ heuren Mittel, durch das Theater der ewigen Stadt, auf dem es sich abspielt, durch die Abwesenheit der öffentliche» Meinung, welche es heute und im Norden in engere Grenzen bannen würde, die ungeheuerlichen Proportionen, die es uns so unbegreiflich machen. Der Kern aber ist etwas ganz Alltägliches, heute wie damals: es ist der vornehme Taugenichts. Bei dem Sohne liegen die Dinge schon anders: da herrscht schon eine noblere Eigenschaft, der Ehrgeiz über Genußsucht und Eitelkeit vor. Auch ist der Sohn weniger gutmütig und populär — die Italiener würden sagen: simpatico — als der Vater. Er ist ein Verbrecher im großen Stile, obschon nicht viel gräßlicher als seine Zeit­ genossen: er will für Italien sein, und wenn wir Macchiavelli glauben sollen, war er auf dem Punkte es zu werden, was Ferdinand für Spanien, Ludwig XL für Frankreich, Heinrich VII. für England waren; und er war nicht viel schlimmer als sie. Ihm fehlte nur der End­ erfolg, um als Gründer des großen modernen National­ staates und als Vernichter des weltlichen Papsttums von der Geschichte gepriesen, oder doch wenigstens anerkannt zu werden. Eine ganz ausgezeichnete Geisteskraft vereinigte

sich in ihm mit der größten Willenskraft. Er begann seine Laufbahn als Siebzehnjähriger und beendete sie als Siebenundzwanzigjähriger. Er war kaum einunddreißig Jahre alt, als er in den Pyrenäen den Kriegertod starb. Er war weder grausam, noch feige, aber gänzlich gewissen­ los, ohne eine Ahnung von dem Unterschiede zwischen gut und böse. Er, wie beinahe alle seine Landsleute und Zeit­ genossen, würde es gar nicht verstanden haben, wenn man ihn der Anwendung unrichtiger Mittel bezichtigt hätte. Er betrachtete die Ermordung eines Unbequemen, die Hinterlistung eines Feindes, wie ein parlamentarischer Führer oder Minister unserer Tage ein Parteimanöver oder die Beeinflussung der Wahlen, um eine ergebene KammerMajorität zu erlangen und unbequeme Rivalen aus dem Hause fernzuhalten. Freilich kommt bei ihm der Brudermord hinzu: aber bei diesem Familienleben kann man sich wohl denken, daß der Bruder ihm gerade so fern stehen mußte, als ein Fremder. Auch hat er nicht die geistigen Interessen anderer italienischer Fürsten seiner Zeit: er legt weder Bibliotheken noch Kunstsammlungen an, wie die Montefeltre in Umbrien, die Gonzaga in Mantua; er läßt keine plautinischen Ko­ mödien aufführen, wie Ercole und Este: zu alledem ist er zu sehr Spanier, steht er dem Geiste der Renaissance zu fern; aber er hat einen hohen Sinn, liebt es, bedeutende Menschen um sich zu sehen, und es gelingt ihm, sie anzu­ ziehen, nicht um Gewinnst allein, sondern durch die Macht seiner Persönlichkeit — man denke nur an Lionardo da Vinci. Wie monströs es uns auch erscheinen mag, nicht sein wahnwitziges Wüten, wie Burckhardt meint, nur die seit Karls VIII. Zug überwiegende Macht der Fremden verhinderte ihn, das allgemein von ihm erwartete, von

Macchiavelli erträumte Werk zu verwirklichen: die Einigung Italiens und die Zerstörung der Papstmacht. II.

Von Cesares Geschwistern ist es nicht leicht, sich ein Bild zu machen. Juan, den er aus der Welt schaffte, muß wohl schon deshalb der bedeutendste gewesen sein; JofrL und Lucrezia standen ihm nie im Wege; auch war Juan Alexanders Lieblingssohn; doch fiel er zu jung — etwa dreiundzwanzigjährig — dem brüderlichen Ehrgeize zum Opfer, als daß er sich hätte besonders hervortun können. Die andern beiden scheinen ganz passive Naturen gewesen zu sein. Die Geschichte verzeichnet keine Tat, kein Wort Lucreziens: sie läßt alles über sich ergehen, widersetzt sich nie, findet sich erstaunlich schnell in jede neue Lage, in die sie von Vater oder Bruder versetzt wird. Die Briefe, die uns von ihr erhalten sind, verraten keine Persönlichkeit: sie sind ganz korrekt, farblos, ohne Leidenschaft, ohne Witz, ohne eigene Beobachtung und stechen in ihrer Leerheit sonder­ bar ab gegen die lebendigen Briefe ihrer Korrespondentin und Schwägerin, der schönen, geistvollen, angeregten Marchesa Jsabella Gonzaga, die es wohl verstanden hat, durch die trockene Form der damaligen Epistolographie ihre reizende Persönlichkeit durchscheinen zu lassen. Ob Lucrezia leiden­ schaftlich für jemanden gefühlt, ob sie überhaupt einer Leidenschaft fähig gewesen, ist aus ihrem Lebenslaufe nicht zu ersehen. Man ist versucht zu wünschen, Herrn Gregorovius" scharfsinnige Hypothese von einem illegitimen Sohne, Giovanni, dem „römischen Infarkten", möchte sich erweisen lassen, ohne das man den Bruder oder gar den Vater als den Erzeuger anzunehmen brauchte, wie's andre getan: man könnte sich doch für seine Heldin interessieren. Schön-

heit und Anmut, wenn wir sie nur von Hörensagen kennen, reichen dazu nicht aus. Lucreziens Existent ist ganz die einer fürstlichen Dame: nur verlief die erste Hälfte derselben in der korruptesten Umgebung, die es vielleicht je gegeben. Doch scheint es, als ob sie niemals über diese Umgebung nachgedacht, alles immer als ganz selbstverständlich genommen habe. Die Zweideutigkeit aller Verhältnisse muß wohl auch die Zeit­ genossen kaum besonders frappiert haben, so gewohnt war man in Rom an diese Unregelmäßigkeiten. Lucrezia wird nie einen Augenblick von ihrer Mutter, der Gesellschaft, dem Gesetz, noch von sich selbst als die Tochter des Mannes dieser ihrer Mutter, eines päpstlichen Beamten, angesehen, noch behandelt. Den zweiten Mann ihrer Mutter, einen Freund Angelo Polijianos und hochgebildeten Humanisten, scheint sie kaum gekannt zu haben. Ganz jung wird sie in das Haus einer vornehmen Verwandten Alexanders, Adrian« Orstni, gebracht, wo sie eine vornehme Erziehung erhält; eine elegante Scheinbildung, wie sie mutatis mutandis noch heute Töchtern fürstlicher Familien zuteil wird. Sie lernt sich schön kleiden und bewegen und wird an strengste Religionsübung gewöhnt. Neben dieser Gewöhnung, die ihr bald aus der konventionellen Frömmigkeit eine zweite Natur macht, schreitet eine Art Geistesbildung, aber eine ganz äußerliche, mechanische, nicht eine lebensvolle, an­ regende wie die, welche Jsabella von Mantua am väterlichen Hofe zu Ferrara oder Lorenzos Mutter, die hochstrebende Lucrezia Tornabuoni, in Florenz erhalten. Sobald die klassische Bildung Rom berührt, wird sie entseelt, zu nackter akademischer Form reduziert, in auswendig zu lernende Kompendien gebracht. Als die Jesuiten es vierzig Jahre später unternahmen, das klassische Altertum zu entmannen,

ehe sie's ihren Schülern zuführten, hatte man ihnen in Rom schon den Weg vorgezeichnet. Ob Lucrezia auch griechisch gelernt, wissen wir nicht. Lateinisch schrieb sie geläufig; sie sprach Spanisch und Italienisch, wie eine vornehme Russin heutzutage Englisch und Französisch. Sie wird verlobt — zweimal sogar — als sie elf Jahre zählt, verheiratet als ein dreizehnjähriges Kind, an einen Witwer, von nicht gerade appetitlichem Charakter. Natürlich protestiert die Kleine sowenig gegen diese früh­ zeitige Ehe, als sie sich ihrer früheren Doppelverlobung widersetzt hatte. Nach vier Jahren wird sie wieder ge­ schieden, weil die Familie ihres Mannes — er war ein Sforza — im Sinken ist und das augenblickliche Interesse Alexanders und Cäsars einen Anschluß an das Haus Aragon in Neapel anraten. In der Tat heiratete sie nach einem halben Jahre einen aragonesischen Prinzen, wie ihr Bruder Jofre eine Prinzessin desselben Hauses geheiratet hatte. Natürlich wurde sie nicht mehr befragt, als man überhaupt Fürstentöchter zu befragen pflegt. Auch diese Ehe sollte keine zwei Jahre dauern: denn schon gingen Ferdinand von Spanien und Louis XII. von Frankreich mit der Ent­ setzung der aragonesischen Dynastie um; und Cesare dachte schon an eine andere Verwendung des schönen Instruments, das ihm in seiner Schwester gegeben war. Lucreziens Gatte fiel durch Meuchelmord und die schöne zwanzig­ jährige Blonde war zum zweitenmal Witwe. Für ihren dritten Gemahl war schon gesorgt, es war der Erbprinz des mit dem jetzt allmächtigen Frankreich verbündeten Ferrara. Wir wissen, daß der Herzog von Ferrara sich nur ungern zu der Sache verstand, daß gar sein Sohn durchaus nichts davon wissen wollte: von einer Einrede Lucreziens meldet die Geschichte aber nichts. Als, dank dem guten

Rate Louis XII., alle Schwierigkeiten beseitigt sind, zieht sie in unverwüstlicher „Heiterkeit" und in der geschmack­ vollsten Toilette in ihre neue Heimat ein. Sie hatte bis jetzt in einer recht lockeren Gesellschaft gelebt — und scheint sich ganz gut darin gefallen zu haben. Es ist keine Spur zu finden, daß sie irgendwie choquirt gewesen vom Treiben ihrer Freundinnen, der Donna Adrian« Orsini, die das „Auge", und deren Schwieger­ tochter, Donna Guilia Orsini, die das „Herz" des heiligen Vaters, oder auch wohl witzig „die Braut Christi" genannt wurde — die erstere hatte selber die junge Gemahlin ihres Sohnes, ihrem heiligen Vetter und einstigen Geliebten, zu­ geführt; und Julias Schwester, Girolama Farnese, triebt ähnlich. Auch Lucreziens Schwägerin, die kleine Sancia von Neapel, scheint ein recht ausgelassenes Wesen zu sein, dem's Amüsement vor allem geht. Das waren nun Feste, Bälle, Soupers, Toiletten ohne Ende; und Lucrezia scheint sich alles das haben gefallen zu lassen, wie später am ferraresischen Hofe die Dichterhuldigungen. Aufgewachsen in der Umgebung und dem Treiben fand sie wohl alles das ganz in der Ordnung, und wie man in einer gewissen sehr vornehmen Gesellschaft unserer Zeit ganz ungeniert von seines Vaters oder Gatten Liebschaften redet, ohne auf­ zuhören eine treffliche Tochter zu sein und das Interesse des Gemahls, wie das ganze Familieninteresse recht eifrig zu befördern, so lebte auch Lucrezia ganz gelassen weiter; und man hat den Eindruck, als ob Mangel an Sinnlichkeit und Temperament sie allein davon abgehalten habe, auch tätig mitzuspielen. Einmal in Ferrara änderte sich das alles, ohne daß sich Lucrezia selber zu ändern brauchte: sie ist die ewig Gleiche, immer Heitere, immer Anmutige, sich in alles Schickende: sie ist überall zu Hause; sie liebt

nicht und haßt nicht, sie weint und ereifert sich nicht — und bezaubert alle. Zuvörderst den Schwiegervater, einen genauen Rechner und guten Hausvater, der sich nicht am letzten durch Lucreziens reiche Mitgift hat bestimmen lassen, auf die misalliance einzugehen, und das wurde sie ja, sobald der Papst-Vater nicht mehr war und die ganze AbenteurerFamilie in ihr nichts zurückfiel — und das Haus Este war das älteste, beinahe einzige legitime Fürstengeschlecht der Halbinsel. Er war bald gewonnen. Schon schwerer hielt's mit dem Sohne. Alfonso war ein schwerverständ­ licher, jedenfalls ganz eigentümlicher Charakter; die Eleganz und der ganze Prunk, den seine Frau ihm aus Rom her­ überbrachte, wollte dem Einfachen, etwas Ernsten gar nicht behagen, während der Vater Ercole, wie ein reicher Kauf­ mann, seine Freude am Prunk hatte, wenn er auch die Rechnungen genau revidierte. Doch auch Alfonso war schnell ausgesöhnt: er behielt zwar seine bürgerliche Geliebte, aber er war sehr zufrieden mit seiner ruhigen, sicheren Gemahlin, um so mehr als sie, äußerst fruchtbar wie solche Tempe­ ramente zu sein pflegen, das Haus Este berufsgemäß mit Prinzen versorgte. (Von ihrem kleinen Sprößling zweiter Ehe scheint sie fürderhin nicht viel Notiz mehr genommen zu haben.) Alfonsos Schwester, Jsabella Gonzaga, empfing die Neuangekommene mit entschieden ungünstigem Vor­ urteil. Isabellen, die sich wohl die „Calandra" und die „Mandragola" in Mantua aufführen ließ, war das römische Treiben denn doch etwas zu stark. Etwas Eifersucht auf Lucreziens Reize mag sich bei der schönen Frau, wie bei ihrer Schwägerin von Urbino, der nicht minder anziehenden Elisabeth von Montefeltre, wohl zu den sittlichen Bedenken gesellt haben: Lucrezia entwaffnete beide; ja, es bildete sich

zwischen ihr und der geistreichen Marches« von Mantua ein leidlich intimes Freundschaftsverhältnis. Die Poeten gar und die Gelehrten lagen bald alle zu Lucreziens Füßen. Es gehörte eine große Biegsamkeit und echt weibliche Neutralität der Natur dazu, so schnell auf diesem ganz neuen Terrain Fuß zu fassen. Aus der ganz weltlichen durchaus frivolen Atmosphäre des Vatikans, wo auch nicht eine Spur von geistigem Interesse lebte, fand sich Lucrezia, für deren Koffer Hunderte von Maultieren nicht ausreichten — brachte sie doch allein 200 Hemden mit sich, jedes im Durchschnitt 200 Dukaten wert — mit einem Male in der Stadt Bojardos und Guarinos da Verona, deren Gestalten »och frisch in aller Andenken lebten und welche aus Ferrara die hohe Schule des Humanismus, wie die Heimat der Ritterdichtung gemacht. Es war die glänzendste Zeit dieses zweiten Sitzes der italienischen Renaissance, als Lucrezia einzog, und während der sieben­ zehn Jahre, die sie dort bis an ihr frühes Ende verbrachte. Die beiden Giraldi, Calcagnini, Tebaldeo, Tito und Ercole Strozzi, der junge Bembo, vielleicht der Cieco, jedenfalls Ariosi gaben der Gesellschaft einen höheren Ton. Bald war die anmutige Papsttochter der Gegenstand unzähliger Gedichte und Verherrlichungen. Die beiden Strozzi nament­ lich, Vater und Sohn, waren Feuer und Flamme und Bembo entbrannte in heftigster Leidenschaft für sie. Lucrezia aber wußte diese Huldigungen der Dichter und Literaten mit der taktvollen Würde einer Fürstin entgegenzunehmen, wie sie wohl in Rom die zweideutigen Späße oder die faden Kom­ plimente der Höflinge des Vatikans mit lieblichem, wahr­ scheinlich abweisendem Lächeln angehört hatte. War sie doch immer lächelnd und heiter. War doch diese ewige Heiterkeit und Grazie das Geheimnis von Lucreziens

Triumphen. Sie war nicht regelmäßig schön, auch nicht majestätisch, aber ein unwiderstehlicher Liebreiz scheint über sie ausgegossen gewesen zu sein. Ihr lieblich-kindliches Profil hat etwas Pikantes, alle Dichter sangen von ihren Augen, welche den schlafenden Cupido in ihrem Wohn­ zimmer versteinert haben sollten. Ihr langwallendes gold­ gelbes Haar war berühmt. Ihre Gestalt war biegsam, und, bei aller Schlankheit voll und rund. „Es war nicht Hoheit", sagt Gregorovius, „noch klassische Schönheit, sondern unbe­ schreibliche Anmut von etwas Geheimnisvollem und Fremd­ artigem, wodurch diese merkwürdige Frau alle Menschen bezauberte". Sie war eben das vollendete Weib, stets empfangend und, indem sie das Empfangene in verschönernder Gestalt zurückgibt, immer wieder anziehend. Jeder sucht bei ihr, was nicht da ist, und ist befriedigt, selbst wenn er nichts findet und ohne sagen zu können, was ihn an ihr fesselt und beseeligt, wenn nicht eben das ewig Weibliche. Das aber gerade ist das Vergängliche im Sinne des Historikers, und Gregorovius hat wohl Recht zu sagen, daß der päpstlich-römische Hintergrund allein Lucrezien zu einer historischen Persönlichkeit gemacht: „Wenn sie nicht die Tochter Alexanders VI. und die Schwester Cäsars gewesen wäre, so würde sie kaum in der Geschichte ihrer Zeit be­ merkt worden sein, oder nur als ein reizendes vielum­ worbenes Weib in der Masse der Gesellschaft sich verloren haben".

n. Macchiavelli. Die Tatsache, daß Macchiavelli die Staatskunst jum Hauptgegenstande seines Nachdenkens und seiner Schriften gemacht, auch so vielfach im praktischen Staatsdienste ver­ wandt wurde, und es doch nie zu einer äußerlich ange­ sehenen Stellung, geschweige denn ju einer leitenden Macht in der Republik brachte, wie z. B. Guicciardini oder auch nur wie sein eigener Vorgesetzter, Marcello Virgilio, wirft ein helles Licht auf ihn selbst. Wem nicht Geburt, Reichtum, einflußreiche Verbindungen den Weg zu hoher Weltstellung eröffnen, dem helfen auch Talente und Kenntnisse nicht dazu, wenn fie nicht, sei's vom Glück oder der Intrige, fei'd von der Energie des Cha­ rakters oder einer gewissen natürlichen oder angenomme­ nen äußeren Haltung, unterstützt werden. Letztere nun können manche Menschen — und nicht immer die schlechte­ sten — denen sie nicht angeboren ist, durchaus nicht über sich bringe», anzunehmen, weil sie darin eine Art Zuge­ ständnis an die Weltlüge sehen, gegen das sich ihr Wahr­ heitsgefühl sträubt. So unser Lesstng, der zeit seines Lebens ein stellungsloser Literat blieb; denn auch sein letztes Amt war eine Versorgung und eine Gelegenheit zur Lieblingstätigkeit, keine gesellschaftliche Stellung. Und Lessing begnügte sich dabei, keine Rolle in der großen Lebenskomödie anzunehmen; Macchiavelli ging weiter in der Unvorsichtigkeit: er sprach aus, was er darüber dachte.

Der Segretario mußte alles heraussagen, was er für wahr befunden, und wäre es im direktesten Widerspruch mit allem dem gewesen, was uns durch die allgemeine Konvention zur zweiten Natur geworden; daher seine Worte immer wirkten und noch wirken, wie wenn sie plötzlich einen Schleier durchschnitten, der um die Dinge liegt, und sie uns von Angesicht zu Angesicht schauen ließen, was überhaupt die Tätigkeit des Genies und seine Be­ glaubigung bei den Menschen ist; denn das Genie wieder­ holt unaufhörlich die Parabel vom Ei des Kolumbus (oder des Brunelleschi, wie die Italiener sagen). Doch selbst für jene Zeit war Macchiavellis Zynismus zu schroff: schon Giuliano i>e' Ricci klagte, sein Großvater sei „so­ wohl im Tadel hochstehender Personen der Kirche oder des Staats, als auch in der Zurückführung aller Dinge auf natürliche oder zufällige Ursachen viel zu frei gewesen". Wenn er zu sagen wagte, die allermeisten Menschen hätten lieber bekannte Verbrecher zu Vorfahren als nie­ manden, oder sie verschmerzten schneller den Mord ihres Vaters als den Verlust ihres Vermögens, so hatte er unstreitig recht; aber seine Zeitgenossen und Mitbürger hatten ebenfalls recht, wenn sie dachten, daß ein Mann, der so das innerste Wesen der Menschennatur aussprach, auch das des Staates so ausplaudern könnte; und er ver­ sagte sich^s in der Tat nicht, wie männiglich bekannt ist. Der Staat aber bedarf wie die Kirche, wie der einzelne Priester und Staatsmann des Scheines; er darf nicht erlauben, daß man der Masse seine innerste Natur offenbare: denn nur vor dem Nichtgekannten hat die Masse Ehrfurcht. Dabei konnte Macchiavelli sich durchaus nicht entschließen, seine Person mit diesem Schein, d. h. der äußerlichen Würde, Feierlichkeit und Ernsthaftigkeit zu umgeben.

die man von öffentlichen Männern verlangt, weil man ihn — meist mit Recht, zuweilen aber doch auch mit Unrecht— für ein Zeichen der inneren Würde und der Festigkeit des Charakters ansteht. Diese Festigkeit nun scheint Macchiavelli durchaus gefehlt zu haben. Das notwendigste Erfordernis, um in der Welt vorwärts zu kommen, die kluge, stetige Lebensführung, war nicht in seiner Natur: der Geist der Ordnung, die Regelmäßigkeit des geschulten, professtonellen und traditionellen Staatsmannes, die z. B. Guicciardini im höchsten Grade besaß, gingen ihm ab. Auch hatte er nicht den rechten Willen, und da er als ein Denker, der die Nichtigkeit der weltlichen Dinge durchschaut, ohne eigentlichen Ehrgeiz war, so bedurfte er auch der Konsequenz des Be­ tragens nicht, der rastlosen Verfolgung eines Zieles, das man nur so erreicht. Eine zum Herrschen und Befehlen geborene Natur hatte er aber noch weniger. Nicht nur legte er stch selber nicht die große Wichtigkeit bei, die Män­ ner im Amte stch beizumessen pflegen, er ließ sich sogar absichtliche Zurücksetzung gefallen, teils weil er vergaß, daß nur die Selbstachtung die Achtung der Welt erzwingt, teils well er wirklich nicht nach Glanz und Stellung geizte. Er ließ stch nicht nur vieles geschehen, er stieg auch — freilich nie zur Intrige — wohl aber bis zur Ämterbettelei bei seinen Verfolgern, den Medici herab, eben weites ihm aufs Äußere gar nicht ankam, selbst da, wo dieses Äußere die Bedingung erfolgreichen Wirkens war, sondern nur auf die Sache oder was er als solche ansah: hier also die Gelegenheit, seine Lieblingstätigkeit auszuüben, und das bißchen Geld, das er zu seinem Amüsement brauchte. Denn das Unglück wollte, wie er selbst sagte, daß er „weder über die Seide- noch über die Wollindustrie zu reden wußte, und da er sich nicht über Verlust und Gewinn unterhalten

konnte, ihm nichts übrig blieb als zu schweigen oder zu politisieren". Und Macchiavelli war ein heiterer Lebe­ mensch: liebte gute Tafel und munteren Scherz, nahm wohl auch die Würfel zur Hand, und selbst als Famllienvater und Gatte konnte er den Schönen nicht entsagen; kurz Mona Marietta hätte so nachsichtig als Frau Schwerdtlein sein müssen, wenn sie nicht manchmal ein wenig geklagt hätte. Kaum ist er dem Kerker und der Tortur entronnen, so finden wir ihn schon wieder, „um sich zu erholen", in mehr als munterer Gesellschaft (in casa qualche fanciulla per riaver le forze) oder gar auf dem Lande mit den Kärrnern spielend, oft auch auf der Vogeljagd, nur die Nacht allein in der erlauchten Gesellschaft der alten Schrift­ steller. „Wir ahmen darin", schreibt er seinem Freund Vettori, „der Natur nach; sie ist veränderlich, seien wir veränderlich wie sie. Wenn man ihr nachahmt, kann man nie fehlgehen". Die ganze Renaissance ist in dem Wort. Selbstverständlich blieben auch die Geldverlegenheiten nicht aus und was sie im Gefolge führen: so daß der große Mann uns manchmal fast wie ein italienischer Kapitän Booth vorkommt, leichtsinnig, schwach, sinnlich wie Fieldings Held, aber wie dieser nie unedel. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß Macchiavelli nordische Feinheit und Zartheit des Gemütes besessen; dagegen hatte er, was ihn zur Leistung des Größten befähigt hat, leidenschaftliche Liebe für zwei außerpersönliche Dinge: das Vaterland und die Wissenschaft; die einzigen, die er wirklich ernst nahm im Leben. Wissenschaft aber ist Er­ forschung der Wahrheit. Eben weil alle seine Energie auf die Erforschung der Wahrheit, des wirklichen Zu­ sammenhanges der Dinge, ihrer natürlichen Ursächlichkeit gerichtet war, nicht auf die Erlangung einer Weltstellung, HtUebrand, Zette« und Menschen.

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erreichte er erstere, während letztere ihm entging: denn die Welt erlaubt den praktischen Skeptizismus nicht, der an ihrem Werte zweifelt, und Macchiavellis unüberwindliche Wahrheitsliebe gestattete ihm nicht, sich zu stellen, als ob er die Welttätigkeit und ihre fable convenue für bare Münze nähme. Seine große Folgerichtigkeit und Energie in der wissenschaftlichen Erkenntnis war somit schuld, daß er im praktischen Leben als schwach und inkonsequent erschien. Ein Lebemann, der den Schein verachtet, sehr klar sieht und stets seine innersten Gedanken ausspricht, dabei imstande, die beste Gelegenheit zum Karrieremachen zu versäumen, weil ein gutes Essen unter geistreichen Freun­ den oder ein wissenschaftliches Problem ihn gerade lockt; ein Politiker, der selbst inmitten der Geschäfte weniger an das Gelingen dieser seiner Geschäfte als an die Beob­ achtungen der Menschennatur und die Auffindung der Gesetze staatlichen Lebens denkt; der überdies nicht allzu praktisch ist, und wenn er selbst leiten soll, sich entweder zu „Phantastereien" verführen läßt — wie Guicciardini seine Arno-Abgrabung nannte, mittels welcher er das belagerte Pisa zur Übergabe zu zwingen gedachte —, oder aber keine 3000 Mann der von ihm selber geschaffenen Miliz nach der von ihm selber erdachten Weise manö­ vrieren lassen kann, ohne alles in Verwirrung zu bringen, — ein solcher Mann kann um so weniger „vorwärts kommen" im Leben, wenn er wie Macchiavelli es nicht unterlassen kann, sich selbst mit einer gewissen Ironie zu beobachten. Aus diesem geheimen Gefühl seiner prakti­ schen Unfähigkeit und seines Mangels an Charakter ent­ sprang denn auch nicht nur seine Bewunderung — eine Bewunderung, die übrigens nie bis zur Sympathie ging —

für einen Mann der rücksichtslosen Tat, wie Cesare Borgia, sondern auch seine ganze Theorie von der Energie (virtü) als dem staatenschaffenden und staatenerhaltenden Prin­ zip. Nichts imponiert dem nicht eitlen Menschen so sehr als das Schauspiel einer Geistes-, Charakter- oder auch nur Körpereigenschaft, die ihm selber abgeht, und Cesare Borgia war in allem das gerade Gegenteil des florentinischen Gelehrten und Denkers. In allen Leibesübungen Meister, unermüdlichen Körpers und Geistes, vor keiner Gewalttat zurückschaudernd, immer sich selbst beherrschend, ein Lügner mit eherner Stirne, in höchster Lebens­ stellung, zum Befehlen geboren und ans Befehlen ge­ wöhnt, ohne eine Spur abstrakter und theoretisches Stu­ dien oder Gedankengewohnheiten, tapfer, grausam, düster in dem Lebensgenuß — wieviel mehr fiel das bei einem Macchiavelli ins Gewicht als alle die Vorzüge feinerer Art, die er selbst besaß oder bei Studiengenossen fand! Auch gründet man mit Herzensgüte, Rücksicht, Zart­ gefühl keine Staaten, sondern mit Energie allein, und nur an eines dachte Macchiavelli, wenn er nicht seiner wissenschaftlichen Erforschung der Gesetze des gesellschaft­ lichen Lebens und der Staatenbildung nachging; dieses Eine war die Gründung eines italienischen National­ staates, gleich denen, welche jetzt eben in Spanien, Frank­ reich und England gegründet worden, und um dazu zu gelangen, die Zerstörung der weltlichen Macht der Päpste. „Wir haben eine große Verpflichtung gegen die Kirche," sagt er in den „Discorsi" mit der ihm eigenen bitteren Ironie, „denn wir danken ihr unseren Ruin; sie hielt und hält noch immer Italien geteilt; und wahrlich war nie ein Land glücklich und einig, wenn es sich nicht ganz einem Fürsten oder einer Republik unterwarf, wie es in Frank8*

reich und Spanien geschehen". Ein Nationalstaat also muß vor allem gegründet werden, was auch andere, wie Gnicciardini, jugunsten der Kleinstaaterei und der Dezentralisation sagen mochten; denn nur ein solcher Nationalstaat könnte das Land von der Fremdherrschaft befreien, die zum Himmel stinkt, wie er shakespearisch sagt (ad oguno puzza questo barbaro dominio). Zu diesem Zwecke ruft er den „Erlöser" an, den „vom Himmel Ge­ liebten", einen Moses, einen Theseus, einen Cyrus; alle „Nationenbefreier", deren aller Sache weniger gerecht war als der Krieg zu Vertreibung der Fremden und zur Einigung Italiens. Gegenüber einem solchen Zweck kommt die Moral für ihn gar nicht in Betracht: „jeder notwendige Krieg ist gerecht", ruft er mit Überzeugung. Er trennt nicht allein durchweg „das politische Phänomen vom moralischen" und „die Kunst des Staatsmannes von dem individuellen oder privaten Charakter dessen, der sie ausübte", wie Villari sehr richtig bemerkt; er erhob sich nicht nur nicht, um ein anderes Wort seines neuesten Biographen anzuführen, bis zu dem Gedanken, daß das Staatsoberhaupt das Gewissen des Volkes darstellen soll, — er legt überhaupt auf die Moral, wie wir sie be­ greifen, keinen großen Wert: Achtung des Lebens und des Eigentums der Mitmenschen, Treue, sei es eheliche, sei es dienstliche, Dankbarkeit, Wahrhaftigkeit, soweit es das praktische Leben angeht, hatten für ihn wie für seine Zeitgenossen tells aufgehört, tells noch nicht an­ gefangen als' gebieterische Sittengesetze zu gelten; die mittelalterliche Moral war untergegangen, die moderne war noch nicht begründet. Es war ein Interregnum, währenddessen die italienische Menschheit nur zwei Gott­ heiten anerkannte und verehrte: die Schönheit und die

Wahrheit, daher auch eine Zeit der Kunst und der Wissen­ schaft, die der größte Dichter des Jahrhunderts, Angelo Poliziano, unabsichtlich in einem Worte kennjeichnete, als er an Marstlio Ficino schrieb: „Du suchst das Wahre, ich aber das Schöne in den Schriften der Alte»; unsere Werke ergänzen sich wechselweise und sind wie die zwei Teile eines und desselben Ganzen." Im praktischen Leben ließ man die entfesselten Kräfte der menschlichen Natur sich bekämpfen, wie sie sich im Tierreich bekämpfen. „Ahmen wir der Natur nach, so können wir nicht fehlgehen." Wie die Frauen, selbst die besten und höchstgebildeten, von allen menschlichen Natür­ lichkeiten unbefangen redeten, wie sie Macchiavellis „Mandragola" oder Kardinal Bibbienas „Calandra" anhörten, ohne zu erröten, wie noch eine Margarete von Navarra, Franz" I. literatenfreundliche Schwester, Rabelais" un­ flätigste Zoten mit Wohlgefallen las, so bewunderten die Männer ganz laut die List und Härte eines Ludwigs XL, die Heuchelei und Gewandtheit eines Ferdinand des Katholischen, wenn sie nur ihren Zweck erreichte«. Alle Fürsten und Staatsmänner jener Zeit aber würden heut­ zutage als die verabscheuungswürdigsten Verbrecher gelten, und es ist auch nicht eine einzige Ausnahme zu machen: Ferrante von Neapel, Julius II. und Leo X., Lodovico il Moro, selbst Lorenzo der Erlauchte, Heinrich VII. und Heinrich VIII. von England, Karl V., ja auch der „gute" Ludwig xii. und der „ritterliche" Franz !., aller Keinen Tyrannen und Demagogen Italiens nicht zu gedenken, handelten auf dieselbe Weise. Und wie der Kannibale keine Gewissensbisse hat, wenn er seine Feinde verzehrt, so hatten Fürsten und Staatsmänner jener Zeit keine Ahnung von der Verwerflichkeit ihrer Handlungen: einen

unbequemen Nebenbuhler mit List j« fangen, sich seiner durch Gift oder Dolch zu entledigen, einem Bundesgenossen die Treue brechen, galt für nicht schlimmer als heutzutage irgendein parlamentarisches Manöver, wie Koalition feindlicher Fraktionen, geheime Gunsiversprechungen, Eisenbahnkonzesstonen usw. Soweit Macchiavelli auch sein Zeitalter überragte, ein damals unbekanntes moralisches Gefühl vermochte auch er nicht zu hegen. Erst die Reform und damit zusammenhängend die Neugestaltung des Katholizismus erweckten wieder jenes zeitweise vollständig verfinsterte moralische Bewußtsein. Macchiavelli kannte nur eine praktische Tugend, die virtu Käs tSoxnv, vermöge deren erst Assyrer, dann Meder, Perser, Griechen, Mazedonier, Römer die Welt beherrscht hätten und welche Italien wiederfinden müsse; er sucht fie im Volke wiederzuerwecken, indem er die Volksbe­ waffnung in Scharnhorsts Sinne predigt; er sucht sie bei den Mächtigen wachzurufen, indem er ihren Ehrgeiz erweckt. Daß die wahre, dauerhafte Macht, die staatliche wie die individuelle, auf der Sittlichkeit beruht, d. h. auf der Selbstentäußerung, mit welcher die einzelnen einem Höheren sich hingeben, und auf der Mäßigung, die sie ihren Begierden und Leidenschaften aufzuerlegen wissen, daran dachte er nicht, konnte er nicht denken; und hier ist seine Grenze. Kein Denker vor oder nach ihm hat die Natur des gesellschaftlichen Menschen und des Staates, wie sie waren und zum Tell noch sind, besser durchschaut nls Macchiavelli; was sie sein sollten und könnten, hat er aicht gesehen. Ist aber Macchiavelli noch heute in diesem unserem modernen Italien, das, theoretisch wenigstens, so ganz anderen Grundsätzen huldigt, noch so populär, so ist's.

weil niemand dem italienischen Patriotismus eine bered­ tere Stimme geliehen hat als er, der Patriotismus aber, in Italien mehr noch als in anderen Ländern Europas, das stärkste Gefühl des 19. Jahrhunderts ist, ein Gefühl, von dem selbst der Priester mit fortgerissen ist. „Dies Land scheint dazu bestimmt zu sein, die toten Dinge wieder zu erwecken, wie wir es an der Poesie, der Malerei und der Skulptur sehen", ruft der alte Colonna in jenem herrlichen Werke über die Kriegskunst, das in der Form an Ciceros de Amicitia und de Senectute erinnert, sie aber an Schwung und Tiefe weit hinter sich läßt; und jene Worte des greisen Kriegers, der die römische Heeres­ einrichtung wiederhergestellt wissen möchte, wiederholt sich noch heute im Innersten seines Herzens jeder Italiener, zu welcher Partei er auch gehören mag. Mehr als je aber träumten sie in der Zeit, da sie ohnmächtig darniederlagen, von ihrer einstigen Größe, und wie Costmo Ruccellais Vater, der, „da er die Tugenden der Alten nicht üben konnte, wenigstens die Bäume pflegte, welche das Altertum am meisten liebte", — so versenkten sie sich in die Er­ innerung ihrer großen Vergangenheit, stets eingedenk, daß Italien es war, welches die drei universellsten Mächte der Weltgeschichte geschaffen: das römische Reich, das römische Recht, die römische Kirche.

Torquato Tasso. „Das Volk hat jene Stadt zur Stadt gemacht," sagt Leonore von Sanvitale über Florenz, „Ferrara ward durch seine Fürsten groß". Die echte Fürstenstadt in der Tat, und die erste: ein Stuttgart, ein Karlsruhe des 15. Jahrhunderts; ein Palast, um den sich eine Stadt baut, wie in Versailles, aber ein Palast, den wuchtige Tore verschließen, hohe dicke Türme verteidigen, tiefe Gräben umziehen. Die Idee der mo­ dernen Monarchie ist hier unter Gefahren entstanden, ist hier kämpfend gewachsen, hat sich hier trotz mächtiger Feinde zur schönen Blüte entfaltet; freilich barg die Blüte auch das Gift und reifte nie zu der Frucht, welche sich anderwärts aus ihr entwickelte, der Frucht des modernen Nationalstaates. Von allen Fürstenhäusern Italiens war das der Este, das einzige, welches alle Bedingungen einer nationalen und legitimen Dynastie in sich vereinigte: es war das älteste aller regierenden Häuser, es war italienischen Ur­ sprungs, es war aus dem Feudaladel hervorgegangen. In allen übrigen monarchischen Staaten Italiens stamm­ ten die Fürstenfamilien von fremden Eroberern, bürger­ lichen Emporkömmlingen oder glücklichen Abenteurern her; und dieser ihr Ursprung ging meist nicht über das 15. Jahrhundert zurück, das heißt er war zur Zeit der Renaissance noch ein Selbsterlebtes für die meisten Jta-

liener. Alle tragen den Charakter der Tyrannis; für legitim galten nur die Regierungen des Papstes, die über, lebenden Republiken und — das Herzogtum Ferrara. Früh hatten die Este, ähnlich wie die Kapetinger, durch Gewalt und List, Erbschaft und Heirat, klugen Geiz und klügere Verschwendung ihre Macht erweitert, ihr Ansehen befestigt, die Meinung bestochen. Von Petrarca bis auf Ariosto, von Guarino dem Humanisten bis auf Guarini den Dichter, von Bojardo bis auf Bembo hatten die aus, gewählten Geister dieses Jahrhunderts sich an der Sonne von Ferrara erwärmt, ihren Glanz gepriesen. Auch das Verhältnis des dienenden Adels zum Fürsten war hier schon hundert Jahre vor Tasso ein ganz ausgebildetes. So ward der kleine Hof von Ferrara erst das Vorbild aller übrigen Höfe Italiens; dann empfing Madrid mittel, bar, über Neapel, den Einfluß und suchte das spanische Ideal nationaler und religiöser Einheit mittels der in Italien ausgebildeten Organisation zu verwirklichen. In St. Germain und Versailles wird nun dieses monarchi, iche Ideal, dessen Wesen spanisch, dessen Gestalt italienisch sst, ein selbstbewußtes, durchdachtes, das man systematisch durchzuführen unternimmt. Nur hier gelingt es ganz; die Übersetzungen ins Englische und Deutsche, welche Karl II. und Königin Anna, Friedrich l. und August der Starke, welche hundert andere versuchen, bleiben hinter dem Original zurück, obschon in allen noch die Famllien, ähnlichkeit mit den Ahnen in Ferrara lebt. Der größte Dichter der neuen Zeit schaut die letzte Blüte der dem Untergang geweihten Flora; er entwirft ein Bild davon, das treuer und lebendiger nicht gedacht werden konnte, und gibt ihm die heimische Erde von Ferrara zum Schau, platz: ich meine Goethe und seinen Tasso.

Man ist wohl davon zurückgekommen, Goethe Mangel an historischem Sinn vorzuwerfen; allein man ist noch nicht dazu gelangt, ihn als den deutschen Dichter anzu­ erkennen, der mehr als alle andern den rückwärts gekehr­ ten Seherblick des Historikers besaß. Kaum in Götz und Egmont aber ist die klare historische Anschauung und ob­ jektive Wiedergabe wunderbarer als in Tasso. „Trägt der Dichter nicht die ganze Menschheit mit allen ihren Ver­ hältnissen in seiner Brust?" fragt Klingers Dichter auf des Weltmanns Zweifel an seinem Verständnis des öffent­ lichen Lebens, und wer hätte sie vollständiger in sich ge­ tragen als Goethe? Man hat gesagt, er habe Weimar mit italienischen Namen geschildert: das ist nun insofern wahr, als eben in Weimar das Wesen des ferraresischen Hofes noch einmal auflebte; die ganze Gestalt dieses Lebens aber gehört Italien, gehört dem 16. Jahrhundert an. Nicht allein das Kostüm, die zufälligen Tatsachen, die verteilten Rollen, die Zeichnung der ganzen politischen Lage der Halbinsel sind von seltener historischer Genauig­ keit (man denke nur an Antonios Schilderung des römi­ schen Treibens), auch die Gefühle und Gedanken sind die eines Jahrhunderts, wo die Kunst die höchste, alles durch­ dringende Tätigkeit ist, einer Nation, in der aufbrausende Leidenschaftlichkeit und reizbarste Empfindlichkeit stets mit natürlicher Anmut und stillschweigender Anerkennung der gezogenen Gesellschaftslinien wie des gegebenen Glau­ bens Hand in Hand gehen: ja der ganze Sigisbeismus des folgenden Jahrhunderts ist schon in seinem edelsten Kerne hier im voraus angedeutet. Wenn das alles nicht den schärfsten Sinn bekundet für die Geschichte und was sie bewegt, so wüßte ich wahrlich nicht zu verstehen, was man unter Geschichte verstanden wissen will.

Als Torquato Taffo, ei» einundzwanzigjähriger Jüng­ ling (1565), an den Hof von Ferrara kam, war dieser schon in seiner Nachblüte. Die Sitten waren milder als zur Zeit Ariosts; die Hand fuhr nicht mehr so rasch nach dem Dolche; die feine wie die grobe Zote, an der sich noch des ersten Alfonsos Schwester, die geistreiche Jsabella Gon­ zaga und ihr geistlicher Bruder, Kardinal Hippolyt, so gerne erfreut, wäre von den Schwestern Alfonsos 11., Lukrezien und vornehmlich Eleonoren, nicht mehr gedul­ det, geschweige denn genossen worden; die gesetzgeberische Tätigkeit der Akademien hatte schon begonnen und ihre Wirkung auf Sprache, auf Gedanken nicht verfehlt. Auch in geistlichen Dingen verstand man keinen Spaß mehr, wie zu den Zeiten Messer Lodovicos; Reform und Tridentinum hatten bitteren Ernst in die Religion gebracht; die Macht des Fürsten endlich war eine unumschränktere geworden, seit die letzten Reste des Vasallentums unter­ drückt waren; selbst die Willkür- und Gewalttat des Monarchen — und Alfonso II. ließ es an solchen nicht fehlen — nahm den Charakter der Gesetzlichkeit an: eine gefällige Justiz räumte die Unbequemen weg, welche ein Jahr­ hundert früher vom Bravo aus der Welt geschafft wurden. In solchen Zuständen war nichts, das Taffo hätte ver­ letzen können. Sohn eines alten Höflings und von reinstem Adel, brachte er die zwei ersten Erfordernisse zum ehrenvollen Hofdienste mit auf die Welt. Eine sorgfältige, durchaus klassische Bildung hätte es ihm mög­ lich gemacht, den ersten Platz in der strengsten Akademie einzunehmen. Von enthusiastischer Frömmigkeit, war er doch der alten Kirche durchaus treu, und keineswegs zum Grübeln über ihre Satzungen aufgelegt, brauchte er das Los Renatens von Frankreich nicht zu befürchten.

welche weder das Andenken des mächtigen Vaters noch das des Gatten vor der Verbannung durch den eigenen Sohn schützte, da sie der neuen Lehre huldigte. Eine hoch­ gespannte Natur, welche Liebe und Freundschaft gleich der Dichtkunst nur als reine hohe Flamme zu empfinden vermochte, fühlte sich der junge Taffo in Gesellschaft der schon reifen Lukretia und der kränkelnden Eleonore, der „Schülerin des Plato", in einer Region, wo alles Ge­ meine schwand; anerkennungsbedürftig schlürfte er hier den vollen Becher feinsten und berauschendsten Lobes, kredenzt von zartesten Händen. Und doch ging er zugrunde. Das Ausschlaggebende für das Glück des Menschen ist eben weder Geist, nicht einmal immer der Charakter, noch weniger die Umstände, sondern das Temperament. Und furchtbar hatte das Geschick den armen Taffo heim­ gesucht. Welches auch das Unrecht Alfonsos gewesen sein mag — und es war groß —, wie viel auch die Höflinge und Nebenbuhler am Dichter verbrochen haben mögen: die letzte Ursache seines furchtbaren Schicksals war sein Temperament. Auch Ariosto hatte mit Neidern zu tun, auch er diente einem unzuverlässtgen Fürsten; auch er liebte die Freiheit; aber er wußte, wo und wie man sie genießt, als er jenes bescheidene Häuschen baute, das an Goethes Gartenwohnung gemahnt: -sich

Parva, sed apta mihi, sed nulli obnoxia, sed non Sordida, parta meo sed tarnen aere domus.

Auch Leonardo da Vinci, der Goethe des 15. Jahr­ hunderts, wußte Fürstengunst und Freiheit des Sinnes miteinander zu vereinen, Tassos Herdernatur wäre überall unglücklich gewesen. Er wird uns darum nicht minder rühren: die Selbstverschuldung des Unglücks ist ja eher

ein Grund mehr zum Mitleiden in den Augen derer, die im Wesen des Menschen sein Verhängnis erblicken: aber einsehen muß man, daß das Unglück selbstverschuldet ist, damit man nicht ungerecht werde gegen die Umgebung des Unglücklichen. Goethe hat ihn uns allen vertraut gemacht, uns gelehrt, ihn zu bedauern, zu lieben, zu be­ wundern. Die Dichtkunst keines Volkes bietet ein Bildnis von so entsprechender Ähnlichkeit und Individualität bei so allgemeiner Gültigkeit: und es wäre mehr als dreist, neben ein solches Gemälde noch eine magere Handzeichnung stellen zu wollen, die doch ihr Bestes von dort entlehnen müßte. Nur über die Menschen und Dinge, welche vor und nach jener von Goethe zum Vorwurf genommenen Krise in Lassos Leben eingriffen, dürften wenige Worte am Platze sein, welche in der Geschichte jener Spätrenaissance und in den italienischen Charakter einige Ausblicke eröffnen. Italien ist das Land, das 16. Jahrhundert die Zeit der Gegensätze. Neben würdelosester Servilität begegnet man auf Schritt und Tritt selbst heute noch dem empfind­ lichen Ehrgefühl eines Bernardo Tasso, der auch nicht eine Gunst annimmt, die er nicht zurückzahlen könnte, stolz wie ein spanischer Hidalgo unter seinen Lumpen — muß er doch manchmal den Morgen über im Bette bleiben, um sein einziges Paar Strümpfe selbst zu flicken — und gleich Horatio „ ... so gut vermischt. Daß er Fortunen nie zur Pfeife diente. Den Ton $u spielen, den ihr Finger griff."

So Bernardos Weib, die schöne Portia, fast noch ein Kind, als fie dem Fünfzigjährigen die Hand reicht; wie verschieden ist fie von den gelehrten Damen Bolognas, den prachtliebenden Courtisanen von Rom, den vorneh-

men Prinjessinnen von Ferrara, den etwas hansbackenen Florentinerinnen. Eines indes hat auch sie mit allen Frauen der Zeit gemein: die tiefe und ausgedehnte Bil­ dung, welche nie der weiblichen Anmut den geringsten Eintrag tut. Dagegen treten die Scheu vor allem gesell­ schaftlichen Treiben, der Sinn für Haus und Familie, die schwärmerische Auffassung der Mutterpflichten, die wir bei Porti« finden, wie es in der Natur solcher Tugenden liegt, seltener jutage; sie sind darum nicht minder italienisch; ja ein gewisser Idealismus der Keuschheit, der von der Konvention ganz unabhängig ist und den uns Shake­ speares Jmogen so reizend verkörpert, wird vielleicht nirgends öfter angetroffen als in dem Lande, dessen Weiber nicht mit Unrecht als die leidenschaftlich-sinnlichsten dar­ gestellt werden; und er behält hier auch in der Ehe ein mädchenhaft anmutiges Wesen, das bei den transalpinischen Frauen mit dem Gürtel und dem Schleier meist zu ver­ schwinden pflegt. Das Eigentümliche des italienischen Charakters ist eben immer die unverwüstliche Natürlichkeit und Anmut bei höchster Zivilisation, oft sogar bis in die Korruption hinein. Am auffallendsten vereinigt Alfonso II., als ein rechter Vertreter seiner Zeit, die schroffsten Widersprüche in sich. Obschon bezähmt, lebt doch auch in ihm die Bestie noch, deren Losbrechen die Tage der ersten Renaissance mit solchem Schrecken erfüllt hatte. Manchmal erinnert er an die Borgia selber; aber er hat, was die Borgia nicht hatten: ein hohes Bewußtsein seiner Pflichten als Herr­ scher, eia feines Gefühl für Kuastschönheit, Sinn für Maß im Luxus; er ist vor allem schon viel konventioneller als die Menschen vom Ende des vorhergehenden Jahrhunderts, und hier liegt der Hauptunterschied zwischen 1580 und

1480. Die Renaissance war eine Befreiung von den Banden des Mittelalters, den geistigen wie den sittlichen; je nach der Natur eines jeden kam in dieser Freiheit das Lieblichste und das Furchtbarste des Menschen in gleicher Naivetät ans Sonnenlicht. Der Masse der Menschen aber bangte vor dieser Freiheit der Starken an Geist oder Charakter; und sachte nahmen sie die alte Arbeit wieder auf, das alte unsichtbare und doch so feste Gespinnst, mit dem die Schwachen die Starken umspinnen, und welches so recht eigentlich die Arbeit und der Zweck aller Zivilisation ist: ganz leise wurden die positiven Satzungen der Religion wiederhergestellt und durch eine straffere Organisation ihrer Dienerschaft in Sicherheit gebracht; ganz leise knüpfte der Staat seine augenblicklich gelockerten und zerrissenen Fäden wieder fester zusammen, richtete die Gesellschaft ihre zeitweilig umgeworfenen Wälle wieder auf; ganz leise ward Kunst und Poesie wieder unter Regeln und Gesetze gebannt, die sie strenger binden sollten als die ritualistischen Fesseln des Mittelalters. Nur die Wissen-schaft entging der gewandten und schlauen Hand der Konvention, die auch sie unterbinden wollte, und rettete so die reine Flamme des von keiner weltlichen Rücksicht gebundenen, nur dem Befehle der Wahrheit gehorchenden, nur die Erkenntnis der Natur verfolgenden Menschen, geistes: Galilei reicht Newton die Leuchte, die er von Kopernikus erhalten: vitai lampada tradunt. Für alle die aber, welche nicht der Wissenschaft dienen und doch ihre Persönlichkeit nicht aufgeben wollen, gilt es nun, ihre Kraft in den Banden des Gesetzes, oft des irratio, nellsten, zu betätigen; es gilt für den Staatsmann zu zeigen, daß er auch ohne Gewalt und unter Achtung der Verträge die ihm gestellte Aufgabe, die Macht und Größe

seines Staates zu erweitern, erfüllen kann; für den Priester anch unter der Last starren Dogmatismus' die Innigkeit des Glaubens und die Milde des Tuns zu bewahren; für den Künstler, für den Dichter stch den Formen an­ zubequemen, die ihm mit Recht oder Unrecht eine despotische Gesetzgebung auferlegt, wie der Mensch fortan die Aufgabe hat, in seinen gesellschaftlichen Beziehungen stch die reine Menschlichkeit zu wahren, ohne gegen die Sitte zu verstoßen. „Denn das Gesetz nur kann uns Freiheit geben." Es ist das Tragische und Charakteristische in Tasso, daß er, der im Staate, in der Religion, in der Dichtkunst vor allem, das Gesetz so unbedingt anerkannte, stch ihm so unbedingt unterwarf, dem gesellschaftlichen Gesetze sich nicht unterzuordnen vermochte. Nie fällt es ihm ein, weder an dem Rechte des fürstlichen Absolutismus zu zweifeln noch an den Satzungen der Kirche zu rütteln; korrekter, klasstscher, akademischer war wohl kein großer Dichter mit Ausnahme Racines; und wie herrlich gelang es ihm, in diesen Grenzen sein ganzes Genie zu entfalten. Scheint es doch, als habe er durch diese engen Schranken mehr gewonnen als verloren. Wie klar und durchsichtig ist sein Satzbau, der jede Inversion verschmäht, wie tadel­ los die Verstfikation, die doch nie dem Reime und dem Tonfall zuliebe dem Gedanken ein Opfer auferlegt; wie keusch, fast nüchtern ist sein Ausdruck: gegen die Kühn­ heit Dantes gehalten, meint man fast Virgil neben Homer zu lesen; und doch welche Macht des Affekts, welche Kraft der Erscheinung weiß der Dichter mit diesen anscheinend so verbrauchten Mitteln hervorzubringen: er braucht stch eben den Ausdruck nicht erst zu schaffen, wie Homer und Dante, und er vermißt stch nicht, eine neue Sprache sich zu schaffen, wo eine fertige Sprache zu seinen Diensten

ist: nur Dichter des Verfalls glauben im Ausdruck innovieren zu müssen, eben weil sie die ihnen abgehende Ori­ ginalität durch eine erzwungene zu ersetzen das Bedürfnis fühlen. Neben diese Korrektheit der Werke Tassos halte man die Abenteuerlichkeit seines Lebens. Der frühreife Knabe, der mit sieben Jahren einer der Ersten in der obersten Klasse des Jesuitengymnasiums zu Neapel war, muß schon zehnjährig Schwester und Mutter verlassen; er ist zwölf Jahre alt, als er diese verliert, und nun beginnt das unstäte Wandern sein Leben lang, von Rom, wo sein Vater Dienste genommen, nach dessen Vaterstadt Ber­ gamo, von Bergamo an den Hof des Herzogs von Urbino, dessen Erstgeborener sein Spielgefährte wird, von Urbino nach Venedig; dann als Student nach Padua, wo er fünfzehnjährig sein großes Heldengedicht Rinaldo ver­ öffentlichte. Von Padua geht's an die Universität Bologna und von da zurück nach Padua, dann zum ersten Male an den Hof von Ferrara, an den von Paris und Fontaine­ bleau und wiederum nach Ferrara. Hier bleibt er am längsten; denn er lebt eigentlich voll nur im Frauen­ umgang, und hier hat er jede Art desselben wie Goethe in Weimar; und auch er läßt sich's nicht entgehen, bei aller hohen Liebe für Eleonoren, mit allen anmutigen Hoffräuleins zu „miseln", um den Weimarer Kunstausdruck zu gebrauchen. Das Unglück will nur, daß er seine hohe Liebe allzu hoch, bis auf die Stufen des Thrones, bringt und rasche Gegenliebe fordert. Was Wunder, wenn der Boden auch hier bald zu heiß für ihn wird und es ihn auch in Ferrara nicht recht mehr duldete; wiederholt geht er nach Venedig und Padua, flüchtet endlich zu seiner Schwester nach Sorrento; hält^s aber -tllebrand, Zeiten und Menschen.

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auch hier nicht lange aus, kehrt bald, wie der Schmetter­ ling, jur Flamme von Ferrara jurück. Von neuem ver­ sengt, entflieht er von neuem, diesmal weniger weit, erst nach Urbivo, dann nach Turin; von dort ausgeliefert, wird er auf Alfonsos Befehl ins Hospital gebracht, wo er jetzt endlich sieben Jahre lang gezwungene Ruhe haben sollte. Taffo war vierundreißig Jahre alt, als die furcht­ bare Zeit für ihn begann, wo nunmehr der Geist statt des Körpers die irre Wanderung fortsetzen sollte. Auch nach Cecchis Untersuchungen bleibt das wahre Motiv der Ver­ folgung Tassos unklar. Mit einer einfachen Tyrannen­ laune erklärt sich die Handlungsweise des einst so vom Dichter eingenommenen Fürsten nicht. Es ist möglich, daß er ihn dem Medici, mit dem er zerfallen, nicht gönnte, seine bitterböse Satire fürchtete, — wahrscheinlicher, daß er den oft Gestörten wirklich für wahnsinnig hielt, daß er vielleicht fürchtete, er möchte ihm selber in einem solchen Anfalle nach dem Leben trachten. Jene Zeit aber kannte keine andere Behandlung des Wahnsinns, als die Haft. Übrigens darf auch diese nicht nach dem furchtbaren Ver­ ließe beurteilt werden, das man in Ferrara dem Reisenden als den Kerker Tassos zeigt — the cave which is my lair, wie Byron singt. Daß Taffo in einem solchen, fast luftund lichtlosen Raume keine Freunde hätte empfangen, keine neuen und alten Bücher lesen, nicht unzählige Briefe empfangen und schreiben, noch seine Dialoge und seine polemischen Schriften gegen die Crusca verfassen können, liegt auf der Hand; und da kein Zweifel sein kann, daß er die sieben Jahre seiner Haft im Spital von Santa Anna zubrachte, so steht es frei, an andere Räume dieses

großen Krankenhauses zu denken; jedenfalls muß man sich das Gefängnis des Dichters nicht wie die admini­ strativen Kasernengefängnisse und Irrenhäuser von heute vorstellen. Als er endlich, man kann sagen auf die Fürsprache Italiens, aus der langen Haft entlassen wird, fängt das rastlose Reisen von neuem an. Kaum ist irgendein Mensch unserer Eisenbahnzeit so viel unterwegs gewesen, als Tasso zu Fuß, zu Pferd, zu Schiff, immer fast ganz mittellos. Unausgesetzt wandert er neun Jahre lang von Ferrara nach Bergamo, dann wieder nach Ancona und Loreto, nach Rom, nach Neapel. Kaum glaubt man ihn in Florenz auf dem lieblichen Hügel von Montoliveto glücklich ein­ gerichtet, so ist er auch schon wieder in Rom. Hier eröffnet sich ihm eine Aussicht auf dauernde Stellung, aber in der Furcht, sich zu binden, eilt er nach Mantua und so geht^s bis an sein Ende; wohl sieben Mal pilgert er in den letzten Jahren von Rom nach Neapel, von Neapel nach Rom. Hier wartet seiner die höchste, schönste Ehre, die er sein Leben über geträumt: wie Petrarca soll er gekrönt werden auf dem Kapitol. Da bricht er endlich zusammen, noch ehe seine Hand den ersehnten Kranz berühren kann. Jeder Reisende kennt das reizende Klostergärtchen von San Onofrio, wo sein gehetzter Körper, sein rastloses Gemüt endlich die Ruhe fanden. Nur der Tod konnte diese wilde Seele bändigen, die nicht Reichtum und Ehre, nicht Armut noch Strafe, nicht Liebe noch Freundschaft hatten zähmen können: die Freiheit, die Tasso suchte, ist nicht von dieser Welt, und den, der ohne diese Freiheit nicht leben kann, zermalmt die Welt langsam aber sicher mit ihrem unwider­ stehlichen Räderwerk. Wohl ihm und wohl der Menschheit,

daß der Dichter juweUen dem furchtbar ungleichen Kampfe entging und in die friedlichen Regionen seiner geträumten Welt flüchtete, ans der er uns jene süßen Gesänge zurückbrachte, welche die Ohren und die Gemüter der Menschen beglücken werden, so lange jene noch dem Wohllaut der Sprache, diese noch der Zartheit des Gefühles zugänglich ynd.

John Mikron.

Die Mitte des 17. Jahrhunderts war die Zeit, in der unter heftigen Wehen der moderne Engländer geboren wurde, wie sich der Nationalcharakter und die Weltan­ schauung des Italieners in der ersten Hälfte des 16., die des Franzosen am Anfange des 17. Jahrhunderts, die des Deutschen zwischen 1775 und 1825 unterm sich kreu­ zenden Doppelstrome unserer klassischen Literatur und der Befreiungskriege dauernd festgesetzt haben. Nicht als ob jede dieser vier Nationen nicht auch vorher schon eine bestimmte Physiognomie und eine bestimmte Lebensbetrachtung besessen hätten; aber in den bezeichneten Epochen ist eine gänzliche Umwälzung darin vorgegangen: die Grundzüge sind wohl geblieben, aber die ganze Richtung ist verändert worden. Man denke an das Italien Pulcis und Lorenzos und vergleiche es mit dem Italien Tassos und Alfonsos IL; man frage sich, ob ein Franzose von 1877 in seinen politischen, religiösen und sittliche» Begriffen nicht mehr mit seinem Vorfahren von 1650 gemein hat, als dieser mit seinem eignen Vater, der vielleicht noch die Religionskriege unter Heinrich IV. mitgemacht hatte; man vergegenwärtige sich, was den Deutschen noch zur Zeit Franckes, ja Klopstocks bewegte, und wie er heute zu Religion und Staat steht. Nirgends aber war diese Umwälzung tiefer als bei der eng­ lischen Nation. Das heitere Altengland der elisabethischen Zeit

war wie weggeschwemmt nach der „großen Rebellion vnd der ruhmreichen Revolution". Und es ist nicht zu leugnen, die eng­ lische Revolution mag dem Staate und dem „zoon politikon“ sehr förderlich gewesen sein, der Kunst und dem Menschen war sie's nicht. Der Engländer ist starrer, enger, unliebens­ würdiger daraus hervorgegangen. Die englische Religion, deren charakteristische Eigenschaft die Langweiligkeit ist, hat auch ihrem Bekenner etwas von dieser ihrer Eigenschaft mitgeteilt. Der Puritanismus hat nicht nur die dem angli­ kanischen Protestantismus des 16. Jahrhunderts völlig unbekannte Heuchelei in die freie, wahrheitsliebende Nation eingeführt; er hat auch den falschen Begriff eingebürgert, der Shakespeares Zeit ganz fremd war, daß der Ernst (earnest) das ganze Leben durchziehen müsse, während es doch Hunderte von Verhältnissen gibt, in denen er geradezu vom Übel ist und über die nur die Heiterkeit und der Leichtsinn hinaushelfen. Ist ja doch in einem Sinne die ganze menschliche Existenz auf letzteren gegründet, ohne ihn undenkbar: wer möchte nur eine Stunde weiter leben, das Leben genießen und handelnd ins Leben eingreifen, wenn er nicht den Tod vergäße, der ihn und seine Liebsten stündlich ereilen, alle seine Unternehmungen vereiteln kann, wenn er nicht vor allem die Augen vor den Leiden, dem Elend, den Sorgen verschlösse, welche unausgesetzt und überall, nicht allein die Mitmenschen, sondern auch alle fühlenden Wesen foltern? Der heilsame, fruchtbringende Ernst ist gerade das Gegenteil vom unterschiedslosen Ge­ wohnheitsernst; er besteht darin, nichts leichtsinnig zu unter­ nehmen, ganz und mit voller Seele bei dem zu sein, was man unternommen, dabei die höchsten Anforderungen an sich zu stellen; keineswegs aber immer an Tod, Sünde und Leiden zu denken.

Dabei ist noch überdies der englische Ernst immer mürrisch »nd hart: ihm liegt ja nicht das Mitleiden, sondern das Pflichtgefühl jugrunde. Selbst die Schönheitsbedürftigen unter den Engländern, welche, wie Land unter Karl I. oder Dr. Pnsey unter Königin Viktoria, die Reli­ gion gern auch den Sinnen gefälliger und einschmeicheln­ der machen möchten, gehen immer mit einer gewissen verständigen und methodischen Härte zuwege, die wieder ihr ganzes Unternehmen verdirbt. Denn alles tritt bei der Nation sofort in den Verstand und wird vom Willen ergriffen: das reine, willenlose Anschauen eines Shake­ speare ist ihr durchaus fremd, ja unverständlich geworden; daher auch die ganz äußerliche rubrikenhafte oder aber stofflich-utilitarische Art ihrer Kunstauffassung, welche einen armen Jtalienbewohner, so sagt man, bisweilen schier zur Verzweiflung bringen kann, überhaupt darf man vielleicht sagen, daß der Protestantismus, selbst unser reicherer lutherischer, den Verstand wohl emanzipiere, den Charakter stähle, aber auch oft den künstlerischen Sinn ersticke, ja sogar manchmal das Gemüt — dieCharitas — verdörre, recht im Gegenteil vom Katholizismus, wenigstens dem nichtjesuitischen, der so recht die liebens­ würdigen Tugenden und Untugenden der menschlichen Natur, freilich meist auf Kosten fürs tätige Leben wichtigerer Tätigkeiten, fördert und entwickelt. Am schlimmsten aber von allen Protestantismen ist in der Hinsicht der englische: ich sage der englische, als ob's nur einen Protestantismus in England gäbe. Der Puritanismus hat eben allen Sekten des Jnselreiches, selbst der hochkirchlichen, seinen herben und traurigen Charakter aufgedrückt. An niemand hat diese trockenste aller Religionen, welche im 17. Jahrhundert dort zur Herrschaft kam, mehr

verbrochen als an Milton, dem Dichter. Seine ganze BUduog war noch die der Renaissance gewesen. Er selbst war in seiner Jugend von seltener Vorurteilslosigkeit und Unabhängigkeit des Geistes, jedem Eindruck offen, geneigt jede Form anzunehmen und gewandt in ihrer Behand­ lung: bald sollte es sich zeigen, nur allzu zugänglich den Strömungen der Zeit. Das Altertum, die gerade damals zu^ihrem großen Aufschwung ansetzende Naturwissenschaft, Italien hatten seine Jugend begeistert; an Spenser und Shakespeare hatte er sich gelabt und herangebildet. Wenn er sich auch schon als Jüngling mit einer gewissen mädchen­ haften Hoheit und Reinheit von dem etwas wüsten Treiben der lärmenden Universitätsgenossen abwandte, so nahm diese Sittenstrenge doch noch nicht das rauhe Gewand an, das sie später trug. „Ich bestärkte mich", sagte er selber, „in der Ansicht, daß, wer es nicht vergeblich unternehmen will, hohe Dinge würdig zu besingen, selbst vorher ein wahres Gedicht sein müsse, d. h. ein harmonisches Urbild der besten und rühmlichsten Züge." Aber an Platos Idealismus suchte sich damals sein Geist zu diesem hohen Ziele zu erheben; sein Dichtersinn gefiel sich in den Hellen Bildern des Hellenentums und liebte es, dessen Gestalten heraufzubeschwören; seine Jugendgedichte bewegen sich «och ganz in den sinnlich-schönen Vorstellungen des griechi­ schen Heidentums. Er plante ein Heldengedicht in Tassos Sinne, das in der Person König Arthurs und der Ritter seiner Tafelrunde Vaterland und Christentum verherrlichen sollte, ohne die Heiterkeit der antiken Fabel zu verleugnen. Da kam der Sturm, der diese Welt verwehte, und der schon zum Priester jenes holden Evangeliums der Schönheit Geweihte stand nicht an, den Stein auf die Ideale seiner Jugend zu werfen, die leuchtende hellenische Bildung auf

dem Altar des finstern, alttestamentlichen Judengottes jn opfern, ja die Blasphemie auszustoßen, Homer und Sophokles hätten nnr von Palästina ihre Inspiration erhalten und fast ungeschickt nachgelallt: „That rather Greece from us (Hebräer) these arts derived, 111 imitadet, while they loudest sing The vices of their deities and their own In fable, hymn or song, so personating Their gods ridiculous and themselves past shame. Remove their swelling epithets, thick laid As varnish on a harlot’s check; the rest, Thin sown with aught of prosit or delight, Will far be found unworthy to compare With Sion’s songs, to all true taste excelling.4* (Paradise Regained, IV.)

Gerade die unnachahmliche Schönheit solcher gottes­ lästerlicher Verse zeigt am beredtesten und eindrücklichsten, was der Puritanismus hier im Keim vernichtet hat. „Welch' edler Geist ward hier zerstört", möchte man mit Ophelia rufen; denn es ist nicht etwa ein Dichter zweiten Ranges, ein Byron, ein Heine oder ein Muffet, es ist einer der wenigen Hochbegnadeten der Menschheit, deren die Welt­ geschichte kaum einen in einem Jahrhunderte verzeichnet, der hier von seinem rechten Wege abgelenkt und in die Wüste der protestantischen Scholastik geführt worden ist: dazu einer, der zum Genius die klassische Bildung mitbrachte und durch sie die Sicherheit des Geschmacks, die den meisten seiner Landsleute abgeht. Nie ist Milton von der echt englischen Krankheit des Euphuismus angesteckt worden, der selbst ein Shakespeare seinen Tribut zahlen mußte und die, keineswegs von den Italienern oder Spa­ niern entlehnt — denn lange vor Kavalier Marini und selbst vor Gongora blühte der Marinismus und Kulterianismus

in England —, von Lily bis auf Dryden und von Dryden bis ans Swinbnrne die englische Poesie infizierte. Kein englischer Dichter, auch selbst Shakespeare nicht, handhabte den Vers meisterhafter als der Sänger des „Verlorenen Paradieses", keiner hatte den Alten das Geheimnis der Komposition, das den Werken der englischen Muse so ganz abgeht, besser abgelauscht als er. Und diesen an­ geborenen und erworbenen Beruf zum Nationaldichter hieß ihn die „neue Lehre" aufgeben, indem sie ihn in ihren Sklavendienst preßte! Tantum religio potuit suadere malorum!

Selbst die Gräuel der Albigenserkriege und der Bartholo­ mäusnacht, die irischen Metzeleien und die anglikanischen Verfolgungen, so viele andere Verirrungen frommen Eifers, die dem wirklich Frommen manchmal alle positive Religion als ein Werk des Bösen vorkommen lassen, er­ scheinen fast weniger empörend als solcher Geniemord: denn sie haben wenigstens nur die Leiber, höchstens solche Geister getötet, die doch nie ein nationales Epos gedichtet hätten. Man mißverstehe mich nicht. Niemand kann das „Verlorene Paradies" aufrichtiger bewundern, als Schreiber dieses, der sicherlich nicht zu denen gehört, so da dem Apfel vorwerfen, kein Pfirsich zu sein. Hier aber ist auf den edlen Pfirsichbaum ein ärmlich Apfelreis gepfropft worden, und gerade die wundervollen Gesänge, in denen die mensch­ lichen Freuden der ersten Eltern, die menschlichen Leiden­ schaften des Fürsten der Hölle geschlldert werden, lassen einen bedauern, daß nicht auch die übrigen Teile, statt theologischer Argumentationen über die Prädestination und die göttliche Natur des Sohnes, ebenfalls die Schönheit der irdischen Natur und die Bewegungen des menschlichen

Gemüts besingen. Sehr richtig sagt sein Biograph'): „Man bemerkt, wie der jugendliche Milton gleichsam ans der Grenzscheide von zwei Zeitaltern steht. Abgestoßen von der Frivolität und Manieriertheit der Modedichter, flüchtet er sich zurück zu jenen reinen Gebilden der Renaissan­ cezeit, wie sie Spensers Hand vorzüglich geschaffen hatte. Er fühlt sich durch die Gemeinsamkeit des Enthusiasmus für das sittlich Schöne und die schöne Sittlichkeit besonders zu ihm hingezogen; aber dieser Enthusiasmus erscheint eben nicht mehr in der vollen Freiheit der früheren Epoche. Die Kraft der puritanischen Ideen, dem Entscheidungs­ kampf mit den feindlichen Mächten nahe, droht ihn von großen Gebieten ganz abzulenken und ausschließlich auf das der didaktisch-religiösen Dichtung hinüberzuleiten. Es bedurfte nur einer lebhaften Teilnahme an den gewaltigen Kämpfen, die sich vorbereiteten, einer stärkeren Durch­ dringung mit den biblischen Vorstellungen, um Milton aus dem letzten Dichter der englischen Renaissance zum ersten, zum größten des Puritanismus zu machen." Allein der Puritanismus ist eben seinem Wesen auch unkünstlerisch, und es ist durchaus nicht einerlei, ob man der Dichter der Renaissance oder des Puritanismus ist, ob man die Artussage oder den Sündenfall besingt. Die gestaltlosen Religionen Moses' und Mohammeds werden nie einem epischen oder dramatischen Dichter sein können, was die gestaltenreichen Mythologien des Altertums und des Mittelalters ihm sind. Jene sind ihrer Natur nach abstrakt und subjektiv, während die Anschauungen dieser konkret und objektiv sind. Nicht alles an MUtons schwächeren Seiten soll darum dem Puritanismus zugeschrieben werden. Wie schon oben *) Milton und seine Zeit von Alfred Stern.

1877.

gesagt, hat die Revolution den englischen Geist nur gewalt­ sam und ausschließlich in eine Richtung geworfen, nach der er schon immer hinübergeschielt. Wäre es nicht in ihm gewesen, nie hätte die Revolution ein solches Resultat juwege gebracht, denn man ändert so wenig einen Volks­ charakter, als einen individuellen, es müßte denn sein, daß neues Blut hinzukommt, eine Kreuzung stattfindet. Ein Zug tiefer Melancholie geht durch die englische Poesie vom ersten Tage an, ist schon im Beowulf fühlbar; ebenso jenes wunderbare Gefallen an personifizierten Abstrak­ tionen, welches so recht das Kennzeichen verständig ange­ legter Naturen ist. Schon im Mittelalter bewegen sich 9GB. Langlands Dowell, Dobetter und Dobest in ähnlichen Formen wie zu Miltons Zeiten Bunyans Christian und Faithful; selbst der Dichter der Renaissance kat' exochen hat in seiner „Feenkönigin" zahlreiche Figuren, die an Miltons Sin und Death erinnern. Aber diese Tendenz wird fortan vorherrschend, ja despotisch, und reißt selbst solche Genien mit sich fort, die, wie Milton, anders angelegt waren und an lebendigen Gestalten ihre Freude gehabt hätten. Ein Blick auf seine Jugendgedichte beweist das ja zur Genüge. Milton war, so paradox das auch klingen mag, weich und biegsam wie Wachs, wo es sich um An­ nahme poetischer Formen handelte: in Italien machte er italienische Sonette, in Cambridge Elegien, in Horton Schäfergedichte; und er wußte selbst in dieser willkürlichen Kuvstform, welche trotz ihrer Künstlichkeit ganz Europa über zwei Jahrhunderte lang beherrschte, das Größte zu leisten. Es ist kein Zweifel, daß nur die Strömung der Zeit ihn auf jenes undankbare Gebiet der biblischen Poesie fortriß: und ich wiederhole, England, die Welt hat dabei unendlich viel eingebüßt.

Aber selbst vom politischen Standpunkte aus, was hat die Welt, was hat England dabei gewonnen, daß Milton zum republikanischen Puritanismus übergetreten? (das Wort ist ganz gerechtfertigt: Milton war Presbyteri­ aner und Monarchist gewesen); seine unsterbliche Flugschrift für die Preßfreiheit hätte er auch ohne diesen Übertritt schreiben können und seine Verteidigung des englischen Volkes gegen die Anklage des Königsmordes hätte auch jeder andere „Redacteur aux affaires dtrangeres” — denn das etwa war sein Amt unter Cromwell — anzu­ fertigen vermocht. Ich muß gestehen, obschon ich sehr wohl weiß, welcher Mißdeutung ich mich dadurch aussetze, daß ich Miltons Leben nicht anders denn als ein ver­ fehltes ansehen kann. Er war für den Journalismus und den Staatsdienst so wenig als für die Ehe und die Familie gemacht. Eine nervöse, erregbare Künstlernatur wie Milton mußte allein leben. In ihm war nichts von Shakespeares und Goethes olympischer Heiterkeit; und doch umgingen auch diese, in höherer Einsicht der Bedingungen wahrer Künstlerexisienz, die Ehe im gewöhnlichen Sinne, der eine, indem er mit beiden Füßen heraussprang, der andere, indem er sich in antiker Weise eine schöne Sklavin zuge­ sellte. Milton machte seine drei Eheftauen — und hinter­ her noch seine eigenen Töchter — alle mehr oder minder unglücklich, ohne doch selber irgend etwas davon zu haben. Ebenso hatte er zur öffentlichen Tätigkeit viel zu viel Leiden­ schaft und Reizbarkeit und zu wenig wirklichen Mut. Wir müssen uns nicht durch Macaulays Phantasie-Mllton ver­ wirren lassen: ein Mann, der in der Blüte der Jahre (33), unabhängig in seinen Vermögensverhältnissen, noch un­ verheiratet, in allen Leibesübungen ausgezeichnet, zu

Hause bleibt, wenn die ganze Nation j« den Waffen eilt, um ein großes Freiwilligenheer zu bilden, und es vorzieht, mit der Feder zu fechten und die Gegner aufs heftigste mit Worten anzugreifen, dann aber, sobald die Gefahr herannaht, die Fahne des Pamphletisten in die Tasche steckt und den Dichter herauskehrt, der wie Pindar von den Kämpfern verschont zu werden bittet, weil er über ihren rohen Zielen stehe; ein politischer Schriftsteller, der nur dann die Feder ergreift, um ein staatliches oder juristisches Prinzip zu verteidigen, wenn er sein persönliches Interesse verletzt sieht, dem es erst einfällt, gegen die Un­ lösbarkeit der Ehe zu schreiben, als ihm seine Ehe un­ erträglich geworden, erst dann die Zensur bekämpft, als sie an seine Schriften rührt, den dann eine frühe Erblindung auch körperlich zur öffentlichen Tätigkeit unfähig macht, ein solcher Mann, der dem Staate nur kleine Dienste, der Muse die höchsten zu leisten vermochte, hätte offenbar besser dieser gelebt als jenem. Man soll ihm daraus aus jener nervösen Scheu vor roher Gefahr und jener Reiz­ barkeit für alles, was die Person anging, so wenig ein Verbrechen machen als aus seiner Blindheit; auch Goethe blieb zu Hause, als die Nation an den Rhein zog, und auch Schopenhauer baute, wie fast alle Menschen, seine Welt­ anschauung auf feine persönlichen Stimmungen; — aber sie hatten Selbsterkenntnis genug, sich vom Schlachtfelde des öffentlichen Lebens fernzuhalten und keine Kriegs­ hymnen zu singen: ein Tyrtäus muß an der Spitze des Dordertreffens schreiten; und wer für die Freiheit reden will, muß nicht nur den Mund öffnen, um pro domo zu sprechen. Auch als Privatmensch mag Milton nicht sehr behaglich gewesen sein und zu jenen großen Unausstehlichen gehört

haben, die wie Michel Angelo mit niemandem auskommen können und stets auf die Umstände und Umgebung schieben, was in ihnen selber liegt. Es ist derselbe hochgespannte Idealismus, das Bewußtsein, nur Großes zu wollen, die Verachtung der Kunstgenossen, die aus ihrem Priester­ tum ein Handwerk und einen Gelderwerb machen; dieselbe hehre Einsamkeit auch, zu der sie die Schwingen ihres Genius tragen und zu der ihnen niemand folgen kann. Miltons Charakter ist eigentlich kein in England gewöhnlicher. Zwischen den zwei Strömungen, welche in fast allen eng­ lischen Dichtwerken fühlbar sind und als deren edelste Vertreter in der Literaturgeschichte wir Fielding und Richardson ansehen, zwischen dem gesunden, lebenslustigen, humo­ ristischen, sinnlichen, zur raschen Tat aufgelegten, klassisch gebildeten Engländer, und dem ernsten, trockenen, ver­ ständigen, tugendhaften^und langweiligen „Seifmade“ wandelt der hohe reine Idealist Milton wie ein Fremdling, ein Beethoven der Poesie, der mit seiner Umgebung nichts zu tun hat, nichts von ihrem Treiben versteht. Anstatt aber wie Beethoven dieser Umgebung den Rücken zu kehren und vornehm allein in der Welt seines eigenen Innern zu leben, läßt er sich verführen, tellzunehmen an" dieser Gesellschaft und an den Leidenschaften, die sie bewegen. Weder er noch seine Kunst haben dabei gewonnen.

Defoe und Robinson Crusoe.

Es gibt wohl wenige, denen Robinson Crusoe ein unbekanntes Buch geblieben wäre; allein wir pflegen es in jener glücklichen Lebensperiode ju lesen, wo uns Dichtung für Wahrheit gilt und wir uns nicht sonderlich um die Ursachen, denen ein Geisteserjeugnis seine Entstehung verdankt, um die Umgebung, in der es ans Licht trat, um die allgemeinen Ideen, welche etwa verborgen darin liegen mögen, oder gar um die Absichten des Verfassers bekümmern. So wiederholt sich in der Kindheit jedes einzelnen die der Völker: die Namen der Dichter aller unserer großen Volksepen sind ja nur darum unbekannt geblieben, weil das Interesse der Erjählung für die jugendliche Einbildungs­ kraft so groß war, daß man dabei den Erzähler völlig aus den Augen verlor. Gibt es nun irgendein Werk, von dem man dies sage« kann, so ist es gewiß „Robinson Crusoe". Es existiert wohl kaum ein Kind, welches den Namen Defoe kennt oder dem es darum zu tun wäre, ihn zu kennen; ja, wieviel Erwachsene wird es geben, denen es bekannt wäre, daß der Verfasser des Robinson eine bedeutende politische Rolle gespielt hat, daß er ein Wohltäter der Menschheit, ein Märtyrer der Freiheit war, daß er fast allein und ohne andere Hilfe die Vereinigung Schottlands mit England bewirkte, daß er der eigentliche Stifter der Banken, Sparkassen und Versicherungsgesellschaften war, und daß er den Mut, mit dem er gegen die Religions­ tyrannei angekämpft hatte, am Pranger büßen mußte?

I.

Daniel Defoe wurde im Jahre 1661 zu London geboren, wo sein Vater Metzger war. Er selbst entschied sich, nachdem er vorübergehend an den geistlichen Stand gedacht hatte, für den Kleinhandel, und ward StrumpfWarenhändler. Er gehörte also entschieden jener „höheren Stufe der niederen Klassen" an *), deren Lobpreisung er dem Vater des Robinson in den Mund legt, an der Stelle, wo er durch die Schilderung der Vorteile des bürger­ lichen Lebens den jungen Seefahrer von seinen aben­ teuerlichen Neigungen abzuwenden sucht. Bis an sein Ende blieb er der überzeugte Vertreter jener Mittelklassen, welche die Kraft und die Größe Englands ausmachten: ja, der getreue Typus jener Volksschichte, welche, der An­ sicht Horace Walpoles zufolge, im achtzehnten Jahrhundert England allein besaß. Schließlich gehörte er einer Fraktion seiner Nation an, welche, trotz ihrer geistigen Beschränktheit und ungeachtet mancher äußeren Lächerlichkeiten, diesem glücklichen Lande zugleich die religiöse Freiheit und den Glaubenseifer zu bewahren wußte: er war dissenter. Daß die Reaktion unter Karl dem Zweiten die dissenters keineswegs sanft behandelte, ist wohlbekannt; daher sich Daniel berufen fühlte, deren Sache zu verteidigen, als er kaum die Feder zu halten vermochte. Schon in seinem siebzehnten Jahre gab er eine beißende Satire gegen die Hochkirche und deren Tyrannei heraus: das „Speculum Crapegownorum“. Einige Jahre später, als der schöne Monmouth seinem Bruder, dem des Kryptokatholizismus beschuldigten Jakob IL, den Thron Englands streitig machte, ließ sich der jugendliche Defoe unter seiner Fahne *) The upper Station of the lower life. Htllebranb, Zeiten und Menschen.

xo

anwerben und kämpfte tapfer für den Verteidiger der religiösen Freiheit. Nach dem Mißlingen dieses Unter­ nehmens war auch er genötigt das Vaterland zu verlassen, und durchreiste Frankreich, Italien und Deutschland, um endlich nach England jurückjukehren, wo er sein Geschäft wieder aufnahm. Es gelang ihm aber nicht, sich von seinem lebhaften Anteil an den öffentlichen Angelegenheiten loszureißen, und Dinge, welche einige der berühmtesten Staatsmänner entweder nicht sahen oder nicht sehen wollten, entgingen dem scharfen Blicke des Londoner StrumpfWarenhändlers nicht: wie, zum Beispiel, daß die dissenters nur deshalb von der Politik Jakobs des Zweiten geschont wurden, weil man dadurch einen Zwiespalt in dem pro­ testantischen Lager herbeizuführen und somit die Rückkehr zum Katholizismus anzubahnen hoffte. Defoe verfaßte zwei Flugschriften, wovon die eine an die Hochkirche, die andere aber an die puritanischen Sekten gerichtet war, und in denen er alle beschwor, angesichts des gemeinschaftlichen Feindes ihren Zwisten zu entsagen und einig zu bleiben. Wie es in solchen Fällen zu gehen pflegt, wurde er von den einen wie von den andern als ein Verräter an­ gesehen: er teilte das Schicksal, das alle wirklich bedeutenden Männer, die sich mit den Weltangelegenheiten befassen, in gewissen Augenblicken trifft — er blieb allein. Zum Glück stand man damals am Vorabend der Herrschaft der unbeschränkten religiösen Freiheit, und es war Defoe beschieden, den Parteigänger, nach dem er sich in allen Volksklaffen vergeblich umgesehen hatte, endlich auf dem Throne selbst anzutreffen. War die Handlungsweise Wilhelms des Dritten von ritterlichem Standpunkte aus keine untadelhafte, so leistete dieser Monarch dem Reiche, das er seinem Schwiegervater soeben gewaltsam entrissen

hatte, doch den unschätzbaren Dienst, die Ansichten Defoes in bezug auf religiöse Toleranz in größtem Maßstabe zu verwirklichen. Wie er aber selbst sich irgendwo geäußert hat, „hilft das Talent leider nicht immer im gewöhnlichen Leben. Das Quecksilber läßt sich nicht in laufende Münze verwandeln. Während es sich als vorzüglich geeignet erweist, Gold aus der Mischung zu sondern, wird es un­ brauchbar, sobald man es in eine feste, gediegene Gestalt bringen will". Defoes Geschäfte verwirrten sich immer mehr, so daß er sich genötigt sah, seine Zahlungen gerade zu der Zeit einstellen, wo seine Ideen zur Geltung gelangten. Er wurde bankerott und mußte sich auf eine Zeitlang nach Bristol flüchten, wo er nur geistiger Arbeit nachging und ihm die Furcht vor den Gläubigern nur Sonntags aus­ zugehen gestattete, der bekanntlich ein Tag der Ruhe und Sicherheit für englische Schuldner ist. Diesem Umstand ver­ dankte er auch die Benennung „Sunday gentleman“, welche dem Herrn im schwarzen, wohlgebürsteten Fracke, mit der sauberen Perücke, mit der untadelhaften Krause und Manschetten, den man alle Sonntage in den öffentlichen Gärten spazieren gehen sah, von den Bewohnern jener Stadt beigelegt wurde. Während dieser Verbannung wurden die ersten Hefte seines „Essay on Projects“ ver­ faßt, worin er ökonomische Maßregeln, welche heutzutage allgemein anerkannt und angewandt sind, zum ersten Male anempfahl, wodurch denn auch die Aufmerksamkeit des Königs auf den Verfasser gelenkt wurde. Wilhelm ließ sich den verkannten Colbert vorstellen und belohnte ihn königlich, was jedoch zur Besserung der finanziellen Lage Defoes nicht sonderlich beitrug; da er, allen Ge­ wohnheiten seiner Zeit zum Trotze, es für gut fand, seine

Gläubiger, die er mit viel weniger hätte abfinden können, bis auf den letzten Heller zu bezahlen. Seinen Lebens­ unterhalt erwartete er fortan lediglich von seiner Feder. Die ungerechten, wiewohl — was auch Lord Macanlay sagen mag — sehr erklärlichen Angriffe, denen der aus­ ländische König während seiner ganzen Regierungszeit aus­ gesetzt war, find wohlbekannt. Defoe wurde der eifrige Verteidiger seines Gönners, indem er, in einer von un­ erhörtem Erfolge gekrönten Flugschrift *), den Engländern zu beweisen suchte, selbst der beste Patriot habe gewiß nicht weniger normännisches, sächstsches, dänisches und römisches, als britisches Blut in den Adern: somit das Blut allein die Nationalität nicht ausmache. Wir geben zu, daß der Beweis kein unwiderleglicher ist; allein er hatte deshalb nicht geringeren Erfolg, wie dies ja vorkommt; und der Verfasser der populären Schrift schloß von nun an mit dem königlichen Beschützer eine aufrichtige, ja beinahe innige Freundschaft, deren er fich jedoch nicht lange erfreuen sollte, da Wilhelm schon im nächsten Jahre starb. Ein Jubelschrei der Erlösung ertönte in der Hochkirche, der die Notwendigkeit der Toleranz als eine Knechtschaft erschienen war. Die Königin Anna bewahrte im Herzen stets eine Schwäche für die Tories, wenn sie auch, infolge der Marlboroughschen Siege, so lange ein Whig-Ministerium dulden mußte, und sie erwies fich diesem Wiedererwachen des hochkirchlichen Despotismus durchaus günstig. Von neuem sah fich unser Pamphletär genötigt, die Offensive zu ergreifen. Die Wirkung seiner nächsten Flugschrift *) war eine außerordentliche. Damals war nur er imstande, die gefährliche Waffe der Satire so mächtig zu schwingen. *) The trae-born Englishman. 2) The shortest way with the dissenters.

1703.

»ES wäre Sünde", sagte der Verfasser, „mit einer so erregten Sache fernerhia noch Schert t« treiben. Wir werden «ns keines na, gestörten DolkSfriedens je erfreuen können, so lange wir nicht den Geist des Whiggismns und des religiösen Schisma vernichtet haben «erden. Wir haben in diesem Augenblicke die Gelegenheit, die Feinde der Kirche bis auf den letzten Man« aujurotten; ich sage nicht gerade, zu, man solle fie mit Feuer und Schwert vertilgen: aber ich sage: delenda est Carthago. Nicht Geld, und Gefängnisstrafen muß mau ihnen auferlegen; hier könne« nur noch Galgen und Galeeren wirksam sein. Die Zeit der Märtyrer ist nunmehr vorbei. Sie müsse» durch Gewalt zu unserer Kirche jurückgeführt «erden. Zwischen Kirche und Galgen werden ste schon nicht schwanken."

Die Gegner ließen sich zwar anfänglich fangen; ein Mitglied der Hochkirche empfahl sogar das Buch seinen Getreuen als die erbaulichste Lektüre nächst der Heiligen Schrift. Aber es währte nicht lange, so fühlten andere, weniger naive Leute als der Theolog von Cambridge die ganze Tragweite dieses Buches, und Defoe mußte sich ver­ stecken. Darauf wurden Verleger und Drucker verhaftet: ein unfehlbares Mittel, den Aufenthalt des Verfassers zu erfahren, da ihm der Gedanke unerträglich sein mußte, andere die Strafe für etwas erleiden zu sehen, was er allein verbrochen hatte. So stellte er sich den» aus freien Stücken. Zu einer bedeutenden Geldstrafe, sieben Jahre« Gefängnis und drei Tagen Pranger verurteilt, machte er seinen Kerker zu einer Rednerbühne, seinen Pranger zum — Ptedestal des Siegers. Die Londoner Bevölkerung — damals leidenschaftlich liberal gesinnt, wie sie fünf Jahre später leidenschaftlich unduldsam wurde — strömte durch blumenge­ schmückte Straßen nach dem Denkmal der Schande; Männer und Frauen, Kinder und Greise drängten sich bis zum Verurteilten und legten Kränze zu seinen Füßen nieder; der Pöbel riß sich um „die Hymne an den Pranger, ver­ faßt von Daniel Defoe", welche die Zeitungsverkäufer mit

lauter Stimme feilboten. Andere Satiren, andere Flug­ schriften gingen aus jenem Gefängnis hervor, welche die Entrüstung des Volkes nährten; ja, es wurde zur eigentlichen Geburtsstätte des modernen Journalismus. Die Zeitschrift, welche Defoe während seiner Gefangenschaft (anno 1704) stiftete'), war die Mutter des „Tatier“, des „Spectator“, des „Guardian“ und des „Englishman“. Der damalige Chef des Ministeriums, Harley, später Lord Oxford, wußte aber den Wert des Mannes wie des Schriftstellers anzuerkennen; er erlangte dessen Begnadigung trotz des Widerstandes der Königin und gebrauchte ihn sowohl zum Heile Englands wie zum eignen Vorteile. Unter andern schwierigen Missionen, mit welchen Defoe beauftragt wurde, war die, eine Vereinigung Schottlands und Englands vorzubereiten. Der anspruchslose Gesandte fand anfangs in Edinburg nur schlechten Empfang; allein der moralische Einfluß seines Charakters, der Zauber seines sympathischen Wesens, die überzeugende Kraft seiner Rede — kurz, die Überlegenheit seiner genialen Persönlichkeit müssen so bedeutend gewesen sein, daß sie hinreichten, um alle Hindernisse zu überwinden und die ebenso wichtige wie heikle Aufgabe, deren vortrefflicher, bescheidener Ge­ schichtschreiber er werden sollte *), innerhalb eines Jahres glücklich zu lösen. Dieser Moment war der Höhepunkt seines Glückes wie seiner Popularität. Tausend Anekdoten, von denen die Mehrzahl allgemein bekannt sind, legen davon Zeugnis ab. Indes sollten weder sein Glück noch seine Popularität lange dauern; während er sich der zweiten entzog, entging ihm das erste. Er hatte sich nach dem Norden von England *) The Review. 2) The History of the Union, etc. 1709.

zurückgezogen, um eine „Allgemeine Geschichte des Handels" zu schreiben, als, bei dem Sturze des Whig-Kabinetts, die Tories, welche von der Königin öffentlich und heimlich be­ günstigt wurden, eine Rückkehr der Stuarts befürchten ließen. Dergleichen jakobitische Umtriebe waren stets ein Schlachtruf für den Sohn der Rundköpfe. Er hätte wohl eine Meinung verhehlen können, um die ihn niemand fragte; allein „derjenige", sagte er, „welcher die Wahrheit auf seiner Seite hat, ist sowohl ein Narr als ein Feigling, wenn er Angst hat, sie zu bekennen". Er eilt also nach London, wo er Schlag auf Schlag drei feurige Flugschriften zu­ gunsten des Hauses Hannover herausgibt, unter anderen das berühmte „Jure divino“, das er Seiner Majestät, dem gesunden Menschenverstände, widmete. Keine Verfolgungen hielten ihn zurück: „Steinern« Mauern", ruft er aus, „sind kein Gefängnis, eiserne Gitter sind kein Käfig; unter Gittern und Steinblöcken bleibt eine unschuldige Seele frei und findet eine friedliche Einsiedelei."

Wirklich ließ das Gefängnis nicht ans sich warten; und wenn auch die Thronbesteigung Georgs des Ersten ihn bald befreite, so tat doch der neue König — der so viele verfolgte Staatsmänner, welche seinetwegen drei Jahre Märtyrertums in ihren Londoner Palästen und Landschlössern erduldet hatten, mit Ehren überhäufte — nicht das geringste für den armen Soldaten, der stets ans der Bresche gestanden. Mit fünfundfünfzig Jahren, krank, ohne Mittel, sah er sich genötigt, ans die streitende Laufbahn zu verzichten, aber nicht ohne Herzzerreißen vermochte sich der alte Krieger von seinen Waffen zu trennen; man muß seine letzte politische Schrift, sein Glaubens­ bekenntnis, den „Aufruf an die Ehre und an die Ge­ rechtigkeit" lesen, um zu fühlen, was er dabei litt:

„Ich habe |u viel gelebt und ju viel von der Welt gesehen, um Großes von ihrer Ehrlichkeit zu erwarten. Man hat mich schändlich behandelt, und selbst die dissenters, die ich mit Lebensgefahr verteidigt habe, konnten mir meine Ehrlichkeit und Ehrbarkeit nie verzeihen. Aber ich bi» ei» Stoiker. Möge den» der Pöbel seinen Haß nicht ver­ schwenden ans einen Lebensmüden, der gegen Belohnung, wie gegen Straf«, gleichgültig ist. Mein Leben ist nur durch ein Wunder gerettet «orde»; die Armut hat sich an meine Schritte geheftet, ohne mich je töten tu könne». Ich habe mehr Philosophie in der Schule des Lebens als auf den Schulbänken gelernt. Ich lernte die Herrlichkeit und das Entsetzen der Welt kennen; denn ich ging aus einem Kerker in das Kabinett eines Königs. Ich habe Vermögen und Ansehe» geopfert, um meine Ehre und meine Grundsätze t» retten; und ich bereue es nicht. Jetzt lebe ich arm und verachtet; aber ich verachte diese Verachtung. Freude und Friede erfülle» mein Herz. Meine ersten Schtcksalsschläge, eine zahlreiche Familie, meine körperlichen Leiden, die Undankbarkeit meiner Mitbürger, die Angriffe der Neider, die Drohungen der Regierung, die Erinnerung an alles, was ich gelitten habe, verhindern mich nicht, eine reine, ruhige Seele, ein festes entsagendes Herz t« haben." Von nun an beginnt ein neues Leben für Defoe. Gelähmt und in äußerste Armut verfallen, zieht er sich aufs Land zurück, um sein mühevolles Schriftstellerleben fortzusetzen. Hat er aber auf den Kampf, so hat er doch keineswegs auf die Ideen, um die er kämpfte, verzichtet: aus dem leidenschaftlichen Streiter für die Toleranz ist ein Weiser geworden, den die Enttäuschungen nicht bitter gemacht haben. Den politischen Flugschriften folgen nun Werke der Moral, ich möchte fast sagen der Erbauung, dann erfundene Erzählungen: der „Family instmctor“, „Religious Courtship“, endlich im Jahre 1719 „Robinson Anfangs wollte es ihm nicht gelingen, einen Crusoe". Verleger zu finden, bis ihm endlich ein Buchhändler namens Taylor zehn Guineen für jene Bände gab, welche bestimmt waren, den kolossalsten Erfolg zu erleben, der

je einem Buche juteil ward. Eine Auflage nach der anderen verbreiteten es bald in allen Famllien Englands; es währte nicht lange, so las man es in St. Petersburg wie in Paris, in Madrid wie in Berlin, in unzähligen Übersetzungen: selbst die Araber erzählten sich die „Perle des Ozeans". Die Nachahmungen wurden noch zahlreicher als die Über­ setzungen; es gab Robinsons aller Nationalitäten: Schweizer, Spanier, Böhmen, Italiener; aller Professionen: einen Arzt Robinson, einen Buchhändler Robinson; aller Ge­ schlechter: denn es gab auch ein „Fräulein Robinson", ja sogar einen .unsichtbaren' Robinson — in Deutschland allein erschienen von 1729 bis 1760 nicht weniger als sechzig Robinsone. Defoe ahmte sich sogar selbst nach; seine unermüdliche Feder — man zählt 210 Schriften von ihm — brachte innerhalb zehn Jahren das „Leben und die Abenteuer des Kapitän Singleton", „Glück und Unglück von Moll Flanders", „Leben und Abenteuer des Obersten James", „Roxana", „die neue Reise um die Welt", „der englische Kaufmann", „das Leben des Kapitän Carleton" und im geschichtlichen Genre „die Memoiren eines Kava­ liers" und das „Tagebuch der Pest zu London im Jahre 1666"; eine zahlreiche Liste von Büchern, unter welchen mehrere wertvoll sind und die alle den besonderen Charakter der Genauigkeit und Wahrscheinlichkeit tragen, den wir im Robinson so sehr bewundern. Bei der Lektüre des „Tage­ buchs von der Pest zu London" glaubte jedermann in der Tat, es sei ein gleichzeitiges Manuskript aufgefunden worden, und selbst Lord Chatham hielt die „Memoiren eines Kavaliers" für ein geschichtliches Dokument. Im ganzen jedoch fehlte es diesen langen Erzählungen, welche eher zur Unterhaltung als zur Erhebung des Geistes gemacht sind, und in denen uns kein herrschender, großer

Gedanke über die Unvollkommenheit der Form hinweghilft, an allgemein menschlichem Interesse. Es gibt Menschen, welche zum Unglücke bestimmt scheinen. Das Ende Defoes sollte nicht weniger tragisch als sein Leben sein; auch seine Familie war ihm nicht erkennt­ licher als sein Volk. Er hatte ein kleines Vermögen zurück­ gelegt, welches ihm ein sorgenfreies Alter zusichern sollte; da er aber seiner eignen Fähigkeit in Geldgeschäften nicht traute, hatte er dasselbe schon zu seinen Lebzeiten seinem Sohne übergeben, welcher so herzlos war, seinen Eltern die ihnen zukommende, von ihm aufs Ehrenwort versprochene Rente nicht auszuzahlen. Man kann nichts Herzzerreißen­ deres lesen als den letzten Brief des Siebzigjährigen an seinen Schwiegersohn, in welchem er denselben um die Unter­ stützung anfleht, die ihm sein eignes Kind verweigert. Unter anderm heißt es darin: „......... Ach!

Ich bin auf die Klage angewiesen, ich, der ich mich

mitten im größten Trübsale nie beklagte.

Daß mich ein verächtlicher,

verräterischer Feind ins Gefängnis werfen ließe, wäre begreiflich und würde mich nicht wundern; meine Tochter weiß wohl, daß ich schon größeres Unglück als dieses erlebt habe, ohne daß meine Seele davon gebeugt worden wäre. Was mir das Herz aber bricht, ist die Ungerechtig­ keit, die Undankbarkeit, die Unmenschlichkeit meines eigenen Sohnes; diese Wunde will durchaus nicht heilen. Er hat nicht nur seine Familie ruiniert, sondern auch seinen Vater umgebracht.

Ich kranke an einem

Leiden, das ich für sehr bedenklich halte; ich habe Fieber, vielleicht lebe ich nicht mehr lange. Ich kann nicht umhin, meine Schmerzen solchen anzuvertrauen, die unfähig sind, davon Mißbrauch zu machen. Seit ich lebe, hat noch nichts meinen Mut dämpfen können; dies war nötig, um mich zu überwinden!....

Ich rechnete auf ihn, ich baute

auf ihn; ich habe meine beiden armen Kinder ohne Vermögen in seinen Händen gelassen: er kennt kein Erbarmen. Cr läßt ihre sterbende Mutter vor seiner Tür betteln — und er ist reich!...

Entschuldige meine

Schwäche; ich kann nichts mehr sagen, mein Herz ist allzuvoll. Ich bitte Dich sterbend nur noch um eines: wenn ich verschieden sein werde.

beschütze meine Kinder; laß sie nicht länger von seiner Ungerechtigkeit und seinem Verbrechen leiden; werde Du ihr Vater, und wenn Du wir irgend etwas schuldig zu sein glaubst, mir, der ich Dir das Teuerste, was ich auf der Welt besaß, übergab, erlaube nicht, daß meine Kinder mit Füßen getreten werden...........

Meine Einsamkeit ist die voll­

ständigste: die Advokaten verfolgen mich.... aber ich bin dem Ende meiner Reise so nahe, daß ich mich mit dem Gedanken an den nahen Frieden tröste.

Ich nähere mich mit raschen Schritten dem Orte, wo

die Bösen uns nicht mehr beunruhigen und die müden Seelen ausruhen. Ich weiß nicht, ob die Überfahrt eine stürmische, die Reise eine beschwer­ liche sein wird; Gott möge mich unterstützen, damit ich in dieser Er­ gebenheit, von nun an meinem einzigen Besitz, mein Leben beschließe. Ich werde viel gelitten haben, und es gibt jenseits eine Gerechtigkeit!"

Bald darauf verschied er, den 24. April 1731, von seinem Volke, für das er gelebt hatte, vergessen, den Lausen­ den von Lesern, welche sich um sein Werk rissen, ohne an den Verfasser zu denken, eine fast unbekannte Persönlichkeit. Derart war das Leben des Letzten der eifrigen Puritaner, welche unter Karl dem Ersten und Jakob dem Zweiten um den Glauben gestritten hatten: der erste und rührendste unter den Verkündigern der Ideen der Menschlichkeit und Duldung, welche die Ehre des vorigen Jahrhunderts waren. Ein echt englischer Charakter, vermöge des herrschenden Zugs rauher Willensenergie; aber Defoe gebrauchte diesen unbezwingbaren Willen nicht, wie Jonathan Swift, im Dienste des Ich und des Hochmuts, sondern in der heiligen Sache der religiösen Freiheit. Im Streite unermüdlich, aber gern unerkannt, suchte er niemals sich zu erheben oder zu bereichern, indem er für das allgemeine Wohl arbeitete. Ein auffallender Typus jener großen angelsächsischen Bürger, welche, wie Penn oder Franklin, Republiken zu gründen und zu erhalten wußten, ohne sich mit der poetischen Aureole der Helden zu schmücken und indem sie schlichte, ehrliche Bürger blieben. Nein, viel Poesie ist nicht in dieser

dunkle Mittelmäßigkeit liebenden Gestalt und doch, ist es nicht als wären die von Goethe an den Bruder-Dichter, den er in der Blüte des Mannesalters verloren, gerichteten Verse für Defoe geschrieben? „Es glühte seine Wange rot und röter Don jener Jugend, die uns nie verfliegt, Don jenem Mut, der früher oder später. Den Widerstand der stumpfe« Welt beflegt, Don jenem Glauben, der stch stets erhöhter Bald kühn hervordrängt, bald geduldig schmiegt. Damit das Gute wirke, wachse, fromme, Damit der Tag des Edlen endlich komme."

II. Die Begebenheit, welche Defoe den ersten Gedanken seines Robinson eingab, ist eine wohlbekannte. Ein schot­ tischer Seemann, Alexander Seldcraig (oder Selkirk, wie er stch selbst nannte, um wohlbegründeten Nachstellungen leichter ju entgehen), hatte Dampier nach der Südsee begleitet. Da er wegen Verletzungen der Disziplin bestraft wurde, ver­ steckte er stch in der Insel Juan Fernandez, wo sein Schiff angelegt hatte und brachte dort vier Jahre und vier Monate j«. Im Jahre 1709 wurde er von dem Kapitän RogerS aufgefunden und nach Bristol zurückgebracht, wo er im Jahre 1711 anlangte: beiläufig gesagt, ein mehr als hin­ reichender Beweis, daß Defoe ihm nicht, wie man es be­ hauptete, sein Tagebuch während des Bristoler Aufenthaltes entwendete, da der Verfasser des Robinson seit dem Jahre 1691 nicht nach dieser Stadt zurückgekehrt ist. Übrigens hatten die Kapitäne Cook und Rogers bereits im Jahre 1712 Bericht geliefert über Selkirks Abenteuer, Steele hatte des­ selben im „Englishman“ Erwähnung getan, und Robinson erschien 1719. Es versteht sich auch von selbst, daß ein

gänzlich verwildertes Wesen, wie dieser Selkirk «ns von den Zeitgenossen geschUdert wird, absolut unfähig gewesen wäre, ein Kunstwerk wie das in Rede stehende hervorzu­ bringen. Ist es übrigens nötig, die Eingebung Defoes so weit herzuholen? Schwärmte nicht vielmehr die ganze Epoche, in der er lebte, für die abenteuerlichen Erzählungen der outlaws, der Bürgerkriege, der kühnen Weltumsegler, welche unbekannte Meere nach neuen Entdeckungen durch­ schifften, der mutigen Kolonisten, welche alteuropäische Kultur nach jungfräulichen Ländern hinübertrugen? War es nicht die Zeit, wo es einem franzöflschen Abenteurer, unter dem Namen Psalmanazar, gelingen konnte, ganz England während fünfzehn Jahren zu betrügen, indem er ein ausführliches Bild, das er mit Karten und Kupfer­ stichen belegte, von seiner Jnselheimat, der erdichteten Formosa, entwarf? Floß das Geld von ganz Europa nicht in die Hände dieses unverschämten Betrügers, der klug genug war, sich zum Christentum bekehren zu lassen und den Katechismus in eine erdichtete Sprache zu über­ setzen auf besondere Aufforderung des Bischofs von London, der die kostbare Übersetzung sorgfältig in seiner berühmten Bibliothek aufbewahrte. Doch enthielten dergleichen Erzählungen ä la mode kaum mehr als romantische oder Wunderabenteuer, die wohl eine augenblickliche Unterhaltung gewähren, aber keineswegs die Überzeugung einflößen konnten, welche der Geist allein von der Wirklichkeit erhält, und die ihre Zeit nicht überlebten, weil sie keine allge­ meinen Ideen enthielten, und die allgemeinen Ideen es sind, welche einem literarischen Werke Leben verleihen. Im Robinson sollte man zugleich Idee und Wirklichkeit finden. Gewiß ist die Sprache des Robinson eine vnlgäre.

jedenfalls eine unbeholfene, ja ungeschlachte, im Vergleich mit dem präzisen, feinen, eleganten Stile des Zeitgenossen Swift. Überall guckt der Autodidakt, the self-taught man, daraus hervor. Das Geheimnis des Stils wird nur solchen Geistern zutell, die eine kräftige, klassische Bildung ge­ schult und geschliffen hat. Wenn Madame de Sevigne und Lady Montague, Georges Sand und George Eliot die lite­ rarische Vollendung anch ohne diesen Bildungsgang erlangen konnten, so kommt es wohl daher, daß die Überlegenheit, welche eine klassische Erziehung verleiht, vornehmlich in dem Gefühl der Formschönheit besteht: ein Gefühl, welches den Frauen angeboren, ja ein innewohnender Zug der weiblichen Natur ist; während wir Männer es uns mühsam aneignen müssen. Keine noch so treue Übersetzung vermag daher die bei Defoe vorkommenden groben technischen Ausdrücke, häufigen Wiederholungen, stets wiederkehrenden Nachlässigkeiten, verwickelten Sätze ganz wiederzugeben; weil alle sich unwillkürlich bestreben, seinen Stil zu ver­ schönern und zu verdeutlichen. Nehmen wir als Beispiel den ersten besten jener Sätze: den, wo Robinson seine Gefühle schildert, als er sich aus dem Schiffbruch gerettet sieht: „Ich halte es für unmöglich, die Ekstasen und das Entzücken lebhaft auszudrücken, welche die Seele empfindet, wenn fie sozusagen vom Grabe gerettet wird, und ich wundere mich nicht mehr über die Sitte, nämlich daß wenn ein Missetäter, der schon den Strick um den Hals hat, am Pfeiler angebunden ist und auf dem Punkte, in die Luft geschleudert zu werden, und man ihm seine Begnadigung bringt, ich sage, daß ich mich nicht wundere, daß man ihm zugleich einen Chirurgen mitbringt, um ihn zur Aber zu lassen im Augenblick, wo man fie ihm mitteilt, damit die Überraschung nicht die Lebensgeister aus seinem Herzen verjage und ihn überwältige."

Alle diese Nachlässigkeiten sind, nächst den technischen

Ausdrücken, hier charakteristisch: sie bilden die Sprache eines Mannes aus dem Volke wie Robinson, und erhöhen beträchtlich die Wahrscheinlichkeit, deren jedes andere Kunst­ werk entbehren kann, vorausgesetzt daß die Wahrheit nicht geopfert werde, die aber hier wesentlich ist, um eine beinahe unmögliche Voraussetzung annehmbar ju machen. Dasselbe möchte ich auch von der Komposition be­ haupten, welche in diesem rahmenlosen, planlosen Buche, ohne Anfang, Mitte, Ende, Kapitel und Alinea total ab­ wesend ist. Der Künstler will uns das Tagebuch eines Seefahrers geben, und alles trägt dazu bei, die vollständigste Illusion bei dem Leser hervorzurufen. Die Einzelheiten sind so massenweise angehäuft, daß sie fast langweilig werden. Man fragt sich mit Herrn Taine, ob der Verfasser sich wohl die Mühe gegeben hätte, alle diese Merkwürdigkeiten zu erzählen, wenn sie nicht wahr gewesen wären. Wozu die umständliche Aufzählung seiner Schrotkörner; wozu die genaue Beschreibung der Form so vieler improvisierten Werkzeuge; wozu die Angabe der Breiten- und Längen­ grade, wenn das alles erfunden wäre? Aber es ist nicht bloß die Schilderung der Einzelheiten, selbst der gleichgültigsten, nicht allein der GendarmenProtokoll-Stil, die umständlichen, legalisierten Inventarien, die unglaubliche Genauigkeit, die keine geographische oder klimatische Angabe wegläßt — kurzum, es ist nicht die Abwesenheit aller Kunst, die hier zur vollendetsten Kunst wird, die Art positiver Phantasie, welche die wunderbare Wahrscheinlichkeit dieser Erzählung hervorbringen; sondern es ist noch weit mehr und ganz besonders die Feinheit der psychologischen Beobachtung und der ernsthafte Ton. Als Robinson wieder zu sich selbst kommt und nach dem heftigen Fieberanfall, der seine Tage in Gefahr gebracht hatte:

»mußte es notwendig, nach der Sonne, drei Uhr nachmittags

des

folgenden Tages sein; ich bin jetzt sogar fest übertrugt, daß ich den ganten folgenden Tag und die Nacht darauf geschlafen haben muß

bis

ungefähr drei Uhr des übernächsten Tags; sonst wüßte ich nicht, wie ich in meiner Berechnung der Wochentage einen Tag hätte ver­

lieren können: denn hätte ich ihn bei der Herüber- und Hinüberfahrt verloren, so müßte es mehr als ein Tag gewesen sein; stcher aber ist es, daß ich einen Tag in meiner Berechnung verlor und nie gewußt habe wie."

Das psychologische Studium der Gefühle der Gemüts­ bewegungen und der Gedanken trägt noch mehr als dieser unverwüstliche Ernst dazu bei, den Leser zu überzeugen, daß es sich hier um Wirklichkeit, nicht um Erdichtung handle. Ich spreche hier nicht von den meisterhaft, in großen Um­ rissen gezeichneten, untergeordneten Charakteren — dem naiven, guten Freitag, welcher alle die guten und schlechten Eigenschaften eines Kindes besitzt, den zeremoniellen, feier­ lichen Spaniern, dem rohen englischen Matrosen Will Atkins — sondern ich weise hauptsächlich auf den unnach­ ahmlichen Charakter des Helden selbst und, in demselben, auf die Entwickelung hin, die mit ihm in der Einsamkeit stattfindet. Bis dahin ist Robinson wohl ein lebendes Wesen, was nicht jeder Romanschreiber von seinem Helden sagen kann. Er ist uns von Anfang an sympathisch, trotz seines Eigensinns, seiner Unbändigkeit, seiner Unzartheit, sogar trotz der Art von Fatalität, welche ihn treibt und, bei jedem andern als Defoe, ihn mit der Freiheit zugleich seiner Individualität beraubt haben würde. Aber die scheinbar unüberwindliche Schwierigkeit beginnt, als Robin­ son allein ist. Wie sollen dramatische Empfindungen erregt werden unter so einfachen Umständen? Wie sollen Gefühle analysiert werden, die aus einer Lage entstehen, welche der Schriftsteller unmöglich selbst erfahren haben kann?

Defoe ist nichtsdestoweniger das Eine wie das Andere vollkommen gelungen: er hat, in der Einsamkeit, in die er seinen Robinson verbannte, ei« Drama geschaffen und wahre Situationen geschildert. Alles setzt sich in Bewegung, wie vom Zauber gerührt. Die Notwendigkeit führt von Erfindung zu Erfindung; die Begebenheiten beleben fich und greifen ineinander; eine Handlung voll Interesse fesselt unsere Aufmerksamkeit. Bald ist es die Angst vor wilden Tieren, die Freundschaft, die ihn mit einem Papagei verbindet, der Kampf mit den Elementen; bald eine Krank, heit, die er ohne Beistand eines Nebenmenschen durch, zumachen hat, die Gefahren einer Seereise, ein Erdbeben, das ihm Entsetzen erregt, oder aber ein Getreidesamen, der zufällig auf den Boden fällt, unmittelbar befruchtet wird und ihn mit Dankbarkeit erfüllt; das Erblicken eines Fußtapfens im Sande endlich: alles das verkettet fich aufs engste; des Lesers Herz bebt mit Besorgnis für den armen Teufel, der sich schon von den Wilden verzehrt steht. Wie ist diese Wirkung der Einbildung fein beobachtet und glücklich wiedergegeben! Bis dahin hatte Robinson zufrieden und fast sorglos dahin gelebt; wie der Anblick des Samens, welcher unter seinen Füßen Frucht treibt, zum ersten Male in seiner Seele den Begriff Gottes erweckte, der bis dahin durchaus abwesend war, so stürzt ihn der Anblick dieser Spur menschlichen Daseins in alle Schrecken einer ein, samen Einbildungskraft. Von diesem Augenblicke an schläft er nicht mehr, er, der seit sieben Jahren neben dieser selben Gefahr gelebt hatte, ohne daran zu denken; der Ge, danke läßt ihn nicht mehr los in den langen, schlaflosen Nächten: er vergrößert ihn über die Maßen, er wird ihm zur immerwährenden Präokkupation. „There is not hing good or evil“, sagt Hamlet, „but thinking makes it so“; tztUebrand, Zeiten und Menschen.

so wie für Hamlet Dänemark, soll für Robinson seine Insel fernerhin ein Gefängnis sein. Doch sind dies am Ende Gemütsbewegungen, welche unter gleichen Bedingungen wohl ein jeder durchmachen würde; was aus Robinson eine Individualität macht, ist sein persönlicher Charakter, der wahre Typus des un* erschrockenen Angelsachsen, der sich die Wüsten unterwirft und in alle Weltgegenden den Samen unserer alten Zivili* sation streut. Er besitzt dessen unabschreckbare, rauhe Energie, dessen unermüdliche Geduld, dessen Mut unbe* jwingbarer Hartnäckigkeit. Derselbe Drang nach neuen Empfindungen, der Kapitän Spence nach den Nilquellen treibt und den jungen Lord Seymour in der Umarmung eines indischen Bären sterben heißt, hat auch Robinson die Lust nach Abenteuern eingegeben. Kaum gerettet, führt sie ihn stets zu neuen Prüfungen; einmal allein, da er seiner sich selbst zugezogenen Lage auf keine Weise entkommen kann, weiß er sich ihr anzubequemen: der unermüdliche, methodische Fleiß, welcher seiner Raffe eigen ist, kommt ihm zu Hilfe, und allein, ohne Beistand, bezwingt er die Welt. Wie jene kühnen Pioniere der Kultur in der neuen Welt, eignet er sich von neuem, eine nach der anderen, alle menschlichen Erfindungen an; eins nach dem anderen, lernt er alle Gewerbe: wird Ackersmann, Schneider, Zimmermann, Tischler, Töpfer — gebt ihm Menschen dazu, so wird er eine Kolonie gründen! Philarete Chasles berichtet von einem squatter, der erzählt, wie er, in seinem log-house an den Ufern des Ohio, „nachdem er oft zwanzig Monate lang kein menschliches Antlitz gesehen und von schlechter gekochter Gerste statt Brot sich genährt, von den Indianern und von den Raubtiere» des Urwalds verfolgt, gezwungen, sich beständig mit einer wilden Völkerschaft

herumzuschlagen, erschöpft nach Hause kehrte und beim Lichte seines in Biberfett getauchte» Rohrlichts jenes göttliche Buch las, welches, mit der Bibel, sein Trost und seine Stütze war. »Ich fühlte", setzt der Pflanier hiniu, „daß ich alles tun könnte, was Crusoe getan hatte; die Einfachheit seiner Erzählung brachte Überzeugung in meinen Geist und Mut in meine Seele. Ich schlief ruhig ein, meinen Hund, den ich Freitag genannt, zur Seite, und den folgenden Morgen schon um vier Uhr früh, nachdem ich diesen Band, der für mich kostbarer als Gold war, eingeschlossen, nahm ich von neuem meine Axt und fing wieder an zu arbeiten, indem ich Gott segnete wegen der Macht und der großen, tröstenden Kraft, die er einem Menschen über seinesgleichen gegeben hat." Das Eigentümliche darin, wie es Taine vortrefflich bemerkt, ist die Methode in dieser Energie. Es ist kein stoßweises Arbeiten, es ist ein systematisches, regelmäßiges, stets gleichmäßiges Schaffen: ein kanalisierter Bergstrom. Als echter Engländer baut Robinson niemals Luftschlösser; er macht es mit der Zivilisation wie Lord Palmerston mit der Politik, Tag für Tag, stufenweise, je nachdem was not tut, je nach der Angelegenheit, die sich darbietet. Vielleicht kommt die Solidität der englischen Kolonie, welche ebenso groß ist wie die der englischen Verfassung, daher, daß Theorie und allgemeine Idee bei ihnen erst hinter­ her zum Vorschein kommen. Große Prinzipien, wie abstrakte Reflexionen, scheinen dem Robinson ebenso überflüssig wie eitle Reue und Hoffnung. „Es war unnütz, mich dabei aufzuhalten, herbeizuwünschen was nicht zu habe« war; und dieser Gedanke war es, der mich zur Arbeit trieb." Im Schaffen sucht er jede Befriedigung und jede Er­ holung; er ist nur glücklich, wenn er überarbeitet und er­ schöpft ist. Bald macht er sich auch ein home, wo er sich mit allem comfort versieht, den er sich verschaffen kann; als

echter Engländer, besitzt er binnen kurzem auch einen Land­ sitz (country seat), wo er die Feier- und Festtage zubringt — denn er hat auch seinen Tag der Ruhe, seinen Sonntag; sonst wäre er kein Engländer. Alles ist geregelt, für alles wird gesorgt, selbst für die Andacht; hier handelt es sich aber nicht um jene glühende, mystische Schwärmerei nach dem Übernatürlichen, welche die Inbrunst des Katholizis­ mus und die Beschaulichkeit des deutschen Pietismus erzeugt hat: dazu ist er nicht Träumer genug, und das würde ihn ja auch vom Arbeiten abhalten. Der Engländer ist über­ haupt kein Freund des Idealen und der Abstraktion, weder in der Religion noch in der Politik. Gewiß hat auch Robinson seine inneren Kämpfe zu bestehen, die Frömmig­ keit entwickelt sich erst spät in ihm, und die Seiten des Buchs, wo die Stimme der Gottheit sich stets deutlicher vernehmen läßt im Herzen des armen Einsiedlers, gehören sicher zu den schönsten dieses wunderbaren Werkes. Kaum aber hat er seinen Gott gefunden, als er sein Verhältnis zu ihm zu regeln anfängt. Seine Andacht darf ihn nicht stürmisch aufregen: seine Religion, ganz rationalistisch als Dogma, ist ganz positiver Art und äußerst verständig für das Leben, welches sie ihm vorschreibt. Er weiß, daß Gott über ihn wacht und das genügt ihm; von nun an ergibt er sich in sein Schicksal, ja er zieht es seinem früheren Leben vor, wo er sich mitten in der Welt, aber von Gott verlassen befunden hatte: „Ich betete sogar nicht darum, aus meinem einsamen Leben erlöst |u werden, von so geringer Bedeutung erschien mir dasselbe. Alles war nichts, verglichen mit dem einen: einen Gott wiedergefunden i« haben."

III.

Jodes, hätte es sich im Robinson nur um einen braven, englischen Protestanten im Strette mit den Schwierigkette« einer exzeptionellen Lage gehandelt, würde das ganze acht­ zehnte Jahrhundert dieses Buch bewundert und aus ihm ein Laien-Evangelium gemacht haben? Hätte Rousseau von ihm gesagt: „Wenn man denn durchaus Bücher haben muß, so gibt es eins, welches, meiner Ansicht nach, die glücklichste Abhandlung über natür­ liche Eriiehung bietet. Dieses Buch wird das erste sein, welches von meinem Emil gelesen wird: es soll lange Zeit allein seine ausschließliche Bibliothek bilden, soll stets eine besondere Stelle darin behaupten. Es soll der Text sein, zu dem alle seine Gespräche über Naturwissenschaft nur den Kommentar bilden sollen. Es soll dem Stande unseres Ur­ teils während unserer Fortschritte als Probierstein diene»; und, so­ lange unser Geschmack unverdorben bleibt, wird uns diese Lektüre stets gefallen. Welches ist nun aber dieses wuaderbare Buch? Ist es Aristoteles? Ist es Plinius? Ist es Büffon? Nein, es ist Robinson Crusoe."

Was mir diese Schwärmerei des Jean Jacques, so­ wohl als die außerordentliche Popularttät des Robinson in ganz Europa, zu erklären scheint, ist, daß das Buch eine ganze Philosophie der rationalistischen Geschichte in seiner, bei aller Dulgarttät, ergreifenden Form enthält. Jedes Zeit­ atter hat seine Philosophie der Geschichte: hat Bossuet die des siebzehnten Jahrhunderts gegeben, Hegel, die des neun­ zehnten, so wird man im Robinson die des achtzehnten finden. Sie geht von dem Ausgangspuntte des Contrat social aus, soweit es einem Werke der Dichtung möglich ist. Der Mensch sieht sich ungefähr auf seine natürlichen Kräfte angewiesen, gegenüber einer Natur, die er nun sich unter­ werfen soll. In der Lebensgeschichte eines einzelnen Indi­ viduums finden sich hier alle Phase«, durch welche die

Menschheit durchgehen mußte, vom Naturzustände und der Einsamkeit an bis zur Bildung des Staats, geschildert. Von diesem Standpunkte aus war es ein Meisterstück von Defoe, daß er aus seinem Robinson weder einen bedeutenden Mann, noch einen Spezialisten machte. Letzterer hätte sich nur für die Sachen, die ihn als Individuum berührten, interessiert und nicht für Dinge, die das allgemein Mensch­ liche angehen. Ersterer hätte seine Erfindungen und Er­ rungenschaften auf Rechnung seiner persönlichen Überlegen­ heit schreiben können. Robinson ist aber ein Mensch von mittelmäßiger Intelligenz und mittelmäßigem Charakter, ganz besonders dazu geeignet, den Durchschnitt der Mensch­ heit darzustellen. Was er tut, scheint es, könnte jeder von uns, hätte jeder von uns an seiner Stelle getan; die Notwendigkeit allein führt ihn von Erfindung zu Er­ findung: die Not allein, nicht seine Begabung, macht ihn zum Begründer der Herrschaft des Menschen über die Natur. Wie der erste Mensch, ist er, nach der Theorie des acht­ zehnten Jahrhunderts, zuerst Troglodyt und Ichthyophag. Er ißt die ihm gebotenen Früchte vom Baume weg, nährt sich vom Fleische der Tiere, welche er erschlägt und deren Fell ihm als Kleidung dient. Bald wird jedoch der Jäger die Möglichkeit gewahr, die Tiere, die er verfolgt, zu zähmen und somit sich den Kampf und die Ermüdung zu ersparen, indem er sich zugleich einige Nahrungsmittel mehr: Milch, Butter, Käse, verschafft. Es entgeht ihm nicht lange, daß er den Samen, den er mühsam aufliest, über eine be­ stimmte, begrenzte Gegend säen kann, um dieselbe je nach feinen Bedürfnissen auch zu vermehren: der Hirt wird Ackersmann. Aber bald macht sich der Mangel an Werk­ zeugen fühlbar, sei es für den Ackerbau, sei es für die Ein­ richtung seiner Wohnung.

So führt ihn die Not von einer Vervollkommnung zur anderen, seine Lehrzeit rückt langsam aber um so ficherer vorwärts. Nach einer gewissen Zeit gelingt es ihm, den Tongefäßen, die er ein Jahr zuvor kaum in unförmlicher Weise zustande brachte, eine gefällige Form zu geben. Von da an entsteht erst die Industrie, dann die Kunst. Da ihm durch die Industrie Instrumente zu Gebote stehen, fängt er kühn an, ein Boot zu bauen; dann wagt er sich hinaus auf den weiten Ozean, mitten unter tausend Gefahren, nach einer Nachbarinsel; und sollte sich sein Ur­ zustand noch weiter verlängern, so würde gewiß bald der Industrielle zum Kaufmann werden. Dieser Entwickelung der materiellen Kultur folgt mit gleichem Schritte die moralische Kultur. Die schlummernde Seele des Menschen im Streite mit der Natur erwacht beim Anblick des gestirnten Himmels, bei der Beobachtung der regelmäßigen Wiederkehr der Jahreszeiten, des wohl­ tuenden Einflusses des Himmels, des undurchdringlichen Geheimnisses der treibenden Saat. Eine natürliche Religion, die einfach ist, weil sie von keiner Kirche eingeengt wird, füllt sein Herz mit milder Befriedigung, und sobald einer seiner Mitmenschen sich einfindet, wird er ihm diese innere Zufriedenheit, deren er sich selbst erfreut, auch mitteilen wollen. Freitag, das Naturkind, gesellt sich zu ihm; es ist wie der erste Versuch einer zivilisierten Gesellschaft, gegen die Wilden gebildet, welche die unschätzbaren, mühsam er­ oberten Errungenschaften der Intelligenz und der Industrie bedrohen. Bald werden auch noch andere hinzukommen; man sieht die menschliche Republik bereits entstehen. Wilde,

outlaws, Abenteurer werden den ersten unförmlichen Ver­ such eines Staats bilden. Die Leidenschaften werden ent­ fesselt: der Neid, der Ehrgeiz, die Wollust. Sie drohen alles

zu zerstören, denn der Romulus dieser Gesellschaft ist verschwanden; doch der Numa läßt nicht lange auf sich warten: der Geistliche erscheint — nicht der fanatische Proselyten­ macher, sondern der humane Geistliche, der Priester der natürlichen Religion, der Apostel der Toleranz, das Ideal von Defoe selbst. Man sieht, ich leihe ihm nichts: sein Priester sagt buchstäblich, daß er nicht suche „was die ver­ schiedenen Religionen trennt, sondern was sie vereinigt: den Glauben an das höchste Wesen und die Liebe zum Nächsten". Rührend ist es, daß der alte Patriot und dissenter, der so viele Lanzen gegen das Papsttum gebrochen, diese Rolle des Priesters, der alles um sich her beruhigt, heiligt und reinigt, wem? — einem Katholiken, einem Franzosen, gibt. „Alles mußte gegen ihn einnehmen," sagt er naiv; „denn erstens war er Papist, zweitens papistischer Priester, drittens französischer, papistischer Priester." In den Mund seines Glaubensgegners legt er gerade die erhabenen Worte der Toleranz, welche sein Buch schließen x): eine Art Laien, Evangelium, ganz und gar auf den absoluten Glauben an die Güte der menschlichen Natur gegründet, welcher die Seele des achtzehnten Jahrhunderts war, in seinem Kampfe gegen das Fundamentaldogma des Christentums: die Ver­ dorbenheit der menschlichen Natur. Jeder Lebenstag Defoes war jenem Glauben gewidmet und jede Seite des Robinson atmet diese kindliche Überzeugung des Jahr­ hunderts der Aufklärung. x) Man weiß, baß Defoe den unverzeihlichen Fehler beging, «ine Fortsetzung seines Robinson ju schreiben. Es versteht sich von selbst, daß das allgemeine und menschliche Interesse, welches den hohen Ideen des ersten Teiles anhaftet, dieser Erzählung der Abenteuer Crusoes in China und der Tartarei ganz abgeht.

Lieldings Tom Jones. I.

Die Romane Henry Fieldings waren die etwas leb­ hafte Antwort, welche die fade Empfindsamkeit und das verständige Moralisieren des tugendhaften Richardson dem ungeduldig gewordenen merry old England entrissen. Was war dieses heitere Altengland? „Tom Jones" selber sagt es uns. Man weiß, wie selten man bei englischen Werken jenes glückliche Verhältnis der Teile und jene Harmonie des Ganzen antrifft, welche uns bei den meisten klassischen Schriften der Franzosen bewunderungswürdig scheinen. Hier aber haben wir es mit einer glänzenden Ausnahme zu tun; Tom Jones ist in der Tat ein wahres Meisterstück in bezug auf Komposition. Nichts kann breiter angelegt, groß­ artiger sein, als der Prolog und die Einleitung, durch welche wir mitten in die Umgebung versetzt werden, in der das Drama vor sich gehen soll; nichts wunderbarer als die Mannigfaltigkeit der Begebenheiten und Situationen, aus denen es besteht. Und doch wie natürlich, wie leicht gestaltet sich das alles! Wie genau greift eins ins andre! Wie notwendig geht jede Tatsache aus der vorhergehenden hervor! So schreitet die Erzählung ruhigen, unmerklich beschleunigten Schritts vorwärts, wie ein mächtiger Strom, der seinem Falle naht. Die Neugierde des Lesers wird durch eine geschickte Verzögerung des Ausgangs stets von

neuem erregt, bis sie schließlich in atemlose Spannung übergeht. Am Ziele angelangt, löst sich alles auf, und beim Zurückblicken wird man mit Vergnügen gewahr, daß nichts verloren ist, daß die Ereignisse samt und sonders ebenso notwendig als wahrscheinlich, daß in diesem Gedränge von Einzelheiten nichts, absolut gar nichts überflüssig war, und daß in diesem Komplex, ja scheinbaren Chaos von Begebenheiten und Personen die symmetrischste Regel­ mäßigkeit herrscht. Ebenso leicht und natürlich wie der Plan, ist aber auch die Sprache in diesem Meisterwerke. Nichts Erzwun­ genes. Es ist, als müßte jedermann mit dieser Klarheit, dieser Lebendigkeit, diesem Farbenreichtum schreiben können. Und doch, welche hohe Kunst liegt nicht unter dieser schein­ baren Leichtigkeit verborgen! Wie fühlt man bei diesem extemporierten Schriftsteller von vierzig Jahren aus jeder Zeile die vorbereitende Weihe einer kräftigen, klassischen Bildung heraus! Was mich an diesem Stile, außer seiner eleganten Sauberkeit, besonders frappiert, ist seine Mannig­ faltigkeit und die durchgängige Ironie. Gewöhnlich wird uns der einfachste sermo pedestris geboten, den man sich vorstellen kann; fällt es aber einmal dem Verfasser ein, zeigen zu wollen, „was er im Erhabenen leisten kann", wie bei Sophiens Auftreten, so erreicht er mit Leichtigkeit eine Höhe der Poesie, deren Reiz um so mächtiger wirkt, als er sie stets durch eine feine, anmutige Ironie zu mäßigen versteht. Die zarteste, duftigste Sprache, die kaum ihren Gegenstand berührt, schildert das Geheimnis erwachender Liebe in der jungfräulichen Brust der Heldin. Fielding steht das homerische, zugleich familiäre und erhabene Gleichnis ebenso zu Gebote, wie der Unterhaltungston der Gevatterin. Gewiß würde man nicht leicht in der ganzen

englischen

Literatur ein Seitenstück auftreiben zu dem

epischen Stile, in dem die Schlacht zwischen den Straßen­ jungen und der schönen Molly Seagrim erzählt wird. Wie weit ist das von der trockenen, kalten Korrektheit eines Swift, der seine Späße mit dem Ernst eines Mathe­ matikers zum besten gibt, von der realistischen Vulgarität eines Defoe, von der weitschweifigen, wässrigen, flachen Prosa eines Richardson entfernt! Selbst der so gerühmte Addisonsche Stil, wie farblos erscheint er neben der funkelnden Lebendig­ keit, welche die Fieldingsche Sprache beseelt! Und doch herrscht in all dieser Mannigfaltigkeit ein und derselbe Grundton: eben jener Ton der Ironie, der allen Launen des Stils ihre Einheit gibt. Es ist nicht eine Zeile in „Tom Jones", in der das unscheinbare Lächeln, das um des Erzählers Lippen spielt, nicht bemerkbar wäre. Sogar jenes Urbild des von hoher Intelligenz erleuchteten Wohlwollens, Mr. Allworthy, stellt uns der Verfasser wie ein Weltmann vor, dem es nicht entgeht, daß sein Schützling eine etwas linkische Rolle in den Londoner eleganten Salons spielen würde. Dabei herrscht ein beständiger Wechsel in dem Charakter dieser Ironie selbst. Bald trifft sie als milde, wohlwollende, bald als scharfe, ja unbarmherzige Satire die Dinge dieser Welt: höhere und niedere Dolksklassen, Politik und Theologie, Ärzte und Juristen, Vor­ urteile und Albernheiten, Literatur und Moral; hier wird sie eine besondere, dort eine allgemeine; einmal erhebt sie fich bis zur milden Höhe einer sokratischen Ironie; ein anderes Mal läßt sie ihr derbes Lachen erschallen, als ob wir in der Schenke säßen. Keine Verdrehtheit des Geistes und Herzens, der Sitten und des Geschmacks entgeht dieser scharfen Geißel. Fielding handhabt eben die Ironie, wie den Stil, als vollendeter Meister. Niemand gelingt es

wie ihm, die Lumpen, in die sich die Eitelkeit zu hüllen liebt, unbarmherjig wegzureißen, ohne nur desgleichen zu tun. Sein Geist ist wie eine Blendlaterne, die auf die ver­ borgensten Winkel der menschlichen Natur ihr plötzliches Licht wirft und ihre höchsten und niedrigsten Regungen aufdeckt, ebenso plötzlich aber sich umkehrt und die sich in Sicherheit wähnenden Lacher selbst grell beleuchtet. Niemals jedoch artet seine Ironie in das höhnische Grinsen Swifts oder in das erzwungene Lächeln Sternes aus. Man fühlt sofort die Güte, das Wohlwollen heraus, die allem, selbst seinem grimmigen Haß gegen alle Heuchelei — denn es ist ja vielmehr Liebe zur Redlichkeit als Ab­ scheu der Lüge — zugrunde liegen; und dann, diese Ironie ist stets ebenso unmittelbar wie maßvoll. Fielding ist viel zu sehr Künstler, um sich in der Übertreibung zu gefallen; wie er sich einerseits nicht auf sein hohes Roß zu setzen braucht, um die Erhabenheit zu erreichen, hat er anderer­ seits nicht nötig, Gesichter zu schneiden, um das Gelächter der Zuschauer hervorzurufen. Sein Roman ist daher wohl komisch im höchsten Sinne, aber niemals burlesk. Fielding ist aber eigentlich auch ebensowenig humo­ ristisch als burlesk. Der Humorist steht die ganze Welt so wie sie sich in seiner eigenen Individualität abspiegelt, anstatt sie zu sehen, wie sie wirklich ist. Der Humorist weint oder lacht nicht, weil die Gegenstände an sich lächerlich oder be­ klagenswert sind, sondern der jedesmaligen Gemütsstim­ mung gemäß, in der er sich gerade ihnen gegenüber befindet. Seine Laune, seine Stimmung, sein humow ist der Maß­ stab, wonach alles gemessen wird; während für den eigent­ lichen Komiker dieser Maßstab im Gesetz des gesunden Menschenverstandes liegt, dem sichersten, universellsten aller moralischen Kriterien.

Man findet daher bei Fielding niemals eine Über­ treibung in den Charakteren, dank eben seiner wahren Künstlerehrfurcht „vor der Bescheidenheit der afothtt"; eben­ sowenig aber verlieren seine Charaktere an Deutlichkeit der Umrisse, weil er sie stets im Auge behält, genau wie er sie von Anfang skizziert: ............................................servatur ad imum Qualis ab incepto processerit et sibi constet.,

anstatt sie immer wieder, je nach seinen persönlichen Ein­ fällen, umzugestalten. Es ist dies um so wichtiger, als Fielding selbst gesteht, daß er seine ganze Poesie in der Charakterschilderung suche. Daß die Kunst der Charakteristik zu den Hauptverdiensten englischer Schriftsteller gerechnet werde» muß, wird jedem einleuchten, der sich viel mit ihnen abgibt; um so größer aber ist der Ruhm Fieldings, auch hierin neben Shakespeare den ersten Platz einzunehmen. Wenn die Menge der in seinem Werke vorkommenden Per­ sonen eine wahrhaft erstaunliche zu nennen ist, so dünkt uns doch noch erstaunlicher und bewundernswürdiger die beständige Wahrheit inmitten solcher Fülle. Unter Hunderten von Charakteren von lebendigster Individualität gibt es keinen, welcher die Grenzen der Natur überschreitet; nichts wird auf die Spitze getrieben; nirgends ist ein Übermaß, sei es der Tugend, sei es des Lasters, zu finden; alles ist menschlich. Von Karrikatur keine Spur, weder in einem noch dem anderen Sinne. Alle hat er selbst gesehen, selbst beobachtet: alle haben wirklich gelebt. Uns ist, als hätten wir sie persönlich gekannt, als hätten wir gestern mit Squire Western gejagt und als sollten wir morgen mit dem braven Pastor Supple zu Mittag essen. Fielding ist wesentlich Realist, obwohl nicht im Sinne, der heutzutage von französischen Künstlern diesem Worte beigelegt wird.

und in dem ich es soeben selbst gebraucht habe, sondern in der deutschen goetheschen Bedeutung desselben. Er trägt nicht irgendeine allgemeine, abstrakte Vorstellung in seinem Kopfe, als da sind Geiz, Ehrsucht, Heuchelei, für die er in der Geschichte oder im Leben eine passende Verkörperung sucht; nein, er findet in seiner unmittelbarsten Umgebung konkrete Wesen, denen allen er eine ewige, allgemeine, ideale Seite abzugewinnen versteht. Seine Personen sind daher auch keine mit Namen bekleidete herumwandelnde Abstraktionen, sie sind nicht verkörperte Lasier oder Tugenden, wie die Richardsons, sondern lebende, wirkliche Wesen, deren Tracht zwar ihrer Zeit angehört, deren Grundcharakter aber ewig ist, wie die menschliche Natur. Was den Hauptreiz aller Charaktere in „Tom Jones" ausmacht, ist ihre Naivetät. Der Verfasser gefällt sich be­ sonders darin, die keimende Leidenschaft und deren all­ mähliches Heranreifen zu belauschen; er tut es mit unend­ licher Kunst, eher indem er die Symptome leise andeutet, als indem er sich auf eine Besprechung des allgemeinen Charakters der Leidenschaft einläßt. Die handelnden Per­ sonen selbst spielen alle ihre Rolle unbewußt; sie leben in den Tag hinein, in der unmittelbaren Gegenwart, ohne krankhaft zu grübeln, ohne eine andere Leitung als die des Instinkts. Die Gesundheit, meines Erachtens der charakte­ ristische Zug von Fieldings Natur, ist zugleich das Charakte­ ristische der Welt, in die „Tom Jones" uns versetzt. Fieldings Moral steht in grellstem Widerspruch mit der Richardsons, und wenn sie auch nirgends gepredigt wird, so wird sie doch auf jeder Seite des „Tom Jones" gelehrt: das Wahre allein ist das Gute, das Falsche allein das Schlechte. Dies das Wesen dieser Moral des Instinkts; daher die herzliche Sympathie mit offenen, loyalen, leichtsinnigen, unüber-

legten, von Leben strotzenden Naturen, wie die des Helden; daher die Antipathie gegen alle Heuchelei, gegen Hinterlist, Schlauheit, Feigheit und Verstellung aller und jeder Art. II.

In welche Gattung von Romanen soll „Tom Jones" gezählt werden? Offenbar weder zu den historischen Ro­ manen mit Charakterschilderungen im Sinne Walter Scotts, noch zu denen ohne diese Beimischung, wie die Alexandre Dumas". Trotz des durchgehend ironischen Grundtons ist er auf den ersten Blick von dem eigentlichen satirischen Roman, von „Gulliver" zum Beispiel, zu unterscheiden; auch wird man ihn, ungeachtet des in ihm enthaltenen Moralsystems, doch nie für einen moralisierenden Roman, wie die „Pamela" von Richardson, halten wollen. Ebenso­ wenig aber dürfte er in die Kategorie des Familienromans gesetzt werden, dessen unvergleichliches Muster uns Gold­ smith in seinem „Vicar of Wakefield" geliefert hat. Zu den Sozialromanen — weder in der etwas krankhaften Art Bulwers und Sues, noch von der Bedeutung und Tiefe der Thackerayschen und Balzacschen Werke — darf man ihn gewiß nicht rechnen. Kann man ihn wohl einen philo­ sophischen, didaktischen, oder gar einen Schelmenroman nennen? Gewiß nicht. Wenn er aber in keiner dieser Kate­ gorien untergebracht werden kann, was ist denn „Tom Jones"? Ich liebe in der Regel solche engen Schulklassi­ fikationen nicht, welche freie Geisteserzeugnisse willkürlich einkerkern; gibt es aber moderne Schriften, die sich absolut der bestimmten Klassifikation entziehen und keiner Rubrik einzureihen find, obschon, oder weil, fle von allen etwas haben, so find es Romane wie „Don Quixote", „Wilhelm Meister" und „Tom Jones". Will man aus diesen dreien

eine besondere Gattung machen, so habe ich nichts dagegen einzuwenden. Wir könnten sie wohl j«r Unterscheidung von allen anderen Nationalromane nennen; immer aber müßten wir zugeben, daß es dem Genie allein gebührt, diese besondere Gattung zu pflegen, wie auch daß sie jeden­ falls die höchste und umfassendste ist, in der sich der moderne Dichter zu versuchen vermag. Schon Goethe sagte in solchem Sinne: „Der Roman ist eine subjektive Epopöe, in welcher der Verfasser stch die Erlaubnis ausbittet, die Welt nach seiner Weise zu behandeln. Es fragt sich also nur, ob er eine Weise habe; das andere wird sich schon finden." Unter epischer Dichtung versteht die moderne Kritik bekanntlich nicht etwa die „Italia liberata“ des Trifsino, noch die „Henriade" Voltaires, sondern die wahre Volks­ dichtung, wie Ilias und Odyssee, das Nibelungenlied, die Edda, das Rolandslied und das Poema del Cid. Worin aber besteht die Eigentümlichkeit dieser Dichtungen? Ist es nicht zunächst darin, daß sie uns ein vollständiges poe­ tisches Bild des gesamten Lebens eines gegebenen Volks zu einer gegebenen Epoche seiner Geschichte liefern? Was den eigentümlichen Charakter einer Nation ausmacht, ihre gesamte Kultur, ihre Überlieferungen und ihr Glaube, ist darin von Dichters Hand niedergelegt für alle Ewigkeit. Die Ilias war bekanntlich zugleich die älteste historische Urkunde, das Gesetzbuch und die Heilige Schrift der Griechen. Aber Homers Gedichte wurden nicht allein von den griechi­ schen Theologen — oder besser: Mythologen und Geschichts­ schreibern — als eine Hauptautorität betrachtet; auch die Phllosophen, Staatsmänner, Krieger, Künstler, Geographen, ja sogar die Gewerbetreibenden und Kaufleute beriefen sich darauf wie auf eine unfehlbare Autorität. In der Tat

sind sie der vollständigste und getreueste Ausdruck des griechischen Geistes bei seinem ersten Erwachen und in allen seinen Äußerungen. Ist eine Epopöe in diesem Sinne heutjutage wohl noch möglich? Ich glaube nicht; denn es gehörte dazu ein bis auf die äußeren Formen poetisches, d. h. natürliches Leben und große gemeinsame Taten; die vollständigste Solidarität mußte zwischen allen Teilen der Nation ob­ walten; eine gewisse Gemeinschaft und Gleichheit der Bildung und des materiellen Lebens zwischen dem König und dem letzten der Bürger, zwischen Odysseus und Thersites war notwendig; vor allem aber mußte ein gemeinschaft­ licher nationaler Schwung das gesamte Volk erfassen und fortreißen. Daher sehen wir die Epopöe nur zu Zeiten jugendlichen Aufschwunges, wie in Griechenland und im Mittelalter, entstehen; oder aber in einem Moment der höchsten Kraftentfaltung und des tragischen Endes eines ganzen Volkes, wie in Portugal im xvi. Jahrhundert. Unser modernes Leben ist zu positiv, unsere Zivili­ sation zu verfeinert, unsere Tätigkeit zu geteilt; vor allem fehlt es uns an jener Einheit der Elemente, welche primitive Zeitalter auszeichnet, um eine Darstellung des National­ lebens unter gleichen Bedingungen hervorzubringen wie die Alten oder die Menschen des XI. Jahrhunderts. Große Spaltungen sind in unserer Gesellschaft durch die Bildung entstanden; wir finden uns wie durch Klüfte voneinander getrennt; der Abstand einer Dolksklasse von der anderen ist bei uns fast unüberspringbar geworden; jede spricht sogar ihre eigene Sprache. Heutzutage gehört weder Feldherr, Staatsmann, Richter noch Dichter mehr zum eigentlichen Volke; zwischen einem Achilles und dem Tage­ löhner, dessen Schicksal er mitten unter den Ehren des tztllebrand, Zetten und Menschen.

Elysiums beneidet, waren weit mehr Berührungspunkte als zwischen dem Handwerker unserer Zeit und dem Manne, der eine höhere Bildung erhalten hat. Einerseits ist unsere Vergangenheit zu groß, sie dehnt sich zu weit aus, um sich umfassen zu lassen, und zu große Zwischenräume trennen uns von ihr, als daß sie die Menge ergreifen könnte. In der durch das Schrifttum geschwächten Erinnerung des Volks, in der lebendigen Überlieferung — wenn überhaupt noch eine da ist — stehen uns ein Conde und Wallenstein ebenso fern, sie sind ebenso verschollen in unserem Ge­ dächtnis, wie Pharamund oder Marbod; oder besser gesagt: sie existieren gar nicht mehr für uns. Hierzu füge man die Zersplitterung unserer Tätigkeit. Wir haben keine Nestors mehr, die Herrscher, Weiser, Feldherr und Redner in einer Person wären; ja, die Zeit liegt uns schon fast ebenso fern, wo ein Thukydides sich zugleich als Admiral und General, als Arzt und Staatsmann, als Historiker und Philosoph auszeichnen konnte. Wir werden durch unsere Beschäftigungen ebenso voneinander getrennt, wie durch unsere Vorurteile und Erziehung: wir sind alle Fachmänner. Wie selten endlich ist inmitten unserer modernen, rein politischen Kriege ein wahrhaft volkstüm­ liches, unmittelbares Unternehmen, wie der trojanische Krieg oder dek erste Kreuzzug? Wäre demnach bei uns eine genau im Sinne der Alten gedachte Epopöe kaum möglich, so könnte doch viel­ leicht noch jetzt etwas dem Ähnliches entstehen, wenn sich eines jener großen Genies dazu fände, dessen sicherer, ruhiger Blick das ganze Leben seiner Zeit überschaute; und dabei denke ich eben an einen Nationalroman im Genre des Don Quixote und des Tom Jones, der sich schon durch die Form — die Prosa und das Wegfallen der Maschinerie

— besser jirr Darstellung des modernen Lebens eignet und sich leichter der bunten Mannigfaltigkeit unserer Zivilisation anbequemt. Dieses Genre scheint mir sich am besten als Rahmen jur poetischen Schilderung unseres National­ charakters und unseres modernen Lebens zu eignen. Dies war es auch, irre ich nicht, was Fielding damit sagen wollte, als er seinen „Tom Jones" wiederholt „ein episches Gedicht in Prosa" nannte. In der Tat sollte der Schrift­ steller, der zwanzig Jahre vor Lessing der Poetik Boileaus und Addisons den Krieg erklärte *), — sein großer Vor­ fahr, Michel Cervantes, hatte nicht einmal die Geburt dieser großen Theoretiker abgewartet, um ihre Theorien zu zer­ stören ) — in der Tat sollte Fielding auch die wahre Natur des Epos fünfzig Jahre vor Fr. Aug. Wolf ahne» und kennzeichnen; und er beansprucht mehr als einmal in „Tom Jones" die Ehre der Erfindung dieser Gattung, obgleich die Worte, durch die er „Joseph Andrews" auf dem Titelblatt als eine „Nachahmung des Cervantes" be­ zeichnet, eher auf einen Nebengedanken an Don Quixote, die erste jener drei Prosaepopöen, die ich eben anführte, hinzuweisen scheint. Cervantes, in einem Sinne das bedeutendste Genie der modernen Zeit nach Dante und Shakespeare, ja Goethe» selbst an Unmittelbarkeit und Schöpfungskraft fast über­ ragend, Cervantes war es gelungen, im Moment, wo die Monarchie Philipps des Zweiten im Begriffe stand, nach blendendem Glanze vor der Zeit unterzugehen, alle Strahlen dieses erlöschenden Lebens noch einmal in einen einzigen leuchtenden Brennpunkt zu sammeln, welcher mehr Licht auf die Geschichte Spaniens wirft als sämtliche Chroniken *) S. T 0 m I 0 « es. V. Kap. 1. 4) S. Don Cristoval de iugo, Prolog.

und Geschichtsbücher, die im Staube der Bibliotheken be­ graben liegen mögen. Man hätte keinen glücklicheren Augenblick für ein solches Unternehmen wählen können. Ganz waren die ritterlichen Traditionen noch nicht erloschen. Der Dichter selbst hatte im Laufe seines wechselvollen Lebens an jenem letzten Kreuzzuge teilgenommen, dem die Schlacht von Lepanto ihren Glanz verlieh; er hatte unter Verbrechern Sklavenfesseln getragen, hatte im eignen Vaterland Ungnade und höchstes Elend erdulden müssen. Diese Epoche, in der die großen Nationalkämpfe mit den Mauren noch in der Erinnerung aller lebten, in der der Spanier sich mit ge­ rechtfertigtem Stolz als Beherrscher der ganzen Neuen, und der halben Alten Welt fühlen konnte; diese Epoche, in der das längst begonnene Werk der Inquisition und des Despotismus seine tödlichsten Früchte noch nicht her­ vorgetrieben hatte, wiewohl sie sich bereits ahnen ließen, und über welche gerade diese Ahnung einen melancholischen Zauber verbreitete; diese ganze Epoche ersteht vor unserem innern Auge in der Geschichte des sinnreichen Hidalgo de la Manch«. Vom stolzen Granden bis zum schlichten Maulesel­ treiber, vom gelehrten Baccalaureus bis zum prächtigen Kirchenfürsten, Bürger und Bauern, Schauspieler und Soldaten, Ziegenhirten und Mönche, alle und jede Klasse der damaligen spanischen Gesellschaft stehen vor uns. Wer glaubt nicht, wenn er Don Quixote liest, er kenne das Spanien des XVI. Jahrhunderts ebenso gut wie das eigne Vaterland? Wer durchwandert nicht Castiliens Kastanien­ wälder mit dem Ritter von der traurigen Gestalt und seinem getreuen Knappen? Wer von uns steigt nicht mit ihnen ab in den gastfreien und knoblauchduftenden posadas, wo es so viel Prügel regnet und so wenig Polizei zu sehen

ist? Wer hat sich nicht mit ihnen niedergelassen an jenen großartigen herrschaftlichen Festen, wo das ganze Volk in nationalem Jubel an der öffentlichen Freude sein Teil nimmt? Für die Ewigkeit hat der Dichter dieses große Gemälde entworfen. Sämtliche Geschichtswerke mögen untergehen; es genügt ein einziges übriggebliebenes Exem­ plar des Don Quixote, um uns mit dem Spanien Philipps des Zweiten so vertraut zu machen, wie wir es mit dem Lande sind, das wir bewohnen. Hierbei fällt mir eine Bemerkung ein, die ich nicht unterdrücken will, weil ich daraus einen Schluß zu ziehen gedenke. Offenbar ist die Tatsache, auf die ich die Auf­ merksamkeit lenken möchte, eine zufällige, deshalb aber nicht minder bemerkenswert. Welches war das Ziel, welches Cervantes vor Augen hatte, indem er seinen unsterblichen Don Quixote verfaßte? Welches die erste Absicht Goethes, als er sich Wilhelm Meister zum Gegenstand nahm? Welchen unmittelbaren Zweck hatte Fielding, als er „Tom Jones" schrieb? Es waren rein zufällige Umstände, Absichten literarischer Polemik, welche diese drei großen, modernen Epopöen ins Leben riefen. Cervantes nahm sich vor, eine Satire auf die schlechten Ritterromane zu schreiben: er entfaltete das Bild seines ganzen Zeitalters, seines ganzen Volkes, ja einer ganzen Zivilisation mit unnachahmlicher Farbenpracht, und er gab uns zugleich die Tragödie der Idee. Goethe sah Lessings Bestrebungen, ein National­ theater in Deutschland zu gründen, scheitern; er war Augen­ zeuge der Streitigkeiten zwischen entgegengesetzten Schulen gewesen, von denen die eine nur bei Shakespeare, die zweite nur bei Racine und die dritte nur bei Diderot schwur. Ihm war darum zu tun, mitzusprechen und verständlich-

jumachen, wie notwendig es sei, daß die ju schaffende Bühne vor allem deutsch sein müsse; er war bemüht, die Theaterzustände in Deutschland zu untersuchen und dar­ zustellen, nachzuforschen, welche Vorteile das Vaterland aus diesem oder jenem Vorbilde gewinnen könne, und den Weg anzudeuten, den man befolgen müsse. Er wollte demnach einen Lehrroman schreiben, und sieh da! unter seiner Feder wird daraus eine Nationaldichtung, ein Epos, dem auch nicht einmal die Maschinerie fehlt. Ehe noch das alte germanische Kaiserreich vom Strome der Revolution erfaßt wird, die in mächtig unaufhaltsamer Flut bald die Kronen und Gebietsgrenzen fortzureißen, die Stände miteinander zu vermischen, uralte Einrichtungen umzustürzen droht, malt der Dichter fast unbewußt, jedenfalls unbedacht, diese ge­ sellschaftlichen Zustände, welche bestimmt sind, kurz darauf unterzugehen, und hinterläßt dem Deutschland des XIX. Jahrhunderts als Vermächtnis das unvergleichliche Bild des XVIII. Und in der Tat steht hier das ganze deutsche XVIII. Jahrhundert vor uns: biedere Kaufleute aus der großen Reichsstadt, von Vorurteilen, Überlieferungen, Monopolen und Gilden eingehegt; alter Reichsadel, der Versailles spielt, sich zwar nicht gerade gewandt bewegt im französischen Frack, aber voll ist von den humanen Ideen jener Zeit; die großen Heere und kleinen Militärexekutionen; die unzähligen Gebietsgrenzen mit ihren nicht minder zahl­ reichen Zollämtern; die ernsten Magistrate der kleinen Städte; die herumziehenden, stets dürftigen Schauspieler niederen Ranges, wie die vornehmen Liebhabertheater; der Pietismus der Herrenhuter und die dogmenfreie Frömmigkeit; die Jlluminaten und die Freimaurerfeierlichkeiten; die philan­ thropischen und spiritistischen Vereine; der mystische Rausch,

der sich dieser Gesellschaft bemächtigt, die doch so stolj auf ihre Aufklärung ist; — diese ganze seltsame Welt, wir finden sie im „Wilhelm Meister" wieder, und dies ist sicherlich nicht sein geringstes Verdienst. Fielding, der Richardsonschen Empfindsamkeit über­ drüssig, müde immer und überall von den tugendhaften Kammerjungfern und unmöglichen Liebhabern Clarissas und Clementinas zu hören, möchte den verlassenen Weg der Natur wieder aufsuchen: er möchte die falsche Senti­ mentalität entlarven, Engel und Teufel aus der Literatur verbannen, um wieder den Menschen einzuführen, den Menschen mit seinen Schwächen und seiner Größe, und er schreibt jenes Meisterwerk von Natur, Schwung und Poesie, welches uns hier beschäftigt. Fern lag ihm der Gedanke, das Gemälde seiner Zeit und seines Vaterlandes für immer auf die Leinwand zu werfen; aber es fand sich, als er nun die Gestalten des guten Mr. Allworthy und des braven Squire Western gezeichnet, den Philosophen Square und den Theologen Thwackum, den Wildhüter Black George und den Schulmeister Partridge, die willige Molly und die keusche Sophia, Mistreß Blifil und Lady Bellaston, den armen Leutnant und den reichen Lord geschaffen; als er Stadt und Land, die endlosen Mahlzeiten und halsbreche­ rischen Jagdpartien, die Landstraßen und die alten Gast­ häuser, die Bürger und die Zigeuner, die Postwagen und die Straßenräuber, die Salons und die Kaffeehäuser, die Politik und die Literatur geschildert hatte — es fand sich, sage ich, daß er ein vollständiges Bild des merry old Eng­ land, von dem ich vorhin sprach, geliefert hatte. Die drei miteinander hier verglichenen Romane wurden indes nicht nur deshalb nationale und populäre Bücher bei den drei Völkern, weil jeder die Gesellschaft desselben

zu einer bestimmten Zeit schildert, sondern auch weil in jedem der drei die Darstellung des Nationalcharakters selber zugleich mit der Individualität eines großen Dichters in der Persönlichkeit ihrer Helden enthalten ist. Diese zwei Dinge aber stehen in engster Verbindung miteinander, da ja das Dichtergenie stets der höchste Ausdruck seines Volks ist, und somit Cervantes, Fielding und Goethe als ideale Typen der drei Nationalitäten gelten können. Ist es schwer, in dem Ritter von der traurige» Gestalt den ruhmreichen Kreuzfahrer von Lepanto zu erkennen, den letzten fahrenden Ritter Spaniens, das größte Genie, das sein an großen Dichtern so reiches Vaterland hervorgebracht hat, um ihn dann zu verkennen, verhöhnen, verachten und verfolgen? Ist es schwer, in dem kühnen, stolzen Hidalgo, der unter seinem zerrissenen Mantel ein Heldenherz und ein unbeflecktes Gewissen verbirgt, den großen Dichter, den großen Patrioten, den großen Christen herauszufinden, der sein lebelang die alte Chimäre von der Zerstörung des Islams im Herzen hegte? Ich hatte einmal Gelegenheit zu bemerken, daß kein Dichter wohl je alle Seiten des Nationalcharakters voll­ ständiger in sich begriffen hat als Goethe. In ihm ist in der Tat sowohl der deutsche Träumer, wie der deutsche Philosoph und Künstler, ja sogar der vorzügliche Geschäfts­ mann wiederzufinden, dessen Ausdauer und Ordnungsliebe alle Handelsstädte in der Welt nach und nach zu deutschen Kolonien umgestaltet. Und so erscheint uns auch Wilhelm: voller Poesie und Reinheit, begierig zu lernen, stets bemüht, sich Systeme über alles und jedes aufzubauen, zum Do­ zieren geneigt, mehr eigensinnig als energisch, zugleich spar­ sam und fähig, den Wert des Geldes zu schätzen; nie ohne irgendeine sentimentale Neigung im Herzen und irgend-

eine schöne Abstraktion im Kopfe; aus weichem Teige ge­ knetet, den zwei schöne Augen gleich schmelzen, ohne der Reinheit und Naivetät seines Gemüts Eintrag zu tun; Italien träumend wie jeder Deutsche und wie jeder Deutsche damit endigend, daß er ein guter, braver Philister wird, und noch in den Dämpfen seiner Tabakspfeife das Ideal, das seine Jugendjahre erleuchtete, hegt und pflegt. Um aber zu unserem liebenswürdigen Helden zurück­ zukehren, ist denn Tom Jones nicht jener vortreffliche Harry Fielding wie er leibt und lebt, mit allen schöne«, gesunden Eigenschaften des echten Engländers ausgestattet, wie auch mit den Lastern des Briten, nicht seinen künstlichen: dem cant, der Heuchelei, der jüdischen Ehrfurcht vor der Form; sondern mit den natürlichen: dem Übermut, der Roheit und der Sinnlichkeit? Jawohl ist er Fielding; aber er ist noch mehr, er ist John Bull selbst, dieser brave, nicht allzu zarte, nicht allzu feine, aber hochherzige und mutvolle Tom, treu bis an sein Ende, obgleich unbeständig wie ein Kind; immer bereit mit den Fäusten dareinzuschlagen, zuweilen betrunken, oftmals roh, nie gemein oder unedel. Wie wird einem so wohl bei seiner lauten Heiterkeit, welches Gefühl der Sicherheit gewährt nicht sein Händedruck! Welche Red­ lichkeit, welche Gesundheit, welche kräftige Frische, welche Offenherzigkeit liegt nicht in dieser goldenen Natur, und ungeachtet mancher Schwäche, welch unverwüstlicher Schatz von Zärtlichkeit und Herzensfeinheit! Allerdings darf man bei ihm den Idealismus des Do» Quixote nicht suchen, ja, nicht einmal den des Wilhelm Meister. Tom ist der echte Engländer, dem nur das augen­ blicklich Gegenwärtige Sorge macht, der sich nicht um das Ideal kümmert; er ist vor allem praktisch und zwar ist er es so sehr, er ist dermaßen in dem Genuß und der Aus-

Nutzung der Wirklichkeit befangen, daß er darüber gern jene Grundsätze und vagen Strebungen vergißt, die allein für den tapferen, stets von der Begeisterung in die höheren Sphären der Phantasie hinaufgetragenen Ritter von der Manch« existieren. Wilhelm aber braucht nicht einmal aus der Wirklichkeit hinauszutreten, um seinen Idealismus zu bewahren. Bis in die Mittelmäßigkeit und Einfachheit seines engen Lebens bewährt und nährt er die Flamme des Ideals. Auch wird der Don Quixote immer das Lieblingsbuch des enttäuschten, in seinem Glauben verletzten Mannes sein, der sich mit einem bitteren Lächeln und einer melan­ cholischen Ironie für die Leiden rächt, die ihm die Gesell­ schaft verursacht hat; während Tom Jones dem Skeptiker und Epikuräer, in dieser Worte edelstem und höchstem Sinne, als Begleiter dienen wird: der Gefährte dessen, dem nichts imponiert, der sich entschließt, die Welt so hinzunehmen, wie er sie findet, das Beste daraus zu machen, was sich daraus machen läßt, sie zu genießen, solange es dem Nächsten nicht schadet, und der Vorsehung wie dem notwendigen Lauf der Dinge die Sorge um den menschlichen Fortschritt überläßt; Wilhelm Meister ist und bleibt das Laienbrevier aller derjenigen, die das gemeinsame Leben aller teilen wollen, ohne auf die sittliche Ausbildung ihres Ichs zu verzichten; aller derjenigen, die tief im Herzen den Glauben an die Fähigkeit des Menschen, sich zu vervollkommnen, hegen; aller derjenigen, welche Nachsicht hegen mit den Verirrungen und Schwächen ihrer Nebenmenschen, aber auf­ richtig und inbrünstig darnach trachten, sich zu bessern. So wird, je nach der Richtung seiner Natur und Ansichten, jeder in einem dieser drei Werke eine tiefe, unerschöpfliche Schatzgrube der Weisheit finden. Denn, indem sie — und

hierin liegt die Bedeutung — das getreue Abbild einer gegebenen Epoche und eines gegebenen Landes bieten, ist in jedem eine moralische Idee enthalten und entwickelt, deren Wesen ewig ist, wie die Menschheit. Möge der Ausgangs­ punkt immerhin eine literarische Polemik gewesen, möge die Satire immerhin unter der Hand des Dichters zu einer Nationalepopöe umgebildet worden sein; jeder dieser Ro­ mane hat nichtsdestoweniger zugleich seine allgemeine, menschliche Bedeutung, und diese ist es, die ihre allgemeine Popularität erklärt. Ohne mich auf eine weitere Erörterung einzulassen, bemerkte ich vorhin, daß Don Quixote unter der Form einer komischen Epopöe in Wahrheit eine Tragödie der Idee sei. Es liegt in der Tat eine abstrakte Wahrheit, — ich hätte beinahe gesagt: Allegorie — unter der so kon­ kreten, so bestimmten Form dieser wunderbaren Schöpfung verborgen. Sind wir nicht alle gerührt worden durch die Redlichkeit, die Güte, den Heroismus und die erhabene Einfalt des Ritters? Ist man immer zum Lachen auf­ gelegt, kommen einem nicht oft auch die Tränen in die Augen, wie Heine sagt, wenn wir einen elenden Barbier über den edlen Hidalgo triumphieren sehen, und wenn dieser sich am Ende noch einmal zusammenrafft und ausruft: „Das Leben könnt ihr mir nehmen, aber niemals werdet ihr von mir verlangen, daß ich aufhöre, die Dulcinea del Toboso für die Schönste und Tugendhafteste ihres Geschlechts zu erklären!" Was ist aber schließlich diese Dulcinea, diese Dame seines Herzens? Ist sie nicht das Ideal, das sich dieser seltsame, erhabene Schwärmer selbst geschaffen hat? Chateaubriand hat irgendwo gesagt: Don Quixote sei der tugendhafteste, tapferste, wenigst verrückte Mensch, von dem er je gehört habe; und Heine, daß für den wahren Weisen

Don Quixote nie verrückt war. Er ist es ja auch nur in den Augen des unverschämten Gesindels und vornehmen Pöbels, die der Dichter auftreten läßt, des Pöbels, der alles verhöhnt und verachtet, was sich aus dem gewöhn­ lichen Gleise entfernt, und sich über alles empört, was sich von dem sozialen Typus, den er sich einmal geschaffen, oder an den er sich gewöhnt hat, abschweift; wahnsinnig ist er nur für gemeine, positive Geister, die nicht verstehen, wie man sich für Dinge begeistern kann, die keinen Nutzen tragen; er ist es für diejenigen, die sich für die Auser­ wählten im Reiche des Verstandes halten, weil sie immer klug genug waren, den Hieben zu entgehen und sich mit guter Art aus dem Spiele zu ziehen. In den Augen des unbequemen, zurückgestoßenen Apostels aber, in denen des verhöhnten, verspotteten Dichters ist Don Quixote keines­ wegs verrückt; er ist es sogar nicht einmal in denen der Menge, deren derber gesunder Menschenverstand die tiefe Wahrheit herausfühlt, die unter diesem hochherzigen Wahn­ sinn verborgen ist, und deren noch unverfälschte Einbildungs­ kraft immer bereit ist, sich für die dichterische Größe des Ritters zu begeistern. Denn — wie Heine es mit gewohnter Feinheit bemerkt — das Volk begleitet ihn; es flucht wohl ein wenig von Zeit zu Zeit; es beklagt sich auch über die Schläge, die ihm die hohen Verheißungen des Herrn ein­ tragen; manchmal lacht es auch wohl mitunter ob seiner naiven Illusionen; folgt ihm aber doch, begleitet ihn bis ans Ende; Sancho Panya verläßt Don Quixote nicht; haben wir doch alle Gelegenheit gehabt, es mit Augen zu sehen, vor etwa fünf Jahren, als er zu Marsala seine Auferstehung feierte1). Ob Cervantes das lange Märtyrertum der Begeistex) Gesprochen im Jahre 1865.

rung und die schmerzlichste Art desselben, das Märtyrertum der Lächerlichkeit, zu schildern beabsichtigt hatte, weiß ich nicht; ich weiß nur, daß er es getan hat. Und sind denn aufrichtiger Enthusiasmus, reine, ideale Liebe, Schwärmerei für das, was in der Welt für Chimäre gilt; sind denn Ehrfurcht vor der Vergangenheit, Hoffnung auf Fortschritt, Glaube an ein vergangenes oder zukünftiges goldenes Zeitalter, Ruhmeskultus, Vertrauen in die Gerechtigkeit, — sind sie nicht alle mit dem Namen Wahnsinn gebrandmarkt worden, jedesmal wo sie im Strudel der Welt unbefangen ihr Haupt emporhoben? Wann und wo durften sie sich je ungestraft zeigen? Stand nicht jederzeit der Scheiter­ haufen oder der Hohn für sie bereit? Wurde nicht von jeher der uneigennützige, ritterliche Glaube vom positiven, auf den Nutzen berechneten Egoismus, von der Trägheit des Schlendrians, vom bequemen Genuß, vom armseligen Trieb Glück zu machen — wohl zu unterscheiden vom edlen Ehrgeize, der Quelle alles wahrhaft Großen hienieden — ja wollen wir alles sagen, vom praktischen Verstände selbst als persönlicher Feind angesehen? Sind jene großen An­ strengungen, jene erhabene Sehnsucht, die uns über den wirklichen Stand der Dinge erheben, nicht zu allen Zeiten als Wahn bezeichnet worden? Wenn je ein Dichter von seinem Jahrhundert durch­ drungen war, so ist es gewiß Goethe; doch lassen sich alle die Grundsätze, die das Unserige mit Vorliebe verteidigt, und deren Eigentümlichkeit in der Achtung vor der Wirk­ lichkeit und deren Rechtfertigung besteht, auf jeder Seite des Wilhelm Meister ahnen. Mich bestimmter auszudrücken: der Grundgedanke des Wilhelm Meister, abgesehen von allen Nebenbetrachtungen und Zufälligkeiten, scheint mir dieser zu sein: echte Dichtung stammt nicht aus den Wolken,

sie hat ihre ewig frische Quelle in der Wirklichkeit; die Wahrheit ist nicht in der trügerischen Symmetrie logischer Abstraktionen zu suchen, sondern in der unmittelbaren An­ schauung, welche die jufällige Hülle der Vorfälle durchdringt und das Wesen der Dinge erfaßt; die Weisheit läßt sich aus keinem Moralgesetzbuch oder Katechismus lernen, das Leben allein gibt sie; durch das Leben allein geschieht die Erziehung des Menschen; keine Lehre vermag die Erfahrung zu ersetzen; und diese kann niemand für uns erwerben, wir müssen sie uns notgedrungen selbst erringen. Mit dem Kopf voll Theorien und schönen Träumen, muß Wilhelm, obgleich es ihm keineswegs an praktischem Verstände fehlt, doch gar vielen Illusionen entsagen; durch wieviele Irr­ tümer muß er hindurch, ehe er sich der Wahrheit nähern darf! Wieviele Mal gerät er nicht auf Abwege, ehe er auf die rechte Straße gelangt! Mehr als ein Abgott wird verab­ scheut, nachdem er angebetet worden; allein nach allen diesen Irrtümern, diesen bitteren Erfahrungen gelangt er zu einem Ergebnisse, das ebenso entfernt ist dem Geiste, der sich mit dem engen Wirklichkeitshorizont zufriedenstellt, als der alle und jede Grenzen mißachtenden Einbildungs­ kraft recht zu geben. Sollte in der Tat der Schluß nicht etwa so heißen: ein wirklich ideales Leben ist ohne praktische nützliche Tätigkeit unmöglich; wahre Nützlichkeit aber, im höheren Sinne des Wortes, ist ohne Grundsätze und ein Ideal im Herzen zu haben ebenso unmöglich? Der Grundgedanke des Tom Jones ist dagegen ein sehr verschiedener; trotz allen scheinbaren Realismus be­ geistert er sich für die Hauptidee des xviii. Jahrhunderts — dieses Don Quixotes unter dev Jahrhunderten — für den Glauben an die unveränderliche Güte der menschlichen Natur, im Gegensatze zur Grundidee des Christentums

— der Überzeugung von der angeborenen Verwerflichkeit des Menschengeschlechts. Fielding macht kein Hehl daraus; er erklärt beständig: sein Gegenstand sei die menschliche Natur (human nature), wie sie eben ist, mit allen Schwächen und Größen. Sie ist es, die von ihm in Schutz genommen wird, wenn er die unmittelbare Liebe der Jugend der be­ rechneten Neigung des reiferen Alters entgegenstellt (there is a great difference, sagt er, mit der ihm eigentüm­ lichen bezaubernden Ironie, between the reasonable passion which women at a certain age conceive towards men, and the idle and childish liking of a girl to a boy etc.); wenn er Toms gute Regungen und die moralischen

Theorien Blifils in Konflikt bringt; wenn er die Unzu­ länglichkeit des Verstandes und die Allmacht des Instinkts und Temperaments dartut. In diesem Punkte jedoch entfernt er sich gänzlich von der Idee des XVIII. Jahr­ hunderts, wie sie in Frankreich formuliert wurde, wo zu allen Zeiten und in allen Dingen die Oberherrschaft des Verstandes und die Freiheit des Willens postuliert wurde. Fielding gehört wesentlich dem germanischen Stamme an, der das Dogma der Prädestination und die Hobbessche und Schopenhauersche Philosophie erzeugt hat. Indem er in Tom Jones eine durchaus redliche, gesunde, gute Natur schilderte, die alle Laster seiner Zeit befleckt haben, ohne deren innersten Kern anzugreifen, in Blifil dagegen einen natürlich schwachen, unwahren Charakter, den keine moralische Theorie zu adeln vermag, wird Fielding bei­ nahe zum Fatalisten. Als echter Engländer — ich rede hier von dem Eng­ länder wie ihn die Natur schafft, nicht wie ihn die Gesell­ schaft entstellt hat — stellt Fielding die unwandelbare Sittlichkeit des Gewissens hoch über alle soziale und kon-

ventionelle Moral. Sein Held gerät häufig auf Abwege, indem er fich von der Natur führen läßt, und wir können ihn doch nicht anders als herzlich lieb haben, weil er bei allen Verirrungen der Sinnlichkeit ein großmütiges Herz, einen gesunden Verstand, kurz, eine frische, unmittelbare, durchaus liebenswürdige Natur bewahrt, die uns stets Pascals Worte zu wiederholen scheint: Gebt acht, daß ihr nicht Tiere werdet, indem ihr nach dem Engel strebt. Ist demnach die Idee des Don Quixote eine wesent­ lich spanische; gehört sie durchaus dem xvi. Jahrhundert an; ist sie in Wahrheit das tragische Verscheiden des Mittelalters, das fich nur noch in Spanien erhalten und überlebt hatte; ist der Grundgedanke Wilhelm Meisters nichts anderes als die Idee, welche in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts Deutschland beherrschte und dessen Kraft und Schwäche ausmachte: die Idee, die unserem ganzen so hochgepriesenen geschichtlichen Geiste zugrunde liegt und die Hegel in den Worten: „Alles was ist, ist vernünftig", zusammenfaßte, — so ist dagegen die Idee des Tom Jones: die Protestation gegen die Verderbtheit des Menschengeschlechts einerseits, und die Verklärung des natürlichen Instinkts andererseits, eine wesentlich englische, die dem vorigen Jahrhundert angehört, dessen Philosophie bekanntlich ihre Geburtsstätte in England hatte. Ohne diese ideale Bedeutung aber hätte Tom Jones schwerlich seine Zeit überlebt, und wäre er ein noch so vollendetes Kunstwerk in der Form gewesen.

Lawrence Sterne. i.

Gab es je einen Schriftsteller, bei dem eine genaue Kenntnis des Lebens und Charakters jur richtigen Wert­ schätzung seiner Schriften not tat, so war es Sterne, dessen Persönlichkeit mit seinen Werken so innig verwebt ist, daß es durchaus unmöglich wird, ste voneinander zu trennen. Alles bei ihm beruht auf persönlicher Beobachtung: in seinem Roman sind die dramatis personae sowohl als die Begebenheiten der Erinnerung entlehnt, und es begegnen uns in demselben fortwährend Anspielungen auf die ge­ ringsten Erfahrungen seines täglichen Lebens; seine Predig­ ten sind Monologe, veranlaßt durch die jedesmalige Stim­ mung, in der sich der Prediger eben befand; und in der „empfindsamen Reise" spielt die Erfindung eine noch weit bescheidenere Rolle. Seine Werke lassen fich übrigens, besser als durch alle Kommentare der Kritiker, durch die Un­ gleichheit der Stimmungen der Kritiker, durch die Ungleich­ heit der Stimmungen des Kränkelnden, durch dessen launen­ hafte, von den unmerklichsten atmosphärischen Einflüssen abhängige Natur, welche man für die einer nervösen Frau halten sollte, durch seine Anfälle tollster Ausgelassenheit, die mit Perioden der Verstimmung abwechselten, und seinen unverbesserlichen, fast immer mit nachfolgender finsterer Melancholie gebüßten Leichtsinn erklären. Leider scheinen über seine Lebensgeschichte keine weiteren Urkunden vorHille brand, Zeiten und Menschen.

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Handen zu sein, als die er uns selbst gegeben hat. Will man sein Bildnis haben, so muß man sich wiederum an ihn selbst wenden: — „Er war", sagt er mit Beziehung auf Dorick, bei dem er sich selbst zu malen gedachte: „Er war ein Wesen so quecksilberner, hyperraffinierter Art, ein in allen seinen Abstufungen so heteroklytes Geschöpf, mit soviel Feuer und Leben und Herzensfröhlichkeit in seiner Art zu sein, daß auch der mildeste Himmel kein solches zweites Exemplar zu erzeugen oder zusammenzusetzen vermocht hatte. Bei allen Segeln trug der arme Dorick kein Lot Ballast. Er war ohne einen Schimmer von praktischem Sinn in weltlichen Dingen, und verstand mit sechsundzwanzig Jahren sein Fahrzeug gerade so gut zu lenken, wie ein kleines, leichtsinniges, übermütiges Mädchen von dreizehn; daher ihn, bei seinem ersten Ausflug in die Welt, der frische Wind seiner Laune, wie es leicht zu denken ist, zehnmal am Tage in das Tauwerk anderer trieb; und da sich meist ernste, gemessene Geister auf seinem Wege befanden, ist es ebenso leicht, sich vorzustellen, daß er das Unglück hatte, meisten­ teils mit solchen in Verwickelung zu geraten. — Eine kleine Beimischung von Taktlosigkeit mochte sich auch wohl bei dergleichen Konflikten ent­ decken lassen, — denn — die Wahrheit zu gestehen — Dorick hegte eine unüberwindliche Abneigung und einen rechten Widerwillen gegen den Ernst, nicht gegen den Ernst an sich — denn da wo es not tat, konnte er tage-, ja wochenlang der ernsteste Mensch von der Welt sein" — ich fürchte, der gute Dorick täuscht sich hier ein klein wenig über sich selbst — „aber er war der Feind des affektierten Ernstes, und erklärte ihm nur dann offen Krieg, wenn er ihm als Deckmantel der Unwissen­ heit oder Dummheit vorkam; dann aber, wo er ihn auf seinem Wege an­ traf, was ihm auch als Schuh oder Herberge dienen mochte, ließ er ihm keine Gnade widerfahren.......... Um euch die Wahrheit zu sagen, er war ein Jüngling, der die Welt nicht gebraucht (?), den die Welt nicht verbraucht (??) hatte. Ebenso unvorsichtig und unbedacht war er über alle anderen Gegenstände der Unterhaltung, bei denen Klugheit verlangt, daß man sich einige Zurückhaltung eindrücke." (Ich ver­ suche wie^s eben gehen will, das schlechte Wortspiel wiederzugeben, wie ich mich bemühe, den verwickelten und verworrenen Stil des Ver­ fassers wiederzugeben.) „Dorick aber hatte keine anderen Eindrücke als die, welche ihm die Natur der Tatsache einflößte, von der die Rede

war, welche Eindrücke er in einfaches, biederes Englisch )u übersetzen pflegte, ohne irgendwelche Umrede, und allzuoft auch ohne Ansehung der Person, der Zeit und des Orts; daher wenn eine elende ober unedle Handlungsweise erwähnt wurde, er sich nie die Zeit nahm, einen Augen­ blick nachtudenken, «er der Täter derselben, welches dessen Stellung war, noch wie wett sich dessen Macht ihm $tt schaden erstreckte; nein, war die Tat eine garstige, so war der Täler ein garstiger Man», ohne «eitere Umrede; und so mit allem. Da nun seine Kommentare in der Regel das Unglück hatten, mit einem Witzworte r» endigen oder von etwas Scherzhaftem tat Ausdrucke belebt $u werden, so verlieh dieses den Unvorsichtigkeiten Poricks Flügel. Mit einem Worte, obgleich er nie die Gelegenheit suchte, aber sie auch nicht vermied, das zu sagen, was ihm eben durch den Kopf ging, so geriet er nur allzuoft in seinem Leben in Versuchung, seinen Geist und sein Leben, seine Hiebe und Witze zu verschwenden. Es fehlte nicht an Leuten, die sie auflasen."

Es verlangt vor allem Gerechtigkeit oder doch Billig(eit; zwei Dinge, die fast allen Beurteilern Sternes gefehlt haben, um nicht allzu strenge zu sein gegen diesen „lüderlichen Gesellen", wie Warburton ihn nannte, der trotz aller Fehler eine so liebenswürdige sympathische Natur war. Man muß bedenken, wie Goethe es eindringlich anempfiehlt: „daß er Lebensgenosse eben jenes Warburton gewesen.... Um Sterne zu begreifen, darf man die sittliche und kirchliche Bildung seiner Zeit nicht unbeachtet lassen." Die Lebensgeschichte des fröhlichen Pfarrers von Sutton, der sich weder durch seine Gemeindepflichten, seine Schwind­ sucht, noch seine Ehehälfte daran hindern ließ, bis zu seinem letzten Tage das Leben zu genießen, ist in ihren allgemeinen Umrissen bekannt. Der Sohn eines armen Offiziers, der in Jamaika an den Folgen einer Verwundung gestorben war, die er in einem Duell in Gibraltar erhalten hatte, führte Sterne in seiner frühesten Jugend das Wander­ leben eines Soldatenkindes und bewahrte davon, wie alle Leser des „Tristram Shandy" wohl wissen, die lebhafteste

Erinnerung. Ein wohlhabender, in Aorkshire ansässiger Vetter interessierte sich für den Jungen und sandte ihn in die Schule nach Halifax, später auf die Universität Cam­ bridge. Er arbeitete weder hier noch dort; ging jedoch daraus hervor „mit den nötigen Diplomen, und am 20. August 1738 wurde der lange, fünfundzwanzigjährige, hagere, brusileidende, schlechtgewachsene Junge, mit losen, herabhängenden Puppenarmen, einer Nase wie ein Kreuz­ aß, schwarzen Augen, die von geistvollem, wiewohl ganz weltlichem Lichte strahlten, und einem Munde, um welchen Voltaires Lächeln spielte, — the Reverend Lawrence Sterne'). Seit zwei Jahren — eine lange Zeit für Porick — war er in eine sehr unbedeutende junge Dame verliebt, die jedoch damals wohl eine Art beautd du diabie besessen zu haben scheint, von der sie leider in späteren Jahren keine Spur behielt. In der Zwischenzeit, bis er sie heiraten konnte, wechselte er mit ihr die pedantischsten, sentimen­ talsten Briefe, die ein Gymnasiast wohl jemals seiner Schönen geschrieben hat. Kaum hatte er seine Anstellung in Sutton erhalten und seine „liebe Lumley" geheiratet, als sich der Ton seiner Briefe merklich änderte; es gab nämlich auch dann immer noch Briefe: man mußte sich schreiben, da der Gemahl, der wenig Anlage zur Häus­ lichkeit hatte, jede Gelegenheit ergriff, um den heimischen Herd zu verlassen. Auch scheint er sich bei späterem Alter und trotz aller Gewohnheit mit den ruhigen Freuden der Häuslichkeit niemals recht versöhnt zu haben. „Nescio quid est materia con me; sed sum fatigatus et segrotus de mea uxore plus quam unquam“, schreibt er seinem

Freunde Stevenson nach zwanzigjähriger Ehe und in einer *) Worte P. Stapfers in seinem trefflichen Buche Lawrence Sterne, sa personne et ses ouvrages. Paris 1870»

jener mitteilsamen Stunden, die man bei einem Ehemanne weniger häufig sehen möchte. Übrigens war er niemals rücksichtslos gegen diejenige, welche seinen Namen trug, und wenn man in seinen Briefen vergebens nach Liebe sucht, so begegnet man darin wenigstens einer großen Für­ sorge und Freigebigkeit. Einer seiner Freunde, ein Herr Tallot, begegnete ihm nach langer Trennung in Toulouse im Jahre 1764, „wo er sich gut amüsiert hatte ohne seine Frau, die ihm überall nachlief und an allem teilnehmen wollte. Dieses Benehmen der guten Frau verursachte ihm manche schlimme Stunde; aber er erträgt alle diese Un­ annehmlichkeiten mit einer Engelsgeduld." Sterne gehörte übrigens zu denjenigen Naturen, welche Goethe frauenhafte nennt; er konnte nicht gut ohne irgendeinen weiblichen Gegenstand seiner Gedanken leben: „Ich muß immer irgendeine Dulcinea im Kopfe tragen", sagt er; „für mich ist das eine Bedingung der moralischen Harmonie". Anderswo heißt es: „Ich bin fest überzeugt, daß, wenn ich je einer schlechten Handlung schuldig werde, es nur in der Zeit zwischen einer und der anderen Leiden­ schaft sein wird." Er wünscht auch seinen Freunden dieses für ihn unentbehrliche Gefühl. „Ich freue mich, zu wissen, daß Du verliebt bist", schreibt er dem einen; „es wird Dich wenigstens vom „spieen“ befreien, welcher für Männer wie für Frauen gleich schlechte Folgen hat". Darauf erzählt er mit Wohlgefallen, wie er es anfängt, um sich selbst und die Gegenstände seiner Neigung davon zu überzeugen, daß er verliebt ist: „Zuerst bemühe ich mich, die Dame, oder vielmehr ich fange damit an, mich selbst glauben zu machen, ich sei wirklich verliebt; dann führe ich meine Sache ganz ä la frangaise, das heißt: auf sentimentale Art. Die Liebe ist Nichts ohne Empfindsamkeit, sagen die Franzosen.

Und doch, obgleich sie soviel Wesens um das Wort machen, denken sie sich dabei nichts Bestimmtes. Soviel über den Gegenstand genannt Liebe." Die Erzählung der zahlreichen Liebschaften Sternes ist sehr unterhaltend und sogar, trotz des Anscheins, sehr rührend. Man ist insgemein in der Welt übereingekommen, sich nur von große» Leidenschaften und tiefen Gefühlen rühren zu lassen; ich, für meinen Teil, sehe nicht ein, warum man nicht auch ein wenig Sympathie solchen empfindsamen, aber wenig ausschließlichen Seelen entgegen­ tragen sollte, deren Gefühle, eben weil sie der Oberfläche näherliegen, leichter zu erregen sind, deren unersättliches Bedürfnis zu lieben, sich stets von neuem zu befriedigen sehnt, und da es sich ohne wirkliche Gegenwart nicht helfen kann, sich ganz aufrichtig auf alle die liebenswürdigen Gegenstände wirft, die sich ihm der Reihe nach darbieten. Unter seinen vielen Abenteuern befindet sich indes auch eine Liebschaft unseres Clergyman, welche nicht den naiven, ein­ fachen Charakter der übrigen trägt. Es liegt etwas un­ sagbar Krankhaftes in dieser Leidenschaft zweier Schwind­ süchtigen, die beide verheiratet sind, und von denen der eine wenigstens sehr ungeduldig ist, Witwer zu werden. Eliza Draper scheint einen wirklich begründeten Ruf von Schönheit und Geist gehabt zu haben. Sie war in Indien geboren, und der Abbö Raynal in seiner berühmten Histoire philosophique du commerce des Indes widmet ihr enthu­ siastische Seiten: „Gebiet von Anjiaga, du bist nichts! aber du hast Elija her­ vorgebracht. Der Tag «ird kommen, «o die HandelSntederlagen nicht mehr bestehen, «eich« die Europäer auf den astatischen Küsten gestiftet habe». Das GraS «ird st« bedecken, oder der gerächte Indier «ird auf ihren Trümmern gebaut haben... Aber «en« meine Schriften

einige Dauer haben, wird der Name Anjinga im Gedächtnis der Menschen bleiben. Die, so mich lesen «erden, die, welche der Wind »ach diesen Ufern weht, werden sich sagen: hier wurde Elija Draper geboren, und wenn es unter ihnen einen Briten gibt, wird er sich beeilen, stolj hinjujufügen: und geboren von englischen Eltern." Sterne trägt kein Bedenken, der schönen Jndierin seine Hand anzubieten. „Ich fange an wirklich zu glauben, daß Sie ebensoviele Tugenden besitzen, wie die Witwe meines Onkels Toby," schreibt er ihr, indem er sogleich mit seiner gewohnten Leichtfertigkeit und durch einen seltsamen Übergang hinzugefügt: „Da wir von Witwen reden, bitte ich Sie, Eliza, wenn Sie jemals eine werden sollten, nicht daran zu denken, sich irgendeinem reichen Nabob zu verschenken, da ich selbst darauf reflektiere, Sie zu heiraten. Meine Frau kann nicht mehr lange leben, und ich kenne niemand, den ich lieber an ihrer Stelle wüßte wie Sie. Allerdings bin ich fünfundneunzig Jahre alt an Gesundheit und Sie nur fünfundzwanzig; aber was mir an Jugend fehlt, soll durch Geist und gute Laune ersetzt werden. Swift hat sein Stella, Scarron seine Maintenon, und Waller seine Saccharissa nicht so geliebt. Sagen Sie mir, in Antwort auf diesen, daß Sie mein Anerbieten billigen und darauf eingehen." Es war dies, — um von dem Zartgefühl solcher Zukunftsträume nicht zu reden — ein etwas schnelles Verfahren, auch machte Sterne seine Rechnung gänzlich ohne den Wirt; denn Mrs. Sterne fand es für gut, ihn lange zu überleben. Übrigens hätte Eliza diesem seltsamen Vorschlage keine Folge leisten können, indem ihr Mann sie selbst für sich beanspruchte. „Das Schiff, welches sie zurückbrachte, war bereits drei Wochen unterwegs, als eines Nachmittags gegen Mitte April Sterne in ein Kaffeehaus eintrat, einen Bogen Brief-

Papier mit Goldschnitt verlangte, und — in domo coffeatoria — an eine hohe Londoner Schönheit schrieb: „Schöne Frau, welchen Waschlappen hast Du aus meiner Seele ge­ macht! usw." Die Dame, an die er diese Liebeserklärung richtete, war Lady Percy, Tochter des Er Ministers, Lord Bute, eine Schönheit, die mehr Bewunderung fand und sie weniger unlieb annahm, als ihr Mann gewünscht hätte, der sich schließlich von ihr auch scheiden ließ." Inmitten all dieser flirtations — denn es wäre ein Irrtum, diese Liebschaften Sternes für liaisons zu halten — hegte er im Herzen ein Gefühl ernsterer, beständiger Art: die väterliche Liebe. So viel falsche Sentimentalität wir in Sternes Liebesbriefen finden, so wahr und rührend ist dagegen der Ton seiner Briefe an seine Tochter Lydia. Er ist fortwährend um sie beschäftigt, und seine letzten Worte auf dem Sterbebette sollten an sie gerichtet werde». Im Leben des Vikars von Sutton und Stillington scheint die Tafel eine fast ebenso große, ja vielleicht noch größere Rolle gespielt zu haben, als die Liebe, bei der immer ein wenig Affektation mit im Spiele war. Sterne spielte eben doch immer ein wenig das mauvais sujet. Es war damals in Altengland jene Zeit der langen und üppigen Trinkgelage, von denen uns Fielding eine so lebhafte Schilderung hinterlassen hat. Wenn ihn kein Besuch bei einer schönen Dame, kein Abendessen in einem Cafe nach York rief, so pflegte Sterne sich in ein Schloß der Um­ gegend zu begeben, wo lebenslustige Freunde die Gemeinde der zwölf Mönche von Medmenham unter Anrufung der Devise, welche Rabelais einst über die Abtei von Theleme schrieb: Fay ce que vouldras, gegründet hatten. Diese lustige Brüderschaft scheint in Wahrheit den nicht allzu strengen Gelübden ihres Ordens mehr als gewissenhaft

nachgekommen zu sein; doch darf man nicht gar zu eilig über den Verfasser des „Trisiram Shandy" den Stab brechen wegen seiner Teilnahme an diesen Liebesmahlen, die manch­ mal in Orgien ausgeartet zu sein scheinen; denn sie waren allgemeine Sitte in dem Jahrhundert und im Lande, dessen feinster Kopf, Addison, sich täglich zu betrinken, dessen lauterstes Herz, Goldsmith, die Nächte an der Tafel zuzu­ bringen pflegte. Die Sitten unserer Zeit und anderer Länder geben dem Leben Sternes einen roheren Anschein, als es in Wirklichkeit hatte. Sterne war ein feiner, empfind­ licher Epikuräer, — so sehr, wie es überhaupt ein Eng­ länder der Zeit sein konnte — er war kein gemeiner Lebe­ mann. Er pflegte feinere, ja sogar ausgesuchte Genüsse. Die Stunden, die er nicht der Liebe und der Tafel widmete, wurden nicht allein auf Jagd und Fischfang zugebracht, sondern auch mit Malerei, Musik und Lektüre ausgefüllt. Freilich muß ich hinzufügen, daß, wenn die Bücher, an denen er sich erfreute, niemals geistlos waren, sie sich nicht gerade immer durch Anständigkeit auszeichneten. Neben Cervantes und Montaigne waren es zunächst Rabelais, Brantome und die crazy tales seines Freundes Stevenson, die seine Mußestunden erfreuten. Trisiram Shandy ist voll von Reminiszenzen solcher Lektüre, und selbst die Predigten Sternes sind nicht frei davon. Erst im Alter von sechsundvierzig

Jahren ergriff

Sterne die Feder, und zwar um die zwei ersten Bände seines Tristram zu schreiben. Selten hat ein Werk größeres Aufsehen erregt. Die Empörung und Bewunderung, die es hervorrief, waren gleich übertrieben; letztere behielt jedoch die Oberhand. Das Buch wurde in alle Sprachen über­ setzt; die Auflagen vermehrten sich rasch und füllten immer von neuem die stets leeren Taschen des Verfassers. Neue

Bände folgten den beiden ersten und wurden von den Ver­ legern mit Gold ausgewogen. Die Subskriptionsliste für die Predigten, die Sterne — wie man steht, a rising man — organisierte, indem er geschickt die glitt ju benutzen wußte, erreichte unerhörte Ziffern. Trotz des Skandals, den ein so sittenloser Roman wie „Tristram Shandy" notwendig hervorrufen mußte, verschaffte er dennoch seinem Verfasser eine neue und dritte Pfründe, die Pfarrei von Coxwold. Von nun an bringt er alle seine Winter in London zu, wo er sein rasch verdientes Geld auf die tollste Weise aus­ gibt und bald der „lion“ — im englischen Sinne des Worts — der Gesellschaft wird. „Alle wollten ihn sehen," schreibt sein Biograph Stapfer; „die elegante Welt wollte ihn besitzen. Zehn dem Geburts- oder Geistesadel angehörige Personagen hatten ihn bereits zu Tische eingeladen, und so groß war die Über­ schwemmung von Einladungen dieser Art, daß die Letzt­ eingeschriebenen sich genötigt sahen, wegen der langen Reihe von früheren Engagements ihr Fest auf zwei, man sagt sogar auf drei Monate, aufzuschieben. Ein neuer Salat, ein neues Kartenspiel und einige Rennpferde wurden nach Tristram Shandy benannt. Alle Frauen wollten den Modeskandal unter dem Kopfkissen haben; nach und nach, je nachdem sie mehr Mut faßten, legten sie ihn sogar auf ihre Salontische. Hunderte von Nachahmungen, Nach­ drucken und Flugschriften erschienen. Reynolds malte des Verfassers Bild; Hogarth zeichnete ein Titelblatt für das Buch; Warburton, Bischof von Gloucester und ein Theolog von Bedeutung, empfahl die zwei kleinen Bände aufs wärmste seinen Kollegen, den Bischöfen, indem er laut ver­ kündigte: der Vikar von Sutton sei der Rabelais Englands,

und mehrere Bischöfe sandten dem neuen Rabelais ihre Komplimente." Das Londoner Treiben frommte Sternes Gesundheit ebensowenig wie seinem Geldbeutel. Freilich nahm er die eine wie den andern nicht sehr in acht. Als das Geld ausjugehen anfing, sagte er heiter: „Ich werde schreiben mein Lebelang, und nächsten Winter, meine Herren (die Verleger), werde ich von neuem kommen und Sie am Barte zupfen, wenn mich dieser garstige Husten bis dahin nicht getötet." Es fehlte aber wenig daran, daß er von dem garstigen Husten weggerafft wurde, und er sah fich genötigt, einen milderen Himmel als den Londons aufzusuchen. Er reiste also nach Paris ab, wo er 1762 ankam und wo die Londoner Huldigungen von neuem anfingen. Diderot, Cröbillon, Suard stritten fich um ihn. Er wurde bei Hofe vorgestellt, predigte in der Gesandtschaft vor dem damaligen tout Paris, ließ sich bei allen Modedamen sehen. Seine Person hatte noch mehr Erfolg als sein Buch: man war an einen solchen Grad von Originalität in Paris nicht gewöhnt. „Was einem überzeugt," sagt ein Gleichzeitiger, „daß alles in diesem Engländer wahr sei, ist, daß er sich überall und immer gleich bleibt; er wird niemals durch Vorurtell bestimmt, sondern läßt sich stets von seinen Ein­ drücken fortreißen. In unsere» Theatern, in unseren Salons, auf unseren Brücken, immer ist er die Beute der Gegen­ stände und der Personen, immer bereit, fromm oder ver­ liebt, verrückt oder erhaben zu sein." Daß ein solches Regime seiner Gesundheit nicht be­ sonders zuträglich war, läßt sich leicht begreifen, noch kann man fich wundern, daß ihn ein Blutsturz nach sechsmonat­ lichem Pariser Aufenthalte mahnte, seine Koffer zu packen und den Süden aufzusuchen. Er läßt also seine Frau und

seine geliebte Tochter kommen, um sich mit ihnen auf den Weg nach Toulouse ju machen; dann geht's nach Aix, Montpellier und Marseille: überall langweilt es ihn in der Provinz. Endlich hält er es nicht länger aus, und da seine Frau darauf beharrt, im Süden zu bleiben, kehrt er direkt nach Paris zurück nach mehrmonatlichem Aufenthalt in der Provinz. Amor sucht ihn natürlich auch in Paris auf und hält ihn dort zwei Monate gefangen. „Ich war acht Wochen lang," schreibt er seinem Freunde Stevenson, „unter dem Joch der zärtlichsten Leidenschaft, deren Herrschaft je ein zärtliches Herz gefühlt hat." Eine neue Mahnung aber, in Form eines Bruchs von Blutgefäßen in der Brust, kam, um ihn daran zu erinnern, daß er der Ruhe bedürfe, und er reiste wieder ab nach Coxwold. Sein Geldbeutel hatte diesen Rückzug ebenso nötig wie seine Brust. Obgleich er erklärte, „er sei nie glücklicher, als wenn er keinen Schilling mehr in der Tasche habe, — denn wenn er einen hatte, konnte er nie sagen, daß er ihm gehöre" —, mußte er doch „von neuem dem Publikum eine Steuer auflegen". So­ wie er sich etwas erholt hatte, sowohl in bezug auf Geld als auf Gesundheit, machte er sich wieder auf den Weg nach Frankreich und drang diesmal bis nach Italien vor. Bei seiner Rückkehr gelang es ihm erst nach langen Nachforschungen, seine Frau und Tochter aufzufinden; auch bemühte er sich vergebens, sie zu bewegen, mit ihm nach England zu gehen, „indem er versprach, ihnen die Sommer in Coxwold und die Winter in Pork so angenehm als möglich zu machen". Er vermochte nicht den Eigensinn von Mrs. Sterne zu besiegen und ging nach London, um dort in einer Mietwohnung einsam zu sterben. Ich habe schon gesagt, daß sein letzter Gedanke für seine Tochter war, die er seinem Freund aufs wärmste anempfahl.

Seine Leiche wurde aus dem Kirchhof von jenen Dieben, die man die Leute der Auferstehung genannt hat, entführt und dem Professor der Anatomie zu Cambridge verkauft. „Unter den (zur Sektion) Eingeladenen befand stch ein alter Freund Sternes. Da dieser der letzte Ankömmling und verspätet war, konnte er nur mit Mühe in den Saal hin­ einbringen. Cr erkannte sogleich die Leiche, schrie laut auf und wurde ohnmächtig vor Entsetzen; allein die Sektion hatte bereits stattgefunden." — Sterne hatte sein fünfundfünfzigstes Jahr erreicht.

II. Mit Recht gilt Sterne für den Typus des Humoristen. Aber was ist Humor? Das Wort Humor hat mehr als einen Sinn im Eng­ lischen; jeder von ihnen aber entspricht mehr oder weniger seiner Etymologie. Im gewöhnlichsten Sinne versteht der Engländer unter humour einen gewissen heiteren Über­ mut, einen sprudelnden Witz ohne Schärfe noch Bitter­ keit, die Gabe, die Dinge von der heiteren, eher als von der lächerlichen Seite anzuschauen, die Ruhe des praktischen Philosophen, eine Art wohlwollender Ironie, die sich wohl hütet, sarkastisch zu werden, weil sie sonst verletzen könnte — mit einem Worte, die schlichte Heiterkeit eines Menschen, der guter Laune ist, oder die Launigkeit. Früher wurde das Wort in einem quast-pathologischen Sinne gebraucht, den es aber jetzt beinahe ganz verloren hat. „Wenn eine

„sich

besondere Eigenschaft," sagt der alte Ben Johnson, dermaßen eines Menschen bemächtigt, daß sie alle seine Neigungen, Kräfte, allen Geist in eine Richtung treibt, so nennt man sie mit Recht humour." im Französischen

„u

Man sagt ja auch

a de l'humeur“ von einem, der sich

von einem Gegenstand so absorbieren läßt, daß er davon nnjufrieden und verbittert wird; im Deutschen: er ist „launisch". Es gibt aber noch einen anderen Sinn für das Wort, den ich den literarischen nennen möchte; und ich gestehe, daß ich nie begriffen habe, warum man nicht die Worte Laune und launenhaft anwendet, anstatt Humor und humo­ ristisch. Was ist denn am Ende Humor anders, als die gute oder böse Laune des Individuums? Auf die Literatur angewandt, was ist es anders als die persönliche Stim­ mung, die Rührung des Augenblicks oder der momentane Eindruck, den man an die Stelle der Kraft setzt? Wenn ein Schriftsteller seine eigne Persönlichkeit über jede« Grund­ satz, jede Regel erhebt; wenn er sich über jede geistige Disziplin hinwegsetzt, weder Plan noch Ordnung irgendwelcher Art im Auge, sich ohne vorgefaßten Gedanken, ohne be­ stimmten Gegenstand hinsetzt, um zu schreiben; wenn er, ohne sich an irgendwelche überkommene Form zu halten, eine Erzählung anfängt und durch Gespräche oder Be­ trachtungen je nach dem Zufalle seiner Einbildungskraft unterbricht; wenn er einen Gegenstand ohne weiteres auf­ nimmt und dann wieder fallen läßt, nur weil ein anderer hin­ zugekommen ist, der ihn mehr anzieht; wenn er von dieser neuen Abschweifung wiederum zu einer frischen Parenthese übergeht, je nach den verschiedenen Gegenständen, die ihm der Zufall vor die Augen rückt, oder die Gedankenverkettung seinem Geiste vorführt; wenn er lacht und weint, gerade wie ihm selbst zumute ist, ohne sich im geringsten darum zu kümmern, ob das, wovon er spricht, allgemein trübe oder heitere Gefühle erregt; — wenn, um mich kurz zu fassen, ei» Schriftsteller sich lediglich von seiner Laune führen läßt, so ist er ein Humorist. Wenn ich zu Deutschen

redete, so würde ich den subjektiven Schriftsteller eigentlich den humoristischen nennen, im Gegensatz zum objektiven oder klassischen. Mit anderen Worten, wenn die Persönlichkeit des Verfassers in einem Werke gar nicht zum Vorschein kommt, wie in der Ilias oder im Britannicus, so ist das Werk ein klassisches; sieht man dagegen nichts außer der Persönlichkeit, wie in Trisiram Shandy, so ist es ein humo­ ristisches. Es gibt aber zahlreiche Zwischennuancen zwischen diesen zwei Extremen: die Divina Commedia, Faust,

Don

Quixote, Timon von Athen, Renö, gehören einer Reihe von Geisteserzeugnissen an, die, da sie das Charakteristische beider an sich tragen und zugleich persönlich und unpersönlich sind, dem modernen Geschmack näher liegen, weil moderne Zeiten der Individualität eine Stelle eingeräumt haben, die ihr von den Alten nicht gegönnt wurde. In diesem Sinne versiehe ich auch die Worte Goethes: „Der Humor ist eines der Elemente des Genies, aber, sobald er vorwaltet, nur ein Surrogat desselben: er begleitet die abnehmende Kunst, zerstört, vernichtet sie zuletzt." Bei Sterne nun waltet der Humor vor. Er macht auch selbst gar kein Hehl daraus. „In Wahrheit beherrscht mich meine Feder, ich nicht sie," sagt er irgendwo, und er gibt uns hundert Varianten dieses Bekenntnisses. Er prahlt damit, daß er ein Original sei, der nur seiner Inspiration folgt und sich allen augenblicklichen Stimmungen überläßt; und er schreibt die große Anzahl englischer Humoristen „der Unregelmäßigkeit und Unbeständigkeit des englischen Klimas zu". Es ist nicht meine Absicht, mich hier auf die Frage einzulassen, woher es kommt, daß die Alten und die Fran­ zosen so arm, England und Deutschland dagegen so reich an Humoristen sind.

Noch weniger kann es mein Wunsch

sein, eine erschöpfende Würdigung Sternes zu geben; wohl aber liegt mir daran, noch einmal festzustellen, wie notwendig es ist, daß der Literarhistoriker die Persönlich­ keit der Schriftsteller gehörig studiere, namentlich wenn es sich um Humoristen handelt. Es ist erlaubt, die Person des komischen Dichters bei einem Aristophanes, einem Mokiere oder einem Fielding zu vergessen; während man keinen Augenblick die Individualität, ja nur das Tempe­ rament eines Swift, eines Jean Paul oder eines Sterne aus den Augen verlieren darf. Es mag uns wenig daran ge­ legen sein, zu wissen, ob Homer einen finsteren oder heiteren Charakter hatte, ob Racine reizbar oder empfindsam; Swift wäre aber geradezu unverständlich, wenn man nicht wüßte, daß er an Galle litt, Sterne, wäre seine Nervosität nicht bekannt. Auch die „Predigten" Sternes, an deren Aufrichtig­ keit, trotz des seltsamen Tons, der darin herrscht, und der noch seltsameren Lebensweise des Predigers, nicht zu zweifeln ist, tragen einen wesentlich psychologischen Charakter und gehen sämtlich von dem am Schluß des Jahrhunderts herrschenden Optimismus aus. Allerdings vermag sich der fremde und heutige Leser nur schwer einer großen Ver­ wunderung über die durchaus weltliche Färbung dieser Kanzelberedsamkeit zu erwehren. Unwillkürlich denkt man dabei an die istruzioni der italienischen Mönche — den Unterschied, der zwischen beiden Religionen und Völkern liegt, natürlich abgerechnet —; gewiß weniger lebhaft und mäßiger gefärbt, versteht sich auch glatter in der Form und im Gefühl zarter, bleibt der Grundton dieser volkstümlichen Unterhaltungen der nämliche vertrauliche, vernachlässigte, gar wenig religiöse. Sicher ist es, daß, wenn man unter den Kirchenrednern einen Verwandten für Sterne suchen

müßte, einem weder Boffuet, Bourdaloue noch Massillon einfallen würden, sondern Abraham a Santa Clara, aber ein Abraham a Santa Clara, der Montaigne gelesen und Voltaire studiert hätte. Alles ist auch nicht unbedingt ju bewundern in Sternes Roman. Die Bewunderer „Tristram Shandys,, sind, wie mich dünkt, gewöhnlich allzu nachsichtig gegen die vielen Plagiate des Verfassers. Die Stellen aus Rabelais, Daubignö, Burton, denen man bei Schritt und Tritt darin begegnet, sind nicht etwa mit dem Texte verschmolzen, es sind auch nicht vage Reminiszenzen, noch weniger Ideenkeime, die Sterne entwickelt hätte; nein, es sind geradezu wörtliche Entlehnungen, fremde Federn, mit denen sich der Romanschreiber schmückt, indem er auf die Unwissenheit der Leser seiner Zeit und seines Landes in bezug auf solche ältere Schriftsteller rechnet. Übrigens kann man nicht genug darauf hinweisen, wie künstlich und wie manieriert nicht nur seine Form, sondern auch seine Denkweise ist. Seine Methode, den letzten Keimen menschlicher Handlungen nach­ zuspüren, bis auf die zartesten Fäserchen der Charaktere zu zerlegen, seine berechnete Empfindsamkeit, seine leichtfließende Träne, die außerordentliche Erregbarkeit (man möchte sagen der Epidermis), die ihn dahin bringt, daß er sich selbst schließlich täuscht, wie ein Schauspieler, der sich so in seine Rolle hineindenkt, daß er sich am Ende einbildet, er empfinde die Gefühle, die er spielt; der hyperraffinierte Charakter dieser Affekte, der verschwenderische Mißbrauch der Rührung, die Abwesenheit von Lebensfrische, die Possenreißerei, die häufig das Komische vertreten muß, die beständige Sucht nach Originalität in Ausdruck und Gedanken, die absicht­ liche Exzentrizität, endlich aber und vor allem die krankhafte Zügellosigkeit Sternes, jene lüderliche Ausgelassenheit, aus Hillebranb, Zeiten und Menschen.

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der keine echte Leidenschaft, keine wahre Sinnlichkeit, ja sogar nicht einmal eine wahre Roheit, sondern (man gönne mir den Ausdruck) einfache Polissonnerie spricht, das alles wird gar zu leicht außer acht gelassen von den lobpreisenden Kritikern des Romanschreibers, ja von Goethe selber, der sogar seine Lüsternheit „zierlich und sinnig" findet. Ist nun aber die Behauptung begründet, daß „der Einfluß, den Sterne auf sein Jahrhundert oder sein Jahr­ hundert auf ihn hat ausüben können, ein sehr geringer war?" kommt!

Sehr gering? Wäre

Was man nicht alles zu hören be­

Sterne

wohl in irgendeinem anderen

Jahrhunderte, in irgendeinem anderen Lande denkbar, als in dem der „Sonderlinge"?

Und die Predigten, Tristram

Shandy, die Sentimentale Reise, wären d i e ohne Swift und Addison, ohne Tillotson und Shaftesbury möglich gewesen? Ich habe bereits den Erfolg erzählt, den Tristram in London und Paris hatte.

Dieser Erfolg war aber

durchaus nicht flüchtiger Art.

Wir wissen ja, daß das

servum imitatorum pecus nie ausbleibt und daß Frank­ reich, England und Deutschland eine ganze Nachkommen­ schaft von Doricks und Tobys erlebte.

Sternes Roman

war nach Robinson und Clarissa das populärste englische Buch in Frankreich: es wurde mehrre Male ins Französische übersetzt, und die ausgezeichnetsten französischen Schriftsteller, Diderot voran, begeisterten sich für Tristram und die Reise. Die Träne des Engels, der Tod Lefevres wurden sprich­ wörtlich, man fing an, über unglückliche Esel und verun­ glückte Wagen zu weinen: mit einem Worte, die Sentimen­ talität der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hat ihren Ursprung mehr in Sterne als in irgendeinem anderen Schriftsteller; doch war die Wirkung Sternes in Deutsch­ land am allermächtigsten.

Als Lessing im Jahre 1768

den Tod Wivckelmanns erfuhr, sagte er: „Das ist seit kurzem der zweite Schriftsteller, dem ich mit Vergnügen ein paar Jahre von meinem Leben geschenkt hätte." Der erste war Sterne gewesen. Jean Paul wußte die Sentimen­ tale Reise auswendig und hätte, ohne den englischen Humo­ risten, Siebenkäs und die Flegeljahre nie zu schreiben gewagt. Herder machte 1771 zu Straßburg eine wahre Propaganda für Sterne; der junge Goethe nannte ihn „den schönsten Geist, der je gewirkt habe," und hielt dieses übertreibende Urteil bis ans Lebensende fest; noch in seinem achtzigsten Jahre wiederholte er: „Es wäre nicht nachzukommen, was Goldsmith und Sterne gerade im Hauptpunkte der Ent­ wicklung auf mich gewirkt haben," und nicht nur von sich selber, von der Menschheit spricht Goethe, wenn er sagt: „noch heute solle jeder, der auf Bildung Anspruch mache, von Zeit zu Zeit seinen Sterne wieder vorsuchen, damit auch das XIX. Jahrhundert wisse, was ihm das XVIII. schuldete und was wir ihm noch in Zukunft verdanken können."

England im achtzehnten Jahrhundert.

L

Wer die englische Derfassungsgeschichte von 1688 bis 1786 etwa im einzelnen betrachtet, wird vielleicht versucht sein, sich unwillig, ja fast mit Ekel abzuwenden, wie's unser guter Schlosser getan. Die schlimmsten Ränke gewissenloser Aristokraten, ein gehässiger Kampf um Macht und Geld, eine Gesinnungslosigkeit, welche es den Staats­ männern erlaubt, ohne Anstand ihre Farbe zu wechseln, so oft es ihr Interesse erheischt; Bestechung überall und krasseste Selbstsucht der Regierenden bei anscheinender Lethargie der Regierten: dies ist das Schauspiel, das sich dem Betrachtenden darbietet, ohne daß das Mikroskop, durch das er die Dinge betrachtet, nur besonders stark zu sein brauchte. Selbst die Protagonisten dieses Schau­ spiels haben des Menschlichen fast mehr als die irgend­ einer anderen Zeit und eines anderen Volkes. Ein Wil­ helm III. mag ein großer Politiker gewesen sein; dem Menschen gegenüber kann man sich eines leisen Fröstelns nicht erwehren; und die Weise, wie er sich des Thrones bemächtigte, wie er in Irland verfuhr, gehen selbst über die weiteren Schranken politischer Moral hinaus. Seine Nach­ folgerin ist eine schwache, und wie alle Schwachen eigen­ sinnige, dabei launische und beschränkte Person, die echte Tochter Jakobs II. Keiner der drei George fiößt einem Interesse oder auch nur Achtung für seine Persönlichkeit

ein; der einzige Mann der ganzen Familie ist Königin Karoline, wie sie die einzige Persönlichkeit ist, die uns menschlich anspricht, und sie starb früh. Ein Godolphin, ein Marlborough, ein Bolingbroke, ein R. Walpole sind wenig achtbare Charaktere und, mit Ausnahme des letzteren, sehr mittelmäßige Staatsmänner, trotz aller ihrer son­ stigen Begabung. Erst mit dem älteren Pitt und Burke kommt etwas mehr Schwung und sittlicher Ernst in die Staatsleitung, aber nur um den Preis höchst unenglischer, theatralischer „Pose", von der die Vorgänger ganz frei waren. Nie waren die Männer, welche den Großen als Dolmetscher und der Nation dienten, geistig begabter; aber vom moralischen Standpunkt, welche verbitterte Gehässig­ keit bei Swift, welche Würdelosigkeit bei Defoe, der den Sold jeder Partei ohne Erröten einstreicht; welche Heftigkeit und Persönlichkeit bei Junius, welche Gemeinheit bei Wllkes. Selbst Burke ist von einer Gereiztheit und Leidenschaftlich­ keit, welche es uns äußerst schwer macht, uns mit dem großen Seher persönlich zu befreunden. Wenden wir aber die Blicke weg vom einzelnen und sehen nur die allgemeine Entwicklung der Dinge und die Ergebnisse derselben, so ändert sich der Eindruck gänz­ lich. Selten in der Geschichte tritt die Macht der bewegenden allgemeinen Gedanken, Gefühle und Interessen, sowie der Druck des schon durch viele Nebenflüsse angeschwellten Hauptsiromes der geschichtlichen Vergangenheit auf­ fallender zutage als in diesem Jahrhundert des englischen Staatslebens. Es ist als ob die Persönlichkeit wirklich alle ihre Bedeutung verloren hätte, wie die Positivisten glauben; oder daß sie doch nur da sei, die allgemeine Strömung zu fördern, nie sie zu hemmen oder gar in ein anderes Bett zu leiten. Alles entwickelt sich mit der Gesetz-

lichkeit eines Natnrvorgaages. Die einzelnen verschwinden dem Auge des Überschauenden, wie in der Aufeinander­ folge der Jahreszeiten ein warmer Wintertag oder eine kalte Sommernacht dem Rückwärtsblickenden verschwinden vor der stetigen Erwärmung und Abkühlung der Tempe­ ratur. Die öffentliche und private Moral verfeinert und veredelt sich zusehends in diesem Jahrhundert, wo die Jmmoralität sich im öffentlichen wie im privaten Leben breit macht. Das wirkt die 1688 eroberte Öffentlichkeit der Kontrolle und Unabhängigkeit der Gerichte. Die Krone, deren Wille noch durchaus maßgebend ist unter Wilhelm IIL, muß unter Georg III., trotz aller Hartnäckigkeit und Herrschsucht ihres Trägers, sich unbedingt dem Willen des Parlaments fügen. Das ist die natürliche, wenn auch späte Folge der Einrichtung des Vertragskönigtums an Stelle des Königtums göttlicher Einsetzung als Ausflusses der Souveränität. Ebenso wird die Aristokratie, die noch am Anfang der Periode die entscheidende Macht ist — sie, nicht der Mittelstand, setzt Wilhelm zum König ein — immer ohnmächtiger. Sie stützt sich gegen die Staats­ kirche auf die Dissidenten, gegen den Kleinadel (Gentry), der von den Hannoveranern nichts wissen will, auf den Handel: beide wachsen ihm über den Kopf, und am Ende des Jahrhunderts sind die Rollen fast vertauscht und die Beschützten sind die Beschützer geworden: es ist der Handel und der Dissident, welche die whiggistische Aristokratie gegen König Georg III. verteidigen, als er sich im Gegensatz zu seinen beiden Vorgängern an die Spitze der Gentry und der Staatskirche stellt. Das ist die Folge der „feigen" Friedenspolitik der beiden ersten George und ihrer Minister, welche es dem Handel erlaubt hat, Reichtum und durch Reichtum Macht zu erwerben. Die Staatskirche ist noch

so populär und so lebensvoll unter Königin Anna, daß es ihr fast gelingt, der tatsächlichen Duldung des Dissents ein Ende ju machen; aber die Toleranzakte selber bleibt eine unantastbare Errungenschaft; sie wirkt im stillen, und am Ende des Jahrhunderts ist die Sache der Dissi­ denten moralisch, wenn nicht faktisch gewonnen; ja, der Diffent ist, als „evangelische Bewegung", in die Staats­ kirche selber gedrungen. Das Unterhaus spielt so lange das gefügige, aber unwiderstehliche Werkzeug der Krone, daß es seiner Bedeutung immer mehr inne wird und am Ende der Krone seine Bedingungen aufzwingt; und es konnte nicht anders sein; sobald es durch die bill of right der Krone unmöglich gemacht war, Geld ohne Zustimmung des Unterhauses zu erheben, mußte die, wenn auch späte Folge davon sein, daß die Krone in der Wahl ihrer verant­ wortlichen Räte vom Unterhaus abhängig wurde. Dies war keineswegs der Fall im Anfange des Jahr­ hunderts. „Es erregte noch nicht die geringste Überraschung, wenn die Königin einen oder alle ihre Minister trotz einer parlamentarischen Mehrheit entließ." (Minto, D e f o e.) Der erste und wichtigste Schritt zu einer tatsächlichen, nicht geschriebenen, Änderung der Verfassung war die Bildung eines rein whiggistischen Kabinetts bei Georgs I. Thron­ besteigung, und die unumschränkte Herrschaft des Premiers in diesem Kabinett. Bis dahin war jeder Minister nur für sein Departement und nur dem Könige verantwortlich. Von nun ab war das Kabinett homogen und hing vom Premier ab, dessen Willen der König sich fügen mußte, wenn er nicht ein ganzes Ministerium wechseln wollte, was er wiederum nur tun konnte, wenn er sich gänzlich in die Arme eines anderen parlamentarischen Chefs warf, der ihm einen gleichen vollständigen Generalstab und zugleich

mit demselben das stärkere parlamentarische Heer entgegen­ brachte. Was Wunder, wenn Georg II. gegen Ende seiner langen Regierung stch dazu verstehen mußte, sich einen Parlamentschef — den älteren Pitt — aufzwingen zu lassen, der ihm persönlich unausstehlich war und der stch soweit vergessen hatte, sein hannoversches Haus laut und grob zu insultieren. Auch jener nie vergessene ausländische Ursprung der königlichen Familie trug unmittelbar zur Beschränkung der Kronrechte bei. Der König wußte, oder sein Minister wußte für ihn, daß der Teil der Nation, welcher so recht die englische Überlieferung vertrat, ihm nicht gewogen war und bis tief ins Jahrhundert hinein Sympathien für das alte einheimische oder doch längst einheimisch gewordene Königshaus hegte. Nirgends hat das Mißtrauen gegen die Fremden eine größere Rolle gespielt als in England. Wir sehen italienische Minister wie Mazarin und Alberoni in Frank­ reich und Spanien, ausländische Könige, wie Philipp V. in Madrid, Bernadotte in Stockholm, so viele hohe Beamte in Rußland,Dänemark, Österreich, aus dem Auslande geholt: das Volk murrte wohl ein wenig in Toskana gegen die Lothringer, in Preußen gegen die Franzosen, aber der kosmopolitische Geist des Jahrhunderts war zu mächtig auf dem Festlande, als daß die Opposition über ein Murren hinausgegangen wäre. In England verdächtigte man den großen Holländer, der Englands Freiheit und Größe be­ gründete, den trefflichen Deutschen, der in unsern Tagen einen so heilsamen Einfluß auf das englische Leben ausgeübt, genau ebenso wie Squire Western gegen die „verfluchten" Hannoveraner tobte, wenn seine Schwester Politik sprach. Und es waren nicht allein die Squire Western, der ganze Staub, zn dem er gehörte, die Gentry, welche so recht

Altengland darstellte, die Staatskirche, ja, das niedere Volk teilten das Vorurteil, das Defoe in seinem tmeborn Englishman mit mehr gesundem Menschenverstand als Witz und Poesie satiristerte und so ganz besonders lächer­ lich bei einem Volke fand, das, jusammengesetzt aus bri­ tischen, römischen, angelsächsischen, dänischen und nor­ mannischen Bestandteilen, fast in allen Völkern Europas Vettern sehen mußte. Wie dem auch sei, die Hannoveraner mußten so gut wie Wilhelm III. mit diesem Mißtrauen rechnen und bei dem Parlamente Schutz suchen. Aufs Oberhaus konnten sie jählen; dort war die whiggistische Aristokratie in der Mehrheit; das hatte sie noch kurz vor­ her bewiesen, als sie die Sache der Tolerant siegreich gegen das Unterhaus verteidigt hatte, das die Dissidenten durch Untersagung gelegentlicher Teilnahme am anglikanischen Gottesdienste von allen öffentlichen Ämtern ausschließen wollte. Das Unterhaus also galt's zu gewinnen. Es wurden neue Wahlen angeordnet, bei denen die Regierung alle Hebel in Bewegung setzte und, dank der Organisationslosigkeit der Tories, den Sieg davontrug: gebot doch die Krone allein über siebzig boroughs, die großen Whigfamilien über die doppelte Anzahl, ward doch das Geld, wurden doch die Versprechungen nicht gespart; und die Krone verfügte damals noch über eine große Anzahl von Stellen, die sie heute nicht mehr zu vergeben hat. So kamen, angesichts der jakobitischen Schilderhebung von 1715, der sich der halb jakobibitisch, aber auch ganz protestantisch gesinnte Teil der Nation nicht anzuschließen wagte, Wahlen zustande, wie die unter Louis Philipp und Napoleon III. Sobald man aber die gewünschte Mehrheit hatte, setzte man, freudigst unterstützt von den Gewählten, die Westminster sehr angenehm fanden und die Kosten einer Neuwahl

fürchteten, den Septennial Act durch, welcher dem Könige und seinen Ministern sieben Jahre Zeit gab, sich fester einzuwurzeln, neue Interessen zu schaffen, alte an sich zu fesseln. Dieses Gesetz, welches anfangs als ein Akt der Reaktion betrachtet und noch lange so dargestellt wurde, erwies sich als ein der parlamentarischen Obmacht außer­ ordentlich günstiges. Natürlich stieg der Preis der Sitze, je länger man der Ehre sie einzunehmen sicher war; und es war dem reichen Kaufmannsstand ein leichtes, ver­ schuldete Junker aus dem Felde zu schlagen, wo es nur auf Geld ankam. Die Junker selber verschmähten die könig­ lichen Jahresgehalte nicht so leicht, wenn sie ihren Sitz auf sieben Jahre gesichert sahen. Das Unterhaus schützte denn auch die Krone, bis alle Gefahr vorüber, der letzte Angriff der Jakobiten (1745) abgeschlagen war; allein es war nur natürlich, daß der Schützling an Ansehen einbüßte, was der Beschützer gewann. Und auch bei den Gegnern verlor der König, der sich zu einem Parteiwerkzeug hergab, von seinem Ansehen, während die Tatsache, daß die Krone ausdrücklich ihres göttlichen Rechtes entkleidet wurde, die­ selbe sogar im Ansehen der Menge schwächen mußte. Allein auch die Aristokratie konnte ihre Macht nur einbüßen, je mehr sie sich dem Landadel und der Kirche entfremdete. Ihr gesellschaftlicher Einfluß blieb groß und ist bis heute groß geblieben, wie auch das gesellschaft­ liche Ansehen der Krone fast ungemindert geblieben ist. Ja selbst auf die Politik blieb die Einwirkung beider mittel­ bar noch sehr merklich; nur der Aristokratie war es zu danken, wenn Männer wie der ältere Pitt, wie Burke, wie Canning, wie Macaulay ins Parlament kamen, Schriftsteller wie Addison, Hume, Gibbon einträgliche Staatsämter erhielten. Aber Einfluß ist nicht Herrschaft:

diese entging dem hohen Adel immer mehr, oder er mußte sie doch teilen. Das vielgerühmte Gleichgewicht der drei Faktoren bestand eigentlich nur eine ganz kurze Zeit. Beim Beginne des Jahrhunderts war die Krone noch ausschlag­ gebend, obschon sie ihre Existenz der Aristokratie verdankte; bis in die sechziger Jahre war die Mehrheit beider Häuser ganz in den Händen der große» Whigfamilien; aber schon am Ende des Jahrhunderts hatte das Gewicht des Unter­ hauses die beiden anderen Schalen in die Luft geschnellt. Und das Unterhaus war nicht mehr, was es früher war. Seine Mehrheit bestand noch immer aus Männern der Gentry; aber der große Aufschwung des Handels und der Industrie hatte das flüssige Kapital bedeutend vermehrt, und die Besitzer dieses Kapitals traten immer mehr in den Vordergrund. Selbst wenn sie, wie die meist wohlhabenden Dissidenten, nicht ins Parlament dringen konnten, weil die Testakte ihnen den Eintritt verwehrte, so war ihr Interesse doch maßgebend, und die Plutokratie teilte sich mehr und mehr in die Herrschaft mit der Aristokratie. Es ist, bei allen Mißständen, doch immer der große Vor­ zug eines lauten, öffentlichen Lebens, daß, wo es besieht, die Wahlversammlung, welches auch immer das Wahl­ gesetz sei, stets die Nation in ihrer Gesamtheit vertritt; ja, man könnte fast sagen, dies laute öffentliche Leben sei die notwendige Lebenslust jeder Repräsentativverfassung. Walpole hatte die große Tugend der Unempfindlichkeit gegen persönliche Angriffe. Während die Preßprozesse und infolge derselben die härtesten Strafen für Preßvergehen, unter den torysiischen wie unter den whiggistischen Mini­ sterien der Königin Anna, noch regelmäßig auf der Tages­ ordnung standen, so hörte man von keinerlei gerichtlichen Verfolgungen der Art unter den beiden ersten Georgen.

Je sittlich achtbarer, je geistig überlegener, je materiell mächtiger die ausgeschlossenen Gesellschaftsklassen waren, desto größer das Gewicht ihrer Stimme. Eine öffentliche Meinung, welche nur die Meinung der besitzlosen Literaten in Mills Kaffeehaus gewesen wäre, hätte vielleicht Mühe gehabt, sich Gehör zu verschaffen; eine öffentliche Meinung, von der man wußte, sie vertrete den Fleiß, die Ordnungs­ liebe, die Sparsamkeit und infolgedessen den eigentlichen Reichtum des Landes, konnte man nicht ungestraft igno­ rieren. Die Interessen von Liverpool und Manchester waren, schon ehe diese Städte Abgeordnete wählen durften, so gut und besser in der englischen Politik gewahrt, als nach den beiden großen Wahlreformen des 19. Jahrhunderts. Niemand aber von allen englischen Staatsmännern hatte ein schärferes Ohr für diese unvertretene Meinung als Robert Walpole, der, mit allen seinen Fehlern und Tugenden der echte Typus des aristokratischen Staatsmannes war. Es ist der Vorteil der Oligarchien, wie sie Rom, Venedig, England in ihren besten Zeiten gekannt, daß sie nicht wie Demokratien und Despotien überlegener, ja genialer Staatsmänner bedürfen, daß sie auch mit dem Talent, ja nötigenfalls der Mittelmäßigkeit, ganz gut fahren. Sie haben das mit den bureaukratischen Re­ gierungen gemein, welche ebenfalls halbe Jahrhunderte lang — wer dentt dabei nicht an die preußische Entwicklung von 1815 bis 1862? — genialer Männer entraten können, ohne daß der Staat darüber versumpfe oder auf Klippen gerate. Auch im oligarchischen wie im bureaukratischen Gemeinwesen findet der staatsmännische Genius Mittel und Gelegenheit, seine wohltuende Kraft zu entfalten, von Zeit zu Zeit das Ganze mit einem plötzlichen Ruck vorwärts zu bringen, so Anstöße zu geben, die dann halbe

Jahrhunderte fortwirken in geebneten Betten. Der Korps­ geist und die Überlieferung machen sich dann als Kollektiv­ tugend und Kollektivweisheit geltend und leisten manchmal mehr, wenn auch geräuschlos und glanzlos, als große Despoten und Dolksmänner, deren SchSpfungen oft ihren Schöpfer nicht überdauern, weil jener stetig wirkende Orga­ nismus nicht da ist, ste zu wahren und auszuarbeiten. Nie hat England größere Fortschritte gemacht als in dem halben Jahrhundert von 1714—1760. Das Land ward reich, die Bevölkerung nahm rasch zn, auch das geistige Leben stand, wie wir sehen werden, nicht still; selbst sittlich war der Fortschritt groß, trotz der persönlichen Unsitt­ lichkeit Walpoles und seiner Werkzeuge. Zum größten Teile allerdings war dieser Fortschritt dem wachsenden Einflüsse des fleißigen und tüchtigen Mittelstandes zn danken. Indes auch dem leitenden Minister und seinen Leuten kam ein Verdienst dabei zu. War doch jene Kontrolle der Öffentlichkeit, welche die Jmmoralität immerhin in gewissen Grenzen hielt, die direkte Folge von Walpoles „Dickhäutigkeit", welche, wie Thiers' „alter Regenschirm", alles über sich ergehen ließ; vor allem aber, Walpole war ein Feind alles cant. War niemand dem großen deutschen Landjunker unseres Jahrhunderts unähnlicher in bezug auf moralische Laxheit wie, leider! auch in jener Gleich­ gültigkeit gegen das Kläffen der Presse, als der englische Landjunker des vorigen Jahrhunderts, so glich er ihm doch ungemein in dieser Verachtung des Scheins, der Komödie, der konventionellen Lüge, auch der anscheinend unschuldigsten. Die pompöse Tugend nennt das freilich Zynismus, damals wie heute; aber diesem Zynismus, der es verschmähte, der Tugend jene Huldigung darzu­ bringen, die, so sagt man, in der Heuchelei besteht, dankte

es England doch, daß die Wahrheit und mit ihr eine höhere Sittlichkeit ins politische Leben drang. Auch hatte Walpole als Staatsmann große negative Tugenden. „Es ist der Fehler vieler Geschichtschreiber", bemerkt Lecky sehr fein, „und das Unglück vieler Staats­ männer, daß diese oft beinahe ausschließlich nach den Maßregeln beurteilt werden, die sie durchgesetzt haben, und gar nicht nach den Übeln, die sie abgewandt." Und Walpole verhinderte nicht nur viel Übel. Getreu dem Grundsätze quieta non movere ließ er die Dinge sich ruhig entwickeln, ohne durch vorzeitige Reformen in diese Ent­ wicklung einzugreifen oder sie durch Repression zu hemmen. Er unterdrückte niemand und nichts, und, mit Ausnahme eines Krieges, den er im Handelsinteresse Englands zuließ, wußte er dem Lande den Frieden zu erhalten, ohne dessen europäische Stellung zu vermindern. Als seine und seiner Nachfolger, der Pelhams, Regierung ein Ende nahm, war das Land mutatis mutandis ungefähr in der Lage, in welcher es sich 1874 befand, als die liberale Regierung Gladstones der konservativen Lord Beaconfields Platz machte; ganz Europa und ganz England selber sprachen von dem Niedergänge der englischen Größe usw.; aber bei alledem hatte die Welt das Gefühl, wenn nicht das Be­ wußtsein, daß sich in dieser Zeit der Zurückhaltung Kräfte angesammelt hatten, die ein ungeheures Gewicht in die Wagschale werfe» würden, wenn sich England je ent­ schließen sollte, aus dieser Zurückhaltung herauszutreten. Die heutigen Engländer demokratischer Schule lassen sich hier leicht durch sittliche Bedenken oder Parteirücksichten beirren. Weil Walpoles innere Regierung eine unmoralische und eine aristokratische war, weil es ihr namentlich an allem Schwung fehlte, meinen sie auch seine äußere Politik

verurteilen >u müssen, welche doch so recht eigentlich ihre eigene ist. Ist doch die unter ihnen herrschende Reaktion gegen Wilhelms in. europäische Politik, wie gegen seinen panegyrisiischen Geschichtschreiber Macaulay so groß, daß ein Schriftsteller von I. Morleys Bedeutung den spanischen Erbfolgekrieg den „unsinnigsten aller englischen Kriege" ju nennen nicht ansteht und ein Geschichtschreiber wie Lecky, wenn auch mit mehr Mäßigung, derselben Meinung huldigt. Ja, ersterer bejeichnet sogar kurzweg die Jahre, in die der andere große Kampf Großbritanniens gegen Frankreich fällt, als Jahre einer „verruchten Mißregierung" (odious misgovernment). Danach sollte man meinen, sie müßten den Inhalt wenigstens, wo nicht die Form, der Walpoleschen Friedenspolitik billigen; aber Morley sowohl als Lecky, ja sogar der ungleich weniger im modernen Parteistandpunkte befangene L. Stephen lassen sich von dem Gerede der Zeitgenossen, namentlich Friedrichs des Großen, Josephs II., Katharinas II., bestimmen, welche Englands Ende schon gekommen sahen, und schildern den Zustand ihres Vaterlandes bei der Thronbesteigung Georgs IIL, d. h. im Augenblick, wo die Früchte der fünfzigjährigen Whigregierung zutage traten, als einen traurigen und wenig beneidenswerten. Wieviel richtiger sieht nicht unser Hettaer, der doch der politischen Geschicht­ schreibung wie dem politischen Leben so viel ferner steht, als jene Engländer! Ihm erlaubt eben die deutsche historisch­ philosophische Weltanschauung, die Dinge in den richtigen Sehwinkel zu stellen. Noch einmal, um jenen fünfzig Jahren englischer Geschichte gerecht zu werden, muß man die Ergebnisse derselben nicht aus den Augen verlieren und sich in Be­ trachtung der Dinge und Menschen während dieser Zeit

immer «ttf dem Standpunkte der Vogelperspektive halten. Wohl war das Unterhaus, mittelst dessen Walpole und die Pelhams regierten, käuflich und tyrannisch jvgleich. Die Regierung verfügte noch über jahlreiche Stellen, die ihr erlaubten, wie unter Louis Philipp, das Haus mit ihren Kreaturen ju füllen; ste stand nicht an, gegnerische Stimmen ju kaufen, wo es nur anging. Das Haus wachte eifer­ süchtig über seine Vorrechte; suchte die Preßfreiheit zu beschränken, wo es konnte, und zeigte sich ihr gegenüber unendlich empfindlicher als die Regierung. Es sträubte sich, wie Napoleons III. gesetzgebender Körper, ungue et rostro gegen die Veröffentlichung seiner Debatten und Ab­ stimmungen, die es am Ende doch zugeben mußte, was dem Bestechungsverfahren den ersten empfindlichen Stoß versetzte. Es mißbrauchte das Recht der Wahlprüfung fast ebensosehr als 1878 die republikanische Kammer in Versailles, um die konservative Minderheit auszuschließen. Gewiß war die Parteiregierung, so oft sie selbst in der äußeren Politik das Parteiinteresse über das Landesinteresse stellte, höchst gefährlich; gewiß war die übertriebene Be­ deutung, welche die Beredsamkeit in Anspruch nahm, nicht immer zum Besten des Staates: im ganzen genommen war der Gewinn für das Land ein beträchtlicher. Es war eben eine Durchgangsperiode, in der fich die end­ gültige Verfassung Englands aus dem aristokratischen Gemeinwesen herausbildete, wie unsere Zeit für Deutsch­ land die Periode ist, in welcher fich eine neue Verfassung aus dem bureaukratischen Regime herausbildet; und es sieht zu hoffen, daß wir soviel von diesem bureaukratischen Charakter hinüberretten werden, als die Engländer von ihrem aristokratischen hinübergerettet haben in den modernen Freiheitsstaat. Die heutigen Engländer find freilich sehr

vergeßlicher Natur: sie können nicht begreifen, daß kaum hundert Jahre sie von einem politischen Zustande trennen, der mit dem heutigen Deutschlands gar viel Ähnlichkeit hat: Obmacht der Krone und des herrschenden Standes, hier des Beamtensiandes, dort des hohen Adels; Ausritteindersetzung mit der römischen Kirche; mühsame Eman­ zipation und Lehrzeit der Presse usw., daß wir beschäftigt sind in einem Worte, den politischen Vorsprung Englands nachzuholen, wie England beschäftigt ist, den administra­ tiven Vorsprung Deutschlands einzuholen. Die verstock­ testen Patrioten Großbritanniens werden zugeben, daß in sittlicher Hinsicht unser öffentliches Leben nicht auf der Stufe der Walpoleschen Zeit steht und dem heutigen England in nichts untergeordnet ist. Welches die Verfassung sein wird, die sich aus unseren gesellschaftlichen und historischen Verhältnissen entwickeln wird, kann niemand voraus­ sagen: aber bis jetzt war unsere staatliche Entwickelung so normal und gesund, daß wahrlich an der Zukunft nicht zu zweifeln oder gar zu verzweifeln ist.

II. Die englische Nation, sahen wir, erlangte während des 18. Jahrhunderts ihren noch von niemandem auf dem Fesilande eingeholten Vorsprung im politischen Leben. Das Schauspiel dieser Entwickelung machte einen gewal­ tigen Eindruck auf die fremden Zeitgenossen, und Montes­ quieu brachte dies seltene Naturerzeugnis von einem ge­ mischten Staate, von dem schon die Alten geträumt, in eine Theorie, stellte es der Welt nicht nur als nachahmens­ wert, sondern auch als nachahmbar dar. Man weiß, von welcher Tragweite diese seine Tat war; aber es scheint uns nur natürlich, daß die besten Köpfe Englands, insotztttebranb, Zeiten und Menschen.

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weit sie dem Kampf um die Macht ferne standen, die Dinge anders anschauten. Sie sahen die korrupte, selbstische und anscheinend tatenlose Parteiregierung ihres Vaterlandes in der Nähe und verglichen sie mit dem Festlande, wodurch sie dann fast so kontinental wurden, als die fremden Be­ wunderer Englands englisch wurden. Nicht nur Hume und Gibbon, fast alle bedeutenden Denker Englands waren überzeugte Anhänger des „aufgellärten Absolutismus", der gerade jetzt überall in Europa Wunder verrichtete; ja, Hume meinte, derselbe würde auch das Los Englands sein, wenn die demokratische Evolution vollendet sein würde, „der leichteste Tod, die wahre Euthanasie der britischen Verfassung". Und es konnte nicht wohl anders sein, wenn sie, die am lauten Treiben und Kämpfen des öffentlichen Lebens kein Gefallen fanden, das Festland aus der Ferne betrachteten und Fürsten wie Friedrich II. und Peter Leopold, Minister wie Aranda und Turgot am Werke sahen, welche nie an sich, sondern immer nur an den Staat dachten, sich mit demselben identifizierten, das Beispiel der Sparsamkeit, des Fleißes und der Selbstauf­ opferung gaben; wenn sie überall rationelle Gesetzbücher eingeführt, die Rechtspflege vereinfacht, verwohlfeilt und namentlich gemildert, große öffentliche Bauten, Straßen und Kanäle im allgemeinen Interesse ausgeführt, überall Staatsschulen und Krankenhäuser eingerichtet und über­ wacht sahen; wenn sie damit die verwahrlosten Schulen, die damals gerade sehr darniederliegenden Universitäten, den Zustand der öffentlichen Sicherheit und der Gefäng­ nisse, die schwerfällige oder leichtsinnige Laienjustiz, die Eheverhältnisse und die Heereseinrichtungen in ihrem eigenen Lande verglichen. Was war natürlicher, als daß sie über dem Anblicke dieses administrativen Vorsprungs

des Festlandes, dessen politischen Rückstand vergaßen, zumal ste aus der Ferne kaum die Schattenseiten jenes beneideten Regimes entdeckten, während die des heimischen Regimes, namentlich das mit dem Parlamentarismus fast unjertrennliche Bestechungswesen, ihnen nur alljvsehr in die Augen sprangen. Selbst alte Parlamentarier, wie Horace Walpole, wurden „aus warmen Anhängern der Freiheit ergebene Freunde der Regierungen", nicht weil sie „eine gute Stelle oder eine Gratifikation" bekommen, als welche „in England die Beweggründe solcher Be­ kehrungen ju sein pflegen", sondern aus Bewunderung für „die beiden menschlichen, tugendhaften und ausge­ zeichnete» Minister" Ludwigs XVI., Turgot und Males­ herbes. Auch verlangten diese englischen Bewunderer des „aufgeklärten Absolutismus" so wenig wie ein Voltaire oder Diderot eine Willkürherrschaft, sondern nur die absolute Monarchie, als welche ebensogut Regierung nach Gesetzen ist, wie das parlamentarische Königtum oder die Republik; denn sie wußten sehr wohl, was ihre Landsleute von heute durchaus nicht begreifen wollen, daß ein deutscher bezahlter Beamter ganz ebenso gesetzlich handelt und handeln muß, als ein englischer „Magistrate". Montesquieu selber teilt bekanntlich die Regierungen ein in republi­ kanische, monarchische und despotische und nennt „monar­ chisch" nicht nur die gemischte englische Staatsverfassung sondern auch die absolute, d. h. bureaukratische, und sieht den Unterschied eben darin, daß diese von den Gesetzen, jene, die despotische, von der Laune geleitet wird. Wo die englischen Freunde des Absolutismus unrecht hatten, war, wenn sie dieses festländische Regime für England anempfohlen, wie ihre Nachkommen unrecht haben, uns zur Annahme ihres Jnsularregimes zu raten, ehe wir die

Vorbedingungen dazu erlangt haben. Es wäre wirklich an der Zeit, man hörte endlich auf, den englischen Parla­ mentstaat oder den deutschen Beamtenstaat als Universal­ rock anzupreisen, der auf jeden Rücken passe, soviel sie auch voneinander entlehnen können. Die isle of Man wird von einem Klub der Gentlemen regiert, der sich beim Tode oder Austritt eines Mitgliedes selbst ergänzt durch Zuziehung neuer Gentlemen im Wege der Kugelung. Man sagt, diese Verfassung bewähre sich ganz vortrefflich, und man könnte auch zur Not eine ganz plausible allge­ meine Theorie dieser Regierungsform aufstellen. Ich denke aber doch, es wird niemandem so leicht einfallen, dieselbe in Italien oder Rußland einführen zu wollen. Und wieviel komplizierter, einziger in ihrer Art, wieviel weniger allgemeingültig ist doch die britische Verfassung, die man uns allenthalben zur Nachahmung empfiehlt, und wonach, wenn man den Schülern Montesquieus folgen darf, „eine Regierung als ein großes Ballett betrachtet werden sollte, in welchem, wie in einem anderen Ballett, alles von der Disposition der Figuren abhänge". (Delolme, zitiert von L. Stephen.) Diese Betrachtungsweise, welche bei Montesquieu nur erst im Keime vorhanden war, wurde immer allge­ meiner im vorigen Jahrhundert und, selbst wenn diese konstitutionelle Mechanik auch König, Königin, Läufer, Springer und Turm wegließ, um nur Bauern gelten zu lassen, wie in Rousseaus „gesellschaftlichem Vertrage", ihrem Wesen nach blieb sie immer dieselbe; und sie hat ihre Wirkung bis tief in unser Jahrhundert erstreckt. Was sind Mr. Hares und I. St. Mills Kombinationen für Vertretung der Minderheiten anders als die Enkel jener Verfassungen mit direktem und indirektem Wahl-

recht, Vertretung der Kapazitäten, jährlichen Parlamenten, Teilung der Gewalten, absolutem Veto, suspensivem Veto usw.? Alle betrachteten und betrachten die Menschen wie mathematische Einer, anstatt sie als lebendige Orga­ nismen aufzufassen. Die praktischen Politiker Englands, deren Tätigkeit die Theoretiker der Staatsrechtslehre so in Systeme faßten, waren darum nicht minder große Poli­ tiker; ließen sich auch in keinerlei Weise auf jene Kon­ stitutionsausklügelei ein; und der konservative Geist der englischen Verfassung bei all ihrer Elastizität, der gerade politische Sinn des englischen Volkes, seine Vorurteile auch, seine matter-of-fact Gewohnheiten, ja, jene Stockdummheit", welche den Radikalen Englands so unerträglich ist, machten, daß die Theorien der Verfassungskünstler nie eindrangen, wie in dem abstraktionslustigen Frankreich und dem spekulativen Deutschland. Bald auch sollte dem unklaren Widerstreben, das sich im Schoße der Nation gegen die mechanisch-ratio­ nalistische Staatsrechtslehre und ihre praktischen Forde­ rungen regte, ein großer Sprecher erstehen, der das Wort für den dunklen Drang zu finden wußte. Burke gehörte durch seine Geburt der Lessingschen Generation an — er war 1729 geboren —; durch den Gedanken, den er vertrat, war er ein Genosse Herders; mehr als ein Genosse, er war für England und die politischen Theorien genau, was Herder für Deutschland und die literarischen Theorien: der Verkünder des historischen Prinzips, das die Weltan­ schauung in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts be­ herrschen sollte, der Herold, der das Zeichen zum Angriff gegen den Rationalismus und Mechanismus des vorigen Jahrhunderts gab. So hoch sich auch ein Montesquieu, ein Lessing über die platten Rationalisten ihrer Zeit er-

hoben, so vielfach sie auch kraft ihres Genies das sahen, was die folgende Generation als den Kern aller Dinge dar­ stellen sollte: sie wurzelten immerhin im Boden des Ratio­ nalismus; die Verständigkeit des common sense hatte in ihnen ihren HSchsten Ausdruck gefunden, hatte sich in ihnen bis zum Genie gesteigert; war so über sich selbst hinausgegangen. Burke und Herder dagegen machen Front gegen dieselbe. Man vergleiche Lessings und Herders Untersuchungen über die Fabel, Humes Essay über die „Politik als Wissenschaft" und Burkes „Reflections", so fühlt man sofort, daß hier zweierlei Sprachen geredet werden. Und Burke wie Herder sprachen den Grund­ gedanken ihrer Lehren schon in ihren ersten Jugendschriften aus. Burkes erste Schrift erschien zehn Jahre vor Herders „Fragmenten", freilich ohne den allgemeinen und erobernden Eindruck zu machen, den die Erstlingsschrift unseres Täufers machte. Es war eine Parodie Bolingbrokes und seiner Manier. Der Ruf dieses „britischen Alcibiades", den man gewagt hat, mit Mirabeau zu vergleichen, war noch unan­ getastet, als der jugendliche Burke ihn auf diese Weise persiflierte. „Wer, geboren in den letzten vierzig Jahren .... hat Bolingbroke gelesen?" mochte er einunddreißig Jahre selbst ausrufen. Im Jahre 1756, als Burke seine Vindication of Natural Society schrieb, wandte er sich noch an eine Generation, die nicht höher schwur, als bei Bolingbroke. Und welches war der Grundgedanke dieser kühnen Schrift, wenn nicht der, daß nicht ein bewußter vernunftgemäßer Vertrag, sondern Verjährung den „sichersten (most solid) aller Rechtsansprüche nicht nur aufs Eigentum sondern auf das, was das Eigentum sichert, den Staat ausmacht"? Daß die Welt zerfallen würde, „wenn die Übung aller moralischen Pflichten und die Grund-

lagen der Gesellschaft darauf beruhten, daß ihre Gründe jedem einzelnen klar und nachweisbar gemacht würden?" Daß die Verfassung „ein Kleid ist, welches sich dem Körper anpaßt", nicht ein Mantel, der für alle Schultern gerecht ist? Und Burke war, wie Herder, ganz von diesem einen Gedanken beseelt und ausgefüllt; seine ganze Lebenstätigkeit war eine Auseinandersetzung, Entwickelung, Vari­ ation dieses Gedankens. Seneca hatte einen gewaltigen Respekt vor einem Manne, der nur ein Buch zu lesen pflegte; wieviel größer ist die Macht eines Mannes, der nur einen Gedanken hegt! Das Geheimnis von Burkes gewaltiger Wirksamkeit, bei so vielen Nachteilen der Stellung, der Bildung und des Temperaments, liegt hier. Immer und immer wieder kam er darauf zurück, daß von der Geschichte mehr politische Weisheit zu lernen sei, als von der philosophischen Spekulation; „gelernt, wohlver­ standen als Gewohnheit, nicht als Vorschrift, als eine Übung, den Geist zu stärken, nicht als ein Repertorium von Fällen und Antezedentien für einen Advokaten". Immer und überall erhebt er sich gegen die allgemeine Abstraktion für die konkrete Besonderheit, für individuelles organisches Leben. Seine Bekämpfung der demokratischen Vaterlandslosigkeit, hundert Jahre, ehe sie sich in der französischen Kommune und der deutschen Sozialdemokratie ganz nackt und schamlos zeigte, war wie eine Vorahnung der Wichtigkeit, der übertriebenen Wichtigkeit, welche unser Jahrhundert dem Nationalitätsprinzip geben sollte. Ähn­ lich seine Auffassung der Aristokratie als der Trägerin der politischen Tradition gegenüber der ephemeren Existenz einzelner Politiker, wie er selber einer war. Damit wiederum hängt seine Bewunderung für den englischen Landjunker zusammen, der so recht eigentlich den Kern der Nation als

historischer Einheit ausmachte, und mit dem er persönlich ebensowenig gemein hatte als mit der Aristokratie, wie es denn überhaupt bedeutenden Menschen oft begegnet, daß sie das am höchsten schätzen, was ihnen selbst abgeht. Die wahre Aristokratie und gar die wahren Landjunker wissen wenig, was sie im Staate bedeuten: es bedarf erst der Eintagsfliege eines irischen Literaten, um ihnen ihre Bedeutung zum Bewußtsein und in eine Theorie ju bringen. Dazu gehört freilich Burkes wunderbare Fähigkeit zu generalisieren, ohne die Tatsachen aus den Augen zu verlieren. Auch die anscheinende Inkonsequenz in seiner politischen Laufbahn erklärt sich aus dieser historischen Grundansicht vom natürlichen Wachstum, dem organischen Werden eines gesunden Gemeinwesens. Er war nur ein Gegner des Umsturzes, der diesen Werdeprozeß unterbrach, um die Schöpfungen des willkürlichen Verstandes an dessen Stelle zu setzen; nicht der Reformen, die ihn erleichterten und förderten. „Wenn der Grund alter Einrichtungen dahin­ gegangen, so ist es absurd, nichts als ihre Last zu bewahren. Das heißt, abergläubisch eine Leiche balsamieren, welche nicht eine Unze der Körner wert ist, die man daran wendet, sie zu erhalten." Daher denn auch seine liberalen Reformvorschläge, welche Abstellungen von Mißbräuchen bezweckten, den Einfluß und die Bestechungsmacht der Krone aufs Parlament beschränkten und im Grunde mehr zur Unabhängigkeit des Unterhauses und zur Wahr­ haftigkeit des politischen Lebens beitrugen, als die beiden großen Wahlreformen des 19. Jahrhunderts. Daher auch eine lebhafte Parteinahme für die Nordamerikaner. Der Unabhängigkeitskrieg war in der Tat, nach I. Morleys tiefer Bemerkung, ein zweiter englischer Bürgerkrieg, und

in diesem Bürgerkrieg stand Burke auf der Seite derer, die nicht — oder doch noch nicht — allgemeine Menschen­ rechte, sondern die geschriebenen und verbrieften Rechte britischer Untertanen anriefen; und er stand hier fast ganz allein gegen die Nation, die leidenschaftlich den Krieg wollte. Erst als die französische Revolution ausbrach, begann er den Zusammenhang beider Bewegungen einzusehen. Und er zögerte nicht einen Augenblick. Vom ersten Tage an denunzierte er die Revolution als ein Werk des Verstandes­ hochmuts, der sich unterfange, die Geschichte von neuem zu beginnen, in Wirklichkeit aber sich in die Dienste der rohesten Leidenschaft begeben hatte. Als noch ganz Europa für die hohen Gedanken der Revolution schwärmte, noch ehe die Bastille gestürmt war, sah dieser Prophet des Konservatismus die Quellen der Bewegung und die Extreme, zu denen sie führen mußte, mit derselben un­ erbittlichen Klarheit, mit welcher sie später ein Tocqueville, ein Sybel, ein Taine, dank den tiefsten und eindringendsten Forschungen, erkannt haben. Burke war keineswegs der Aristokratendiener, als den man ihn darstellt; aber er hielt die Freiheit für un­ möglich ohne Aristokratie; das wenigstens sah selbst ein Mirabeau noch vor seinem Tode ein, daß die neue Ver­ fassung Frankreichs einen Richeleu hätte entzücken müssen, da ihre gleiche Oberfläche die Ausübung der absoluten Gewalt so sehr erleichterte. Und obschon Burke keineswegs die Verachtung für die „großen bösen Männer" von Richelieus Art hegte, welche unsere Demokraten an den Tag legen, so war er doch der Überzeugung, daß eine ruhige organische Entwickelung solchen genialen Chirurgen vor­ zuziehen sei. Und er bestritt nicht nur die politische Be­ fähigung der Advokatenversammlung von 1789 schon mit

den tatsächlichen nnd logischen Beweisen, denen Taine erst in unser» Tagen einige Geltung hat verschaffen können; er zog auch die Notwendigkeit selber einer gewaltsamen Re­ volution in Frage. Er hatte kurz vorher Frankreich bereist und sich überzeugt, daß die große Umwälzung nicht durch unerträgliche Leiden hervorgerufen sei. Das mag nun freilich eine recht oberflächliche Beobachtung gewesen sein; aber weil eine Umwälzung und eine schleunige Besserung der Umstände notwendig war, so ergibt sich noch nicht, daß die Greuel von 1789 oder gar die von 1792, 1793, 1794 unerläßlich waren, um einen besseren Zustand herbeizu­ führen. Sicherlich ist die Anschauung, welche meint, die Bewegung rechts oder links eines Generals oder eines Staatsmannes könnte den ganzen Strom der Geschichte in andere Betten leiten, eine äußerst mechanische, die selbst der indirekteste Schüler Hegels nicht wird gelten lassen wollen; aber auch im andern Extrem kann man zu weit gehen; Wohl war die große Revolution notwendig, das muß zugegeben werden, und keine Menschenkunst hätte sie aufhalten können; aber mußte sie wirklich so greuelhaft sein? Mußte wirklich all dies Blut vergossen werden, um die neuen Zustände zu schaffen? Burkes leidenschaftliche Erbitterung, die über alles Ziel hinausschoß und ihn sich soweit vergessen ließ, daß er zu den geschmack- und maßlosesten Insulten griff, muß uns über die ersten Beweggründe seiner Haltung so­ wenig täuschen, als Herders verbitterte und gehässige Stimmungen «ns an seinem edlen Streben irre machen. „Tu te fäches, donc tu as tort“, sagt das französische Sprichwort, und Burke selbst meint irgendwo: „Die schwächsten Räsonnements machen mir die größte Angst, weil sie die stärkste Leidenschaft verraten." Auch er „rä-

sonnierte" am Ende nur noch sehr schwach und tobte wie ein Wahnwitziger. Darum war der Krieg, den er führt, doch in der ganzen Richtung des Menschen von Anfang an gegeben. Jene sheer stupidity, welche die Radikalen I. St. Millschen Bekenntnisses im englischen Lorysmus sehen, erbliäte er in der Unfähigkeit seiner Zeitgenossen, die Leere und Unfruchtbarkeit des rationellen Staats­ prinzipes einzusehen: nichts aber ist häufiger als Menschen von gemäßigten Ansichten in blinden Zorn geraten zu sehen, wenn sie gewisse Wahrheiten, die ihnen sonnenüar vor der Seele stehen, ehrlichen und sonst gescheidten Leuten durchaus nicht begreiflich machen können. Wenn man sich nun erinnert, welche Wichtigkeit selbst die größten Denker jener Zeit den äußerlichsten Regierungsformen beilegten, so kann man sich auch vorstellen, welche Anstrengung es erforderte. Buckes Gedanken nicht nur den Interessen und Gefühlen — die waren zum größten Teil auf seiner Seite — sondern auch dem Verständnisse der Zeit nahe­ zubringen. Richt nur Männer wie Paine predigten auch in Eng­ land, alle Könige und Priester seien Betrüger, Loyalismus müsse so gut verschwinden wie Aberglaube, Demokratie und Naturreligion in Rousseaus Sinne seien die einzigen Wahrheiten; auch Priestley sprach in ähnlichem Sinne; auch Bentham ignorierte noch vollständig die historische Methode in der Politik und war „fast den überlieferten Religionen und Einrichtungen so feindlich als Rousseau, wenn schon er seine Abneigung in einem sehr verschiedenen Dialekt aussprach". (L. Stephen.) Meinte doch selbst ein Hume, Gesetze und Einrichtungen wären „ganz unab­ hängig von den Launen und dem Temperament der Menschen", wo Burke behauptete, „Gesetze reichten nicht

weit; wie man auch die Regierung einrichte, der bei weitem größte Teil derselben hänge von der Weise ab, wie die Gewalt ausgeübt werde. Aber die Klugheit und Ehrlichkeit der Staatsdiener, auf welchen aller Nutzen und alle Macht der Gesetze beruhe, würde im (künstlich hergestellten) Ge­ meinwesen nichts Besseres sein als ein Plan auf Papier, nicht eine lebendige, wirkende, entscheidende Verfassung." Fox und Sheridan, möchte ich, John Morleys Worte variierend, sagen, bewunderten die konstituierende National­ versammlung auf Grund rationeller Staatsrechtslehre; Burke verurteilte ste auf Grund historischer Staatsrechts­ lehre. Und diese Lehre hatte er lange vor 1790 gepredigt. Er war nur konsequent, wenn er jetzt die Eingriffe des Volkes in die geschichtliche Entwickelung ebenso streng be­ urteilte als früher die Eingriffe der Könige in dieselbe. Wohl hatte er selbst früher behauptet, man müsse einen Schleier über alle Ursprünge der Regierungen werfen, und damit die innerste Notwendigkeit alles Staatslebens aus­ gesprochen, während er jetzt den Schleier von dem in Geburtswehen liegenden Frankreich unbarmherzig abriß. Aber jene Forderung bezog sich nur auf die Vergangenheit, nicht auf die Gegenwart. Erst nach Verjährung sollten Staatseinrichtungen dieses Benefiz haben, daß man ihren Ursprung nicht in Frage ziehe; solange noch was zu hin­ dern, solange noch möglich war, das Alte zu erhalten und friedlich noch umzugestalten, durfte, mußte er gegen die gewaltsame Operation protestieren, die sich unterfing, die Macht zu erschüttern, „Die in verjährt geheiligtem Besitz, In der Gewohnheit fest begründet rnht. Die an der Völker frommen Kinderglanben Mit tausend jähen Wurzeln sich befesttigt."

So sehr er übrigens auch der Leidenschaft erlaubte, seiner Herr zu werden, Burke blieb doch immer ein echter Brite im Geltenlassen des Tatsächlichen. Wohl verfiel er selbst einmal aus Leidenschaft in das Extrem, das er bekämpfte, und wurde selber so mechanisch, als es nur ein Mably oder Sieyes sein konnten, wenn er die ganje Revolution als ein planmäßig angelegtes Werk, als das „Ergebnis eines Komplottes" ansah; aber in seiner Theorie ging er doch nie bis jur Absurdität, ju welcher franzöfische Logik einen Joseph de Maistre brachte, wenn er als letzte Instanz der geheimnisvoll wirkenden geschichtlichen Mächte das Papsttum angesehen wissen wollte! So untergeordnet Burke als Schriftsteller auch einem Montesquieu und Hume gegenüber erscheint, in der Einficht in das wahre Wesen der britischen Verfassung ist er doch beiden überlegen. Er ist auch hier wieder das Verhältnis Herders zu Lesfing. Burke war sowenig Staatsmann als Herder Dichter und, wie Lessing „mit Röhren und Pumpen" am Ende doch größere positive Leistungen hervorbrachte, als Herder mit all seiner Inspiration, so blieb auch Burke als tätiger Politiker weit hinter dem zurück, was seine Zeit­ genossen von ihm erwarteten. Obschon durchaus rednerisch angelegt wie Herder, war er doch kein großer Redner, nicht einmal ein großer Schriftsteller, er war ein politischer Pamphletär von Genie und, da das Pamphlet damals war, was heute ein Leitartikel ist, ein politischer Journalist ersten Ranges, wie Herder ein literarischer Journalist ersten Ranges war; immerhin ein Journalist, der die Hand in den Geschäften gehabt hatte, nicht wie die unsern nur über Politik reden konnte, sondern Politik gemacht hatte. Burke war aber nur ein Prophet, ein Anreger, und als solcher hat er Großes gewirkt; zum praktischen Staatsmann

fehlte ihm so gut wie alles. Seine Wirksamkeit war darum doch nicht nur auf die Gedankenwelt beschränkt. Nicht alle seine Vorschläge zur Reform des Unterhauses und der Krongüterverwaltung setzte er durch; es gelang ihm nicht den nordamerikanischen Krieg ju verhindern; W. Hastings, den er so unerschrocken verklagte, wurde freigesprochen: aber die Verhältnisse der Krone jum Parlament, Englands zu Nordamerika, des Mutterlandes zu Indien gestalteten sich doch, wie er es gewünscht und, weil er es so gewünscht, alle seine Kraft an die Verwirklichung dieses seines Wunsches gesetzt hatte. Ich will hier nicht länger bei Burke verweilen, trotz seiner bedeutenden Stellung in der Geschichte der englischen Weltanschauung, noch die Parallele mit Herder allzuweit ausspinnen; sonst könnte ich der Vergleichungspunkte noch viele hervorheben, in seinem Mangel an Humor, in seinen moralisch-ästhetischen Urteilen — er spricht von „Tom Jones" etwa wie Herder von „Gott und der Bajadere" — in seiner Stellung gegen die Atheisten und Freidenker —, wie er denn auch sehr viel zu dem modernen Vorurteil beigetragen hat, daß politischer und religiöser Konservatismus zusammengehen müssen, während doch aller höhere Konservatismus wenigstens soviel Skepsis voraussetzt, als zur Toleranz nötig ist, — und in vielen anderen Eigentümlichkeiten. Es muß genügen, wenigstens angedeutet zu haben, daß die Reaktion des Werdeprinzips gegen das Macheprinzip in staatlichen Frage» von Burke ausgeht, wie es in literarischen von Herder ausgeht. Beide aber sollten ihren Rückschlag aufs gegenseitige Gebiet ausüben. Die Reaktion der Savignyschen und Raumerschen Schule geht ebenso auf Herder zurück, wie Burns und W. Scott auf Burke zurückdeuten.

III.

Ob die Johnsons und Goldsmiths, die Garricks und Reynolds, die allabendlich mit Burke im Kaffeehaus saßen, ihren Freund wirklich ganz verstanden? Wohl hat Goldsmith schöne anerkennende Worte von dem „guten Edmund" gesprochen, whose genius was such, We scarcely can praise it or blame it too much;

aber er fügt doch noch hinzu, daß dieser große Genius, too deep for his hearers, still went on refining And thought of convincing, while they thought of dining.

Es ist wahrscheinlich, daß selbst der stramme Konservative, Johnson, der das Zepter in jenen Versammlungen hielt, seinen Freund, den Deuteragonisten in diesen Unter­ haltungstournieren „zu tief" fand, wenn er das innerste Wesen alles Konservatismus aneinandersetzte. Es war doch eine andere Welt, in der sie sich alle bewegten: die Welt Hobbes" und Lockes, Popes und Addisons. Der einzige der Gesellschaft, der auf dem Grunde dieser rationalistischen Weltanschauung Kunstwerke ersten Ranges hervorge­ bracht und damit, tatsächlich, wenn nicht theoretisch, die Lehre Burkes von der Allmacht der organisch wirkenden Kräfte dargelegt, Fielding war schon nicht mehr in London, als Burke herüberkam, und starb fern in Lissabon, zwei Jahre ehe die Erstlingsschrift des Propheten erschien. Wohl war Johnson durchaus konservativ gestimmt, aber er war's aus ganz anderen Gründen als Burke; wohl hatte Goldsmith ein gewisses poetisches Naturgefühl, das schon die literarische Reaktion ankündigt, aber das menschlich­ psychologische, ja soziale Interesse steht doch immer im Vordergrund, so im „Traveller" wie im „Vicar of Wake-

field". Alle diese Leute waren ja Erzstädter und Literaten vom Handwerk, im Gegensatz zu dem vornehmen Dilettantentum der Bolingbrokes und Shaftesburys der Addisonschen Zeit, „Nur ein Esel (blockhead) kann schreiben, wenn er nicht bezahlt wird", meinte der gute Johnson. Und auch die Leser waren meist Städter: das Publikum der vorhergehenden Zeit bestand aus Aristokraten und Ge­ lehrten; jetzt begann der wohlhabende Kaufmann, der Advokat, der Arzt, begannen sogar die Frauen des Mittel­ standes zu lesen; und die Rückwirkung ließ nicht auf stch warten: noch heute bildet der general reader Englands jenen wunderbaren Resonanzboden, dem nichts auf dem Festlande gleichkommt, der auch der leisesten Berührung antwortet, oft gellend, oft dumpf und stumpf, oft ent­ stellend, aber immer antwortet. Bis dahin war das Landleben das tonangebende der englischen Gesellschaft gewesen; es war, was es heute zwar noch in der Regel, aber nicht mehr ausschließlich ist, die eigentliche Existenz des Gentleman. Bereits unter Anna hatte stch dagegen die sogenannte „Stadt" als herrschende Gesellschaft gebildet; schon Addison sprach von town and country ganz wie Mokiere und Labruyere von la cour et la ville. Die „Stadt" aber, im Gegensatz zu den Landjunkern und dem Hofe, meinte die literarischen und finanziellen Kreise der Hauptstadt, die stch für die Nation hielten. So viel Goldsmith auch von dem schönen „verlassenen Dorfe" und seinen Reizen erzählen mag, ganz wohl fühlte er stch doch nur im Londoner Kaffeehaus. Johnson gar sah keinen anderen Unterschied zwischen der romantischen Natur von Wales und der friedlichen Land­ schaft Englands, als daß „statt kahler und unfruchtbarer Hügel hier grüne und fruchtbare" seien; und er zog sein

Leben über die Reize von Fleetstreet denen von Greenwich Park vor. Wohl starb in der großen Masse der Nation die alte Lust am Landleben nie aus, aber es war die Freude der Jäger und Landwirte, nicht die der gefühlvollen Natur­ schwärmer, wie auch die nie aussterbende Liebe zur Ver­ gangenheit stets aus einem antiquarischen und moralischen, nie aus einem künstlerischen Interesse entsprang, weshalb doch beide Gefühle nicht wenig dazu beitrugen, die nüch­ terne Verständigkeit des 18. Jahrhunderts in England merklich zu mäßigen. Auch ging England in der land­ schaftlichen Gartenkunst wie in der Fürsorge für Erhaltung alter Monumente dem Festlande um ein Menschenalter voraus. Der stark ausgeprägte Sinn der Engländer für Individualität trug ebenfalls zu dieser Milderung bei, indem er sie vor den äußersten Exzessen kahler Allgemein­ heit bewahrte. Die Kunst der Charakteristik und das Gefallen daran blieb selbst in jener Periode literarischer Abstraktionen das Erbgut der englischen Dichter und Romanschriftsteller. Dieser Sinn für psychologische und künstlerische Charakteristik erklärt auch die Blüte des Por­ träts, welche in England den Verfall der heimischen wie der festländischen Kunst so lange überlebte. Und, wie das Porträt, so die Schauspielkunst. Garrick wußte zu indivi­ dualisieren wie Reynolds, und durch diese Jndividualisation brachte er Shakespeare wieder zu Ehren, den eine Zeit, die nur an Darstellung der Leidenschaften in ab­ stracto Gefallen fand, nicht hatte verstehen können. Auch Reynolds und Garrick gehörten zu jenem histo­ risch gewordenen Unterhaltungsklub, an dessen Spitze Dr. Johnson saß. Die Ausländer, die Johnson in „Ras­ selas" in den Biographien der Dichter, im ShakespeareKommentar suchen, haben Mühe, die hervorragende Stellung HtUebranb, Zelten und Menschen.

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zu begreifen, welche der „Doktor in der englischen Litera­ turgeschichte einnahm und noch immer einnimmt. Seine Bedeutung lag offenbar ganz in der Persönlichkeit, und die Persönlichkeit ist uns in dem wunderbaren Buche seines Eckermann-Boswell so lebendig erhalten, daß wir den Mann vor uns zu sehen glauben. Selbst die Werke eines Rousseau, welche die Welt berauschten, könnten uns keinen Begriff von Rousseaus Wirkung geben, hätten wir nicht die „Bekenntnisse", die uns die Genialität des Menschen nahebringen; wieviel mehr iffs bei Johnsons blasser schrift­ stellerischer Produktion notwendig, den Menschen kennen zu lernen, um zu begreifen, wie und warum ein Richardson, ein Goldsmith, ein Burke, ein Reynolds zu ihm hinauf­ sahen. Johnson war eben nicht nur ein selten guter, ein selten wahrhaftiger und selten gescheidter Mann; er war auch einer der größten Gesprächskünstler seiner Zeit, die im Gespräche oder im Briefe, der ein geschriebenes Ge­ spräch ist, lebte und dachte, wie unsre in der Zeitung. Aber wie anders war dies englische Gespräch als das fran­ zösische; wieviel derber, humoristischer, tatsächlicher; und wer hätte es an Derbheit, Humor und Tatsächlichkeit mit Johnson aufgenommen? Es waren in eminentem Sinne Männerunterhal­ tungen, diese Kaffeehausgespräche, wo die Herren stunden­ lang angenagelt saßen um ihren Stammgasttisch; während die französische Unterhaltung im Salon und in dem un­ ausgesprochenen Wettkampf um Frauengunsi unter immer wechselnden Rollen und bei immer wechselnden Sitzen, leicht und urban über die Sachen und Personen wegglitt. Wohl war es dieselbe heitere Moral, welche „die Tugend in allen ihren natürlichen und verführerischen Reizen sah und sich ihr unbefangen, zutraulich und liebevoll nahte,

sie ihres düsteren Gewandes entkleidete, womit viele Theologen und Phisosophen sie behängt, um nichts zutage treten zu lassen als ihre Milde, Menschlichkeit, Wohltätig­ keit, Leutseligkeit, ja, in passenden Augenblicken auch Spiel, Scherz und Ausgelassenheit" (Hume); aber selbst diese sittliche Heiterkeit gab sich doch hauptsächlich nur in Männer­ kreisen freien Lauf. Die Frauen, welche noch unter Königin Anna einen so großen Einfluß auf Staat, Literatur und Gesellschaft übten und, wenn man Defoe glauben darf, „keine Muße hatten zu leben, wenig Zeit zu essen und schlafen, und gar keine ihre Gebete zu sagen", so sehr „waren alle Regierungs-, Staats- und Kriegssachen die Provinz der Damen geworden", — die Frauen waren verbannt aus jenen Zusammenkünften der sechziger Jahre, und in den Salons, wo sie zu finden waren, füllte das leidenschaftliche Hazardspielen alle ihre Stunden aus. Johnson graute ein wenig vor den politischen Weibern, und gar dem unparteiischen billigen Goldsmith war die petroleuse zuwider, die in jeder Frauennatur zu schlum­ mern scheint und geweckt wird, sobald sie in politischen und religiösen Kämpfen Partei ergreift. Auch ist die Engländerin wohl weniger für die Gesellschaft geschaffen als die Französin: ist sie frei, so überschreitet sie leicht die Grenze, wo die Freiheit unschön und unweiblich wird, eine Grenze, welche die Französin selten überspringt. Als der moralisch sehr strenge Burke Madame du Barry neben Ludwig XV. in der Kirche sah, fand er, daß „das Laster selber die Hälfte seines Übels verliere, indem es alle seine Roheit verliere". Hat die Engländerin geistige Interessen, so verleugnet sie gern die Natur, strebt ge­ schlechtslos zu sein und wird oft reizlos; denn was der Unterhaltung einer Frau Reiz verleiht, ist ja weniger

der Inhalt dessen, was sie sagt, als daß es den Stempel ihres Geschlechts trägt. In England lebt die gesellschaft­ liche Weiblichkeit eigentlich nur in den jungen Mädchen: und junge Mädchen waren eben im „Türkenkopf" nicht an ihrer Stelle. Hier aber gab sich das Bedürfnis, allgemeine Ge­ danken und Urteile mitzuteilen, freien Lauf und ward das Gespräch bis zu einer wahren Gymnastik getrieben. Es waren Tourniere, in welchen jeder nicht nur zu glänzen, sondern auch zu siegen wünschte, und Johnson stand nicht an, „wenn seine Pistole versagte, einen mit dem Kolben niederzuschlagen", wie Goldsmith sagte. Aber er verlangte würdige Gegner: „Erst wenn man einem Mann im Ge­ spräch auf den Leib rückt", sagt er selber, „kann man ent­ decken, was sein wahrer Wert ist." Alles Monologisieren vom Katheder, der Kanzel, der Advokatenbank oder dem Deputiertensitze sei leicht und unfruchtbar; erst der Dialog bringe alle Kräfte heraus; und er schätzte Burke namentlich deshalb so sehr, weil er das Talent hatte, ihn dermaßen anzuregen, daß er alle seine Kräfte aufbieten mußte, um ihm ebenbürtig zu begegnen. Denn nächst Johnson selber, „für den man nur die Klingel zu ziehen hatte", um sich ein Verdienst um die Gesellschaft zu erwerben, war Burke der gewandteste. Doch fehlte es ihm an Witz. Gold­ smith hätte den wohl gehabt, nur kam er meist zu spät zum Vorschein, es war der esprit de l’escalier des armen Teufels, der aus seiner langen Armut und niederen Lage die Schwäche mitgebracht hatte, sich leicht von de» Selbst­ gewissen verblüffen zu lassen, wogegen sein Landsmann Burke ein sehr seltenes Talent hatte, seine demütigen Lebensanfänge ganz zu vergessen. Es war ein echt englischer Kreis, der sich da zusammen-

fand, obschon die Irländer darin eine so große Rolle spielten, und obschon wir ihn vornehmlich durch den Schotten Boswell kennen; und es ist interessant, jv beobachten, wie sehr es England in diesem Jahrhundert gelang, die fremden Kräfte zu assimilieren und die fremden Einflüsse zu verarbeiten, weit mehr als früher und seitdem. Selbst Hume, welcher mit ganzer Seele an seiner schottischen Heimat hing, dort den größten Teil seines Lebens zu­ brachte, England haßte, wie man nur die Fremdherrschaft haßt, war nicht nur durch die Sprache, sondern auch in der Methode, in der Lebensanschauung ein echter Eng­ länder. Und ähnlich, wenn schon in anderem Sinne, der große Ire Swift. Auch Swifts Landsmann, Goldsmith, war intellektuell, wenn nicht von Charakter, ganz Eng­ länder, und seine literarische Tätigkeit stand noch durchaus unterm Einfluß der Reaktion Addisons gegen den neu­ englischen Seicentismus der Drydenschen Zeit. Wohl kannte er das Festland trefflich, aber er wurde nie wie Gibbon zu „einem kontinentalen Europäer, statt eines insularen Engländers" (Morison). So auch Adam Smith und mehr noch die späteren Schotten, wie Robertson und Dugald Steward, Erskine und Blair, dann Burns, W. Scott, Jeffrey; sie mochten sehr unenglisch in Anlage und Charakter sein; sie lebten darum doch das ganze englische Geistesleben mit, als ob sie selber Engländer wären. Man pflegt in England diese Jahre der englischen Literaturgeschichte als eine Pause anzusehen: nichts scheint mir unberechtigter. Jedenfalls füllt Goldsmith befrie­ digend genug die kurze Spanne Zeit zwischen Fielding und Sterne, zwischen Pope und Cowper aus, um nur den Roman und das Gedicht zu erwähnen; und auch in der Komödie hat die vorhergehende und folgende Zeit nichts

hervorgebracht, das den Good natured man und She überträfe. Essays« aber und lite­ rarische Kritik, Philosophie und Geschichtsschreibung waren nie blühender als zwischen 1750 und 1780. Dazu bereitete sich in jener Zeit schon der Umschwung vor, der gegen Ende des Jahrhunderts eintreten sollte. Ja, schon in Richardson, der die von Defoe geschaffene Form des Romans weiter­ entwickelte, sind die Ansätze zu jener Bewegung. Die Schilderung der unmittelbaren Gegenwart in persönlicher Erzählung oder Briefform, die psychologische Entwickelung der Charaktere, die sein großer Gegner Fielding dann zur Vollendung führte, die Empfindsamkeit, welche Rousseau auf dem Festlande in die Mode brachte, finden sich sämtlich schon in Richardson. Größeres tat Fielding durch seinen genialen Realismus, um der poetischen Produktion wieder den Boden zu geben, den sie fast unter den Füßen verloren hatte; Sterne durch seine kecke Befreiung der subjektiven Laune — Nitzsche nennt ihn mit Recht den freiesten aller Schriftsteller. Ja, Johnson selber trug auf seine Weise zur Reaktion der achtziger und neunziger Jahre bei. So sehr er auch Shaftesburys Antipathie gegen die Schwärmer und Enthusiasten teilte, welche der ganzen ersten Hälfte des Jahrhunderts den Ton gab, so wenig konnte er sich mit des „Virtuoso" Optimismus und Kosmopolitismus befreunden. Obwohl ganz ein Mann der common sense Schule, ja in einem Sinne ihr letzter und höchster Ausdruck war er doch kein Freund der Deisten, die ihm an seine englische Kirche rührten; in einer Zeit, wo alle Talente, selbst die eines Burke, sich in den Dienst der Whigs be­ geben hatten, war er ein Stocktory; denn obschon er ein Verstandesmensch war, der einen Shakespeare nach ab­ strakten Regeln beurteilte, so wollte er im Staat doch nur

stoops to Conquest

die Praxis und die Traditio» gelten lassen, und die britische Verfassung war ihm eine Musterverfassung, weil sie lebte und geworden war, nicht weil sie alle theoretischen Be­ dingungen des „fancyful“ Montesquieu erfüllte. Während alle für Frankreich schwärmten, alle nationalen Schranken verwarfen, wollte er nur Engländer sein und empfand es fast als eine Impertinenz, wenn die Schotten auch eine Nation sein wollten. Vor allem, während es Mode war, alles zum besten in der besten der Welten zu finden, war er es, der gegen diesen Glückseligkeitstaumel reagierte; und zwar, was charakteristisch ist, nicht durch plumpe Satire wie Mandeville in der Bienenfabel, noch durch feinen Spott wie Voltaire im „Candide", sondern mit einer Art Melancholie, die tief in seinem Wesen lag, und indem er der Welt die dunkle Seite der Natur wie der Gesellschaft zeigte. Die Doungschen „Nachtgedanken" sind fast gleichzeitig mit Johnsons „Rasselas" . Wie Percys, Lowths, Woods Bemühungen sich wiederum an Doungs „Originalkomposition" anschlossen, ist ein in Deutschland oft behandeltes, in England son­ derbarerweise sehr vernachlässigtes Thema; wie Macphersons und Chattertons Fälschungen aus jenem dunkeln Drange nach Wiederanknüpfung der historischen Fäden entsprangen; wie endlich die langsam reifende dichterische Reaktion aus den Tiefen der Volksseele siegreich jubelnd hervorbrach in R. Burns Liedern, das ist uns allen eine wohlbekannte, ja vertraute Geschichte; denn sie ist der begleitende Pedalton unserer eigenen Geistesgeschichte. Der Gedanke, der bei uns wissenschaftlich und dichterisch ent­ wickelt und bis in seine äußersten Konsequenzen verfolgt ward, der Gedanke, welcher unserer ganzen modernen Nationalbildung und Weltanschauung zugrunde liegt, der

Gedanke, der durch uns auf mehr denn ein halbes Jahr­ hundert hinaus der herrschende in der höheren Geistes­ sphäre Europas geworden ist — wir erkennen ihn wieder bei unseren germanischen Vetter», und die Form, die er dort annimmt, stört uns nicht, hindert uns nicht, ihn als den Bundesgenossen in dem Kampfe gegen den Mecha­ nismus der vorhergehenden Zeit anzuerkennen, den zu stürzen so recht eigentlich unsere literarische Sendung war. Weniger bekannt ist bei uns die Bewegung, welche sich gleichzeitig im Schoße der englischen Kirche vollzog und der halb Entschlafenen neues Leben und neue Kraft gab, die auflösend wirkenden Elemente ausschied. Alle, noch immer in der englische» Nation so unver­ mittelt nebeneinanderlebenden Gegensätze mutigster Wahr­ haftigkeit und direktester Heuchelei, zynischen Egoismus und edelster Generosität, toller Verschwendung und harter Hab­ sucht, roher Grausamkeit und lebhaften Mitleids, leben vor uns in den literarischen Denkmalen jener Zeit, und doch spiegeln sich darin fortwährend Gefühle, Typen und Sitten, welche längst aufgehört haben zu existieren; vor allem aber jene Gedankenwelt, gegen welche die oben geschilderte Reaktion sich wandte, und welche wir mit dem Namen des theologischen Rationalismus zu bezeichnen pflegen. Damit ist denn auch der Grundmangel jener Literatur charakterisiert: eine so kalte und mechanische Weltanschauung wie der Deismus, von dem die ganze philosophische Be­ wegung ausging, konnte der Phantasie nur mageren Boden bieten. Wieviel reicher »och als die leblose Gottheit dieser Zeit war selbst die strenge biblische Welt Miltons und gar die gestaltenreiche Romantik von Spensers und Shakespeares Zeit, als Fee Abunde noch die Welt regierte!

IV.

Wohltätiger, wenn nicht vertiefender und verinner­ lichender, war der Einfluß der großen, von Hobbes und Locke ausgehenden, philosophisch-kritischen Bewegung und der Newtonschen Naturphilosophie auf das religiöse Leben, und die politische Windstille der Walpoleschen Zeit war dieser philosophisch-theologischen Tätigkeit sehr günstig. Newton selber freilich hatte keine Ahnung von der Trag­ weite seiner Entdeckungen für die religiösen Fragen und „beugte seinen mächtigen Geist immer weiter zu jener Tätigkeit des Rätsellösens, die er Prophetendeutung nannte" (L. Stephen); aber Hobbes wußte sehr wohl, was er tat. Man unterschätzt oft Hobbes" Einfluß. Freilich hatte er nur wenig Schüler und seine Staatsrechtslehre wurde tatsächlich für immer beseitigt durch die Revolution von 1688. Allein, ein Schriftsteller, der eine Reaktion hervorruft und zahlreiche Widersacher zählt, tut ebensoviel für die Jdeenerzeugung als der, welcher seine eigenen Gedanken verbreitet. Und dann: die Folgerungen, welche Hobbes aus seinen Prämissen zog, mögen von den folgenden Geschlechtern mit Entrüstung verworfen worden sein, die Prämisse» selber bilden doch die Unterströmung der ganzen Gedankenbewegung des vorigen Jahrhunderts. Wenn er behauptet, daß die Bibel nach der Methode historischer Kritik geprüft werden müsse, so ließ sich Bayle das wohl gesagt sein. Was er in bezug auf die Verschieden­ heit der Moral je nach Ort und Zeit sagte, ward das Credo Voltaires, wenn er auch nicht so weit ging wie Hobbes, die positiven Gesetze jedes Landes mit den Moralgesetzen zu identifizieren. Rousseaus Theorie der Souveränität und des Gesellschaftsvertrages ist im Grund die von Hobbes, nur daß der Souverän ein verschiedener ist. Wenn Locke

die eingeborenen Ideen von Sittlichkeit leugnet, steht er nicht auf Hobbes' Schultern? Praktisch freilich in bezug aufs Leben war Lockes Tätigkeit eine Reaktion gegen die Hvbbes*. Er ward bewußt der Kirchenvater des Konstitutionalismus, wie jener der des Absolutismus gewesen war; er ward der Stifter der Nützlichkeitsmoral, die im ganzen vorigen Jahrhundert herrschte, obschon erst Bentham sie in ein vollständiges System brachte; er ward vor allem der Prophet der kirch­ lichen Toleranz, welche der schönste Zug in der Zeitphy­ siognomie ist. Auch die Lockesche Philosophie war ein echtes Kind Englands und seines gesunden Sinnes fürs Tat­ sächliche, seiner Abgeneigtheit gegen Systeme, seiner Ehr­ furcht für gegebene Einrichtungen und Vorurteile, seiner Neigung zu Kompromissen mit dem Bestehenden: daher denn auch der Erzengländer Johnson, obschon im gegne­ rischen politischen Lager, in seinem Mißtrauen gegen spekulative und skeptische Philosophie ganz Lockianer war. Daß Lockes Philosophie in ihren Konsequenzen doch zu Humes Skeptizismus führen mußte, darf uns nicht irre machen. Er wollte stehen bleiben, die Offenbarung nicht antasten, Gott und Unsterblichkeit nicht in Frage ziehen; aber der spekulative Schotte — die Schotten, die den Deutschen in sehr vielem ähneln, scheinen auch den Sinn für Spekulation mit den Deutschen zu teilen — Hume blieb nicht stehen. Wohl erklärte er, „unsere helligste Religion beruhe auf dem Glauben, nicht auf der Vernunft, und es sei der sicherste Weg, sie zu gefährden, wenn man sie einer Untersuchung unterwürfe, die sie nicht vertrüge"; das hinderte ihn aber nicht, die philosophischen Grundlagen der Religion vors Gericht der Vernunft zu ziehen und ihnen den Prozeß zu machen. Er vollendete erst den von

Locke begonnenen Sieg über die Weltanschauung

des

17. Jahrhunderts und ward der Vorläufer der heute, bewußt oder unbewußt, von allen wahren Denkern zur Voraussetzung genommenen Lehre Kants. Ebenso mächtig als auf die philosophische Entwickelung war der Einfluß Lockes auf Staat und Kirche. Nicht nur die Praktiker des Whiggismus, auch die Theoretiker des­ selben, die R. Walpole so gut, wie die Montesquieu, gingen von ihm aus; und seine Verteidigung der kirchlichen Toleranz trug sofort die schönsten Früchte. Noch einmal war unter Königin Anna der hochkirchliche Fanatismus gegen Wilhelms HL, von Locke philosophisch exponierten, Tolerantismus ausgebrochen; dann aber trat dieser unbestritten in seine Rechte. unendlichen Verschiedenheit

Während Bossuet aus der der religiösen Meinungen

auf die Notwendigkeit der Einheit und die Unterdrückung der Ketzerei, folglich blinde Unterwerfung unter die Auto­ rität und Verfolgung der Andersglaubenden schloß, leitete Locke aus dieser Verschiedenheit die Notwendigkeit der Duldung und der Verstandesrechte, d. h. des Rationalismus ab. Denn Lockes „Vernünftigkeit des Christentums" war so recht eigentlich der Ausgangspunkt des ganzen theolo­ gischen Rationalismus, der unter dem Namen des eng­ lischen Deismus in der Geschichte bekannt ist. Der Deismus war aber im Grunde nichts als eine Art Naturreligion, wie später Rousseaus Gesellschaftsvertrag, der ganz ähn­ lich konstruiert war, ein sogenannter Naturstaat sein sollte. Und dieser Deismus ward trotz so talentvoller und gelehrter Gegner wie Butler und Bentley bald nicht nur das Kredo aller intelligenten Dissidenten, die sich unterm Namen der Unitarier gegen die Lehre von der Dreieinigkeit er­ hoben, er ward auch die Überzeugung aller gebildeten

Anglikaner selber, da er ja nicht wie in Frankreich, wo er sich dem Katholijismus gegenüberfand, und wo ihm die französische Logik nicht erlaubte, halbwegs stille zu stehen, in eine Bekämpfung des Christentums selber ausartete. Von der Mystik freilich wie von der Symbolik des Christentums blieb wenig übrig: das Ganze war ein gar prosaisches Moralsystem und die höchst nüchterne Metaphysik vom allgütigen Uhrmacher; der Gottesdienst magerte immer mehr zur leeren Form ab; die Predigten waren einfache Essays über Moral, wie Addison sie hätte in den spectator schreiben können; ja am Ende, unter Sternes genialfrecher Hand, werden sie zu kleinen humo­ ristischen Vorträgen über alles mögliche außer Christus und der Erlösung. Dabei zieht man denn doch immer noch seinen Hut ab vorm Christentums, wenn man zu­ fällig daran vorüberstreift, selbst wenn man Hume heißt. Erst Gibbon griff es unehrerbietig und von vorne au; aber Gibbon war eigentlich kaum mehr ein Engländer zu nennen, in bezug auf seine philosophische Weltanschau­ ung wenigstens, die er sich ganz auf dem Festlande gebildet. Am Ende des Jahrhunderts aber hatte jener Rationalismus so weit um sich gegriffen, daß ein Paine und Priestley seine Sprache auch zum Volke redeten. Selbst die konservativen Theologen, welche gleichzeitig gegen Freidenker und Ortho­ doxe Front machten, predigten eine Moral, die auf nichts als Empfindsamkeit oder einfache Klugheit hinauslief. Sie hatten zwar noch die theologische Sprache beibehalten, aber gebrauchten dieselbe in so unbestimmter Weise, daß man alles darunter verstehen konnte, was man wollte. Sie sprachen von Harmonie, Einheit der besten der Welten usw., fanden Gott in der Natur, aber ohne seine Persön­ lichkeit zu betonen. Wohl habe sich Gott einmal auch greif-

bar den Menschen gezeigt, das sei aber schon lange her und in einem fernen Wunderlande; seitdem unterbreche der hohe Herr die Naturordnung nicht mehr; kurz GottVater ward zu einer Art „übernatürlichen Oberrichters, dessen Wahrsprüche in einer außernatürlichen Welt aus­ geführt wurden, der aber (für diese natürliche Welt) ein konstitutioneller Monarch war, einen Gesellschaftsvertrag unterzeichnet und sich von der tätigen Regierung zurück­ gezogen hatte". Auch war die Polemik zwischen ihnen und den Deisten, wenn man die des pugilistischen Warburton ausnimmt, eine sehr laue, wie's nicht wohl anders sein konnte, da diese ja im Grunde nicht die Religion, jene nicht die Toleranz vernichten wollten. Die englische Kirche war dem englischen Charakter und Geist sowie den historischen Verhältnissen Englands wunderbar angemessen. Sie hatte den Vorteil, eine nationale Kirche zu sein; sie war ein Kompromiß zwischen zwei Extremen; sie hatte eine monarchisch-aristokratische Verfassung, sie war durch die Priesterehe innig mit der Gesellschaft verbunden und hatte doch, als auf der Nach­ folge beruhend, die den Engländern so liebe historische Überlieferung nicht aufgegeben. Zu gleicher Zeit aber war ihr politischer Einfluß, den die Laien mit mißtrau­ ischer Eifersucht betrachteten, immer schwächer geworden, war selbst im Oberhaus bedeutend herabgemindert worden. Dazu kam, daß seit William in. und seinem Burnet die hohen Kirchenstellen immer mehr an Latitudinarier ver­ geben wurden. Zwar schlug Williams III. Versuch einer evangelischen Union fehl, wie ja auch der preußische tat­ sächlich nicht gelungen ist; aber es war doch ein Waffen­ stillstand zwischen Kirche und Dissent. Nach jenem kurzen Kampfe unter Königin Anna hatte die von den Bischöfen

vertretene Toleranz den Sieg. Die Synode (oder Konvokation), in welcher der noch immer etwas intolerante niedere Klerus ausschlaggebend war, bestand seit 1717 tatsächlich nicht mehr, den» fie wurde nicht mehr einbe­ rufen, und bald ahmten auch die Untergebenen ihren Vor­ gesetzten nach, von denen sie fortan ohne Berufung ab­ hingen. Um die Mitte des Jahrhunderts war innerhalb der Kirche der Jndifferentismus so groß geworden, daß Hume sagen konnte, „die Nation habe sich in religiösen Dingen in die kühlste Gleichgültigkeit festgesetzt, die man bei irgendeiner Nation der Welt finden könnte". Das war nun freilich nur halb wahr, und dem vornehmen Geiste, der auf den Gipfeln der Kultur wohnte, entging die Bewegung, die tief unten im Tal unter den arbeitenden Ameisen der Menschheit schon begonnen hatte. Auf die Staatskirche beschränkt, ist dagegen sein Urteil ganz ge­ rechtfertigt. Schon um die Mitte der vierziger Jahre regte sich die Reaktion des religiösen Gefühls. Der Pietismus, der fünfzig Jahre vorher unser religiöses Leben wieder auf ein Jahrhundert hin verjüngt hatte, lebte auch in England auf. Schade nur — und von der größten Trag­ weite —, daß die große philosophische Bewegung Englands von Bacon auf Hume, nicht wie die unsere von Kant bis Feuerbach nach, sondern vor der religiösen Wieder­ geburt eintrat, das neue religiöse Leben also nicht philo­ sophisch geläutert und durchgeistigt wurde, sondern die größere Hälfte der Nation der modernen Kultur ent­ fremdete, ja ihr feindlich entgegenstellte. Die Dissidenten waren nur noch wenig zahlreich am Anfang des Jahrhunderts, etwa 1 zu 22 gegen die An­ gehörigen der Staatskirche. Die Independenten oder

Kongregationalisten, welche gern die Landeskirche in eine Masse kleiner, vom Staate unabhängiger Freistaaten aufgelöst hätten, streng kalvinistisch in ihren Dogmen, namentlich in dem der Prädestination, waren nach großer Machtentfaltung fast der Reaktion erlegen: der politische Sinn der Engländer sträubte sich gegen eine Kirche, welche nur eine unsichtbare geistige Gemeinschaft der über die Welt zerstreuten Erwählten sein sollte. Die Wiedertäufer, welche die Religion innerlich zu reinigen bestrebt waren und das Admissionscitual vernunftgemäßer einrichten wollten, hatten sich wie die Quäker, welche allen äußeren Ritus aufgegeben wissen wollten, versteinert; sie lebten noch fort und verloren wenige Anhänger, aber sie ge­ wannen auch keine neuen. Nur die neue Sekte der Uni­ tarier, so recht ein Erzeugnis des vorigen Jahrhunderts, gelangte zu großer Blüte, war aber ihrer Natur nach ein Bekenntnis Gebildeter, konnte nie eine Volksreligion werden, selbst im Jahrhundert der Aufklärung nicht; denn sie ver­ langte die volle Freiheit der Kirche, wollte alle Verpflichtungen aufheben, welche die Lehren der Geistlichen irgendwie binden könnten: Religion aber, Volksreligion, will Gebundensein, meint Gebundensein. Anders der Wesleyanismus, der sich anfangs durchaus nicht als Dissent gab, sondern nur die anglikanische Religion durchs Gefühl, durch die inner­ liche Wiedergeburt erneuern wollte, wie unsere Pietismus dem Luthertum neues Leben einzuhauchen gesucht hatte. Er bildete aber Gesellschaften und Vereine der Laien im Schoße der Kirche, verlangte sichtliche Bekehrung, persön­ liche Empfängnis der Offenbarung bei jedem einzelnen, ja, führte schon Herrnhuter Einrichtungen ein; Wesley stand ja mit den Brüdern in persönlicher Beziehung. Dabei wollte er doch noch immer in der Landeskirche ver-

harren, was freilich auf die Dauer nicht gehen konnte; doch mußte er sozusagen bei den Schultern hinausge­ drängt werden. Noch lange nachdem er und sein Apostel Whitefield ihre Wirksamkeit aus den Kirchen, aus denen sie vertrieben worden, aufs freie Feld verlegt, erklärten sie sich für treue Anhänger der Landesreligion. Erst gegen 1785, bestimmter 1795, ward die bis dahin „evangelische" Bewegung zur Methodistensekte. Nichtsdestoweniger trat sie von da an in ihr abnehmendes Stadium, denn, „ob­ schon mächtige religiöse Bewegungen immer von den Ständen ausgehen, die der philosophischen Bildung unzu­ gänglich sind, so sind sie doch zur Unfruchtbarkeit verdammt, wenn sie kein philosophisches Element zu assimllieren ver­ stehen" (L. Stephen). Diese Unfruchtbarkeit darf aber nur von dem Methodismus als Sekte verstanden werden; der Wesleyanismus als historische Tat war von höchster Fruchtbarkeit. Er tat auf dem Gebiete der Religion, was unser Sturm und Drang auf dem der Literatur tat: Wesley war ein religiöser Rousseau, welcher dem herrschenden Konventionalismus gegenüber das Gefühl wieder in seine Rechte einsetzte, ein Werther, der das innere Leben allein für wertvoll hielt und seine Jünger oft zu krankhaftem Selbstgrübeln verleitete, aber auch der echt germanischen Lutheridee in England wieder Ein­ gang verschaffte: daß, was ein Mensch ist, wichtiger ist, als was er tut oder denkt. Er gab zuerst der Idee der „Sünde", als Ausflusses einer unbegnadeten Natur, wieder neues Leben. Freilich hatte die „evangelische" Bewegung, wie man dev Wesleyanismus zu nennen pflegte, keinen unmittelbaren Einfluß auf die englische Kultur. Die vor­ nehmen Klassen ignorierten ihn; die Gebildeten spotteten seiner; mittelbar aber wirkte er doch, reinigend und be-

engend zugleich auf die Moralität, ähnlich dem Puri­ tanismus; belebend und verinnerlichend auf die Poesie; anregend, ja provozierend auf das religiöse Interesse. Er gab der Staatskirche neues Leben, indem er sie zum Wider­ stände herausforderte, ihr ihre eigenen Schwächen ent­ deckte. Solche vom Gefühl ausgehende Bewegungen wirken eben in letzter Instanz immer reaktionär, wie sich ja das auch im deutschen Pietismus gezeigt hat, während umgekehrt rationalistische Bewegungen immer in fort­ schrittlichem Sinne wirken müssen; der Traktarianismus, der Puseyismus, der Ritualismus dieses Jahrhunderts, welche ohne den Wesleyschen Anstoß nimmermehr ins Leben getreten wären, sind durchaus reaktionärer Natur.

So hat denn dies vielverleumdete 18. Jahrhundert, das auf dem Festlande so schöne Blüten und so herr­ liche Früchte getrieben, auch in England tiefe und im ganzen wohltuende Spuren hinterlassen. Es hat befreiend im Staate, belebend in der Literatur, verinnerlichend in der Religion gewirkt. Ein Jahrhundert, in dem England zweimal, am Beginn und am Ende, die europäische Un­ abhängigkeit gegen die Pläne der Universalmonarchie ver­ teidigt und seine innere Verfassung ausgebaut und voll­ endet hat, in welchem es vom „Gulliver" bis zum „Hallo­ ween" eine Reihe von Meisterwerken hinterlassen, wie sie kein anderes Volk der Welt besitzt; in welchem es die voll­ ständigste kirchliche Duldung durchgeführt, die je existiert hat, ohne in religiösen Marasmus zu verfallen — ein solches Jahrhundert darf sich selbst in der reichen eng­ lischen Geschichte mit jedem andern messen.

Montesquieu. Wie fast alle Provinzen Altfrankreichs, mehr als die meisten, hatte die Guyenne im 18. Jahrhundert noch ihre Sonderexistenz gewahrt. Das Land war erst spät an das Königreich gekommen, und die Spuren der lang­ jährigen englischen Herrschaft hatten sich vor zweihundert Jahren, als Montesquieu geboren ward, haben sich heute noch nicht ganz verwischt. Obschon ihm die weise Politik der französischen Monarchie jeden Rest staatlicher Unab­ hängigkeit genommen hatte, war es doch in jeder andern Be­ ziehung ein Reich für sich: seine Statthalterei glich einem Hofe, namentlich wenn der königliche Gouverneur, wie in Montesquieus Jugend, ein natürlicher Sohn Jakobs H. war; es hatte seinen eigenen Adel, sein Parlament, das erste des Königreiches nach dem hauptstädtischen, seine Akademie, die älteste nach denen von Paris und Caen; seine literarische Überlieferung, wie später seine eigene rednerische Schule: ja im häuslichen Verkehr hatte man noch bis in die erste Hälfte unseres Jahrhunderts seine eigene Sprache; und — Paris war weit. Das Leben war ein heiteres in diesem gesegneten Lande: die Nähe des Weltmeers, zu dem der breite Strom bequem hinunterführte, wahrte die weite Aussicht, wirkte abgeschlossenem Provinzialismus entgegen, erinnerte de» Bordelesen an das, was der Pariser so gerne vergißt, daß es auch außer Frankreich noch Land und Leute gibt. Ein alter, verbreiteter Wohlstand, gegründet auf den

unmittelbaren Umgang des Menschen mit der Natur, d. h. auf Reichtum des Bodens und überseeischen Handel; ein mildes und doch belebtes Klima; eine anmutige mannigfaltige Landschaft; eine reiche Auswahl edelster und kräftigster Bodenerzeugniffe; ein leichter Verkehr j« Wasser und auf ebenen oder doch mäßig steigenden Land­ straßen — all das erlaubte Fülle des Lebensgenusses, indem es zugleich erkünstelte Bedürfnisse wie künstliche Befriedigung derselben entbehrlich machte. Das Tempe­ rament des Gascogners ist lebhaft, ohne leidenschaftlich zu sein; sein Verstand klarer als tief; sein Witz hat mehr Körper und Farbe als der des Nordfranzosen; die ihm angeborne Leichtigkeit des Sichaneignens und Wieder­ erzeugens, die man Talent nennt, verleitet ihn nicht so oft zur Trägheit oder Nachlässigkeit als den Südländer, weil ihm der französische amour-propre die Wage hält, welcher nicht gerne sieht, daß eine Leistung unter dem Können bleibe. Die Gascogne rühmt sich keines Meta­ physikers noch eines jener Dichter, welche die zartesten und tiefstliegenden Saiten des Herzens berühren: aber der liebenswürdigste Lebensweise und Geistesepikuräer, Michel de Montaigne, ist ein Kind der Garonne, und der Gelegenheitsdichter, der Redner, der Publizisten zählt Bordeaux mehr als irgendeine Stadt Frankreichs. Der größte dieser Publizisten, Montesquieu, gehörte, wie Montaigne und dessen Freund La Boetie, dem Par­ lamente von Bordeaux an. Die französischen Parlamente waren tatsächlich das Korrektiv des Absolutismus im Frankreich des 17. und 18. Jahrhunderts; und wenn Montesquieu von der Monarchie spricht, unter der das Gesetz herrscht, im Gegensatze zum Despotismus, wo nur die Laune des Staatsoberhauptes gilt, so hat er stets die *7*

französischen Parlamente im Sinne. Der Gerichtsadel (la noblesse de rode) ergänzte sich seit dem Mittelalter meist aus dem reichgewordenen Bürgerstand, aus dem er hervorgegangen, und der Waffenadel sah — und sieht — nicht ohne Hochmut auf die Robins herab, selbst wenn sie wie die Pasquier, die Mole schon im 16. Jahrhundert die Robe mit Ruhm getragen. Auch Montesquieus Adel reichte ins 16. Jahrhundert zurück, und seine zwei Großväter wie sein Onkel waren sogar Präsidenten ä mortier — und das Parlament von Bordeaux hatte nur zwei Presidents mortier1), einen Premier President und neun Räte, ohne die „stehenden" Mitglieder zu rechnen. Montesquieu selber ward Rat mit fünfundzwanzig, Präsident mit siebenundzwanzig Jahren: denn die Stellen waren erblich. Er hatte, wie die meisten seiner Standesgenossen, einen sehr ausgesprochenen Adelsstolz, aber wie die meisten seiner Standesgenossen auch ein sehr lebhaftes Gefühl dessen, was er seiner Würde schuldig war. Nicht nur äußerlich trug er dafür Sorge, daß sein Name nicht aussterbe oder die, welche ihn tragen würden, nicht in unangemessene Dürftigkeit sänken; auch in der eigenen Erziehung, wie in der seines Sohnes, in der Unbescholtenheit des Lebens, der Erfüllung seiner Pflichten als Richter und als Großgrundbesitzer, in dem Verkehr mit den vornehmsten Geistern des Altertums, in der Gewohnheit höheren Interessen zu leben, betätigte er das „noblesse oblige“. Und wenn die Individualitäten von Montesquieus Schlage nicht gerade nach Dutzenden zählen, der Typus wenigstens lebt noch heute in Hunderten von Exemplaren in Frankreich. Montesquieu war zweiunddreißig Jahre alt und seit *) So genannt von der mörserförmigen Mütze, welche sie trugen und noch tragen.

sechs Jahren verheiratet, seit fünfen Präsident, als er, natürlich anonym und in Holland, jedoch unter Mitwissen aller Bekannten, seine Lettres persanes veröffentlichte (1721). Sein Leben war bis dahin ganz das normale Dasein eines jungen Mannes aus dem Gerichtsadel der Provinz gewesen; erst einige Jahre nach der Veröffent­ lichung seiner Erstlingsschrift gestaltete sich dieses Leben als ein größeres, weiteres, ward der Schauplatz desselben verlegt. Obschon er seine Gymnasialbildung im Norden in der berühmten Oratorieransialt von Juilly bei Meaux, erhalten hatte, wo er nahezu elf Jahre verweilt (1700 bis 1711), so lebte er sich doch wieder in der Heimat ein, deren Aussprache er nie ablegen sollte, weil er, wie i/Argenson meinte, „es sozusagen unter seiner Würde fand, sich darin zu korrigieren". „Montesquieu" — so nannte er sich stets selber — studierte seine Rechte in Bordeaux, das er bis an sein Ende „Bourdeaux" schrieb, machte dort den Damen den Hof, verheiratete sich „standesgemäß", ohne indessen jene leichtere Beschäftigung aufzugeben, dichtete schlechte Sonette, machte naturwissenschaftliche Forschungen und Mitteilungen, die zur Voraussetzung berechtigen, daß Newtons Entdeckungen noch nicht bis an die Ufer der Garonne gedrungen waren, las die alten Römer und wachte über seine Weinberge, sprach Recht und hielt schöne Merkurialen (Inauguralreden), deren eine bis zum Aus­ bruch der großen Revolution alljährlich wiedergedruckt wurde; vor allem aber bemühte er sich um die Akademie von Bordeaux, die zeitlebens sein Schoßkind blieb. Er stiftete Preise, die sie zu verteilen hatte, verwandte sich für ihre Interessen, wo dieselben bedroht waren, schrieb zahl­ reiche Aufsätze für sie, bald historischen, bald juristischen Inhalts, oft auch naturwissenschaftliche Abhandlungen,

oder was der Provinzialdilettant für naturwissenschaftlich hielt. Fortan aber, und bald nach dem großen Erfolg der Lettres persanes, den er in den Pariser Salons in vollen Zügen genossen und noch durch seinen, eben auch nicht sehr tugendhaften, Temple de Gnide vermehrt hatte, duldete es ihn nicht länger in der Hauptstadt der Guyenne, und trotz seiner schönen Freundinnen und seiner Familie, die er wohl liebte, wie er selbst sagte, aber indem „er sich in den Kleinigkeiten des täglichen Lebens freihielt" *), trotz so vieler gelehrter und witziger Freunde, trotz seiner geliebten Akademie sogar, siedelte er nach Paris über, wo er fortan den Winter jubrachte, während er im Sommer in seinem Schlosse bei Bordeaux verweilte. Die Beweg­ gründe waren verschiedener Art: er war des Richteramtes müde, das ihm viele Zeit raubte und ihm nicht gestattete, an dem schon ins Auge gefaßten Hauptwerke seines Lebens zu arbeiten; er hatte sich in der Hauptstadt einem Kreise ausgezeichneter Männer angeschlossen, welche im Hotel des Präsidenten Henault jene unter dem Namen des Club de l’entresol bekannte Gesellschaft gebildet hatte, die später der Academie des Sciences morales et politiques zum Muster diente; er war wieder einmal verliebt und diesmal ernstlicher denn gewöhnlich; seine nicht eben spröde Geliebte aber bewohnte das Hotel Soubise und war keine andere als die schöne Enkelin des großen Conde, die vielbe­ rufene Mlle. de Clermont, für welche er den Temple de Gnide gedichtet hatte; endlich, last not least, man hatte ihn nicht in die Acad&nie frangaise aufnehmen wollen, well er nicht Paris bewohnte, und Montesquieu war zu sehr *) „J’ai aime ma famille pour faire ce qui allait au bien dans les choses essentielles; mais je me suis affranchi des menus dttails.“

Franzose, als daß er hätte ruhig schlafen können, ohne diese höchste Auszeichnung zu erlangen. So verkaufte er denn seine Stelle, richtete sich in einem Zwischenstock der rue St. Dominique, nicht weit von Mme. du Deffands St. Joseph — dem heutigen Kriegsministerium — ein und ward mit stebenunddreißig Jahren Pariser (1726). Doch nur zum Teil; denn die Hälfte seines Daseins gehörte von nun an seiner geliebten la Brede, wo er gebore» und aufgewachsen, deren Namen er bis zu seinem stebenundzwanzigsten Jahre getragen, wohin er seinen größten Schatz, seine Büchersammlung, geflüchtet, deren Garten er in den ersten englischen Park Frankreichs um­ wandelte, deren Ertragsgüter er auszudehnen, vor allem aber durch verbesserte Bewirtschaftung ergiebiger zu machen nicht müde ward. Und wer das mittelaltrige Schloß gesehen hat — es stammt aus dem 13. Jahrhundert — mit seinem breiten Graben, seinem massiven Turm, seinem herrlichen luftigen Büchersaal, seinem dichten Gehölz, seinen üppigen Wiesen, seinen lachenden Durchblicken, kann^s ihm nicht verdenken, wenn er am liebsten dort ver­ weilte unter seinen Büchern und seinen Bauern; selber fast ein Bauer, wie ihn einst zwei neugierige Engländer dort antrafen, im Kittel, einen Rebpfahl auf dem Rücken, die Schlafmütze auf dem Kopfe. Drei Tage lang hielt er sie bei sich, drei Tage lang gefesselt durch seine unversieg­ bare, lebendige, ideenreiche Unterhaltung, in der sich der Bauer gar bald als der feinste Geistesarisiokrat entpuppte. War schon diese Existenz eines reichen Landedelmannes im vorigen Jahrhundert etwas Seltenes in Frankreich, so war's noch mehr das Reisen eines französischen Aristo­ kraten, und gar das Reisen, nicht um sich zu amüsieren wie der Präsident de Brosses, sondern um etwas von den

Fremden zu lernen. Montesquieu verließ im Frühjahr 1728 Paris, wo er den Winter zugebracht, und reiste mit Lord Waldegrave, dem britischen Gesandten, der sich auf seinen neuen Posten nach Wien begab, in kleinen Tagereisen durch Deutschland, »ach Österreich und Ungarn. Von dort ging^s, diesmal in Begleitung Lord Chesterfields, nach Venedig und Florenz, wo ihm, wie er meinte, zuerst die Augen über das wahre Wesen der Kunst aufgingen. Der Ort wäre wohl dazu angetan gewesen; ob aber Montesquieu nicht, wie sein Kollege de Brosses vor ihm und Wolfgang Goethe nach ihm, etwas ganz anderes in Florenz bewunderte, als was wir dort genießen, erscheint zweifelhaft. Auch ist es erfreulich zu erfahren, daß Montes­ quieu sich am Arno nicht auf Kunststudien beschränkt, sondern der schönen Marchesa Ferroni, die damals den Szepter der florentinischen Gesellschaft hielt, eine ganz besondere Aufmerksamkeit widmete. Mehr noch fesselte ihn Rom. Montesquieu hatte stets eine geheime wahl­ verwandtschaftliche Vorliebe für die Vaterstadt der Rechts­ wissenschaft und das Muster des Aristokratenstaates gehabt. In Rom selbst war es, wo der Plan zu seinen Considerations sur la grandeur et la decadence des Romains in ihm reifte. „Ehe er Rom verließ, verabschiedete er sich vom heiligen Vater. Benedict XIII. sagte ihm: „Lieber Präsident, Sie sollen ein Andenken an meine Freundschaft mit sich nehmen, ich erlasse Ihnen und Ihrer ganzen Familie auf lebenslang das Fasten." Montesquieu dankt dem Papste und verläßt ihn. Am folgenden Tage bringt man ihm die Dispensbulle und die Rechnung der Dateriakosten. Der stets sparsame Gascogner gab dem Überbringer das Patent zurück und fügte hinzu: „Der Papst ist ein braver Mann; sein Wort genügt mir und ich hoffe auch dem lieben Gott."

Von Italien wandte sich Montesquieu über Turin, den Rhein entlang durch Holland nach England, wo er bei Lord Chesterfield abstieg und im ganjen anderthalb Jahre verweilte. Bald kannte er die ganze Aristokratie — auch Lord Marlboroughs Schwiegersohn, der ihm einen höchst unzarten Studentenstreich spielte (er übergoß ihm den Kopf mit einem Eimer kalten Wassers), ohne daß der Präsident es übelgenommen hätte, — und viele schöne Damen, bei denen er sein Englisch versuchte, das dem gutmütigen Franzosen noch mehr Gelächter zugezogen zu haben scheint, als der brutale Scherz, ein echt englischer practical joke, mit dem ihn sein edler Wirt bewillkommnet hatte. Auch am Hofe wurde der Autor der Lettres persanes empfangen, die Royal Society machte ihn zum Ehren­ mitglieds, wie früher die Akademie von Cortona, auf den Ruf seiner Abhandlungen für die Academie de Bordeaux hin. Er sah noch Swift und Pope, ging viel mit dem allmächtigen Walpole um, besuchte das Parlament recht fleißig und trotz aller seiner Bewunderung für das Re­ gierungssystem Englands, sah er sehr wohl, „daß die Minister an nichts dachten, als über ihre Feinde zu siegen, und daß sie ihr Land verkaufen würden, um zu diesem Ziele zu gelangen". Immerhin war der Aufenthalt in England entscheidend für Montesquieu, wie er es für Buffon gewesen war, wie er's für Voltaire werden sollte. Keiner aber hat das Wesen Englands besser erfaßt, als Montesquieu, der mütterlicherseits englisches Blut in den Adern hatte und in einem einst englisch verwalteten Lande geboren und erzogen war. Eben weil er das Wesen des englischen Staates so richtig aufgefaßt, ist Montesquieus Lehre in Frankreich, trotz so vieler Schüler, nie über die Epidermis eingedrungen. Man nahm die Theorie der

Trennung der drei Gewalten an, das unverantwortliche Königtum, die parlamentarische Gesetzgebung, die zwei Kammern sogar, aber man vergaß oder man wollte nicht hören, daß alles das nur lebensfähig sei, wo eine bevor­ rechtete Aristokratie besteht: „Schafft in einer Monarchie die Vorrechte der Herren, des Klerus, des Adels und der Städte ab, und Ihr werdet entweder einen Volksstaat oder eine Despotie haben." Letzteres hat man denn auch reichlich gehabt in Frankreich, ersteres versucht man jetzt; die Liberalen und die Doktrinäre aber, die eine englische Verfassung ohne englische Verhältnisse geträumt, haben die Wahrheit des Montesquieuschen Satzes schmerzlich genug erfahren müssen. Nach drei Jahren Abwesenheit (1731) kehrte Montes­ quieu in seine geliebte la Brede zurück. Fragte man ihn, wie er's da draußen gehalten habe, so antwortete er: „Wie die Leute selber: in Frankreich schließe ich mit jedermann Freundschaft; in England mit niemand; in Italien mache ich allen Komplimente und in Deutschland trinke ich mit jedermann." Wenn man ihn aber fragte, wo er am liebsten ein möchte, so erwiderte er: „Deutschland sei zum Reisen gemacht, Italien zum Aufenthalt, England zum Denken und Frankreich zum Leben." Die übrigen vierundzwanzig Jahre Montesquieus bis zu seinem Tode (1755) waren ausgefüllt durch ge­ selligen Verkehr, in dem er ein Meister war, Bewirt­ schaftung seiner Güter, was er auch nicht übel verstanden zu haben scheint, und Abfassung seiner zwei unsterblichen Werke, der „Betrachtungen über die Größe und den Verfall der Römer" und des „Geistes der Gesetze". Montesquieu war in die Freundschaft vernarrt (je suis amoureux de l'amitie, sagte er) und er liebte die

Unterhaltung, wie sie nur liebt, wer darin glänzt oder darin Nahrung findet. Er tat beides. In zahlreicher Gesellschaft war er wie alle andern, wenn man Lord Chesterfield Glauben schenken darf; aber „im gewählten Kreise war niemand liebenswürdiger, geistreicher, gab sich niemand mehr" (personne n’etait.. .plus tont ä tous). Er belebte sich ungemein, die Witzworte sprudelten aus seinem Munde und sein Witz war nie verletzend wie der Voltaires. Die Damen fanden großes Gefallen an seinem Gespräch und, obwohl sie in jenen Tagen schon etwas Derbes vertrugen, war Montesquieus Scherz nie gemein. Seine Harmlosigkeit machte, daß er niemandem im Wege war, wenn er glänzte; aber er wußte auch sich zurück­ zuziehen, andere gelten zu lassen; verstand zu hören und hörte gern. „Der Mann", sagte die Herzogin von Chaulnes mit jener unsagbaren Nuance des hohen Hofadels gegen den Gerichtsadel, „der Mann kam in Gesellschaft, um sein Buch zu machen: er behielt alles, was sich darauf bezog". Als jene Engländer ihn in seiner Einsamkeit von la Brede aufsuchten, wurde er nicht müde, sie über ihre Reisen, namentlich über den Orient auszufragen, und so sein Leben über; von allem suchte er zu lernen; selbst aus schlechten Romanen und schlechten Gedichten, obwohl der alte Fuchs, der sich viel und nicht glücklich im Dichten versucht hatte, eine große Verachtung für die Verse heraus­ zuhängen liebte. Selten war ein Mensch durch Naturanlage und Ver­ hältnisse mehr zum edelsten Epikuräismus befähigt als der Präsident; und er war ein bewährter Epikuräer. Er kannte sich selbst und bildete sein Genußtalent zur Virtu­ osität aus. Arbeit und Mildtätigkeit aber waren ihm so hohe Genüsse als geistreiche Unterhaltung, anregende

Lektüre und feine Tafel. „Meine Maschine ist so glücklich zusammengesetzt", sagt er selber, „daß ich von allen Gegen­ ständen lebhaft genug ergriffen werde um sie zu genießen, nicht lebhaft genug um darunter zu leiden". Und wie jedem echten Genußkünstler waren ihm die einfachsten, ersten Gaben der Natur auch die Gegenstände des leb­ haftesten Genusses. Der Heitere nahm stets, wie die Alten, die Gegenwart, das Seiende als das Selbstverständliche, zu Genießende, verdarb sich nie das Leben mit Wünschen nach dem Unerreichbaren, mit Gram ums Unabänderliche. „Ich erwarte den Morgen mit einer inneren Freude, das Licht zu sehen; ich sehe das Licht mit einer Art Entzücken und bin den ganzen übrigen Tag zufrieden." Auch gemein­ nützige Tätigkeit war ihm ein Genuß; aber ehrgeizig war er nicht und es lag ihm ferne sich für einen Helden der Bürgertugend auszugeben. „Ich bin ein guter Bürger, schreibt er einmal, aber in welchem Lande ich auch geboren wäre, wäre ichs ebenso gewesen. Ich bin ein guter Bürger, weil ich immer zufrieden mit dem Zustande gewesen bin, in dem ich mich befand." Doch war diese Zufriedenheit nicht nur eine passive Tugend; sie war auch Verdienst, Ergebnis weiser Selbstbeschränkung und wahrer Be­ scheidenheit. „Ich danke dem Himmel dafür, daß er, der mich in allem mittelmäßig angelegt hat, meiner Seele ein wenig Mäßigung hat verleihen wollen1)." Man hat von Montesquieu gesagt: er habe einen englischen Charakter und einen französischen Geist gehabt. Solche bestimmte Rubriken in psychologischen Dingen sind immer und notwendig ungenau.

In Montesquieu

*) „Je rends grace au ciel de ce qu’ayant mis en moi de la mediocrite en tout, il a bien voulu mettre de la moderation dans mon äme.“

insbesondere waren „die Elemente so gemischt", nm mit Shakespeare zu reden, daß es schwer ist, sie auseinanderzuhalten. Doch herrscht der Franzose, speziell der Gascogner, durchaus vor in seinem Wesen; das Englische an ihm ist mehr das Zufällige, Äußere: die Lebensstellung, allerdings auch die Lebensführung, welche indes mehr dem in England herrschenden Stande, als England an­ gehört; die Sympathie freilich auch mit englischen Ideen. Allein er ist ganz Franzose in der Sorgfalt, mit der er die Form bearbeitet, die er diesen Ideen gibt, in der Lust am Generalisieren oft nach unzureichenden Tatsachen; in der Lebendigkeit des Temperaments, in der Schlag­ fertigkeit des Witzes, in der unentwurzelbaren Achtung vor der Sitte, — einer Achtung, die dem Engländer stets etwas Überwindung kostet, dem Franzosen aber leicht ist wie eine zweite Natur. Montesquieu verheiratet sich, wie's die Sitte will, stirbt im Schoße der Religion, wie's die Sitte will, unterwirft sich der weltlichen wie der geist­ lichen Autorität ohne Zaudern und Murren, wo's nötig ist um eine äußerliche Ehre, die zur Stellung gehört, zu erhalten: und das alles hindert ihn nicht, sich über Che und Kirche, weltliche und geistliche Obrigkeit lustig zu machen, „wo es sich geziemt", d. h. wo es am Platze ist: denn der Takt verläßt ihn nie. Montesquieu hat eine Abhandlung über Konsideration und Reputation geschrieben, die leider verloren scheint, von der aber viele und ausgedehnte Zitationen in einem Blatte der Zeit, welches eine Re­ zension der Schrift gab, erhalten sind. Darin sagt er ganz offen: „Ein Ding, das uns mehr als alle Laster die Konsideration entzieht, ist die Lächerlichkeit. Eine gewisse linkische Weise entehrt eine Frau weit mehr als eine Galanterie." Das spricht der Franzose; der Philosoph

fügt hinzu: „Da die Laster fast allgemein sind, ist man übereingekommen, das Kriegsrecht gegen sie zu wahren (de se faire bonne guerre); aber da jede Lächerlichkeit persönlich ist, gibt man ihr kein Quartier." Wie sehr es ihm aber um die Konsideration zu tun ist, gesteht er eben so unumwunden: „Ein Mann aus gebildeten Kreisen (so übersetze ich das honnfete komme Altfrankreichs), der in der Gesellschaft angesehen ist, ist im glücklichsten Zustande, in dem man sein kann. Die Konsideration trägt viel mehr zu unserem Glücke bei, als Geburt, Reich­ tum, Ämter, Würden..." Wer ihrer teilhaftig ist, „genießt alle Augenblicke die Rücksichten derer, die ihn umgeben: er begegnet in der geringsten Bewegung einem Zeichen der allgemeinen Achtung, seine Seele ist aufs wohltuendste (d&icieusement) in jener Befriedigung erhalten, welche die Befriedigungen fühlbarer macht und in jenem Vergnügen, das die Vergnügen selbst erheitert". Auch versäumt er, als echter Franzose, nicht so leicht etwas, das ihm jene „wohltuende" Empfindung verschaffen könnte; was tut er nicht, um in die Akademie zu kommen! Wie bemüht er sich, seine Baronie zu einem Marquisate erheben zu lassen! Aber er ist konsequenter als die meisten seiner Landsleute: er rühmt die Gleichheit nicht; er preist die Auszeichnungen. Dabei hat seine Eitelkeit nichts Verletzendes für andere. Montesquieu war nicht neidisch, wie z. B. Voltaire, dem der hochgeborene „konsiderierte", Montesquieu und sein Ruhm zeitlebens ein Dorn im Auge war; der die Lettres persanes „leichte Ware, ein ärmlich Buch" (c’est du frttin, c’est un pietre livre) nannte; die „Größe und den Verfall" wie den „Geist der Gesetze" hämisch kritisierte, ohne sie nur recht gelesen zu haben. „Voltaire hat zu viel Geist,

um mich zu verstehen, meinte Montesquieu. Alle Bücher, die er liest, macht er sich selber; worauf er billigt oder mißbilligt, was er gemacht hat." In der Privatunterhaltung entschlüpfte es ihm allerdings zu sagen: „Voltaire ist vielleicht der Mensch, der die meisten Lügen in der kürzest möglichen Zeit sagt." Doch griff er nie Voltaires Werke an, wie er sich überhaupt auf Kritik nicht einließ. Das hätte ihn in mißliebige Zänkereien hineingezogen, und er liebte zu sehr seine Ruhe, war zu vornehm, um wie der beweglich bissige Emporkömmling an solchem Witzspiel mit scharfer Waffe sein Gefallen zu finden. Montesquieu ließ stets den Kopf am Fleurett. Die Gutmütigkeit und der Wunsch, in Ruhe gelassen zu werden, waren zwei hervorstechende Züge im Wesen des Präsidenten. „Ich verlange ja nichts von dieser Welt, sagte er, als daß sie sich ruhig um ihre Achse drehe." Freilich, wenn man ihn nicht in Ruhe ließ, wußte er zu antworten, so namentlich, wenn man ihn in seiner geliebten La Brede belästigte, wie's wohl zuzeiten kommen mochte, wenn unbequeme Nachbarn, oder übereifrige Regierungsbeamten ihm etwas vorschreiben wollten. So klagte der Intendant dem Generalkontrolleur — wir würden sagen der Ober­ präsident dem Minister — der Sieur de Montesquieu pflanze Weinstöcke, wo es nicht erlaubt sei und verteidige sein Recht durch impertinente Denkschriften: „Da es Herrn von Montesquieu nicht an Witz fehlt, geniert er sich nicht. Paradoxe aufzutischen, und schmeichelt sich, es werde ihm ein Leichtes sein, mit ein paar glänzenden Argumenten die albernsten Dinge zu beweisen. Ich bitte Sie, mir zu erlauben, nicht auf seine Denkschrift zu antworten und nicht in die Schranken gegen ihn zu treten: er hat nichts zu tun, als Gelegenheiten auszuspüren, um seinen Witz

zu Üben. Ich habe ernstere Dinge, die mich beschäftigen." Montesquieu gewann auch diesen Prozeß wie fast alle und als echter Gascogner verkaufte er seinen guten englischen Freunden alljährlich das Gewächs, das er so vermehrt hatte. Denn Montesquieu war ein so trefflicher Hauswirt, als er ein tätiger und einsichtiger Landwirt war. Am Ende seines Lebens hatte er seine Einkünfte nahezu verdoppelt. Seine Ordnung war sprichwörtlich, und er schenkte nicht so leicht einen Heller, auf den er ein Recht hatte. Dabei war er — auch darin ein echter Franzose — die Mäßigkeit selber: frühstückte mit einem Glas Wein und einem Stückchen trocknen Brots und soll auch seine Kutschpferde nicht viel fetter gehalten haben als Harpagon die seinen hielt, wenn man anders Möllere Glauben schenken darf. Seine Kleidung war beinahe ärmlich. Auch konnte er nie Aus­ drücke finden, die stark genug waren, seinen Gefühlen über das Laster der Verschwendung Ausdruck zu geben; und wenn die in Amerika reichgewordenen Bordelesen an dem Strand der Garonne ihre Schätze aushängten, meinte er, „sie hängten ihre Dummheit aus". Allein man würde weit fehlgehen, wenn man glaubte, Montesquieu sei geizig gewesen. Herr Vian erzählt uns vier vollständig beglaubigte Anekdoten über seine Libe­ ralität, deren eine bewunderungswürdiger ist als die andere: vor allem war er gegen seine Bauern die Güte selbst, verlangte nur geringe Pacht und, obschon er in der Theorie und in der Unterhaltung die größte Strenge gegen die Wilddiebe predigte, drückte er in der Praxis gar oft ein Auge zu. So war er auch unbarmherzig in Worten gegen die Projektenmacher; aber er unterstützte mit klingender Münze den armen Erfinder eines Chrono­ meters, der ihm in den Wurf kam. Als er einst erfuhr,

die Bauern auf einem seiner entfernten Güter litten an Hungersnot, weil der Krieg die Getreideeinfuhr gehindert, reiste der alte Herr mitten im Winter hin, versammelte die vier Pfarrer der Ortschaften, übergab ihnen alles Getreide in seinen Lagern zur Verteilung — für mehr als 6000 Livres — und nachdem ste ihm das Geheimnis versprochen, machte er sich wieder davon. Im allgemeinen liebte er nicht bedankt zu werden. Es gibt eine Geschichte aus seinem Leben, die auch dramatisch behandelt worden ist, wie er einem armen Jungen, von dem er zufällig er­ fahren, sein Vater schmachte als Sklave in Tetuan, diesem seinen Vater losgekauft, ohne daß der Freigelassene noch sein Knabe je den Namen des Wohltäters hätten erfahren können; und Herr Vian, der gern seine christlichen Gefühle an den Tag legt, meint, St. Vincenz von Paula wäre gewiß zartfühlender gewesen, hätte sich dem Danke nicht entzogen. Auch der keineswegs christliche Sainte-Beuve macht seine Vorbehalte gegen diese Art von Wohltätigkeit. „Ehren wir, achten wir die natürliche und verständige Freigebigkeit; aber erkennen wir doch an, daß dieser Güte und dieser Mildtätigkeit eine gewisse Flamme fehlt, wie diesem ganzen Geist und dieser Gesellschaftskunst des 18. Jahrhunderts eine Blüte der Phantasie und Poesie fehlt. Nie sieht man in der Ferne das Blau des Himmels noch den Schimmer der Sterne." So unbestreitbar die zweite Hälfte dieses Satzes, so zweifelhaft ist die erste Hälfte: es sind die zartesten Seelen, welche in der Furcht, ihrer Bewegungen nicht Meister sein zu können, sich zu verbergen suchen, wenn die Träne quillt, oder ste mit einem Scherz weglachen, und wenn Montesquieu mit seiner Unempfindlichkeit renomierte: „Ich war der Freund aller Geister und der Feind aller Herzen", so geschah es Hille brand, Zeiten und Menschen.

18

offenbar nur, um sich gegen die Weinerlichkeit seiner Zeit zu wehren: denn das i8. Jahrhundert war vielleicht nur deshalb so unkünstlerisch, weil seine Empfindsamkeit eine zu wirkliche war, das Subjekt zu sehr beherrschte, um ihm zu erlauben, sie künstlerisch zu objektieren. Erst Goethe« war es gegeben, dieser Empfindsamkeit Herr zu werden, und ihm ist es denn auch gelungen, sie dichterisch dar­ zustellen. Das 18. Jahrhundert war ein wenig wie Montes­ quieu; gar strenge in der Theorie, in der Praxis gerne nachsichtig: in der Form war alles Konvention; im Wesen war oft das Menschliche allein gültig. Es ging mit fast allem wie mit Montesquieus Heirat. Die Gesetze erklärten die gemischten Ehen für Konkubinate, die daraus ent­ sprossenen Kinder für Bastarde, verwiesen die Leichen der so Verheirateten auf den Schindanger; in Wirklichkeit heiratete ein Präsident des Parlaments von Bordeaux, der mit Anwendung solcher Gesetze betraut war, eine Protestantin und die es blieb. Heute würde Montesquieu in Bordeaux keinen Priester finden, der ihn traute und begnügte er sich mit der Zivilehe, so würde Mme. de Montesquieu nicht in der Gesellschaft empfangen werden. Ich will nicht sagen, daß es nicht besser wäre, gesetz­ liche Freiheit zu haben als gesellschaftliche: ich will nur daran erinnern, daß die letztere größer war im 18. Jahr­ hundert als heute. Von jenem gilt wirklich das Wort von den „schlechten Gesetzen, welche der Mißbrauch korri­ giert". Man denke an die Akademie: und was einem der ersten Gelehrten Frankreichs, Herrn LittrL, zugestoßen ist, als es dem Bischof Dupanloup und Herrn Guizot gelang, ihn von der erlauchten Versammlung fernzu­ halten, weil er ein Freidenker sei.

Wie anders Kardinal

Fleury mit Montesquieu! Der hatte auch seinen Dupanloup, den Vater Tournemine, der die Lettres persanes denunzierte, welche gerade das Anrecht des Präsidenten auf die akademische Ehre ausmachten. Und in Wahrheit, die beiden Perser Montesquieus waren nicht glimpflich mit den Mönchen und dem „Zauberer von Rom, der glauben machen will, drei mache eins", umgesprungen. Fleury, der als regierender Minister sein Veto zu geben hatte, erhob keinen Einspruch, wie er ja auch Voltaires „Mahomet" gegen die Eiferer in Schutz genommen hatte. Es genügte, daß Montesquieu an den verfänglichen Stellen des dem Kardinal bestimmten Exemplars unverfängliche Kartons einschieben ließ. Der Minister wußte wohl um den Sach­ verhalt, aber er drückte ein Auge zu, damit nicht gesagt werden könne, der größte Schriftsteller der Zeit sei von der Akademie ausgeschlossen worden. Montesquieu rächte sich auf seine Weise am Denunzianten, der seine Aufnahme verzögert. Vater Tournemine hielt gar viel auf seine Berühmtheit: so oft nun Montesquieu in der Folge seinen Namen aussprechen hörte, rief er stets: „Vater Tournemine! Was ist das, Vater Tournemine? Ich habe nie von ihm reden gehört!" Dieser Widerspruch des Gesetzestextes und der Praxis geht durchs ganze Jahrhundert, und Montesquieus Leben bietet der Beweise die Fülle. Freilich gehörte er zu den Privilegierten, aber der symbolische Akt, der seinen Ein­ tritt ins Leben wie de« anderer Privilegierten begleitete, schien nicht umsonst vollzogen: wie Montaigne und Buffon wurde auch Montesquieu von einem armen Bettler aus der Taufe gehoben, „damit sein Pate ihn sein ganzes Leben über daran erinnere, daß die Armen seine Brüder sind". Jedenfalls vergaß Montesquieu nie, daß seine

Privilegien ihn ju Gegenleistungen verpflichteten. Zu Hilfe kamen ihm feine Privilegien immerhin selbst da, wo er ste nicht direkt anrufen konnte. Auch Nichtbevor­ rechtete, wie Voltaire, Diderot, über die Gesetze, insbesondere triumphieren, aber nur um den Montesquieu überwand ste wie

Beaumarchais, wußten über die Zensur, zu Preis langer Kämpfe. spielend. Überwunden

wurden ste immer: wie hätten wir sonst jene einzige Literatur des 18. Jahrhunderts, der wir unsere Freiheit danken. Wohl mußten alle Werke Montesquieus, auch die, welche Kirche und Staat angriffen, anonym und im Aus­ lands veröffentlicht werden; auch wurde ihre Einfuhr in Frankreich verboten, aber die Anonymität war so durchsichtig, daß der Verfasser auf seine nicht unter­ zeichneten Schriften hin in die Akademie gewählt wurde; ein Pfäfflein hatte die Güte, nach Amsterdam zu reisen und den Druck der Lettres persanes zu besorgen; ein befreundeter Jesuit sah dem Präsidenten die Druckbogen durch; und die Grenze war so lässig überwacht, daß in einem Jahre (1721) nicht weniger als acht Auflagen von dem Buche in Frankreich abgesetzt wurden. Nicht ganz so leicht ging's mit dem doch so viel gemäßigteren „Geist der Gesetze". Zwar verweigerte die Zensur diesmal die Einführung in Frankreich nicht, aber sie vermochte Montes­ quieu, der sich übrigens nicht lange bitten ließ, einige anstößige Stellen — es waren im ganzen vierzehn — durch Kartons zu ersetzen; allein die Obrigkeit verbot es nachträglich (1749), doch nur für kurze Zeit. Kaum hatte Malesherbes die Direktion des Buchhandels im Ministerium übernommen (1750), so hob er auch die Hindernisse der Zirkulation. Ähnlich ging's in Rom, wo man das Werk auf den

Index setzen wollte, trotz aller Kartons, trotz des franzö­ sischen Gesandten, trotz des heiligen Vaters selber — es war der gutmütige Lambertini, der acht Jahre vorher die Widmung des „Mahomet" so gnädig aufgenommen. Ein Eiferer hat schon gleich nach dem Erscheinen des Werkes es der Versammlung der französischen Geistlichkeit, welche alle fünf Jahre tagte, denunziert; diese aber hatte abgelehnt, sich damit abzugeben. Die Sorbonne war weiter gegangen: sie hatte eine vollständige Zensur aller ketzerischen Stellen entworfen; doch bliebt bei dem Entwürfe, da Montesquieu sie auf eine verbesserte, zweite Auflage vertröstete. In Rom dauerten die Unterhandlungen vier Jahre lang und, obschon der einflußreiche Kardinal Passionei — derselbe, von dem C. Justi uns in seinem „Winkelmann" ein so herrliches Porträt gegeben und der auch früher als Mittels­ mann zwischen dem Papste und Voltaire gedient — sich eifrig bei den Berichterstattern der Kongregation verwandt, wurde die erste Auflage, sowie die italienische Übersetzung des Buches doch 1752 auf den Index gestellt, wie ge­ wöhnlich donec corrigantur, und Überdies wurde, wohl auf Benedicts XIV. Veranlassung, das Dekret geheim­ gehalten, d. h. unwirksam gemacht. Man sieht, selbst in Rom waren schon vor Ganganelli „avec le ciel des accommodements“. Freilich hatte Montesquieu in diesen vier Jahren, in Rom wie in Paris, eine Gewandtheit, eine Beredsamkeit, eine Tätigkeit entwickelt, die jedem Diplo­ maten, Advokaten und Geschäftsmanne Ehre gemacht hätten. Seine Denkschriften, seine Korrekturen, seine Privatbriefe waren kleine Meisterwerke an Feinheit, und die Hauptschrift, zu der diese Verteidigung seines Buches Anlaß gab, die Ddfense de l’esprit des Lois, ist vielleicht das vollendetste Kunstwerk Montesquieus geblieben.

Bezeichnenderweise hatte der „Geist der Gesetze" anfangs und vornehmlich bei den Freunden wenig Erfolg; Präsident Henault meinte, das Buch sei nur ein Entwurf; Silhouette riet, es zu verbrennen; selbst Crebillon und Fontenelle rieten vom Druck ab; Helvetius und Saurin warfen ihm vor, zu nachsichtig für die kirchlichen und adeligen Vorurteile zu sein. „Unser Freund Montesquieu, sagte Helvetius mit komischem Mitleiden, wird seinen Namen eines Weisen und Gesetzgebers einbüßen und nur noch ein Magistrat, ein Edelmann, und ein Mann von Witz sein. Das betrübt mich, für ihn wie für die Mensch­ heit, der er besser hätte dienen können." Auch Mme. du Deffand sagte in ihrer pikanten Weise, „der Geist der Gesetze" sei „Geist über die Gesetze". Die satirischen Verse über diesen „Fall" des berühmten Verfassers der lettres persanes regneten; die Priester, vor allem die Jansenisten, die das den Jesuiten gezollte Lob nicht schlucken konnten, nannten das Buch einen „Skandal", ein Kind der Verfassung Unigenitus. Vor allem war es die Theorie vom Einflüsse des Klimas und Bodens, die unser Herder hernach so beredt weiter entwickelt, welche den Witz der Satiriker und die Einwände der Kritiker hervorrief. Montesquieu nahm sich den Erfolg nicht zu Herzen. „Ich höre ein Paar Bremsen um mich summen; aber wenn die Bienen nur ein wenig Honig darin finden, so genügt es mir." Ein Mann wie Montesquieu rechnet eben, so angenehm ihm auch die Anerkennung der Zeitgenossen sein würde, nur auf die Anerkennung der Nachgeborenen: denn er weiß; daß, wenn die Nachwelt nichts Mittelmäßiges hinüber­ nimmt, die Mitwelt oft auch das Wertloseste bewundert, sobald es ihrer Laune oder ihrem Tagesgeschmack entspricht. Die Anerkennung kam vom Ausland, das man ja

eine zeitgenössische Nachwelt genannt hat. „Das Buch wird in Frankreich eine Umwälzung in den Geistern hervorbringen", sagte man in Turin, und in Potsdam schrieb der große König seine Glossen dazu, die Montes­ quieu erraten zu können glaubte. In der Schweiz und in England war die Bewunderung eine ungeteilte. Hume bot sich an, das Werk zu übersetzen. Chesterfield las es dreimal hintereinander; eine Engländerin meinte, als sie hörte, das Buch werde in Frankreich heftig getadelt: „Warum hat er's nicht hier geschrieben? Man würde ihm ein Standbild errichtet haben." Bald besann man sich auch in Montesquieus Vaterland eines Bessern, und als er bald darauf (1755) ein Sechsundsechziger in Paris starb, bezeichnenderweise umgeben von toleranten Priestern und zwei aufgeklärten Freundinnen, der Herzogin von Aiguillon und Mme. Dupre de Saint-Maur, von der er einst gerühmt hatte: „sie ist gleich gut zur Geliebten, zur Frau und zur Freundin", und die ihm jetzt die Augen zudrückte — als Montesquieu das Zeitliche segnete, war der „Geist der Gesetze" in ganz Frankreich wie im Aus­ lande als das bedeutendste Werk anerkannt, das die Literatur des 18. Jahrhunderts bis dahin hervorgebracht. So ganz ungerecht waren die ersten Urteile der Zeit­ genossen darum doch nicht. Ich versage mir hier und heute von den Ideen Montequieus und ihrem Einflüsse auf die Geschichte zu reden; doch dürfte ein Wort über den schriftstellerische» Wert des „Geistes der Gesetze" doch am Platze sein, da es die Persönlichkeit des Mannes ver­ vollständigt. Montesquieu bietet in der Tat das seltene Beispiel eines mächtigen Geistes, der aus Schüchternheit des Temperaments, aus Rücksichtnahme auf alles Be­ stehende, aus übertriebener Sorgfalt für die Form, den

Gedanken, die ihm am meisten am Herzen lagen, dauernden Eintrag getan hat. Wie neu, wie mutig, wie zeitgemäß diese Gedanken, selbst in dieser etwas lähmenden Gestalt sein mochten, beweist ihre Wirkung, eine Wirkung, die noch heute dauert, noch lange dauern wird. Immerhin darf gesagt werden, daß der Stil des „Geistes der Gesetze" gewaltig abfällt gegen dev der Lettres persanes; die Komposition gegen die der Grandeur et decadence. Die Leichtigkeit, der Fluß, die Ungezwungenheit, welche die Briefe Usbecs und Ricas auszeichnen, haben einer ge­ wissen, sententiösen Konziston Platz gemacht, die oft an Dunkelheit grenzt, und die antithetische Schaukel des Satzbaues wird manchmal recht ermüdend. Selbst Chester­ field mußte gestehen, „daß sich sein Freund nicht klar genug ausgedrückt; nur meinte er, es wäre eine Folge der mangeln­ den Freiheit; in England würde er verständlicher geschrieben haben". Keineswegs. Montesquieu war immer von einer peinlichen Ängstlichkeit im Stil gewesen. Viele Stellen seiner lettres persanes waren vier-, fünfmal ausgestrichen und selbst seine Liebesbriefe waren über und über korrigiert, ehe sie abgeschrieben wurden. Während er aber in seiner Jugend alle diese Sorgfalt darauf verwandte, um seinen Gedanken den anspruchslosesten und zugleich getreuesten, bestimmtesten und faßbarsten Ausdruck zu geben, so be­ mühte er sich später hauptsächlich kurz zu sein und durch seine Tiefe zu imponieren. Jeder Satz sollte das Ergebnis einer ganzen Gedankenentwickelung wie in einer Nuß bieten. Hier war denn doch seine ausschließlich römische Bildung sehr fühlbar, mehr als gut war: schon SaintBeuve hat angemerkt, daß Montesquieu „nie das erste, einfache, natürliche, naive Altertum recht gekannt: sein Altertum ist die zweite, überlegtere, bearbeitetere, la-

teinischere Epoche". Ich denke mir, Sallust muß sein Mann gewesen sein, was die Form anlangt, wie Cicero, was den Inhalt betrifft. Die mühsame Arbeit nun des Nußknackens, die Montesquieu seinen Lesern zumutete, suchte er ihnen wieder auf andre Weise zu erleichtern, indem er ihnen häufige Ruhepunkte gewährte. Die Kapitel, ja die Bücher des „Geistes der Gesetze" sind meist sehr klein und laden dadurch zum Pausieren und Nachdenken ein: doch wird der Zweck auch damit nicht ganz erreicht. Wie man auf den Stil Montesquieus in seinem Hauptwerke Kants Wort an­ wenden kann, daß „er viel kürzer sein würde, wenn er nicht so kurz wäre", so kann man mit unserem Philosophen auch von der Komposition des „Geistes der Gesetze" sagen: „Manches Buch wäre viel deutlicher geworden, wenn es nicht so gar deutlich hätte werden sollen." Nicht daß Mon­ tesquieu „die Artikulation oder den Gliederbau des Systems durch seine hellen Farben verklebt und unkenntlich gemacht" hätte, wie Kant es gewissen Schriftstellern vorwirft: nein, das Skelett selbst ist nicht organisch. Vom 12. Buche an ist die Ordnung nur noch eine lose Aneinanderreihung: von einer systematischen Gliederung ist nichts mehr zu spüren, und am Ende haben wir gar einfache Anhänge, die in keinerlei Zusammenhang mit dem philosophischen Ge­ dankengange des Werkes stehen. Man wird mir zutrauen, daß diese Ausstellungen mich nicht verhindern, auch die Form des „Geistes der Gesetze" nach Gebühr zu würdigen, vor allem die un­ erreichte Eleganz des Ausdrucks, die wiegende Harmonie des Satzbaues, die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit des Tones, die reizende Ironie, welche stets dem drohenden Pathos Einhalt gebietet, die überraschenden und erhellenden

Durchblicke, die der große Meister der Sprache so oft im dunkelste« Dickicht seiner gewundenen Gänge ju eröffnen weiß: ich habe nur andeuten wollen, was zu den ungünstigen Urteilen der Lands- und Zeitgenossen Veranlassung gegeben haben mag; denn nur auf eine Studie der Zeit und des Landes an einem ihrer charakteristischen Vertreter kam es mir an, nicht auf eine literarische, noch weniger auf eine philosophisch-politische Prüfung der Werke Montesquieus.

Die IDerther-Rrankheit in Europa, i.

Der Weltschmerz — auch Wertherismus und Byronismus genannt — war eine moralische Krankheit, welche in verschiedenem Grade und unter verschiedenen Formen in ganz Europa des ersten Viertels dieses Jahrhunderts ihre Opfer gesucht und gefunden hat. Ich sage: in verschie­ denem Grade und unter verschiedenen Formen, denn sie nahm in Frankreich eine andere Gestalt an als in Deutsch­ land und sie trat weniger heftig in England und Italien als in Deutschland und Frankreich auf. Es ist nur natür­ lich, daß ein ganz innerliches Übel, ein Übel der Phantasie noch mehr als des Geistes, besonders gefährlich werden mußte in einem Lande wie Deutschland, das damals alles öffentlichen Lebens entbehrte, das eigentlich nur ein inner­ liches Leben führte, dem keine gesunde Tätigkeit offen stand. Aber auch Frankreich mußte heftiger als andere Länder davon heimgesucht werden; denn seine Kultur war alt, beinahe greisenhaft-blasiert und es hatte eben die furcht­ barste Katastrophe durchgemacht, welche die menschliche Gesellschaft seit der Völkerwanderung erschüttert hatte. Es war kaum zu verwundern, wenn in der Ratio», die so unablässig auf der Bresche gestanden, dann so furchtbar gerüttelt, endlich so gründlich berauscht worden war, sich nach 1815 eine gewisse katzenjämmerliche Müdigkeit ein­ stellte. Dazu die vollständige Abwesenheit aller Prinzipien,

staatlicher wie gesellschaftlicher, religiöser wie sittlicher. Die Revolution hatte alles in Frage gestellt. Die traditionelle Autorität war vernichtet; eine innere aufjurichten war man nicht imstande; eine äußerliche war noch nicht hergestellt. „Die ganje Krankheit des Jahrhunderts," sagt der fran­ zösische Dichter, der am meisten daran gelitten, in dem Werke, in dem er sie am eingehendsten geschildert, „die ganze Krankheit des Jahrhunderts," sagt Alfred de Muffet in den „Confessions d’un enfant du siede“, „kommt von zwei Ursachen. Das Volk, das 1793 und 1794 durchge­ macht hat, trägt zwei Herzenswunden mit sich herum: alles, was war, ist nicht mehr — alles, was sein wird, ist noch nicht. Sucht nirgendwo anders das Geheimnis unseres Wehs". Anders lagen die Dinge in England und Italien. Dieses war zu leidenschaftlich und jugendlich aufgeregt, jenes zu männlich und zu kräftig, um sich einer so trüb­ seligen Neigung hinzugeben. Es klingt freilich beinahe wie ein Paradoxon, von der Jugendfrische und Gesund­ heit Italiens zu sprechen; ist es doch eben die Eigentüm­ lichkeit der öffentlichen Meinung, daß sie die Wirklichkeit erst dann anerkennt, wenn sie schon aufgehört hat, Wirk­ lichkeit zu sein. Nur deshalb leben so viele hohle Urteile noch als tote Formeln im Volksmunde: der leichtsinnige und ritterliche Franzose, der harte und egoistische Engländer, der träumerische, schwärmende Deutsche existieren noch immer in der gedankenlosen Sprache der Menge, wie der „entmannte" Italiener, an den Richard Wagner so taktvoll erinnert in seinem Dankschreiben an die Stadt Bologna, die ihm das Ehrenbürgerrecht verliehen hatte. Wahr­ scheinlich wird auch diesmal die Nachwelt jene Frische und Jugendlichkeit Italiens anerkennen und feiern, wenn sie

schon längst vorüber ist. Sind wir nicht alle genährt worden von Kindesbeinen auf mit dem Bilde eines Italien voll eleganter, weltlicher Abbates, geistig und körperlich herabgekommener Noblli, eitler Mäzene und Düettanten, pedantischer Akademiker und korrupter Bettler, käuflicher Diplomaten und ebenso käuflicher vornehmer Damen, serviler Facchini, fauler Lazzaroni, weibischer Cicisbei, trillernder Tenors und pirouettierender Tänzerinnen? Und in der Tat bot das Italien Metastasios ein ähnliches Ge­ mälde dar: aber schon war's im Verschwinden, als der Korse über die Alpen stieg; und gerade der italienische Wertherianer Ugo Foscolo war, nächst Alfieri, der Haupt­ verkünder einer neuen Zeit. Wer den italienischen Mittel­ stand und seinen fast übertriebenen Stolz, wer die be­ scheidene Unbescholtenheit der italienischen Staatsmänner, die kühne und kräftige Dichtung eines Leopardi und Niccolini, die beinahe kindisch naive Moralität des modernen italienischen Dramas, wer die Reihe von Namen kennt, deren Träger sechszig Jahre lang Verbannung und Kerker für ihr Vaterland würdevoll und männlich erduldet — der wird zugeben, daß wenig mehr übrig ist von dem Italien Winckelmanns und des Präsidenten de Brosses, von dem wir in unserer Jugend so viel gehört. Ein solches Italien aber, so lebendig, so gesund, so beschäftigt mit dem reellsten aller Interessen, das zugleich auch das ideellste ist, mit dem Interesse fürs Vaterland, ein so heftig erregtes, so leidenschaftliches Volk hatte weder das Temperament noch die Zeit, sich so recht con amore dem Weltschmerze hin­ zugeben. England aber, so sollte man meinen, mit seinem viel­ besprochenen düsteren Himmel, der zum träumerischen Nach­ denken so recht einzuladen scheint, das grämliche, mürrische

England, dessen größte Geister einen Zug tiefer Melan­ cholie nicht ju unterdrücken vermochten — England hätte der traurigen Epidemie einen günstigeren Boden als jedes andere Land bieten müssen. Und doch stnd die zwei edlen Opfer, welche das Übel ihm abgefordert, sind Byron und Shelley nur glänzende Ausnahmen gewesen, outlaws der englischen Gesellschaft, prächtige, aber einsame Meteore, die fern von ihrem Vaterlands ihre leuchtende Bahn ver­ folgen mußten und sogar in dieser Schwächekrankheit noch jene echt britische Kraft bewährten, welche in unseren Tagen zu erlöschen droht. Was die Generation Englands vom Jahre 1815 vor jenem Übel bewahrte, war nicht allein die noch robuste Gesundheit des Volkes, die munter und rüstig dem Gewinn und dem Genuß nachging, es war die nationale Enge ihrer Weltanschauung, die Ignoranz alles dessen, was nicht auf dem eigenen Wege lag, die Konzentration auf dieses Nächstliegende, die Intensität des religiösen Ge­ fühles und das feste Beharren bei der religiösen wie bei der politischen Autorität, die eingewurzelte Gewohnheit des Individuums, nichts von der Gesellschaft zu verlangen und zu erwarten, und demzufolge das Wegfallen aller weibischen Klagen über diese unbarmherzige grausame Gesellschaft, vor allem aber das öffentliche Leben, welches allen be­ deutenden Geistern, jeder gediegenen Bildung, jedem Willensstärken Charakter die Gelegenheit bot, sich zu ent­ falten, die Kräfte zu üben. Vielleicht dürfte es von Interesse sein, des näheren auf die Krankengeschichte einzugehen und die Symptome wie den verschiedenartigen Charakter der Krankheit an einigen berühmten „Subjekten" zu studieren. Denn ich spreche hier ja nicht von einer literarischen Schule, sondern von einer moralischen Seuche, deren Spuren sich in der

Literatur der Zeit deutlich erkennen lassen, weil es die Aufgabe der Literatur ist, die herrschenden Ideen und Leidenschaften einer Zeit zu schildern, wie es mir die Auf­ gabe des Literarhistorikers zu sein scheint, jenen Spuren in den Geisteswerken nachzugehen. Jene Unterscheidung ist also durchaus keine Subtilität; ich möchte in der Tat durchaus keine ästhetische Vergleichung verschiedener be­ deutender Dichtwerke anstellen, sondern die Fortschritte verschiedener Phasen und verschiedener Äußerungen einer Gemütskrankheit verfolgen und darlegen. Von Nach­ ahmung, wie ste in einer literarischen Schule, bewußt oder unbewußt, doch immer stattfindet, ist aber hier durchaus nicht die Rede; eigentlich kann nur ein Werk der Weltschmerzliteratur als eine Nachahmung betrachtet werden: ich meine „Jacopo Ortis". Die Reihe der übrigen Werke, namentlich Romane, von denen ich reden möchte, sind einfach in demselben Geiste konzipiert, aus einer ähnlichen Stimmung hervorgegangen: „Manfred" ist so wenig dem „Faust" nachgeahmt, als „Werther" der „Nouvelle H4loise“, wie vielfach behauptet worden; ein gleicher Ge­ mütszustand hat analoge Erzeugnisse hervorgebracht. Wie das junge Deutschland von 1770 zum Weltschmerze kam, hat Goethe selbst so fein und gründlich in „Dichtung und Wahrheit" auseinandergesetzt; wie sich jener Weltschmerz gestaltete, hat er so wunderbar und so lebendig im „Werther" dargestellt, daß es Anmaßung wäre, einen unnützen Versuch zu machen, den größten deutschen Dichter, der auch der größte deutsche Literar­ historiker war, ergänzen oder gar verbessern zu wollen. Es genüge, daran zu erinnern, wie der Meister dem langen Frieden, der Tatenlosigkeit, der Enge der bürgerlichen Verhältnisse, dem Widerstreite einer erbärmlichen Wirk-

lichkeit mit höchsten Idealen jene Stimmung der deutschen Jugend juschrieb, die sich gegen alle Schranken des In­ dividuums auflehnte, ob diese Schranken nun gesellschaft­ liche Sitte oder Staatsgesetz, religiöse Satzung oder litera­ rische Regel hießen. Er hat uns erzählt, wie sich die greisen­ haft überzivilisierte Welt nach einem geträumten Natur­ zustände zurücksehnte: wie man hoffte, jenes goldene Zeit­ alter zurückführen zu können, wo „erlaubt war, was be­ liebt". Er hat gezeigt, wie die Jünglinge jener Zeit bald dramatisch-aktiv, drangvoll-stürmend die alte Feste zu zertrümmern suchten, um für ihre Ideale Raum zu finden, bald sich der verhaßten Weltordnung gegenüber elegisch­ passiv, weinerlich-sentimental, weiblich-empfindlich ver­ hielten, sich krankhaft vor ihr zurückzogen, sobald sie das „verzärtelte Herzchen" etwas unsanft berührte und in ein­ samer Träumerei, in nervöser Überreizung einer unfrucht­ baren, selbstverzehrenden Melancholie nachhingen, sich selbst­ gefällig darin wiegten, sich eine ideale Welt aufbauten, die im Grunde nichts war als das Reich unumschränkter individueller Willkür und ungehemmten Gefühles, die sich dann freilich gar prächtig und weich neben der rauhen Wirklichkeit ausnahm. Er hat an den Stolberg, Boß, Schubarth, Sonnenfels, Klinger, Gersienberg, wie an den Miller, Hölty, Hahn und vornehmlich an sich selbst gezeigt, wohin diese verschiedene Betätigung derselben falschen Weltauffassung eine aufgeregte oder ermattete Jugend führen mußte; wie der Einfluß des Eindringens der englischen und französischen Literatur, Hamletscher Ver­ düsterung, Richardsonscher Sentimentalität, Doungscher Nachtgedanken, Ossianscher Nebelgestalten einerseits, Rous­ seauscher Überspanntheit und Voltairescher Ironie anderer­ seits sich mit dem trostlosen politischen Zustande Deutsch-

lavds verband, um die Jugend immer mehr auf die Nacht­ seite des Lebens hinzuweisen: „Jedermann glaubte, er dürfe ebenso melancholisch sein als der Prinz von Däne­ mark, ob er gleich keinen Geist gesehen und keinen könig­ lichen Vater zu rächen hatte." Die folgende Entwicklung über die Neigung zum Selbstmorde, welche in jener Gene­ ration herrschte, gehört zum Vollendetsten, was die Psy­ chologie kennt und die ganze Schilderung schließt ab mit der Entstehungsgeschichte „Werthers", dem ebenso vollen­ deten Typus des Weltschmerzes. Es dürfte von Interesse sein, zu sehen, welche Gestalt das Übel, das Goethe mann­ haft zu überwinden wußte und dem Byron ruhmvoll erlag, im übrigen Europa annahm. II.

Der Wertherismus ist ein speziell deutsches Produkt. Sobald die Krankheit über die Grenze ging, unter anderen Verhältnissen andere Organisationen ergriff, zeigte sie sich in durchaus veränderter Gestalt. Deutschland hatte die bewegende Idee des achtzehnten Jahrhunderts auf seine Weise erfaßt. Es hatte sich wie Frankreich und England gegen das Autoritätsprinzip in Kirche und Staat, in Wissenschaft und Dichtkunst aufgelehnt; wie jene, aber in noch übertriebenerem Maße, hatte es ihm das individuelle Gefühl, die Vernunft, ja die Sinnlichkeit entgegensetzt; und dieser Kampf des Individualismus gegen die Tradition erreichte in den Siebzigerjahren einen wahren Paroxismus. Die freie Forschung, die Frömmigkeit des Gemütes, die dichterische Begeisterung und der Absolutismus des Genies triumphierte» über die besiegte Scholastik und Orthodoxie, über die Regel und den Formalismus; aber die persönliche Freiheit rüttelte noch erfolglos am morschen Hi Hebe and, Zeiten und Menschen.

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Staatsbav und eine veraltete Zivilisation hemmte noch immer die gewünschte Rückkehr zu Mutter Natur. Zu diesem Kampfe gegen die Fesseln der bestehenden Gesell­ schaft nahm das Individuum je nach seinem Charakter eine verschiedene Attitüde an: entweder stülpte es himmel­ stürmend Pelion auf Ossa in titanischer Empörung; oder aber es setzte dem Druck ohnmächtige Klagen, rührende Tränen, weiche Entsagung entgegen. In dem einen Goethe aber, in dem sich die ganze innere Geschichte Deutsch­ lands von 1770—1820 wie in einem Mikrokosmus wider­ spielt, begegneten sich beide, Klinger und Hölty: er sang das Sturmlied der Titanen, den „Prometheus", und er faßte im „Werther" die Zähren der Unglücklichen wie Diamanten in goldenem Reif. Ec hat uns selbst erzählt, wie sich in ihm die Werther-Stimmung herangebildet; in diesem seinem wunderbarsten Werke selbst aber zeigt er uns, was diese Krankheit war, und indem er sie künstlerisch beschrieb, fand er selbst Genesung. Der Dichter soll seine Zeit, seine Nation malen; was bot Goethen im Jahre 1772 seine Zeit und seine Nation? Eine moralische Krankheit. Goethe schilderte sie. Wo war das Interesse seines Volkes, was beschäftigte die Gebildeten, was bewegte die Besten? Werther sagt es uns. Bei oberflächlicher Bekanntschaft erscheint uns Werther als ein braver, redlicher junger Mann, einfach, gutmütig, reinen Herzens, reiner Sitte. Seine Gewohnheiten, seine Neigungen sind bescheiden. Er gehört den Mittelklassen an, bewohnt eine Mansarde. Mäßig in materiellen Ge­ nüssen, ist er still vergnügt bei einer Tasse schlechten Kaffees im benachbarten Dörfchen unter der Linde. Sein blauer Frack dauert ihm ein ganzes Jahr. Er liebt, ja vergöttert die Kinder. Wie freut er sich, wenn er ihnen Bonbons

bringe», ihnen Märchen erzählen kan«. Lärmende Gesell­ schaften flieht er; wie sollte er seinen geliebten Homer, seinen Ossian um so hohlen Umgang aufgeben! Die Welt kennt er nicht, ihre Genüsse flieht er instinktiv. Aber er täuscht uns nicht lange. Unter diesem Scheine der Ruhe, des Friedens und der Gesundheit verbirgt fich eine totkranke Seele. Der Dichter war Dichter genug, um uns, wie die griechischen Tragiker, die letzte Krise, die Katastrophe dieser Krankheit zu zeigen; er hütete sich wohl, uns die Vor­ geschichte und den ganzen Verlauf des Übels zu erzählen; beim ersten Eintritt ist Werther schon moralisch schwind­ süchtig, schon dem Verderben verfallen, das fühlen wir. Werther ist ganz ein Kind seiner Zeit, seines Volkes. Die herrschende Geschmacksrichtung ist die seine; er ist genährt mit der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts. Seine Ansichten über Dichtkunst, über Religion, über Ge­ sellschaft sind die aller Jünglinge von 1770. Die Natur hat ihm eine Organisation gegeben, die sich mehr durch Feinheit als durch Tüchtigkeit auszeichnet: etwas Weib­ liches, um nicht zu sagen Weibisches, ist ihm angeboren. Er gefällt sich im Leiden; das Handeln ist ihm zuwider. Er läßt sich deshalb auf den offenen Kampf mit der ungerechten Gesellschaft nicht ein, die ihn so unsanft berührt. In seiner sentimentalen Überreiztheit flüchtet er sich in einsame Träumereien und fühlt sich wohl in seiner unfruchtbaren Melancholie. Die ideale Welt, die er träumt, die er aber nicht herzustellen vermag, er schafft sie sich in seinem Innern, in seiner Phantasie, und indem er der äußeren Welt die Macht der Trägheit entgegenstellt, weint er und verküm­ mert. Und wenn er hätte handeln wollen, handeln können, welch ein Feld für das Handel» hätte ihm sein Vaterland geboten! Werther, sagte ich, gehört ganz seiner Zeit an; 19*

er teilt alle ihre Antipathien und Sympathien, namentlich aber alle Illusionen, ihren Glauben an die Unfehlbarkeit des Individuums, als sittlicher Mensch wie als Künstler. Ihm zufolge zerstört die Gesellschaft den Genius, wie sie die Natürlichkeit vernichtet, und er sucht das Paradoxon sophistisch in der Literatur wie im Leben nachzuweisen. Was Wunder, wenn er sich in seine innere ideale Welt flüchtet; birgt doch dieser anspruchsvolle Name den naivsten Egoismus. Werther ist ganz und durchaus von seinen Gefühlen beherrscht, von seinen augenblicklichen Stim­ mungen, von seiner Laune, und er weiß sich was darauf. Er geht sogar soweit, darein den wahren Wert des Lebens zu setzen — ein verhängnisvoller Irrtum, der ihn ins Verderben führen muß. Man verkennt nicht ungestraft das Gesetz der Arbeit und der gesellschaftlichen Tätigkeit; ein Sichbeschränken auf das innere Leben, so rein und schön es sein mag, muß zum Pessimismus führen. Der Pessimis­ mus aber mag das letzte Wort des Metaphysikers sein; für den zum Handeln berufenen Menschen ist er der An­ fang alles Übels. Nun ist aber Werther durch seine Stellung zum Handeln berufen, stürzt sich jedoch mit Wonne in den exquisitesten Müßiggang. Wäre Werther kein impönitenter Faulenzer, so wäre er die poetische Figur nicht, die Goethe aus dem Leben gegriffen. Die Jugend Deutschlands verkam am Müßiggang; sie vergaß Vaterland, Wissenschaft, Amt, kurz jede bürgerliche Tätig­ keit. Nur seine innere Welt ist wirklich für Werthern; die äußere will er nicht anerkennen, und wo sie ihn berührt, verwundet sie sein reizbares, verwöhntes moralisches Epiderm. Er flieht die Menschen, die ihn in seiner träume­ rischen Muße stören, und er flieht zur Natur, der passiven.

guten, die ihm keinen Widerstand entgegensetzt. Unter dev Menschen hängt er sich nur an die Bescheidenen, Geringen, die Leute aus dem Volke, Bauernbursche, Kinder, welche die Zivilisation noch nicht korrumpiert hat, wie er sich glauben machen will, die ihm untergeordnet sind oder sich ihm unterordnen, ihn nicht in seinem Selbst-Kultus stören, wenn wir den Dingen auf den Grund sehen. Ob­ schon er von der Ferne die Menschen bewundert, die großer Leidenschaften fähig sind und — ihnen nachgeben, so hält er sich doch eben immer in kluger Entfernung. Er verzeiht ihnen, wie sich selbst, daß sie sich nicht beherrschen; denn jeder Zwang, jede Beschränkung, die der „Natur" auferlegt wird, ist ja für ihn Heuchelei. Seine Zeit glaubte ja an die Leiden­ schaft nur, wenn der Mensch ihr unterlag; besiegte er sie, so meinte man, die Leidenschaft wäre wohl nicht so gar mächtig gewesen. Und in Werther hat sich diese An­ schauungsweise bis zum Selbstmord zugespitzt. Hätte er nur ein wenig Energie, ein wenig Mut — wie der Dichter selber sie hatte — er könnte kämpfen, sich retten, siegen; aber nein, der Kampf erschreckt ihn, er zieht es vor, sein Herzchen wie ein krankes, verwöhntes, Kind zu behandeln, dem man jeden Willen tun muß. Werther ist blasiert, blasierter als der korrupteste Wüstling; wiewohl es der Idealismus, nicht der Materialismus ist, der ihn blasiert hat. Es gibt aber auch einen idealistischen Egoismus, wie's einen materialistischen gibt. Deutschland krankte am ersteren und obschon nur edle Naturen solcher Krankheit verfallen, ein Glück war's doch, daß Deutschland davon genas. Wie es davon genesen sollte, hat Goethe selbst gezeigt in seinem Leben, in seinen Werken. Er zuerst gab das unfruchtbare Herumwühlen und Herumgrübeln in sich selbst, das ewige Sichläuternwollen, an sich selbst

Herumarbeiten

auf,

und

ergriff das

Leben:

frischen

Genuß, Tätigkeit im Amte, Aufgehen im Unpersönlichsten, der Wissenschaft. Unter veränderten Verhältnissen setzt heute das gesundete Deutschland nur diese Tätigkeit des Dichters fort. Erst im Jahre 1798, unmittelbar nach dem Frieden von Campo Formio, erschien die berühmte italienische Nachahmung des „Werther": der „Jacopo Ortis" des Ugo Foscolo. Ich sage absichtlich: die Nachahmung, ob­ schon man oft versucht hat, den italienischen Dichter gegen diesen Vorwurf in Schutz ju nehmen. Er soll den „Werther" nicht gekannt haben, fünfundzwanzig Jahre nach seiner Erscheinung nicht gekannt haben, als schon ..................sogar der Chinese Malte mit ängstlicher Hand Werthen: und Lotten aufs Glas" *).

übrigens ist die Nachahmung ganz offenbar: wir haben genau dieselben Ereignisse, dieselben Personen, dieselbe Katastrophe. Ganze Szenen, wie die zwischen Werther und den Kindern, wie die des Gewitters, sind beinahe frei ins Italienische übertragen. Zahlreiche Themen, die der deutsche Dichter nur angedeutet hatte, sind von Ugo Foscolo amplifiziert worden, wie denn sein Haupttalent die Amplifikation ist oder — um es weniger scharf auszu­ drücken — die Ausführung, Entwickelung und Variation. Ein anderes, das dem Italiener und speziell seinem „Ja­ copo Ortis" eigentümlich ist, ist die Macht der Deklamation. Gerade durch diese beiden, ich möchte sagen, romanischen Eigenschaften unterscheidet sich der italienische Roman wiederum durchaus vom deutschen, dessen Stil und Kom*) Die venetianischen Epigramme, welche jene beiden Derse ent­ halten, sind bekanntlich schon 1790 geschrieben.

Position einfach sind wie der Charakter der Helden. Wichtiger für uns hier, die wir ja keine ästhetischen, sondern historisch-pathologische Studien anstellen, ist der Unter­ schied zwischen der Leidenschaft, welche den deutschen und den italienischen Werther zum frühen Ende führt. Alles ist schmachtend, unbestimmt, allgemein, beinahe chronisch in Werthers Qualen; alles ist klar, kräftig, akut in denen Jacopos. Nicht allmählich fesseln ihn die Reize Teresens, vom ersten Anblick ist er heftig entbrannt und liebt mit einer leidenschaftlichen Liebe, die nichts von der edlen Entsagung Werthers an sich hat. Der Deutsche hat eine wahre Zuneigung zu Albert, wirft sich vor, ein Gefühl zu nähren, das dem Freunde gegenüber Unrecht ist; der Italiener haßt den Bräutigam seiner Geliebten vom ersten Tage an, wie nur Italiener zu hassen verstehen. Lotte bietet aus freien Stücken einem Manne, den sie achtet und für den sie eine ruhige und sichere Neigung empfindet, ihre Hand. Teresa verabscheut Odoardo und heiratet ihn nur gezwungen, durch rohe Gewalt gezwungen. Man denke sich nur den stillen, friedlichen Werther neben dem kochen­ den, stets beinahe rasenden Italiener, der „wie ein Löwe brüllt", jeden ersten besten, den er verachten zu müsse« glaubt, zum Duell herausfordert, dessen indole, nemica d’ogni servitü, nur Zorn, Rache, Haß schnaubt. Mehr sinnlich als empfindsam, bekämpft er in heftigem Angriffe alles, was sich seinen Leidenschaften entgegenstellt; Werther, der Sentimentale, läßt sich weinend und beinahe passiv von den Verhältnissen zermalmen. Der Hauptunterschied jedoch liegt in der Quelle der allgemeinen Stimmung jedes der beiden Helden. Es ist nicht ein unbestimmtes Miß­ behagen, ein unklarer Pesssmismus, wie bei Werther, es ist eine bestimmte Tatsache von schreiender, empörendster

Ungerechtigkeit, es ist der Friede von Campo Formio, der Untergang seines Vaterlandes, welcher Jacopo Ortis in den krankhaften Zustand versetzt, an dem er zugrunde geht. „II sacrificio della patria nostra e consumato. Tutto e perduto," schreibt Jacopo, als er die Nachricht erhält; „la vita, seppure ne verrä concessa, non ci resterä che per piangere le nostre sciagure e la nostra infamia“.

Jacopo ist Patriot, er ist zum Handeln geboren, nicht zur Schwärmerei. Vom Anfang bis zum Ende seiner Briefe ertönen die Klagen oder vielmehr die Wutausbrüche über das Joch der Fremdherrschaft, welches Italien tragen muß. Nicht einen Tag vergißt er das Motto, das er von Dantes Cato entlehnt hat: „Liberta va cercando, che e si cara, come sa chi per lei vita rifiuta.“ Bonaparte ist in seinen Augen ein gemeiner Verbrecher. Überall und immer be­ herrscht ihn die Idee des Vaterlandes, die Werthern auch nicht einmal in den Sinn kommt. „Mein Patriotis­ mus überreizt alle meine anderen Leidenschaften." Wa­ rum sollte er heiraten? Seine Söhne würden kein Vater­ land haben. Nicht Osstan isi's, der ihn, den empörten Staatsbürger, auf seinen Spaziergängen begleitet; es ist Plutarch. Schon daran erkennt man unter aller roman­ tischen Verkleidung den klassischen Italiener. Auch wenn er Teresen vorliest, isi's nicht Klopstock oder Doungs „Nacht­ gedanken", sondern Sappho, die hellenische Muse, die vom brennenden Feuer der Venus verzehrte, welche er hervor­ sucht. Überall ist es eben der leidenschaftliche italienische Patriot, bei dem die eigentlich charakteristischen Symptome des Wertherismus gar nicht zu entdecken sind. Jacopo Ortis ist eine gesunde Natur, welche von einer hitzigen Krankheit ergriffen und weggerafft wird; Werther ist eine kränkelnde Seele, die einem zehrenden Übel unterliegt.

Auch die Dichtungen des größten italienischen Dichters seit Dante, auch die Dichtungen Leopardis atmen eine Schwermut der Verzweiflung, die man versucht sein könnte, für die Krankheit des'Jahrhunderts zu halten. Bei etwas näherem Zusehen indes wird man sich leicht überzeugen, daß man Unrecht tut, wenn man aus Leopardi einen Werther oder Obermann macht. Freilich ist der italienische Sänger in tiefster Seele betrübt, ja trostloser betrübt als Werther selbst; aber er isss nicht ohne vorhergegangenem Kampf und Widerstand. Seine ist keine Willensschwäche Seele wie die Obermanns; es ist eine stoische Heldenseele, die, eingeschlossen in einer verkrüppelten Hülle, kräftig gestritten hat gegen die Härte des Vaters, gegen Hunger und Armut, gegen eine tödliche Körperkrankheit. Das waren keine eingebildeten Schmerzen, nicht einmal unbe­ stimmte; sie waren nur zu wirklich, nur zu bestimmt, und wenn auch ihm, wie uns allen, das persönliche Empfinden und Sein zu einer Weltanschauung wurde — in seinem Fall natürlich zu einer pessimistischen — so war er deshalb nicht mehr Wertherianer, als sein Gesinnungsgenosse Schopenhauer zu Frankfurt am Main. Auch suchte der ganz antik gestimmte Italiener nicht in schwärmerischer Träumerei, noch in müßiggängerischer Einsamkeit Zuflucht vor seinen Schmerzen oder gar ein Heilmittel gegen sie, das, wie bei Werther, nur zur gefährlichen Nahrung der Krankheit geworden wäre. Gesunde und angestrengte Tätigkeit, ernsteste philologische Studien, lebhafteste Teil­ nahme am Geschicke des Vaterlandes erfüllten dies von Schmerz und Unglück so furchtbar heimgesuchte Dasein. Wenn aber ein starker Wille, unausgesetzte Tätigkeit und lebhaft empfundener Patriotismus auch nicht vor Kummer und Gram zu schützen vermögen, so wird's doch immer der

Kummer einer starken Seele sein, der Gram, wie ihn selbst die Helden des Altertums so tief, ja tiefer empfinden mochten als die Zeitgenossen Byrons und Leopardis. Auch ist von moderner Blasiertheit bei dem italienischen Märtyrer nichts zu spüren. In ihm hatte kein Übergenuß sinnlicher Freuden und gesellschaftlicher Eitelkeiten Ekel und Überdruß erzeugen, die Quelle reiner und gesunder Empfindungen vertrocknen können; er hat von vornherein die menschliche Gesellschaft als eine Räuberhöhle angesehen, wo das bellum omnium contra omnes herrsche, aber er hat ihr nie, wie Werther, ein Verbrechen daraus gemacht, daß sie den Wert seiner zarten Seele nicht genug anerkenne. Wäre Leopard! gesunden Körpers gewesen; hätte seine Gestalt dem edlen Antlitze entsprochen, das er zwischen seinen erhöhten Schultern trug; wäre Leopardi der Sorge ums liebe Brot enthoben gewesen; hätte er in einem freien Staate gelebt: er würde sicherlich mitgestritten und mit# genossen haben als ein echter Mann. Von der Natur und dem Schicksal grausam verfolgt, hat er weder weibisch ge# weint, noch demütig feige resigniert, sondern er ist, auf seinem Posten ausharrend, unterlegen; er ist stehend ge# storben, wie der römische Kaiser, das laboremus im Sinne, wenn auch nicht auf den Lippen. Wenn Leopardi das vanitas vanitatum vanitas in seinen unsterblichen Dialogen variiert, so isss der tiefsinnige Metaphysiker, der redet, nicht das verzärtelte Seelchen, das sich allzu rauh angefühlt dünkt, noch der verlebte Rouö, der das Leben wie ein alter Spieler den Spieltisch ansieht, an dem er sein Vermögen verloren hat. III.

Nicht mehr als in Italien waren in England National# charakter, Nationalsitten und öffentliche Zustände am An#

fange dieses Jahrhunderts dazu angetan, den Weltschmerz zu entwickeln. Shelleys Atheismus war durchaus davon nicht angekränkelt, und obschon man Byronismus und Wertherismus meist für synonym hält, so «ist uns doch bedünken, daß sie wenig miteinander gemein haben. Unser naiver junger Werther, der nie aus dem friedlich ruhigen deutschen Kleinleben des achtzehnten Jahrhunderts heraus­ gekommen; unser Werther, mit seinen reinen Sitten, seiner beinahe jungfräulichen, zarten, nur zu zarten Seele, die vor dem Geräusche und Getümmel der Welt schmerzhaft zurückbebt; unser Werther, der die vornehme Ausschweifung wie das laute öffentliche Leben europäischer Großstädte nur aus Büchern kennt — Werther ein Lord Byron! Nein, wahrlich. Gegen den armen, kranken deutschen Jüngling gehalten, strotzt ja der Engländer von Kraft und Fülle. Elze hat uns den herrlichen Briten wieder recht nahe ge­ bracht, und trotz aller Fehler, Schwächen, Sünden und Schatten wird^s einem ganz wohl zu Mute in dieser lebens­ vollen Gesellschaft. Wenn man bedenkt, was Byron alles gegen sich hatte: das körperliche Gebrechen, die Er­ ziehung, die Verfolgung der englischen Gesellschaft, vor allem aber die unselige Ehe, die er eingegangen war, so muß man sich wundern über die eingeborene echt englische Kraft und Gesundheit dieser Natur, die das alles überwand. Hätte sich Byron ungehemmt, harmonisch entwickeln können, er wäre wohl nicht der Dichter des „Childe Harold" und des „Don Juan" geworden; aber vielleicht hätte er sich zu einem schönen Exemplare des herrlichsten Menschen­ typus entfaltet, den die Geschichte seit Perikles' Zeiten ge­ kannt: dem Typus des englischen Edelmannes, der mit seiner Bildung in seiner Nation und zugleich über ihr steht. Leider, vom menschlichen, nicht vom dichterischen Stand-

punkte aus, ist die herrliche Kraft Byrons zu früh irrege­ leitet und in verhängnisvolle Bahnen gedrängt worden. Man muß in Elzes trefflicher, sicherlich nicht parteiischer Biographie lesen, wie von Anbeginn alles zu konspirieren schien, um diese schön angelegte Natur recht gründlich zu verderben. Wie dem auch sei, von schwächlichem, weiner­ lichem Wertherismus ist bei Byron nichts zu spüren. In der strömenden Bewegung der Welt, in dem ausschweifen­ den Wirbel der größten Hauptstadt bringt er die besten Jahre seiner stürmischen Jugend in jeder Art von Rausch und Aufregung hin. Er hat Sitz und Rede in einem freien Parlamente. Ruhm und Frauengunst — nach Goethes „Tasso" die höchsten Preise des Erdenlebens — hat er frühe gekannt und in vollen Zügen eingeschlürft. Alle sinnlichen Genüsse hat er erschöpft: er ist blasiert, ver­ dorben, enttäuscht durchs Leben; während Werther von alledem nur durch Hörensagen etwas weis und, gerade weil er das Leben nicht kennt, der Verzweiflung anheimfällt. Und wie hätte es anders sein sollen? Der deutsche Jüng­ ling von 1772 sah vor sich ein tatenloses Leben, eng und beschränkt. Er fühlte in sich eine Welt und außer sich, über sich einen Wust von Trümmerwerk, verdorrtem Holze und faulem Laube, daß er erst zersprengen mußte, ehe das junge, frische Leben wieder blühen konnte. Dem Werther der Dichtung gelingt es nicht und er erstickt unter der Last; der Dichter des Werther aber vollbringt die große Tat, und ihm dankt seine Nation ihren neuen lebensvollen Früh­ ling. Lord Byron — dem das Leben sich kräftig strotzend von allen Seiten darbot, als Genuß und als Tätigkeit — konnte nicht anders, als das Leben versuchen; er konnte die Enttäuschung erst fühlen, nachdem er es durchgenossen und durchgekämpft. Auch sind sein „Childe Harold", sein

„Don Juan", sein „Conrad" so schuldig und korrupt, als Werther rein und unschuldig ist: hat doch jeder den Becher des Lebens bis auf die Hefe geleert. „He feit the fulness of satiety“, sagt der Dichter von seinem Lieblittgshelden. Nur darin gleicht er Werther, daß er, ungleich dem eng­ lischen Jünglinge, der in der Zucht der öffentlichen Schule herangebildet worden, nie gelernt hat, sich einen Zwang irgendeiner Art aufjulegen, . and thus untaught In youth my heart to tarne, My springs of life were poisoned.“

Aber er ist ganz ebenso unfähig und unwillig, sein Denken dem Denken anderer zu unterwerfen (untaught to submit his thoughts to others). Auch er sucht, wie Werther, die Freundschaft der Natur auf; aber eine be­ scheidene, lieblich beschränkte Natur genügt ihm nicht: er braucht die Alpen und das Weltmeer. „Where rose the mountains, there to him were friends, Where rolled the ocean, thereon was his hörne."

Für ihn, den Übersättigten: „High mountains are a feeling, but the hum of human cities torture."

Aber wiederum, welche britische Kraft in dieser Misanthropie, verglichen mit der resignierten Passivität Werthers! Byrons Verzweiflung ist himmelstürmend: alles, was sie gereizt, möchte sie titanisch zertrümmern. Er haßt die ganze Welt. Werther fühlt sich unsanft von ihr berührt und zieht sich zusammen wie eine Sinnpflanze. Heftig, wie seine Verzweiflung, ist Byrons Stolz. Werther ist an­ spruchslos, bescheiden: selbst wenn er, wie beim Gesandten, gedemütigt wird, so klagt er, er empört sich nicht; er ist eigentlich nur sanfter Gefühle fähig. Bei Byron haben

zwar auch manche zartere Empfindungen den verwüstenden Orkan überlebt und mehr als einmal zitterte die Träne in seinem Blicke: „But pride congeaPd the drop within his eye.“

Oft auch kokettiert er nur mit der Sentimentalität und wer weis, wieviel wahre Empfindung, wieviel Pose darin ist, wenn er in dem rührendsten seiner Gedichte aus, bricht: „Oh, could I weep as once I wept.“

Im Grunde nämlich, trotz all seines Menschenhasses und seines Ekels, ist der Ekel des korrupten englischen Dandy bei weitem nicht so tief als der des jungen Deutschen, der die Welt noch nicht einmal kennt. Childe Harold interesstert sich für alles: er tut nur, als wäre ihm alles einerlei, er prahlt mit der Blasiertheit, wie er ein fanfaron de vice ist. Kein Punkt der Erde, den er auf seiner Pilger, fahrt berührt und der ihm nicht die Großtaten der Ver­ gangenheit oder der Zeitgeschichte ins Gedächtnis ruft: Napoleon und Hannibal, Saragossa und Waterloo. Er konspiriert für die Unabhängigkeit Italiens und er stirbt für die Freiheit Griechenlands. Im Grunde ist er eben weit weniger blasiert als der unschuldig aussehende junge Werther mit seiner Kandidatenmiene, und er hätte doch ein viel größeres Recht sich über die Welt zu beklagen als sein deutscher Vorgänger im Weltschmerz; denn ihn hatte die Welt derb angefaßt und die Hälfte seiner Leiden kam von der Härte, der Roheit, der Bosheit der Gesellschaft, welche den armen kleinen Werther vollständig ignorierte und gar keine Ahnung davon hatte, daß sie ein so edles Opfer langsam hinmordete. Auch steht Byrons Krank, heitsfall in England vereinzelt da; in Deutschland wimmelte

es von Siegwarts und — bei dem Engländer lähmte das Übel den edlen Kranken nicht, sondern verdoppelte seine Energie. Wir hatten demnach ein Recht zu sagen, daß der Wertherismus eigentlich in England keinen günstigen Boden fand. Die psychische Krankheit der Weltverachtung hat dort doch nur schon verlebte, ja verderbte Individuen anstecken können oder solche, die, wie Byron, die dort so allgemein verbreitete positive Religiosität — wenn ich mich so aus­ drücken darf — nicht teilten und sich in den Skeptizismus gestürzt hatten, und selbst dann war sie unfähig, die ange­ borene Kraft zu zerstören.

iv. Warum gerade Frankreich von der moralischen Seuche des Weltschmerzes besonders ergriffen und mitgenommen worden sein mag, haben wir früher versucht, kurz anzu­ deuten. Welche Gestalt sie bei den größten Vertretern der französischen Bildung zwischen 1800 und 1830, bei Chateaubriand, Benjamin Constant, Lamartine, Muffet und George Sand angenommen, scheint eine Frage von Interesse zu sein und wirft ein merkwürdiges Licht auf Charakter und Stimmung der Nation. Alle diese heute ganz unverständlich, vielfach sogar ungenießbar gewordenen Werke, wie „Obermann", „Rens", „Adolphe", „Mia" und so viele andere, waren zwar Erzeugnisse der durch die materialistische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts, die Anstrengung der Revolution, das Absterben der alten, das Entstehen der neuen Gesellschaft hervorgebrachten geistigen und sittlichen Verwirrung. Aber die Männer, welche am Ende des 18. Jahrhunderts geboren wurden, wußten sich entweder überhaupt vor Ansteckung zu be-

wahren oder nach durchgemachter Krankheit der wieder­ gewonnenen Gesundheit tätig zu genießen; nur sehr wenige unterlagen. Das Geschlecht dagegen, das gegen 1830 die Welt erblickte, beim Eintritt ins wirkliche Leben Zeuge einer mutwilligen Revolution war, welche ohne jedes tiefere Motiv die französische Gesellschaft und den fran­ zösischen Staat in ihren Fundamenten erschütterte, das dann die besten Jugendjahre in der Grabesstille der ersten Jahre des Kaiserreiches, von jeder gesunden öffentlichen Tätigkeit ausgeschlossen, rühmlos und tatlos hinlebte, sog das Gift jener Krankenromane begierig ein. Der erste, der in Frankreich jenem geheimnisvollen Wehe des Überdrusses eine Stimme lieh, war Chateau­ briand. Es ist hier nicht der Platz, die wunderbare Schön­ heit, die in ihrer Einfachheit so majestätische Sprache, die im kleinen Rahmen so vollendete Komposition des sonder­ baren Büchleins ins Licht zu setzen, welches in den Augen der Nachwelt immer als das Meisterwerk des fruchtbaren Staatsmannes gelten wird. Für uns handelt es sich jetzt nur um den Stoff. Ein Abgrund trennt, trotz aller scheinbaren Analogien, die Krankheit Werthers von der Renes. Gar manches ist beiden Helden gemein: die Jugend, die Grund­ losigkeit ihrer Schwermut, die gefährliche Speise des Ossianismus, mit der sie ihre Schmerzen nähren. Aber welche Verschiedenheiten auch! Vor allem erscheint es uns als ein großer Mißgriff Chateaubriands, aus Rene einen Gläubigen gemacht zu haben. Man begreift, daß ein junger Skeptiker wie Werther beim Anblicke der schein­ baren Unordnung und Ungerechtigkeit der Welt, die er nicht versteht, von Schwermut ergriffen wird; aber Renes inbrünstige Frömmigkeit sollte überall nur Harmonie er­ blicken und, wenn es ihm nicht möglich wäre dieselbe zu

erblicken, sich in das Kloster oder in kirchliche Werktätigkeit flüchte«, wo er dann der Welt, die ihn verletzt, vergessen, auf eine bessere, schönere hoffen könnte. Auch macht sich Renö einen Begriff von seinem Genie, seiner Kraft, von welchem der arme, bescheidene Werther keine Ahnung hat. Rene tut immer, als hätte er jeden Augenblick ein Napoleon sein können, wenn er nur geglaubt hätte, daß es der Mühe lohnte. Werther mißtraut sich selbst und wenn er sich auch im Müßiggang gefällt, so läßt ihn doch wenigstens die Eitelkeit in Ruhe. Er sucht nur die jarten Freuden des Gemütes, und da er seine Wünsche nur befriedigen kann, indem er die gesellschaftlichen Schranken niederreißt, wozu es ihm an Kraft gebricht, opfert er sich selbst. Was Rene fehlt, sind nicht zarte Neigungen, sondern Gelegen­ heiten zu glänzen; was er zu befriedigen wünscht, ist nicht sein Liebebedürfnis, sondern sein amour-propre. Trotz all seines Kosmopolitismus bleibt er aber ein Stockfranzose von Chateaubriands und Lamartines Schlage. Er liebt im Grunde nichts und niemanden als sich selbst; er nimmt nur an dem teil, was seine grandiose Selbstsucht mittel­ bar oder unmittelbar berührt; ihm fällt nicht ein, wie dem schlichten Werther, mit Kindern zu spielen, mit armen Bauersleuten zu plaudern, den Kummer des Geringsten sich zu Herzen zu nehmen; seine Schmerzen sind zu vor­ nehm, um sich in so schlechte Gesellschaft zu begeben. Der stolze ennui Renes hat nur in unbefriedigtem Ehrgeize seinen Grund. Was ihn eigentlich quält — was Chateau­ briand sein ganzes Leben über quälte — ist, daß die Welt sich herausnahm, sich mit etwas anderem als mit ihm zu beschäftigen. Es kam ihm vor, als ob alle Aufmerksam­ keit, die man anderen zuwandte, ihm gestohlen sei, dem sie allein gebühre. Man hat ganz den Eindruck, daß Rene tz i N e b r a n d, Zetten und Menschen.

den großen Napoleon um das Geräusch beneidet, das sein Name verursacht; daß er, Rens, überzeugt ist, er könne jeden Augenblick dieselben Taten verrichten, wenn er nur wolle. Aber warum will er nicht? Und hat man nicht das Recht, ihn — wie die meisten derer, die sich beklagen, daß sie nicht den ihnen zukommenden Platz in der Welt ein­ nehmen — im Verdachte zu haben, daß er unfähig war, sich ihn zu erobern? Renss Blick umfaßt die ganze Welt: er hat Italien und den Orient gesehen, Schottland und Spanien bereist, er hat den Kämpfen der großen Revolution und dem amerikanischen Freiheitskriege beigewohnt; aber keines von den beiden ungeheuren Zeitereignissen genügt seinem Tatendurst, weil dieser Durst im Grunde nur ein Ruhmesdursi ist und weil anderer Ruhm die Welt erfüllte, neben dem der seine nicht aufzukommen vermochte. Wie beschränkt ist Werthers Theater neben diesem unermeßlichen Schauplatze! Wie wenig bietet ihm das öffentliche Leben seiner Nation! Nichts fordert ihn zum Handeln auf; seine Geburt schließt ihn von einer großen Laufbahn aus, während Renss Geburt, Reichtum, Genius, Umgebung, Zeit — alles, in einem Worte, ihn aufruft einzugreifen, ihm zu sagen scheint: ,,Hic Rhodus, hic salta!“ Stolz und Eitelkeit allein verhindern ihn daran. Was nun aber gar Renes Leidenschaft anlangt, so ist darin schon mehr als ein Auflehnen gegen willkürliche gesellschaftliche Satzungen. Denn in der auch nur gedachten Blutschande liegt schon, unserem Gefühle, wenn auch nicht der Wirklichkeit nach, ein Empören gegen notwendige Natur­ gesetze. Wir glauben schon darin eine gewisse Korruption zu verspüren, die uns an Byrons weniger sympathische Schöpfungen erinnert. Auch ist die Phantasie bei Rens mehr entflammt als das Herz: diese ganze psychologische

Entwicklung ist echt modern gesucht, künstlich und doch wahr, oder vielmehr wirklich, wie so manches Künstliche und Ver­ zwickte. Rene hat Amelie nie anders als mit brüderlicher Neigung geliebt; erst als er erfährt, daß sie seine Schwester ist und welche Art von Gefühlen sie für ihn nährt, fängt er an, sich in ihrer Abwesenheit seine eigene sinnliche Leiden­ schaft in den Kopf zu setzen. Auch literarisch erinnert Rene wenig an Werther. Die immer etwas gehobene Beredsamkeit in Chateaubriands Stil ermüdet selbst in so kleinen Verhältnissen. Werthers einfache, feste und doch bewegte Sprache wiegt den Leser, ohne ihn je einzuschläfern. Wie natürlich ist die Unter­ haltung der deutschen Bauern, verglichen mit der pomp­ haften Deklamation von Chateaubriands Rothäuten! Wie wenig bedarf der Deutsche, um sich im Genuß der Natur zu versenken und zu vergessen; wie unbehaglich würde sich Rene in dem kleinen bescheidenen Lahntale fühlen, er, der immer gleich Steppen, Ozeane und Schneeberge haben muß, wenn ihm die Natur etwas sagen soll. Und wie fremd und kalt steht ihm selbst die große Natur gegenüber, während sie bei Werther eine Seele annimmt, sich ihm individualisiert und lebt, wie die Personen des Romanes leben, nicht formlose Schattenbilder wie Renes Berge und Bäume, Helden und Heldinnen, Gedanken und Gefühle, sondern leibhaftig wie die Natur selber. Bald nach „Rene" (1804) erschien, anfangs wenig bemerkt, das sonderbare Buch Senancours „Obermann", das erst zehn, zwanzig Jahre später, mitten in der Re­ staurationszeit, seinen wahren Erfolg hatte. Don allen berühmten Kranken des Jahrhunderts ist Obermann un­ zweifelhaft der kränkste. Auch könnte man von dem bizarren Werke sagen, daß es wahrer ist als alle anderen, welche

ähnliche Zustände behandeln, wahrer sogar als „Werther". Wenn aber niemand den Weltschmerz aufrichtiger empfun­ den hat als der Verfasser „Obermanns", so hat auch keiner weniger sich davon zu befreien gewußt. Es ist dies im Grunde die schwache Seite des Buches: es interessiert nur durch seinen Stoff und ist folglich für alle die, welche dieser Stoff nicht mehr interessiert — und man darf wohl annehmen, daß die Zahl sehr groß ist — geradezu unlesbar; während „Werther" und „Rene", „Childe Harold" und „Jacopo Ortis" ewig gelesen sein werden, weil sie den Stoff dichterisch behandelt, verallgemeinert, in einem Worte ewig gemacht haben. „Obermann" ist eine pathologische, eine gräulich wahre Studie; es ist ein Werk der beschreibenden Wissenschaft, kein Kunstwerk. Der Stil ist einfach, aber ohne irgendeine Besonderheit im Guten wie im Schlim­ men, oft sogar zu farblos, zu neutral, wenn ich so sagen darf. Von Komposition keine Spur; Situationen, Hand­ lung, Charaktere abwesend. Auch wird das Buch fortan wohl nur noch von solchen gelesen werden können, die den Mut haben, die moralische Geschichte des 19. Jahr­ hunderts zu schreiben. Niemandem wird es in den Sinn kommen, es zur Unterhaltung oder zur Erbauung zu lesen. Fragen wir uns nun nach der besonderen Natur der Krankheit, welche dieses einst so viel gelesene medizinische Werk schildert, so können wir nicht besser tun, als George Sands treffendes Resume anführen, das in seiner Kürze alles sagt. „Rens", meint sie, „ist das Genie ohne Willen; Obermann sittliche Höhe ohne Genie, kränkliche Empfind­ lichkeit, grausig vereinsamt in Abwesenheit tatenlustigen Willens. Rens sagt: „Wenn ich wollen könnte, könnte ich handeln." Obermann sagt: „Wozu wollen? Ich könnte

ja doch nicht." Man lese die ganze herrliche Vorrede, welche die große Romanschriftstellerin dem Buche Sönancours vorangeschickt; es ist unmöglich, den schmerzlichen Punkt besser zu treffen. Vielleicht besteht sie indessen doch nicht genug auf einer Prätension Obermanns, die einen bedeutenden Platz in dem eigentümlichen Buche ausfüllt: ich meine, seine unglückliche Sucht zu philosophieren, welche ihre Quelle in seiner Eitelkeit hat, denn auch hier, wie in allen Werken der Art, spielt die Eitelkeit eine hervorragende Rolle. Obermann glänzt nicht durch Willensstärke; doch hätte er immer noch genug, um sich aus seinem träumeri­ schen Müßiggänge herauszureißen, wenn er die Mittel­ mäßigkeit nicht verachtete und sich nicht unfähig fühlte, sich über die Mittelmäßigkeit zu erheben — und das heißt doch wohl Eitelkeit. Obermann gibt sich vollständig Rechen­ schaft über sich selbst: er weiß, daß es ihm leicht wird, daß er nicht unbegabt ist, daß er einen trefflichen Arbeiter ab­ geben könnte, vorausgesetzt, daß er sich mit dem zweiten Range begnügte, er weiß auch, daß er durchaus nicht dazu gemacht wäre, die erste Stelle einzunehmen. Diese Auf­ richtigkeit sich selbst gegenüber ist ein treffliches Gefühl, und es muß ihm hoch angerechnet werden; aber warum übt er denn nicht seine Fähigkeiten in jenem zweiten Range, der ihm offen steht? Nur die liebe Eitelkeit hindert ihn daran. Das ist nun eines unter den wenigen Dingen, die er sich nicht gesteht. Lieber macht er sich eine Art skep­ tischer Philosophie zurecht über die Nutzlosigkeit mensch­ licher Anstrengungen, die Lehrheit des Lebens und andere Gemeinplätze. Indes ist, dem armen Obermann gerecht zu werden, diese seine Eitelkeit nicht ganz unbegründet. Obermann ist in einer Hinsicht den meisten Menschen überlegen, und da er nichts getan hat als sich selbst zu

studieren, an sich selbst hernmzugrübeln, so ist er sich dieser seiner Überlegenheit sehr wohl bewußt, er hat eine seltene Feinfühligkeit. | Nichts ist gewöhnlicher in der Welt als eine Superiorität des Geistes und des Willens, die sich mit der Gemeinheit, ja mit der Roheit des Gefühles ver­ trägt. Niemand ist schmerzlicher von diesem Gegensatze berührt als Obermanns zartes Gemüt, das bei jeder rauhen Berührung sich krampfhaft auf sich selbst zurück­ zieht.

Es ist nun aber eine durchaus ungerechtfertigte,

wenn auch allzu verbreitete Prätension der sentimentalen Seelen, sich um dieser Sentimentalität und Sensibilität willen eine tatsächliche Überlegenheit über die Menschen roheren Stoffes zuzuerkennen — eine Prätension, die noch viel weniger Berechtigung hat als die, sich des Handelns entbunden zu glauben, weil jedermann diesem Zartgefühl keine Gerechtigkeit widerfahren läßt. Die Welt, die Ge­ sellschaft, betrachten mit Recht diese Tugend als die unter­ geordnetste aller Tugenden; Verstand, Willen, Beharrlich­ keit, Mut, Redlichkeit sind die Eigenschaften, welche sie am höchsten stellt, weil sie die tätigsten sind und weil sie am meisten produzieren: Obermanns Eigenschaft — die Fein­ heit des Gefühls — mag einen großen Zauber ausüben, aber sie ist mehr eine passive als aktive Tugend, der Gesell­ schaft unnütz, weil sie nichts für sie hervorbringt, weil sie ihr unfruchtbar erscheint, und sie bringt sie nur dann in Rechnung, wenn sie von anderen, wesentlicheren Eigen­ schaften begleitet ist. Die Moral, die Kunst, die Psychologie können solche Naturen nicht nur freisprechen, sondern ihnen noch einen hohen Wert beilegen; das tätige Leben duldet sie nicht. Auch spielt Werthers Selbstmord die Rolle des Schicksals in der antiken Tragödie: er löst das anders unlösbare Drama. In „Obermann" ist kein Drama und

der Selbstmord ist keine Handlung, es ist ein Verschwinden. Der Roman zergeht, er löst sich nicht. Die meisten französischen Kritiker und Literarhistoriker rechnen Benjamin Constants „Adolphe" unter die Werther-Romane. Nichts scheint uns diese Assimilation zu rechtfertigen. „Adolphe" ist unbestreitbar in bezug auf Form eines der bewundernswertesten Meisterwerke einer Literatur, die gerade an Werken vollendeter Form so be­ sonders reich ist. Der Stil einfach, korrekt, belebt und ergreifend,

darf dem der größten

Meister französischer

Prosa beigezählt werden, die Charakterzeichnung ist wahr und lebendig, die Hkonomie von unendlicher, ja einziger Kunst. Das Ganze trägt das Gepräge der hohen, sehr vorgeschrittenen, aber auch verderbten Zivilisation, deren Frucht es ist. Dieses so formvollendete Werk, so voll richtiger, ja tiefer Bemerkungen und weitester Lebens­ erfahrung, ist, unserer Ansicht nach, eines der schlimmsten Bücher die existieren, gerade weil alle Leidenschaften und Gefühle die es schildert, Leidenschaften und Gefühle sind, die nur eine verderbte Gesellschaft erzeugen kann. Jene Lage, die der sonderbaren Erzählung ihre Ein­ heit gibt, ist unnatürlich und falsch — nicht vom Stand­ punkte der Wirklichkeit aus falsch, sondern vom Stand­ punkte der gesunden menschlichen Natur aus. Die Konvenienzmoral, die darin gepredigt wird, verbirgt nur sehr unvollkommen die Unsittlichkeit der Anschauung, die zu­ grunde liegt. Auch die Gefühle sind wirklich, aber künst­ lich. Die beiden Charaktere endlich, die so vollständig und so gründlich beobachtet und analysiert sind, die Charaktere Adolphens und Ellenores, sind ungesund und korrupt an sich. Beiden gebricht es an Würde — eine Tugend, die weder Werther noch Jacopo Ortis, weder den Helden

Byrons noch dem Chateaubriands fehlt.

Nun sind aber

durchaus würdelose Charaktere — und EllLnore nament­ lich geht unendlich weit in dieser Hinsicht — nicht dazu angetan, als dramatische Helden, ja nur als Achsen eines Romanes zu dienen. Das Buch hat nichts Werthersches, sagten wir, denn der Wertherismus bedeutet im euro­ päischen Sprachgebrauch ein Übel ohne anscheinende Ur­ sache, dem 18. Jahrhundert eigentümlich, zusammengesetzt aus einer gewissen Reinheit und Aufrichtigkeit, einer über­ triebenen Zartheit des Gefühles und einer falschgeleiteten Phantasie; es ist der tragische Kampf des edleren, inneren Lebens gegen die Gesellschaft und ihre äußerlichen Gesetze; in jedem echten Wertherianer steckt ein Misanthrop, wie Molieres „Alcesie". Das hat aber mit Adolphes Übel gar nichts zu tun. Seine Krankheit hat sich zu allen Zeiten des Verfalles entwickeln müssen, in Griechenland, in Rom, im Italien des Seicento — wie die Fäulnis einer alt­ gewordenen Vegetation. Rene, Werther, Jacopo, Childe Harold, Conrad kämpfen alle oder opfern sich auf. Adolphe bleibt fortwährend passiv und bleibt bei allem inneren Wehe ein höchst korrekter Gesellschaftsmensch. Nicht ein spon­ tanes Gefühl, nicht eine natürliche Bewegung in alledem. Er liebt Ellönore nicht einmal, nur die Eitelkeit läßt es ihm wünschenswert erscheinen, von einer so glänzenden Er­ scheinung unterschieden und geliebt zu werden; ja er achtet sie selbst nicht und zeigt es zur Genüge. Nichts verhindert ihn an der Arbeit; er verachtet durchaus weder die Welt noch ihre Tätigkeit, wie der echte Pessimist aus Werthers Schule, aber er schätzt die Tätigkeit nur so weit, als sie seine Eitelkeit befriedigt; nur die Hoffnung, in den Salons zu glänzen, bestimmt ihn, endlich wieder tätig ins Leben ein­ zugreifen, nachdem er eine Zeitlang mit Ellönore entfernt

von der Welt gelebt. Kurz, Adolphe hegt gar keinen Haß gegen die Gesellschaft, noch gegen den Staat, noch gegen die herrschende Moral, noch gegen die Religion; recht im Gegenteil unterwirft er sich bereitwilligst allen Forderungen der Gesellschaft, so ungerechtfertigt sie auch sein mögen. Wenn er nur einmal ihren Satzungen und Konvenienzen trotzen wollte, könnte er ja Frieden und Ruhe finden: er braucht nur Ellenore zu heiraten, sie ist frei, und nachdem die Gesellschaft ein wenig gemurrt und getadelt hätte, würde sie ihn freigesprochen haben. Zn einem Worte: Adolphe ist keine Werther-Natur und kein Byronscher Charakter, denn weit entfernt, der geschworene Feind der Gesellschaft zu sein, ist er ihr servilster Sklave. Es ist eben mit dem Buche wie mit dem Autor: Niemand hat deutsches Wesen besser anempfunden als Benjamin Constant, nie­ mand ist im Grunde ein eingefleischterer Franzose geblieben als er und nur ein eingefleischter moderner Franzose konnte eine» „Adolphe" schreiben. Noch haben wir die Liste der französischen Werther und Byron lange nicht erschöpft: Frankreich hat deren mehr als irgendeine andere Nation aufzuweisen: Lamartine in seinen „Meditations“ und „Harmonies“; Sainte-Beuve in seinem „Josephe Delorme“ und in „Volupt6“; George Sand in „Lelia“, Alfred de Müsset in seinen „Confessions d’un Enfant du siede“, haben alle diese Saite berührt, ohne alle gleich tief von dem sonderbaren Wehe ergriffen zu sein. Auch ist die Analogie der drei erwähnten Dichter mit Byron und Goethe mehr scheinbar als wirklich.. Der Sänger Elvirens drapiert sich mehr in seinen Schmerz, als daß er wirklich davon durchdrungen ist; in den malerischesten Stellungen „sitzt" er vor dem Publikum, weis mit Anmut zu weinen und mit Eleganz zu seufzen. Seine Dichtungen

haben mehr Aufsehen als Eindruck gemacht. Der wunder­ bare Zauber der Verse, die einschmeichelnde Musik der Sprache hat über die Leere des Inhaltes getäuscht, und die allgemeine Stimmung kam dem Dichter zu Hilfe, indem sie gütig genug war, Gefühle in seinen Gedichten zu finden, die sie selbst hineinlegte. Sainte Beuves Josephe Delorme ist noch weniger als Elvirens Geliebter vom Übel des Jahrhunderts ergriffen: Josephe Delorme ist einfach Beaumarchais" und Molieres Cherubin — ogni donna Io fa palpitar — aber ein Cherubin ohne Frische. Nun sind aber dieses Erwachen der Sinnlich­ keit im Knabenalter, diese Art schülerhafter Korruption der Phantasie, diese Ungeduld, nicht schnell genug durchzu­ dringen in der Welt, ganz normale Erscheinungen der Menschennatur und gehören als solche allen Zeiten und allen Nationen an. Auch von dem tiefschmerzlichen Buche George Sands, von „Lelia“, ist schwer zu reden, ohne eine Art von Vivisektion anzustellen, die weder nach unserem Ge­ schmacke, noch in unseren Gewohnheiten ist. Wohl hat an Lamartine die literarische Kritik schon zu seinen Lebzeiten mehr als billig moralisches Splitterrichteramt geübt; aber er hat sie durch seine unaufhörlichen Selbstbekenntnisse nur zu sehr herausgefordert. Mit Sainte-Beuve war der Schreiber dieser Zeilen persönlich befreundet; zwar auch über ihm hat sich das Grab schon geschlossen, ja lange vor seinem Tode sah der Verfasser der „Causeries du Lundi“ auf den Verfasser von „Volupte“, wie auf einen alten längstgeschwundenen Jugendfreund hin. Die von George Sand in „Lelia“ angeregten Probleme sind aber so deli­ kater und dabei so persönlichster Natur, daß man nicht daran rühren kann, ohne die Persönlichkeit der großen Dichterin selbst recht indiskret ins Auge zu fassen. Nun handelt sich"s

heute und hier gerade nicht um den künstlerischen Wert oder Unwert dichterischer Erjeugnisse — über die man sich auch Zeitgenossen, ja Freunden gegenüber stets mit Freimut aus­ sprechen sollte — sondern es handelt sich um eine Seelen­ krankheit, bei deren Analyse oder Schilderung die Dis­ kretion die erste Pflicht ist. Nichts verhindert uns, noch mit einem Worte des­ jenigen fravjösischen Dichters zu gedenken, welcher als der vollkommenste Typus des Byronismus angesehen werden kann, welcher, zum eigenen und zu seines Vaterlandes Un­ glück, dem Übel erlag, des größten poetischen Genius, den Frankreich seit dem siebzehnten Jahrhundert hervorgebracht: Alfred de Mussets. Da haben wir es wieder einmal, wie bei Goethe, Byron, Heine, mit einem jener Sterblichen zu tun, welche die Natur selbst zu den Verkündern ihrer Ge­ heimnisse auserlesen, mit einem vas Dei, aber das zu schwach ist, den Gott im Busen zu Herbergen. Müsset war andererseits in einer gesellschaftlichen Sphäre geboren, die, ohne glänzend zu sein, der Aristokratie näher stand als dem Bürgertum und mit eleganten, feinen Sitten eine schöne und gediegene Bildung vereinigte. Anlage wie Bildung unterlagen dem Übel, das ihn früh ergriff und ihn schmerz­ licher und vollständiger als alle anderen zerrüttete. Kaum entdeckt man in seiner ganzen reichen Hinterlassenschaft hier und da eine frische, kleine Blume, die der Pesthauch nicht angekränkelt. Denn selbst in seinem Scherzen ist Müsset traurig; er weis wohl das Scherzen der Ironie wie das der Heiterkeit zu finden.

Seine Byronschen Gedichte, wie

„Namouna“ und „Mardoche“, mit all ihrem gallischen Witze, ihrem dichterischen Schwünge, mit all ihrer frivolen Leichtfertigkeit und spöttischen Lachlust, sind Erzeugnisse einer tief krankenden Seele, die sich zu betäuben, die zu

vergessen sucht. Da ist nichts von Rabelais' derber, unaus­ löschlicher Lache, nichts von dem feinen Lächeln, das um Voltaires Mund spielt und den bösen alten Herrn nie am Schlafen gehindert hat; es ist das höhnisch bittere Lachen der Selbsiverachtung und der Weltverachtung, des quälen­ den Zweifels, des ungenügenden Glaubens, der ohn­ mächtig ankämpft gegen diesen Zweifel: Müsset spottet der ihn umgebenden Wirklichkeit als eitel Scheines, ohne doch an die Wirklichkeit seines inneren Menschen zu glauben und indem er schon sein Spotten bereut, noch ehe er den Satz beendigt. Doch in den ernsten, melancholischen Gedichten fühlt sich sein tiefsinniger Genius noch mehr zu Hause; hier leiht er dem Zweifel, der Enttäuschung, der desesperance — wie er selbst es nennt — die unwiderstehlichst dichterische Stimme. Von Werther jedoch ist hier eigentlich nur noch die Jugend und die zarte überreizte Feinheit des Gefühles übrig geblieben. Zu diesen Werther-Eigenschaften gesellt sich aber eine frühzeitige bittere Erfahrung, gesellt sich vor allem die nervös erregte Künstlernatur, die Müsset zu einer ganz besonderen Figur machen. In ihm haben wir vielleicht das vollständigste Spezimen unserer Krank­ heit, d. h. alle äußeren und inneren Ursachen des Übels und alle seine Folgen auf ein einziges Wesen zusammen­ gedrängt, das schon durch seine Organisation prädisponiert ist, alle Gemütseindrücke besonders lebhaft zu empfinden. Mussets Seele ist eine unablässig vibrierende, leidende Saite. Rolla — wir nehmen den Namen, unter dem der immer sich selbst gleiche Held der Mussetschen Muse am berühmtesten geworden — Rolla ist jung, aber schon welt­ erfahren, und die Welt, die er kennt, ist nicht die bürger­ liche Welt einer deutschen Kleinstadt, sondern die raffinierte

Welt der Hauptstadt Europas. Er vereinigt die äußerste Zartheit des Gefühls mit vorjeitiger Verderbtheit. Er ist genährt worden mit der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts; aber das historische und künstlerische Dilettantenchristentum des neunzehnten Jahrhunderts, das Christentum Chateaubriands und der deutschen Roman­ tiker, hat ihn durch seine poetische Seite verführt. Alles widerspricht und bekämpft sich in ihm, und nur e i n Motiv beherrscht alles andere: die Künstlernatur. George Sand, in einem Roman, der, sittlich betrachtet, eine schlechte Tat war, der, wie alle Werke der großen Dichterin, mittelmäßig komponiert, aber in stilistischer und psychologischer Hinsicht eines ihrer Meisterwerke ist — George Sand hat uns in „Elle et Lui“ ein unübertreffliches Porträt des armen Müsset gelassen, das zugleich als eine naturgeschichtliche Beschreibung ä la Buffon der Künstlernatur gelten kann. Man wäre versucht zu glauben, es sei ein Kommentar zu den Gedichten Mussets, welche ja eine lange Beichte bilden, wenn wir nicht wüßten, daß er aus persönlichster Er­ fahrung und Beobachtung geschöpft ist. Aber dieses Persönlichste kann zugleich als das allgemeinste dienen, als Typus der modernen Künstlernatur: äußerste Erreg­ barkeit und nervöse Empfindlichkeit, fortwährende Alter­ nativen von Leidenschaft und Enthusiasmus, von Er­ müdung und Entmutigung, eine schön angelegte Organi­ sation, die sich aufreibt, weil sie weder Ruhe noch Gleichgewicht finden kann. Er selbst schildert sich, weniger pathologisch, aber auch poetischer als seine einstige Freundin, und immer ist's derselbe Akkord, den er ins Unendliche melodisch variiert: die unwiederbringliche Poesie ver­ gangener Zeiten, die Prosa des modernen Lebens, Sehn­ sucht nach ferner Schönheit:

Regrettez-vous les temps oü le ciel sur la terre Marchait et respirait en un peuple de Dieux ? Oü Venus Astarte, fille de l’onde amere, Secouait, vierge encore, les larmes de sa mere Et fecondait le Monde en tordant ses cheveux ?

Und nach dem Altertume ist's das Mittelalter, das ihn anjieht; nie wagt er, sich ju sagen: „Sieh, das Schöne liegt so nahe!" nur in nebliger Ferne will er es sehen, in der Nähe wird seinem kranken Auge alles ton- und farblos. Hier aber liegt der Unterschied jwischen dem robusten Genius des wahren, souveränen Dichterkönigs und dem jarten, aber in seinem Keime schon angefressenen Dichtertalent. Wäre Müsset ein Goethe gewesen, wie er, hätte er sich der Jugendkrankheit entrissen, und anstatt der vielen, freilich wunderbar schönen Fragmente, die er gelassen, uns Werke gegeben, in welchen er, wie in „Hermann und Dorothea", die Poesie der Wirklichkeit der Gegenwart geoffenbart hätte. Er hätte sich nicht in „unfruchtbaren Wünschen" (Lex voeux steriles) gefallen, hätte nicht Goethe den ganz un­ gerechtfertigten Vorwurf gemacht, durch seine WertherLeiden und Faust-Zweifel seine Jugend vergiftet zu haben. Wie der deutsche Dichter nach Werthers Verklärung sich in die reinen und gesunden Regionen der einfach großen Poesie erhoben; wie „aus der Asche von Chartas Freunde, be­ graben an den Ufern des Mechacebe, der Redner und der Dichter sich erhob, der in Frankreich groß ward" (Worte von George Sand); wie der Sänger „Childe Harolds" ein schuldvolles Leben büßte, indem er das einzige opferte, was ihm nach so vielen Verlusten und Enttäuschungen übrig blieb; wie er sein Leben selbst opferte für die Sache des ge­ knechteten Volkes: so hätte Alfred de Muffet, anstatt ein trauriges Dasein hinzuschleppen — unfruchtbar für sich

und unfruchtbar für sein Land — bis zu einem nicht minder traurigen Ende, das niemandem zugute kam, seiner Nation und seinem Geschlechte das sein können, was ihnen so sehr not tat: ein Dichter, an dem sie sich gestärkt und auf­ gerichtet, während sie jetzt an ihm einen Dichter haben, der sie in ihrem Zweifeln und Verzweifeln nur bestärken kann. Und doch war sein Ende wie sein Leben lehrreich, schmerz­ lich lehrreich; denn es bewies wieder einmal, daß die größten Gaben der Natur nicht hinreichen, einen großen Dichter zu machen; daß auch die sittlichen Eigenschaften des Mutes und des Willens dazu nötig sind und daß auch von der Kunst, wie von jeglichem Schönen, des alten Hesiod Worte gelten: „Vor den Lohn setzten die unsterblichen Götter die Arbeit." Dies nun gerade ist die Lehre, die sich überhaupt aus dieser notwendigerweise sehr unvollständigen und sehr oberflächlichen Skizze ziehen läßt. Die Dichtung hatte das Recht, ja die Pflicht, eine so allgemein gewordene psycho­ logische Krankheit zu schildern, welche die Jugend ganz Europas erfaßt hatte, beinahe fünfzig Jahre mehr oder minder heftig gewütet, die mächtigsten Geister heimgesucht, die zartesten zerstört hat. Der Poet soll auf die leisesten Regungen seiner Zeit lauschen; wie sollte er diesem Wehe nicht seine Stimme geliehen haben? Aber er durfte und konnte es nur dann würdig tun, wenn er sich selbst davon befreite. Er mußte durchgehen, nicht darin verweilen, noch weniger darin untergehen. Goethe aber ist der einzige der diese Aufgabe des Dichters ganz gelöst: die Aufgabe, ganz seiner Zeit zu gehören und doch ganz über ihr zu stehen. Er ist Werther gewesen, er ist nicht Werther geblieben: und so ist das erste der Werke dieser Art, der Zeit nach, auch das erste geblieben dem Werte nach: ein unvergängliches

Denkmal der Macht, mit welcher der Genius die Wirklich­ keit beherrscht. Unsere Zeit läuft keine Gefahr mehr, im Selbstgrübeln und Selbstwühlen Tätigkeit und Gesundheit zu verlieren; aber es wäre ein Beweis von wenig Pietät und wenig Einsicht in die wunderbaren Wege geschichtlicher Entwicklung, wenn wir nur spöttisches Lächeln oder rohes Mißverstehen hätten für die edlen Verwirrungen unserer Väter, denen die Älteren unter uns noch selbst verfallen sind; denn nur edle Naturen konnten so irren.

Anhang Zwölf Briefe eines ästhetischen Ketzers

Erster Brief. Den i. MLrj 1873.

Höre, mein Lieber, und laß dir sagen: du sollst was sehr Schönes zu sehen bekommen und — du sollst einer der Ersten sein, die es sehen. Aber sei mir nur auch dankbar. Zwar, was es ist, will ich dir nicht sagen; wer es geschaffen, sollst du von mir nicht erfahren, denn ich will dir die Freude des heureka sicherlich nicht nehmen. Nur soviel will ich dir verraten: auf eurer Weltausstellung in Wien wirst du die Erstlingswerke eines jungen Künstlers schauen, die dich — falls du der modernen Künstlerei ebenso müde bist wie dein alter Freund — anmuten «erden wie verheißungs­ voller Frühlingshauch. Ihm wenigstens war fast zumute, als ob er in die herrliche Zeit des quattrocento versetzt sei, da die Menschen die bleierne Kutte der Scholastik ab­ warfen, worin sie schweren Schrittes gewandelt wie Dantes Heuchler; da sie zuerst wieder anfingen, sich frei zu regen im Reiche der Geister, ohne weiter nach trivium und quadrivium viel zu fragen; da das Auge, gleich als sei ihm der umwölkende Schleier zerrissen, wieder munter und frisch ins Leben hineinsah, die herrlichen Gebilde der Natur bewundernd beschaute und liebgewann; da der beobachtende Sinn wieder durch die Oberfläche hin nach den wirklichen Lebevsbediagungen dieser Gebilde forschte; da die Hand, che ubbidisce all’ intelletto, sie unbefangen nachzubilden

suchte, ohne sich beirren ju lassen durch abstrakte Regeln und Vorschriften, wie der forschende Sinn sich keinen vorgefaßten Systemen, Theorien und Grundsätzen mehr gefangen geben wollte, sondern das Wesen selber zu durch­ dringen strebte. Sollte die Zeit wirklich wiederkehren? Oder nehme ich Wünsche und Träume für Zeichen und Ahnungen? Manchmal möchte man glauben, es müsse endlich aus sein mit dem langen Winter, und der Menschenfrühling — der dritte — müsse bald wiederkehren. Wir sind ja alle so satt der Formeln, mit denen wir umzuwerfen glauben und die uns lenken, gleich als ob sie eigenen Willen hätten, des Kramens in andrer Worten, des Schauens mit andrer Augen, des Denkens mit andrer Gedanken. Wenn wir's nur könnten, wie gerne möchten wir wir selber sein. Aber wer von uns hat die Kraft dazu, wer die Selbstverleugnung, sich selbst zu bejahen? Und sage mir doch nur nicht, die Bildung sei dran schuld. Ein Ungebildeter sieht gar nicht, fühlt gar nicht, denkt gar nicht — in künstlerischem Sinne. Auch die Quattrocentisten, Dichter, Maler, Bildner, waren gebildet, hatten gelesen, hatten gesehen: aber die Alten selber hatten sie gelesen und gesehen, nicht den Wust, den wir um sie und über ihnen angehäuft und der uns ver­ hindert, sie selbst zu sehen und zu verstehen. Das Lesen und Sehen des einfach Guten ist wie das Forschen und Schauen in der Natur; das verdirbt niemanden, schärft den Blick, bildet den Sinn. Nicht das Shakespeare-Lesen, sondern das Lesen der Herren Ulrici, Gervinus und Kon­ sorten, die über Shakespeare geschrieben, das umschleiert unser geistiges Auge. Nicht das Schauen der Venus von Melos oder des Moses von Michel Angelo benimmt uns unsere Unmittelbarkeit und Frische, sondern die ewigen

Diskussionen über den Vorzug der Alten vor den Modernen, der Realisten vor den Idealisten, der Zeichner vor den Koloristen — sie sind es, die unsern Blick trüben, unsere Hand unsicher machen. Nicht das Nachdenken über die Kunst ist's, welches unsere Schöpfungskraft lähmt: die größten Künstler, Michel Angelo, Leonardo, Goethe, haben nie aufgehört, über ihre Kunst, über alle Kunst nachzudenken; es ist das nicht durch die Wirklichkeit, nicht durch das sinnlich Erfaßte angeregte Denken, das inhalts­ lose Denken nicht nur nach, sondern von Rubriken, wenns hoch kommt, von leeren Kategorien, das Denken im an­ schauungslosen, von Allgemeinheiten angefüllten Hirne — das hemmt uns und der größte Dienst, der einzige, den wir der aufwachsenden Generation leisten können, ist kein positiver, er ist ein negativer: nachdem wir mit jahrelanger Mühe endlich dahin gelangt, das Erlernte wieder zu ver­ lernen, so isis unsere Pflicht, den Jüngern diese unendliche Arbeit zu ersparen, aus der man doch nie frisch und un­ versehrt wieder herauskommt. Auf lange hin wird der, welcher es ernstlich um die Kunst meint und durch die Schrift für sie wirken will, nichts anderes zu tun haben, als den angehäuften Schutt hinwegzuräumen und, anstatt Ideen zu geben, Ideen zu zerstören. Ist die Luft einmal gereinigt, so wird auch das schöne Gewächs eines wahren Künstlers nicht ausbleiben. Das Bedürfnis der Jugend von heute, hinauszukommen aus unserer wesenlosen Atmosphäre, abzuwerfen das Joch der Worte, die er­ stickende Rinde der Schmarotzerbildung, selbst zu sein in einem Worte, muß ja am Ende, wenn es zusammentrifft mit einem energischen und in gutem Sinne egoistischen Charakter, doch einmal durchbrechen. Freilich muß der nicht nach schneller Anerkennung,

schmeichelnder Popularität, klingendem Gewinn geizen, der^s heute wagt, aus den vollen, ewig strömenden, un­ getrübten Quellen zu trinken, anstatt an dem tropfenweise angesammelten, unbewegten Zisternenwaffer unserer „mo­ dernen Bildung" zu schöpfen. Es gehört nicht wenig Mut dazu, sich selbst und anderen gegenüber resolut unwissend zu sein in unserer Tagesliteratur, unserer Tagesweisheit, unserer Tageskunst, stch bei den großen Orakeln selbst Rats zu erholen, anstatt „mit der Zeit fortzuschreiten". Ja, wer stch heute entschlösse, stch nur an das Echte und Wahre zu halten, das die Menschheit von Homer bis Goethe, von Platon auf Kant zu Tage gefördert, der müßte schon weiseste Selbstbeschränkung lernen und üben, um aus all dem gediegenen Reichtum nur das ihm Adäquate, das der gesunde Sinn sogleich herausfühlt, sich anzueignen: wie sollte er alle eure Auszüge, Zitate, Amplifikationen, Kommentare, Forschungen, Urteile, „in denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt",

in sich aufnehmen, ohne den Gegenstand selber — ich sollte sagen: das Thema und den Vorwand — jener „Reden, die so blinkend sind", zu vernachlässigen, zu verlieren? Wer gibt mir den Jüngling, welcher Nation er auch angehören mag, der lieber die Sixtinische Kapelle und das Parlatorio di San Paolo beschaut, als er Hermann Grimms und Julius Meyers geistreiche und gelehrte Bände über Michel Angelo und Correggio liest; der seinen Montaigne oder seinen Cervantes mit mehr Genuß degustirt als die elegante „Revue des deux Mondes" oder die gründlichen Werke Dillemains und Julian Schmidts; der endlich einmal, Don allem Wiffensqualm entladen, In deinem Ta« gesund sich baden

wollte, 0 Natur! Denn auch über dich hat sich die Druckerschwärze gelagert, obschon mehr stellenweise, weil du Freie dich eben nicht in die Zellengefängniffe der Systeme, Theorien, Analogien und Klassen einschließen lässest. Aber was klage ich, ich hab^ ihn ja gefunden, den Jüngling — und, 0 Wunder, es ist ein deutscher Jüngling — der, sicher und festgegründet in sich, er selber zu sein wagt, und du sollst mir kein kalt Wasser über den Kopf gießen, ewiger Zweifler, mich nicht mitleidig auslache», wenn ich propertianisch übertreibend zu rufen scheine: „Nescio quid majus nascitur Iliade“,

Dank sollst du mir wissen, daß ich dir zuerst gesagt habe: er ist da, suche ihn; findest du ihn, nun, so ist dir, ihm, uns geholfen; findest du ihn nicht, nun, so ist entweder dein unverbesserlicher Freund wieder einmal ein alter Thor, der sich hat überrumpeln lassen und sein Hoffen für Er­ füllung gehalten hat, vielleicht auch ein Visionär, der seine Träume als Wirklichkeiten gibt, oder aber unsere Generation ist wirklich noch nicht frei genug, nicht hinlänglich „gesund gebadet", das Einfach-Schöne mit künstlerischem Auge zu erfassen. Fragt man sich aber nun bei einer solchen Gelegenheit: was ist^s denn eigentlich, das die Kunst um ihre Jugend­ frische gebracht und ihr des Gedankens Blässe angekränkelt, ohne ihr die Errungenschaft des Alters als Ersatz zu lassen? wie kommt es, daß speziell in Deutschland seit hundert Jahren und gerade, während die Musik sich stets fortschreitend entwickelte von Bach bis Wagner, die Bildhauer-, Maler­ und Baukunst so viele ohnmächtige Anläufe genommen, sich zu erheben? wie erklärt sich^s, daß ein gebildetes Volk, das einem Goethe und Beethoven, wenn nicht sogleich, doch bald den gebührenden Rang anzuweisen wußte, einen

Thorwaldsen den Alten gleichstellte und sich alles Ernstes einblldete, ein Cornelius dürfe neben Michel Angelo in den Chor der Unsterblichen aufgenommen werden? Die Ursachen sind, meiner Ansicht nach, wie immer in der Geschichte, viele und komplexe; doch möchte sie der son­ dernde Verstand auf einige Hauptursachen zurückführen: als da sind die Theorien Winckelmanns und ihr Gefolge, die französische Revolution und ihre Nachwirkungen, die Museomanie und die Demokratisierung der Kunst, — womit denn unser theoretisches Ästhetisteren und praktisches Jndustrietreiben,

unsere

Gelehrsamkeit

in

der

Historie

und unsere Unwissenheit im Handwerk, die Organisation unserer modernen Gesellschaft und die Einrichtung unserer modernen Staaten als Folgen und weiterwirkende Ur­ sachen im innigsten Zusammenhange stehen. Zweiter Brief.

Den 2. März. Wir alle verehren in Winckelmann, dem Historiker, einen, und zwar den ersten jener großen Heldenplejade (Herder, F. A. Wolf, Fr. Schlegel, W. v. Humboldt, B. G. Niebuhr und Savigny), welche den Begriff der ge­ schichtlichen Entwicklung in die Weltbetrachtung eingeführt und so die Grundlage der deutschen Bildung, im Gegensatze zur artistischen Italiens, zur autoritativen Spaniens, zur realistischen Englands, zur rationalistischen Frankreichs, gelegt hat. Aber Winckelmann ist nicht nur der erste Ge­ schichtsschreiber, er ist auch der oberste Theoretiker der Kunst für Deutschland, ja für Europa gewesen und zum Teil geblieben. Daß er selbst nur dem von ihm aufgestellten Prinzipe der historischen Entwicklung gehorchte, als er aus Reaktion gegen die zu seinerzeit herrschende Kunstrichtung

ins andere Extrem verfiel, das scheint er selbst nicht gefühlt zu haben; seine Reactions,Theorie war ihm nichts Relatives, sie war ihm das Absolnte, Ewige, Alleinwahre. Die Welt aber, müde des Zopfstyls, der Manier, des ewigen Ausschreitens jeder Kunst über ihre Grenjen, müde vornehmlich der malenden, theatralisch-dramatischen Skulptur, wie sie die Nachfolger Berninis übte», und der tändelnden, effekt­ haschenden, rührenden oder witzigen Malerei der Franzosen, der schnörkelhaft bewegten, koquett prunkenden dekorativen Architektur der letzten Jesuiten, die Welt nahm Winkel­ manns Theorie als unbestreitbare Evidenz an. Die erhabene Einfalt, die ruhige Größe, die „Unbezeichnung", der Begriff des Schönen, des Jdealischen setzten sich als Axiome fest. Die Frivolität und Pose der fränkischen, die weibliche Weichheit der wälschen Kunst war aus dem Felde geschlagen, aber nur um der einseitigsten, konventionellsten Akademie Platz zu machen. Man bildete sich ein, die griechischen Formen seien die einzig gültigen, sie müsse man nachahmen, während es doch nur darauf ankam, einen geistigen, gesellschaftlichen und sittlichen Zustand, wie der griechische war, herbei­ zuführen oder abzuwarten, der dann notwendig ebenso vollendete, obwohl von den griechischen ganz verschiedene Kunstwerke hervorbringen würde als jene antiken Zustände; wie denn das XV. Jahrhundert in Italien unter ähnlichen Bedingungen wirklich Ähnliches leistete. Winckelmann aber und sein Freund Mengs haben es auf dem Gewissen, wenn das Geschlecht der Stürmer und Dränger vom rechten Wege abgelenkt wurde, der zu einem naiveren Standpunkte der Natur gegenüber hätte führen können, wenn Goethe, der noch 1771 bewundernd vor dem Straß­ burger Münster stand, fünfzehn Jahre später in Italien dem ausschließlichsten Klassizismus huldigte, einen Guercino

höher stellte als alle Lippi und Masaccio, Boticelli oder Gozzoli; wenn überhaupt fein Geschmack in den bildenden Künsten der eines unverbesserlichen Doktrinärs wurde, während er in seiner eigenen Kunst den altdeutschen volks­ tümlichen Fauststil aufgab, um sich fürderhin einer „edlen" Sprache und griechischer Versmaße ju befleißigen. Es ist Winckelmanns Schuld, wenn in Frankreich so eminente Talente wie David und sein Schüler Ingres sich dazu verleiten ließen, unfruchtbare Felder zu bebauen *), wenn in Italien ein Canova und Bartolini die lebensvollen Meister des XVII. und XVIII. Jahrhunderts verdrängten und die angebliche „Reinheit" akademischer Formen an die Stelle der bewegten, wenn auch inkorrekten Wiedergabe der Empfindung setzten. Nur natürlich war es, daß bald bei unserm lebhaften Nachbar, dem der besonnene Deutsche und der ängstliche Italiener erst spät folgten, sich Theorie gegen Theorie stellte, der Akademie und konventionellen Klassizität die in System gebrachte Revolte und Willkür, der exklusiven Zeichnung das exklusive Kolorit, dem einseitigen Idealismus der einseitige Realismus, dem Kultus des Schönen der Kultus des Häßlichen gegenübertraten. Denn wie die romantische Doktrin eines Viktor Hugo (siehe die Vorrede zu „Cromwell") nichts ist als der theoretische Widerspruch auf Corneilles klassische Doctrinen (vergleiche das Nachwort zum „Cid"), so ist der moderne Realismus in der Kunst nichts als der systematische Widerspruch gegen den soge­ nannten antiken Idealismus. „Worte, Worte, Worte" *) Freilich waren die Coustou und Pigalle, die Boucher und Fragonard, ja schon vor ihnen die Coisevox und Puget, die Danloo und Watteau, Meister des Verfalls; aber ihre Zeit ist das Greisenalter einer heiter-genialen Jugend, nicht die pedantische Jugend eines altgeborenen Geschlechtes, wie die Generation der GLrard und Gros.

wie Hamlet sagt, die aber auch gar, absolut gar nichts sagen, geschweige denn beweisen. Michelet nannte einst treffend die Jahrhunderte der Scholastik la regne des sots — schon für die späteren Alten war der crxoXacmKOi; ein pedantischer Händler in leeren Worten —; wer weiß, ob kommende Geschlechter nicht unsre Herrschaft der Ästhetiker mit einem ähnlichen Namen belegen. Eine Kunst, die nicht realistisch wäre, d. h. nicht von der Wirklichkeit ausginge, oder gar mit der Wirklichkeit im Streite läge, ist geradeju undenkbar. Selbst Fra Angelico, der Spiritualist, ist ein echter Realist, wenn er die naivsten Attitüden aus dem Leben greift; und wenn er gegen die Wirklichkeit sündigte, indem er seinen Engelsköpfen Ohren malte, mit denen sie, jum Leben erweckt, nicht hören, Augen, mit denen sie nicht sehen könnten, so hälfe ihm kein noch so idealer Ausdruck, seine Engelsköpfe wären nicht künst­ lerisch; wie die meisten seiner Heiligengestalten, die weder zu gehen noch zu sitzen vermöchten, wen» sie ins Dasein gerufen würden, nicht künstlerisch sind. Wiederum, eine Kunst, die nicht idealistisch wäre, würde aufhören, eine Kunst zu sein, denn das Ideal ist ja der Kunstbegriff selber. Wenn ein Kunstwerk nicht zugleich die volle Individualität des Gegenstandes und die platonische Idee desselben, vor allem, wenn es nicht zugleich die Individualität und die Idee des Künstlers selber vor den Augen des Beschauenden heraufzaubert, so ist's eben kein wahres Kunstwerk. Selbst ein Paul Potter oder ein Teniers sind idealistisch in diesem Sinne; und wären ste^S nicht, so könnte kein Kunstverständiger nur eine Minute vor ihren Gemälden verwetten. Denn nicht die photographische Ähnlichkeit oder Wahrscheinlichkeit macht in des Kunstverständigen Augen ihren Wert aus, sondern die Stimmung, die in ihnen herrscht. Überhaupt

kann eben nur von einem Mehr oder Minder des Idealismus und Realismus die Rede sein, nicht von einer Trennung der beiden, wie denn auch das vollendetste Kunstwerk immer das sein wird, wo beide sich ganj entsprechen, das heißt, wo ein Körper am vollständigsten eine interessante — nicht eine sogenannte schöne — Individualität ausdrückt. Aber auch ein Baum und Hügel, ein Tier, ein Gebäude besitzt seine Individualität. In jedem wahren Kunstwerke eben ist der Künstler ganz, subjektiv und objektiv, reell und ideell zugleich: es läßt sich das gar nicht trennen. Wenn das Wort „Realismus" in der Tat irgend etwas sagen soll, so kann's nur meinen: die Wirklichkeit mit unkünstlerischem Auge gesehen und mit gewandt täuschender Hand wiedergegeben; dann ist's eben keine Kunst, es wird trompe-i’oeil. Wenn Idealismus irgend etwas bedeutet, so ist's eine Idee, die mittelst einer Form veranschaulicht werden soll; dann ist's wieder keine Kunst mehr, denn das Kunstwerk ist ja nichts als die Wirklichkeit, wie sie sich einem Künstlerauge darbietet, wie sie die Künstlerhand dem Beschauer erklärend vorführt, durchaus aber keine Illustration einer abstrakten Idee. Das scheint unser Jahrhundert ganz vergessen zu haben; indeß hat natürlich kein Land der Welt jenen Winckelmannschen Idealismus und Klassizismus so gründlich, so konsequent, so gewissenhaft und andächtig, so lange nament­ lich betrieben, als unser liebes Vaterland, wo es heute noch hochgelahrte Kenner gibt, die da meinen, Peter Cornelius sei der Messias einer modernen Kunst, die es derjenigen des Cinquecento kaum nachgäbe, und Asmus Carstens sei sein Täufer. Aber Winckelmann hat nicht allein den einseitigen Idealismus und, indirekt wenigstens, den ebenso einseitigen Realismus unserer Kunst auf dem Gewissen; er ist auch,

freilich ohne es zu wollen, der Haupturheber unserer moder­ ne» Ästhetik und unserer Kunstgeschichten aller Art geworden, welche den Sinn unserer Künstler so vollständig verwirrt haben. Hier haben wir's in der Tat nur mit kahlster Ab­ straktion zu tun, nicht wie Winckelmanns Theorien aus lebendiger Anschauung induktiv entwickelt, sondern meist von Ignoranten a priori ersonnenen und deduktiv aus­ gesponnenen Systemen, oder doch solchen, die auf einer gar zu geringen Anzahl von gar zu unvollkommenen An­ schauungen beruhen, wie z. B. Hegels geistreiche und doch für den Künstler so ganz unbrauchbare, ja irreleitende Ästhetik. Diese machen nun die tägliche Nahrung aus, die wir einnehmen, sie erfüllen die Atmosphäre, in der wir atmen, ehe wir noch die Dinge selber sehen und lesen, und von denen wir dann eine beinahe unbesiegbare Schwierigkeit haben uns später wieder zu befreien oder doch zu entwöhnen. Wir alle haben schon Bücher über Rafael und Tizian gelesen, ehe wir nur die Alpen überschritten und ihre Werke gesehen; wir wissen schon im voraus, daß Paul Veronese ein Kolorist, Michel Angelo ein Zeichner ist, und haben erst diese vor­ gefaßte Meinung zu bekämpfen, ehe wir ihre Werke naiv zu beschauen vermögen; etwa wie ein Deutscher heutzutage keine französische Tragödie unbefangen lesen kann, weil er schon im voraus durch die Hamburger Dramaturgie und die Schlegelschen Vorlesungen dagegen eingenommen ist. Alle derartigen Systeme wie Historien sind nicht nur ganz überflüssig, sondern auch geradezu schädlich für den Künstler wie für den Kunstliebhaber. Die Engländer und Franzosen, die keine oder wenig gelesene Literaturgeschichten haben, kennen ihre Literatur so gut und besser wie die Deut­ schen und Italiener, die mit dergleichen Werken überhäuft sind, die ihrige; sie wissen, wie sich Ben Jonson zu Shakespeare,

dieser zu Spencer verhält; es ist ihnen bekannt, in welchem Wechselverhältnisse Voltaire, Rousseau und die Encyklo­ pädisten gestanden. Für alle Date« schlagen sie ihre Diktionnaires nach; Urteile bilden sie sich selbst. Und das ist ja doch auch alles, was nottut. In der Kunstgeschichte aber machen sie^s wie wir: sie lassen sich von Spezialisten orien­ tieren, die oft selber alle ihre Weisheit nur aus Büchern habe». Anstatt wie bei der Lektüre sich zu sagen, daß nur das Selbstgefundene, Selbstempfundene, nicht das aus Büchern Erlernte Wert hat oder gar dem ausübenden Künstler nützt, so studieren die Leute ihren Rio oder Ruskin (die Engländer hinken immer zwanzig Jahre nach, wenn sich's um Kunst handelt), und werden Prärafaeliten, wie unsere Väter Nazarener waren. Und wenn sich eine solche Monomanie noch auf die fashionablen Reisenden beschränkte, die natürlich einen Duccio oder Memmi oder Gaddi gerade ebenso andächtig bewundern als einen Giotto, so wäre das Unglück noch nicht so groß; aber die bedeutendsten ausübenden Talente werden dadurch irregeführt, wie^s ein Blick auf unsere schon ganz veralteten Bildersammlungen aus den zwanziger Jahren zur Genüge beweist. Auch indirekt ist die Wirkung auf die Kunst die schlimmste: denn der Kunstliebhaber wirkt notwendigerweise auf den Künstler, wenn auch nicht so viel, wie dieser auf ihn. Nun geht aber unsern modernen Mäcenen alle Unbefangenheit durchaus ab. „Sie ersticken an Bildung", wie ein genialer Meister der Tonkunst einst zu einem meiner Bekannten sagte. Nichts aber ist verderb­ licher, als das modische Alleswissenwollen, welches zum Beispiel eine so begabte Nation wie die russiische bis jetzt total auf philosophischem und künstlerischem Gebiete gelähmt hat. Niemand hat mehr den Mut zu sagen, daß ihn die

Musik langweile oder daß er für Malerei keinen Sinn habe; ja Naturwissenschaften und Mathematik, Linguistik und Schopenhauersche Philosophie muß ein solcher „Gebildeter" von heute kennen, wnen er nicht erröten soll. — In Kunsturteile« tritt freilich juweilen ein anderes Phänomen auf, das man fast versucht wäre, für das Gegen­ teil jener oberflächlichen Allwissenheit ju halten, das aber im Grunde nur eine andere Gestalt derselben Untugend ist, welche sich in unserm modernen Leben so breit macht, der lieben Selbstüberhebung. Ein wahrheitsliebender Be­ schauer findet, ganz naturgemäß, Giotto hölzern, Rubens gemein und Rafael langweilig; ihm imponiert eine Theaterszene von Delaroche oder Gallait, Lesstng oder Usst, ein witziges Genrebild von Knaus oder Heilbuth ganz anders. Da liest er drin wie in einem gedruckten Romane, um so deutlicher und leichter, als von Kunst im Sinne der Alten und der Renaissance in solchen amüsanten oder „interessanten" Gemälden eben wenig oder nichts ist. Der nicht mit künstlerischem Blicke begabte Mensch ist einmal roh in seinem Urteil; er erhebt sich nicht über den veredelten Bilderbogen, der für ihn geschaffen; das Stoffliche allein ergreift ihn; und da der künstlerische Sinn eben doch zu den Ausnahmen gehört, da er natürlich auch nicht durch Bildung zu entwickeln ist, wo er nicht wenigstens im Keime vorhanden, so ist jener Naturalismus die Anschauungsweise der großen Mehrheit der Menschen. Dabei dürfte es denn auch sein Bewenden haben, und es wäre gar nichts dagegen zu sagen, wenn solche Kunstliebhaber nicht diese ihre Rohheit, die ste für Naivetät halten, als gleichberechtigt, ja als mehr­ berechtigt neben das Urteil der Kunstsinnigen stellten. Das wagt wenigstens niemand in der Poesie, wo sich das Urteil der Wenigen der ganzen lesenden Welt aufgezwängt hat

und es niemand wagen würde, einen Homer, Cervantes oder Shakespeare als kindisch, langweilig oder gemein beiseite zu schieben. Das Schlimmste aber ist, wenn jene rohe Anschauungs­ weise stch selbst betrügt und nun ihrerseits Theorien baut, die natürlich dem Wesen der wahren Kunst stracks zuwider­ laufen müssen. Diese Theorien, die ich die stofflichen nennen möchte, weil ihnen nichts als verkapptes, in Formeln ge­ brachtes Stoffinteresse zugrunde liegt, find noch viel schlimmer als die wesenlosen, welche nur auf den vereinzelten Wirkungs­ mitteln beruhen, wie die Theorien der Zeichner, Koloristen, Komponisten, Akademiker, Realisten usw. Welchen Selbst­ täuschungen sich der prätentiöse Kunstkenner jener „natür­ lichen" Art auch hingeben mag, er sieht nur den Stoff, wie der Andere nur die von einander isolierten Ausführungs­ mittel im Kunstwerke steht. Er ist Sklave des Stoffes; was ihm an Rubens mißfällt, ist die fleischige Fülle, welche so gar nicht „distinguirt" ist; was ihn an einem Bilde Pilotys oder Geromes anzieht, ist das Geschichtchen, tragisch oder komisch, das es erzählt. — Das ist aber doch noch das offene, ehrliche Stoffinteresse. Viel schlimmer ist das versteckte. Da sucht man in einem Bilde erst „Ausdruck", dann Witz oder Sentimentalität; endlich wird die Kunst gar sittlich, christlich, heidnisch, ja selbst national, alles Dinge, die mit der Kunst als solcher gar nichts zu tun haben und die nur beweisen, daß wir in plastischen Künsten eben doch noch auf dem Standpunkte stehen, auf dem unsere Urgroßväter in der Dichtkunst standen, als die Gottsched und Breitinger stritten, ob die Poesie allegorisieren, moralisieren, didaktieren oder deskribieren solle, niemand aber auf den Gedanken kam, daß die Poesie vor allem poetisch sein solle. Gegenüber solchem rohen Stoffinteresse ist das abstrakte

Formenintereffe doch noch Zeichen eines überlegenen Stand­ punktes. Es ist freilich verhängnisvoll, wenn der Künstler faktisch von einander trennt, was sein Verstand durch die abstrakte Analyse zu trennen gelernt hat, und nun auf einmal Zeichner oder Kolorist wird, anstatt Zeichner und Kolorist zu sein, wie es Tizian, Rafael, Correggio, Rubens waren, was auch die Kunsthistoriker zum Gegenteil sagen mögen. Das Mittel der Hervorbringung ist doch immer in der Kunst ein sehr bedeutungsvolles Element, der Stoff aber ist ganz untergeordnet. Was war der Stoff für Moliere, für Shakespeare, für die Alten? Ein Gegenstand, der ihre künstlerische Schöpfungskraft anregte, nichts mehr. Auf das Verdienst der Erfindung hat keiner von ihnen Wert gelegt. „Je prends mon bien ou je le trouve" sagte stolz der französische Komiker, als man ihm vorwarf, de« Stoff seiner Komödien gestohlen zu haben. Der Stoff ist ja immer neutral, wie die Natur neutral ist: die Kunst hat ihn erst zu beleben, sie ist die große „Auslegerin der Natur", wie Goethe sie nannte *), zeigt nur, wie der neutrale Stoff sich in einer großen Künstler-Individualität spiegelt, in einer Individualität, welche in sich den intuitiven Welt­ zusammenhang birgt und nur den Sehenden offenbart. Jedes große Kunstwerk ist zugleich objektiv und subjektiv in der höchsten Potenz, wie Goethes „Faust" oder Dantes „Commedia“. Diese bedeutende Subjektivität, die daraus hervorleuchtet, ist ihr „Ausdruck", nicht der wohlfeile Aus­ druck des Schmerzes, der Rührung, des Zornes, der Andacht, der Mutterliebe «sw., die unsere modernen Ausdrucks­ künstler, wie Ary Scheffer, abstrakt konzipieren und dann konkret ad hominem wiederzugeben suchen. Das Ver­ gnügen des Phllisters freilich ist groß, hat er glücklich den *) Wanderjahre II. 8. Htllebrand, Zetterr und Menscheu.

„Ausdruck" erraten oder die „Geschichte" verstanden. Daß eine solche ausdrucksvolle Figur eben keine wirkliche Person, sondern nur der Darsteller eines Affektes ist, eine Glieder­ puppe, um die man den moralischen Faltenwurf auf eine gewisse Weise drapiert; ob diese Figur, die uns jetzt ge­ ängstet, erzürnt, erweicht scheint, so dargestellt ist, daß wir sie ohne Mühe uns unter der Herrschaft jedes andern Affektes denken könnten, daß ihre Persönlichkeit uns mehr frappiert, als die abstrakte Leidenschaft, deren Träger sie ist, das ist ja dem Philister alles ganz einerlei. Eine künstlerische Schöpfung hat eben eine Individu­ alität, die schon für sich etwas ausdrückt: aller wahre künstlerische Ausdruck aber besteht darin, zu zeigen (und in nichts weiter): „Wie Gott-Natur sich offenbare. Wie sie das Feste läßt tu Geist verrinnen, Wie sie das Geisterzeugte fest bewahre."

Die natürliche Folge dieser ganz stofflichen, servilen Auffassung des Kunstzweckes ist denn beim Künstler zu allernächst die Vernichtung aller Spontaneität: er sieht sich nach „interessantem", nach neuem" Stoff um, anstatt abzuwarten, was für einen wahren Künstler nie lange auf sich warten läßt, daß ein Stoff, sei er noch so alt und schon „dagewesen", ihn anrege zum künstlerischen Reproduzieren. Man zerbricht sich den Kopf und erfindet Neues oder illustriert populäre Dichter; aber daß man einfach eine schöne Situa­ tion aufnähme, das kommt niemandem mehr in de« Sinn. Man läßt ja die Natur gar nicht auf sich wirken (man müßte denn das Modell Natur nennen); höchstens die Landschaft, die deshalb auch noch weitaus am besten bestellt ist in der modernen Kunst, hat noch zuweilen die Macht spontaner Inspiration. Dabei verfährt man nun ganz methodisch

auf dem Wege der Elimination: dies, das, jenes ist schon behandelt worden; hier ist etwas Neues, ein Gedanke, eine Situation, die noch nicht dargestellt worden, und so macht ein leicht arbeitender, talentvoller Künstler die furchtbare Karikatur eines „Nero als Schauspieler", welche ihr Wiener demnächst auf eurer Ausstellung bestaunen werdet! Daher denn auch die proced4s: Wie der Stoff, so wird die Technik, und nicht die Technik, in welche der Künstler seine Persönlichkeit steckt, wie das bei den Großen der Fall ist, sondern der rezeptmäßige procede, nächst dem Stoffe, die Hauptsache. Das Mittel wird Selbstzweck; die modernen Franzosen nennen das naiverweise l’art pour l'art, während es nicht einmal le metier pour le metier ist, sondern nur die Kunst des Betruges, des Mehrscheinens, als man ist, der Lüge in einem Worte. Eines Caraccio vollkommene Technik wird uns nie eines unbehilflichen Giotto künst­ lerische Individualität ersetzen; aber ein Caraccio hatte wenigstens in Ermangelung der Individualität Tradition, die unsern Faiseurs ganz abgeht — ein Punkt, der einem andern Briefe vorbehalten bleibt. Das Technische und das Stoffliche also nehmen die erste Stelle in unserer modernen Kunst ein. Damit hängt denn auch das ewige Gerede von der „schönen" Natur zusammen; vielleicht noch schlimmer als die absichtliche Originalität. Da klagt man z. B. die Niederländer an, nur gemeine , nicht edle Natur zum Vorwurf ihrer Kunst genommen zu haben, als ob das Noble und Vulgäre nicht im Künstler selber wäre. Was ist denn schön, wenn man solche willkürliche Rubriken aufstellen will? Leute, die Rubens ein Verbrechen daraus machen, derbe Frauengestalten und naturwüchsige Satiren gemalt zu haben, sollten dann auch konsequent sein in ihrer Zimperlichkeit und Shakespeare

vorwerfen, daß er eine Amme geschaffen neben Julien, oder daß Rosalinde und Celia zweideutige Gespräche wechseln. Was ist denn das Schöne? frage ich noch einmal. Jst^s eine gerade Nase, ein kleiner Mund? Das Bedeutende ift% selbst wenn es nach gewöhnlichen Begriffen häßlich wäre — und ein Richard ui. ist kein minder „schönes" Kunstwerk als Hamlet. Unsere modernen Menschen, welche das Leben aus Büchern, den Körper aus Galerien kennen, reden stets von klassischer Schönheit, und da sie nur in hohlen Worten zu denken gewöhnt sind, so ist ihnen diese klassische Schönheit das Ideal; auf die Poesie angewandt, wäre das etwa, als wollten wir nur „Iphigenie" gelten lassen, „Götz" aber ins Gebiet des Trivialen verweisen. Das kommt eben doch allein von unserm leidigen Theoretisieren, und dieses Theoretisieren wieder eignen sich Künstler wie Beschauer an und suchen nun in den Kunstwerken den ästhetischen Kodex entweder zu befolgen, wenn sie Künstler sind, oder zu kollatinieren, wenn sie Beschauer sind. Ein naives Schaffen existiert so wenig mehr als ein naives Genießen. Dritter Brief. Den Z. Märj.

Man hat geglaubt und glaubt noch durch Gründung von Museen und Galerien dem Übel abzuhelfen, das aus dem einseitigen Studium der Theorie und Bücherweisheit entsteht. So verbreitet sich dieser Glaube, daß ein leichter Zweifel an der Vortrefflichkeit solcher moderner Institute als ein geistreich sein sollendes Paradoxon aufgenommen zu werden pflegt, wie ich mich denn entsinne, einst in Paris unter lauter vorurteilslosen und durchaus nicht furchtsamen Gästen einen wahren Sturm heraufbeschworen zu haben, als ich eine bescheidene Bemerkung im angedeuteten zwei-

feinten Sinne zu machen wagte. Merkwürdigerweise war der Skandalisierteste unter allen ein dir bekannter Paradoxenjäger, der ein Jahr später die Direktion der schönen Künste unter dem empire liberal in die Hände bekommen sollte. Hätte man den deutschen Barbaren ausreden lassen, so wäre es ihm wohl ein Leichtes gewesen, zu beweisen, daß tatsächlich mit jenen Sammlungen durchaus nichts erreicht worden ist als Vervielfältigung mittelmäßiger Kopien für den Handel und Beeinträchtigung der herrlichen, ohnedies schon mit der Photographie im Lebenskämpfe liegenden Kunst des Kupferstiches, — der Störung des wahren Kunstliebhabers in seinem künstlerischen Genießen gar nicht zu gedenken. Ich denke, niemand, der sich noch etwas Unbefangenheit bewahrt hat, wird behaupten wollen, daß das Jahrhundert der Gemäldegalerien irgend welche Künstler hervorgebracht hätte, welche sich nur annähernd mit jenen messen könnten, die sich im fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert ohne irgend eine derartige Anstalt bildeten. Kommende Geschlechter dürften in der Tat nur schwer unsern Museen schaffenden Vandalismus begreifen können. Ein Künstler, der diesen Namen verdient, malt ein Bild für eine gewisse Umgebung, eine gegebene Beleuchtung und Archi­ tektur, zu einem bestimmten Zwecke, oder doch wenigstens in Voraussetzung gewisser Stimmungen. Er malt anders für den vergoldeten Speisesaal eines Fürsten als für das schmucklose Refektorium eines Klosters; er fragt sich, ob sein Gemälde eine halbdunkle Kapelle oder eine hellbeleuchtete Wand des Hauptschiffes schmücken soll — kurz, er denkt sich seine Werke in den Rahmen einer gewissen Örtlichkeit, wobei et den Charakter derselben ebensosehr im Auge hat, als deren äußere zufällige Form und Beleuchtung. Auch

ist die Umgebung, i« der er sein Werk konzipiert und aus­ geführt — Licht, Landschaft, Bauart, Volksschlag — nichts weniger als gleichgiltig.

Wer den Dichter will verstehen, Muß in Dichters Lande gehen. Das findet auf den bildenden Künstler weit mehr noch als auf den redenden seine Anwendung; wer Correggio, Giulio Romano, Perugino, Sodoma ganz verstehen will, soll sie in Parma, Mantua, Perugia und Siena sehen; ihre armen Bilder scheinen ja zu frieren im nordischen Tage einer Londoner oder Berliner Galerie. Das haben die Größten unter den Großen auch wohl geahnt: die gaben sich ganz nur in der Freske, die man ihnen nicht so ohne­ weiteres demenagieren konnte. Unsern modernen Bildern frellich tut es nicht viel, wenn man sie bei unserm alljähr­ lichen Umziehen — denn wer lebt und stirbt denn heute noch in dem Hause, indem sein Vater, ja nur er selbst ge­ boren? — unter den Arm nimmt und beliebig wieder irgendwo anders aufhängen läßt. Unsere Kunstwerke sind ja wie unsere Möbel eben nur zufällig, isoliert, unorganisch. Auch sind sie eingerichtet wie gewisse Stücke unserer Toilette, die mit einer kleinen Veränderung auf der Straße wie im Salon getragen werden können; ein neuer Rahmen genügt — obschon selbst der ihm selten zuteil wird — und wir bringen getrost unser Bild aus der matt erleuchteten Bibliothek — wenn zufällig noch Büchersäle zu finden sind in unsern modernen Palästen — in den Speisesaal, der nie fehlt. Selbst unsere Fresken könnten ebensogut hier als dort sein; nach einer inneren Notwendigkeit wird da gar nicht gefragt. Das möge mau denn immerhin tun mit den Zeitgenossen; aber die wahren Künstler vergangener Zeiten hätten doch ein Recht auf etwas weniger kavaliere

Behandlung: sie haben ihre Werke nicht ä deux fins oder gar a trois fins berechnet wie ihre industriellen Enkel von heute. Unsere Generation ist von Kindesbeinen an schon der­ maßen an diese Barbarei gewöhnt, daß es uns schwer wird, uns vorzustellen, was ein Michel Angelo empfinden würde, träte er plötzlich in einen unserer „Kunsttempel" — das ist ja wohl der selbstgefällige offiziöse Ausdruck? — wo alles so friedlich nebeneinander hängt: das Heiligenbild neben dem Stilleben, die Landschaft über dem Genre; der farben­ volle Venetianer neben dem nüchternen Toskaner; ein Fra Fiesole, dem ein Annibale Carraccio als Folie dient. Oder, was noch schlimmer ist, es ist Methode in der Bar­ barei: die Galerie gleicht einer chronologischen Tabelle, einer Landkarte, einem systematischen Handbuche — da zöge man ja fast noch die Diktionnär-Ordnung nach dem Alphabete vor. Der eine Saal enthält ein paar Dutzend Holländer, der andere einige zwanzig Spanier. Hier be­ kommt man eine ganze Evangeliengeschichte, dort alle Läden der Frucht- und Wildprethändler ausgelegt; in einem andern Zimmer gewahrt man nichts als himmel­ anstrebende Engelsgestchter, deren unmögliche Körper ein unmögliches Gewand umwallt, und die in unmöglicher Symmetrie neben einander fliegen — vielleicht auch fallen oder hängen; dort nichts als konventionell gekrümmte, ausgestreckte, abgekürzte Beine und Arme von vollendetster Muskulatur und gähnendster Langweile. Wo soll der unbefangene Beschauer da Stimmung finden, zumal wenn er das Vergnügen hat, von Hunderten fashionabler oder auch ländlicher Besucher umgeben zu sein, die mehr oder minder geistreiche Bemerkungen in mehr oder minder lautem Tone vortragen zu dürfen glauben, oder aber

die die Hauptgemälde umlagernden Kopisten und Kopien offenen Mundes anstaunen? Indeß nicht nur die Sammlung, deren jeder Gläubige vor dem Altare braucht, wird diesem durch Unberufene erschwert. Die Kunstwerke selbst stehen sich gegenseitig im Wege. Man hänge ein Bild zweiten oder dritten Ranges, an dem wir in Museen gleichgültigen und gesättigten Auges vorübergehe», vereinzelt in eine Nische, in ein Studier­ zimmer, wir werden es besser genießen als einen Rafael, von hundert Satelliten umgebe», deren jeder um unsere Blicke buhlt, und was mehr ist, deren jeder ein Recht hat, um unsere Blicke zu buhlen. Wer kann sich z. B. in Rafaels liebliche Schleier-Madonna des salon carre vertiefen oder das Auge auf des Meisters sonntagsruhige, keusche Gärtnerin heften, ohne daß Mona Lisas wunderbares Zauberlächeln und ihr geheimnisvoller Blick uns immer wieder unwider­ stehlich abrufen! Zwar hat man an manchen Orten (z. B. im Haag und in den beiden Madonnen-Zimmern der Dresdener Galerie) angefangen, gegen die Barbarei einer

tribuna zu reagieren, aber die Ausführung ist eben unmöglich. Wer könnte heute unsere Museen wieder auflösen, die Ge­ mälde und Statuen wieder heimtragen in die stillen Klöster und dunklen Gärten, die sie einst erleuchtet? Das Kloster wird wohl eine Kaserne, der Garten ein Runkelrübenfeld geworden sein, und lieber als sie zwischen die Papierwände unserer Laternenhäuser zu verteilen, lassen wir sie doch noch in der glänzenden Umgebung ihrer gefährlichen Rivalen. Da habend nun unsere Spekulanten und Kopisten einmal gut. Es gab eine Zeit, da ließ sich^s der wahre Künstler wie der wahre Kunstliebhaber nicht verdrießen — obschon es eine Zeit ohne Eisenbahnen war — zu wall­ fahrten nach jeder Kirche und jedem Palaste, jedem Dörf-

lein und Fleckchen des gelobten Landes, wo Gott und Menschen in herrlicher Schöpfung gewetteifert, und hatte er vor einem herrlichen Lippi oder Gian Bellini seine An­ dacht verrichtet in einer entlegenen, einsamen Kapelle, so fühlte er sich reichlich bezahlt für die Mühe des Tages. Und auch der Arme zog über die Alpen und über die Appenninen, von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, und wem was dran lag, zu sehen, der sah immer. Der Laien­ bruder und der Küster waren stolz, die Schätze der Brüder­ schaft oder „ihrer" Kirche zu zeigen; der Adelige wußte wohl, wem er seine Gemächer verschloß, wem er sie auftat, und ein Rubens oder ein Poussin hatten sicherlich keine Empfehlung nötig, um die Türen eines italienischen Palastes zu öffnen. Das hat nun unser demokratisches Zeitalter alles geändert, recht bequem haben muß man^s. Daß der wirklich Interessierte sich keine Mühe verdrießen läßt, vor keiner Unbequemlichkeit zurückscheut und am Ende nie auf unbesiegbare Hindernisse stößt, diese Tatsache, die jedes Blatt der Kunstgeschichte lehrt, vergißt der vor­ sehende Gesetzgeber, immer besorgt, der liebe Gott möge zu karg gewesen sein und es möchte doch am Ende ein Keimchen verloren gehen; dafür hat der gewissenhafte Gärtner die Treibschulen eingerichtet; es sollen aber seitdem nicht viel mehr edle Bäume in den Himmel gewachsen sein als zur Zeit, wo im freien Walde tausende von Samen und Pflänzlein verdarben oder verkümmerten, um dem mächtig anstrebenden Bruderstamme Raum und Luft zu geben. Das Leichtmachen und Fördern ist überhaupt ein gar sonderbares Ding bei Schaffenden wie bei Genießenden, im Grunde profitieren doch nur die Gleichgültigen und Mittelmäßigen davon. Alle Kunst ist Aristokratie, und zwar Aristokratie in jedem Sinne, und ihr werdet sie mit all

eurer Gesetzgebung nie demokratisieren. Wollt ihr aber doch fürs „Volk" was tun, nun, so stellt eure Werke hinaus auf den freien Platz, wie Giovanni Bolognas „Sabinerin" oder Michel Angelos „David" — heute trägt man auch ihn weg, um ihn ju begraben, unter dem Vorwände, daß er zu delikat geworden! Da mag der Blick des vorübergehenden popolano, täglich hinschweifend fifcet die schönen Formen, ihre Linien einsaugen und sich zu eigen machen, ohne daß et'6 selber merkt; aber schließt sie doch ja nicht ein in den Kunstgefängniffen, die Eisenbahn-Stationen ähnlicher sehen als Palästen und wo das „Volk" sie nimmer genießt. Wenn ihr denn durchaus die Kunst demokratisieren wollt, warum ahmet ihr nicht das Beispiel der Medizeer nach, die es nie zu bereuen gehabt, in Nischen und unter Loggien Donatellos St. Georg und Verrochios Thomas, Taccas Eber und Benvenutos Perseus, so vieler anderer Prachtwerke, zumal der Antiken, nicht zu gedenken, hier jedem Vorübergehenden zum Genusse aufgestellt zu haben? Unsere heutigen „liberalen" Minister sind nicht so kühn; sie lassen — um nur von Florenz, der doch in dieser Hinsicht bevorzugtesten Stadt der Welt, zu sprechen und Paris, London, Rom, Berlin, deren Götter und Heldengestalten sammt und sonders im vergoldeten Käfig schmachten, ganz bei Seite zu setzen — sie lassen die herrlichsten Gebilde der Renaissance, in Uffizien oder im Museo nazionale eingeschlossen, alle Tage vier Stunden lang sehen, gerade wenn das „Volk" an der Arbeit ist, viele auch nur gegen Eintrittsgeld. Wem's wirklich um „Volksbildung" zu tun wäre, der würde den Merkur des Bologna, die beiden Davide des Quattrocento unter die Loggien di San Paolo, degli Jnnocenti, di Mercato Vecchio oder sonstwo hin­ stellen, wo sie, vor dem Regen geschützt, doch jedem Blicke

sich darböten — aber wem isi's denn wirklich um Volks­ bildung ju tun? Und was lernen denn unsere jungen Maler in der Galerie, wenn sie je Platz finden neben dem industriellen Kopisten? Nicht wie Lionardo und Rafael in der Kapelle der Brancacci gesessen, um zu lernen, wie^s die Meister angefangen, hinter die Natur tu kommen und dann fertig zu bringen, was sie in der Natur gesehen — nein, um Manier zu lernen, und procedes und ein paar Äußerlichkeiten ab­ zugucken, damit sie, je nach Wunsch des Bestellers oder der Tagesmode, Denetianer oder Römer zu liefern im Stande seien; dazu allein besuchen sie die Galerie. Dabei fahren unsere deutschen Künstler nun am schlimmsten, denn kommt^s aufs Machen und Nachmachen an, so können unsere ge­ wissenhaften Landsleute doch nie mit den Meistern der clevemess, den Franzosen, konkurrieren; obschon auch wir anfangen, Talente zu haben, die verstehen, alles und jedes zu sein, nur nicht sie selber. So ein Franzose aber, der macht das spielend: „Was befehlen Euer Gnaden? Klassisch oder romantisch? Naiv oder raffiniert? Zeichnung oder Farbe? Zahm oder wild? Originell oder Akademie? Je fais tout ce qui concerne mon £tat. Und noch dazu in vierundzwanzig Stunden." ... „Euer Gnaden", fügt er sotto voce hinzu, „wissend ja doch nicht zu unterscheiden". Bewahre uns Gott vor dieser Art Fabrikarbeit; unsere ist doch noch wenigstens ehrlich schlecht und geschmacklos, und wer halbwegs was von der Kunst versteht, siehts ihr gleich an, woher sie kommt und wohin sie soll: aber so ein geschmackvolles, geschicktes französisches Spekulations-Pro­ dukt, das ist perfid, ist die Lüge selber; das verdirbt den Sinn und gewöhnt ihn daran, über's Wie das Was zu vergessen. Von der ganz rohen Manufaktur, welche die Uffizien mit

ihren aus dem Zusammenhange gerissenen, pele-mele oder gar systematisch aufgestapelten Stücken — einst or­ ganischen Teilen eines Ganzen — benützt, um jährlich einige Dutzende Tiziavscher Venns und Rafaelscher Madonnen an deutsche und englische Bürgersleute abzusetzen, von der wolle« wir ganz schweigen. Vierter Brief.

Dell 4. Märj. Mit all dem Wust von abstrakten Ideen, der den freien Blick umschleiert, und mit der oberflächlichen GalerienInspektion, die nur sehr zweifelhaft die wahre Kenntnis des Mötiers ersetzt, hängt nun auch gerade diese positive Unwissenheit unserer Künstler und „Kunstkenner" zusammen. Wenn ein Mann über die Christlichkeit der Kunst oder über ihre nationale Bedeutung so viel nachgedacht, wenn er sich eine Theorie gemacht, nach welcher die „Zeichnung" allein dieses höheren Aufschwunges würdig ist, wenn er gar die berühmtesten Bilder der berühmtesten Meister pflichtgemäß bewundert — so meint er, es wäre überflüssig, nun noch lange Anatomie zu studieren, von der Natur oder von den Alten, diesen Rivalen der Natur, zu lernen. Unsere Künstler sind eben gewöhnlich so beschäftigt, schöne Formen zu schaffen, daß sie ganz vernachlässigen, wahre Formen zu studieren. Wie die modernen Gemälde nur Flächen sind, hinter denen man sich nichts denken kann, deren Figuren man nicht umdrehen könnte, weil dahinter nur die Puppe steht, deren Körper von keiner Luft umflossen wird, weil sie eben nicht in der Natur angeschaut, sondern im Verstände konzipiert sind — so fehlt es unsern Statuen an Lebenswahrheit, trotz oder gerade wegen unangenehmster Wahrscheinlichkeit, und man fragt sich oft, wohin man denn eigentlich Lunge,

Leber oder Herz plaziere« könne in einem jener Körper a la Carpeaux, diesem Bernini ohne Naivetät, mit so sorg­

fältig ausgeführter Oberfläche, auf der man jede Pore sieht; wie die ruhende Muskel einer lasziven Statuette von Pradier sich bewegen könne, wenn man auf einmal das Spielbein wechseln wolle. Was die Richtigkeit des Ausdruckes für den gewissen­ haften Schriftsteller ist, der stets eine Idee nur für die eine Weise ausdrücken kann, für den keine Synonymen bestehen, und der sich nimmer mit einem Ungefähr begnügt, das ist auch die Richtigkeit in der Kunst: es ist einfach Wahr­ haftigkeit. Wo ist aber jene Genauigkeit hin, die für die großen Meister der Renaissance eigentlich das Selbst­ verständliche war, jedenfalls das ABC ihrer Kunst? Ein Benvenuto Cellini quälte sich sicherlich nicht mit der Philo­ sophie der Kunst ab; und da er nicht das Warum des Warum suchte, so fand er stets das einfache Warum, und er wußte schon, ohne durchaus etwas „Neues" erdenken zu wollen, die Stellung zu finden, in welcher sein künstlerischer Gedanke am besten zur Anschauung kam. Unsere Künstler treibend umgekehrt, eben weil ihnen das Wesen der Kunst abhanden gekommen ist: sie mühen sich ab um täuschende Wahr­ scheinlichkeit, überwundene Schwierigkeit, wollen rühren, unterhalten, vor allem aber originell sein. Ihre künstlerische Konzeption auf die knappste, prägnanteste, präziseste Weise mit den einfachsten Mitteln wiederzugeben — worauf sich im Grunde doch alle Technik beschränkt — daran denken sie nicht. Die andere Seite der Kunst aber, oder, wenn man die Technik als das Äußere bezeichnen will, der Inhalt der Kunst, ich meine die Anschauung, fehlt ohnedies oder ist eben nicht künstlerisch, was auf eins herauskommt: in den Gemälden fehlt die Stimmung, in den Skulpturen

das wahre Leben, wie in der Baukunst, trotz—oder wegen?— aller schönen Theorien über gotischen, byzantinischen und Renaissance-Stil, das eine, allen Stilen Gemeinsame, das allein Wichtige: der Sinn für Verhältnisse fehlt. Keine Zeit und kein Volk hat mehr gesprochen von „Organismus", als die jetzige Generation von Deutschen; nie hat eine das Wesen des Organischen weniger in ihrem Gefühle gehabt. Wird doch kein Kunstwerk mehr als ein Ganzes konzipiert, wird es doch nur als ein Zusammengesetztes gedacht und gemacht; verloren ist die dkpavri