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German Pages [559] Year 2023
Johnson-Studien
Band 15
Herausgegeben von Ulrich Fries, Holger Helbig und Lothar van Laak
André Kischel
wofern man nur richtig zu lesen versteht Weder Lektor noch Autor – der Student Uwe Johnson
Mit einer Abbildung
V&R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Johannes und Annitta Fries Stiftung. Zugl. Phil. Diss. Universität Rostock, 2021. © 2023 Brill | V&R unipress, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Uwe Johnson, Kohlezeichnung, 1961, in: Günter Grass: Fünf Jahrzehnte. Ein Werkstattbericht, hg. von G. Fritze Margull, Göttingen 2004, S. 224. © Steidl Verlag, Göttingen 2004, © Günter Grass, 1961. Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 1611-6402 ISBN 978-3-7370-1592-9
»Es ist nicht raus, wofür die Literaturgeschichte mir im einzelnen dankbar sein wird.« »Ich glaube, ich bin beim Lesen verständlicher.« (Uwe Johnson)
Inhalt
1 »Aus dem wird einmal ein Schriftsteller.« Uwe Johnson studiert . . .
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2 Die historische und biographische Situation Uwe Johnsons 1952–1956
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3 Überlegungen zum Werkbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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4 Im Anfang: Arnold Zweigs Der große Krieg der weißen Männer . 4.1 Auftakt: Bewerbung um ein Studium zum Lektor . . . . . . 4.2 Zwei Ansichten über Zweigs Figureninventar . . . . . . . . 4.3 Johnsons Einschätzung von Zweigs Zyklus . . . . . . . . . . 4.4 Nota bene: Ausblick auf Johnson mit Zweig . . . . . . . . .
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5 Der Primat der Politik. Zwischenprüfung über die Grundlagen des Marxismus-Leninismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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6 Arbeit am Satz. Die Deutsche Klausur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7 Hauptwerke der Weltliteratur: Venice Preserved . . . . . . . . . . . 7.1 Otway – Mayer – Johnson. Zu den Hintergründen des Referats 7.2 Quellenarbeit 1: Wissenschaft contra Idealismus . . . . . . . . 7.3 Quellenarbeit 2: Antike, Renaissance und Puritanismus . . . . 7.4 Quellenarbeit 3: John Milton und Paradise Lost . . . . . . . . . 7.4.1 Eine Biographie John Miltons . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Eine Zusammenfassung von Paradise Lost . . . . . . . . . 7.4.3 Ein ›bürgerlicher Revolutionär‹ namens Milton . . . . . . 7.5 Quellenarbeit 4: Thomas Otway und Venice Preserved . . . . . 7.5.1 Eine Biographie Thomas Otways . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Ein heroisches Drama der Restauration . . . . . . . . . .
117 117 136 159 173 173 192 199 201 202 220
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Inhalt
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8 Schreibend Leben. Johnsons Kafka-Manuskript . . . . . . . . . . . . .
297
9 Heines Deutschlandkritik im Wintermärchen . . . . . . . . . . . . . . 9.1 »Gepäckkontrolle als lyrischer Vorwurf« – Erste Annäherung . . 9.2 Deutschlandkritik mit Heine – Zweite Annäherung . . . . . . . .
327 333 339
7.6 Deutungsangebote zu Venice Preserved . . . . . . . . . . . . . . 7.6.1 Noch einmal Quellenarbeit: Die Einführung in Venice Preserved . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6.2 Der Student liest Venice Preserved – Ein erster Zugang . . 7.6.3 Uwe Johnson liest Venice Preserved – Ein zweiter Zugang 7.7 Ausblick ins Werk: Der puritanische Theaterstreit in Ingrid Babendererde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.1 Schriftstellerische Arbeitsökonomie. Vom Referat zum Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7.2 Resonanzräume des Referats . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8 Prägende Vielstimmigkeit – Resümee des Otway-Referats . . .
10 Schriftstellerkongresse und Ingrid Babendererde. Teilhabe am literarischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.1 Vom Tanzen der Kongresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.2 Wirklichkeit wider Realismus. ›Theorie und Praxis‹ realistischen Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
371 372 386
11 Maria Magdalena. Theorie und Praxis der Hebbel-Dramatik . . . . .
409
12 Der gute Mensch von Sezuan. Theorie und Praxis der Brecht-Dramatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
427
13 »noch lange nicht zu einer Anerkennung des Verfassers entschlossen«. Zum Diplom mit Ernst Barlach . . . . . . . . . . . . .
457
14 »mit gründlichen gedankenreichen Studien so etwas wie Unernst zu verstehen gegeben« – Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
477
15 »für die Republik reicht es erwiesener Massen nicht« – Ausblick . . .
485
16 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.1 Verzeichnis archivalischer Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . 16.2 Verzeichnis nicht publizierter Briefe . . . . . . . . . . . . . . . .
505 505 507
Inhalt
9
16.3 Verzeichnis zeitgenössischer Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.4 Verzeichnis der Werke, Schriften, Briefe und Interviews Uwe Johnsons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16.5 Verzeichnis weiterer verwendeter Literatur . . . . . . . . . . . .
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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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513 516
1
»Aus dem wird einmal ein Schriftsteller.«1 Uwe Johnson studiert
Vom Schriftsteller Uwe Johnson wird hier kaum die Rede sein. Dessen Karriere begann mit dem Roman Mutmassungen über Jakob im Jahr 1959. Der Untersuchungszeitraum dieser Arbeit reicht prima facie vom Frühjahr 1952, als sich der Abiturient Johnson um ein Studium in Rostock bewirbt, bis zum Sommer 1956, in dem er als Diplomgermanist die Universität Leipzig verlässt. In den vier Jahren seines Studiums hatte er – wie jeder Student – eine Reihe von Prüfungen abzulegen: Prüfungsgespräche, Referate, Klausuren und schließlich eine Abschlussarbeit zu schreiben. Von den mündlichen Prüfungen sind zum Teil knappe Protokolle erhalten, sein Bewerbungsaufsatz, zwei Referate und fünf Klausuren liegen heute in einer eigenen Edition vor, die Examensarbeit über Ernst Barlach ist weder im Leipziger Universitätsarchiv noch im Rostocker Uwe Johnson-Archiv erhalten. Die vorliegende Betrachtung greift aber auch über den abgesteckten Untersuchungsgegenstand und -zeitraum hinaus: Lebensweltaspekte spielen in sie hinein, wie auch Rückblickserinnerungen an den Schüler, Studenten und angehenden Autor, wie noch postum zutage tretende Stimmen und Materialien ihren Schlagschatten auf diese frühen Jahre werfen. Für die folgenden Untersuchungen wird davon ausgegangen, dass eine Beschäftigung mit diesen Studienarbeiten, über das bloße Sammeln biographischer Fakten hinaus, fruchtbar sein kann. Fruchtbar im Sinne eines erhellenden Einblicks in die Art und Weise, wie sich Johnsons Denk- und Arbeitsweise konstituierte, wie er sich schriftlichen Herausforderungen als Schüler und Student stellte, wie er sich nach Autoritäten ausrichtete oder sich an ihnen rieb, wie sich sein Eigensinn auch immer stärker in seinen Texten niederschlug, die er unter spezifischen historischen und institutionellen Rahmenbedingungen verfertigt hat – Bedingungen, die es erforderlich machten, sich zu ihnen zu verhalten. Johnson hat das in einer ganz eigenen und bemerkenswerten Form getan. Es geht hier nicht um den sogenannten Blick in die Werkstatt des Autors, sondern 1 Käte und Axel Walter: Aus dem wird einmal ein Schriftsteller. Ein Gespräch [am 20. 8. 1997 mit Holger Helbig und Rainer Paasch-Beeck], in: Johnson-Jahrbuch, 5/1998, S. 9–29, hier: S. 20.
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»Aus dem wird einmal ein Schriftsteller.« Uwe Johnson studiert
bestenfalls in das Studierzimmer eines jungen Mannes, der als Schüler davon träumte, Autor werden zu können und der als Student hoffte, Lektor werden zu dürfen. Der naheliegenden Versuchung, im Rückblick diese frühen Dokumente als Genese des Schriftstellers zu konstruieren, soll dabei (zunächst) wenig Raum gegeben werden. Ganz ausblenden lassen sich solche Überlegungen freilich nicht, zu reizvoll ist die Versuchung, von diesen frühen Studienarbeiten auf die spätere Werkentwicklung zu schließen, zumal dann, wenn sich an ihnen ein Fingerabdruck der werkstiftenden Hand des Autors nachweisen lässt. Im Fokus jedoch steht im Folgenden die Analyse von Johnsons Studienarbeiten, wobei zum einen die Methoden seiner (›wissenschaftlichen‹) Auseinandersetzung mit Literatur und zum anderen die Finessen der Präsentation seiner Ergebnisse offengelegt werden. Erst daran anschließend kann erwogen werden, ob und welche Folgerungen daraus für seine Werkstiftung zu ziehen sind. Denn selbstverständlich ist der Grund, sich mit solchen Elaboraten zu befassen, die Tatsache, dass aus ihrem Verfasser ein bedeutender und prominenter Schriftsteller geworden ist. Obwohl – oder gerade weil – Johnson am Ende seines Studiums neben dem Diplom das fertige Manuskript von Ingrid Babendererde in der Schublade hat, ist sein Weg keineswegs vorgezeichnet. Er hatte ihn überdies, zumindest offiziell, mit einem anderen Ziel angetreten.2 Der berufliche Werdegang Uwe Johnsons beginnt mit dem erklärten Ziel, Lektor zu werden, und zwar Verlagslektor für Gegenwartsliteratur. Da er sich eben gerne mit Literatur allgemein befasst, und auch seine Schulnoten in den Sprachen ›gut‹ bis ›sehr gut‹ sind, rechnet er sich dafür einige Chancen aus: »Ich habe mich für den Beruf eines Verlagslektors entschieden, da ich diesen nach Fähigkeit und Neigung glaube am besten ausfüllen zu können.«3 Er begründet diese Entscheidung mit einem schon lange vorhandenen »Interesse für die deutsche Literatur und literarische Dinge überhaupt«, und er hofft auf eine Anstellung, bei der er sich »weiterhin mit literarischen Dingen und besonders der neuen Literatur« beschäftigen kann.4 Als gute Vorbereitung für diesen Beruf erachtet er im Mai 1952 ein Studium der Germanistik. Ob dieser in einem offiziellen Dokument, der Begründung für Berufs- und Studienwahl im Jahr 1952, formulierte Berufswunsch insgeheim lediglich die Hoffnung auf eine Schriftstellerkarriere kaschieren soll, oder ob er einer eini2 Eine genaue Datierung der erhaltenen Textstufen im Rahmen der Uwe-Johnson-Werkausgabe steht noch aus. Vgl. hierzu auch die Übersicht der Ingrid-Fassungen bei Katja Leuchtenberger: »Wer erzählt, muß an alles denken.« Erzählstrukturen und Strategien der Leserlenkung in den frühen Romanen Uwe Johnsons, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003, S. 62f. 3 Uwe Johnson: Begründung für die Wahl der Fachrichtung und des Berufes, 1952, zit. nach: »Die Katze Erinnerung«. Uwe Johnson – Eine Chronik in Briefen und Bildern, zusammengestellt von Eberhard Fahlke, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, S. 46. 4 Johnson, Begründung (Anm. 3).
»Aus dem wird einmal ein Schriftsteller.« Uwe Johnson studiert
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germaßen realistischen Einschätzung eigener Fähigkeiten und der Realität eines gesteuerten Arbeitsmarktes entspringt, wird nicht abschließend zu klären sein. An überprüfbaren Tatsachen steht Johnsons dokumentiertem Berufswunsch allerdings entgegen, dass seine ersten belegbaren literarischen Versuche schon auf das Jahr 1952 datiert werden können und sein Roman Ingrid Babendererde bereits »in einer ersten Fassung 1953« niedergeschrieben worden ist.5 Allerdings hat man auch schon davon gehört, dass es Lektoren geben soll, die zugleich Schriftsteller sind – oder umgekehrt.6 Ein Germanistikstudium, das einen professionalisierten Umgang mit Sprache und Literatur zum Gegenstand hat, ist – für beide Vorhaben – eine nachvollziehbare, naheliegende Wahl. Zu bedenken ist allerdings, dass es weder in der DDR der frühen 1950er Jahre noch heute einen geregelten Ausbildungsweg für die angedachten Berufsziele gibt.7 Hinzu kommt in diesem Fall, dass das Berufsbild des Lektors unter den Vorzeichen eines sich konstituierenden ›sozialistischen Literatursystems‹ ein grundlegend anderes gewesen sein muss als in einem freien und marktorientierten System. Beiden Berufen, Lektor wie Autor, ist als kleinster gemeinsamer Nenner eigen, dass sie in irgendeiner qualifizierten Weise mit Text umgehen, mit dem – ebenfalls kleinsten gemeinsamen – Ziel, gelesen zu werden. Ein professionelles Verhältnis zum Text, ganz gleich welcher Sorte, ist somit eine notwendige Bedingung. Gleichwohl ist es eben nur eine von vielen, wie sich zeigen lässt. Seiner Bewerbung an der Universität Rostock hat Johnson eine Arbeitsprobe beizufügen, die »ein aktuelles Thema von Allgemeininteresse« behandeln soll und zudem »in Beziehung zu dem kommenden Beruf steht«.8 Seine Wahl fiel auf die bis dahin publizierten Romane von Arnold Zweigs Zyklus Der große Krieg der weißen Männer. Es gilt zu ergründen, warum sich Johnson ausgerechnet für dieses Korpus dieses Autors entschieden hat, und welche Aufschlüsse seine Arbeit darüber geben kann, welches Bild sich der 17jährige Abiturient vom erstrebten Beruf machte.
5 Siegfried Unseld: Die Prüfung der Reife im Jahre 1953, in: Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953. Mit einem Nachwort von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 251–264, hier: S. 251. 6 Dieter Wellershoff sei als Beispiel angeführt, auch Wolfgang Weyrauch, oder Herbert Nachbar als junger Mann, oder auch jener Kreis von Autoren, die Siegfried Unseld um sich versammelte und die er sich gegenseitig lektorieren ließ, zu denen dann auch Uwe Johnson, neben etwa Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger, gehören sollte. 7 Das Literaturinstitut Johannes R. Becher, wo eine sowohl künstlerische als auch ideologische Ausbildung zum Schriftsteller versucht werden sollte, wurde erst 1955 gegründet; und so wird es Spekulation bleiben müssen, ob Johnson sich da hätte bewerben wollen. 8 Uwe Johnson: Aufnahmeantrag für die Universität Rostock, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 2–4, hier: Bl. 3v.
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»Aus dem wird einmal ein Schriftsteller.« Uwe Johnson studiert
Schon allein der biographische Ort lässt diesen Bewerbungsaufsatz als lohnenswerten Ausgangspunkt für die weitere Untersuchung erscheinen. Es sind genau genommen sogar zwei biographische Orte, die hier betrachtet werden müssen. Denn Arnold Zweig war als früher Autor der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR nicht unumstritten, und bereits die ersten Neuausgaben seiner Werke für den ›sozialistischen Buchmarkt‹ unterlagen der Zensur und Manipulation der mit ihnen befassten Lektorate. Zweig ist mit den Gegebenheiten in einem pragmatischen Sinne umgegangen, indem er zu Gunsten der Publikation politisch Kontroverses zurücknahm oder anpasste.9 Johnson freilich kannte nur das offizielle Bild des gefeierten Autors, der mit seinem Werk ehrenvolle Aufnahme in die neue Gesellschaft fand. Seine Bewerbung um einen Studienplatz mit einer Arbeitsprobe zu gerade diesem Erzähler demonstriert eine nicht minder pragmatische Haltung: Johnson wusste, wie wichtig Arnold Zweig als Repräsentant für den neuen Staat war und entschied sich, über ihn zu arbeiten. Darf man hier schon unterstellen, dass ihm der Erzähler und sein Romanzyklus weit weniger gelegen haben dürften als der – Jahre später – für die Examensarbeit gewählte Erzähler Ernst Barlach und sein später Roman Der gestohlene Mond? Gemeinsam ist diesen Polen seines Studiums, dass sie die einzigen Fälle völlig freier Themenwahl sind, bei allen anderen Leistungsnachweisen hatte Johnson bestenfalls eine eng begrenzte Auswahl. Überdies soll anhand dieser ersten ›akademischen‹ Studie geprüft werden, ob darin der Anfang einer Laufbahn gegründet ist, oder ob es sich im Zweifelsfall nur um eine Pflichterfüllung auf dem Weg zum Studium handelt. Daran anzuschließen ist eine entsprechende Betrachtung der weiteren studentischen Arbeiten unter diesem und weiteren Aspekten. Auch sie werden auf die Strategien der Aneignung, Verarbeitung und Darstellung von Literatur und (nicht nur literaturhistorischem) Wissen hin untersucht. Johnsons Germanistikstudium umfasst den gesamten Gegenstandsbereich der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaften, im heutigen Hochschuldeutsch spräche man von einer vollgermanistischen Ausbildung. Er unternimmt zum Beispiel Literarisch-sprachliche Übungen an althochdeutschen Texten und hört über Klassiker des Mittelalters bei Theodor Frings, wird ausführlich in die alt- und mittelhochdeutschen Grammatiken eingeführt und auch die modernen Sprachwissenschaften stehen im Curriculum. Im Überblick aber liegt der Fokus dieses Studiums auf den Gegenständen der Neueren deutschen Literaturwissenschaft. Bei Walter Epping und Hildegard Emmel hörte er literarhistorische 9 Vgl. Zensur in der DDR: Geschichte, Praxis und ›Ästhetik‹ der Behinderung von Literatur, erarbeitet und herausgegeben von Herbert Wiesner und Ernest Wichner, Berlin: Literaturhaus Berlin 1991, S. 38–43; sowie hier Kapitel 4.2 Zwei Ansichten über Zweigs Figureninventar, S. 81, Anm. 231.
»Aus dem wird einmal ein Schriftsteller.« Uwe Johnson studiert
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Überblicksvorlesungen (mit dazugehörigen Seminaren) in Fortsetzungen über mehrere Semester zur Geschichte der deutschen Literatur, und zwar des Zeitraums von 1700 bis 1848. Daneben waren aber auch Veranstaltungen über Die Literatur des demokratischen Deutschland oder die Geschichte des deutschen Theaters seit der Aufklärung zu belegen. Noch bevor er sich bei Hans Mayer in Leipzig mit den Hauptwerken der Weltliteratur im XVI. und XVII. Jahrhundert befasste, hatte er bei Hildegard Emmel bereits in Rostock etwas über die Meisterwerke der Weltliteratur im XVI. und XVII. Jahrhundert hören können. Bei ihr nahm er auch an einem Spezialseminar über Faust II teil. Zur Pflicht gehörte, und zwar für alle Fakultäten, überdies das Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium, das die Studenten mit den Grundlagen des Marxismus-Leninismus bekannt machen sollte, wie auch, ebenfalls für alle Fakultäten obligatorisch, die Russische Sprache und Literatur. Der überwiegende Teil des Studiums war verpflichtend vorgeschrieben, individuelle Schwerpunktsetzungen durch den Einzelnen vermittels einer Auswahl aus einem überschaubaren ›wahlobligatorischen‹ Angebot nur in geringem Maße möglich. Johnson entschied sich beispielsweise für Veranstaltungen über Märchen und Sage, die Lektüre neuenglischer Texte, Englische Debattierübungen, französische Literaturgeschichte und auch Schwedisch.10 Gegenstand der folgenden Untersuchungen sind die erhaltenen Textzeugen von Johnsons Studium. Dazu zählen die von Bernd Neumann edierten Klausuren und Referatsmanuskripte sowie eine im Archiv der Universität Leipzig bewahrte Deutsche Klausur, in der Satzglieder zu bestimmen waren, die Johnson aber auch zu einer Kritik am literarischen Exempel nutzte. Ausgenommen werden hier zwei Mittelhochdeutsch-Klausuren, in denen Übersetzungen zu leisten waren und Wissen etwa über den Lautwandel, Ab- und Umlaute abgefragt wurde; sie sind für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit nicht relevant.11 Schon während seiner Schulzeit ist Johnson dem staatlichen Auftrag zur Erziehung zum Sozialismus begegnet, seit 1949 war er aktives Mitglied der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Gerade zu Beginn der 1950er Jahre wurde dieser Auftrag, Zug um Zug mit der Berufslenkung im Rahmen des ersten Fünfjahrplans, durch eine Reihe von Gesetzen und Verordnungen auf das gesamte Bildungswesen ausgeweitet. An den Universitäten wurde der Marxismus-Leninismus als ›Leitwissenschaft‹ obligatorisch, das Amt für Literatur und Verlagswesen wurde 1951 zur Kontrolle und Gängelung der Medien eingerichtet, später entwickelte 10 So verzeichnet der Student die Veranstaltungstitel in seinem: Studienbuch für Uwe Johnson, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/ H/001873, Bl. 20v–28v. 11 Vgl. Uwe Johnson: Mittelhochdeutsch-Klausur, 19. 5. 1953, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 37; ders., Mittelhochdeutsche Klausur, 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 34–39.
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»Aus dem wird einmal ein Schriftsteller.« Uwe Johnson studiert
sich daraus, als Lenkungs- und Überwachungsorgan, die Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel. Jedes in der DDR zu veröffentlichende Buch musste von dort eine Druckgenehmigung und ein Papierkontingent erbitten.12 Der junge Staat entfaltete zusehends seine Macht, die ideologisch motivierte Politik beanspruchte universelle Verantwortlichkeit, in Betrieben und Universitäten, bis in die Lebenswelt des Einzelnen. Fiel Johnson seinen Leipziger Kommilitonen schnell als vermutlich angehender Schriftsteller auf, so machte er zuvor in Rostock in politischer Hinsicht von sich reden. Er opponierte öffentlich gegen eine Aktion der FDJ und entging vermutlich nur knapp, aufgrund der ›Tauwetter‹-Phase des Sommers 1953, einem vorzeitigen Ende seines Studiums durch Relegation. Nach seinem erfolgreichen Abschluss fand er keine feste Anstellung, konnte aber gelegentlich bei verschiedenen Verlagen der DDR dem Lektorat zuarbeiten. So kam es zu der kuriosen Situation, dass Johnson vom Aufbau-Verlag, der wenige Monate zuvor seinen Roman Ingrid Babendererde abgelehnt hatte, Aufträge als Lektor erhielt. Für den Zeitraum zwischen 1956 und 1958 liegen zwölf gutachterliche Arbeiten für verschiedene Verlage vor, mit einem Nachwort herausgegeben von Bernd Neumann in der Schriftenreihe des Frankfurter Uwe-Johnson-Archivs.13 Kleinere Zuarbeiten sind darin nicht berücksichtigt, gehören gleichwohl aber zum Gesamtbild seiner Entwicklung. Diese frühen Zeugnisse weichen in Anlage, Umfang und Zielstellung erheblich voneinander ab, sodass Neumanns Untertitel Gutachten für Verlage kaum als präzise Textsortenbestimmung gelten kann. Johnson beurteilt in verschiedenen Formen Werke anderer, es sind seine ersten Arbeiten als Lektor. Sie sind erst noch zu befragen nach den Methoden der Analyse und Kriterien der Beurteilung, nach den ökonomischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen ihrer Entstehung, und schließlich sind sie auf Indizien zu prüfen, die etwas über das poetologische Selbstverständnis ihres Verfassers aussagen können. Zeigen sich diese Gutachten in der Retrospektive als Lehrproben des Lektors Uwe Johnson? Sind sie zum Teil vielleicht sogar richtungsweisend für kommende Lektorate und/oder für die eigenen literarischen Arbeiten? Mit seinem ersten Romanmanuskript macht Johnson Erfahrungen mit Verlagslektoraten von der anderen Seite aus, mehrere Entwicklungsstufen des Manuskripts werden mit wechselnden Begründungen abgelehnt. Diese Ablehnungen können zwar zuerst, aber nicht allein in ihren – im weitesten Sinne – ästhetischen Voraussetzungen betrachtet werden; denn sie sind stets auch vor dem 12 Vgl. Simone Barck, Martina Langermann, Siegfried Lokatis: »Jedes Buch ein Abenteuer«. Zensur-Systeme und literarische Öffentlichkeit in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin: Akademie Verlag 1997, S. 19–226. 13 Vgl. Uwe Johnson: »Wo ist der Erzähler auffindbar?« Gutachten für Verlage 1956–1958, mit einem Nachwort hg. von Bernd Neumann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992.
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Hintergrund der politischen Steuerung des Verlagswesens der DDR zu interpretieren. Schließlich gilt als ein wesentliches Argument für Johnsons Wechsel in die Bundesrepublik die Annahme, dass er bei Publikation seines Romans Mutmassungen über Jakob sich der Gefahr einer politisch motivierten Verfolgung aussetzen würde. Und es war eben der Suhrkamp Verlag, der diesen Roman publizieren würde, einem DDR-Verlag hat ihn Johnson gar nicht mehr angeboten. Die vorliegende Arbeit hat sich detaillierte Textanalysen zur Hauptaufgabe gestellt. Bei diesen Analysen zeigt sich, dass den Rahmen- und Entstehungsbedingungen dieser frühen Elaborate aus Uwe Johnsons ›Studierzimmer‹ erhebliche Bedeutung zukommt; und grundsätzlich erwogen werden sollte, ob und inwiefern diese ersten erhaltenen Textproben als Gehversuche eines Autors bereits zum Werk, zum Œuvre Johnsons zu zählen sind. Wäre diese Frage in einem emphatischen Sinne zu bejahen, dann müssten diese frühen Arbeiten am Anfang einer Johnson-Werkausgabe stehen. Nun könnte man diese Texte auch als Marginalien betrachten, die nichts weiter über den späteren Autor besagten – wären da nicht ihre unverwechselbaren, auch stilistisch einzigartigen Merkmale, die eine solche Marginalisierung nicht zulassen. Diese Merkmale sind Ausdruck eines unbedingten Stilwillens, aber auch Manifestation ihrer besonderen Entstehungsbedingungen. Denn ohne ein spezifisches Gegenüber, ohne einen konkreten Adressatenbezug, ohne einen bestimmbaren Zweck gäbe es diese frühen Texte so nicht, ja, es gäbe sie wohl überhaupt nicht. Ein konkretes Gegenüber, ein spezifischer Adressat dieser Arbeiten ist Hans Mayer, und so ist es naheliegend, einen Blick auf dieses außergewöhnliche und produktive Verhältnis von Hochschullehrer und Hochschüler zu werfen. Mayer war für Johnson auch Zöllner im Sinne Brechts – er hat ihm diese Arbeiten abverlangt, jedenfalls zum größten Teil. Umgekehrt hat Johnson seinen akademischen Lehrer gefordert und herausgefordert, wo es nur ging. So lassen sich Johnsons Arbeiten nicht ohne Berücksichtigung ihrer ›gesellschaftlichen Umstände‹ verstehen, denn sie sind oftmals ›umständlich‹ gedacht und formuliert und ihren ›Umständen‹ geschuldet. Ihre Manierismen aber liegen gerade darin begründet, dass sie ›umstandshalber‹ erzwungen sind, dass sie augenfällig und erklärbar werden, wenn man die Texte nicht nur in ihren Kotexten, sondern auch in ihren Kontexten betrachtet. Dann erst beginnt eine Auskunft wie die folgende sinnvoll zu uns zu sprechen: Leider kann ich Ihnen nicht selbst Auskünfte über die Situation des Schriftstellers in der D.D.R. geben, da ich seit zehn Jahren nicht in dem Land gelebt habe und während meines Aufenthalts dort kein Schriftsteller war.14 14 Uwe Johnson an Michel Pelletier, 23. 10. 1969, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/253036.
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»Aus dem wird einmal ein Schriftsteller.« Uwe Johnson studiert
Während dieses ›Aufenthalts‹, der immerhin die erste Hälfte seines Lebens umfasste, wurde Johnson maßgeblich nicht nur gesellschaftlich, sondern vor allem auch literarisch sozialisiert. An den Universitäten in Rostock und Leipzig hat ein essenzieller Teil dieser ›prägenden Jahre‹ stattgefunden. Die erhaltenen Klausuren und Referate legen davon Zeugnis ab – diesem Teil widmet sich diese Arbeit. Es ist, wenn man so will, die Geschichte eines Autors, der noch keiner war. In diesem Sinne wird hier vom Schriftsteller Uwe Johnson die Rede sein.
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Die historische und biographische Situation Uwe Johnsons 1952–1956
Uwe Johnsons Berufswunsch ist in seinem Aufnahmeantrag für die Universität Rostock dokumentiert. Im weit verbreiteten Vordruck des Formularverlags Erfurt, in den selbst noch die gewünschte Universität vom Kandidaten handschriftlich einzutragen war, vermerkt Johnson als Berufsziel: »Verlagslektor (mit Diplomexamen)«.15 Eine gewisse Entschiedenheit zu diesem Beruf kann daran abgelesen werden, dass er das Feld für einen alternativen Berufswunsch offen lässt, obwohl im Formular ein vollständiges Ausfüllen verlangt wird (andernfalls könne der Antrag nicht bearbeitet werden). Als Anlagen sind die seinerzeit üblichen Bewerbungsunterlagen erforderlich: ein ausführlicher handschriftlicher Lebenslauf, beglaubigte Zeugnisabschriften, ein »Nachweis über die Zugehörigkeit zu dem Kreise der Personen, denen gemäß den Gesetzen und Verordnungen der DDR eine Hochschulausbildung zugesichert worden ist« und ein polizeiliches Führungszeugnis »neuesten Datums«; hätte Johnson im Schuldienst gestanden, hätte er noch eine »Freigabebescheinigung« der »zuständigen Landesregierung« beifügen müssen, stammte er aus »Bauernkreisen«, so wäre von ihm noch eine Bescheinigung »über die Größe des Budenbesitzes« vorzulegen gewesen.16 Für den Nachweis der fachlichen Eignung war zudem eine »Arbeit über ein aktuelles Thema von Allgemeininteresse« anzufertigen, »das in Beziehung zu dem kommenden Beruf steht«.17 Für das Formular musste Johnson sich entscheiden: Zwei Monate zuvor, in Vorbereitung des Abiturs zu einer ›Darstellung seiner Entwicklung‹ verpflichtet, hatte er noch Zweifel über »die nähere Praxis [s]eines Berufes«, nämlich dahingehend, ob er »die nötigen Fähigkeiten für den Beruf eines Schriftstellers noch im Laufe [s]einer Entwicklung erlangen werde.«18 Er entscheidet sich und erläutert seinen Entschluss in der – nicht verlangten – »Begründung für die Wahl 15 16 17 18
Johnson, Aufnahmeantrag (Anm. 8), Bl. 2r. Johnson, Aufnahmeantrag (Anm. 8), Bl. 3v. Johnson, Aufnahmeantrag (Anm. 8), Bl. 3v. Uwe Johnson: Darstellung meiner Entwicklung (23. 3. 1952), Faksimile und Transkription, in: Johnson-Jahrbuch, 4/1997, S. 11–14, hier: S. 14.
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Die historische und biographische Situation Uwe Johnsons 1952–1956
der Fachrichtung und des Berufes«, die er seinem Antrag beifügt. Darin erklärt er unmissverständlich: Ich habe mich für den Beruf eines Verlagslektors entschieden, da ich diesen nach Fähigkeit und Neigung glaube am besten ausfüllen zu können. Ich könnte mich in dieser Stellung weiterhin mit literarischen Dingen und besonders der neuen Literatur beschäftigen und das ist eine Arbeit, die meinen Interessen voll und ganz entsprechen würde.19
Das eigene, nicht das gesellschaftliche Interesse stellt der junge DDR-Bürger hier in den Vordergrund. Er sagt zweimal »ich«, zweimal »mich« und einmal »meinen«. Der Wunsch, sich »weiterhin« mit Literatur zu »beschäftigen«, könnte auch auf eine introvertierte Person deuten, die der Gesellschaft nicht viel nützen wird, ihr verloren ist. Das übliche Berufsziel, gerade für Studierende einer Sprache, war allerdings das des Lehrers. Die zusätzliche Begründung betont so einerseits Johnsons Anliegen, Lektor werden zu wollen, andererseits dient sie dem Ziel, nicht Lehrer werden zu müssen. In den Begleitumständen gibt er nachträglich Auskunft über ein »Risiko« seines Studiums, denn für die ersten beiden Studienjahre war nebenher Psychologie zu belegen, Teil der Ausbildung für Pädagogik; erst danach wollten die Behörden über ihn befinden, nämlich ob seine Leistungen ihn ausweisen als einen Kandidaten für das Diplom oder für den Beruf, den er als Praxis kannte, mithin fürchtete von Grund auf: den eines Lehrers für Deutsch.20
Die doppelte Akzentuierung von Berufsziel und Examen mag schon im Antrag ein Indiz dafür sein, dass er sich zu diesem Zeitpunkt dieses Risikos bewusst war. Für einen Studenten in der DDR des Jahres 1952 war eine solche ›Furcht‹, einen ungewünschten Beruf ergreifen zu müssen, keineswegs unbegründet. Im Zuge des ersten Fünfjahrplans wurde das Hochschulwesen der DDR zunehmend zentralisiert. Das 1951 gegründete Staatssekretariat für Hochschulwesen erhielt dabei unter anderem die Zuständigkeit »für die Festsetzung der Studentenkontingente an den Hochschulen auf der Grundlage des Planes«.21 Der Zugang zu einer universitären Ausbildung regelte sich also nach den geplanten Bedürfnissen der Republik, nicht nach individuellen. Bei der Zuweisung eines Studienfachs ging es kaum um persönliche Neigungen, zumal ein Studium als Privileg, nicht als Recht des Einzelnen galt. Wer in der DDR studieren durfte, war bevorzugt und durfte glücklich sein mit der Fachrichtung, die man ihm zuwies. Aus der Sicht des 19 Johnson, Begründung (Anm. 3). 20 Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980, S. 61. 21 Verordnung über die Neuorganisation des Hochschulwesens vom 22. Februar 1951, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, 26. 2. 1951, Nr. 23, S. 123–125, hier: S. 125.
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Staates waren hier die empfindlichen beruflichen Lücken zu schließen, die Krieg und Kriegsfolgen ins Versorgungs- und Bildungssystem gerissen hatten. Überdies wurden im Rahmen der Entnazifizierung auch gleich aus anderen – vorwiegend politischen – Gründen unerwünschte Lehrer und Hochschullehrer aus dem aktiven Lehrbetrieb entfernt. Nicht zu vergessen ist die meist politisch oder ökonomisch motivierte Abwanderung in die Westzonen, an der »in beachtlichem Maße die Intelligenz« teilhatte.22 Aus diesem Aderlass entstand ein enormer Bedarf an neuen, zudem linientreuen Lehrkräften, die man am besten selbst ausgebildet hatte. Denn schließlich sollte die Ausbildungs- und Studienquote erheblich erhöht werden. Schon das Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik stellte 1950 einleitend fest: In der Deutschen Demokratischen Republik werden immer mehr qualifizierte Arbeiter, Techniker, Ingenieure und Geistesschaffende für den wirtschaftlichen und kulturellen Aufbau gebraucht. Sie müssen aus der Jugend hervorgehen, da schon jetzt Mangel an qualifizierten Facharbeitern besteht.23
Dieser Mangel bestand ganz wesentlich im Bereich der Ausbildenden, der Lehrer, Dozenten und Professoren, die mit ihrem Unterricht erst qualifizierte Arbeiter, und seien es eben ›Geistesschaffende‹, hervorzubringen vermochten. Bei seinem Wechsel an die Leipziger Universität machte Johnson gegenüber der zuständigen FDJ-Gruppe keinen Hehl aus seiner Aversion gegen den Lehrerberuf: »Lehrer zu werden, lehnt Uwe von vornherein ab.«24 Gegen Ende seines Studiums wird er den Dekan der Leipziger Universität darum bitten, für sein Staatsexamen im nächsten Jahr »eine sogenannte ›nicht Lehrer-Prüfung[‹] […] ablegen zu dürfen«.25 Mit seinem Examen wäre Johnson rein formal als Mittelund Oberstufenlehrer qualifiziert gewesen. Eine pädagogische Grundausbildung war, wie auch Seminare und Vorlesungen zum Marxismus-Leninismus, verpflichtender Bestandteil eines jeden Studiums. Ministerpräsident Otto Grotewohl stellte im August 1951 unmissverständlich öffentlich fest: »Literatur und bildende Kunst sind der Politik untergeordnet«.26 22 Werner Mittenzwei: Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945–2000, Leipzig: Faber & Faber 2001, S. 69. 23 Gesetz über die Teilnahme der Jugend am Aufbau der Deutschen Demokratischen Republik und die Förderung der Jugend in Schule und Beruf, bei Sport und Erholung, 8. Februar 1950, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, 21. Februar 1950, Nr. 15, S. 95–99, hier: S. 95. 24 Beurteilung für den Studenten Uwe Johnson – IV/4, Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/001876. 25 Uwe Johnson an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Karl-Marx-Universität Leipzig, 14. 11. 1955, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 13. 26 Otto Grotewohl: Die Kunst im Kampf für Deutschlands Zukunft. Aus der Rede des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl zur Berufung der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten am 31. August 1951 in der Staatsoper Berlin, in: Neues Deutschland, 2. 9. 1951, S. 3.
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Der universale Führungsanspruch der SED hatte in ihrem Selbstverständnis sowohl für die Künste als auch die Bildung Geltung, und bei letzterer vor allem für eine Erziehung zum Sozialismus: »Die Idee in der Kunst muß der Marschrichtung des politischen Kampfes folgen.«27 – Damit gab Grotewohl die Richtung vor. Der manifeste Mangel an linientreuen Lehrern zeitigte erhebliche Probleme auch an der Universität Rostock, die als letzte aller SBZ-Hochschulen im Februar 1946 wieder geöffnet wurde. Und auch noch Jahre später fand in der dortigen Germanistik allenfalls ein fachlich notdürftiger Lehrbetrieb statt, zeitweise bestand hier »sogar die Gefahr einer sukzessiven Auflösung der Germanistik«.28 Zum Wintersemester 1951 kam Hildegard Emmel als Dozentin für Deutsche Literaturgeschichte an das Institut. Ihre Erfahrungen bezeugen die damaligen Vexierspiele von Mitarbeitern und Studierenden zwischen politischem Opportunismus und fachlichen Unzulänglichkeiten. Emmel berichtet über ihre Berufung: So erhielt die Philosophische Fakultät in Rostock die Dozentur, die sie für mich nach meiner Habilitation beim Staatssekretär für das Hochschulwesen in Berlin beantragte, nur unter der Bedingung, daß sie in das Ordinariat für Neuere deutsche Literatur kommissarisch den unpromovierten Walter Epping nähme.29
Das nannte man damals einen ›Kopplungskauf‹, man kann es auch einen Kuhhandel nennen. Epping bekam nicht nur eine Professur für neuere und neueste deutsche Literatur, er ging in der Folgezeit überdies aktiv gegen Emmel vor, schickte Studenten in ihre Seminare mit dem Ziel, durch Diskussionen und Nachfragen ihre Veranstaltungen zu stören und mangelnde bzw. einseitige Kenntnisse der bürgerlichen Professorin anzuprangern. Zwar scheiterten solche Versuche an der meist unzureichenden inhaltlichen Vorbereitung dieser ›Agents Provocateurs‹ seitens Epping, doch illustrieren diese Sabotageakte den Zustand des Germanistischen Instituts, an dem Johnson studieren wollte. Es herrschte eine Atmosphäre der Verunsicherung, in fachlicher wie auch politischer Hinsicht, der Bespitzelung und Denunziation. Studenten wie auch Mitarbeiter mussten sich in irgendeiner Form politisch verhalten; sei es, dass sie sich dem System – aus Überzeugung oder Kalkül – zu eigenem Vorteil zuwandten, sei es, dass sie zumindest ihres eigenen Wohls zuliebe nichts öffentlich dagegen un-
27 Grotewohl, Die Kunst im Kampf (Anm. 26). 28 Petra Boden: Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR. Personalpolitik und struktureller Wandel 1945–1958, in: Deutsche Literaturwissenschaft 1945–1965. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen, hg. von Petra Boden und Rainer Rosenberg, Berlin: Akademie 1997, S. 119–149, hier: S. 144. 29 Hildegard Emmel: Die Freiheit hat noch nicht begonnen. Zeitgeschichtliche Erfahrungen seit 1933, Rostock: Konrad Reich 1991, S. 100.
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ternahmen: »Nach außen hin verhielten sie sich loyal, bekannten aber im Gespräch unter vier Augen, sie wüßten Bescheid über die Mißstände im Land und nährten keine Illusionen«.30 Bevor Walter Epping 1959 in den Ruhestand versetzt wurde, hatte er es bis zum ›Fachrichtungsleiter für Germanistik‹ und zum ›Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats für Germanistik beim Staatssekretariat‹ gebracht. Seiner Bitte, auch aus dem Ruhestand heraus Vorlesungen und Seminare halten zu dürfen, wurde entsprochen. Sein höchster akademischer Abschluss blieb bis zuletzt das Staatsexamen von 1918.31 Die zum Teil selbstgeschaffene Notlage im jungen Bildungswesen der DDR machte solche Lebensläufe möglich. Als Hildegard Emmel zum Wintersemester 1951/52 ihre Professur in Rostock antrat, fiel dies in die Umsetzungsphase der Zweiten Hochschulreform an den Universitäten der DDR. Für die Studenten bedeutete das unter anderem die Einführung eines verbindlichen, fächerübergreifenden dreijährigen ›Gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums‹, das im Wesentlichen aus Unterricht in Marxismus-Leninismus und in Kapitalismuskritik bestand. Dabei handelte es sich um obligatorische Formen ideologischer Schulung (nach der Maßgabe ›Erziehung zum Sozialismus‹), gegen die sich nachhaltig Widerstand regte, sowohl beim Lehrkörper wie auch bei den Studenten.32 Ein Grund dafür war, dass die Lehrenden, die diese Fächer zu unterrichten hatten, »zumeist wenig qualifizierte, dafür umso parteilichere Personen waren.«33 Sie versuchten mitunter, ihr Auditorium auch ›lebensweltlich‹ auf Linie zu bringen, etwa wenn sich vermeintliche Opposition schon in der Kleidung manifestierte. Werden es in der Fiktion von Johnsons Roman Ingrid Babendererde die Hosen der Eva Mau sein,34 so berichtet Emmel aus der Unterrichtsrealität der Rostocker Universität von Schuhen, die einen Kontrapunkt zur »Niveaulosigkeit« solcher Veranstaltungen setzten und damit auch deren »Unsinnigkeit« erwiesen: So mußte ein Student über den bevorstehenden Zusammenbruch der westdeutschen Wirtschaft referieren und knirschte, schon während er zum Katheder ging wie auch während seines gesamten Referates, mit seinen neuen, in West-Berlin gekauften Schuhen. Jeder wußte, daß es solche Schuhe in der DDR nicht gab; man sah ihnen an, woher sie stammten. Aber man erörterte im Anschluß an das Referat mit fachmännischer Sicherheit den Niedergang der westlichen Wirtschaft.35 30 Emmel, Die Freiheit (Anm. 29), S. 110. 31 Vgl. Eintrag von »Walter Epping« im Catalogus Professorum Rostochiensium, URL: http:// purl.uni-rostock.de/cpr/00002129 (Zugriff: 5. 1. 2019), und den hs. Lebenslauf in seiner Personalakte, Universitätsarchiv Rostock, PA Epping, Bd. I, Bl. 17. 32 Vgl. dazu Ilko-Sascha Kowalczuk: Geist im Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ/ DDR 1945 bis 1961, Berlin: Ch. Links 2003, S. 164–174. 33 Kowalczuk, Geist im Dienste der Macht (Anm. 32), S. 172. 34 Vgl. Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 171–175. 35 Emmel, Die Freiheit (Anm. 29), S. 102.
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Die fachlichen Missstände wurden sehr wohl auch von Seiten der Studentenschaft zur Kenntnis genommen. Käte Walter, die in einer Seminargruppe zusammen mit Johnson ihr Studium in Rostock begann, erinnert sich: Wir hatten nicht besonders gute Professoren, die Lage in Rostock war damals schwierig. Vor uns standen lauter neue Leute, die sich auch erst einmal einarbeiten mußten. Oft hatte man den Eindruck, sie hätten sich einen Tag zuvor angelesen, was sie uns nun beibringen wollten. Das war nicht sehr anregend.36
So waren dann auch einige Rostocker Studenten darum bemüht, auf eine andere, fachlich besser ausgestattete Universität zu kommen, »in jedem Semester drei oder vier, die versuchten, nach Leipzig zu wechseln«. Zu ihnen gehörte Uwe Johnson, dass er »nach Leipzig wollte, war von Anfang an klar«, und zwar nicht nur wegen der Rostocker Zustände, sondern vor allem, weil »da eben Mayer, Korff und Frings waren.«37 Mit ›Niveaulosigkeit‹ und ›Unsinnigkeit‹ politisch-ideologisch motivierter Parteigänger, Funktionäre und ihrer Handlanger hatte bereits der Güstrower Oberschüler 1950 Bekanntschaft gemacht. Als sich abzeichnete, dass die Volkskammerwahlen im Oktober 1950 kaum mehr als eine legitimierende Formalie sein würden, da nur eine Einheitsliste der Nationalen Front zur Wahl stand, regte sich Protest im Wahlvolk. So verteilten die Güstrower Schüler Peter Moeller und Enno Henke in der Nacht vom 15. auf den 16. September 1950 Flugblätter »mit freiheitlichen Losungen«.38 Da in der Nacht zuvor andere politisch Engagierte Ähnliches getan hatten, waren die Sicherheitskräfte alarmiert und nahmen die beiden Schüler fest, es folgten weitere Verhaftungen. An den Inhaftierten sollte ein Exempel statuiert werden, insbesondere, da sich die Güstrower Bevölkerung in den nächsten Tagen mit ihnen solidarisierte. Im Güstrower Hotel Zachow wurde ein Schauprozess geführt, zu dem man auch Delegationen der umliegenden Betriebe beorderte. Die wegen »Verbrechen gegen den Frieden, Vorbereitung eines Krieges […] und Bekundung von Völkerhass« Angeklagten wurden zu Zuchthausstrafen von fünf bis fünfzehn Jahren verurteilt.39 Wichtigstes Ziel eines solchen politischen Exempels war die zeitnahe Wirkung und breite öffentliche Abschreckung. Der zügig angesetzte Prozess (am 27. September) endete noch am selben Tag mit der Urteilsverkündung. Und schon am Tag darauf »wurde in der John-Brinckman-Schule eine Schülerversammlung durchgeführt. Die Schulleitung wollte die Zustimmung der Schüler zum Prozess 36 Walter, Aus dem wird einmal ein Schriftsteller (Anm. 1), S. 14. 37 Walter, Aus dem wird einmal ein Schriftsteller (Anm. 1), S. 15. 38 Katrin Passens: Peter Moeller, in: Opposition und Widerstand in der DDR. Politische Lebensbilder, hg. von Karl Wilhelm Fricke, Peter Steinbach und Johannes Tuchel, München: Beck 2002, S. 130–134, hier: S. 132. 39 Passens, Moeller (Anm. 38), S. 133.
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und damit ihr Bekenntnis zu Partei und Staat inszeniert wissen.« Damit sollte der Schauprozess, gerade auch angesichts der anstehenden ›Wahlen‹ am 15. Oktober, die ihm gemäße breite Wirkung entfalten. Anders als von den politischen Regisseuren dieser Veranstaltung geplant, »sprachen sich jedoch fast sämtliche Schüler gegen die Urteile aus und brachten ihre Solidarität mit ihren verurteilten Mitschülern zum Ausdruck«.40 Hier war also zu erleben, wie juristische Willkür an den Schülern der JohnBrinckman-Schule scheiterte, die sich unverhofft gegen politische Gängelung aussprachen und sich mit den Justizopfern solidarisierten. Zunächst, so schien es, zeitigte das Exempel nicht die erhoffte Wirkung, jedoch: Eine der Schülerschaft zur Abstimmung – eher: Bestätigung – vorgelegte Resolution (formuliert vom FDJ-Vorstand), die sich gegen die verurteilten Mitschüler richtete, war zwar nur durch »die große Zahl der Stimmenthaltungen« erfolgreich, so aber konnte die »FDJ-Leitung vor einem Eklat bewahrt« werden.41 Hier zeichnet sich ein typisches Verhaltensmuster ab: Zwar möchte man durchaus gegen staatliches Unrecht einstehen, doch will man sich andererseits nicht selbst gefährden. Daher kann es, wenn Zivilcourage zu beweisen ist, wie etwa bei einer Abstimmung mit Handzeichen, durchaus couragiert sein, sich zu enthalten. Man verweigert damit dem politischen Oktroi seine Zustimmung – ohne sich explizit gegen ihn aussprechen zu müssen. Einer der Schüler war Uwe Johnson, der »als FDJ-Sekretär der John-Brinckman-Schule an dieser Versammlung verantwortlich teilgenommen« hat.42 Über seine genaue Rolle in dieser Funktion gibt es keine weiteren Belege, Augenzeuge der Vorgänge war er. Vermutlich war Johnson auch bei einem weiteren Güstrower Schauprozess zugegen, der bereits im Folgejahr stattfand. Am 13. Dezember 1951 wurde, dieses Mal im Gerichtsgebäude der Stadt, gegen den John-Brinckman-Schüler Winfried Werwath geurteilt. Werwath war zwei Jahre älter als Johnson und erhielt wegen des ›üblichen‹ Vorwurfs der ›Boykotthetze‹ eine Zuchthausstrafe von zehn Jahren. Nicht nur »einige Lehrer waren anwesend« bei seinem Prozess, erinnert sich Werwath, sondern wahrscheinlich »auch Uwe Johnson, der zu der Zeit wohl noch FDJ-Sekretär unserer Schule war«.43 Schon wenige Jahre später wären Sympathiebekundungen, wie sie die Güstrower Schüler 1950 zumindest mündlich vortrugen, in Informanten-Berichten 40 Passens, Moeller (Anm. 38), S. 134. 41 N. N.: Stasi-Spitzel als Chronisten, in: … sie waren noch Schüler. Repressalien – Widerstand – Verfolgung an der John-Brinckman-Schule in Güstrow 1945–1955, hg. vom Verband Ehemaliger Rostocker Studenten (VERS), 3., erweiterte Auflage, Dannenberg: VERS 2004, S. 89– 95, hier: S. 89. 42 Stasi-Spitzel als Chronisten (Anm. 41), S. 90. 43 Winfried Werwath: Von den Weltfestspielen direkt ins Zuchthaus, in: … sie waren noch Schüler (Anm. 41), S. 119–124, hier: S. 122.
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der Staatssicherheit sind sie festgehalten, praktisch »undenkbar« gewesen.44 Seit 1952 verfolgte die Regierung den Aufbau des Sozialismus mittels des so genannten ›Verschärften Klassenkampfes‹ – gezielt wurden politische Gegner verfolgt, öffentlich denunziert und teils verhaftet. Die Güstrower Ereignisse waren aus dieser Perspektive nur Vorgeplänkel. So stand auf der Sitzung des Politbüros vom 27. Januar 1953 als sechster Tagesordnungspunkt die Junge Gemeinde zur Debatte. Sie wurde als Konkurrenz zur staatlichen Freien Deutschen Jugend wahrgenommen und sollte als gesellschaftlich aktiver und relevanter Faktor beseitigt werden. Im Sitzungsprotokoll des Politbüros ist lakonisch vermerkt: »Den Maßnahmen gegen die Junge Gemeinde wird zugestimmt.«45 Diesen Maßnahmen war ein eigener, sechsseitiger Anhang zum Protokoll gewidmet. Das einleitend formulierte politische Ziel lautete: »Entlarvung der Jungen Gemeinde in der Öffentlichkeit als einer Terrororganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage, die von westdeutschen und amerikanischen imperialistischen Kräften dirigiert wird.«46 Eine ganze Reihe konkreter Schritte wurde angeordnet, um dieses Ziel der »Entlarvung« (und Zersetzung) der christlichen Nachwuchsorganisation zu erreichen. Neben einer Anweisung an den Generalstaatsanwalt, entsprechende Prozesse zeitnah gegen Mitglieder der Jungen Gemeinde durchzuführen, sollte stark öffentlichkeitswirksam gegen die evangelische Jugendorganisation vorgegangen werden. Als wichtiger Schritt war vorgesehen, in der »Bezirkspresse der SED und der übrigen Blockparteien« fingierte Artikel »über die staatsfeindliche und demoralisierende Tätigkeit der Jungen Gemeinde« zu lancieren.47 Des Weiteren sollte eine »Verstärkung der ideologisch-politischen und kulturellen Arbeit der FDJ« betrieben werden. Diese Art der Arbeit sah »populär-wissenschaftliche Vorträge, Streitgespräche, öffentliche Diskussionen usw.« vor, die »nach einem genauen Plan an den Universitäten und Hochschulen sowie an den Oberschulen« veranstaltet werden sollten.48 So begann im Frühjahr 1953 in der DDR eine öffentlich inszenierte Verfolgung der evangelischen Jungen Gemeinde. Mit Schlagzeilen wie »Kriegshetzerische Tätigkeit unter kirchlichem Deckmantel«49 oder »Die ›Junge Gemeinde‹ – ein verlängerter Arm der amerikanischen Agenten- und Spionage-
44 Stasi-Spitzel als Chronisten (Anm. 41), S. 89. 45 Protokoll Nr. 5/53 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees am 27. Januar 1953, in: BArch, DY 30/J IV 2/2/259, S. 4. 46 Anlage Nr. 2 zum Protokoll Nr. 5/53 v. 27. Januar 1953 (P). Junge Gemeinde, in: Protokoll Nr. 5/53 der Sitzung des Politbüros (Anm. 45), S. 1. 47 Anlage Nr. 2 zum Protokoll Nr. 5/53 (Anm. 46), S. 1. 48 Anlage Nr. 2 zum Protokoll Nr. 5/53 (Anm. 46), S. 2. 49 N. N.: Kriegshetzerische Tätigkeit unter kirchlichem Deckmantel, in: Neues Deutschland, 15. 3. 1953, S. 3.
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zentralen«50 wurde Stimmung gegen die Jugendgruppen gemacht. Auch für die Universität Rostock nahmen diese Maßnahmen konkrete Form an, u. a. in einer Versammlung der FDJ-Gruppe der Philosophischen Fakultät am 5. Mai 1953, zufällig an Karl Marx’ 135. Geburtstag. Spielte Johnson bei den Güstrower Ereignissen 1950/51 noch eine eher passive Rolle, zumindest lässt sich derzeit über seine Teilhabe an den Vorgängen nichts weiter sagen, so wird er nun, knapp drei Jahre später in Rostock, aktiv werden. Diese Episode seiner Biographie ist inzwischen oft erzählt worden.51 Die wichtigsten Eckdaten dabei sind diese: Johnson sollte auf der Versammlung der FDJGruppe der Philosophischen Fakultät öffentlich gegen die Junge Gemeinde sprechen. Auch Thema und Tendenz waren ihm vorgegeben: »Die Junge Gemeinde und die Rechte der Kirche«.52 Doch Johnson verweigerte sich dem politischen Oktroi: In seinem Redebeitrag nahm er die Junge Gemeinde in Schutz, indem er deutlich machte, dass er die Vorwürfe gegen diese konfessionellen Jugendgruppen für unbegründet hielt. Er stellte klar, dass es sich bei der Jungen Gemeinde um keine zentral gesteuerte Organisationsform handelte. Von Übergriffen auf Rekruten der Roten Armee in Güstrow, über die er berichten sollte, sei ihm nichts bekannt. Er ließ seinen Beitrag in eine Fundamentalkritik münden, indem er der eigenen Regierung den »mehrfachen Bruch der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik« vorwarf.53 Ein solch konsequentes Bestehen auf Rechtsstaatlichkeit konnte den Bruch in der bis dahin vielversprechenden Biographie des Studenten markieren. Johnson will sich nichts vorwerfen lassen – weder, dass er instrumentalisiert worden sei, noch, dass er wider seine innere Überzeugung gesprochen habe – auch nicht, dass seine Rede gegen die DDR als solche gerichtet (gewesen) sei. Sein Wortbeitrag richtete sich vielmehr an die Wohlmeinenden, die es noch für möglich halten mochten, dass das Experiment DDR glücken könnte. Nicht als Revisionist oder Renegat konnte Johnson folglich vor die Parteileitung der Universität geladen und zu seinem Wortbeitrag befragt werden. Gleichwohl berichtet er, dass im Ergebnis der Vorladung seine Exmatrikulation beschlossen worden sei, sowie eine »Sperre sämtlicher Hochschulen«.54 50 N. N.: Die »Junge Gemeinde« – ein verlängerter Arm der amerikanischen Agenten- und Spionagezentralen, in: Neues Deutschland, 24. 4. 1953, S. 3. 51 Vgl. etwa Walter, Aus dem wird einmal ein Schriftsteller (Anm. 1), S. 16–20; Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson. Leben – Werk – Wirkung, Berlin: Suhrkamp 2010, S. 16–18. 52 N. N.: Referat auf der Sitzung der Parteileitung der Universität Rostock am 20. 5. 1953, in: Universitätsarchiv Rostock, Informations- und Arbeitsberichte 1950–58, FDJ 30, S. 1–15, hier: S. 12. 53 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 65. 54 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 66. Johnson selbst ist getauft und konfirmiert worden, womit sein ›christlicher Werdegang‹ aber im Wesentlichen auch schon abgeschlossen ist. Es ist bei ihm eher von einer »evangelische[n] Prägung« auszugehen, statt von tie-
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Eben zu dieser Zeit begannen die Verantwortlichen im Politbüro allerdings, von ihrem seit Sommer 1952 verfolgten Kurs des Aufbaus des Sozialismus mit Mitteln eines verschärften Klassenkampfes wieder abzurücken, und zwar auf Anweisung Moskaus. Nach Stalins Tod Anfang März 1953 erfolgte bei der sowjetischen Führung ein Umdenken über die bislang verfolgte strenge Linie, der sich nun gerade einige Monate zuvor die DDR explizit verschrieben hatte. Ein frühes Zeichen für eine Atempause im wechselseitig angespannten Verhältnis war die Zusammenkunft zwischen Vertretern der DDR-Regierung und Repräsentanten der Evangelischen Kirche am 10. Juni 1953, bei der »die Wiederherstellung eines normalen Zustandes zwischen Staat und Kirche« in Aussicht gestellt wurde. Zu diesem Zweck wurde eine Reihe von Anordnungen erlassen, deren erste lautete: »Es sind keinerlei weitere Maßnahmen gegen die sogenannte ›Junge Gemeinde‹ und sonstige kirchliche Einrichtungen einzuleiten.« An dritter Stelle wurden die Universitäten behandelt: »Alle im Zusammenhang mit der Zugehörigkeit zur Evangelischen Studentengemeinde oder sonstigen Studentengemeinden ausgesprochenen Exmatrikulationen sind sofort von dem Staatssekretariat für Hochschulwesen zu überprüfen und bis zum 20. Juni 1953 zu entscheiden.«55 Zahlreiche Exmatrikulationen wurden kassiert, der ›Neue Kurs‹ musste erst noch seinen Weg finden, vor allem in die unteren Parteiebenen. Dieser ›Neue Kurs‹ hatte hier noch keine Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik, beispielsweise auf die Arbeitsnormerhöhungen, etwa für Bauarbeiter, an denen festgehalten wurde. So kam es in der Folge, trotz der eingeleiteten Maßnahmen, politisch Schönwetter zu machen, zum dann folgenreichen Aufstand vom 17. Juni 1953. Vor dem Hintergrund dieses politischen Schlingerkurses erscheint eine angedrohte und wieder zurückgenommene Exmatrikulation Johnsons plausibel. fergehender »religiöser Sozialisation« (Rainer Paasch-Beeck: Konfirmation in Güstrow. Uwe Johnsons christliche Sozialisation bis 1949, in: Johnson-Jahrbuch, 5/1998, S. 44–59, hier: S. 46). Vgl. zur religiösen Sozialisation Johnsons auch die Studie von Paul Onasch, der in dieser Hinsicht zu dem Schluss kommt: »Auch wenn sich Johnson, der bereits in seiner Kindheit mit der Bibel und dem christlichen Glauben intensiv in Berührung kam, noch in seinen Jugendjahren vom Christentum und der evangelischen Kirche abwandte, führte dies nicht zum Ende seiner Auseinandersetzung mit religiösen Themenkomplexen« (Paul Onasch: Hat Gott gar nichts mit zu tun. Eine diskursive Ordnung biblischer Intertexte in den Romanen Uwe Johnsons, Göttingen: V&R unipress 2020, S. 41). 55 N. N.: Kommuniqué über die Besprechung von Vertretern des Ministerrates und Vertretern der evangelischen Kirche, in: Neues Deutschland, 11. 6. 1953, S. 2. In der gleichen Ausgabe wurde auf der ersten Seite ein weiteres Kommuniqué veröffentlicht, in dem die Regierung von Korrekturen und »begangenen Fehlern« hinsichtlich des Planes spricht. Es solle sich nun mehr auf die wirtschaftliche Versorgung der Bevölkerung statt auf die Schwerindustrie konzentriert werden. Auf diese beiden Kommuniqués beruft sich Johnson offensichtlich in den Begleitumständen bei seinem Bericht über die Junge Gemeinde; vgl. Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 66f.
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Sie lässt sich anhand der Unterlagen des Universitätsarchivs Rostock jedoch nicht belegen. Nur Johnson selbst bestätigt diesen Umstand, indem er sagt, dass wenn »eine Universitätsbehörde einem von der Exmatrikulation bedrohten Studenten kein Schriftstück aushändigt, auf dem geschrieben steht von der Aufhebung dieser Ordre, sind keine Vorgänge belegbar, die zu ihr geführt haben.«56 Die Lesart wäre demgemäß, dass die Exmatrikulation eben ›nur‹ angedroht, aber nicht umgesetzt wurde, sprich, dass die avisierte Exmatrikulation vor ihrer Umsetzung revidiert wurde, sodass kein offizieller, aktenkundiger Vorgang darüber existieren kann. Der politische Kurswechsel jedoch, nicht zuletzt der der Universität, schlägt sich sehr wohl, auch aktenkundig, nieder. Man kommt nun zu der – wohl verordneten – Einsicht: »Gegenüber Johnson, der frei seine Meinung äusserte, habe man falsch gehandelt.«57 Dass diese falsche Handlungsweise auch die angedrohte Relegation von der Universität Rostock mit einschließt, ist in diesem Zusammenhang wahrscheinlich. Johnson kann sein Studium in Rostock fortsetzen und legt die obligatorischen Prüfungen ab, und zwar in beachtenswerter zeitlicher Nähe zu seinem Auftritt am fünften Mai: Am 19. Mai schreibt er eine Mittelhochdeutsch-Klausur, am 21. Mai wird er mündlich in den Grundlagen des Marxismus-Leninismus mit sehr gutem Ergebnis geprüft, eine Woche später dann, am 27. Mai, kann er in der Prüfung zur ›Literatur des demokratischen Deutschland‹ ebenfalls überzeugen.58 Vor diesem Hintergrund relativiert sich die »Geschichte mit der Jungen Gemeinde«, von der Käte Walter berichtet, dergestalt, dass sie eben »nur eine Episode dazwischen« gewesen ist.59 Eine unmittelbare Kausalität zwischen Johnsons Wechsel von der Rostocker an die Leipziger Universität in Folge seines Auftritts ›für‹ die Junge Gemeinde ist somit kaum plausibel. Gegenüber der Leipziger FDJ-Gruppe allerdings bekräftigt er nach seinem Wechsel eine solche Auslegung der Ereignisse, »da ihm eine Zusammenarbeit mit den früheren Studienfreunden nicht mehr möglich schien.«60 Ein Vierteljahrhundert später, in seiner Frankfurter Poetikvorlesung, wird Johnson diese Perspektive autobiographischer Selbstinszenierung wiederholen. Nach seinem öffentlichen Auftritt hätten »alle Kommilitonen […] vergessen, warum sie weiterhin mit ihm sprechen sollten«, und wenn also die »Kommilitonen in Rostock fremd tun, wird einer für das nächste Studienjahr welche aussuchen in Leipzig«.61 Zeitzeuge Axel Walter 56 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 67. 57 Protokoll der Mitgliederversammlung der Genossen Studenten der phil. Fak. und der landw. Fak. 26. 6. 1953, in: Universitätsarchiv Rostock, Mitgliederversammlungen der SED-Grundorganisation der Phil. Fakultät 1951–1966, UPL 191, S. 1–4, hier: S. 3. 58 Vgl. Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 25f. und Bl. 37. 59 Walter, Aus dem wird einmal ein Schriftsteller (Anm. 1), S. 15. 60 Beurteilung für den Studenten Uwe Johnson (Anm. 24). 61 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 71.
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hat das »nicht so in Erinnerung«, denn jemand, »der von der Uni flog, war für uns eher ein Held«.62 Das Studium ging also seinen geordneten Gang. Dazu mag etwas beigetragen haben, das sich in einem Aktenvermerk der FDJ-Hochschulgruppe der Universität Rostock vom 23. Juli 1953 finden lässt. Das Schriftstück ging bei Johnsons Hochschulwechsel mit seiner Studentenakte nach Leipzig – es unterstellt, dass Johnson in der Unterredung mit der FDJ-Hochschulgruppe auf Linie gebracht worden sei. Von Johnsons Rede vor der FDJ-Versammlung wird darin nämlich behauptet, er habe sich dahingehend geäußert, dass man in »der FDJ […] kein offenes Wort sagen« dürfe, »es herrsche ein Spitzelsystem«. Darüber hinaus wird jedoch auch festgehalten: Die »Genossen der Parteileitung der Philosophischen Fakultät überzeugten ihn aber vom wahren Charakter einiger Führer der Jungen Gemeinde«. Im weiteren Verlauf der Diskussion konnte »der Jugendfreund J. […] von seiner falschen Meinung abgebracht werden«. Ein solcher ›Erfolg‹ der politischen Arbeit musste natürlich öffentlich gemacht werden. So ist hier weiterhin zu lesen: »In der nächsten Vollversammlung der Phi.Fak. distanzierte sich Johnson öffentlich von seinem Diskussionsbeitrag und versprach nach besten Kräften mitzuarbeiten.«63 Hinsichtlich der Fortsetzung seines Studiums in Rostock ist dieses Dokument besonders interessant. Wird hierin doch die von Johnson beschriebene Vorladung dokumentiert, und wird Johnsons (angeblicher oder tatsächlicher) ›Widerruf‹ als Argument der Rechtfertigung seines Verbleibs an der Alma Mater verwendet. Angesichts eines solch ›einsichtigen‹ Verhaltens und unter Berücksichtigung, dass Johnson »sehr kritisch veranlagt und äußerst sensibel« sei, wollte man »seinen Angriff […] nicht als Böswilligkeit auffassen«.64 Es geht hier augenscheinlich um Schadensbegrenzung, sowohl für Johnson als auch für die FDJ. In Anbetracht der drohenden Exmatrikulation hat Johnson sich womöglich zu einem Lippenbekenntnis bewegen lassen. Die FDJ-Gruppe konnte es für ihre Zwecke nutzen, um ihr Gesicht zu wahren. Aus Sicht des ›Neuen Kurses‹ hatte sie gegenüber der Jungen Gemeinde erheblich über die Stränge geschlagen, konnte die grundsätzliche Richtigkeit ihres Handelns aber mit der Einsicht des kritischen Studenten legitimieren und dank dieser Einsicht auch generös Milde walten lassen, zu der sie nun ohnehin angehalten war. Noch als Student wird Johnson seine in Schule und Universität gemachten kulturpolitischen Erfahrungen auf seine Weise resümieren. In seiner von Hans Mayer nicht benoteten Klausur über den IV. Deutschen Schriftstellerkongress 62 Walter, Aus dem wird einmal ein Schriftsteller (Anm. 1), S. 16. 63 Windisch: FDJ-Hochschulgruppe der Universität Rostock, 23. 7. 1953, Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 53. 64 Windisch, FDJ-Hochschulgruppe (Anm. 63).
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1956, von Bernd Neumann als »Paraphrase der Babendererde«,65 von Thomas Schmidt als ›Interpretation‹ des eigenen Romans und »(kultur)politische Kritik« gelesen,66 meint er dazu den rechten Ort gefunden zu haben: So lernte man auf der Oberschule die Ironie in ihren zierlichsten Spielarten, so lernten die meistens das plumpe widerliche Erlügen einer Haltung zur Demokratischen Republik, die sie nicht hatten, die sie nicht haben konnten sieben Jahre nach dem Kapitalismus und faschistischem Krieg.67
Inmitten dieser politischen Verwerfungen blieb Johnson noch ein ganzes weiteres Jahr Student der Universität Rostock und legte dabei unter anderem im April 1954 eine weitere Prüfung in den Grundlagen des Marxismus-Leninismus ab, auch diese mit sehr gutem Ergebnis: Es ist die Klausur über Wesen und Funktionen des Staates in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus.68 Noch während der Prüfungsphase (16.5.–11. 6. 1954) beantragte er dann aber seinen Hochschulwechsel. Unter dem Datum des 28. Mai 1954 benennt er sein Ziel schlicht mit »Leipzig«. Da hieß diese Universität seit gut einem Jahr schon Karl-Marx-Universität. Am 5. Mai 1953, dem Geburtstag des Namenspatrons wie auch dem Tag von Johnsons Rede vor der Philosophischen Fakultät, »verlieh […] Minister Paul Wandel in einem feierlichen Festakt […] im Auftrag der Regierung der DDR der Universität Leipzig den verpflichtenden Namen KarlMarx-Universität«.69 Sein Wechsel dorthin verlief nicht ganz ohne Stolpersteine: Johnson begründete sein Anliegen recht wortkarg, er wünschte »sein rein germanistisches Studium durch Vorlesungen über die klassische deutsche Philosophie, Philosophiegeschichte, Psychologie zu ergänzen«, und außerdem seinen »anglistischen Interessen« weiter nachzugehen.70 An der Leipziger Karl-Marx-Universität befand man diese Begründung für »recht allgemein gehalten«. Allerdings habe »Herr Prof. Frings auf Grund einer persönlichen Rücksprache […] den Eindruck 65 Bernd Neumann: Philologie und Biographie in Uwe Johnsons frühen Texten (1952–1959). Eine Annäherung, in: Uwe Johnson: »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz«. Klausuren und frühe Prosatexte, mit einem philologisch-biographischen Essay hg. von Bernd Neumann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 129–211, hier: S. 184. 66 Thomas Schmidt: Auf dem Weg zum Klassiker?, in: Johnson-Jahrbuch, 1/1994, S. 282–293, hier: S. 284. 67 Uwe Johnson: 3. Klausur im Staatsexamen. Thema 3: Welche literarischen Fragen wurden auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress im Januar 1956 behandelt?, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 19r–22v, hier: Bl. 21r. 68 Vgl. hier das entsprechende Kapitel 5 Der Primat der Politik. Zwischenprüfung über die Grundlagen des Marxismus-Leninismus. 69 N. N.: Feierliche Umbenennung der Leipziger Universität in Karl-Marx-Universität, in: Neues Deutschland, 6. 5. 1953, S. 1. 70 Uwe Johnson: Antrag auf Hochschulwechsel, 28. 5. 1954, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 23r.
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gewonnen, daß ein Hochschulwechsel in diesem Falle angebracht erscheint.«71 Offenbar hatte Johnson in diesem persönlichen Gespräch mit Theodor Frings erfolgreich für sich geworben, er beginnt sein drittes Studienjahr in der Messestadt. Wie für die Rostocker galt auch für die Leipziger Universität, »dass Hochschulpolitik bis weit in die 1950er Jahre vor allem Personalpolitik war«, wobei es an der Pleiße eine deutlich stärkere personelle Kontinuität gab als an der Warnow.72 Leipzigs ›Trümpfe‹ hießen Hermann August Korff und Theodor Frings. Beide waren dort seit den 1920er Jahren Professoren, Autoritäten auf ihren Gebieten, wie auch in der universitären Selbstverwaltung. Besonders Frings sah sich als »Landesbeamter […] dem jeweiligen politischen System zur Loyalität verpflichtet«, was wesentlich dazu beitrug, dass er seine wissenschaftliche Arbeit unter »drei unterschiedlichen politischen Systemen« fortsetzen konnte.73 Als erfahrener, gut vernetzter und engagierter ›Wissenschaftsmanager‹ war er nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich daran beteiligt, die Leipziger Universität und vor allem das Germanistische Institut wiederaufzubauen.74 Erweitert wurde das Lehrangebot schließlich durch Hans Mayer. Er wurde 1948 als Ordinarius für Kultursoziologie zugleich an die Gesellschaftswissenschaftliche wie auch die Philosophische Fakultät berufen. Dank dieses hochschulpolitischen Kniffs bei der Berufung, hatte Mayer sozusagen schon einen Fuß in der Tür, als die Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät – absehbar, denn sie diente seit 1946 als akademische Kaderschmiede für den ersten linientreuen Nachwuchs – im April 1951 aufgelöst wurde, woraufhin Mayers Professur vollständig der Philosophischen Fakultät zugeschlagen werden konnte. Das lag ganz in Mayers Interesse, hatte er sich doch – nach seiner Berufung – über Georg Büchner habilitieren lassen und strebte ein eigenes Institut für Weltliteratur und vergleichende Literaturwissenschaft an. Diese Pläne ließen sich nicht verwirklichen, so dass er ab 1952 zunächst Professor für Neuere und neueste deutsche Literatur wurde, bevor er 1957 dann Korff ›beerben‹ und den bedeutenden Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturgeschichte übernehmen konnte. Freilich gab es auch hier erhebliche Spannungen, sowohl fachlicher als auch politischer Natur, ablesbar etwa an Mayers »Insistieren auf [der] Emeritierung Korffs«.75 Trotz dieser internen Querelen – mit den Zuständen an der Warnow nicht vergleichbar –, war die
71 Walter Flämig an Jänsch, Prorektorat für Studentenangelegenheiten, 27. 7. 1954, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 21r. 72 Anna Lux: Räume des Möglichen. Germanistik und Politik in Leipzig, Berlin und Jena (1918– 1961), Stuttgart: Franz Steiner 2014, S. 139. 73 Lux, Räume des Möglichen (Anm. 72), S. 337f. 74 Vgl. Lux, Räume des Möglichen (Anm. 72), S. 352–373. 75 Boden, Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR (Anm. 28), S. 132.
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personelle Ausstattung der Universität Leipzig für den ambitionierten Germanistikstudenten ungleich attraktiver als die Rostocker: In Leipzig, der wahren Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik, gab es einmal in der Germanistik drei Möglichkeiten. Die eine hiess Frings und war der letzte König, die andere hiess Korff. Noch eine hiess Hans Mayer.76
»Ich lobe mir den nicht gemachten Vers auf die nicht denkbaren Möglichkeiten«, heißt es in Barlachs Roman Der gestohlene Mond.77 Zumal es sehr ungleiche Möglichkeiten sein können, wie das Beispiel zeigt. Korff (1882–1963) galt lange als der »wichtigste Vertreter der geistes- und ideengeschichtlichen Richtung der deutschen Germanistik«.78 Der Sprachwissenschaftler Frings (1886–1968) war seit 1952 Redaktionsleiter des Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm.79 Korff wurde 1954 emeritiert, Frings 1957. Der deutlich jüngere Mayer (1907–2001), promovierter Jurist und als marxistischer Literaturwissenschaftler ›Quereinsteiger‹ nach Jahren des Exils und der Arbeit als Journalist, war überzeugt davon, dass er »›eigentlich‹ ein Schriftsteller« sei.80 Johnson wählte sich die ›Möglichkeit Hans Mayer‹ zu seinem Lehrer in Leipzig, besuchte dessen Lehrveranstaltungen, legte mehrere Prüfungen und schließlich auch sein Examen bei ihm ab, und zwar über die ›Möglichkeitsprosa‹ Ernst Barlachs. Im Gegensatz zu Korff und Frings hatte Mayer bis zu seiner Berufung nach Leipzig keine traditionelle akademische Laufbahn absolviert. Er stand marxistischen Ideen, zumal in seiner Jugend, aufgeschlossen gegenüber, und hatte in Leipzig nun Gelegenheit, »fünfzehn Jahre lang nützlich werden« zu können, »wo man meiner bedurfte«, wie er die Lage selbst einschätzte.81 Und obwohl er einen durchaus ›bürgerlichen‹ Habitus an den Tag legte, wurde er lange Zeit als politisch verlässlich gehandelt. Er genoss Privilegien, etwa Reisen in das kapitalistische Ausland, und er durfte Einladungen an westdeutsche Schriftsteller nach Leipzig aussprechen. Andernfalls hätte er auf dem »ideologisch wichtige[n] Gebiet der neueren deutschen Literaturgeschichte« nicht über
76 Uwe Johnson: Einer meiner Lehrer, in: Hans Mayer zum 60. Geburtstag. Eine Festschrift, hg. von Walter Jens und Fritz J. Raddatz, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1967, S. 118–126, hier: S. 118. 77 Ernst Barlach: Der gestohlene Mond. Nach Ernst Barlachs nachgelassener Handschrift hg. von Friedrich Droß, Berlin und Frankfurt am Main: Suhrkamp 1948, S. 40. 78 Vgl. Deutsche Biographische Enzyklopädie, hg. von Walther Killy und Rudolf Viehaus, Bd. 6: Kogel–Maxsein, München: Saur 2001, S. 43f., hier: S. 44. 79 Vgl. Deutsche Biographische Enzyklopädie, hg. von Walther Killy, Bd. 3: Ebinger–Gierke, München: Saur 1996, S. 487f., hier: S. 488. 80 Vgl. Otto F. Beer: Hans Mayer. Ein Deutscher auf Widerruf, in: Kindlers Neues Literaturlexikon, hg. von Walter Jens, Bd. 11: Ma–Mo, München: Kindler 1990, S. 403–405, hier: S. 404. 81 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen II, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 96f.
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eine so lange Zeit aktiv sein können.82 Freilich hatte man mit ihm auch nicht unbegrenzt Geduld, und ab etwa 1957 war seine Stellung an der Universität zunehmend prekär und gefährdet – Anlass waren kritische Äußerungen über den Zustand der sozialistischen Literatur –, bis er schließlich 1963 die DDR verließ.83 In Leipzig änderte sich die persönliche Situation Uwe Johnsons gegenüber Rostock erheblich. Von Bedeutung in privater Hinsicht ist etwa der ›Leipziger Freundeskreis‹, der ihn prägen wird, wie auch die Liebesbegegnung mit seiner späteren Ehefrau Elisabeth Schmidt. Hinsichtlich seiner philologischen wie auch seiner schriftstellerischen Ambitionen ist der Einfluss Hans Mayers wohl kaum zu überschätzen. Der Leipziger Freund Klaus Baumgärtner erinnert sich an Johnsons »stupende Vertrautheit mit den Modernen, etwa mit William Faulkner«. Im Studium habe der »widerspenstige Querkopf bei Durchsicht und Bewertung aller denkbaren alten oder neuen Literatur« die Haltung eines Mannes an den Tag gelegt, »der nach Verlesung seiner fertigen Analysen im Seminar eher unter Gleichmut zu erwarten pflegte, was ihn erwarten sollte: der offen bekundete Respekt seines verehrten Lehrers Hans Mayer«.84 Die Beobachtung des Freundes deckt sich mit der des Lehrers, der von einem »unerwartete[n] Ergebnis« seiner Arbeit berichtet: Der Student, der im Seminar seinen Text vortrug, ein langer Blonder mit merkwürdigen Augen, war eine Überraschung. Nach ein paar Minuten hörten wir alle aufmerksam zu. Er las sehr gut vor, ausgezeichneter englischer Akzent beim Vortrag der Zitate aus Otway, reines Norddeutsch, ganz und gar kein Sachse also; er hatte gründlich gearbeitet. Alles paßte zueinander: eine klare Schreibweise, kluge, bisweilen boshafte Bewertungen des Otway, wie vor allem auch des Hofmannsthal. Auf irgendwelchen geistesgeschichtlichen Idealismus hatte sich dieser stud. phil. nicht eingelassen.85
Die Problematik solcher ›Erinnerungen‹ wird im Kapitel zum Otway-Referat ausführlicher beleuchtet. An dieser Stelle sei zunächst der positive Eindruck festgehalten, den Johnson bei seinem Lehrer offensichtlich hinterlassen hatte und in dessen Folge Mayer ihn in seine Sprechstunde bat. Dank dieser Einladung konnte Johnson durch »die Schleuse des Sekretariats« dringen, die eine schwer
82 Boden, Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR (Anm. 28), S. 133. 83 Vgl. dazu Boden, Universitätsgermanistik in der SBZ/DDR (Anm. 28), S. 131–134, sowie: Lux, Räume des Möglichen (Anm. 72), S. 73–76 und S. 149–153. Wie die Dokumentation von Mark Lehmstedt belegt, war Hans Mayer bereits Ende 1956 ins Visier der Staatssicherheit geraten (vgl. Der Fall Hans Mayer. Dokumente 1956–1963, hg. und kommentiert von Mark Lehmstedt, Leipzig: Lehmstedt 2007). 84 Klaus Baumgärtner: Vereinsgott, Freundesbande, Revueform. Uwe Johnsons zwei Reisen zu Eberhardt Klemm, in: Uwe Johnson: »Sofort einsetzendes geselliges Beisammensein«. Rechenschaft über zwei Reisen, hg. von Klaus Baumgärtner, Berlin: Transit 2004, S. 93–117, hier: S. 109f. 85 Mayer, Deutscher auf Widerruf II (Anm. 81), S. 111f.
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passierbare Grenze markierte; da waren »viele, die warten« mussten, man musste »sich lange vorher anmelden«.86 Es wird nicht die einzige ›Audienz‹ Johnsons gewesen sein, und in Leipzig begegnete man einander gelegentlich auch zufällig, manchmal an Orten, an denen man vielleicht nicht unbedingt aufeinandertreffen wollte. So etwa (vermutlich) im September 1955 auf den Fluren einer Polizeiwache, wo der Student einen neuen Ausweis beantragen wollte, der Professor aber, »deutlich verkleidet« und den »Hut tief in der Stirn«, seine Rückkehr in die DDR in Person bezeugen musste.87 Johnsons Bericht über diese Begegnung lässt sich die ehrfürchtige Freude darüber ablesen, dass der Professor ihn erkennt und sie sich gegenseitig die Umstände ihres Rapports auf dem Revier erzählen. Sie finden in dieser Zeit zu einem persönlichen Gespräch, und Mayer behauptet, er habe »fliessend Johnsonsch sprechen« gelernt: »er sprach ohne Zwang, sondern mit einer Verbindung von Understatement, von Zitaten und Eh-scho-Wissen, wie die Wiener sagen, wo man sich in Andeutungen verständigen kann und weiss, der andere versteht es auch. Johnson sprach so.«88 Dabei mochte Johnson Vertrauen zu Mayer gefasst haben, denn nach »einigen Gesprächen ließ er durchblicken, er habe auch selbst geschrieben, ein Erzählwerk.«89 Womöglich spielte seitens Johnsons auch Kalkül eine Rolle, stellte Mayer doch stets seine guten Kontakte zu Autoren und Verlagen heraus.90 Zuvor hatte Johnson nur seinem engsten Freundeskreis Einblicke in seinen im Entstehen begriffenen Roman gewährt. Dennoch wahrte Mayer vorläufig Distanz, wollte sich mit der ›Literatur‹ seines Studenten erst nach dessen Abschluss befassen: »Nach dem Examen les ich’s. Bis dahin müsse man für den Prüfer ein Prüfling bleiben.«91 Johnson seinerseits suchte die Nähe seines Lehrers. Zwei Versuche dieser Art sind in Gestalt von Klausuren erfahrbar, bei denen Johnson sich sowohl politisch als auch literarisch exponiert. So zeugt seine Arbeit über Heinrich Heine von der Fähigkeit, litera86 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 120. 87 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 121. 88 Hans Mayer: Unerwartete Begebenheit, in: du. Die Zeitschrift der Kultur, 1992, H. 10, S. 42–46, hier: S. 42. 89 Mayer, Deutscher auf Widerruf II (Anm. 81), S. 112. 90 Die mit Belegen sparsame Biographie Bernd Neumanns erzählt von einem vorherigen, ähnlichen Versuch Johnsons, seine literarischen Arbeiten ›an den Mann‹ bzw. die Frau zu bringen. Bereits in Rostock habe er Hildegard Emmel eine Arbeitsprobe vorgelegt: »Der Student wünschte sich, von der Lehrkraft als Autor entdeckt, ›erkannt‹ zu werden. Johnson drang geradezu auf die Beurteilung des Textes durch Hildegard Emmel: Wenige Wochen später erschien er, das Urteil einzufordern. Die erklärte, es sei unmöglich zu sagen, ob aus dem Autor dieser Novelle einmal ein bedeutender Schriftsteller werden könnte, mochte dies andererseits aber auch nicht ausschließen.« (Bernd Neumann: Uwe Johnson. Mit zwölf Porträts von Diether Ritzert, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 1994, S. 152). 91 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 123.
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risch-geistesgeschichtliche Kontexte für die Zeitläufte der Gegenwart zu instrumentalisieren. Das kurz darauf verfasste Elaborat über den IV. Schriftstellerkongress setzt sich dann nicht nur mit der tagesaktuellen Kulturpolitik auseinander, sondern drängt Mayer auch ›Literarisches‹ auf, will theoretisch wie praktisch zeigen, »was Wahrheit in der Literatur hier und jetzt sein müsse. Und das solle bitte auch Hans Mayer zur Kenntnis nehmen.«92 Für beide Arbeiten verweigerte Mayer die Bewertung, diese Verwischung der Grenze zwischen Privatem und Offiziellem wollte und konnte er offenbar nicht zulassen – so lange wenigstens nicht, so lange Johnson noch im Examen stand. Der Prüfling musste von seinen Freunden überredet werden, diese Klausuren zu wiederholen, um für seinen künftigen Werdegang – wie immer dieser sich auch gestalten sollte – einen Abschluss vorweisen zu können. Aber auch Hans Mayer sollte ›überredet‹ werden, was »zwei Mädchen« dazu veranlasste, »einen halben Nachmittag unter ihren Sachen zu prüfen, was denn nun chic genug wäre für einen Besuch bei Prof. Dr. Mayer und die Bitte«, Johnson ein weiteres Mal zu prüfen.93 Ob dieser sozusagen harmlose Vorläufer des Adorno’schen Busenattentats Wirkung entfaltete, mag angesichts des ›Opfers‹ vielleicht bezweifelt werden. Mayer war seinem Studenten jedenfalls wohlgesinnt und ließ ihn die Prüfungen wiederholen. Mit diesen beiden Ersatzklausuren, über Hebbels Dramatik und Brechts Sezuan-Stück, kann Johnson sein Studium im Juli 1956 beenden. Und schon knapp zwei Wochen später erhält er unter dem Datum des 23. Juli, drei Tage nach seinem 22. Geburtstag, sein Zeugnis mit der Gesamtnote »Gut«.94 Auch seine Hausarbeit über Ernst Barlachs Der gestohlene Mond muss da schon länger fertig gewesen sein: Laut seines Zeugnisses hatte er sie bereits zum 15. November des Vorjahres angemeldet. Am Tag nach seinem Geburtstag schickt Johnson das Typoskript von Ingrid Babendererde an den Aufbau-Verlag – er hatte sich offenbar entschieden, es als Schriftsteller zu versuchen, und zwar als Schriftsteller in der DDR: Ihm liege »daran daß die Ihnen vorliegende Skripte ein Buch wird [sic] in der Demokratischen Republik.«95 Doch mit diesem Anliegen scheiterte Johnson beim Aufbau-
92 Manfred Bierwisch: Begleitumstände – Ansichten von Uwe Johnson. Gespräch mit Manfred Bierwisch, Joachim Menzhausen und Jürgen Becker aus Anlass von Uwe Johnsons 70. Geburtstag, Strandhalle Ahrenshoop, 20. Juli 2004, in: Johnson-Jahrbuch 18/2011, S. 16–36, hier: S. 23. 93 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 124. 94 Karl-Marx-Universität Leipzig: Zeugnis über die Universitäts-Abschlußprüfung für die Fachrichtung Deutsch, Herr Uwe Klaus Dieter Johnson, 23. 7. 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 1. 95 Uwe Johnson an den Aufbau-Verlag, 21. 7. 1956, in: … und leiser Jubel zöge ein. Autoren- und Verlegerbriefe 1950–1959, hg. von Elmar Faber und Carsten Wurm, Berlin: Aufbau Ta-
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Verlag und auch noch anderen Verlagen. Er wird stattdessen Gelegenheitsaufträge erhalten, bei denen er immerhin seinem ›offiziellen‹ Berufsziel, dem des Lektors, ein wenig näherkommt und als ›freier Mitarbeiter‹ Gutachten verfassen wird. Dazu verhalf ihm offensichtlich Hans Mayer, auf den sich Johnson bei seiner Bewerbung beruft: »Herr Professor Mayer machte mich darauf aufmerksam daß Sie unter Umständen eine Honorararbeit an mich vergeben würden.«96 Eine feste Anstellung in der DDR blieb ihm aber verwehrt. Diese Gutachten wie auch seine weiteren literarischen Bemühungen sind nicht mehr Gegenstand dieser Arbeit, einen Ausblick darauf bietet das abschließende Kapitel. Dass Johnson sich durchaus ernsthaft um eine Anstellung bemüht hat, nach Gesetzeslage der DDR auch bemühen musste, davon zeugen seine Versuche, in verschiedenen Verlagen dezidiert als Mitarbeiter und nicht als Schriftsteller Fuß zu fassen. Auch Ersuche um Arbeit in anderen Bereichen bleiben ohne Erfolg. Johnsons Bestreben, eine Position im literarischen Feld im weiteren Sinne zu erlangen, mag ihm einen Beruf auf anderem Gebiet verwehrt haben. So blieb sein Versuch, in der Funktion eines »Kulturellen Beirates in einer Maschinen-Traktoren-Station« eine Anstellung zu finden, erfolglos, denn einerseits sei sein »Studium hier ganz unanwendbar und eigentlich noch durch einen besonderen Lehrgang zu vervollständigen«, und andererseits sorgte man sich, er würde diese »Funktion sofort verlassen aus guten Gründen, wenn die Möglichkeit wissenschaftlicher Arbeit sich biete.«97 Sein früher und expliziter Wunsch, als Lektor zu arbeiten, erwies sich in der planwirtschaftlichen Realität als wenig aussichtsreich oder war für ihn zu wenig flexibel auslegbar – fast klingt das nach Ironie. Die Vergeblichkeit seiner Arbeitssuche hatte aber vielleicht noch einen weiteren Grund: Paul Fröhlich. Dieser war bereits seit Anfang der 1930er Jahre KPDMitglied, während der nationalsozialistischen Herrschaft versuchte er sich zunächst auch im Widerstand, war dann von 1939 bis zu seiner Desertion 1944 als Wehrmachtssoldat im Kriegsdienst, und nach Kriegsende aktiv am Aufbau der SED beteiligt. Er vertrat die Parteilinie mit Härte und konnte sich dadurch profilieren und politisch reüssieren. So wurde Fröhlich 1950 Erster Sekretär der Kreisleitung der Stadt Leipzig, wo er in der Folge unter anderem direkt verantwortlich zeichnete für den Schießbefehl auf die Leipziger Demonstranten des 17. Juni 1953; später forcierte er maßgeblich die Sprengung der Leipziger Uni-
schenbuch 1992, S. 184. Die dort abgedruckte Transkription hat im Briefdatum »1966« statt des richtigen 1956; vgl. diesen Brief im Uwe Johnson-Archiv unter UJA/H/150873. 96 Uwe Johnson an Günter Caspar, 11. 5. 1957, in: … leiser Jubel (Anm. 95), S. 189. 97 Uwe Johnson an das Ministerium für Kultur, die Hauptverwaltung Verlagswesen, Herrn Elsholz, 12. 3. 1957, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150902.
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versitätskirche St. Pauli. Amtsvorgänger Karl Schirdewan charakterisierte seinen Nachfolger Fröhlich als einen »intelligenzfeindlichen Radikalinski«.98 Problematisch an der Vermutung, Fröhlich habe Johnsons Anstellungsverbot betrieben, ist allein deren Quelle: Hans Mayer. Der Leipziger Professor hatte die Angewohnheit, in seinen Büchern nach Gusto Bezüge herzustellen, ohne dafür Belege zu liefern. Und so findet sich in Der Turm von Babel die Behauptung: »Den namenlosen Exstudenten Uwe Johnson hat er [Paul Fröhlich; AK] verfolgt und eine Anstellung verhindert, die ein Einkommen gesichert hätte.« Nachweise dafür bleibt Mayer schuldig, er gerät vielmehr ins Fabulieren, Fröhlich solle Johnson »einmal kennengelernt haben, um zu dem Ergebnis aller Cäsaren zu kommen: ›Er denkt zuviel. Solche Leute sind gefährlich‹.« Nun war Fröhlich allem Vernehmen nach kein Shakespeare-Kenner und Mayer in diesem Fall kein belastbarer Zeuge; schließlich hat er »Fröhlich nur ein einziges Mal gesprochen«.99 Bevor sich Johnson aber mit seiner prekären Stellung auf dem ›Arbeitsmarkt‹ der DDR wird auseinandersetzen müssen, lange bevor er seinen ersten Roman veröffentlichen wird, der schon sein zweiter war, hatte er zunächst hoffnungsvoll ein Studium zu absolvieren. Im Folgenden sollen seine Studienarbeiten näher betrachtet werden, von denen Einblicke und Aufschlüsse seiner literarischen Entwicklung zu erwarten sind. Dabei geht es um von Johnson verfasste Texte zur Literatur und die Frage, was sie über ihren Verfasser, seinen historischen Ort in der frühen DDR verraten und möglicherweise über seinen späteren Werdegang als Autor andeuten können.
98 Karl Schirdewan: Ein Jahrhundert Leben. Erinnerungen und Visionen. Autobiographie, Berlin: edition ost 1998, S. 240. 99 Hans Mayer: Der Turm von Babel. Erinnerungen an eine Deutsche Demokratische Republik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 156f. [Hervorh. im Original]. Das von Mayer behauptete Anstellungsverbot für Johnson durch Fröhlich wird seither immer mal wieder von der Johnson-Forschung aufgegriffen. Bislang bleibt Mayer die einzige Quelle dafür.
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Überlegungen zum Werkbegriff
Die frühen Studienarbeiten Uwe Johnsons haben zwar, seit sie in Bernd Neumanns Edition erschienen sind, eine literaturkritische Rezeption erfahren, doch Gegenstand eigener Erörterungen sind sie nicht geworden. Das liegt nicht so sehr daran, dass sie unbedeutend wären, sondern vielmehr daran, dass sie bislang nicht zu Johnsons Werk gezählt worden sind, und zwar aus naheliegenden Gründen: Bei dem Bewerbungsaufsatz, den Klausuren und Referatsmanuskripten handelt es sich, wenn man so will, um anlassbezogene Gebrauchstexte. Sie wurden dem Studenten Johnson von verschiedenen Prüfern im Rahmen eines restriktiven Lehrplans abverlangt. Ihnen kann prima facie nicht die Intention künstlerischen Ausdrucks unterstellt werden, sie sind stattdessen als Pflichterfüllung im Rahmen einer universitären Ausbildung verfasst worden. Somit handelt es sich um Sachtexte, in denen als Antwort auf eine jeweils konkrete Aufgabenstellung hin informiert, dargestellt und gegebenenfalls argumentiert wird. Welchen Stellenwert haben diese Arbeiten heute? Kann aus der Tatsache, dass Johnson einige von ihnen bis zu seinem Tod aufbewahrt hat, schon geschlossen werden, dass sie für ihn von Bedeutung waren? Man kann diese Frage positiv beantworten, ohne zu wissen, was sie ihm genau bedeutet haben. Diese Arbeiten markierten für Johnson womöglich wichtige Stationen seiner Biographie, insbesondere hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Literatur. Ein Bewusstsein dafür, dass es ein Interesse an ihm beziehungsweise seinem nicht publizierten Schaffen wie etwa Briefen oder Manuskripten geben würde, lässt sich zumindest für den Schriftsteller Johnson nachweisen. Wichtiger jedoch ist die Frage, was die studentischen Arbeiten dem heutigen Leser bedeuten können. Aus heutiger Perspektive sind es Dokumente seiner Biographie, die punktuell Stationen seiner Ausbildung kennzeichnen, und deren zumindest biographische Relevanz sich aus der späteren Stellung ihres Verfassers nachträglich ergeben hat. Wie sind sie zu lesen, zu verstehen und im (oder zwischen) Leben und Werk Johnsons zu verorten?
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Überlegungen zum Werkbegriff
Zu einem Teil berühren diese Überlegungen eine grundsätzliche und immer wieder diskutierte Problemstellung aller philologischen Forschung – nämlich die Frage nach ihrem Gegenstand. In seinen folgenreichen diskursanalytischen Studien diskutierte Michel Foucault diese Frage mehrfach, vor allem im Hinblick auf die Rolle des Autors. Er kommt dabei nicht umhin, einen Autor mit dessen Werk in Beziehung zu setzen und formuliert so – gewiss nicht als erster – fundamentale Orientierungsfragen, die auch die Beschäftigung mit Johnsons Studienarbeiten betreffen: »Was ist ein Werk? Worin besteht diese merkwürdige Einheit, die man als Werk bezeichnet? Aus welchen Elementen besteht es? Ist ein Werk nicht das, was derjenige geschrieben hat, der der Autor ist?« […] Wenn jemand kein Autor ist, könnte man dann sagen, dass das, was er geschrieben oder gesagt hat, das, was er in seinen Papieren hinterlassen hat, das, was man von seinen Äußerungen berichten kann, »Werk« genannt werden könnte? […] Aber nehmen wir an, dass man es mit einem Autor zu tun hat: ist dann alles, was er geschrieben hat, alles, was er hinterlassen hat, Teil seines Werks? Ein zugleich theoretisches und praktisches Problem.100
Diese Fragen konnten weder vor Foucault, von Foucault noch seither abschließend beantwortet werden, sie werden bis heute erörtert. In der philologischen Praxis ist immer wieder zu entscheiden, welche Texte und Zeugnisse zu einem Werk gerechnet und welche davon ausgeschlossen werden. Auch die Literaturmuseen und Literaturarchive haben sich mit solchen Fragestellungen zu beschäftigen: Gehört Ernst Jüngers Käfersammlung zu seinem Werk? Gehört Paul Celans Privatbibliothek in das Deutsche Literaturarchiv Marbach? Sind die Lektüren von Marx und Engels in die MEGA aufzunehmen, mitsamt ihren Anstreichungen und Annotationen? Und wo führt das hin? Auf Ergebnisse theoretischer Erwägungen kann im praktischen Umgang mit Literatur nicht gewartet werden. So erforderte beispielsweise die sukzessive Entstehung und Entwicklung von Literaturarchiven seit dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert pragmatische Lösungen, die sich u. a. in Kassationsregeln niederschlugen. Es liegt seitdem somit in den verantwortungsvollen Händen der 100 Michel Foucault: Was ist ein Autor? (Vortrag), in: ders., Schriften zur Literatur, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jaques Lagrange, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 234–270, hier: S. 240. Weder Roland Barthes noch Foucault noch die ihnen folgenden Poststrukturalisten vermochten die Kategorie des Autors für die Betrachtung von Werkstiftung und Werkrezeption zu eliminieren. Erreicht wurde aber immerhin eine »Akzentverschiebung«, durch die der Autor für einige Zeit aus dem Fokus gerückt wurde, zugunsten einer Konzentration auf das Werk. Im Ergebnis kann heute festgestellt werden, dass »die Frage nach dem Autor mit dem Postulat seines Todes keineswegs obsolet« geworden ist (Torsten Hoffmann, Daniela Langer: Autor, in: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen, Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe, hg. von Thomas Anz, Sonderausgabe, Stuttgart: Metzler 2013, S. 131–170, hier: S. 132).
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Archivare, die so genannte Überlieferungs- bzw. Archivwürdigkeit, wie es im Fachjargon heißt, eines ihnen anvertrauten Objekts, Autors oder Nachlasses zu prüfen. Literaturarchive fällen in der Regel Einzelfallentscheidungen. Denn es gibt keine allgemeingültigen Normen pro oder contra ›Archivwürdigkeit‹, und es wird sie auch nicht geben können.101 Grundsätzlich hält man es in Fachkreisen für »wünschenswert«, endlich »die Entwicklung von Kassationsstandards in Literaturarchiven voranzutreiben.«102 Die Herausforderung besteht zum einen Teil darin, dass ein Schriftstellernachlass selten einem anderen gleicht; zum anderen Teil verändern sich nach wie vor, und somit wahrscheinlich auch künftig, die Maßstäbe und Kriterien der Bewertung dessen, was als überlieferungswürdig angesehen wird. So erklären die inzwischen von vielen deutschen Archiven berücksichtigten Regeln zur Erschließung von Vor- und Nachlässen und Autographen für ein praktisches Regelwerk erstaunlich allgemein: »Als unwesentlich identifizierte Ressourcen wie z. B. Mehrfachkopien oder mehrere Exemplare eines Sonderdrucks, ggf. auch Teile eines Bestands, können je nach Rechtslage oder bei vertraglicher Vereinbarung mit der Bestandsbildnerin oder dem Bestandsbildner ausgesondert, d. h. kassiert werden.«103 Dieser kurze Blick in die Praxis der Literaturarchive zeigt ein Problem auf, wenn es nicht gar nur ein Symptom des grundsätzlich gleichen Problems ist, dem sich auch die Philologien, speziell die Literaturwissenschaften, gegenübergestellt sehen: Was ist das Werk? Vermutlich nicht zufällig haben sich Literaturarchive mit ihrer autorzentrierten Praxis in historischer Nähe beziehungsweise Folge und zu großen Teilen parallel zur zunächst literarisch-literaturkritischen Genie- und Autonomieästhetik104 und dann literaturwissenschaftlichen Diskussion des Autor- und Werkbegriffs herausgebildet. 101 Um hier nur an das wohl prominenteste Beispiel zu erinnern: »Selbst das erste mit vollem Bedacht an die Nachwelt vermachte Autoren-›Archiv‹, der Nachlass Goethes, litt bis zuletzt an der Kassation von angeblich nicht-überlieferungswürdiger Korrespondenz durch seinen Bestandsbildner« (Bernhard Fischer: Literaturarchive als Forschungsarchive. Archiv und Edition, in: Geschichte der Germanistik. Historische Zeitschrift für die Philologien, H. 51/52, 2017, S. 106–119, hier: S. 108, Anm. 6). 102 Martin Willems: Kassation im Literaturarchiv: Praxis oder Tabu?, in: Der Archivar 66, 2013, H. 2, S. 165–168, hier: S. 168. 103 Ressourcenerschließung mit Normdaten in Archiven und Bibliotheken (RNAB) für Personen-, Familien-, Körperschaftsarchive und Sammlungen. Richtlinie und Regeln, Berlin, Bern, Wien: 2019, Version 1.0 (Januar 2019), S. 12. Die Archivare sind so im Wesentlichen auf sich gestellt, indem die RNAB-Regeln zwar ausführlich erläutern, welche Dinge aufbewahrenswert sind, woraus sich aber nicht zwangsläufig ex negativo Kassationsregeln ableiten lassen. – Den Terminus ›Vorlass‹ führte Jochen Meyer, langjähriger Leiter der Handschriftenabteilung des Deutschen Literaturarchivs (Marbach) in die Diskussion ein, als er mit Ernst Jünger über dessen Archivbestände verhandelte. 104 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurde »der Autor allmählich genialisiert und das Werk auf eine spezifische Weise enigmatisiert« (Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte
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Demgemäß ist die Frage nach dem Status eines Textes als Werk gerade an der Schnittstelle von Literaturarchiv und Literaturwissenschaft, der Editionswissenschaft, von zentraler Bedeutung. Und das Internationale Jahrbuch für Editionswissenschaft bietet eine prima facie ebenso naheliegende wie einleuchtende Definition des Werkbegriffs von Gunter Martens, die insbesondere der editorischen Praxis Rechnung trägt: »Ein Werk ist eine Textfassung, die der Autor selbst veröffentlicht hat oder die er für eine Veröffentlichung vorgesehen hat.«105 Dieser Begriffsbestimmung folgt etwa Paul Onasch bei seiner Untersuchung Einer diskursiven Ordnung biblischer Intertexte in den Romanen Uwe Johnsons. Er kann damit einigermaßen hinreichend plausibel begründen, weshalb er den postum publizierten Roman Ingrid Babendererde (1985) in seiner Untersuchung berücksichtigt.106 Schwieriger allerdings gestaltet sich sein Versuch, auf dieser Grundlage den ebenfalls postum veröffentlichen Text Heute Neunzig Jahr (1996) aus Johnsons Werk auszuschließen. Zwar entspricht dieser insofern einem Werk im Sinne Martens’, als eine durch einen Verlagsvertrag belegte »Veröffentlichungsabsicht« dokumentiert ist, jedoch der Zustand des Textmaterials löse nicht den – Johnson unterstellten – Anspruch eines abgeschlossenen Werks ein.107 Tatsächlich sei das »Romanfragment eine Vorstufe zu den Jahrestagen«,108 die Johnson, so Onaschs Gewährsmann Norbert Mecklenburg, »unter normalen Umständen wohl kaum zur Veröffentlichung gegeben hätte«.109 Folgt man Martens’ Terminologie weiter, so gehörte das Fragment Heute Neunzig Jahr gemäß Mecklenburgs Analyse in den Bereich eines ›Werkzusammenhangs‹, nämlich einer »Gruppe von Texten, die in einem genetischen Zusammenhang mit einem Werk stehen.«110 In Martens’ überzeugender Begriffsbestimmung zieht ein Autor »die Grenzen, die ein Werk ausmachen« selbst, er »bestimmt Anfang und Ende der so entstehenden Einheit, grenzt aber auch ab von Äußerungen, die nicht als Werk an-
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kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin: de Gruyter 2007, S. 27). Gunter Martens: Das Werk als Grenze. Ein Versuch zur terminologischen Bestimmung eines editorischen Begriffs, in: editio 18, 2004, S. 175–186, hier: S. 179 [Hervorh. im Original]. So ganz eindeutig ist die Sache nicht, denn Johnson hat die Entscheidung auf seinen Verleger und Nachlassverwalter abgewälzt. Onasch, Hat Gott gar nichts mit zu tun (Anm. 54), S. 17. Onasch, Hat Gott gar nichts mit zu tun (Anm. 54), S. 17. Norbert Mecklenburg: Zur gemeinsamen Entstehung von Heute Neunzig Jahr und Jahrestage. Eine philologische Studie, in: Uwe Johnson: Heute Neunzig Jahr, aus dem Nachlaß hg. von Norbert Mecklenburg, Frankfurt am Main 1996, S. 147–193, hier: S. 152. Die Uwe Johnson-Werkausgabe hingegen folgt dieser Auslegung Mecklenburgs und Onaschs nicht, sondern kündigt Heute Neunzig Jahr als achten Band der Abteilung Werke an (vgl. Uwe Johnson. Rostocker Ausgabe, Prospekt und Editionsplan, Berlin: Suhrkamp 2017, S. 3). Martens, Das Werk als Grenze (Anm. 105), S. 181.
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zusehen sind.«111 Johnsons Studienarbeiten können demzufolge nicht als Werk gelten, da der überaus heikle Autor sie nie und nimmer publiziert hätte. Doch kann es auch andere Überlegungen geben als die – alles in allem schlüssige – Argumentation von Gunter Martens. Johnsons Studienarbeiten bilden, jede für sich, eine mindestens textuelle und thematische Einheit: Sie sind klar strukturiert und begrenzt, sie tragen sogar Verfasser- und Titelangaben und sind an ein spezifisches Publikum adressiert. Jedoch fehlt ihnen eine entsprechende Publikationsabsicht; die Klausur, die vielleicht ein Dozent und bestenfalls noch ein wissenschaftlicher Assistent zu lesen bekommt, und das Referat, das einem Seminar von vielleicht 20 Studenten und einem Professor vorgetragen wird, können nicht als Publikation gelten. Sie sind nicht durch das Merkmal ›Publikationsabsicht‹ (im Sinne Martens’) charakterisiert. Außerdem unterliegen diese Arbeiten als individuelle Leistungsnachweise einem besonderen Schutzrecht, das einer Publikationsmöglichkeit bis auf weiteres widerspricht. Aber nicht nur der Autor kann Grenzen ziehen, auch das Werk selbst konstituiert sich durch Differenz: »Die Grenze ist dem Werk wesentlich«, konstatiert Karlheinz Stierle in seiner großen Monographie Ästhetische Rationalität: »Das Werk ist die ideale Mitte zwischen der Intention seines Urhebers und der Aneignung durch seinen Rezipienten.«112 Den Studienarbeiten Johnsons jedoch fehlt dieser appellative Charakter des Werks: Diese Arbeiten evozieren keine Welt, als »deren Mittelpunkt« sie sich setzen; sie wollen keine eigene ästhetische Wirkung hervorbringen, dergestalt, dass sie kraft ihrer »eigenen inneren Verweisungsdichte einen Hof virtueller Fortsetzbarkeiten« schaffen, der rezeptionsseitig »eine ihm zugehörige Welt« stiftet.113 Diese Studienarbeiten bleiben daher gewissermaßen Halbwelt, Halbwerk. Es fehlt ihnen die »offene Potentialität« des Kunstwerks, die »seiner eigenen Reflexionsstruktur« sowohl kompensatorisch wie auch komplementär die »Einvernahme« durch die Rezeption abverlangt.114 Diese Arbeiten sind selber Rezeptionszeugnisse, aber eben keine Werke. Erst durch eine Editionspraxis werden sie zum Teil des Werks (werden), erst dadurch, dass sie zum Mittelpunkt von Betrachtungen gemacht werden, erfahren sie jene »virtuelle[n] Fortsetzbarkeiten«, die sich sonst »[ j]edes Werk […] kraft seiner eigenen inneren Verweisungsdichte« erzeugt.115 Dies jedoch war ursprünglich nicht ihr Ziel und entspricht auch nicht der damaligen Intention ihres Autors. Entsprechend fehlt
111 Martens, Das Werk als Grenze (Anm. 105), S. 178f. 112 Karlheinz Stierle: Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München: Fink 1997, S. 15. 113 Stierle, Ästhetische Rationalität (Anm. 112), S. 15. 114 Stierle, Ästhetische Rationalität (Anm. 112), S. 15. 115 Stierle, Ästhetische Rationalität (Anm. 112), S. 15.
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ihnen auch die Rezeption als der kritische Resonanzraum, den sich ein jeder Werkstifter für das von ihm geschaffene Werk erhofft. Was jedoch Johnsons Studienarbeiten ursprünglich genau intendierten, ist nicht so ohne weiteres zu bestimmen. Zu heterogen sind sie in ihrer Anlage: Teils erreichen sie ehrgeizig das Seminarziel (Johnsons Otway-Referat), teils enttäuschen sie die formalen Erwartungen des akademischen Lehrers, sodass keine Bewertung erfolgen kann (Johnsons Heine-Klausur). Teils auch spielen sie mit Material aus dem Umfeld von Johnsons erstem Roman Ingrid Babendererde (das Elaborat über den IV. Deutschen Schriftstellerkongress). Ist damit, mit diesem Hybrid aus Theorie und Praxis, die Frage nach dem Werk und dem Werkzusammenhang nicht wieder offen? Johnson jedenfalls versuchte, Hans Mayer in seine Kreise zu ziehen, ihn gar nach Güstrow (zu sich und Barlach) zu locken; und er wollte ihn mit seinen ersten Gehversuchen als Autor vertraut machen. Stilgestisch gesprochen, spielte er schon in seinen Studienarbeiten mit poetischen Ausdrucksformen, die sein späteres Werk prägen sollten. Vielleicht hoffte er auf das kritische Auge seines akademischen Lehrers, denn Mayer war ja auch als Kritiker und als Herausgeber literaturkritischer Arbeiten tätig. Jedoch wollte dieser eine Vermengung von Räumen der Literatur und des Studiums vermeiden, und vertröstete Johnson auf später, als dieser ihm ein Romanmanuskript vor Augen halten wollte. Und so erfuhren auch Johnsons Studienarbeiten, so disparat und heterogen sie im Einzelnen sein mochten, zwar die Bewertung, die das universitäre Milieu zulässt, nicht aber die kritische Würdigung, die ein Werk im literarischen Leben erfährt. Grundsätzlich kann (und sollte) Literatur in das Universitätsmilieu vordringen: So wurde beispielsweise Joseph von Westphalen 1977 bei Konrad Feilchenfeldt in München mit einem literarischen Essay über ein (selbst gedichtetes) Versepos promoviert – eine poetische Arbeit, die Jahre später (1989) in einem literarischen Verlag (Klaus G. Renner, München) erschienen ist.116 Diese Phantasmagorie hätte man sich auch bei Johnson und Mayer vorstellen können, zwei Persönlichkeiten, die in der Wissenschaft niemals ganz heimisch wurden (selbst wenn sie sich, wie Mayer, so gebärdeten), die beide mit Philologie im strengen Sinn nichts am Hut hatten, sondern das literarische Leben suchten. Mayer, phänotypisch der ›Adorno Leipzigs‹, strebte wie dieser dem stets überfüllten Hörsaal zu, hatte aber nicht dieselbe fachliche Qualifikation – was er durch ein übergesundes Selbstbewusstsein wettzumachen wusste: er wurde Choleriker.
116 Vgl. Joseph von Westphalen: Sinecure. Ein Gedicht von David Elphinstone (d. i. Joseph von Westphalen), hg., kommentiert und mit einer Übersetzung versehen von Joseph von Westphalen, München: Renner 1989 (David Elphinstone’s gesammelte Werke in kommentierten Einzelausgaben, Bd. XII: Sinecure. A Poem [entstanden 1977]).
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Wurde die dokumentierte Publikationsabsicht und damit eine wesentliche Eigenschaft des Werkcharakters des Textes von Johnsons Heute Neunzig Jahr postum und gerade durch den Herausgeber Mecklenburg negiert, so kann für die Studienarbeiten Johnsons nun aber eine teils gegenläufige Beobachtung gemacht werden: Zwar sind diese Texte ohne Publikationsabsicht verfasst worden, dennoch wurden sie postum veröffentlicht und werden, wenn auch noch zögerlich, im Werkzusammenhang diskutiert, womit das Tor zum ›Hof virtueller Fortsetzbarkeiten‹ aufgestoßen ist. So erkennt – man möchte sagen: ausgerechnet – Paul Onasch, zugegeben in Bernd Neumanns Nachfolge, eine enge Verbindung zwischen Johnsons Referat über Thomas Otway und einem Kapitel von Ingrid Babendererde, und Uwe Neumann skizziert eine Linie von Johnsons Kafka-Referat in das gleiche Werk; Robert Gillett schließlich zieht diese beiden Referate heran, um Johnsons Expertise für die literarische Biographie auszustellen.117 Damit sind diese Studienarbeiten ihrem originären Kontext zu einem gewissen Grad enthoben und dem Werk näher gerückt. Wiewohl sie auch dadurch selbst nicht als Werk gelten können, hat sich ihr Status doch verändert. Die postume Realisierung der Publikationsabsicht Ingrid Babendererdes hat in diesem Fall eine sozusagen retrospektive Fortsetzbarkeit gezeitigt, die zuvor kaum gegeben war, nicht möglich gewesen ist. Dergestalt einmal begonnen, rücken die Studienarbeiten als lohnenswerte Objekte der Beschäftigung, nicht nur im Reflex auf das Werk, in den Fokus literaturwissenschaftlicher wie literarhistorischer Aufmerksamkeit. Somit gilt hier für Johnsons Textzeugen aus Schüler- und Studienarbeiten, noch immer unter dem Vorbehalt, dass sie nur zum Teil als ›Werk‹ im skizzierten Sinne angesehen werden können: »das Interesse am Einzelwerk, das über seinen Kontext im Gesamtwerk gestiftet wird, kann seinerseits auf das Gesamtwerk und dessen Verhältnis zu weiteren literaturgeschichtlichen Kontexten erweitert werden.«118 Auf Johnsons Œuvre bezogen ließe sich entsprechend sagen: Das Interesse an Ingrid Babendererde gründete sich in Johnsons bis dahin bekanntem Gesamtwerk, und auf die Publikation dieses Erstlings folgte sodann die Beschäftigung mit dessen weiteren Kontexten, zu denen unter anderem auch die Studienarbeiten gehören. Das entspricht einerseits der Chronologie der postumen Veröffentlichung dieser Texte (Ingrid Babendererde 1985, die Studienarbeiten 1992), andererseits folgt das noch seltene literaturwissenschaftliche Interesse graduell der ›Werkhaftigkeit‹ (Martens) dieser Arbeiten, indem zunächst die mit dem Roman eng verbundenen Arbeiten betrachtet wurden (Bernd 117 Vgl. zu Onasch hier: S. 121 und S. 264 sowie zu Uwe Neumann hier: S. 299, und schließlich: Robert Gillett: Uwe Johnson und Life Writing. Ein Vorschlag, in: Johnson-Jahrbuch, 17/2010, S. 11–32, hier besonders: S. 26–28. 118 Martus, Werkpolitik (Anm. 104), S. 19.
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Neumann, Onasch, Uwe Neumann), die entfernter scheinenden Texte hingegen bislang kaum (andeutungsweise Gillett). Damit reagiert die Johnson-Forschung recht langsam auf die bereits 1994 von Ulrich Fries vorausschauend formulierte Forderung: »Die literaturwissenschaftlichen Arbeiten, Prosaskizzen und Verlagsgutachten Johnsons müssen in den Zusammenhang des Gesamtwerks gestellt werden. Sie werfen ein Licht auf das spätere Werk, sind aber auch erst von ihm her zugänglich.«119 Je bedeutender ein Autor, desto weiter wird sein Werkzusammenhang gefasst. Bei Goethe gehört (schier) alles zum Werk, selbst das Haus am Frauenplan. Auch bei Kafka kann alles, was der Autor hinterlassen hat, zum Werk erklärt werden. Entsprechend begründen sich die Erlöse, die für Kafka-Funde erzielt werden. Uwe Johnsons Erbe steht mitten in einer fundamentalen Bedeutungsverschiebung hinsichtlich der Rezeption von Autornachlässen und damit auch der Aufgaben von Literaturarchiven. Diese Entwicklung begann bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit der zunehmenden Wahrnehmung und Wertschätzung der Bedeutung von Literaturarchiven durch die Autoren für ihre Werkstiftung: »Insofern Leben und Werk des Autors im Archiv als integrales Lebenswerk sichtbar werden, ist der Nachlass auch mehr als bloß die Dokumentation des publizierten Werks, sondern er schafft überhaupt erst den (biographischen) Kontext, von dem aus das Werk in seiner Gesamtheit wahrgenommen werden kann.«120 Das Literaturarchiv ist nicht nur ein Aufbewahrungsort für Lebens- und Werkdokumente, sondern insbesondere die »Basis für die posthume Überlieferung des Werks im Sinne der Nachwirkung beziehungsweise des literarischen Nachruhms«.121 Das prominente Beispiel Franz Kafkas, der seine Manuskripte vernichtet wissen wollte, demonstriert ein Maximum potenziellen und tatsächlichen Nachruhms wie zugleich auch das Bewusstsein des Autors und seines Nachlassverwalters für diese Wirkungsmacht. Dieses Bewusstsein seitens der Autoren (nicht nur Kafkas, und nicht nur Max Brods, sondern generell) führte schließlich zur heute üblichen Vorlasspraxis, bei der es der Autor ist (oftmals in Verbindung mit einem Archivar), der den für die Nachwelt bestimmten Teil seines Lebens und Schaffens auswählt, um dem Archiv eine »bis zu einem gewissen Grad intentional geformte Masse« zu überreichen: »Gemessen am Kriterium der Publikation als Werkgrenze bedeutet dies in der logischen Konsequenz, dass Vorlässe als öffentlich zugängliche Archivbestände
119 Ulrich Fries: Zum gegenwärtigen Stand der Beschäftigung mit Uwe Johnson, in: JohnsonJahrbuch, 1/1994, S. 222–259, hier: S. 237f. 120 Magnus Wieland: Werkgenesen. Anfang und Ende des Werks im Archiv, in: Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs, hg. von Lutz Danneberg, Annette Gilbert, Carlos Spoerhase, Berlin: de Gruyter 2019, S. 213–235, hier: S. 228. 121 Wieland, Werkgenesen (Anm. 120), S. 228.
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an Werkcharakter gewinnen«.122 Dazu entsenden Literaturarchive (gelegentlich Verlage) fachlich versierte Mitarbeiter in die Privatwohnungen der Autoren, um Umfang und Wert des Vorlasses zu taxieren. Nicht immer ist damit freilich schon das weitere Schicksal des Vorlasses besiegelt.123 Der Autor Uwe Johnson war sich seiner Stellung und Rolle als Person öffentlichen Interesses bewusst. Nur als ein halber Scherz kann somit seine an Hans Magnus Enzensberger adressierte »Ueberlegung« aus dem Jahr 1966 gelten, »dass die Gesamtausgabe unseres Briefwechsels auf mindestens zwei Baende angelegt ist, und zwar im Duenndruck.«124 Warum insistiert Johnson auf Dünndruckpapier? »Klassiker-Ausgaben«, schreibt Albert Kapr in seinem Standardwerk zur Buchgestaltung, »werden oft in einem halben oder einem ganzen Dutzend Bänden gedruckt. Wie angenehm ist hier die Dünndruck-Ausgabe, die denselben Text in wenigen Bänden zusammenfaßt!«125 Kapr hebt hervor, dass zwischen dem Werk und dem Papier eine Relation der Angemessenheit und Ausgewogenheit herrschen müsse. Johnson reiht sich hier also, halb im Ernst, halb scherzhaft, in die Riege der modernen Klassiker ein, zu der man Enzensberger bereits zählen darf, »und dazu gehört eben auch die Papierwahl«, die »der Absicht des Autors« entsprechen muss.126 Die Ausdehnung des Werks auf den Briefwechsel ist heute eine Selbstverständlichkeit – die Ausdehnung des Werks auf Schüler- und Stu-
122 Wieland, Werkgenesen (Anm. 120), S. 230. 123 So erwog Johnson Ende 1982, unabhängig von seinem Testament, den Verkauf der Manuskripte seiner bislang veröffentlichten Romane (vgl. Uwe Johnson an Siegfried Unseld, 23. 12. 1982, in: Uwe Johnson, Siegfried Unseld: Der Briefwechsel, hg. von Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 1033–1035). Dieser Verkauf kam nicht zustande, die Texte verblieben bei ihm und gingen an das Johnson-Archiv in Frankfurt am Main, das dann noch zweimal umzog. Und als Jutta Bendt, langjährige Leiterin der Bibliothek des Marbacher Literaturarchivs, ihre Assessorarbeit über den Vorlass von Johnsons ›Mecklenburger Kollegen‹ Walter Kempowski schrieb, war noch lange nicht absehbar, was damit dereinst geschehen würde. Der Plan der Landesbibliothek Hannover, einen entsprechenden ›Raum‹ für Autoren des Bundeslandes Niedersachsen zu schaffen, zerschlug sich nämlich (vgl. Jutta Bendt: Das Kempowski-Archiv in der Landesbibliothek Hannover. Überlegungen zu Konzeption und Bestand, Hausarbeit zur Prüfung für den Höheren Bibliotheksdienst, Fachhochschule für Bibliotheks- und Dokumentationswesen in Köln, Köln 1987). 124 Uwe Johnson an Hans Magnus Enzensberger, 26. 8. 1966, in: Hans Magnus Enzensberger, Uwe Johnson: »fuer Zwecke der brutalen Verstaendigung«. Der Briefwechsel, hg. von Henning Marmulla und Claus Kröger, Frankfurt am Main 2009, S. 134f., hier: S. 134. 125 Albert Kapr: Buchgestaltung. Ein Fachbuch für Graphiker, Schriftsetzer, Drucker, Buchbinder, Retuscheure, Reproduktionstechniker, Photographen, Hersteller, Verleger, Buchhändler, Bibliothekare, Autoren und alle, die Bücher lieben, Dresden: VEB der Kunst 1963, S. 66. 126 Kapr, Buchgestaltung (Anm. 125), S. 66.
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dienarbeiten könnte dereinst Standard werden, jedenfalls bei bedeutenden Autoren.127 In seinem Testament aus dem Jahre 1975 erklärte Johnson dann für seinen Nachlass, offenbar mit Bedacht auf sein nicht nur ihn betreffendes Privatleben: »Es darf nichts veröffentlicht werden, das nicht eindeutig literarischer (fictional) Art ist.«128 Für die Publikation dieser ›fictional art‹ wurde dem Verleger Siegfried Unseld ein Vorrecht eingeräumt. Einige Jahre später setzt Johnson ein neues Testament auf, wodurch das vorherige aufgehoben und nun erklärt wird, dass »all meine veröffentlichten und unveröffentlichten Arbeiten, alle Manuskripte, Briefe […], Akten, Tonbänder, Notizen […] sowie die Urheberrechte und alle sonstigen Rechte und Vorrechte daran an die Suhrkamp Verlag K.G.« gehen sollen.129 Ohne den darauf folgenden Erbstreit hier nachzeichnen zu können (oder zu wollen),130 bleibt im Ergebnis festzuhalten, dass Johnson damit einem Publikumsverlag eine Generalvollmacht für die Verwertung seines Nachlasses ausgestellt hat. Damit ist zwar explizit noch keine Publikationsabsicht des Autors ausgedrückt, implizit aber doch wenigstens ein Einverständnis zu postumen Veröffentlichungen erklärt; und somit der gesamte Nachlass graduell dem editionsphilologischen Werkbegriff näher gerückt. Das testamentarisch bekundete Einverständnis setzt Johnsons Nachlass in die Nähe der modernen Vorlasspraxis, und für diese gilt, dass sie »auch Auswirkungen auf den Werkbegriff« hat, da »die Übergabe eines Vorlasses aus der privaten Sphäre in die öffentliche Hand des Archivs als starkes Indiz eines Veröffentlichungswunsches gewertet werden kann.«131 War es im Falle Johnsons zwar (zunächst) nicht »die öffentliche Hand des Archivs«, sondern die halböffentliche einer Arbeitsstelle der Frankfurter Goethe-Universität, so muss die Übergabe an einen an Publikationen interessierten und ökonomisch orientierten Verlag die Wahrscheinlichkeit einer Veröffentlichung in einem sogar 127 Zögerlich erfolgte beispielsweise die Edition des Briefwechsels zwischen Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze, der erst 2016 komplett erfolgte, nachdem Benns Briefe an Oelze bereits Ende der 1970er Jahre publiziert worden waren. Vgl. Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932–1956, 4 Bde., hg. von Harald Steinhagen, Stephan Kraft und Holger Hof, Stuttgart/Göttingen: Klett-Cotta/Wallstein 2016. 128 Uwe Johnson: Testament von Uwe Johnson (beglaubigte Übersetzung), 16. 10. 1975, in: Heinrich Lübbert: Der Streit um das Erbe des Schriftstellers Uwe Johnson, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 20–25, hier: S. 22. 129 Uwe Johnson: Testament von Uwe Johnson (beglaubigte Übersetzung), 22. 3. 1983, in: Lübbert, Der Streit um das Erbe (Anm. 128), S. 39–42, hier: S. 39. 130 Vgl. für einen Überblick diese beiden Rezensionen: Ulrich Fries: Nirgends ist die Erhabenheit des Hausverwalters so fühlbar … oder: When the shit hit the fans. Zu: Werner Gotzmann, Uwe Johnsons Testamente oder Wie der Suhrkamp Verlag Erbe wird, in: Johnson-Jahrbuch, 4/1997, S. 232–250, und: Klaus Kokol: Das zweite Buch über einen Prozeß. Zu: Heinrich Lübbert, Der Streit um das Erbe des Schriftstellers Uwe Johnson, in: Johnson-Jahrbuch, 6/1999, S. 319–330. 131 Wieland, Werkgenesen (Anm. 120), S. 230.
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noch höheren Grad bedeuten und Johnson bedeutet haben, als es bei einem Archiv der Fall gewesen wäre. Der Suhrkamp Verlag begann dann auch recht zeitnah mit der Herausgabe von Fundstücken aus dem Nachlass, bereits ein Jahr nach dem Tod des Autors erschien der Roman Ingrid Babendererde, und es wurde eine eigene NachlassReihe begonnen, die Schriften des Uwe Johnson-Archivs. Es lohnt ein genauerer Blick auf diese Publikationspraxis. Darin spielt ein weiterer, nämlich ein medialer Aspekt eine Rolle, den Stierle wie folgt umreißt: »Das Werk ist undenkbar ohne ein Medium, in dem es sich zur Erscheinung bringt. Wenn das Werk seine eigene immanente Reflexivität besitzt, so ist es doch zugleich auf sein Medium bezogen.«132 Zwar hat der Suhrkamp Verlag als Johnsons Hausverlag auch seine Studienarbeiten herausgegeben, doch hat er sie – im Unterschied etwa zu Ingrid Babendererde – nicht als eigene Werke vorgelegt, sondern als Publikationen, die der Werkpflege des Autors dienen sollen. Diese (Zusatz-)Publikationen bilden selber eine Art ›Hof‹, der die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf das (eigentliche) Werk lenken soll. Diese verlegerische Praxis, die beispielsweise in der Ausstattung dieser Publikationen zum Ausdruck kommt, flankiert die Œuvre-Pflege eines Publikumsverlages, der bei seinen wichtigen Autoren deren Gesamtwerk betreuen möchte, dergestalt, dass er als Autorenverlag auch das Nach- und Nebenwerk zu publizieren trachtet und keine Publikation anderen Verlagen überlässt. Dies gilt in der Regel auch für Rechteverwertungen, etwa in der Erschließung des Taschenbuchmarktes für Hauptwerke. So kam die erste Taschenbuchausgabe von Johnsons Roman Mutmassungen über Jakob im S. Fischer Verlag als Nummer 457 der Fischer-Bücherei nur deshalb zustande, weil Suhrkamp damals (1962) weder eine eigene Taschenbuchreihe noch einen eigenen Taschenbuchverlag hatte. Verleger Unseld erläuterte diese Verlags- und Werkpolitik seinem Autor bei den Vorbereitungen zum Dritten Buch über Achim: »Das Buch sollte in der traditionellen Form unseres Verlages, also in Leinen, gebunden sein. Später machen wir dann eine Taschenbuchausgabe, wie ich jetzt auch die ›Mutmassungen‹ dem Fischer Verlag für eine Taschenbuch-Ausgabe 1962 geben möchte.«133 Die erste eigene Taschenbuchreihe startete mit der edition suhrkamp dann im Mai des Folgejahres 1963 mit Bertolt Brechts Leben des Galilei (das suhrkamp taschenbuch folgte 1971). Tatsächlich erschien Johnsons Roman hier dann erst 1992 als Band 818 der nach 1 000 Bänden begonnenen Neuen Folge der edition suhrkamp.
132 Stierle, Ästhetische Rationalität (Anm. 112), S. 15. 133 Siegfried Unseld an Uwe Johnson, 25. 5. 1961, in: Johnson-Unseld-Briefwechsel (Anm. 123), S. 134–139, hier: S. 135.
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Diese Werkpolitik der Verlage wird in der Rezeption genau beachtet. Während Johnsons nachgelassener Roman Ingrid Babendererde im Suhrkamp-Hauptprogramm als Werk angekündigt und von der Literaturkritik entsprechend gewürdigt wurde, etwa mit einer großen Rezension Joachim Kaisers in einer Literaturbeilage der Süddeutschen Zeitung,134 erschienen Johnsons Studienarbeiten in anderer Ausstattung als Nebenwerke und wurden entsprechend blasser rezipiert. Zwar ließ ihr Auftritt mit englischer Broschur auf Sorgfalt des Verlages auch hier schließen – freilich, was diese erhoffte Sorgfalt anbelangt, müssen sich Herausgeber und Lektor Vorhaltungen gefallen lassen (doch dazu später mehr) –, gleichwohl erschienen diese Bücher nicht als Werke, sondern als Beiwerk zu den Werken: die eigens konzipierte Archivreihe unterstreicht diesen Status. Die sich gerade etablierende Johnson-Forschungsgemeinde nahm diese Publikationen mit gelindem Interesse zur Kenntnis, begrüßte sie einerseits durchaus, bedauerte aber andererseits, dass darin nur Stückwerk ans Licht komme, »eklektisch herausgerissen« aus dem Nachlass, »piecemeal« – man hoffte schon damals auf eine Werkausgabe.135 Die Archivreihe signalisierte dem interessierten Leser auch, dass die Konzeption dieser Bände nicht eigentlich im Verlag erfolgte, sondern im Raum der Wissenschaft, denn das Johnson-Archiv war damals der Frankfurter Goethe-Universität angegliedert und unterstand einem ihrer Mitarbeiter, Eberhard Fahlke. Dieses Outsourcing eines wesentlichen Teils des Johnson’schen Werkkomplexes, bzw. in noch zu bestimmendem Maße des Johnson’schen Werkzusammenhangs im Sinne Martens’, zeitigt Folgen bis heute, etwa dergestalt, dass die Neuedition dieser Jugend- und Studienarbeiten nicht etwa am Anfang der ansonsten chronologisch orientierten AkademieAusgabe steht, sondern für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen ist. Am Anfang steht als erster Band der Abteilung ›Werke‹ Ingrid Babendererde, weil dieser Roman zum ›eigentlichen Werk‹ gezählt wird und gezählt werden muss.136 Freilich trägt der Publikationsplan auch pragmatischen Erwägungen Rechnung, dergestalt, dass Ingrid Babendererde zwar die Bandnummer 1 (der ersten Abteilung ›Werke‹) trägt, gleichwohl aber, wegen der antizipierten Editionsarbeit, voraussichtlich erst 2029 veröffentlicht werden wird. Die mit der Bandnummerierung der Abteilung ›Werke‹ angezeigte Werkgenese greift jedoch nur zum Teil in der Abteilung ›Schriften‹, zu der die studentischen Arbeiten gerechnet werden. 134 Vgl. Joachim Kaiser: … so eine jungenhafte, genaue Art. Uwe Johnsons Erstling, der die literarische Welt verändert hätte, in: Über Uwe Johnson, hg. von Raimund Fellinger, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 20–25 (zuerst in: Süddeutsche Zeitung, 25. 4. 1985, S. 43). 135 Fries, Zum gegenwärtigen Stand der Beschäftigung mit Uwe Johnson (Anm. 119), S. 236. 136 Vgl. dazu Onasch, der plausibel erläutert, weshalb von Ingrid Babendererde »als einem Werk Johnsons gesprochen werden« kann (Onasch, Hat Gott gar nichts mit zu tun (Anm. 54), S. 19).
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Sie stehen hier mit der Bandnummer 6 eher am Ende dieser Abteilung; später verfasste, jedoch zu Lebzeiten Johnsons publizierte Arbeiten, etwa Berliner Sachen und Der 5. Kanal gehen mit den Nummern 1 und 2 voran. So schlagen sich in dieser Abteilungs- und Bandgliederung editionsphilologische Erwägungen nieder, wie sie hier dargelegt wurden: Die Abteilung Werke geht von einem engen Werkbegriff aus, zu dem ohne jeden Zweifel Ingrid Babendererde zu zählen ist. Die Schriften werden hierarchisch sozusagen nach dem Grad ihres Werkzusammenhangs ediert, wobei den zu Lebzeiten des Autors veröffentlichten Texten ein höheres Maß an Werkhaftigkeit zugeschlagen wird, als den erst postum oder bislang überhaupt nicht publizierten Texten. Die geheime und offenbare Rationalität solcher Entscheidungen soll hier keineswegs bestritten werden, doch darf sie nicht dazu führen, dass Johnsons Studienarbeiten weniger beachtet, weniger wertgeschätzt, weniger sorgfältig ediert werden. In der Vergangenheit war dies leider so. Das fahrlässige Lektorat durch Raimund Fellinger, die offensichtlichen Transkriptionsfehler durch Bernd Neumann machen noch heute ratlos.137 Die Neuedition dieser Arbeiten im Rahmen der Akademie-Ausgabe ist für 2025 vorgesehen und verfolgt das Ziel, den Vorgaben einer wissenschaftlichen Erschließung und Kommentierung gerecht zu werden und auch diesen Nebenwerken Resonanzräume zu eröffnen, wie sie das ›eigentliche Werk‹ schon längst erfahren hat. Die zusammenfassende Klammer dieser Edition ist der Autor Johnson, unter seinem Namen wird eine Vielfalt von Textsorten subsumiert und, abgesehen von der notwendigen Nummerierung und einer groben Abteilungsgliederung (Werke, Schriften, Briefe), in Ausstattung und Präsentation gleichberechtigt nebeneinandergestellt.138
137 So zeugt es von Gleichgültigkeit dem zu edierenden Gegenstand gegenüber, Namen vom Romanfiguren kommentarlos fehlerhaft aus Johnsons Handschrift zu transkribieren, (vgl. hier: S. 79, Anm. 220). Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn dazu historische Fakten unberücksichtigt bleiben, und so etwa im Kontext eines Romans, der an der Ostfront des Ersten Weltkriegs spielt, umstands- und gedankenlos »Ober-Ort« dem Leser zu entziffern (vgl. hier: S. 78, Anm. 217). Johnson an anderer Stelle »Verbundenheit mit der Nation« ›schreiben‹ zu lassen, wo er doch tatsächlich von »Verbundenheit mit Materie« sprach (vgl. hier: S. 85, Anm. 238), kann schon zu gravierenden Sinnentstellungen führen. – Diese Beispiele stammen nur aus der ersten hier behandelten Arbeit Johnsons. Wo immer nötig, werden diese Transkriptionsschwächen im Folgenden vermerkt. Diese Edition der Studienarbeiten, die auch ohne Besehen der Originale Transkriptionsmängel erkennen lässt, führte u. a. zu der Entscheidung, in der vorliegenden Untersuchung stets auf das Original zurückzugreifen. 138 Die Uwe Johnson-Werkausgabe weckt somit streng genommen falsche Erwartungen, denn da sie auch Briefe und Schriften veröffentlicht, darunter eben auch eindeutig nicht-literarische Texte ohne Werkcharakter, wäre sie eher als eine Gesamtausgabe zu bezeichnen – sofern die Herausgeber für all diese Texte nicht ›Werkhaftigkeit‹ behaupten wollen. Es wird sich aber erst noch zeigen müssen, inwieweit durch diese Veröffentlichungen der Blick auf dieses Gesamtwerk und die Werkhaftigkeit seiner Teile erhellt wird.
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Überlegungen zum Werkbegriff
So ließe sich in Erweiterung Wielands sagen, dass die historisch-kritische Edition aus dem Nachlassmaterial »überhaupt erst den (biographischen) Kontext« einem breiteren Publikum zur Verfügung stellt, damit »das Werk in seiner Gesamtheit wahrgenommen werden kann.«139 Jedoch stellt sich die Frage, inwiefern die spätere Autorschaft als Begründung taugen mag für die Beschäftigung mit und die Publikation von Texten (gerade in einer Werkausgabe), die vor beziehungsweise außerhalb der eigentlichen Autorschaft, sprich Werkstiftung, entstanden sind; und zwar insbesondere über ›bloße‹ biographische Datensammlung hinaus: Lässt sich aus diesen Texten etwas über den Autor, den Verfasser literarischer Provenienz, erfahren, oder, wie Foucault fragte: »ist dann alles, was er geschrieben hat, alles, was er hinterlassen hat, Teil seines Werks?«140 Diese Frage ist, wie man sieht, individuell je anders zu beantworten. Auf die Gefahren, die mit ihrer Beantwortung einhergehen können, wenn Lebensdokumente gleichberechtigt neben Werke gestellt und als solche ediert und interpretiert werden, hat überdeutlich Woody Allen mit Metterlings Wäschelisten hingewiesen.141 Erschwerend kommt hinzu, dass bei Johnsons weder eindeutig literarischen noch autobiographischen Texten weder die literaturwissenschaftlichen Regeln des Textverstehens und -deutens noch etwa die Vereinbarungen eines ›autobiographischen Pakts‹ (Lejeune) streng genommen greifen können. Die heute allgemein akzeptierte »Unterscheidung zwischen dem realen Autor und dem fiktiven Erzähler« hat in Johnsons Studienarbeiten keine Gültigkeit.142 Ebenso wenig kann ihnen die Intention eigener Lebensbeschreibung unterstellt werden – es sind zuallererst Zeugnisse eines Lebens. Um die Werkhaftigkeit respektive die Zugehörigkeit zum Werk festzustellen oder auszuschließen, um eine fundierte Aussage über den Status und die potenzielle Bedeutung dieser Texte im und für das Schaffen Johnsons treffen zu können, müssen diese Texte im Einzelnen genauer untersucht werden: Dabei 139 Wieland, Werkgenesen (Anm. 120), S. 228. 140 Foucault, Was ist ein Autor? (Anm. 100), S. 240. 141 Mit seiner fingierten Rezension der fingierten Edition der Wäschelisten eines Hans Metterlings demonstriert Allen die möglichen Auswüchse »selektionsloser Aufmerksamkeit« (Martus, Werkpolitik (Anm. 104), S. 2) in den Editionswissenschaften, in deren Folge alles editiert (und kommentiert) wird, was einem Autor zugerechnet werden kann. Vgl. Woody Allen: Die Metterling-Listen [The Collected Laundry Lists of Hans Metterling; 1969], in: ders., Wie du mir, so ich dir, München: Rogner & Bernhard 1978, S. 7–14. Eine ähnlich ›überinterpretierte‹ Wäscheliste steht auch im Zentrum von Umberto Ecos Roman Das Foucaultsche Pendel (dt. 1989), der nicht nur den Physiker Jean Bernard Léon Foucault in den Blick nimmt, sondern auf klandestine Weise auch den Sozialwissenschaftler und Diskursanalytiker Michel Foucault. Vgl. dazu Lutz Hagestedt: Foucault im Doppelpack? Umberto Ecos poetische Wissenschaft vom Wahnsinn der Gesellschaft, in: Ecos Echos. Das Werk Umberto Ecos. Dimensionen, Rezeptionen, Kritiken, hg. von Tom Kindt und HansHarald Müller, München: Fink 2000, S. 95–107. 142 Hoffmann, Langer, Autor (Anm. 100), S. 133.
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sind ihre jeweiligen historischen wie auch individuell-biographischen Entstehungsbedingungen zu berücksichtigen; eine Klausur als Leistungskontrolle findet in einem anderen Rahmen und unter anderen Voraussetzungen statt, als es bei einem Referat oder einem Aufsatz der Fall ist. Dazu gehört auch, dass diese Arbeiten innerhalb eines marxistisch-leninistischen Bildungssystems verfasst worden sind, und somit ein Niederschlag ideologischer Einflüsse zu vermuten steht; womit auch ein Adressatenbezug einhergeht, den es zu berücksichtigen gilt, indem diese Prüfungsarbeiten stets zu einem bestimmten Zweck und in den meisten Fällen auch für einen bestimmten Rezipienten verfasst worden sind. Die Referate sind als ausformulierte Manuskripte erhalten, womit jedoch keineswegs gesagt ist, dass Johnson sie auch genau so vorgetragen hat, der Aspekt ihrer Performanz kann auf dieser Grundlage bestenfalls spekulativ erahnt werden. Somit bleibt in diesen Fällen nur der schriftlich fixierte Text als Untersuchungsgegenstand. Zumal wiederum nicht auszuschließen ist, dass diese Manuskripte – an althergebrachte akademische Traditionen anknüpfend – wortgetreu vorgelesen wurden. Da es sich in allen Fällen um Sachtexte handelt, sind sie entsprechend zu befragen: nach ihren Themen, verhandelten Gegenständen und aufgeworfenen Problemstellungen; nach ihrem strukturellen Aufbau, insbesondere hinsichtlich Abfolge, Art und Weise von Informations- und Argumentationsstrategien; nach ihrer sprachlichen Ausgestaltung, etwa hinsichtlich rhetorischer, grammatischer und fachsprachlicher Eigenschaften und Besonderheiten; nach Wertungen, die ihr Verfasser ex- oder implizit vorgenommen hat. Die Ergebnisse einer solchen Analyse und die sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen können dann etwas über den Verfasser dieser Arbeiten, über seine Art mit Texten umzugehen verraten. Und zwar sowohl hinsichtlich der Rezeption, indem Johnson über (zumeist literarische) Texte schreibt, als auch hinsichtlich der Produktion, indem er selbst Texte verfasst. Wie bei literarischen ist auch bei diesen explizit nicht literarischen Texten Vorsicht geboten vor allzu engen ›Kurzschlüssen‹ zwischen Text und Autor. Naheliegend erscheint daher, sich am Modell des impliziten Autors Wayne C. Booths zu orientieren, und zwar im Sinne einer Aussage über den Verfasser, die »ein vom Text erzeugtes Konstrukt meint.«143 So erlauben Struktur, Sprache, Argumentationsstrategien und Intertexte durchaus Rückschlüsse auf einen derart impliziten Autor, der irgendwo »zwischen dem Erzähler und dem realen Autor eines Textes anzusiedeln« ist.144 Da die Institution des Erzählers hier nun gar nicht vorkommt, kann davon ausgegangen werden, dass eine solche ReKonstruktion sogar dichter am realen Verfasser zu verorten ist, als es der implizite Autor literarischer Texte sein kann. Flankierend können historisch-bio143 Hoffmann, Langer, Autor (Anm. 100), S. 132. 144 Hoffmann, Langer, Autor (Anm. 100), S. 132.
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graphische Informationen die konkreten Schreibsituationen und somit potenzielle Textintentionen erhellen. Die an diese Texte zu stellende Frage muss also lauten: Welche Merkmale und Eigenschaften werden an ihnen ersichtlich, und stehen diese mit der Autorschaft (nicht dem Autor!) Johnsons in Verbindung? Erst auf dieser Grundlage kann dann über die Werkzugehörigkeit entschieden werden. Wird die Rolle des Autors und seiner Absichten bei der Definition des Werkbegriffs häufig als ausschlaggebendes Kriterium angesehen, so gibt es freilich auch Gegenbeispiele, die in Rechnung zu stellen sind. Beispielsweise hat der englische Staatssekretär Samuel Pepys sein berühmtes Tagebuch, das er von 1660 bis 1669 führte, nicht als Werk konstituiert. Er hat es in einer Geheimschrift geführt und sogar vor einer möglichen Rezeption durch andere sorgfältig verborgen, sodass es erst lange nach seinem Tod entdeckt wurde und entziffert werden konnte. Gleichwohl gehört es heute ohne Zweifel zur Weltliteratur und zu einer der wichtigsten historischen Quellen der Frühen Neuzeit in England. Auch in anderen Fällen musste die Nachwelt dem Verfasser zu Hilfe kommen, um ihn zum Autor und seine Hinterlassenschaft als Werk zu stipulieren.145 Das ist so selbstverständlich, dass dieser Vorgang in der Belletristik häufig auch – ironisch gebrochen oder satirisch zugespitzt – erzählt worden ist.146 Vielfach wird hier der Autor auch von fremder Einflussnahme dominiert. An solche Fälle mag man denken, wenn man – als Literarhistoriker, als Editionswissenschaftler – ein ›Werk‹ als Produkt seiner Wirkungsgeschichte interpretiert, denn »Werk und Wirkungsgeschichte bringen sich wechselseitig allererst im Verlauf der Geschichte hervor.«147 Weit verbreitet ist nach wie vor die Auffassung, die – wie Siegfried Scheibe – jede Entstehung eines Werkes als »historische[n] Prozeß« begreift, demzufolge bereits Vorstufen, verschiedene Fassungen und Teilfassungen eines Textes zum ›Werk‹ zählen.148 So könnte man etwa das Todesarten-Projekt Ingeborg Bachmanns unter ein solches Werk aus Vorstufen und Fassungen zählen, ein Werk, 145 Zu denken wäre etwa an das Tagebuch Anne Franks. Eine fundierte und gelungene Rekonstruktion der Text- und Veröffentlichungsgeschichte bietet Philippe Lejeune: Wie Anne Frank ihr Tagebuch bearbeitete, in: ders., »Liebes Tagebuch«. Zur Theorie und Praxis des Journals, aus dem Französischen von Jens Hagestedt, hg. von Lutz Hagestedt, München: belleville 2014, S. 195–235. Daraus ist zu ersehen, wie gerade solche ›Egodokumente‹ (wie beispielsweise Tagebücher), Probleme bei der Zuordnung zum Werk bereiten. 146 Ein prominentes Beispiel dafür wäre Ludwig Tiecks ›Märchen-Novelle‹, Das alte Buch und die Reise ins Blaue hinein (1834), die Arno Schmidt in seine Bibliothek ›Haidnischer Alterthümer‹ aufnahm. 147 Roland Reuß: Text, Entwurf, Werk, in: Text 10, 2005, S. 1–12, hier: S. 10. 148 Siegfried Scheibe: Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe, in: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation, hg. von Gunter Martens und Hans Zeller, München: Beck 1971, S. 1–44, hier: S. 4.
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das mit der Veröffentlichung ihres Romans Malina (1971) nur scheinbar bereits abgeschlossen war. Denn in gewisser Weise hatte der zunehmend ungeduldiger werdende Verleger Unseld der Autorin Mitte Oktober 1970, nach langem Drängen, bloß eine ›Vorfassung‹ ihres keineswegs ›fertigen‹ Romans abgenötigt und sie – in seinen Augen ›endlich!‹, in ihren Augen ›viel zu früh!‹ – als Hauptwerk erscheinen lassen. Mit der Folge, dass heute, nach Erscheinen der Kritischen Ausgabe des Todesarten-Projekts, die publizierte Erstfassung von Malina von manchen als Torso und als ›schmerzlichste aller Wunden‹ empfunden wird. Der Verleger hingegen sieht sich als Geburtshelfer, der dafür Sorge trägt, dass ein Autor seine Vorhaben zu einem guten Ende führt – man mag an Uwe Johnsons Jahrestage denken, die nach Erscheinen des dritten Bandes ins Stocken geraten waren. Der Verleger hingegen bezieht Brechts Wort aus der Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration auf sich selbst: »Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. | Darum sei der Zöllner auch bedankt: | Er hat sie ihm abverlangt.«149 Daher bedeutet jede Publikation für einen Text eine Zäsur, gleichviel, ob der Autor damit zufrieden ist oder nicht: Sein Text überschreitet eine Grenze, »erhält einen neuen Status, nimmt Werkcharakter an, in dem die Intention des Autors – im doppelten Sinn – aufgehoben ist«.150 Dem Autor bleibt, diese Grenze dahingehend wieder auszuwischen, dass er eine neue Grenze zieht: So tat es Peter Weiss, als er seinen Roman Die Ästhetik des Widerstands für die Lizenzausgabe im Ost-Berliner Aufbau-Verlag seiner ursprünglichen Textgestalt und Intention wieder stärker annäherte, so dass heute zwei publizierte Fassungen (›Werke‹) vorliegen. »Die Ausarbeitung des Textes erfolgt also stets in der Form«, so führt Scheibe weiter aus, »in der sie dem Autor in diesem Augenblick richtig, am besten erscheint«.151 Dies widerspricht der landläufigen Vorstellung, ein Text werde erst mit seiner Veröffentlichung zu einem Werk, und nur dieser »Zustand des Werks, in dem es der Autor der Öffentlichkeit übergeben hat«, sei seine allein gültige und zu berücksichtigende Gestalt.152 Scheibe verknüpft seine Begriffsbestimmung mit der Beobachtung, dass nicht wenige Autoren auch nach der Publikation »nicht selten« die Möglichkeit wahrnehmen, »zu ändern, umzuarbeiten, neue Fassun-
149 Bertolt Brecht: Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 12: Gedichte 2, Sammlungen 1938–1956, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin/Frankfurt am Main: Aufbau-Verlag/Suhrkamp 1988, S. 32–34, hier: S. 34. 150 Martens, Das Werk als Grenze (Anm. 105), S. 179 [Hervorh. im Original]. 151 Scheibe, Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe (Anm. 148), S. 4. 152 Scheibe, Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe (Anm. 148), S. 4.
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gen herzustellen«.153 Ernst Jünger wäre ein prominentes, ja notorisches Beispiel eines solchen Autors, der viele seiner Einzelwerke immer wieder geändert, überarbeitet und dem jeweiligen Zeitgeist angepasst hat – sein Erstling In Stahlgewittern liegt in etlichen Fassungen vor, seine Tagebücher unter dem Titel Strahlungen wurden mehrfach überarbeitet und erweitert, sein Roman Heliopolis wurde für die erste Werkausgabe gekürzt. Und auch Uwe Johnson selbst war an der bestmöglichen Form seines Werks intrinsisch interessiert, wie schon an einer Detail-Episode sichtbar wird: Walter Kempowski, mit ›Mecklenburgica‹ aller Art ähnlich vertraut wie Johnson, weist seinen Kollegen bei der Lektüre des ersten Bandes der Jahrestage auf eine historische Ungenauigkeit hin: »Bei einer Neuauflage sollte man vielleicht lieber ›Rostocker Anzeiger‹ statt ›Rostocker Zeitung‹ schreiben.«154 Johnson kommt diesem Wunsch nach, und so ist es ab der nächsten Auflage nachzulesen. Für Johnsons Studienarbeiten gelten diese Überlegungen nur bedingt, da hier keine solche Veröffentlichungsabsicht vorlag. Das Nachlassmaterial zeigt, dass Johnson diesen Texten bis zu seinem frühen Tod nicht mehr viel Aufmerksamkeit geschenkt, geschweige denn an ihnen gearbeitet hat; zum Teil auch lagen sie für ihn unerreichbar im Archiv der Leipziger Karl-Marx-Universität. Vielmehr dürfen die von Neumann postum herausgegebenen Textkorpora als Konglomerate verschiedener Lebensstationen betrachtet werden, die vor der eigentlichen Autorschaft Johnsons liegen. Man könnte analog zu Norbert Mecklenburg argumentieren, dass Johnson sie in der vorliegenden Form »unter normalen Umständen wohl kaum zur Veröffentlichung gegeben hätte«.155 Auf der einen Seite zählen Johnsons Studienarbeiten nicht zu seinem Werk. Auf der anderen Seite ist aber zu fragen, ob dieses Werk ohne diese Studienarbeiten möglich gewesen wäre, und zwar nicht in einem engen werkgenetischen, sondern in einem werkstiftenden, zum Werk hinführenden und befähigenden Sinn. Neben offensichtlichen, am Text nachweisbaren Bezügen, spielen hier auch weniger offensichtliche Verbindungs- und Entwicklungslinien eine Rolle. Die Studienarbeiten, vor allem die literaturwissenschaftlichen, haben auf die litera153 Scheibe, Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe (Anm. 148), S. 4. Für die in der Regel historisch orientierte wissenschaftliche Betrachtung hält Scheibe unmissverständlich fest: »Es gibt ebensowenig prinzipielle Unterschiede in der Wertigkeit zwischen den gedruckten und den handschriftlichen Fassungen wie zwischen frühen und späten Fassungen eines Werks (einschließlich der sogenannten ›Ausgabe letzter Hand‹): jede hat die gleiche historische Berechtigung, jede ist Repräsentant des Werks und des Autors zu einem konkreten historischen Zeitpunkt« (ebd., S. 6). 154 Walter Kempowski an Uwe Johnson, 16. 4. 1971, in: Uwe Johnson, Walter Kempowski: »Kaum beweisbare Ähnlichkeiten«. Der Briefwechsel, hg. von Eberhard Fahlke und Gesine Treptow, Berlin: transit 2006, S. 12–22, hier: S. 20. 155 Mecklenburg, Zur gemeinsamen Entstehung von Heute Neunzig Jahr und Jahrestage (Anm. 109), S. 152.
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rische Entwicklung des Autors Johnson eingewirkt. Das betrifft seine Themen, sein (literarisches) Sprechen, auch Arbeits- und Schreibweisen sowie schließlich persönliche Beziehungen im Literaturbetrieb: Der in einem studentischen Referat behandelte englische Theaterkonflikt findet sich in einem Roman wieder. Allen diesen Arbeiten ist ein je spezifischer Gestus des Sprechens zu eigen, der vom zu erwartenden Duktus studentischen Ausdrucks abweicht und einem verständigen Leser bzw. Hörer eine implizite Haltung des Sprechers signalisiert. Die hier zu zeigenden Methoden der Recherche und der produktiven Aneignung von Wissen und Texten, wie auch die Methoden des Schreibens und – soweit möglich – der Präsentation eigener Texte, zeitigen Fertigkeiten, die dem künftigen Autor zugutekommen. Und nicht zuletzt spielt die Bekanntschaft mit dem Leipziger Professor Mayer eine erhebliche Rolle, der seinen Studenten über bestimmte und dann bestimmende Themen arbeiten ließ, und der schließlich bei Suhrkamp für seinen Schüler eintrat. Man könnte etwas verkürzt sagen: In diesen Studienarbeiten wird die Semipermeabilität der Grenze zwischen Noch-nichtWerk und Werk Johnsons sichtbar. Einige dieser frühen Studienarbeiten liegen heute vor, als Handschriften jenes Studenten, der einmal Autor werden sollte, werden sie im Rostocker Uwe Johnson-Archiv und im Archiv der Universität Leipzig bewahrt. Teils haben sie handschriftliche Ergänzungen von seiner Hand, seien es bloße Quellenvermerke, weiterführende Hinweise oder Kommentare zur Performanz eines Seminarreferats, teils tragen sie auch Spuren bewertender Durchsicht eines Prüfers. Auch hier sind Grenzmarkierungen vonnöten, denn es ist zu entscheiden, was von diesen Ergänzungen zum Text gehört (und an der Stelle, an der sie stehen, zu inkorporieren wären), und was davon nur als Signal für den Verfasser gedacht ist. In mustergültiger Weise zitiert die MEGA, die Marx-Engels-Gesamtausgabe, solche Texte ›diplomatisch‹ mit all ihren Annotationen, sodass der Rezipient selbst entscheiden kann, wie er diese Arbeiten lesen möchte. Das ist auch für Johnsons Studienarbeiten relevant, wie noch zu zeigen sein wird. In editionsphilologischer Hinsicht markiert die MEGA wiederum selbst eine Grenze, indem sie die Möglichkeiten textkritischer Darstellungen ausschöpft bis zu einem Maße, das den Leser eben vor jene Schwierigkeit stellt, sich aus der Fülle der gebotenen Texte und Textfragmente einen gültigen Text zu re-konstruieren. Abhilfe, gerade hinsichtlich der Darstellung einer Textgenese, mögen hier die Methoden und Technologien der Digital Humanities schaffen. Sie können es ermöglichen, je nach Materiallage, die schrittweise Entstehung eines Textes dem Rezipienten in dynamischer Weise als einen Entstehungsprozess vor Augen zu führen, etwa indem ihm Korrekturen, Streichungen, Ersetzungen, Randnotate etc. auf dem Weg zu einem finalen und ›gültigen‹ Textzustand sukzessive dargeboten werden.
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Im Anfang: Arnold Zweigs Der große Krieg der weißen Männer
Sonntag, 25. Mai 1952
4.1
Auftakt: Bewerbung um ein Studium zum Lektor
Um sich für ein Studium zu bewerben, musste der Kandidat eine »Arbeit über ein aktuelles Thema von Allgemeininteresse verfassen, das in Beziehung zu dem kommenden Beruf steht«.156 Johnson wählte sich Arnold Zweigs Zyklus Der große Krieg der weißen Männer zum Gegenstand, von dem bis 1952 vier Romane vorlagen, nämlich Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927), Junge Frau von 1914 (1931), Erziehung vor Verdun (1935) sowie Einsetzung eines Königs (1937). Damit entsprach Johnson allen drei Anforderungen: Aktualität, Allgemeininteresse und Bezug zum Beruf. In mehrfacher Hinsicht war er durch seine vorangegangenen Güstrower Jahre für eine solche Aufgabe ›geschult‹. Zum einen ist möglich, dass er das Werk Arnold Zweigs bereits im Schulunterricht kennengelernt hat. Schon seit 1946 sind Zweigs Romane in den Lehrplänen der Sowjetischen Besatzungszone aufgeführt.157 Zweig lag mit vielen seiner Themen politisch auf Linie. Georg Lukács, 156 Johnson, Aufnahmeantrag (Anm. 8), Bl. 3v. 157 Vgl. Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands: Lehrpläne für die Grund- und Oberschulen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Deutsch, Leipzig: Volk und Wissen 1946, S. 45. Hier wird Zweig neben anderen allgemein als Autor für den Bereich der »Gegenwart und jüngsten Vergangenheit« für die Lektüre in der 8. Klasse genannt. Für Klassenstufe 12 ist er nicht obligatorisch, wird aber mit dem Roman Erziehung vor Verdun konkret empfohlen (vgl. ebd., S. 58). In der zweiten Auflage im folgenden Jahr steht Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa auf der Leseliste für die 11. Klasse (Deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands: Lehrpläne für die Grund- und Oberschulen in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands. Deutsch, Leipzig: Volk und Wissen 1947, S. 47). Darüber hinaus war Erziehung vor Verdun dann von »1953 bis zum Ende der DDR […] in verschiedenen Klassenstufen verbindlicher Schullesestoff« (Eva Kaufmann: Entstehung
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Im Anfang: Arnold Zweigs Der große Krieg der weißen Männer
der literaturtheoretische Richtungsweiser der jungen DDR, lobt den Autor 1952 im Sinn und Form-Sonderheft anlässlich seines 65. Geburtstags: Zweig habe erkannt, dass »Gesellschaftlichkeit« noch in »der intimsten persönlichen Regung« stattfinde, der Einzelne sich erst in seinen »Beziehungen zu seinen Mitmenschen […] innerhalb einer weitaus größeren Skala bewegen« würde; mithin die Erkenntnis und künstlerische Darstellung dieser »Wechselbeziehungen«, sprich der gesellschaftlichen Konstitutionen des Individuums, habe Zweig erst erlaubt, »Gericht über die Zeit, über die gesellschaftliche Entwicklung« zu halten. Diese Perspektive, so Lukács weiter, habe die Literatur der imperialistischen »Sekurität« nicht einnehmen können. Auf dieser Grundlage sei Zweig »eine breite und tiefe, eine umfassende Kritik des ersten imperialistischen Weltkriegs« gelungen, er habe »äußerst wichtige Hinweise auf die Perspektiven der Nachkriegsentwicklung« geben können.158 Der Erkenntniswert von Zweigs Œuvre habe letztlich dazu beigetragen, »die innere soziale und menschliche Mechanik dieser Krisenzeit [d. i. die Zeit des sog. ›Dritten Reichs‹; AK] zu erhellen«.159 Zum anderen war Johnson offensichtlich schon in jungen Jahren wacher Beobachter der Zeitläufte, der die politisch-gesellschaftlichen Entwicklungen und ihre konkreten Auswirkungen für die Güstrower Schüler aufmerksam verfolgte; und mit Sicherheit Schlüsse für sich daraus zog.160 Für die Kulturpolitik der DDR war der Remigrant Zweig, gerade in den 1950er Jahren, eine bedeutende und wirkungsmächtige, zugleich aber auch enttäuschende Figur. Er konnte in »der palästinensischen Dürre«161 seines Exils weder kulturell noch ökonomisch oder persönlich eine Heimat finden und liebäugelte mit dem sich in den späten 1940er Jahren abzeichnenden politischen Experiment in der Sowjetischen Besatzungszone. Noch vor Ende des Zweiten Weltkriegs verhandelte er »mit dem kulturellen Establishment des künftigen Ostdeutschland« über seine Rückkehr.162 Nach zwei Weltkriegen und der Emigration hoffte
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und Wirkung, in: Arnold Zweig: Erziehung vor Verdun, Berliner Ausgabe, hg. von der Humboldt-Universität Berlin und der Akademie der Künste Berlin, Berlin: Aufbau-Verlag 2001, S. 554–574, hier: S. 569). Georg Lukács: Gruß an Arnold Zweig, in: Sinn und Form, Sonderheft Arnold Zweig, November 1952, S. 11–18, hier: S. 14. Lukács, Gruß an Arnold Zweig (Anm. 158), S. 16. Vgl. hier das Kapitel Die historische und biographische Situation Uwe Johnsons 1952–1956. Arnold Zweig an Lion Feuchtwanger, 6. 8. 1948, in: Lion Feuchtwanger, Arnold Zweig: Der Briefwechsel 1933–1958, hg. von Harold von Hofe, Bd. 1: 1933–1948, Berlin: Aufbau-Verlag 1984, S. 511f., hier: S. 511f. Adi Gordon: Widersprüchliche Zugehörigkeiten. Arnold Zweig in Ostdeutschland, in: »Ich staune, dass Sie in dieser Luft atmen können«. Jüdische Intellektuelle in Deutschland nach 1945, hg. von Monika Boll und Raphael Gross, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2013, S. 171–204, hier: S. 190.
Auftakt: Bewerbung um ein Studium zum Lektor
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er nun, dass »sich die Zeiten ruhiger gestalten als bisher«.163 Als er 1948 dann nach (Ost-)Berlin kam, wurde er mit offenen Armen empfangen. Der AufbauVerlag legte Ausgaben seiner Romane vor, die in den folgenden Jahrzehnten mehrfache Auflagen erfuhren. Bereits 1949 wurde er als Kulturbund-Vertreter Mitglied der – zu der Zeit noch provisorischen – Volkskammer, in der er vier Wahlperioden (bis 1967) verblieb; 1951 wurde Zweig dann Präsident der neu gegründeten Deutschen Akademie der Künste der DDR.164 Suchte Zweig seinerseits einen Ort, an dem er sich seinem Werk widmen konnte, und an dem dieses auch honoriert wurde, so bemühte sich die DDR ihrerseits um prominente Künstler, die »die Legitimität des neuen Staates« unterstreichen würden.165 Zweigs Gang in die DDR schien anfangs für beide Seiten von Vorteil. Allerdings sollte der Autor bald erkennen, dass seine Rolle im Wesentlichen auf Prestige- und Repräsentationsbelange begrenzt war, tatsächliche Kulturpolitik, zu der ihn seine Ämter hätten verleiten können, war von der politischen Führung nicht gewünscht. Deutlicher Beleg dafür ist Zweigs Rücktritt vom Amt des Akademiepräsidenten 1953, »aus Protest gegen die Kulturbürokratie«.166 Als Johnson seine Erörterung im Mai 1952 verfasst, ist Arnold Zweig gerade ein gutes Jahr Präsident der Akademie der Künste. Ob Johnson beim Schreiben wusste, dass Zweig für ein Jahr (von April 1912 bis April 1913) an der Rostocker Universität im Fach Germanistik immatrikuliert war, ist nicht festzustellen.167 Dieses Faktum hätte ihn vermutlich in seiner Themenwahl bei der Bewerbung an gerader dieser Universität bestärkt. Überdies mag dem Güstrower Abiturienten nicht entgangen sein, dass Zweig in seiner Rolle als Akademiepräsident im Dezember 1951 eine umkämpfte Barlach-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste eröffnete und dabei die »Einmaligkeit des Phänomens Barlach« würdigte.168 Der dazugehörige Ausstellungskatalog ist im Uwe-Johnson-Archiv er163 Arnold Zweig: Nachwort zur zweiten Ausgabe, in: ders., Junge Frau von 1914, Berlin: Aufbau-Verlag 1949, S. 355f., hier: S. 356. 164 Er enttäuschte seine neue Wahlheimat, weil er der DDR keinen ›Aufbauroman‹ schenkte, der aus ihrer Nachkriegswirklichkeit geschöpft worden wäre. Insofern hat Zweig nichts zur Poetik des frühen DDR-Romans beigetragen. 165 Gordon, Widersprüchliche Zugehörigkeiten (Anm. 162), S. 198. 166 Gabriella Rácz: Gebrochene Kontinuität. Ästhetik und Ideologie in Arnold Zweigs Prosa der Nachkriegszeit, in: Ästhetik und Ideologie 1945. Wandlung oder Kontinuität poetologischer Paradigmen in Werken deutschsprachiger Schriftsteller, hg. von Detlef Haberland, München: de Gruyter Oldenbourg 2017, S. 89–100, hier: S. 95. 167 Vgl. Matrikelportal Rostock: Immatrikulation von Arnold Zweig, Sommersemester 1912, Nr. 83, URL: http://purl.uni-rostock.de/matrikel/200012024 (Zugriff: 14. 12. 2018). 168 N. N.: Würdige Ehrung für Ernst Barlach, in: Neue Zeit, 15. 12. 1951, S. 2. Die Ausstellung dauerte bis in den Februar 1952 und löste eine heftige Diskussion – im Zuge der Formalismusdebatte – um die Rolle Barlachs in der sozialistischen Kunst aus. Der spätere Staatssekretär für das Hoch- und Fachschulwesen Wilhelm Girnus kritisierte Barlach als
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Im Anfang: Arnold Zweigs Der große Krieg der weißen Männer
halten.169 Es darf angenommen werden, dass Johnson um die erbittert geführte Kunstdebatte wusste, die um diese Ausstellung entbrannt war. Schon mit der Themenwahl also bedient Johnson die geforderten Aspekte der Aktualität, des Allgemeininteresses, wie auch eines Bezugs zum gewählten Beruf. Vor allem zu letzterem gehörte neben der ›passenden‹ Wahl des Gegenstandes auch seine ›richtige‹ Behandlung, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Die Entscheidung für den prominenten, offiziell hofierten, insgeheim aber argwöhnisch beäugten Autor war der erste Schritt des angehenden Studenten und damit potenziellen ›Geistesschaffenden‹ in der DDR zu einem aussichtsreichen Bewerbungstext. Freilich musste auch die weitere Ausführung den expliziten, vor allem aber den impliziten Anforderungen genügen. Zu den zentralen Aufgaben eines Germanistikstudenten gehört die literarische Analyse und Bewertung. Ein Lektor, wie Johnson augenscheinlich einer werden möchte, entscheidet oder empfiehlt auf dieser Grundlage dann über die Publikation bzw. weitere Bearbeitung eines Textes, oder rät davon ab. In der Praxis spielte bei einer solchen Entscheidung noch eine Reihe weiterer Beweggründe eine Rolle. Einer der wichtigsten Faktoren – noch vor der literarischen Qualität – war zu jener Zeit der politische, im Studium wie im Beruf. Im Folgenden soll Johnsons Bewerbungsaufsatz daraufhin besehen werden, wie der Noch-Schüler es angeht, sich in einem seinem äußeren Ansehen nach analytisch-pragmatischen Text als linientreuer und damit vertrauenswürdiger Kandidat für das Studium darzustellen. Denn der von ihm angestrebte Beruf eines Lektors bringt eine besondere Art und ein hohes Maß von Verantwortung mit sich: Wem unsere Gesellschaft das große Vertrauen erweist, ihm einen Arbeitsplatz in Lektorat oder Redaktion eines unserer Verlage einzuräumen, […] der muß mit seiner ganzen Persönlichkeit am Aufbau der Zukunft unseres Volkes in einem einigen Deutschland mitwirken und den Frieden in der Welt erkämpfen helfen.170
Die wohlfeilen Formulierungen kaschieren kaum, worum es tatsächlich geht: im »Arbeiter- und Bauernstaat darf die Mittlertätigkeit der Verlage nicht passiv »ein Beispiel dafür, wie ein wirklich großes künstlerisches Talent infolge des Fehlens der Orientierung auf diejenige Klasse, der die Zukunft gehört […] in den Sumpf des Mystizismus gerät« (Wilhelm Girnus: Ernst-Barlach-Ausstellung. In der Deutschen Akademie der Künste, in: Neues Deutschland, 4. 1. 1952, S. 4). 169 Vgl. Deutsche Akademie der Künste: Ernst Barlach. Ausstellung Dezember 1951 – Februar 1952, Berlin: Deutsche Akademie der Künste 1951, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA BP 03308. Zeitgleich zu dieser Ausstellung wurde von dem Kunstgießer Hermann Noack in Berlin-Friedenau ein Drittguss von Barlachs Der Schwebende angefertigt, der am 4. Juni 1952 dann in Güstrow eintraf; die Akademie der Künste hatte den Transport organisiert (vgl. Ernst Barlach. Das Güstrower Ehrenmal, hg. von Volker Probst, Leipzig: Seemann 1998, S. 110–117). 170 Hermann Lewy; Dieter Raab: Lektorat und Redaktion im Buchverlag, Leipzig: Verlag für Buch- und Bibliothekswesen 1956, S. 51.
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bleiben«. Vielmehr seien die Verlage mit ihren von ›verlässlichen‹ Lektoren betreuten – und kontrollierten – Publikationen das »Sprachrohr, durch das die Partei oder die Organisation zu ihren Mitgliedern, Anhängern und darüber hinaus zum ganzen Volk spricht.«171 Um sich des ›Vertrauens der Gesellschaft‹ als würdig zu erweisen, muss in ihrem Sinne gehandelt werden. In erweiterter Perspektive bewirbt sich Johnson folglich nicht nur für ein Studium (mit konkretem Berufsziel), sondern wirbt auch um dieses Vertrauen, dessen er sich würdig zu erweisen hätte. Im Sinne der Gesellschaft zu handeln, bedeutete schon in der jungen DDR von 1952, im Sinne der partei- und kulturpolitischen Ziele der SED zu agieren, Teil ihres ›Sprachrohrs‹ zu sein. In dieser Kulturpolitik – angestoßen und gelenkt durch die sowjetischen Besatzer – ›schwelte‹ seit einiger Zeit die sogenannte Formalismusdebatte, die in den Jahren 1951/52 einen Höhepunkt erreichte und auch Barlach in ihre Kreise zog.172 Auf der fünften Tagung des Zentralkomitees der SED vom 15. bis 17. März 1951 formulierte Kulturpolitiker Hans Lauter deutlich und folgenreich die Ziele. Allgemein gelte es, eine neue demokratische Kultur zu schaffen, die in Wissenschaft und Kunst die neuen gesellschaftlichen Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik zum Ausdruck bringt; […] die dem deutschen Volke helfen wird, seine Lebensfragen zu lösen und […] im Kampf um die Lösung dieser Aufgaben Begeisterung, Mut und optimistische Zuversicht gibt.173
Um diese Ziele konkret zu erreichen, sei »die Methode des Realismus in der Kunst« das Mittel der Wahl, »angewandt auf die Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik.« Denn schließlich sei nur ein »realistisches Kunstwerk« geeignet, neben der »Erkenntnis der Wirklichkeit«, »in den Menschen Ideen, Gefühle, Bestrebungen« zu wecken, die sich »in einer fortschrittlichen schöpferischen Tätigkeit, das heißt im Sinne der Lösung der Lebensfragen un-
171 Lewy, Raab, Lektorat und Redaktion (Anm. 170), S. 14f. 172 Vgl. Carola Hähnel-Mesnard: Formalismus-Debatte/Formalismus-Kampagne, in: Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten, hg. von Michael Opitz und Michael Hofmann, Stuttgart: Metzler 2009, S. 94–96, sowie: Mittenzwei, Die Intellektuellen (Anm. 22), S. 88–104. 173 Hans Lauter: Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur für eine fortschrittliche deutsche Kultur. Auszüge aus dem Referat des Genossen Hans Lauter auf der 5. Tagung des ZK, in: Neues Deutschland, 23. 3. 1951, S. 5f., hier: S. 5. Bei dieser Quelle handelt es sich um die für ein breites Publikum auf die Kernaussagen gekürzte Fassung der Rede Lauters, sie findet sich vollständig hier: Hans Lauter: Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur, in: ders., Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur. Entschließung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auf der Tagung vom 15.–17. März 1951, Berlin: Dietz 1951, S. 7–41.
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seres Volkes« auswirkten. Dazu gehöre überdies übrigens, »daß unsere Kulturschaffenden den Marxismus-Leninismus studieren.«174 Die Betrachtung von Johnsons Bewerbungsaufsatz wird zeigen, wie sehr er sich sowohl der beruflichen Anforderungen im engeren – sprich literarischen – Sinn, wie auch der damit einhergehenden politischen Verpflichtungen bewusst war. Der Auftakt dazu ist pragmatisch: Als Titel seiner Bewerbungsschrift wählt Johnson schlicht Arnold Zweigs Romanzyklus, dass es sich dabei um ein Lektorat bzw. um ein Verlagsgutachten handeln soll, sagt er nicht. Allerdings ist diese Annahme naheliegend, denn über dem Titel seines Aufsatzes wiederholt er die Aufgabenstellung des Bewerbungsformulars: »Immatrikulationsunterlagen: Arbeit über ein aktuelles Thema von Allgemeininteresse, das in Beziehung zu dem zukünftigen Beruf steht.«175 Zur Erinnerung: Als Berufsziel hatte er in seinem Aufnahmeantrag angegeben »Verlagslektor (mit Diplomexamen)«.176 Johnson beginnt seine Arbeitsprobe mit einer Interpretation des Zyklustitels. Anschließend stellt er knapp wesentliche Figuren mit ihren vornehmlichen Eigenschaften und Funktionen vor. Abschließend bewertet er den Reigen hinsichtlich seiner literarischen und historischen Leistungen sowie der daraus resultierenden Bedeutung für die Gegenwart von 1952. Seine Deutung des Titels Der große Krieg der weißen Männer ist bemerkenswert, dieser sei nämlich in seiner leisen Ironie bezeichnend. Diese parodistische Anlehnung an Karl-May-Stil symbolisiert, daß man die längste Zeit vor den »weißen Männern« Angst gehabt haben wird, weil sie genau solche Menschen sind wie die »roten Männer«, die Indianer, die bisher unterdrückt waren. Gleichzeitig aber sagt der Titel […], daß dieser und damit jeder Krieg nur wenige Menschen interessiert und von wenigen Menschen gemacht wird […]. Er ruft der Menschheit zu, sich wieder ihrer ursprünglichen Aufgabe bewußt zu werden: Zu leben und nicht zu morden. Und drittens ist diese Überschrift eine höhnische Satire auf die Phrasen des »preußischen Mannestums«, das im Kriegführen das Kriterium des Männlichen sah. (38r)
Johnson expliziert weder, worin die von ihm behauptete Ironie besteht, noch wofür sie »bezeichnend« sein soll. Die von ihm assoziierten literarischen (Kol174 Lauter, Kampf gegen den Formalismus (Anm. 173), S. 6. Wie bereits ausgeführt, wurde das obligatorische Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium 1951/52 an den Universitäten der DDR eingeführt, vgl. hier: S. 23. 175 Uwe Johnson: Arnold Zweig: »Der große Krieg der weißen Männer«, ein Romanzyklus, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 38f., hier: Bl. 38r; in diesem Kapitel im Text zitiert mit der Blattangabe in Klammern. Johnson variiert hier den Formulartext, statt »kommenden Beruf« schreibt er »zukünftigen Beruf«. Sofern hier kein Flüchtigkeitsfehler – die Bedeutung des Dokuments spricht dagegen – vorliegt, hat Johnson der Formulierung mit seiner Änderung die Bestimmtheit genommen, wenn auch nur um eine Nuance, ist der ›kommende‹ Beruf doch etwas gewisser als der ›zukünftige‹. 176 Johnson, Aufnahmeantrag (Anm. 8), Bl. 2r.
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portage- bzw. Indianer-)Romane und historischen Kontexte (Besiedlung Nordamerikas durch Europäer) bestimmen seine Titeldeutung. Wie die spätere Figurencharakterisierung zeigt, hat er Zweigs Bücher gründlich gelesen. Aus ihnen geht unmissverständlich hervor, dass ›der große Krieg‹ den Ersten Weltkrieg meint. Johnson hat sich also gezielt für eine individuelle, mindestens unkonventionell zu nennende Interpretation des Titels entschieden. Zweig, selbst Soldat im Ersten Weltkrieg, verfasste die von Johnson behandelten Titel zwischen beiden Weltkriegen. Aus diesem historischen Kontext sowie der individuellen und kulturell-intellektuellen ›Sozialisation‹ Zweigs sind die weißen Männer zu verstehen. Bis weit in das 20. Jahrhundert wirkte eine Anthropologie in der Tradition Immanuel Kants und Johann Friedrich Blumenbachs, die im weißen europäischen Mann die Krone der Schöpfung erblickt: In den heißen Ländern reift der Mensch in allen Stücken früher, erreicht aber nicht die Vollkommenheit der temperierten Zonen. Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der R[asse]. der Weißen. Die gelben Inder haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften.177
Für Zweigs literarisches Schaffen zeitigte zudem seine Auseinandersetzung mit dem Wirken Sigmund Freuds erhebliche Folgen, er hat sich damit theoretisch wie praktisch intensiv auseinandergesetzt, sich psychoanalytischen Sitzungen unterzogen, und eine intensive Brieffreundschaft mit dem Psychoanalytiker gepflegt. Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive wird angenommen, dass »die Freudsche Lehre für das literarische Werk Zweigs« spätestens ab Mitte der 1920er Jahre »große Bedeutung« hatte.178 Freud ist jener anthropologischen Traditionslinie insofern noch zuzurechnen, als er ohne jegliche Begriffsreflexion ihren Typus des weißen Mannes zum Gegenstand seiner Schriften macht und damit dessen zeitgenössische Selbstverständlichkeit dokumentiert.179 Mit seinem Zyklustitel referiert Zweig auf diesen anthropologischen Typus; es ist grundsätzlich der gleiche, auf den auch Karl Mays ›weißer Mann‹ abzielt: den sich zivilisatorisch wie ethisch überlegen wähnenden (Mittel-)Europäer. Allerdings formen Zweig
177 Zit. nach: [Art.] Rasse, in: Rudolf Eisler: Kant-Lexikon. Nachschlagewerk zu Kants sämtlichen Schriften, Briefen und handschriftlichem Nachlaß, Berlin: Mittler 1930, S. 439f., hier: S. 440; vgl. zum Thema Aufklärung (Kant/Hegel) und Rassismus/Hautfarbe: Arnold Farr: Wie Weißsein sichtbar wird. Aufklärungsrassismus und die Struktur eines rassifizierten Bewusstseins, in: Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland, 2., überarbeitete Auflage, hg. von Maureen Maisha Eggers u. a., Münster: Unrast 2009, S. 40–55. 178 Wilhelm von Sternburg: »Um Deutschland geht es uns«. Arnold Zweig. Die Biographie, Berlin: Aufbau-Verlag 1998, S. 133. 179 Vgl. etwa Sigmund Freud: Zeitgemäßes über Krieg und Tod, Leipzig, Wien, Zürich: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1924.
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und May, davon ausgehend, dann sehr unterschiedliche konkrete Figuren in ihren Romanen, die einer komparativen Lesart, über den gemeinsamen typologischen Ursprung hinaus, kaum Material liefern. May stellt diesen Typus affirmativ positiv dar, Zweig übt an ihm Kritik als Kriegstreiber. In Johnsons Lesart ist dieses kritische Moment Zweigs die »parodistische Anlehnung an Karl-MayStil«: Indem das Denotat der ›weißen Männer‹ nicht mehr auf den edlen Botschafter christlicher Zivilisation referiert,180 sondern die Verantwortlichen eines Weltkriegs adressiert, wird der Terminus negativ konnotiert. Die Karl-May-Assoziation verdankt sich wahrscheinlich Johnsons früher literarischer Sozialisation und möglicherweise einem gewissen Originalitätsbestreben. Der 1934 geborene Johnson erinnert sich, er habe im Alter von »zehn Jahren […] sich gelangweilt in der Gesellschaft von Winnetou«, und er habe somit »Mays Bände durchgenommen wie eine Schulaufgabe, da sie als Geschenk zu würdigen waren. Noch die genaueren Indianerbücher waren Pflichtstücke gewesen«.181 Zu seinen ersten ›Lese-Erlebnissen‹ zählt Johnson ein »Buch über die Rückzugsgefechte der nordamerikanischen Indianer«, gelesen in seiner Zeit als Schüler der Deutschen Heimschule in Kosten, bevor er vor der vorrückenden Roten Armee westwärts fliehen musste, »in Wälder ohne Winnetou«.182 Mays Werke genossen auch während der nationalsozialistischen Herrschaft noch große Popularität, als Johnson Leser wurde.183 Einerseits war May als erfolgreicher Schriftsteller bereits etabliert, andererseits gehörte er zu den erklärten Lieblingsautoren Adolf Hitlers. Es sind diverse Aussagen Hitlers überliefert, die seine Wertschätzung für Mays Œuvre bekunden.184 Angeblich habe der ›Führer‹ »alle Bücher von Karl May gelesen. Anders als seine Generale hatte er Mays WildWest-Geschichten sorgfältig studiert und sich die taktischen Tricks und Kniffe Winnetous eingeprägt, der seine Gegner mit List und Schläue überraschte.« 180 So tritt Mays alter Ego Kara Ben Nemsi stets als »dem Orientalen in Wissen, Intelligenz und Tatkraft überlegener Europäer« auf (Christoph F. Lorenz, Bernhard Kosciuszko: Kara Ben Nemsi (KBN), in: Das große Karl May Figurenlexikon, hg. von Bernhard Kosciuszko, 3., verbesserte und ergänzte Auflage, Berlin: Schwarzkopf & Schwarzkopf 2000, S. 215–233, hier: S. 219), wie er gleichermaßen als Old Shatterhand seinem Freund Winnetou, »dem Apachen – wenn auch nur geringfügig – überlegen« ist (Christoph F. Lorenz: Old Shatterhand, in: May Figurenlexikon (Anm. 180), S. 334–355, hier: S. 349). May ging es darum, mit dieser Figur ein Ideal zu zeichnen, »ein beginnender Edelmensch«; dass dieser überdies »ein Deutscher zu sein hatte, verstand sich ganz von selbst« (Karl May: Mein Leben und Streben. Autobiographische Schriften, Berlin: Neues Leben 2004, S. 167). 181 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 33. 182 Uwe Johnson: [Erste Lese-Erlebnisse], in: Erste Lese-Erlebnisse, hg. von Siegfried Unseld, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 107–110, hier: S. 108 und S. 110. 183 Vgl. Christian Adam: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich, Berlin: Galiani 2010, S. 65f., S. 79f., S. 197–199. 184 Vgl. Gunter Scholdt: Hitler, Karl May und die Emigranten, in: Jahrbuch der Karl-MayGesellschaft 1984, S. 60–91; und Adam, Lesen unter Hitler (Anm. 183), S. 65f.
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Schienen ihm seine Generale gelegentlich zu feige oder fantasielos, so »empfahl er ihnen Karl Mays Bücher, um ihre taktischen Fähigkeiten zu schärfen«.185 Der Karl May Verlag konnte noch bis in die späten Kriegsjahre Bände der Gesammelten Werke herausgeben. Immerhin lässt sich aus diesen frühen May-Lektüren, mögen sie auch nicht aus Neigung erfolgt sein, zumindest Johnsons eigenwillig-kreative Zweig-Deutung herleiten. Zweigs Romane selbst bieten dafür kaum einen Anlass. Lediglich ein einziges Mal findet May in Junge Frau von 1914 Erwähnung, als die Geschwister Lenore und David Wahl einmal vertraulich albernd »im Dialekt ihrer Kinderstube« sprechen, »entnommen gewissen Werken des Jugendklassikers Karl May.«186 Ist Johnsons May-Assoziation aus subjektiv-biographischer Perspektive nachvollziehbar, scheint sie dem pragmatischen Anliegen seines Textes jedoch entgegenzustehen. Dabei dürfte ihm bewusst gewesen sein, dass May in der frühen DDR ein Autor non grata war, zwar nicht verboten, aber auch nicht verlegt. Ihm war u. a. Hitlers May-Begeisterung zum Verhängnis geworden. Bereits 1946 setzte in der SBZ eine öffentliche Debatte ein, die Mays Werk aus der Wahrnehmung und Wertschätzung des Publikums tilgen sollte. Erst als die westdeutschen Verfilmungen in der DDR 1982 gezeigt und der Verlag Neues Leben im selben Jahr mit der Veröffentlichung von Mays Romanen begann, kann von einer – recht plötzlichen – Renaissance und Rehabilitierung des sächsischen ›Volksschriftstellers‹ in der DDR gesprochen werden.187 Bis dahin allerdings musste Karl May als Negativbeispiel herhalten: Zum Lob der DDR-Literaturpolitik verweist Lilly Becher, ihres Zeichens Schriftstellerin und Gattin Johannes R. Bechers, im Mai 1952 auf vorsozialistische Zeiten, in denen noch »verlogene seichte Schriftsteller die wahren Massenauflagen« erzielten, und zu ihnen zählt sie explizit Karl May.188 Man konnte zu dieser Zeit die idealisierten ›Typen‹ Mays nicht recht mit der ›sozialistischen Persönlichkeit‹ in Einklang bringen, zu der die jungen Menschen in der DDR erzogen werden sollten.189 So wurde sich der li-
185 Timothy W. Ryback: Hitlers Bücher. Seine Bibliothek – sein Denken. Aus dem amerikanischen Englisch von Heike Schlatterer mit einem Nachwort von Norbert Frei, Köln: Fackelträger 2010, S. 243f. 186 Zweig, Junge Frau (Anm. 163), S. 170. 187 Vgl. Christian Heermann: Karl May – Heimliches und Unheimliches, in: Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, hg. von Siegfried Lokatis und Ingrid Sonntag, Berlin: Links 2008, S. 358–372, hier besonders: S. 361f. 188 Lilly Becher: Der Weg zum Wissen ist offen. Zur Woche des Buches, in: Berliner Zeitung, 11. 5. 1952, S. 2. 189 Vgl. das Plädoyer des Kulturpolitikers Siegfried Wagner, der die Forderung nach der ›sozialistischen Persönlichkeit‹ – nicht als erster – 1952 so formulierte: »Die Arbeit der allgemeinbildenden Schule ist daher von großer Bedeutung für den Aufbau des Sozialismus; denn die Schule ist die erste wichtige Etappe bei der Entwicklung des neuen Menschen, der sozialistischen Persönlichkeit« (Siegfried Wagner: Lernt und kämpft zum Ruhme unserer
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nientreue Schriftsteller Karl Grünberg bei einem Literaturgespräch in einem Pionierlager mit einem ›kleinen Charlottenburger‹, also einem West-Berliner Kind, über eine Karl-May-Geschichte angeblich bald »einig, daß dieses Buch schädlich« sei, »weil es unwahr und unmenschlich in seiner Darstellung ist.«190 Um sich 1952 in der DDR als Lektor anzudienen, ist May also nur in Form parodistischer Distanznahme, wie Johnson sie in Zweigs Zyklustitel zu erkennen meint, eine tragfähige Referenz. Dergestalt demonstriert der Studienkandidat einen Überblick über den aktuellen Literaturbetrieb und die Kulturpolitik. Warum May in der frühen DDR vermieden wurde, wird aus dem Lektorat zur einzigen vor 1982 in der DDR veröffentlichten May-Erzählung, In Abrahim Mamurs Gewalt (1958), ersichtlich. Lektor Lothar Grünewald muss darin May für den Verlag Kultur und Fortschritt empfehlen, eher rechtfertigen: Grünewald zufolge scheinen in dem Text »nur unwesentliche Elemente solcher Art« enthalten zu sein, »die eine Ablehnung der May-Literatur begründen könnten.« So fehlten beispielsweise »jene langatmigen religiösen Debatten, wie auch solche Textstellen, in denen sich der Deutsche auffällig auf seine ›höhere Rasse‹ oder Nationalität beruft.«191 Außerdem, zur Sicherheit sozusagen, aus offensichtlichem Misstrauen der eigenen Leserschaft gegenüber, möchte der Lektor den Leser durch einen »vorangestellten Hinweis auf die Entstehungszeit der Erzählung aufmerksam« machen. Schließlich wird er noch »Hinweise auf andere Werke des Autors entfernen«.192 Indem Grünewald einerseits möglichen Einwänden antizipierend begegnet, andererseits positive Effekte auf die Leserschaft herausstellt, gelingt es ihm, die Lizenzausgabe des Karl May Verlags erfolgreich durch das Druckgenehmigungsverfahren bei der Hauptverwaltung Verlagswesen des Ministeriums für Kultur zu bringen – es bleibt jedoch eine Ausnahme. Erscheint Johnsons ›komparative‹ Referenz zwischen Zweig und May literarisch wie kulturgeschichtlich einleuchtend und vor allem kulturpolitisch zielgerichtet, so ist der sodann von ihm behauptete appellative Charakter des Zyklustitels allerdings nicht gegeben, auch nicht unter den Vorzeichen einer Parodie. An keiner Stelle »ruft« der Titel »der Menschheit zu, sich wieder ihrer ursprünglichen Aufgabe bewußt zu werden: Zu leben und nicht zu morden« (38r). In wohlwollender Lesart ließe sich vermuten, dass diese höchst subjektive jungen Republik. Zum Beginn des Schuljahres 1952/53, in: Neues Deutschland, 31. 8. 1952, S. 6). 190 Karl Grünberg: Kinder als Literaturkritiker. Erlebnisse eines Schriftstellers in einem Pionierlager, in: Berliner Zeitung, 21. 3. 1952, S. 3. 191 Lothar Grünewald: Lektorat an das Ministerium für Kultur, Hauptverwaltung Verlagswesen, Karl May »In Abrahim Mamurs Gewalt«, in: BArch, DR 1/5035, S. 383f., hier: S. 383. 192 Grünewald, Lektorat (Anm. 191), S. 384. Das Misstrauen gegen die Leser soll hier nicht auf Grünewald gemünzt sein, vielmehr entspricht es einer Grundhaltung der DDR-Kulturpolitik, zu der sich verhalten werden musste.
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Deutung auf politische Konformität abzielt, indem Ironie bzw. Parodie des ›großen Krieges der weißen Männer‹ zu seinem Gegenteil motiviert, das Johnson hier als ›Leben‹ versteht. Plausibler ist sodann Johnsons Lesart des Zyklustitels als »höhnische Satire auf die Phrasen des ›preußischen Mannestums‹, das im Kriegführen das Kriterium des Männlichen sah« (38r). Das Adjektiv ›groß‹, nicht im quantitativen, sondern qualitativen Sinne – »bedeutend, wichtig, wesentlich«193 – verstanden, kann eine positive Wertung des Krieges anzeigen. Aus der Perspektive des ›Friedensstaats‹ DDR konnte die Beschreibung ›großer Krieg‹ also durchaus als Satire auf die bis dahin größte militärische Auseinandersetzung der Menschheitsgeschichte gelesen werden. Damit übergeht Johnson allerdings das Offensichtliche, den von Zweig dargestellten und gemeinten Ersten Weltkrieg. Bis zum Zweiten Weltkrieg war auch im Deutschen durchaus die Bezeichnung ›Großer Krieg‹ dafür üblich, im Englischen (»The Great War«) und Französischen (»La Grande Guerre«) hat sie sich teils bis heute erhalten, während sich im deutschen Sprachraum nach dem Zweiten Weltkrieg die zählende Benennung durchgesetzt hat. Der bestimmte Artikel bei Zweig unterstreicht zudem, dass es eben um genau diesen Krieg geht. Mit seinem Verweis auf das »preußische Mannestum« benennt Johnson sogleich auch die Verantwortlichen, und konkretisiert somit die Vertreter der ›weißen Männer‹. Im Gegensatz zu seiner bisherigen Deutung liegt er damit politisch auf Linie. Wiewohl für die DDR insgesamt ein ambivalentes Verhältnis zu ihrem preußischen Erbe festzustellen ist, wurde gerade in ihren frühen Jahren häufig das Attribut des Preußischen für die abwertende Benennung von – nun überwunden geglaubten – ›typischen‹ Eigenschaften Preußens bzw. ›der Preußen‹ und in dessen Folge des Deutschen Kaiserreichs verwendet, und schließlich, »indem man den Bogen zum Nationalsozialismus spannte, zum Satanischen erhoben.«194 Zum siebten »Tag der Befreiung«, dem 8. Mai 1952, ließ Otto Grotewohl verlauten, dass es in der DDR keine Armee »unter dem Kommando militaristischer und faschistischer Offiziere des preußischen Junkertums« geben werde.195 Auch für literarische Kontexte eignete sich das Schlagwort. So werde man nicht »vergessen, daß es preußische Junker waren, die einen Teil Polens besetzt hielten«, worüber dann »Bettina von Arnim in furchtbarer Anklage schrieb«, 193 [Art.] grosz, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Bd. 9, Leipzig 1854–1961, Sp. 477, URL: http://www.woerterbuchnetz.de/DWB? lemma=grosz (Zugriff: 26. 9. 2019). 194 Raina Zimmering: Mythen in der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen, Opladen: Leske + Budrich 2000, S. 302. 195 Otto Grotewohl: Tag der Befreiung. Tag der nationalen Verantwortung, in: Neues Deutschland, 8. 5. 1952, S. 1f., hier: S. 2.
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mahnt Wirtschaftswissenschaftler und DDR-Nationalpreisträger Jürgen Kuczynski.196 ›Preußisch‹ diente als beliebtes Schlagwort immer dann, wenn es etwas als militaristisch und überholt zu bewerten galt, Johnson konnte diese öffentliche Rhetorik beobachten und hier leicht abgeändert anwenden. War üblicherweise vom ›preußischen Junkertum‹ die Rede, variiert er zum ›preußischen Mannestum‹, wiewohl gerade im Kontext der Zweig-Romane das Junkertum durchaus treffend gewesen wäre; Johnsons Angriff auf dessen Männlichkeit gibt es der Lächerlichkeit preis. Johnsons Themenwahl ist zielführend und nachvollziehbar. Seine recht subjektiv motivierte Deutung des Titels ist zwar kein Wagnis, indem er May und Zweig in eine parodistische Relation zugunsten des Letzteren stellt und somit der offiziösen Rhetorik ›überwundener‹ literarischer (oder sonstiger) Entwicklungen Rechnung trägt; gleichwohl zeigt die May-Referenz, dass dieser Autor sehr wohl noch ›präsent‹ ist. In politischer Hinsicht bedient Johnson folglich insgesamt die Friedensrhetorik wie auch die Verurteilung des Überholten.
4.2
Zwei Ansichten über Zweigs Figureninventar
Der quantitativ erhebliche Teil von Johnsons Bewerbungsarbeit ist Zweigs Figureninventar und dessen Bewertung gewidmet. Dazu stellt Johnson einleitend fest, dass Zweigs Zyklus eine Art »Lehrbuch« sei, wie man ohnehin sein gesamtes Werk als ein »pädagogisches« bezeichnen könne (38r). Das ist eine zumindest ungewöhnliche Perspektive, die ein literarisch Interessierter für seinen Werkzugang wählt. Sie mag darin begründet sein, dass Johnson zu diesem Zeitpunkt Absolvent einer höheren Bildungseinrichtung war, welcher das ›paedagogein‹ als humanistisches Nahziel oblag. Oder aber darin, dass die frühe Nachkriegsliteratur der SBZ/DDR eine pädagogische Ausrichtung dergestalt nahm, dass zu ihrem ›master plot‹ neben ästhetischen Kriterien auch gewisse erzieherische Wirkungen zählten, die beim Leser zu erzielen seien.197 Der ›positive Held‹ war hier noch nicht Klassenkämpfer, der die Überlast einer historischen Aufgabe zu schultern hat, nämlich die Verwirklichung des kommunistischen Weltzustandes, 196 Jürgen Kuczynski: Über die Tradition der deutsch-polnischen Freundschaft in der deutschen Literatur, in: Neues Deutschland, 16. 1. 1952, S. 6. 197 Vgl. dazu Katerina Clark: The Soviet Novel. History as Ritual, Chicago: University of Chicago Press 1981. Diese auch theoretisch anspruchsvolle Arbeit konzeptualisiert den Typus des ›positiven Helden‹ vor dem Hintergrund mittelalterlicher Hagiographie. Als ›proletarischen Realismus‹ beschreibt sie den Vorbildcharakter dieser »antiheroic« Fiction, die auf den Schwulst mythisierender Idolatrie bewusst verzichtet und stattdessen pragmatisch-mögliche Handlungsoptionen sondiert. Den »master plot« exemplifiziert Clark anhand von Feodor Gladkovs Roman Zement (dt. 1925); vgl. Clark, The Soviet Novel, S. 256–260.
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sondern er durfte sich hier noch am ›Menschenmöglichen‹ orientieren – an der allmählichen Umgestaltung der Gesellschaft durch Heranbildung einer neuen Generation. Unter diesem Aspekt werden nun wesentliche Figuren sehr knapp in ihren zentralen und eben ›pädagogischen‹ Eigenschaften skizziert. Augenfällig ist dabei, dass die Figurencharakterisierungen und Einschätzungen aus Johnsons zeitgenössischer gesellschaftlicher Perspektive erfolgen, die von der erzählten Zeit der Romanhandlungen aufgerufenen historischen Kontexte werden nur bei Bedarf berücksichtigt, als negativer Kontrast zur Gegenwart. Aus der Perspektive der DDR war es durchaus legitim, literarische Texte auf ihre pädagogischen Funktionen hin zu betrachten. Die sozialistische Pädagogik verfolgte von Beginn an einen dezidiert erzieherischen Anspruch, besser Auftrag. So kursierte in den 1950er Jahren das Schlagwort vom ›neuen Menschen‹, den es zu erziehen gälte, womit ein Menschenbild gemeint war, das mit dem Sozialismus im Sinne der SED im Einklang stand.198 Diese Erziehungsaufgabe war dabei keineswegs auf die staatlichen Bildungseinrichtungen beschränkt, sondern gerade auch die Kunst hatte explizit diesem Ziel zu dienen.199 Zweigs Pädagogik manifestiert sich laut Johnson nun dadurch, dass seine Figuren »entweder Vorbild oder Warnung« (38r) seien,200 womit sogleich die – dialektische – Methode benannt ist. Zwischen diesen beiden Polen, Vorbild oder Warnung, ›gut‹ oder ›schlecht‹, verortet er dann Zweigs Figuren. Wobei erst im Verlauf seiner Charakterisierungen allmählich deutlich wird, welchen Maßstab er dafür anlegt. Zur titelgebenden Protagonistin Lenore Wahl sagt Johnson nichts weiter, als dass sie eben die »junge Frau von 1914« (38r) sei. Sie wird mit keinem weiteren Wort gewürdigt, wie Johnson auch sonst keine anderen weiblichen Figuren des Zyklus erwähnt. Dies ist umso auffälliger, als Zweig sehr viel Mühe und Sorgfalt auf die Zeichnung einiger Frauenfiguren und gerade dieser Gestalt verwendet, die eine eigene Perspektive auf das Machtgefüge im Kaiserreich und auf die 198 Vorbild war hier einmal mehr die stalinistische Sowjetunion, die sich gute 20 Jahre zuvor ähnlichen Problemen gegenübersah, wie sie nun der DDR-Führung bei der Erziehung des eigenen Volkes begegneten. So sprach man in der Sowjetunion hinsichtlich der Generation der Revolutionäre und Bürgerkriegskämpfer vom ›Übergangsmenschen‹, der den ›Neuen Menschen‹ erst vorbereiten müsse. Ein solch Neuer Mensch war in Stalins Augen etwa der Bergmann und prominente ›Planübererfüller‹ Alexei Grigorjewitsch Stachanow (vgl. Derek Müller: Der Topos des Neuen Menschen in der russischen und sowjetrussischen Geistesgeschichte, Bern: Lang 1998, S. 213–219). 199 Vgl. hierzu etwa Katrin Löffler: Der ›neue Mensch‹ in der frühen DDR-Literatur und sein Kontext, in: Der ›neue Mensch‹. Ein ideologisches Leitbild der frühen DDR-Literatur und sein Kontext, hg. von Katrin Löffler, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2013, S. 9–25. 200 Neumann transkribiert hier gravierend falsch, »ethisches Vorbild oder Warnung«, womit über die Fehlschreibung eine Kategorie eingeführt wird, die so offensichtlich nicht von Johnson intendiert war (Uwe Johnson: Arnold Zweig: »Der große Krieg der weißen Männer«, ein Romanzyklus, in: ders., »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz« (Anm. 65), S. 23–26, hier: S. 23).
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preußisch-militaristisch organisierte Gesellschaft anbietet. Lenore liefert als ›gemischter Charakter‹ für Johnsons Darstellungsziel offenbar keine hinreichenden Argumente, um sie entweder als Vorbild oder aber als negatives Beispiel hervorstechen zu lassen; erwähnt werden muss sie. Als eine der zentralen Figuren, immerhin eines von vier Romanen, geht sie mit dem Protagonisten des Zweig’schen Zyklus Werner Bertin eine Mesalliance ein, später heiratet sie ihn. Bei Johnson leitet Lenore seine Figurenbetrachtung ein, gefolgt von ihrem Bruder David, der deutlicher und ›effektvoller‹ vorgestellt wird. Er symbolisiere »den Kampf der Jugend gegen eine verfaulende Gesellschaft und […] Krieg« (38r). Im Selbstverständnis des »ersten Friedensstaates deutscher Nation« galt es als hehres Ziel, sich für Frieden einzusetzen, für ihn zu ›kämpfen‹.201 Die Figur David Wahl stellt sich von Anfang an gegen »diese Metzelei« des Krieges, die sie »nicht mitmachen« will: schließlich sei David »dazu geboren, Klavierkonzerte zu üben, nicht Gewehrgriffe.«202 Für eine Weile gelingt es David, sich der Einberufung zu entziehen, bis er sich letztendlich doch dem gesellschaftlichen und nicht zuletzt familialen Druck beugt. Schließlich heißt es von ihm, »der David durfte als schneidiger Soldat gelten«.203 Beim Kampf für den Frieden macht Johnson, vermittels David Wahl, sogleich auch dessen Feind aus, die »verfaulende Gesellschaft«. Der Ausdruck stammt nicht von Zweig; vielmehr zeigt er den beiläufigen wie effizienten Einsatz ideologischer Schlagworte durch den Studenten: Als Referenz wird damit Lenin aufgerufen, insbesondere seine vielbeachtete Monopol- und Imperialismuskritik Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus: Monopole, Oligarchie, das Streben nach Herrschaft statt nach Freiheit, die Ausbeutung einer immer größeren Anzahl kleiner oder schwacher Nationen durch ganz wenige reiche oder mächtige Nationen – all das erzeugte jene Merkmale des Imperialismus, die uns veranlassen, ihn als parasitären oder in Fäulnis begriffenen Kapitalismus zu kennzeichnen.204 201 N. N.: Die Geistesschaffenden und die nationalen Streitkräfte, in: Neues Deutschland, 26. 6. 1952, S. 6. Inwiefern Friedensbestrebungen seitens der politischen Führung der DDR wie auch der Sowjetunion nun ernst gemeint waren oder nicht – gerade etwa mit Blick auf die komplexe geopolitische Gemengelage dieser Zeit, wie auch der Wiederbewaffnung mittels Kasernierter Volkspolizei, Stalin-Noten etc., soll hier nicht diskutiert oder gar entschieden werden. In der deutschen Bevölkerung – der DDR, wie auch der BRD – war nach zwei Weltkriegen gewiss ein Interesse an Frieden vorhanden, womit diese Rhetorik hier auf fruchtbaren Boden fiel. 202 Zweig, Junge Frau (Anm. 163), S. 87. 203 Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs, Berlin: Aufbau-Verlag 1950, S. 266. 204 Wladimir I. Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, in: ders., Werke, Bd. 22: Dezember 1915–Juli 1916, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 2. Auflage, Berlin: Dietz 1971, S. 189–309, hier: S. 305. Die Wendung vom ›verfaulenden Kapitalismus‹ ist bis in den Volksmund gedrungen: Ein treues Parteimitglied kehrt von einer Dienstreise aus der Bundesrepublik zurück. Sein Vorsitzender fragt ihn: »Na
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Weniger im Vorübergehen, vielmehr selektiv erfolgt sodann Johnsons Vorstellung der Brüder Kroysing. Sie werden von Zweig als Sprösslinge einer redlichen Familie von Staatsdienern eingeführt: »wo immer ein Kroysing saß, ging es nach Recht und Billigkeit zu«.205 Daran knüpft Johnson offenbar an, wenn er sie als »unvergeßlich in ihrer Liebe zum Recht und in ihrem Prinzip der Anständigkeit, das um der Anständigkeit willen besteht« (38r), charakterisiert. Dabei hat der jüngere Bruder, Christoph, nur einen recht kurzen Auftritt bei Zweig, bevor er durch französische Granaten getötet wird. Er hatte sich einigen Ärger zugezogen, als er von desolaten Zuständen in Reihen der Armee berichtet hatte; er führte Beschwerde gegen Offiziere, die sich auf Kosten ihrer Untergebenen bereicherten. Für diese Beschwerde, durch Briefzensur abgefangen, drohte ihm das Kriegsgericht, und auch bei den Offizierskollegen war er damit unten durch. Bevor noch der Prozess anberaumt werden kann, wird er zum Fronteinsatz befohlen. Dort treffen ihn die Granaten – seine Vorgesetzten haben »die Untersuchung so lange hinzögern können, bis der Mann schließlich gefallen ist«.206 Für ihn hat das von Johnson attestierte ›Prinzip der Anständigkeit‹ Gültigkeit, wenngleich es in der erzählten Welt an den korrumpierten Verhältnissen des kaiserlichen Militärwesens scheitert. An ihnen zerbricht in der Folge auch der ältere Bruder Eberhard, der daraufhin auf Rache aus ist, wobei sich seine »Privatrache« schließlich zum »Privatkrieg« auswächst.207 Eberhard verlässt bald den Weg von Anstand und Recht, er sinnt auf den Tod der Verantwortlichen, als er mit rechtlichen Mitteln nicht weiterkommt. Überdies ist er selbst dem gesellschaftlichen System verhaftet, dessen Kehrseite er nach dem Tod seines Bruders kennenlernt. Seine Rachegelüste sind zum Teil motiviert aus einem point d’honneur, der sich auf den Vater bezieht: Denn sein Vater käme sich, wenn publik würde, »daß ein Kroysing nur durch den Tod einer kriegsgerichtlichen Bestrafung entgangen sei«, »geächtet und geschändet« vor, und das »darf man ihm wohl ersparen«.208 Eberhards Neigung, das Recht in die eigene Hand zu nehmen, diskreditiert ihn als mögliches Vorbild. Sein Handeln kann darüber hinaus nicht mehr unter ›Ehrensachen‹ oder ›Ehrenhändel‹ subsumiert werden, die ohnehin einer archaischen Ordnung angehören, wie sie in der sozialistischen Gegenwart Johnsons als überwunden gelten sollte. Da Johnson sich im Gesamtbild seines Textes als gründlicher Leser zeigt, muss hier davon ausgegangen werden, dass seine tendenziöse Reduktion der erzählten Figurenentwicklung darin motiviert ist, Eberhard gemäß der eingangs postulierten Vorbild-Warnung-Dichotomie
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Genosse, haben Sie den faulenden und sterbenden Kapitalismus gesehen?« – »Ja, habe ich.« – »Und was halten Sie davon?« – »Schöner Tod …«. Arnold Zweig: Erziehung vor Verdun, Berlin: Aufbau-Verlag 1950, S. 37. Zweig, Erziehung vor Verdun (Anm. 205), S. 72. Zweig, Erziehung vor Verdun (Anm. 205), S. 194 und S. 145. Zweig, Erziehung vor Verdun (Anm. 205), S. 116f.
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einen Vorbildcharakter zuzuschreiben, ihn als pädagogisch wertvoll im Sinne der Staatsraison zu interpretieren. Es wäre auch das Gegenteil möglich gewesen: Im November 1952 begeht Arnold Zweig seinen 65. Geburtstag, Offizielle und Presse der DDR ehren ihren Vorzeigeautor. Im Neuen Deutschland wird besonders auf die Bedeutung des Zweig’schen Romanzyklus »für den Kampf des deutschen Volkes gegen den antihumanen Imperialismus« hingewiesen. Dort fällt die Bewertung ganz anders aus, wiewohl auch diese Lesart selektiv und politisch präjudiziert ist: Leutnant Eberhard Kroysing, der Bruder Christoph Kroysings, zieht aus der Erkenntnis der Unvereinbarkeit humanistischer Ideale mit der imperialistischen Wirklichkeit den Schluß: Die Ideale sind falsch, die Welt ist unmenschlich, also muß ich es auch sein. In der Darstellung Kroysings nimmt Arnold Zweig den Typ des SS-Banditen des zweiten Weltkrieges vorweg.209
Die Urteile beider Interpreten könnten unterschiedlicher kaum sein. Bleibt Johnsons Lesart an der Oberfläche und wählt nur einen Aspekt der Figur für seine Zwecke aus, so gilt das ähnlich für die zweite Deutung, die die Figur Eberhard Kroysings auf Anpassung und Resignation reduziert, ihrer Komplexität so jedoch ebenfalls nicht gerecht wird. Bemerkenswert daran ist, dass beide Interpreten Zweigs Texte unter den gleichen gesellschaftlichen Vorzeichen und mit durchaus vergleichbaren Absichten angehen: In einem pragmatisch orientierten Gebrauchstext (Arbeitsprobe bzw. Zeitungsartikel) soll die Leistung Zweigs für den Leser in der DDR herausgestellt und gewürdigt werden. Trotz ihrer diametralen Lesarten, gelingt es beiden Interpreten, die Figur – und darüber ihren Autor – ›passend‹ in diesem Sinne zu deuten. Johnson betrachtet Kroysing eher vom Anfang seiner Entwicklung, im Neuen Deutschland liegt die Perspektive mehr auf dessen Ende. Der »alte Kriegsgerichtsrat, der Selbstmord begeht« (38r–v), von Johnson nicht namentlich genannt, ist Carl Georg Mertens, der mit dem Kriegsgerichtsverfahren um Christoph Kroysing betraut ist. Mertens kann seine Rechtsauffassung nicht durchsetzen und resigniert. Hier fasst Johnson die Beweggründe für dessen Selbstmord zutreffend zusammen – »um nicht mitschuldig zu werden an der schreienden Ungerechtigkeit und Menschenfeindlichkeit des Krieges« (38v). Allerdings verortet er diese Figur weder explizit als Vorbild noch als Warnung, sie lässt sich nur schwer in dieses Schema fügen. Denn obwohl die Erkenntnis über den Charakter des Krieges als positiv zu werten ist, steht dem der gemeinhin negativ bewertete Selbstmord gegenüber. Mertens ist somit beides, Vorbild im Sinne seines redlichen Bemühens um Rechtsstaatlichkeit, Warnung hinsichtlich der von ihm aus den Kriegserlebnissen gezogenen Konsequenz. 209 Horst Eckert: Arnold Zweig 65 Jahre alt, in: Neues Deutschland, 9. 11. 1952, S. 6.
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Dabei überwiegt im Ergebnis die Warn-Funktion, Mertens gelangt zu der Einsicht, einer moralisch verkommenen Organisation gedient zu haben. Sein Suizid ist ein verzweifelter letzter Schritt, von ›Verhältnissen‹ ihm nahegelegt, die den charakteristischen Mangel der einst stolzen ›preußisch-hohenzollern’schen‹ Militärs an Gerechtigkeitssinn und Kameradschaft angesichts der Kriegsrealität offenbaren. Der von seinem Staat zum Selbstmord getriebene Staatsdiener illustriert in dieser Lesart sowohl die »Ungerechtigkeit und Menschenfeindlichkeit dieses Krieges« als auch seiner Verantwortlichen, der aristokratischen Eliten des ›imperialistischen Zeitalters‹. Das Attribut der ›Menschenfeindlichkeit‹ wurde in der Propaganda der DDR häufig für die pejorative Benennung unliebsamer Maßnahmen und Eigenschaften des ideologischen Gegners gebraucht,210 Johnson setzt es souverän an passender Stelle und wertet damit durch die Begriffswahl. Als nächstes widmet Johnson sich Werner Bertin, dem Protagonisten aller vier Romane. Bemerkenswerterweise wird selbst Bertin mit nur einem Satz abgehandelt, statt, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, im Mittelpunkt weitläufiger Ausführungen zu stehen. Zwar tritt seine Figur gelegentlich in den Hintergrund zugunsten anderer Figuren, doch bleibt sie das wesentliche verbindende Element dieses Zyklus auf der Figurenebene, wie es der Erste Weltkrieg hinsichtlich des Sujets und der erzählten Zeit ist. Diesem Aspekt wird Johnson nur insofern gerecht, als er auf Bertins »alle vier Bände durchziehende Entwicklung« (38v) verweist. Bertins Entwicklung wird zudem positiv konnotiert, denn er »lernt, den Krieg nicht mehr als gesellschaftliches Naturereignis, sondern als Mittel der Ausbeutung zu betrachten« (38v). Mit dieser Deutung begibt sich Johnson nur scheinbar in einen ideologischen Konflikt. Zwar sind auch in der für ihn geltenden Lehrmeinung, dem historischen Materialismus, gewaltsame Konflikte und Kriege integraler Bestandteil der menschlichen Geschichte; seit der Entwicklung des durch Arbeit produzierten Mehrwerts wurde versucht, sich diesen mittels Gewalt anzueignen (neben Krieg bspw. durch eine ursprüngliche 210 So wurde beispielsweise die westdeutsche Jugend u. a. von vorgeblich »menschenfeindlichen Kriminalfilmen« verdorben, den »aggressiven amerikanischen Imperialismus« sah man einer »menschenfeindlichen, kannibalischen Ideologie« verpflichtet, es herrschte Furcht vor den »zutiefst menschenfeindlichen Kriegs- und Ausrottungsvorhaben der amerikanischen Imperialisten«, und in der Kunst käme man nur langsam voran, weil selbst einige Künstler der DDR noch immer mit den »unbrauchbaren Methoden des menschenfeindlichen Formalismus« arbeiteten (Quellen in der Folge ihrer Zitation: Robert Havemann: Berlin sagt JA zum Frieden! Prof. Havemann, 1. Vorsitzender des Groß-Berliner Friedenskomitees, zur Volksbefragung, in: Berliner Zeitung, 26. 5. 1951, S. 3f., hier: S. 4; Günther Cwojdrak: Geht es nur um die Form? Formalismus mit Mißverständnissen, in: Berliner Zeitung, 6. 6. 1951, S. 3; Gerhard Kegel: Vom Ruhrstatut zum »Schuman-Plan« – Weg in Krieg und Vernichtung. Der Kampf gegen den »Schuman-Plan« ein notwendiger Bestandteil des Kampfes um die Erhaltung und Sicherung des Friedens, in: Neues Deutschland, 12. 6. 1951, S. 4; N. N.: Für eine neue Blüte der deutschen bildenden Kunst, in: Neues Deutschland, 7. 6. 1952, S. 1).
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Form der Sklaverei bis hin zu durch politische Gewalt gestützter vertraglicher Lohnarbeit).211 Johnson zielt mit dem ›gesellschaftlichen Naturereignis‹ allerdings auf die in Zweigs Romanen an Vertretern des kaiserlich-imperialistischen Gesellschaftssystems dokumentierte, sozialdarwinistisch geprägte Sichtweise des Krieges. Diese tatsächlich nur sehr lose auf Charles Darwins Evolutionslehre zurückgreifende Lesart sieht im Krieg den elementaren ›Kampf ums Dasein‹ zugunsten des ›Rechts des Stärkeren‹ verwirklicht. In der so versuchten Sinnstiftung wird alle Kriegführung »aus dem Naturgesetz des Daseinskampfes« hergeleitet, ein unter prominenten Militärs des deutschen Kaiserreichs verbreitetes Deutungs- wie auch Legitimationsmuster, mit dem ein »vermeintlich unauflösbarer und unwiderlegbarer Konnex zwischen Natur und Krieg« postuliert werden konnte.212 Als positive Leistung Bertins wertet Johnson also dessen, mit dem Marxismus-Leninismus konform gehende Einsicht in die Hintergründe des Weltkrieges. Denn in dieser politischen Lesart wird Krieg nicht einfach als ›naturgegeben‹ hingenommen, erst in einem kommunistischen Ideal wäre er überwunden, er hat seine Gründe im – kapitalistischen – Bestreben nach Mehrwert, dem Vorteil der in der erzählten Zeit noch herrschenden Klasse. Die literarische Figur gelangt somit zu der für Johnson historisch-politisch ›richtigen‹ Erkenntnis; als allmählicher Lernprozess dargestellt, betont sie zudem den ›Lehrbuchcharakter‹ des Zweig’schen Romanzyklus. Wenn die Figur Bertin auch nicht in Gänze zum Vorbild taugen mag, er betrügt etwa seine Frau, so ist der an seinem Beispiel gezeigte politische Erkenntnis- und damit Reifeprozess vorbildlich. Johnson liest Zweigs autobiographisch geprägten Protagonisten durchaus im Sinne des Autors. Im Herbst 1951 veröffentlicht Zweig einen Auszug aus einem frühen, für den Roman dann nicht verwendeten Manuskript von Erziehung vor Verdun. Im Rückblick darauf stellt er fest: »Als ich das vorliegende Manuskript diktierte, hielt ich das Kriegführen für eine Eigentümlichkeit der Völker. Heute, beim Verfassen dieses Nachwortes, weiß ich: es ist eine Eigentümlichkeit gewisser wirtschaftlicher Systeme«. Ihm gehe es mit seinem Buch darum, den »jungen Leuten« eben dies beizubringen, damit sie »den mannhaften Geist der Selbst211 Vgl. bspw. Marx: »Der Krieg ist daher eine der ursprünglichsten Arbeiten jedes dieser naturwüchsigen Gemeinwesen, sowohl zur Behauptung des Eigentums als zum Neuerwerb desselben« (Karl Marx: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 42, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin: Dietz 1983, S. 47–768, hier: S. 399 [Hervorh. im Original]); oder auch Lenin: »Die Bourgeoisie aller Großmächte führt den Krieg wegen der Aufteilung und Ausbeutung der Welt, wegen der Unterjochung der Völker« (Wladimir I. Lenin: Der Opportunismus und der Zusammenbruch der II. Internationale, in: ders., Werke, Bd. 22 (Anm. 204), S. 107–119, hier: S. 111 [Hervorh. im Original]). 212 Niklaus Meier: Warum Krieg? Die Sinndeutung des Krieges in der deutschen Militärelite 1871–1945, Paderborn: Schöningh 2011, S. 167.
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verteidigung von dem des raubgierigen Eroberns unterscheiden lernen.«213 Der von Johnson den Romantexten attestierte pädagogische Charakter deckt sich offensichtlich mit den Absichten – wie auch der exemplarischen Vita – ihres Verfassers. Grischa Paprotkin, Titelfigur des Romans Der Streit um den Sergeanten Grischa, wird ebenfalls mit nur einem Satz abgehandelt. Johnson bleibt bei seiner Darstellung dem Anschein nach wiederum oberflächlich: »ein Mann mit einem offenen Gesicht und einem seelensguten Gemüt« (38v). Damit entspricht Johnson der Figurenzeichnung im Roman, die von bedeutungsvoller Passivität dominiert ist. Über Grischa wird zwar ausführlich verhandelt, er ist das Movens für Ereignisse, Handlungen und Entscheidungen anderer, allerdings in der Regel, ohne selbst aktiv geworden zu sein. Diese Opferrolle, zumal eines Unschuldigen, demonstriert Johnson mit seiner Charakterisierung eines schlichten, gutmütigen, auch infantil-naiven Soldaten, der seine Geschicke nicht selbst in der Hand hat; als er eine Flucht versucht, gerät er in nur noch größere Abhängigkeiten. So fällt Grischa strenggenommen nur ein Halbsatz zu, denn im Weiteren geht es um jene, die über ihn entscheiden. Er wird hingerichtet, »weil ein General seine Prestigebelange wahren muß« (38v). Johnson sagt nicht, wer dieser General ist, obwohl er dessen Namen einige Zeilen später nennt. Um Konkretes geht es auch hier nicht. Johnson illustriert ein Missverhältnis zwischen dem positiv konnotierten (›seelensguten‹) einfachen Mann und dem augenfällig pejorativ dargestellten machthabenden Militär bzw. dessen egoistischen Motiven (›Prestige‹). Somit ist Grischa in menschlicher Hinsicht durchaus als Vorbild zu sehen, das durch sein Schicksal zur Warnung vor dem – letztendlich wiederum ›kapitalistisch‹ motivierten – Militärregime wird. Anschließend listet Johnson Vertreter dieses Regimes auf. Er beginnt mit »Exellenz von Lychow«, in dem er den »Standardtyp des preußischen Feudaljunkers« sieht (38v). Mit dieser Charakterisierung zieht Johnson ganz offensiv das Register sozialistischer Kampfrhetorik und bedient sich dafür bei Zweig – Lychows »Typus« ist dort der »greise preußische Junker«.214 General Otto von Lychow ist Patriarch im »Herrenhaus Hohen-Lychow«, ihm stehen nicht nur Bedienstete und Landarbeiter für sein Gut zur Verfügung, im Krieg werden auch russische Zwangsarbeiter dort eingesetzt.215 Mit solchen ›Typen‹ liefert Zweig die feudal-kapitalistische Kontrastfolie zum Arbeiter- und Bauernstaat. Schon kurz nach dem Sieg über die Nationalsozialisten wurde in der SBZ eine Bodenreform durgeführt, in deren Rahmen man Großgrundbesitzer, eben jene ›Junker‹, die von der sowjetischen Führung als eine wesentliche Stütze des NS-Regimes an213 Arnold Zweig: Kroysing, in: Sinn und Form 3, 1951, H. 6, S. 67–92, hier: S. 92. 214 Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa, Berlin: Aufbau-Verlag 1949, S. 108. 215 Zweig, Grischa (Anm. 214), S. 460.
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gesehen wurden, systematisch enteignete und vertrieb. So kursierte bereits seit der zweiten Jahreshälfte 1945 das Schlagwort: »Junkerland in Bauernhand!«216 Fortan war der Typ des meist adligen Grundbesitzers ein häufig aufgerufenes Feindbild des Arbeiter- und Bauernstaates. Johnson nuanciert dieses Feindbild, indem er meint, dass Lychow »sich in der Welt des Imperialismus nicht behaupten« (38v) könne. Zweig stattete diese Figur mit positiven Eigenschaften aus, dieser General verhält sich seinen Soldaten gegenüber weitestgehend anständig, ist im Fall Grischa um Einhaltung der Gesetze bemüht, will ihn vor der rechtswidrigen Erschießung bewahren. Johnson folgt Zweigs Figurenzeichnung dieses Mannes in einer Opferrolle, als Vertreter einer im ›Imperialismus‹ untergehenden ›Feudalordnung‹. Lychow fehlt sozusagen die imperialistische Radikalität, die seinen Gegenspieler auszeichnet. Dieser Gegenspieler ist Albert von Schieffenzahn, »Generalquartiermeister des Heeresbezirkes Ober-Ost« (38v).217 Er hat »Ambitionen«, wie Johnson richtig feststellt, »die Sowjetunion zur Kolonie des preußischen Imperialismus zu machen« (38v). Damit ist genug über diese Figur gesagt, um sie als negatives Beispiel im Sinne der Warn-Funktion darzustellen. Neben den, nach DDR-Staatsraison zu verurteilenden, imperialistischen Bestrebungen ist deren konkretes Ziel die Sowjetunion, der (spätere) Bruderstaat der DDR, (dereinst) Befreier von den Nationalsozialisten und ideologisches wie gesellschaftliches Vorbild. (Davon konnten Zweigs Primärrezipienten freilich noch nichts wissen.) Die gleichen Ambitionen teilt auch General Clauß, den Johnson zusammen mit Schieffenzahn nennt; für ihn gilt Gleiches, beide unterscheiden sich auch in Zweigs Romanen nur geringfügig: »Schieffenzahn will viel annektieren, auch im Westen, Clauß will weniger annektieren, nur den Osten, das ist der ganze Unterschied.«218 In Kontrast zu diesen Personifikationen des »in Fäulnis begriffenen Kapitalismus« zählt Johnson als nächstes Paul Winfried auf, einen »bürgerlichen Intellektuellen«, der »das Wesen und die Ziele dieses Weltkrieges durchschaut« (38v). Durch diese Charakterisierung stellt Johnson hinsichtlich seiner VorbildWarnung-Dichotomie Winfried als Vorbild heraus. Denn zum einen steht Winfried als Bürgerlicher auf der Feind- bzw. Warn-Skala nicht so hoch wie etwa Lychow oder Schieffenzahn. Zum anderen knüpft das Durchschauen der Kriegshintergründe an den bereits positiv gewerteten Erkenntnisprozess Bertins an. Wiewohl die Entwicklungen Winfrieds und Bertins an unterschiedlichen 216 Edwin Hörnle: Die Bodenreform. Ein Wendepunkt in der Geschichte Deutschlands, in: Berliner Zeitung, 13. 9. 1945, S. 1. Die Flächen wurden an Kleinbauern (sog. landarme Bauern), Neubauern und Flüchtlinge verteilt. Vgl. dazu etwa Arnd Bauerkämper: »Junkerland in Bauernhand«? Durchführung, Auswirkungen und Stellenwert der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone, Stuttgart: Steiner 1986. 217 Nicht »Ober-Ort«, wie Neumann transkribiert (Johnson, Arnold Zweig (Anm. 200), S. 24). 218 Zweig, Einsetzung eines Königs (Anm. 203), S. 177.
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gesellschaftlichen und intellektuellen Ausgangspunkten beginnen, ihre Erkenntniswege sich unterscheiden, so gelangen sie doch zu einem vergleichbaren Ergebnis – womit nebenher die ›Richtigkeit‹ dieser Erkenntnis sozusagen gegenseitig verifiziert wird. Winfrieds Resümee seiner Kriegserfahrungen gilt auch für Bertin: Das Entsetzliche war: Unterhalb der geordneten deutschen Wirklichkeit, dieser Dienstwelt mit strengen Rechtlichkeitsbegriffen und altpreußischen Soldatenordnungen, tat sich ihm eine Kellerwelt auf von Ungesetzlichkeit, Roheit, willkürlicher Ausbeutung der Schwachen, […] wo öffentliche Aufsicht und Kontrolle nicht hinfand. […] Mächtige Leute hielten ihre Hand über die Rüpel […], die den Krieg zum Raubzug benutzten und entarten ließen.219
Zu dieser Erkenntnis sind die folgenden von Johnson aufgezählten Figuren bereits gelangt. Es handelt sich um Nebenfiguren, die in den Kriegsgeschehnissen ihre bereits gefasste politische Haltung bestätigt sehen; sie alle sind grob in einem sozialdemokratischen bis sozialistischen Spektrum zu verorten und werden offensichtlich wegen ihres vergleichbaren Standpunktes zusammenfassend von Johnson behandelt. Und es erscheint somit auch folgerichtig, dass Johnson sie mittels ihres Berufs charakterisiert, womit zugleich eine Milieuzuschreibung erfolgt, und nicht etwa hinsichtlich militärischem Rang, familiären Beziehungen oder individuellen Eigenschaften; wie er es bisher getan hat – ›Schriftsteller Bertin‹ einmal ausgenommen. Johnson meint, in »dem Setzer Wilhelm Pahl, dem Gastwirt Karl Lebehde, dem Gasarbeiter Halezinsky, dem Revolutionär Fjodor Weressejew«,220 zeige sich, »daß die zukünftige Entwicklung von den proletarischen Kräften als den stärkeren bestimmt werden wird« (38v). Der Gasarbeiter Halezinsky nimmt dabei nur eine kleine Nebenrolle ein, ist ein Kamerad Bertins bei Verdun, man erfährt kaum etwas über ihn, so, als wäre er den Revolutionsstücken von Georg Kaisers Gas-Trilogie entstiegen.221 Zumeist tritt er gemeinsam mit Lebehde und Pahl auf, deren Ansichten und Kriegsablehnung er teilt. Wilhelm Pahl, der in seiner Kompanie den »Ehrennamen ›Liebknecht‹«222 trägt, figuriert als Beispiel in Johnsons Sinn, will er doch Bertin für die Sache der Arbeiterklasse gewinnen. Von Anfang an erkennt Pahl den Krieg als für die gegebene »Gesellschaft im Streit um die Weltmärkte unent219 Zweig, Einsetzung eines Königs (Anm. 203), S. 438. 220 Johnson verschreibt sich bei dem letzten Namen, indem er ›Weressjew‹ statt richtig ›Weressejew‹ schreibt. Auch Neumann hat Schwierigkeiten bei den Namen, er hat »Wilhelm Dahl« statt Wilhelm Pahl und »Karl Libehde« statt Karl Lebehde (Johnson, Arnold Zweig (Anm. 200), S. 24). 221 Vgl. Georg Kaiser: Die Koralle. Schauspiel in fünf Akten, Potsdam: Kiepenheuer 1917; ders., Gas. Schauspiel in fünf Akten, Berlin: Fischer 1918; ders., Gas. Teil 2. Schauspiel in drei Akten, Potsdam: Kiepenheuer 1920. 222 Zweig, Erziehung vor Verdun (Anm. 205), S. 27.
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behrlich«, überdies führe man damit »die Proletarierheere, die sich morgen gegen die herrschende Klasse erheben könnten, heute zum gegenseitigen Abschlachten ins Feld der Ehre«.223 Für Johnsons Lesart kann er als gelungene Figur gelten, »weil er genau die Stichworte aussprach, die in der marxistischen Kritik des modernen Krieges eine zentrale Rolle spielen«.224 Politischer Wegbegleiter Pahls ist Karl Lebehde, der während der Zeit vor Verdun in der Regel mit Pahl zusammen auftritt, und der später Bertin in OberOst wiedertrifft. Plakativ ist von ihm einmal als dem »Genossen Lebehde« die Rede. Wie Pahl macht auch er »die kapitalistische Weltordnung und ihre Kriege« als »Gegner« aus.225 Sein weiteres Schicksal wird als Prolepse mitgeteilt: er stirbt »unter den Spitzkugeln der Reichswehr beim verzweifelten Arbeiteraufstand des Jahres 1919«.226 Für ihn gilt wie für Pahl, dass er die passenden Schlagworte liefert, die einer marxistischen Kritik des Ersten Weltkriegs Anknüpfungspunkte bieten. Schon in der zeitgenössischen Presse von 1949 wird anlässlich der Neuausgaben von Zweigs Romanen Der Streit um den Sergeanten Grischa und Junge Frau von 1914 die »eminente Bedeutung« zweier Vertreter »der klassenbewußten Arbeiterschaft« betont: Aus dem umfangreichen Figureninventar werden »der Setzer Pahl und der Berliner Gastwirt Lebehde, als ständige Kritiker des gesamten Geschehens« betont hervorgehoben.227 Johnsons Aufzählung präsentiert diese drei Figuren eindeutig als Vorbilder. Das soll auch für den »Revolutionär Weressejew« gelten, der jedoch aufgrund der ihm von Johnson zugeschriebenen Berufsbezeichnung heraussticht. De facto ist er Student, will Geistlicher werden, wird dann allerdings russischer Widerstandskämpfer hinter der Front und »Sozialrevolutionär«;228 er verübt ein Bombenattentat auf den hohen Militär und Adligen von Lychow, für das er zum Tode verurteilt wird. Von der Zweig-Forschung wird der deutsche Befehlshaber Hermann von Eichhorn als wahrscheinliche Folie Lychows gewertet,229 die Um-
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Zweig, Erziehung vor Verdun (Anm. 205), S. 24. Kaufmann, Entstehung und Wirkung, Verdun (Anm. 157), S. 566. Zweig, Erziehung vor Verdun (Anm. 205), S. 488. Zweig, Erziehung vor Verdun (Anm. 205), S. 206. Hans Günther Cwojdrak: Epische Früchte vom Baum des Lebens. Zu Arnold Zweigs Romanzyklus über den ersten Weltkrieg, in: Neues Deutschland, 26. 10. 1949, S. 3. 228 Zweig, Einsetzung eines Königs (Anm. 203), S. 376. 229 Vgl. etwa Geoffrey V. Davis: Arnold Zweig in der DDR. Entstehung und Bearbeitung der Romane »Die Feuerpause«, »Das Eis bricht« und »Traum ist Teuer«, Bonn: Bouvier 1977, S. 139; sowie Holger Brohm: Entstehung und Wirkung, in: Arnold Zweig: Einsetzung eines Königs, Berliner Ausgabe, hg. von der Humboldt-Universität zu Berlin und der Akademie der Künste Berlin, Berlin: Aufbau-Verlag 2004, S. 570–589, hier: S. 561.
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stände des literarischen Attentats sind dem realen Anschlag durch »Boris Danskio, […] an agent of the Social Revolutionists«,230 nachgebildet. Ob sich mit diesem Attentat, dem zwei Menschen zum Opfern fallen, allerdings die ›proletarischen Kräfte als die Stärkeren‹ erweisen, ist mehr als fraglich. Dem kann entgegengehalten werden, dass Attentate und Terrorakte häufig Instrumente des ›Schwächeren‹ gegen eine überlegene Macht darstellen. Eichhorns Mörder respektive Zweigs literarisches Pendant Weressejew fügen sich nicht so recht in Johnsons Reihung mit Halezinsky, Pahl und Lebehde. Letztere sind weniger extremistisch als Weressejew, und Johnsons umstandslose Reihung gemäßigter und radikaler Kräfte lässt die historisch-politischen Details und deren erkennbar offiziös gewünschte Lesarten unberücksichtigt. Ein ›sozialistischer‹ Revolutionär war selbst in der DDR nicht per se positiv konnotiert.231 Im Anschluss an diese Aufzählung beginnt Johnson mit der allgemeinen Bewertung des Zweig’schen Zyklus, für die seine Figurencharakteristik offenbar das exemplarisch-argumentative Fundament legen soll. Dabei kommt er noch auf eine letzte Figur zu sprechen, den »philosophischen Rechtsanwalt Dr. Posnanski«,232 in dem die »konsequente Idee des Rechts und der Rechtlichkeit […] personifiziert« sei (39r). Er scheint geeignet, eine idealisierte Person mit hehren Idealen abzugeben. Zwar ist er bemüht, Recht und Rechtsstaatlichkeit auch in 230 N. N.: Eichhorn Hit While Driving. Missile Thrown at Him by Russian Youth in Passing Cap, in: The New York Times, 1. 8. 1918, S. 1 u. 5, hier: S. 1. In den amtlichen Meldungen der deutschen Presse findet sich der Name des Attentäters nicht, auf seine Zugehörigkeit zu den Sozialrevolutionären wird allerdings hingewiesen. Der Attentäter wurde kaum zwei Wochen später »von einem deutschen Feldgericht« verurteilt und umgehend »öffentlich erhängt« (N. N.: Sühne für den Kiewer Mord, in: Vossische Zeitung, Berlin, 12. 8. 1918, S. 1). Auch hier deckt sich Historie mit Zweigs Histoire. Zur Namensschreibung vgl. auch: »Der Attentäter nennt sich Boris Donskij. Er ist 23 Jahre alt und Vertrauensmann der linken Sozialrevolutionären Partei in Moskau« (N. N.: Die Vorgänge im Osten, in: Politische Chronik der österreichisch-ungarischen Monarchie, 1918, H. 7, S. 318–320, hier: S. 319f.). 231 Der russische Parteiname ›Партия социалистов-революционеров‹ kann wörtlich als ›Partei der sozialistischen Revolutionäre‹ übersetzt werden, im Deutschen etablierte sich der Name ›Sozialrevolutionäre‹. In der offiziellen Erinnerungskultur der DDR hatte die Partei der Sozialrevolutionäre einen schweren Stand. Zwar konnte sie nicht verschwiegen werden, sie hatte erheblichen Anteil an den Entwicklungen der Oktoberrevolution, doch war ihre Rolle im Nachhinein klar definiert: Man sprach von den »sozialrevolutionären Lakaien« der »konterrevolutionären Bourgeoisie« (Otto Winzer: Die deutsche Ausgabe des 5. Bandes der Werke J.W. Stalins. Stalins Reden und Aufsätze aus den Jahren 1921 bis 1923 – Die ersten Jahre des sozialistischen Aufbaus, in: Neues Deutschland, 3. 4. 1952, S. 3f., hier: S. 4). Immerhin blieb Weressejew in der Ausgabe des Aufbau-Verlags erhalten, wohingegen etwa für Einsetzung eines Königs im Vergleich zur Erstausgabe des Querido Verlags »die Streichung bzw. Ersetzung fast aller Erwähnungen von Trotzki und anderen russischen Revolutionären, die dem Stalinismus zum Opfer fielen, zu erkennen« ist (Brohm, Entstehung und Wirkung, Einsetzung eines Königs (Anm. 229), S. 584). 232 Im Gegensatz zu Zweig (»Posnanski«) schreibt Johnson »Posnansky«, Neumann übernimmt Johnsons Schreibung (vgl. Neumann: Johnson, Zweig (Anm. 200), S. 24).
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Kriegszeiten zur Gültigkeit zu verhelfen, allerdings beugt auch er sich vor der Realität des Krieges: und zwar »wußte er, mit welchem Wasser die Mächtigen kochten«.233 Aus Johnsons Perspektive kann er als positives Gegenstück zu Kriegsgerichtsrat Mertens gelesen werden. Statt an der Kriegsrealität zu verzweifeln und sein Leben daran zu opfern, tritt er für seine Prinzipien ein; jedoch in pragmatischer Weise, stets nur soweit, wie es die Umstände zulassen. Damit aber verliert die ›Idee des Rechts‹ seine Wirkung durch jene, die sich selbst darüber stellen; so wie Zweig es mit Schieffenzahn gezeigt hat. Einmal mehr verkürzt und vereinfacht Johnson seine Darstellung zugunsten einer positiven Bewertung einzelner Figuren. Schließlich ist noch ein formaler Aspekt in Johnsons Analyse bemerkenswert. Sie findet im Wesentlichen in neun aufeinanderfolgenden Sätzen statt: Er beginnt sie alle mit »Da ist« (bzw. einmal mit dem Plural »Da sind«, 38r–v). Diese Häufung deutet auf eine Intention hin. Eine derart gestaltete Repetitio, hier als Anapher, kann zur Markierung von Zäsuren dienen, um damit einzelne Sinneinheiten zu strukturieren. Diese Gliederungsfunktion ist evident, jedes »Da ist« leitet in Johnsons Text eine neue Figurencharakterisierung ein. Hingegen fällt es schwer, darin eine Verstärkung oder größere Eindringlichkeit, die zweite zentrale Funktion der Anapher, zu erkennen. Ein gewisses Insistieren entsteht dadurch, dass durch das knappe, wiederholte ›Aufzählelement‹ die Figuren in schneller Folge abgehandelt werden können – um Konjunktionen oder sonstige textstrukturierende Elemente müssen sich weder Verfasser noch Leser Gedanken machen. Johnsons Charakteristik wird durch diese Reduktion zielgerichteter, auf das Wesentliche konzentriert. Insoweit ist das keine originäre Erfindung, denn derartige Figurenkonzentrate finden sich gelegentlich in Feuilleton und Literaturkritik. So lobt etwa der seinerzeit bekannte Theaterkritiker Hans-Werner Gyßling bei einer Aufführung des Stücks Die Feinde die »unverwechselbaren Gorki-Gestalten«: Da ist der zielklar handelnde Revolutionär, da ist der devote, verschüchterte Bückling, da ist das blutjunge Mädchen besitzbürgerlicher Herkunft, das mit Herz und Hand dem kämpfenden Proletariat sich gesellt. Da ist die elegante bürgerliche Frau, die zwar nicht über ihren eigenen Schatten springen kann, aber doch klar erkennt, welcher Kraft die Zukunft gehört.234
Hier hat sich Johnson also gezielt eines effizienten rhetorischen Stilmittels bedient. Vielleicht hat er damit aber noch mehr getan. Zum einen wählt er zu einer Zeit, in der gegen einen wie auch immer gearteten Formalismus agitiert wurde, ein Stilmittel, das seine Inhalte einer strengen Form unterwirft. Mit der Anapher 233 Zweig, Erziehung vor Verdun (Anm. 205), S. 364. 234 Ypsi [d. i. Hans-Werner Gyßling]: »Grundsätzliche Feinde« auf der Bühne, in: Neue Zeit, 3. 5. 1952, S. 4.
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verfügt er über ein noch ›zulässiges‹ Instrument, das die extremen Ausdrucksweisen oder Stilgesten etwa des Expressionismus vermeidet, und überschreitet so keine formalistische Grenze. Zum anderen ist die Repetitio ein bewährtes Mittel von Propaganda, nicht nur bezüglich der Wiederaufnahme von Formen, sondern vor allem hinsichtlich der Wiederholung von Aussagen, Meinungen, Parolen. Indem er nun Formalia in großer Zahl reproduziert, um wechselnde Inhalte zu kommunizieren, wird diese propagandistische Methode vorgeführt – die ihr inhärente Eindringlichkeit betont dabei aber vor allem sich selbst. Johnson hat die Parolen und Instrumente der SED-Propaganda sehr genau zur Kenntnis genommen, seine Verwendung und Variation ihrer Methoden und Schlagwörter bezeugt es. Das von ihm in erster Linie als praktisches Reihungsmittel gebrauchte rhetorische Werkzeug mag nebenher auf seine Einsicht in das populistische Instrumentarium verweisen. Für seine Figurenanalyse ist zusammenfassend festzustellen, dass Johnson die teils komplexen Figuren Zweigs zugunsten einer einfachen dialektischen Bewertungsskala (»Vorbild oder Warnung«) erheblich – bis entstellend – reduziert. Dahinter verbirgt sich eine politisch präfigurierte Lesart, die erwünschtes beziehungsweise unerwünschtes Verhalten nach den aktuellen Maßstäben der neuen Gesellschaftsordnung bemisst. Die erzählten Zeiten und Orte dienen ihm lediglich zur Illustration der inzwischen ›verfaulten‹ Gesellschaft: Johnsons Gegenwart liefert den Maßstab zur Bewertung von Historie und Histoire.
4.3
Johnsons Einschätzung von Zweigs Zyklus
Mit seinem Aufsatz bewirbt sich Uwe Johnson um einen Studienplatz im Fachbereich Germanistik. Zweigs Romane waren dabei aber offensichtlich nur Ausgangs- und Fluchtpunkt für den Nachweis anders gearteter Qualitäten des Kandidaten. Johnson weiß über die Literatur hinaus die eingeforderte ›Aktualität‹, im weiteren Sinne auch den ›Bezug zum Beruf‹, im ›Geist der Zeiten‹ zu bedienen. Die Entscheidung für Zweigs Romanzyklus eröffnet ihm einen umfangreichen Fundus ›passender‹ Sujets und Figuren, die seine Intention stützen, Zweigs Werk als ein pädagogisches im sozialistischen Sinne vorzustellen. Zweigs Romane illustrieren eine solche Erziehung mittels der Figur Bertin, zum Teil auch anhand Paul Winfrieds. Zwar zeichnet sich dieser Zyklus durch ein umfangreiches und vielfältiges Figureninventar aus, in psychologischer, vor allem aber in politischer Hinsicht, und dennoch finden sich darin Stereotypen in verschiedenen Variationen, etwa der Typus des ›klassenbewussten Arbeiters‹ in Gestalt von Pahl, Lebehde und Halezinsky. Andere sind »zum Teil historischen Vorbildern nachempfunden, etwa Schieffenzahn (Ludendorff) oder Clauss (General Hoff-
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mann)«,235 oder auch Lychow und Weressejew. Johnsons Intention lässt sich indirekt anhand seiner Figurencharakterisierungen ablesen, die er zugunsten einer eindeutigen Positionierung in seinem Bewertungsschema teils erheblich zurechtgestutzt hat. Nachdem alle Figuren politisch verortet und beurteilt worden sind, erfolgt nun erstmals der Versuch einer literarischen Urteilsfindung. Die Figuren seien »für ihre Klasse oder Gesellschaftsschicht typisch«, wodurch sich »die große Farbigkeit des Romans« ergebe (38v). Damit wird einmal mehr der ›Lehrbuchcharakter‹ der dargestellten Welt unterstrichen, denn an etwas ›Typischem‹ lassen sich die wesentlichen Merkmale einer Sache ablesen. Diese vermeintlich oberflächliche Einschätzung referiert auf die »Grundlage der orthodoxen marxistischen Realismusdiskussion«,236 die von Engels in einem Brief an die englische Schriftstellerin Margaret Harkness auf den Punkt gebracht wurde: »Realismus bedeutet, meines Erachtens, außer der Treue des Details die getreue Wiedergabe typischer Charaktere unter typischen Umständen.«237 Da laut Johnsons reduzierender Lesart in den Romanen Zweigs exemplarische Vertreter verschiedener Gesellschaftsschichten als ›Typen‹ charakterisiert seien, bekomme der Leser eine Vielfalt in großer ›Farbigkeit‹ präsentiert. Zur literarischen Bewertung im weiteren Sinne gehört auch Johnsons These, Zweigs Romane dienten einer »Aufdeckung der Zusammenhänge« des Krieges »in fast wissenschaftlicher Manier« (38v); wenngleich ein solch ›soziologisches Erzählen‹ für eine geringere Literarizität spräche. Die hier gemeinte ›Wissenschaft‹ wäre wohl am ehesten als historisch-dialektischer Materialismus zu apostrophieren, geht es doch um eine retrospektive Analyse des Ersten Weltkriegs aus der DDR-Perspektive von 1952. Da Johnson für die zentrale Figur 235 Sternburg, Arnold Zweig (Anm. 178), S. 154. 236 Hugo Aust: Literatur des Realismus, 2., durchgesehene und ergänzte Auflage, Stuttgart: Metzler 1981, S. 33. 237 Friedrich Engels an Margaret Harkness in London (Entwurf), in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 37, Berlin: Dietz 1967, S. 42–44, hier: S. 42 [Hervorh. AK]. Das Vorwort zu diesem Band betont, dass »Engels’ Äußerungen über den Realismus in seinem Brief an die englische Schriftstellerin Margaret Harkness […] von großer Bedeutung für die theoretische Bestimmung und die Entwicklung einer sozialistischen Literatur« seien; er weise »in Abgrenzung vom kritischen Realismus und dem zeitgenössischen Naturalismus auf die neue Qualität der sozialistischen Literatur hin« (ebd., S. XI). Der ›orthodoxe‹ Charakter dieser Definition Engels’ zeigt sich im beständigen Rückgriff auf diese Formel seitens der kulturpolitischen Elite der DDR; so etwa in der rhetorischen Frage Johannes R. Bechers zur Eröffnung des IV. Deutschen Schriftstellerkongresses: »Wie sollte ein Künstler in der Lage sein, eine typische Individualität unter typischen Umständen darzustellen, wenn es ihm nicht gegeben ist, das Problem des Typischen zu erfassen und selbständig zu durchdenken« (Johannes R. Becher: Von der Größe unserer Literatur, in: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß. Januar 1956, Protokoll, 1. Teil, hg. vom Deutschen Schriftstellerverband, Brandenburg: Bahms 1956, S. 11–37, hier: S. 16).
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Bertin bereits festgestellt hat, dass sie den »Krieg als Mittel der Ausbeutung« (38v) erkennt, ist ihm diese Lesart möglich. Um wieder auf das im engeren Sinn Literarische zurückzukommen, stellt er fest, dass Zweigs Zyklus zu »einem unerhört lebendigen Zeitdokument« geworden sei, und zwar durch »seine Verbundenheit mit der Materie« (38v).238 Es steht zu vermuten, dass Johnson um Zweigs Biographie und damit dessen Teilnahme am Ersten Weltkrieg wusste, woraus sich diese ›Verbundenheit‹ erklären lässt: der Autor wird so zum Chronisten erklärt. Mit seiner folgenden Einschätzung, der zufolge es bislang keinem Schriftsteller gelungen sei, »so genau und derart interessant die Wurzeln und Triebkräfte des imperialistischen Krieges« (38v) aufzuzeigen, liegt Johnson auf einer Linie mit der 1952 noch gültigen Deutungshoheit von Georg Lukács, der Zweig »eine breite und tiefe, eine umfassende Kritik des ersten imperialistischen Weltkriegs« attestierte.239 Und nachdem Johnson bereits die ›fast wissenschaftliche Manier‹ festgestellt hat, mit der Zweig sein Setting erzähle, ist es nur noch ein kleiner Schritt zu einer weiteren Übertreibung: Mit diesen Romanen sei nun »bewiesen« (38v), dass Krieg – wie schon in seiner Titeldeutung verallgemeinert Johnson hier erneut – »nichts mit Patriotismus und Gerechtigkeit« zu tun habe, sondern ›kapitalistisch‹ motiviert sei, weil vornehmlich die »wirtschaftlichen Gründe« eine Rolle spielten (38v–39r). Wenngleich mit Literatur kaum etwas zu ›beweisen‹ ist, schon gar nicht in ›wissenschaftlicher Manier‹, so folgt Johnson damit erkennbar einem wesentlichen Anliegen des Romanzyklus, wie auch der von ihm selbst intendierten Deutung. Und im Detail erweist er sich einmal mehr als kundig im propagierten Marxismus-Leninismus. Hinsichtlich der ›nationalen Frage‹ stellte Lenin 1913 fest, dass »der Marxist […] die geschichtliche Berechtigung nationaler Bewegungen durchaus« anerkenne, was allerdings »nicht zur Vernebelung des proletarischen Klassenbewußtseins durch die bürgerliche Ideologie« führen dürfe.240 Aus Johnsons – und auch Zweigs – Perspektive war genau dieser Fall im Ersten Weltkrieg eingetreten, indem »Nationalismus nur zur Verheimlichung« (39r) der ›wahren‹ Kriegsgründe gedient habe. Von anderer Qualität ist sodann die folgende Hyperbel, die davon spricht, dass die »Idee des Rechts und der Rechtlichkeit« (Posnanski), die in diesen Romanen von tragender Bedeutung sei, »jeden Menschen zum Kampf für das Gute in der Welt begeistern« müsse (39r). Auf der einen Seite klassifiziert Johnson Zweig damit als einen Repräsentanten einer Littérature engagée, die 238 Es ist keine »Verbundenheit mit der Nation«, wie Neumann transkribiert (Neumann: Johnson, Zweig (Anm. 200), S. 24). 239 Lukács, Gruß an Arnold Zweig (Anm. 158), S. 14. 240 Wladimir I. Lenin: Kritische Bemerkungen zur nationalen Frage, in: ders., Werke, Bd. 20: Dezember 1913–August 1914, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin: Dietz 1961, S. 1–37, hier: S. 19.
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vermittels eines Erkenntnisprozesses Aktivität beim Leser evoziere: Aufgrund der im Romanzyklus verhandelten »Idee des Rechts« sei jeder Leser gezwungen, für die ›Idee des Guten‹ einzutreten. Doch ist diese von ihm präsupponierte starke Einwirkung im Sinne einer Muss-Bestimmung von fraglicher Geltung. So steht auf der anderen Seite zu vermuten, dass nicht ›jeder Mensch‹ nach Lektüre des Romanzyklus für das – wie auch immer geartete – ›Gute‹ kämpfen werde. Zumindest macht Johnson an dieser Stelle den von ihm eingangs behaupteten appellativen Charakter verständlich, zwar nicht des Zyklus-Titels, aber doch der Romane selbst. Mit der Formel vom »Kunstwerk als Form der Erkennbarkeit der Welt« (39r) ruft Johnson eine bis in die Antike zurückreichende Kulturtheorie auf, die bis auf die Aristotelische Poetik zurückgeführt werden kann. Im Grunde wird die Frage verhandelt, ob die Welt objektiv erkennbar sei oder eben nicht.241 Der Marx’sche Materialismus nun war ›dialektisch‹ einem Pragmatismus verschrieben, der »prinzipiell von der Erkennbarkeit der Welt« ausging und dabei »jede vom praktischen Leben des Menschen losgelöste Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, die Welt zu erkennen, […] für eine philosophische Schrulle« hielt, so »wie später auch Engels und Lenin«.242 Eine derartige Erkennbarkeit der Welt meint in marxistisch-leninistischer Lesart ganz wesentlich die Erkenntnis der gesellschaftlichen Strukturen und Mechanismen, die beispielsweise für Kriege verantwortlich gemacht werden können. Mit dieser Perspektive lässt sich sodann aus der Erkenntnis eine Verpflichtung ableiten, nämlich gegen den Krieg und »für die Erhaltung des Friedens« (39r) einzutreten. Die Menschen der DDR waren Bannerträger zahlloser politischer Parolen. Während die »Aufrechterhaltung und Wahrung freundschaftlicher Beziehungen zu allen Völkern […] die Pflicht der Staatsgewalt«243 war, wurde der Bürger gleichermaßen in die Pflicht genommen: »Die Völker [der Welt; AK] haben ein Recht darauf, in diesem Kampf um die Erhaltung des Friedens vom deutschen Volk besondere Anstrengungen zu verlangen«.244 Diese seinerzeit geläufige 241 In der Einleitung der von Ernst Grumach begonnenen deutschen Übersetzung von Aristoteles’ Werken wird dazu festgehalten, dass aus neuzeitlicher Perspektive die aristotelische Poetik »einem dogmatischen Realismus verpflichtet« erscheine, »da sie eine objektive Erkennbarkeit der Welt und ihrer Gesetzmäßigkeiten für möglich hält« (Arbogast Schmitt: Einleitung, in: Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach, fortgeführt von Hellmut Flashar, hg. von Christoph Rapp, Bd. 5: Poetik, übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt, 2., durchgesehene und ergänzte Auflage, Berlin: Akademie 2011, S. 45–137, hier: S. 49). 242 Josef Schleifstein: Einführung in das Studium von Marx, Engels und Lenin, Essen: Neue Impulse 2016, S. 56. 243 Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, 7. 10. 1949, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, 8. 10. 1949, Nr. 1, S. 5–16, hier: S. 6. 244 W. S.: Für die volle Souveränität der deutschen Nation!, in: Neues Deutschland, 8. 5. 1952, S. 4.
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Formel von der Erhaltung des Friedens zitiert Johnson offenbar ganz gezielt, und erreicht damit zwei gegenläufige Effekte. Auf der einen Seite bedient er eine Erwartung an seinen Text, die sich aus der Aufgabenstellung ergibt. Er greift mittels Zitation die kulturpolitische Rhetorik der Stunde augenscheinlich affirmativ auf. So wurde etwa im Rahmen der Formalismusdebatte kurzerhand verordnet, was Literatur auf welche Weise zu leisten habe. Es sollte die »Methode des Realismus in der Kunst […] auf die Verhältnisse in der Deutschen Demokratischen Republik« angewendet werden – denn nur so könne »ein realistisches Kunstwerk nicht nur die Erkenntnis der Wirklichkeit« vermitteln, sondern darüber hinaus auch »in den Menschen Ideen, Gefühle, Bestrebungen« wecken, die sich fruchtbar zur »Lösung der Lebensfragen unseres Volkes« einsetzen ließen.245 Zu den 1951 aufgeworfenen Lebensfragen zählte selbstverständlich der »Kampf für den Frieden«, aber auch »der Kampf um die Erfüllung des Fünfjahrplans«; in diesem »Geist« mussten »die werktätigen Menschen bei uns durch die Kunstwerke erzogen werden«.246 Mit seiner in diesem ›Geist‹ gehaltenen Deutung des Zweig’schen Zyklus bewegt sich Johnson somit ganz offensichtlich strikt im Rahmen der hier durch den SED-Kulturpolitiker Hans Lauter247 artikulierten künstlerischen Leitlinie. Johnson geht noch weiter, und zwar durch die metonymische Form seiner Deutung: Er begründet die Verpflichtung, sich für die Erhaltung des Friedens einzusetzen, mit dem Kunstwerk, das er dabei zum (grammatischen) Agens macht, und das somit sozusagen selbst gegen den Krieg ›kämpft‹. Eine solche Satzkonstruktion kann entweder als rhetorische (metaphorisch anthropomorphisierende) Eigenheit gelten oder ist eine darüber hinausgehende Setzung des Verfassers Johnson: Wenn das Kunstwerk schon selbst gegen den Krieg ›kämpft‹, bleibt für dessen Leser nur noch übrig, den Frieden zu erhalten. Damit wäre der Lehrbuchcharakter des Zweig’schen Zyklus ironisch überzeichnet, indem er nicht nur literarisches Lehr- oder Anschauungsmaterial bietet, sondern überdies eine aktive, vorbildliche Rolle einnimmt – das ist selbst von der engagiertesten oder politisch-agitierenden Literatur zu viel erwartet. Der Auftrag an den Kandidaten für die Aufnahme an einer Universität, eine »Arbeit über ein aktuelles Thema von Allgemeininteresse« zu verfassen, kann zudem übersetzt werden als die Forderung, sich »auf die jeweils aktuelle politi245 Lauter, Kampf gegen den Formalismus (Anm. 173), S. 6. 246 Lauter, Kampf gegen den Formalismus (Anm. 173), S. 6. 247 Hans Lauter war von 1958 bis 1969 übrigens in der Leipziger SED-Bezirksleitung aktiv, wo er u. a. auch an der Sprengung der dortigen Universitätskirche beteiligt war (vgl. S. 37f.). Über seine genaue Rolle dabei muss wohl noch entschieden werden, das Berliner Landesgericht hat zumindest festgestellt: »Es steht außer Streit, dass Hans Lauter der Anweisung, die Beseitigung der Kirche propagandistisch vorzubereiten, brav Folge leistete« (LG Berlin, Urteil vom 27. Mai 2004, 27 O 174/04).
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sche Programmatik der Partei der Arbeiterklasse zu beziehen«.248 Johnson nimmt diesen Auftrag sehr genau, indem er zum Ende seiner Ausführungen mit dem »Deutschlandvertrag« ein tagesaktuelles Thema aufgreift. Bemerkenswert ist daran zunächst, dass er den neutraleren Begriff verwendet, und nicht, wie in der DDR-Presse üblich, vom »Generalkriegsvertrag« spricht.249 Am 26. Mai 1952 – ein Tag, nachdem Johnson seinen Text verfasst hatte – unterzeichneten die Bundesrepublik und die westlichen Alliierten dieses Abkommen, das die weitgehende Souveränität der Bundesrepublik begründen sollte. Junktim war daran der Vertrag über die Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft gebunden, der wiederum einen Tag später von Frankreich, Italien, den BeneluxStaaten und der Bundesrepublik unterzeichnet wurde. Dieser Vertrag sah die Schaffung einer westeuropäischen Armee unter Beteiligung einer zu gründenden bundesdeutschen Armee vor. Wiewohl die Verteidigungsgemeinschaft auf einen französischen Vorschlag (Pleven-Plan) zurückging, scheiterte dieses Vorhaben – zusammen mit dem Deutschlandvertrag – 1954 letztendlich daran, dass das französische Parlament (nach einem Regierungswechsel) das Abkommen nicht ratifizierte. Durch die Pariser Verträge und den NATO-Beitritt wurde die Souveränität der Bundesrepublik und die Gründung einer westdeutschen Armee 1955 schließlich erreicht, eine gemeinsame westeuropäische Armee hingegen nicht mehr realisiert. Dieser Ausgang war für den Beobachter der Zeitläufte 1952 jedoch nicht absehbar, sondern aus Sicht der DDR ein hochgefährliches Unterfangen. Johnson sieht darin »die Drohung eines imperialistischen Krieges« realisiert. Ein solcher Krieg müsse natürlich verhindert werden, was allerdings nur möglich sei, »wenn sich die ganze Menschheit vereint gegen ihre Feinde wendet und sie vernichtet« (39r). Das Paradoxale seiner Formulierung scheint Johnson in Kauf genommen zu haben. Es ist in der politischen Rhetorik so selten nicht. Doch erst im JohnsonJahrbuch 2000 hat Rudolf Gerstenberg auf die besondere Raffinesse (er spricht von der »Spitze der Absurdität«) hingewiesen, die aus ihr spreche: Für einen verständigen Leser, so die bündige Folgerung, wird hier die Frage aufgeworfen, »gegen wen noch gekämpft werden kann, wenn jeder Mensch für das Gute kämpft«.250 Der Widerspruch ist offensichtlich: »Wenn die ganze Menschheit die 248 Rudolf Gerstenberg: Es sind nicht genug Fehler im Text. Johnsons überwachte Übungen in überwachter Kommunikation, in: Johnson-Jahrbuch, 7/2000, S. 57–84, hier: S. 58. 249 Es verging im Frühjahr 1952 kaum ein Tag, an dem nicht in einer Zeitung der DDR ein Artikel über diesen, im SED-Duktus »Generalkriegsvertrag« genannten Vertrag ›berichtet‹, eher agitiert wurde; vgl. bspw.: N. N.: Kampf dem Generalkriegsvertrag, in: Neue Zeit, 3. 5. 1952, S. 1; N. N.: Generalkriegspakt bedeutet wirtschaftliche Versklavung, in: Neues Deutschland, 6. 5. 1952, S. 3; N. N.: Widerstand gegen Adenauers Verrat, in: Berliner Zeitung, 20. 5. 1952, S. 1; N. N.: Das deutsche Volk im Massenkampf gegen den Generalkriegsvertrag, in: Neues Deutschland, 25. 5. 1952, S. 1. 250 Gerstenberg, Es sind nicht genug Fehler im Text (Anm. 248), S. 59.
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Summe aller Menschen ist, woher sollten dann die Feinde kommen, gegen die es sich zu wenden gilt?«251 Offensichtlich aber ist hier ›die ganze Menschheit‹ nicht intensionsgleich mit ›jeder Mensch‹. So kann sich allenfalls rhetorisch der Einzelne oder eine Gruppe aus der Menschheit herausbegeben und sie bekämpfen, jedoch nicht faktisch. Offen bleibt auch die Frage, wie denn der Frieden zu erhalten sei, wenn doch alle Feinde des Friedens erst einmal ›vernichtet‹ werden müssten? Unklar ist, wie eine solche Vernichtung vonstattengehen soll; sofern ein Krieg dafür nicht das Mittel der Wahl der ›Kämpfer für das Gute‹ sein darf, so sie doch zum Frieden verpflichtet sind. Augenscheinlich bleibt das Begriffspaar ›Krieg und Frieden‹ für die ›Menschheit‹ reserviert; es erstreckt sich nicht auf den ›Kampf‹ gegen solche, die sich außerhalb der Menschheit stellen und sie bekämpfen. Diese müssen ›vernichtet‹ werden, was als Tötung ›unterhalb‹ der Schwelle des Krieges begriffen werden kann. Ähnlich spricht man, teils verharmlosend, von ›Säuberung‹ oder ›Endlösung‹, wenn der Terminus ›Krieg‹ nicht in Betracht kommt. Auch hier erfolgt dann die Ausgliederung der Zielgruppe aus der Menschheit, bis hin zu einer ›Entmenschlichung‹. Durch die Wortwahl aber, so Gerstenberg, werde ein Krieg zumindest impliziert.252 Wenn dieser Krieg dann auch kein ›imperialistischer‹ wäre, so hätte er in Anbetracht der geopolitischen Lage doch derart zerstörerische Auswirkungen, dass er wegen seiner ›Totalität‹ »allenfalls einen Vierten« verhinderte – so die Lesart Gerstenbergs.253 Mit dem ›kämpfenden Kunstwerk‹, dem ›Kampf aller für das Gute‹, der ›Vernichtung der Menschheitsfeinde‹ und der ›Das ist‹-Repetitio verdichten sich insgesamt die Hinweise, dass Johnson in seinem Bewerbungsaufsatz mit fein kalkulierten Variationen der offiziösen Propaganda die Parolen der Tagespolitik wie überhaupt seiner realsozialistischen Gegenwart ›umspielt‹, ihnen mit subtil entlarvender Ironie begegnet. Mit dem Vorbehalt, dass nie ganz klar wird, ob hier Ironie im Spiel sein soll oder nicht. Womöglich ist hier die Oratio figurata, die verdeckte Rede, der treffendere Terminus für Johnsons Sprechweise, indem diese seit der griechischen Antike tradierte rhetorische Figur »nicht gerade das Ge251 Gerstenberg, Es sind nicht genug Fehler im Text (Anm. 248), S. 59 [Hervorh. im Original]. 252 Die ansonsten erhellende Analyse und Deutung Gerstenbergs unterliegt hier einer Ungenauigkeit: Er geht davon aus, dass die Vernichtung der Friedensfeinde durch einen Krieg geschehen müsse, was von Johnson mit der Absicht einer reductio ad absurdum impliziert sei – soweit ließe sich ihm folgen. Allerdings nimmt Gerstenberg an, dass diese Vernichtung durch »eben jenen Krieg, der vorgeblich verhindert werden soll«, geleistet würde. Doch so sagt es Johnson nicht, er spricht von der »Drohung eines imperialistischen Krieges«, und genau dieser imperialistische Krieg müsse verhindert werden. So wäre in dieser Logik etwa ein (nicht-imperialistischer) Krieg oder eine anders geartete ›Vernichtung‹ der Menschheitsfeinde zur Erhaltung des Friedens durchaus denkbar – offen bliebe aber immer noch, wer die Feinde der ›ganzen Menschheit‹ denn sind und ob ein Krieg dem Friedenserhalt dienen kann (Gerstenberg, Es sind nicht genug Fehler im Text (Anm. 248), S. 60). 253 Gerstenberg, Es sind nicht genug Fehler im Text (Anm. 248), S. 62.
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genteil wie bei der Ironie, sondern etwas Verstecktes und dem Spürsinn des Hörers zum Suchen Überlassenes« meint.254 In jedem Fall geht Johnson behutsam und doch entschieden vor: denn seine raffinierte Überzeichnung der gängigen Formeln erschließt sich nicht jedermann sofort, und darf sich auch nicht jedermann erschließen, denn Ironie könnte in der Bewerbungsprosa missverstanden werden, als Infragestellung politischer Rhetorik und damit der Politik überhaupt. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass die Zeitgenossen einer inflationären ›Beschallung‹ durch Rundfunk und Presse mit solchen Parolen in etlichen Varianten ausgesetzt waren und gar nicht mehr so recht hinhören mochten. Johnson geht es mit seinen Formulierungen darum, so Gerstenberg kryptisch-verständnisvoll, »weder Gleichgesinnte noch Widersacher zu einem öffentlichen Zeichen des Verstehens zu nötigen«.255 Die darin enthaltene Kritik kann als solche verstanden werden, sie mag aber gleichermaßen überlesen werden oder im Ungeschick des linientreuen Enthusiasten gründen. Letzteres erscheint jenen als unwahrscheinlich, denen Johnson schon früh als geschickter Verfasser von »Resolutionen zu politischen Tagesereignissen« galt, »die möglichst allgemein gehalten werden mußten und nichts von unserer eigenen Meinung enthalten sollten«.256 Im Ungefähren könnte er hier mit rhetorischer Fortune eine Haltung kommunizieren, ohne deutlich werden zu müssen; es obliegt dann dem Leser, sie sehen zu wollen oder nicht. Und schließlich könnte er damit auch vor sich selbst bestehen, indem er hier ein notwendiges Lippenbekenntnis und zugleich dessen Widerruf formulierte: So gibt man zu verstehen, daß man beides zu verstehen geben will. Die Umstände sind so, daß Widerspruch nur in der Form von Zustimmung geäußert werden darf. […] In der Form der Zustimmung steckt der Widerspruch. Anders gesagt, die Form ist die Information, nicht der Inhalt. Abweichung ist gerade noch erlaubt als ernsthafte Paraphrase der Propaganda.257
Im Ergebnis hat Johnson die an seinen Bewerbungstext gestellten Anforderungen erfüllt. Mit Zweigs Romanzyklus hat er das Werk eines prominenten Vertreters der DDR-Literatur und ihrer Kulturpolitik zu seinem Gegenstand gewählt. Dabei war Zweig wahrscheinlich nicht nur eine literaturpolitisch motivierte, sondern gleichermaßen auch eine arbeitsökonomisch naheliegende Wahl, mit der er der geforderten Aktualität wie auch dem Allgemeininteresse Rechnung trug. Auch unausgesprochene Anforderungen weiß Johnson zu bedienen. Die Kontextua254 Marcus Fabius Quintilianus: Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, Bd. 2: Buch VII–XII, hg. und übersetzt von Helmut Rahn, 2., durchgesehene Auflage, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1988, S. 299 (IX, 2, 65). 255 Gerstenberg, Es sind nicht genug Fehler im Text (Anm. 248), S. 61. 256 Walter, Aus dem wird einmal ein Schriftsteller (Anm. 1), S. 20. 257 Gerstenberg, Es sind nicht genug Fehler im Text (Anm. 248), S. 63f.
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lisierung des von Zweig hergeleiteten Friedensengagements mit dem Deutschlandvertrag bezeugt ein aktuelles politisches Interesse des Kandidaten. In seiner knappen Charakterisierung ausgewählter Figuren hinsichtlich ihrer entscheidenden Eigenschaften, die einer politisch erwünschten Lesart konform gehen, hat er sich zudem aus kulturpolitischer Sicht, gewiss mit Schwächen im Detail (siehe Weressejew), als zuverlässiger Lektor erwiesen: Er weiß, worauf es bei der Beurteilung von Literatur in dieser Zeit ankommen muss; der Primat der Politik gilt auch bei der Bewertung von Literatur: Erst wenn darüber befunden wurde, kann man sich dem eigentlich Literarischen zuwenden. Und selbst die eigenwillige Interpretation des Zyklustitels steht dem kaum entgegen, denn sie enthält erkennbar ideologisch motiviert gefällige Parolen wie Friedenswille und ›Überwindung‹ der Vergangenheit. So fällt denn auch auf, dass Johnsons Bewerbungsaufsatz vor allem von weltanschaulichen Beurteilungen geprägt ist, während sich die Bewertung der literarischen Qualität in wenigen, floskelhaften Wendungen wie etwa »Farbigkeit«, »Verbundenheit mit der Materie« oder »Zeitdokument« erschöpft. Einem ›wissenschaftlichen‹ Anspruch ist mit dem auf Engels verweisenden Attribut des ›Typischen‹ offenbar Genüge getan. Johnson demonstrierte so einerseits jenen pragmatischen Zugriff auf Literatur, wie er spätestens seit der Formalismusdebatte zu erfolgen hatte, der gleichwohl zuvor schon praktiziert worden war, jedoch erst im Verlauf dieser Debatte forciert und explizit eingefordert wurde. Es war demnach überhaupt nur noch über Literatur zu sprechen, sofern sie einem politisch engagierten ›Realismus‹ zuzurechnen war, wodurch ein Sprechen über das ›Wie‹ des Erzählens beinahe obsolet erschien, und schließlich, sofern Literatur den praktischen Interessen und Zielen des sozialistischen Staates diente. Dabei gelingt es Johnson andererseits, sich gegen offizielle Phrasen und ideologischen Oktroi zu wehren, und zwar gerade durch die Form, das ›Wie‹ seiner Wiederholung der Parolen. Damit entbergen Johnsons Ausführungen ein doppeltes Angebot: Zum einen bietet er einen – offensichtlich erfolgreichen – Bewerbungsaufsatz für ein Germanistikstudium in der DDR von 1952; zum anderen formuliert er ein Angebot für den kundigen Leser, in der Sprechweise des Kandidaten einen wachen Beobachter der (politischen) Zeitläufte und Redeweisen zu erkennen, der eben durch die Art seines ›Sprechens‹ seine Gegenwart reflektiert, ohne sich dabei in ein Missverhältnis zu ihr zu setzen. Es sind keine Reaktionen auf Johnsons Bewerbungstext überliefert, die Auskünfte über eine Bewertung seiner Arbeit von offizieller universitärer Seite geben könnten. Da er aber in der Folge sein gewünschtes Studienfach an der Universität Rostock belegen konnte, ist davon auszugehen, dass er die Erwartungen seiner künftigen Alma Mater erfüllt und erfolgreich um das ›Vertrauen der Gesellschaft‹ geworben hat.
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4.4
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Nota bene: Ausblick auf Johnson mit Zweig
In Zweigs Romanzyklus – wie auch bei Karl May – findet Johnson ein Erzählprinzip vor, das für sein späteres eigenes literarisches Schaffen von erheblicher Bedeutung sein wird. Hier wird über die Grenzen des einzelnen Romans hinaus eine großangelegte Erzählwelt erschaffen, in der etliche Figuren wiederkehrende Auftritte mit wechselnden Gewichtungen haben. Ist Lenore beispielsweise noch zentrale Gestalt des ersten Romans, so taucht sie in den folgenden Bänden kaum mehr am Rande auf. Der titelgebende Protagonist des Streits um den Sergeanten Grischa wird, obwohl er nur in diesem einen Roman im Fokus steht, in der Rezeption zum inoffiziellen Namensgeber des gesamten ›Grischa-Zyklus‹.258 Wenn dieser Zyklus in vielerlei Hinsicht auch kein Vorbild für Johnsons Schreibweise sein mag, gewisse Parallelen sind zu erkennen. Da wären im Großen zu nennen das zyklische Erzählen von Figurenschicksalen über Buchdeckel hinweg, das ein gesamtes Schriftstellerleben beansprucht, sowie die Fixierung auf einen begrenzten Zeitraum des Erzählens, von dem aus gewiss notwendig ausgegriffen wird, vor allem auf die vorangegangen, teils aber auch folgenden Phasen (bei Zweig ist es der Erste Weltkrieg, bei Johnson das Jahr 1967/68).259 Johnson wie Zweig bleiben dabei dicht an den tatsächlichen historischen Begebenheiten und entwerfen jeweils ein ›Sittenbild‹ der behandelten Zeit, ohne streng ›dokumentarisch‹ zu verfahren. Vielmehr liefert die historische Realität ihnen eine Bühne, auf und zu der sich ihre fiktiven Figuren verhalten müssen. Auf diese Weise gelingt es beiden, um mit Johnson zu sprechen, »eine Welt« in der Fiktion zu erschaffen, die aufgrund ihrer Nähe zur Wirklichkeit geeignet ist, »gegen die Welt«, nämlich die wirkliche, zum Vergleich gehalten zu werden.260 Und auch im Kleinen finden sich Anknüpfungspunkte. So wird Bertin von seinem Telefondienst bei Verdun abberufen und durch den »schwerhörigen Tischler […] Karsch« ersetzt.261 Diesen Namen schon bei Zweig gelesen zu haben, mag ihn für Das dritte Buch über Achim empfohlen haben, schließlich habe er diesen »fuer so haeufig wie meinen auch« gehalten – darum ging es ihm bei dieser Namenswahl. Johnsons Annahme ist nicht ganz unbegründet, der Kommentar der Rostocker Ausgabe zählt eine Vielzahl mehr oder weniger naheliegender 258 Vgl. etwa Hans Mayer: Der Grischa-Zyklus, in: Sinn und Form. Sonderheft Arnold Zweig, 1952, S. 203–219. 259 Johnsons unvollendetes Erzählprojekt Heute Neunzig Jahr sollte nach eigenen Angaben die »Familiengeschichte vom Oktober 1888 bis zu jenem Winter 1978« der Familie Gesine Cresspahls enthalten (Uwe Johnson: Heute Neunzig Jahr / Arbeitstitel, in: Uwe Johnson an Burgel Zeh, 24. 11. 1983, in: Johnson-Unseld-Briefwechsel (Anm. 123), S. 1075). 260 Uwe Johnson: Vorschläge zur Prüfung eines Romans, in: Romantheorie. Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland seit 1880, hg. von Eberhard Lämmert u. a., 2. Auflage, Königstein i. Ts.: Athenäum 1984, S. 398–403, hier: S. 403. 261 Zweig, Erziehung vor Verdun (Anm. 205), S. 102.
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›Namenspatrone‹ auf.262 Der schwerhörige Tischler, der an der Vermittlung von Telefongesprächen scheitert, böte jedenfalls eine amüsante – gewiss sehr weite – Konnotation zu Johnsons Journalist, der an der Biographie eines Radrennfahrers scheitert. Und auch einen »Sachwalter« konnte Johnson bei Zweig schon finden.263 Gut zwei Jahre nach seinem Bewerbungsaufsatz wird Johnson seine spätere Ehefrau Elisabeth Schmidt kennenlernen. Im Herbst 1954 ist er an die Universität Leipzig gewechselt und in einen Freundeskreis geraten, der sich gegenseitig mit Spitznamen versieht. Bekam er den Namen Ossian, so blieb auch Elisabeth »eine solche Umbenennung nicht erspart: Sie wurde nach der Figur im Tonio Kröger auf den Namen Lisaweta getauft.«264 Thomas Manns Novelle war ein frühes und prägendes Leseerlebnis des angehenden Schriftstellers,265 daher gilt in der Johnson-Forschung Manns Figur der Münchner Malerin als ›Namenspatronin‹. Johnson liest die Novelle im Alter von etwa 17 Jahren, also 1952/53, vielleicht etwas früher.266 In die Zeit bis Mai 1952 muss seine Zweig-Lektüre gefallen sein. Hier konnte er gleich zwei Figuren dieses Namens finden. Der Streit um den Sergeanten Grischa beginnt mit Grischas Flucht aus deutscher Gefangenschaft: »Heute nacht wird er seinen Weg zurück zu Marfa Iwanowna antreten und zu seiner kleinen winzigen Jelisawjeta, die er noch nicht einmal gesehen hat.«267 Er möchte heim zu Frau und Kind, dabei trifft er unterwegs Babka und hat auch mit ihr ein Kind: »Lisaweta«.268 Bei ›Jelisawjeta‹ beziehungsweise ›Jelisaweta‹ handelt es sich schlicht um die russischen Varianten von Elisabeth, Lisaweta ist die dazugehörige Kurz- und Koseform. Es mögen Zufälle sein, doch lässt eine solche Koinzidenz auf ein Leben mit und in der Literatur schließen, mögen es in Anbetracht des umfangreichen Zy262 Uwe Johnson an Walther Karsch, 1. 9. 1961, zit. nach: Sachkommentar, in: Uwe Johnson: Das dritte Buch über Achim, Rostocker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe der Werke, Schriften und Briefe Uwe Johnsons, hg. von Holger Helbig und Ulrich Fries, Abt. I, Bd. 3, hg. von Katja Leuchtenberger und Friederike Schneider. Mit einem Nachwort von Sven Hanuschek, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 349. 263 Zweig, Erziehung vor Verdun (Anm. 205), S. 406, S. 407 und S. 409; und auch in: Zweig, Grischa (Anm. 214), S. 166 und S. 235. 264 Tamara Krappmann: Die Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen, Göttingen: V&R unipress 2012, S. 106f. [Hervorh. im Original]. 265 Vgl. Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 58f. 266 In den Begleitumständen erinnert sich Johnson an die Lektüre als Siebzehnjähriger (vgl. Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 58f.), in einer Umfrage anlässlich Thomas Manns 100. Geburtstag datiert er sie auf »etwa 1950« (Uwe Johnson: »Tonio Kröger las ich als erstes.« Umfrage des S. Fischer Verlags vom 27. 5. 1974, Antwort vom 5. 6. 1974, in: »Ich überlege mir die Geschichte«. Uwe Johnson im Gespräch, hg. von Eberhard Fahlke, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 77). 267 Zweig, Grischa (Anm. 214), S. 15. 268 Zweig, Einsetzung eines Königs (Anm. 203), S. 217.
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klus auch nur wenige Namen sein, die derart präferiert und tradiert werden. Vielleicht liefert diese Koinzidenz der Namen darüber hinaus auch Anhaltspunkte für tiefergehende Verbindungen, die nicht in jedem Fall – schriftlich dokumentiert – nachzuvollziehen sind. Wenn auch Zweig für Johnson über den Bewerbungsaufsatz hinaus kein Thema mehr zu sein scheint, so taucht dessen Name überraschenderweise in einem ähnlichen Kontext wieder auf, dieses Mal bewirbt sich Johnson um eine Anstellung: Nach dem Studium versucht Klaus Baumgärtner seinen Studienfreund mit Arbeit bei der Akademie der Wissenschaften zu versorgen. Er berichtet von einem Gespräch über Johnson mit dem Goethe-Herausgeber Ernst Grumach: »Frage nach Deinen Lektoraten, die erst zur Begründung Deiner editorischen Fähigkeiten gedient hatten – Antwort: Zweig, Wedekind, Altenberg, Grumach: Scheint sich strikt für neueste Literatur entschieden zu haben.«269 Weder hat Johnson je ein Lektorat über Arnold Zweig verfasst noch sonst über diesen Autor gearbeitet, abgesehen von seinem Bewerbungsaufsatz für die Universität Rostock. Doch hat ihn dieser Autor offenbar in einer Weise beschäftigt und er darüber mit seinem Leipziger Freundeskreis kommuniziert, dass sein einstiger Kommilitone es gegenüber dem potenziellen Arbeitgeber werbend für erwähnenswert hält. Neben diesen pragmatischen Folgen des offenbar doppelt ›gebrauchten‹ Bewerbungsschreibens ist in literarischer Hinsicht für die Erzählprinzipien beider Autoren aber entscheidend, dass Johnsons »Gesamtwerk einen zyklischen Charakter« besitzt – Norbert Mecklenburgs Beschreibung würde umstandslos auch auf Zweigs Großen Krieg der weißen Männer oder auf Mays Reiseerzählungen passen: Dieses Werk ist geprägt durch eine Reihe von stofflichen, thematischen, stilistischen und erzähltechnischen Konstanten, die teils in sich selbst, teils in ihrer jeweiligen Kombination mit anderen Merkmalen von Buch zu Buch ausdifferenziert werden. Die […] erfundenen und erzählten Geschichten haben allesamt jeweils einen markanten Bezug zur politischen Ereignisgeschichte, der aus ihnen nicht wegzudenken ist. Das entspricht dem grundlegenden Schreibkonzept des Autors: zu zeigen, wie die politische Geschichte in das Leben der Individuen eingreift, »Knicke« in ihre Lebensläufe macht und sie in Schuld verstrickt.270
Es soll damit keineswegs eine Vorbildfunktion irgendeiner Art Zweigs für Johnson unterstellt werden. Allerdings lohnte womöglich ein Vergleich der beiden Œuvres – vielleicht auch unter Berücksichtigung Mays – hinsichtlich narratologischer Eigenheiten sowie der poetologischen Prämissen ihrer Autoren. 269 Klaus Baumgärtner an Uwe Johnson, 4. 2. 1958, Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/100105. 270 Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons. Jahrestage und andere Prosa, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 15.
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Der Primat der Politik. Zwischenprüfung über die Grundlagen des Marxismus-Leninismus
Donnerstag, 15. April 1954 Am 15. April 1954, einem Donnerstag, hatte sich Uwe Johnson einer Klausur in den Grundlagen des Marxismus-Leninismus zu stellen, Teil des Gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums. Der Termin lag fast genau ein Jahr nach seinem bemerkenswert-riskanten Auftritt vor der Versammlung der FDJ-Gruppe der Philosophischen Fakultät, mit dem er sein weiteres Studium, nicht nur in Rostock, aufs Spiel gesetzt hatte, weil er sich nicht für intrigante Denunziationen instrumentalisieren lassen wollte. Tatsächlich benimmt sich Johnson wie ein – vielleicht etwas naiver – pflichtbewusster Staatsbürger, dem am Zustand und Erhalt einer demokratisch-rechtsstaatlichen Gesellschaft gelegen ist, wie sie die DDR nach eigenem Selbstverständnis war. Als diese Ordnung gestört wird, er selbst zu ihrer Störung beitragen soll, zu Falschaussage und Denunziation gerade von jenen aufgefordert, die vorgeben, im Interesse des Staates – also aller – zu handeln, reagiert er als ein prinzipienfester Staatsbürger, und nicht als gutgläubiger Parteigänger der staatstragenden SED, der sich beliebig instrumentalisieren ließe. Und die Tatsache, dass er sich für die Junge Gemeinde unter Berufung auf die Verfassung der DDR einsetzte, zeigt an, dass er weder Reaktionär noch Revisionist war. Rückblickend reklamiert er, er habe öffentlich »einen mehrfachen Bruch der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, ausgeführt durch die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik« festgestellt.271 Er sollte öffentlich lügen, konnte sich dazu aber nicht bereitfinden, sich »das plumpe widerliche Erlügen einer Haltung zur Demokratischen Republik« zu eigen zu machen.272 Seiner Klausur jedoch lässt sich auf den ersten Blick keine oppositionelle Haltung ablesen. Es ging Johnson ja auch nicht um Opposition zum Staat, sondern um einen ›ostdeutschen‹ Verfassungspatriotismus, wenn man so will, also 271 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 65f. 272 Johnson, 3. Klausur im Staatsexamen (Anm. 67), Bl. 21r.
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um eine ›Haltung des Protestierens‹, die durch die Verfassung der DDR gedeckt war.273 Ähnlich würde auch Hans Mayer – Jahrzehnte später – auf die DDR zurückblicken als auf eine schöne Idee, für die es sich einzusetzen lohnte, bis die kommunistischen Machthaber nichts mehr von ihr übriggelassen und die Rechtstaatlichkeit völlig ausgehöhlt hatten.274 Das Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium war kurz vor Beginn von Johnsons Studium für alle Studierenden obligatorisch geworden; Ziel war es, »den Studierenden die Einsicht in die Entwicklungsgesetze von Natur und Gesellschaft zu vermitteln und sie zu unermüdlichen Kämpfern für den Frieden und den Fortschritt der Menschheit zu erziehen«.275 Im Personen- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Rostock für das Studienjahr 1951/52 endet der einleitende historische Abriss einer von Klassenkampfparolen geprägten Universitätsgeschichte mit dem »wichtigste[n] Markstein […] auf dem Wege des Aufbaus einer wahrhaften Volksuniversität Rostock«, nämlich der »Einführung des Gesellschaftswissenschaftlichen Grundstudiums«, mit dem »der Universität vor allem eine glückliche Zukunft« beschieden sei.276 Johnson seinerseits sah diesen obligatorischen Veranstaltungen weniger enthusiastisch entgegen: »Dann die Vorlesungen über die Grundlagen des Marxismus-Leninismus. In meinem Plan steht sie abgekürzt als MA-LE vermerkt. Zieht man beide Silben zusammen, so entsteht ein lateinisches Adverb.«277 Die Malaise solcher Obligatorik ließ sich freilich nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass man in ihr glänzte, so wie es noch kein Ausdruck von Op-
273 Den Begriff »Verfassungspatriotismus« entwickelte Dolf Sternberger, ausgehend von grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Bürgern zu ihrem Staat, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dahingehend, dass damit »vor allem das Einstehen der Bürger für ihren Staat und dessen Verfassung gemeint ist« (Ulrich Dierse: »Verfassungspatriotismus« schon 1761/65?!, in: Archiv für Begriffsgeschichte 57, 2015, S. 277–285, hier: S. 279 [Hervorh. im Original]). Er wird hier für Johnsons Haltung zur (ersten) DDR-Verfassung entlehnt. 274 Vgl. etwa Mayers bedenklichen Vergleich des ›Experiments DDR‹ mit dem biblischen Turmbau zu Babel und im weiteren einer vergleichbaren »Liste solcher Mißerfolge einer verwirklichten Utopie«, wie sie etwa der »Gottesstaat der Juden«, der »Calvinistische[] Gottesstaat in Genf und bei Cromwell in England« oder auch »Lenins revolutionärer Kriegskommunismus« darstellten (Mayer, Der Turm von Babel (Anm. 99), S. 249). So sei ihm zufolge auch »die Deutsche Demokratische Republik […] eine Utopie gewesen«, und zwar eine, in der man »nicht bloß unterdrückt, bestraft, hochmütig belehrt, sondern auch gehofft, gewartet, die Vernunft und die Menschlichkeit ›geplant‹« habe (ebd., S. 248f.). 275 Fünfte Durchführungsbestimmung zur Verordnung über die Neuorganisation des Hochschulwesens. Gesellschaftswissenschaftliches Grundstudium an den Universitäten und Hochschulen, 4. 8. 1951, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, 10. 8. 1951, Nr. 94, S. 727f., hier: S. 727. 276 Universität Rostock: Personen- und Vorlesungsverzeichnis, Studienjahr 1951/52, Herbstsemester, Rostock: Carl Hinstorff 1951, S. 5. 277 Uwe Johnson an Charlotte Luthe, 9. 11. 1952, in: »Die Katze Erinnerung« (Anm. 3), S. 43f., hier: S. 44.
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position zum Regime sein musste, wenn man im Russischunterricht schwache Leistungen zeigte. Diese Klausur gehörte nun zu den ebenso lästigen wie unumgänglichen Pflichtübungen des Studiums, als Abschlusskontrolle der vorangegangenen ideologischen Indoktrination. Es handelt sich nicht um eine Arbeit über Literatur, oder bestenfalls in einem sehr weiten Sinne. Dennoch ist sie ein Schritt auf Johnsons Bildungsweg und soll als solcher betrachtet werden. Es lässt sich hier erkennen, wie sich der Student – der noch nicht Lektor und Autor ist – zu den aktuellen Bedingungen seiner Zeit schriftlich verhält, und zwar jenseits seines angestrebten Metiers. Die Einführung dieses obligatorischen Studienbestandteils musste für ihn ein Hinweis sein, dass der voranschreitenden politisch-weltanschaulichen Institutionalisierung auch im späteren Berufsleben Rechnung zu tragen sein würde. In diesem konkreten Fall sind die Rahmenbedingungen eng abgesteckt: Es geht um eine Demonstration und Wiedergabe der formelhaft gelernten und eingeübten marxistisch-leninistischen Lehrmeinungen. Individuelle Textinterpretationen oder -wertungen, wie sie in der Germanistik im fachlichen Rahmen möglich sein sollten und erforderlich sind, waren hier nicht erwünscht. Eine konkrete Aufgaben- oder Fragestellung zu dieser Klausur ist nicht überliefert, Johnson vermerkt vorab das Thema: »Wesen und Funktionen des Staates in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus«.278 Sodann beginnt er seine Klausur mit einem bemerkenswerten Auftakt: Herr Kautsky hat sich die Mühe gemacht, in einem umfänglichen Werk darzulegen: da, nach Marx’ eigenen Worten, der Staat allmählich absterbe, sei eine Revolution eigentlich unnötig; geschehe sie zufällig doch, so sei sie nach kurzer Zeit beendet und der Sozialismus sei vorhanden. (40r)
Schon dieser Einstieg in seinen Text lässt aufhorchen, in doppelter Hinsicht. Denn mit »Herr Kautsky« (40r) ruft Johnson zum einen den Namen eines in der politischen Geschichtsschreibung der DDR und des Sowjetkommunismus verfemten Marxisten und späteren sozialdemokratischen ›Renegaten‹ auf, zum anderen bestimmt dieser Einstieg die Struktur seines gesamten Textes. Im ersten Absatz fasst Johnson sehr knapp die – durch Lenin als radikale Ablehnung Kautskys bolschewistischer Provenienz tradierte – Kritik Karl Kautskys an der Oktoberrevolution und ihren realpolitischen Folgen eines ›pragmatisch‹, soll heißen: je nach Bedarf, interpretierten Marxismus zusammen. Von dieser Lesart ausgehend, kann Johnson sodann ex negativo die Richtigkeit eines Marxismus 278 Uwe Johnson: Klausur im Rahmen der Zwischenprüfung über die Grundlagen des Marxismus-Leninismus. Thema B: Wesen und Funktionen des Staates in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 40–43, hier: Bl. 40r, in diesem Kapitel im Text zitiert mit der Blattangabe in Klammern.
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leninistischer Prägung und dessen praktischer Umsetzung darlegen. Mit diesem Vorgehen, wie auch seinem Gegenstand, positioniert Johnson sich ideologisch hinter Lenin, der in seiner Abhandlung Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky in gleicher Weise verfahren ist. Etwas Anderes stand als Ergebnis des Marxismus-Leninismus-Unterrichts auch nicht zu erwarten. Indem er die ›richtige‹ Lehre im Kontrast zu einer als falsch geltenden präsentiert, ist es Johnson möglich, seinen Prüfungstext über die geltende Staatslehre, der seinem Charakter nach affirmativ zu sein hatte, mit dem Namen ihres prominentesten Kritikers zu eröffnen. Ein Schachzug, der bei gesinnungsfesten Genossen Stirnrunzeln verursacht haben mochte. Kautskys Schriften wurden in der DDR nicht verlegt, über sie war nur vermittelt durch Lenins Invektive etwas zu erfahren, und damit notwendigerweise aus dessen Perspektive. Lenins ›Anti-Kautsky‹, 1918 verfasst und zuerst in Moskau publiziert, erschien in der DDR 1951 mit einer Startauflage von 40.000 Exemplaren, es folgten bis 1982 sechs weitere Auflagen im Dietz Verlag. Die von Lenin kritisierte Programmschrift Kautskys, Die Diktatur des Proletariats (1918), hingegen erschien in diesem Verlag – und damit in der DDR – erst 1990;279 erst ab diesem Zeitpunkt wäre für einen DDR-Bürger eine fundierte Auseinandersetzung mit Kautskys politischem Standpunkt aus eigener Kenntnis möglich gewesen. Das ›audiatur et altera pars‹ war nicht unbedingt eine Stärke des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden, der den Nationalsozialismus als Faschismus begriff. Weshalb Kautsky nicht ungefiltert, ohne ›korrigierende Brille‹ Lenins, in der DDR gelesen werden durfte, erklärt sich aus seiner Haltung zur Politik der Bolschewisten. Auf den Punkt gebracht, sah er die Sache so: Die Diktatur des Proletariats wurde bald unhaltbar. Sie hatte zum rapidesten ökonomischen Niedergang Rußlands geführt. Aber die Anarchie dieser Art Diktatur bildete den Boden, aus dem eine Diktatur anderer Art erwuchs, die der Kommunistischen Partei, die in Wirklichkeit nichts anderes ist als die Diktatur ihrer Führer. Diese setzte sich als einzige feste Organisation in dem allgemeinen Chaos durch, aber nur dank ihrem beispiellosen Opportunismus, der ihr erlaubte, zur Behauptung ihrer Macht die wichtigsten Grundsätze über den Haufen zu werfen, zu deren Durchsetzung sie die Macht erobert hatte.280
Um eine sachorientierte inhaltliche Auseinandersetzung ging es allerdings weder im Unterricht in den marxistisch-leninistischen ›Gesellschaftswissenschaften‹ noch in Johnsons Klausur. Die methodische Vorlage Johnsons hat überdies einen
279 Vgl. Karl Kautsky: Die Diktatur des Proletariats; Wladimir I. Lenin: Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, hg. von Hans-Jürgen Mende, Berlin: Dietz 1990. 280 Karl Kautsky: Die proletarische Revolution und ihr Programm, 3., durchgesehene und überarbeitete Auflage, Berlin: J. H. W. Dietz Nachf. 1932, S. 115 [Hervorh. im Original].
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weiteren Vorläufer in Friedrich Engels’ sogenanntem ›Anti-Dühring‹.281 Ähnlich wie später Lenin ging es Engels bei der Beschäftigung mit einem einflussreichen Kritiker, scil. Eugen Dühring, um eine Darstellung des in seinen Augen ›wahren Marxismus‹. Insofern bewegte sich Johnsons mit seinem Klausurauftakt in methodisch-ideologischer Hinsicht auf sicherem Terrain. Vielleicht wurde es dem Studenten im zweiten Studienjahr als Ausweis guter Kenntnisse der unterrichtsrelevanten marxistisch-leninistischen Schriften angerechnet, dass er sich ›methodisch‹ in diese Art Traditionslinie stellte. In anderer Lesart mochte es aber auch riskant sein, wenn sich der Adept der Methoden der ideologischen Leitfiguren bediente. Unabhängig davon verweist Johnson mit seinem Auftakt auf die grundsätzliche Möglichkeit einer alternativen Haltung zur Staatslehre. Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen, die in erster Lesart Kautsky widerlegen sollen, wird deutlich, dass Johnson vereinzelt weitere Hinweise in den Text streut, die die Möglichkeit eines anderen Standpunktes andeuten. Diese Hinweise müssen sich in Anbetracht der Textsorte notwendigerweise in einem sehr engen Rahmen bewegen, deutlich enger als beispielsweise in dem verhältnismäßig ›freieren‹ Text seines Bewerbungsschreibens über Arnold Zweig. Als rhetorisches Instrumentarium Johnsons, um in seiner Klausur »im Gewand der Propaganda mit der Zensur umzugehen«, identifiziert Rudolf Gerstenberg die »abstrakte Hyperbolie logischer Widersprüche« sowie »Litotes und Emphase, die auf die zusätzliche Signalwirkung von Katachresen vertrauen«. Als ein erstes Beispiel verweist Gerstenberg auf die von Johnson demonstrierten, »aus mengentheoretischer Abstraktion sich ergebenden Antinomien«.282 Johnson erläutert: Diese Veränderungen [der Eigentumsverhältnisse; AK] dauerhaft zu garantieren, ist die Aufgabe der Diktatur des Proletariats: sie wird gelöst durch eine Bewaffnung des ganzen Volkes: womit denn schon eine Eigenschaft des Staates abgestorben wäre, nämlich die vom Volk getrennte bewaffnete Macht, die einigen gegen viele diente; nunmehr ist sie eine Macht der Mehrzahl im Interesse der Mehrzahl. (40v–41r)
An dieser Stelle weist Gerstenberg auf den offensichtlichen Widerspruch hin, der zwischen dem ›ganzen Volk‹ auf der einen Seite, und dessen Mehrheit und Minderheit auf der anderen Seite besteht: »Das ganze Volk ist bloß die Mehrzahl des Volkes, standen erst einige gegen viele, so stehen jetzt viele gegen einige.«283 Erst die Summe aus beiden würde rechnerisch die Menge des »ganzen Volkes« ergeben, von dem Johnson dann im Weiteren überdies explizit die »noch nicht 281 Engels’ Titel lautet Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft, worunter die zuvor in der sozialdemokratischen Zeitschrift Vorwärts zwischen Anfang 1877 und Mitte 1878 erschienenen Dühring-kritischen Beiträge zu einem Buch zusammengefasst wurden. 282 Gerstenberg, Es sind nicht genug Fehler im Text (Anm. 248), S. 67f. 283 Gerstenberg, Es sind nicht genug Fehler im Text (Anm. 248), S. 67.
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einverstandenen bourgeoisen Reste« (41r) abzieht, denn vor ihnen habe die Diktatur des Proletariats das sozialistische Eigentum zu schützen. Nicht nur in dieser Betrachtung von Mengenverhältnissen (wo es ums ›Volksganze‹ geht), sondern an noch einigen weiteren Punkten seiner Erörterungen offenbart Johnsons straff dozierender Duktus eine »Kaltschnäuzigkeit, die eines Terroristen würdig wäre«.284 Dazu zählt etwa die »gewaltsame Vorbereitung« (40r–v), sprich Revolution, für ein neues Gemeinwesen; die »Veränderungen im Eigentumsrecht« (40v), was auf Enteignungen zielt; der Schutz vor den »noch nicht einverstandenen bourgeoisen Reste[n]« (41r), was eben deren Unterdrückung bedeutet, und in der Fortsetzung auf eine »Angleichung des Bewusstseins« (41v) abzielt, nämlich zur Überwindung der »bourgeoisen Restbestände an Individualismus und Begriffsstutzigkeit«, und zwar durch eine als »kulturell-erzieherische Funktion« (41v) verklausulierte Gehirnwäsche, zwecks »Angleichung des Bewusstseins an sozialistische Verhältnisse« (41v). Insbesondere die ausgestellt nüchterne, sachlich-wissenschaftliche Sprechweise, etwa durch studentischen Nominalstil, mit der Johnson den gezielten und als notwendig charakterisierten Einsatz von Gewalt und Zwangskollektivierung auf Grundlage des marxistisch-leninistischen Lehrgebäudes darstellt, entlarvt dessen ›Menschenfeindlichkeit‹, die seitens der DDR-Propaganda gerade dem Kapitalismus vorgeworfen wird.285 Insgesamt zeigt sich Johnsons Sprecherhaltung von einem dozierenden Gestus dominiert. Er spricht in Setzungen, teils beinahe definitorisch, als wolle er seinen Leser belehren; womöglich in der Art, in der er selbst über die Gesellschaftswissenschaften belehrt wurde. Unsicherheiten oder abwägende Formulierungen kommen nicht vor. Der hier schreibt, tut es mit Selbstsicherheit aus einer scheinbar überlegenen Position heraus, von der aus eigentliche Selbstverständlichkeiten wiederholt werden; Formulierungen wie »Herr Kautsky hat sich die Mühe gemacht« (40r), »Marx hat tatsächlich formuliert« (40r), »man wird ebenso wenig vermuten können« (40v) oder »[f]ür diese Funktionen ist verantwortlich die Partei« (41v) tragen zu diesem Eindruck bei. Eine besondere syntaktische Gestaltung mittels Doppelpunkten und Gedankenstrichen unterstützt diesen Eindruck, indem dadurch Sprechpausen und Betonungen evoziert werden und so fast einen das gelernte Wissen rekapitulierenden Lehrer imaginieren lassen. Besonders deutlich wird das im folgenden Beispiel: »Man sieht –: die Formulierung Marx’ über das ›Absterben des Staates‹ ist denkbar gut gewählt: sie
284 Gerstenberg, Es sind nicht genug Fehler im Text (Anm. 248), S. 68. 285 Vgl. hier: Anm. 210.
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bezeichnet sowohl die Stetigkeit als auch die naturhafte Notwendigkeit dieses Prozesses« (41r).286 Dieser teils anmaßende Sprechgestus wird von Johnson an einer entscheidenden Stelle durchbrochen. Er legt dar, dass – im Sinne des historischen Materialismus – sich die ›Evolutionsstufen‹ menschlicher Gemeinschaften im Kern nur durch ihre jeweiligen Ausbeutungsverhältnisse unterscheiden. Als letzte Stufe dieser Entwicklung wird dabei der Kapitalismus angesehen. Hier stellt Johnson nun fest, dass sich ein von der proletarischen Revolution übernommenes, kapitalistisches »Wirtschaftsgefüge […] geradezu auf die Bedürfnisse proletarischer Macht hin entwickelt zu haben scheint«, lediglich wären noch »Veränderungen im Eigentumsrecht« nötig (40v). Marx, Engels und ihre späteren Interpreten und Gefolgsleute meinten im ausgehenden 19. Jahrhundert einen sich zuspitzenden globalen Kapitalismus wahrzunehmen. Der damit einhergehenden Ausbeutung und Verarmung einer großen Zahl von Arbeitern wollten sie mit einem gerechteren, ›gleicheren‹, Gesellschaftsentwurf begegnen, dessen Vorbereitungen eben die kapitalistische Gesellschaft strukturell bereits geleistet habe. Johnsons technokratisch knappe Formulierung hat ein Vorbild bei Lenin: Wenn erst einmal »die Arbeiterklasse die Macht« errungen hat, so die These, »bewahrt und festigt sie [diese Macht; AK] wie jede Klasse dadurch, daß sie die Stellung zum Eigentum ändert«.287 In einer solchen Lesart der Verhältnisse konnte der expandierende Kapitalismus des 19. Jahrhunderts somit als Vorzeichen einer ›besseren‹ Gesellschaftsordnung gedeutet werden. Lenin schlugen 1917 beispielsweise teils heftige Proteste gegen seine Revolutionspläne entgegen, insbesondere von der Partei der Sozialrevolutionäre, und zwar mit der Begründung, das überwiegend noch agrarisch geprägte Russland sei noch lange nicht bereit für eine proletarische Revolution, man habe ja noch nicht einmal einen Kapitalismus erreicht. Vor diesem Hintergrund wird die Tragweite von Johnsons, auch den sonst sachlichen Ton effektvoll durchbrechendem Kommentar deutlich, mit dem er diese strukturelle Vorbereitung des Sozialismus durch den Kapitalismus bewertet: »so gut kann man es gebrauchen« (40v). Es grenzt schon 286 Ein vergleichbar ungewöhnlicher, ungrammatischer Einsatz von strukturierenden Satzzeichen fällt etwa auch in Ingrid Babendererde ins Auge, wo er teils der Differenzierung von Erzähler- und Figurenrede, teils zur Veranschaulichung von Intonationen und Sprechweisen der Figuren dient; vgl. etwa: »Er wandte sich zu Sir Ernest und erläuterte: Meine Meinung ist darum eine solche wie sie ist: indem es das Theater, die Schau-Stellung ist, um die es geht –: Meine Damen und Herren sprach Klaus mit vornehmem Handschwenken, das eben das Sir Ernests war: Elisabeth die Königin und Erste Bürgerin von England sah gern so etwas, und dass der Magistrat die Vorstellung genehmigen musste … das ist etwas Beiläufiges« (Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79). 287 Wladimir I. Lenin: Rede über den wirtschaftlichen Aufbau, 31. März, in: ders., Werke, Bd. 30: September 1919–April 1920, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin: Dietz 1961, S. 464–471, hier: S. 466.
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fast an Ironie, die seinerzeit für gültig erklärten Gesetzmäßigkeiten des historischen Materialismus, in deren Ergebnis gesellschaftliche Entwicklungen stets zum Kommunismus führen, nachdem er durch exzessiven Kapitalismus vorbereitet wurde, derart salopp zu taxieren. Hierin liegt vielleicht auch ein Grund, weshalb Johnson keine »Beispiele aus SU u. DDR« (42v) geliefert hat, wie es sein Lehrer, Oberassistent Heinz Scheithauer, als Stellungnahme unter der Klausur bemängelt. Weder im Russland von 1917 noch im Deutschland nach 1945 wurde von einer proletarischen Revolution ein vorangegangenes kapitalistisches Gesellschaftsgefüge für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft adaptiert. Die Konfrontation der Praxis mit der Theorie hätte das Bild dieser Praxis beschädigt. Als Petitesse mag daneben gelten, dass Johnson sich bei der Aufzählung seiner Referenztexte in einer Jahreszahl irrt, wenn er von den »Protokollen des Kölner Kommunistenprozesses vom Jahre 1849« (40r) spricht. Dieser Prozess begann nach etlichen Verzögerungen Anfang Oktober 1852 und wurde durch die Urteilssprüche am 12. November desselben Jahres beendet. Bereits wenige Monate später, 1853, lieferte Marx unter dem Titel Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln seinen Kommentar zum Prozessverlauf. Dieser Datierungsfehler ist Johnsons Dozenten nicht aufgefallen, kein Rotstift markiert ihn, während an anderer Stelle schon eine ungenaue Wortwahl Widerspruch provoziert – es kommt hier mehr auf die ›richtigen‹ (Schlag-)Worte, nicht so sehr auf Fakten an. Johnson kann hier keine Intention unterstellt werden, seinem Lehrer Scheithauer ist allerdings nur eine Standardkorrektur gelungen; darüber hinaus ist zu fragen, ob hier ein erstes Indiz für die Qualität seiner Lehre der Gesellschaftswissenschaften vorliegt; indem nämlich nur die Beherrschung der einzuübenden marxistisch-leninistischen Nomenklatur abgeprüft wurde. Als einen von Johnson nicht genannten, aber ganz offensichtlich aufgerufenen Referenztext identifiziert Gerstenberg Lenins Staat und Revolution. Allerdings geht Gerstenberg dann fehl in seiner ›Aufdeckung‹ der von Johnson in den Text montierten Widersprüche, eher Stolpersteine. Im Zugriff auf diesen Referenztext tausche Johnson Lenins Begriff des ›Elementaren des Prozesses‹ (des Absterbens des Staates) gegen den Begriff seiner ›naturhaften Notwendigkeit‹ aus, und Gerstenberg folgert: »Wenn es sich beim Absterben des Staates um eine naturhafte Notwendigkeit handelt, dann müßte sein Tod auch ohne ›einige gewaltsame Voraussetzungen‹ eintreten.«288 So habe Johnson, vermittels dieser Begriffsverschiebung, Kautskys Ablehnung gewaltsamer Revolutionen zugunsten demokratischer Wahlen unterstrichen. Das ist hier aber nicht der Fall. Gerstenberg 288 Gerstenberg, Es sind nicht genug Fehler im Text (Anm. 248), S. 69. Gerstenberg zitiert Johnsons Aufsatz nach der Transkription Bernd Neumanns, die an dieser Stelle falsch ist. Es heißt im Original »gewaltsame Vorbereitung« (40r–v) statt »gewaltsame Voraussetzungen« (Johnson, Klausur im Rahmen der Zwischenprüfung (Anm. 278), S. 27).
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folgt der von Johnson Kautsky zugeschriebenen Kausalitätsprämisse, der zufolge »der Staat allmählich absterbe«, wodurch »eine Revolution eigentlich unnötig« sei (40r). Damit werden allerdings Ursache und Wirkung vertauscht. Johnson stellt die marxistisch-leninistische Perspektive in seiner Klausur in dieser Hinsicht richtig dar. Es sei nämlich zuerst »einige gewaltsame Vorbereitung« (40r–v) erforderlich, und zwar eben die »proletarische Revolution« (40v), die eine Diktatur des Proletariats errichte. Und erst in dieser Diktatur könne dann der »Übergang von der proletarischen Diktatur zur endlich und endgültig sozialistischen Gesellschaftsformation« erfolgen – das entspricht dem Absterben des Staates –; und was »dann an Staat noch geblieben sein wird«, »dürfte kaum noch als Staat im Sinne menschlicher Vorgeschichte zu bezeichnen sein« (42r). Gerstenbergs Lesart freilich böte sich zur Darstellung eines kritischen Studenten Johnson an, wird von diesem zumindest an dieser Stelle aber nicht bedient. Vor die ›naturhafte Notwendigkeit‹ des Absterbens setzt Johnson eindeutig – wie eben Engels und Lenin – die proletarische Revolution, womit er im Kontext seiner Klausur Kautsky widerspricht, und somit auch im Widerspruch zu Gerstenbergs Lesart steht. Johnsons Dozent Scheithauer hat die Paraphrase als solche erkannt, er unterstreicht das Wort ›naturhafte‹ mit Rotstift und vermerkt am Rand: »›gesellschaftliche‹ wäre konkreter« (41r).289 Ganz richtig stellt Gerstenberg in diesem Zusammenhang in einer Fußnote fest: »Die Marx zugeschriebenen Äußerungen gehen großenteils auf Engels’ Kappe«.290 Er benennt aber nicht die bedeutendste Fehlzuschreibung. Johnson beginnt seine Kautsky-Kritik mit der Behauptung: »Marx hat tatsächlich formuliert, der Staat werde absterben« (40r). Er wiederholt sie zwei Seiten später: »die Formulierung Marx’ über das ›Absterben des Staates‹ ist denkbar gut gewählt« (41r). Dazu ist festzustellen: »Es war Friedrich Engels, der das Theorem vom baldigen Absterben des Staates formulierte«,291 gewiss unter Berufung auf Marx’ Schriften wie gleichermaßen als deren Auslegung. Für das Verständnis von Johnsons Klausurleistung hat diese Verschiebung erhebliche Konsequenzen. Entweder werden hier gravierende Defizite im Gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht deutlich, indem der Student es nicht besser wissen konnte, da auch sein Dozent den Fehler nicht monierte. Oder Johnson wusste besser bei Marx Bescheid als sein Lehrer und führt es in der Klausur vor, was mindestens als ein heikles bis riskantes Unterfangen gelten müsste. Beide Bruchstellen entgehen 289 Das »›gesellschaftliche‹« ist gut auf dem Original zu erkennen, das darunter stehende »wäre konkreter« lässt sich mit einer geringen Unsicherheit entziffern. 290 Gerstenberg, Es sind nicht genug Fehler im Text (Anm. 248), S. 68, Anm. 33. 291 Egbert Jahn: Demokratievorstellungen in der Geschichte des Sozialismus und Kommunismus, in: Demokratietheorie und Demokratieentwicklung. Festschrift für Peter Graf Kielmansegg, hg. von André Kaiser und Thomas Zittel, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004, S. 101–140, hier: S. 128.
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dem Rotstift Scheithauers. Der doppelte Hinweis auf die Marx’sche Urheberschaft, der beide Male ausdrücklich auf die konkrete Formulierung abhebt, ist ein Indiz für einen gezielten Einsatz dieser falschen Zuschreibung. Die bis hierhin angesprochenen Punkte von Johnsons Arbeit – Kautsky, logischer Widerspruch, Stilbruch und Falschzuschreibung – lassen zumindest eine Tendenz erkennen: Johnson geht es nicht um offene Kritik, es kann ihm im gegebenen Kontext auch gar nicht darum gehen; stattdessen führt er den Gesellschaftswissenschaftlichen Unterricht vor, indem er ihn um Nuancen überbietet und variiert: Kautsky zu kritisieren ist zulässig, es heißt aber immer auch, Kautsky zu erwähnen und damit dessen Kritik in ihrer Berechtigung zu tradieren. Die Bewaffnung des ganzen Volkes ist eine gängige Formel der marxistischleninistische Revolutionsprosa, die Abweichung besteht in dem auf Wortebene transportierten Missverhältnis, das bei genauerem Hinsehen bestehen bleibt, indem das bewaffnete Volk in seinen Reihen noch jemanden zum Unterdrücken haben muss. Die auf einen zeitnahen Sozialismus zulaufende historische Abfolge der Gesellschaftsformen im Sinne eines glücklichen Zufalls zu kommentieren, kann als grenzwertig angesehen werden. Doch Johnson hat hier in der Sache recht, in der Form konterkariert er aber seine Aussage. Und im Zweifel wird die falsche Marx-Zuschreibung gelten können, der theoretische Urvater habe es ja so gemeint, wenn er es so auch nicht gesagt hat – zwar betont Johnsons Nuancierung zum einen eben diesen Unterschied, er kann sich zum anderen aber auch dahinter schützend verbergen. Vorausgesetzt, Johnson wäre ein guter Kenner des Marxismus-Leninismus und dessen Entwicklung bis zur realsozialistischen Gegenwart, so könnte hier mitgelesen werden, wie sich auf die originären Ansichten von Marx und Engels referieren lässt, denen zufolge der langfristige Erfolg proletarischer Revolutionen davon abhängig war, dass sie sich länderübergreifend international ausbreiten würden, denn nur so entstünde aus den sozialistischen Staaten ein globales, stabiles kommunistisches Gemeinwesen. Leo Trotzki arbeitete unter der Parole der ›Permanenten Revolution‹ ein Programm für eine solche Weltrevolution aus, bis er im parteiinternen Machtkampf Stalin unterlag. Die Realpolitiker Lenin und Stalin hingegen hielten sich nicht so eng an die Originale der ›Klassiker‹ und bevorzugten angesichts der je aktuellen politischen Lage die Option der nationalen Revolutionen, die aus den Bedingungen des jeweiligen Staates hervorgehen, ohne von einer Kommunistischen Internationale (Stalin ließ die Komintern 1943 auflösen) befördert worden zu sein. Der auf den Marxismus-Leninismus verpflichtete Student Johnson dürfte diese historischen Entwicklungen zumindest in ihren Grundzügen gekannt haben, wenn auch Trotzki dabei wahrscheinlich übergangen wurde.292 Seit Stalin sich in den späten 1920er Jahren 292 Vgl. zur ›Vergessenskultur‹ hinsichtlich Trotzkis hier: S. 81, Anm. 231. Als ein später
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gegen Trotzki durchgesetzt hatte, galt dessen Doktrin, der zufolge der Sozialismus einzeln, staatenweise aufzubauen sei; von einer globalen Revolution distanzierte sich der Georgier (›Aufbau des Sozialismus in einem Lande‹). Johnsons Hinweis, »die Verbindung zu dem Proletariat der kapitalistischen« Länder und ihrer »unterdrückten Völker« aufrechtzuerhalten, sie darüber hinaus »in ihrem Befreiungskampf zu unterstützen« (42r), entbirgt den Widerspruch zwischen der kommunistischen Ideologie einer globalen Utopie und je aktuellen realpolitischen Notwendigkeiten, denen sich auch die sowjetische Führung in Moskau mit ihren Satellitenstaaten fügen musste; denn die ›unterdrückten Völker in ihrem Befreiungskampf‹ unterstützen zu wollen, ist als Formulierung deutlich diplomatischer als ein direkter Aufruf zur Weltrevolution (nach Stalins Tod etablierte die Sowjetunion eine Außenpolitik unter dem Schlagwort der ›friedlichen Koexistenz‹ der Gesellschaftssysteme). Dabei liegt Johnson grundsätzlich insofern auf Linie, als die Weltrevolution das letztendliche Ziel des Marxismus-Leninismus darstellt. Er umgeht dieses ideologische Dilemma geschickt, indem er hier ausspricht, was er in seinem Text selbst praktiziert hat: Er überträgt ästhetische Kategorien auf seine politologischen Ausführungen, und er vermag so einen Unterschied zwischen den Grenzbegriffen Inhalt und Form zu markieren. Denn die Gesetze der Form sind andere, mag der Inhalt auch gleich sein. Der (globale) Inhalt gibt der (nationalen) Form die Fluchtlinie vor, auf die sich alle Entwicklung teleologisch ausrichten muss: Wie der Kampf des Proletariats vor der Revolution nur der Form, aber nicht dem Inhalt nach national begrenzt war, so auch nach der Machtergreifung. Während der ganzen Zeit des Übergangs von der vorsozialistischen Gesellschaftssituation zur sozialistischen ist die Partei unbedingt verpflichtet, die Verbindung zu dem Proletariat der kapitalistischen beziehungsweise der kolonialen Länder herzustellen und aufrechtzuerhalten, die unterdrückten Völker dieser Länder in ihrem Befreiungskampf zu unterstützen. (42r)
Wie explosiv ein solcher Begriff wie »Machtergreifung« in diesem Zusammenhang wirken muss, kann man sich ausmalen. Er ist in diesem Kontext eigentlich unerhört, weil man ihn überwiegend im Sinne der widerrechtlichen Machtanmaßung Hitlers kennt und verwendet. Johnson dürfte das begrifflich Anstößige seiner Ausführungen bewusst gewesen sein. Faktisch jedoch egalisiert der Terminus den Machtübergang von einem Potentaten zum anderen als unrechtmäßig: Es gibt demzufolge keinen Unterschied zwischen einem nationalsozialistischen und einem sozialistischen Machtwechsel, keinen Unterschied auch zwiselbstkritischer Akt erschien bezeichnenderweise noch 1990 in der DDR das Buch: »Unpersonen« – wer waren sie wirklich? Bucharin, Rykow, Trotzki, Sinowjew, Kamenew. Aus dem Russischen von Barbara Heitkam, Sibylle Kubale und Sven Schmieder, Berlin: Dietz 1990.
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schen einem ›faschistischen‹ und einem ›kommunistischen‹ Diktator: Mag die Form der ›Machtergreifung‹ auch eine andere sein, ihr ›Inhalt‹ bleibt der gleiche.293 »Wie der Kampf des Proletariats vor der Revolution nur der Form, aber nicht dem Inhalt nach national begrenzt war, so auch nach der Machtergreifung« (42r). Der Form nach ist Johnsons Klausur eine Imitation Lenins, ihr Inhalt offenbart eine kritische Position gegenüber dem Marxismus-Leninismus – und das ist noch wenig gesagt. Damit bleibt er auf der auch noch nach Stalins Tod geltenden politischen Linie. Durch diese Relativierung, der zufolge die Revolution eigentlich schon global gemeint, aber tatsächlich schrittweise national ausgefochten werde, kann Johnson das grundlegende, von Marx und Engels formulierte Ziel eines internationalen Sozialismus ansprechen, und so zugleich auf die gegenwärtige Differenz von politischer Theorie und Praxis verweisen; und darüber hinaus einen verständigen Leser unter Umständen auch an Trotzki erinnern.294 Der Begriff der »Machtergreifung« ist vor allem von Lenin als Kampfbegriff diskutiert worden, bei Marx und Engels hingegen kommt er (noch) nicht vor, womit einmal mehr das vorwiegend leninistische Gerüst von Johnsons Gesellschaftswissenschaftlichem Studium untermauert wird.295 Als ein solches Schlagwort der (Marxismus-)Leninismus-Rhetorik ist es in der DDR zwar noch existent, doch war es nach 1945 historisch kontaminiert, indem es stricto sensu auf die Machtübernahme von Hitlers Nationalsozialisten 1933 referierte.296 Be293 Vgl. zur Argumentation George Spencer Brown: Laws of Form, [Neudruck], New York: Dutton 1979, S. 1, wo es heißt: »Distinction is perfect continence.« 294 Bernd Neumann übertreibt mit seiner Lesart, Johnson zeige sich mit dieser Arbeit als »linksradikal« und formuliere eine »Große Trotzkistische Abweichung« (Neumann, Philologie und Biographie (Anm. 65), S. 143). Johnson geht deutlich differenzierter und feinfühliger mit seinem Gegenstand um. Auch erweist sich Johnson mit seiner Klausur eher als ein Kenner Lenins statt einen »sehr genauen Marx-Kenner« (ebd., S. 145) abzugeben, wenngleich er das ›Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium‹ offensichtlich gründlich und ernsthaft betrieben hat. 295 Lenin blickt etwa auf den »Oktober 1917« zurück, »als die Frage der Machtergreifung entschieden wurde« (Wladimir I. Lenin: Bericht des Zentralkomitees, 18. März, in: ders., Werke, Bd. 29: März–August 1919, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, 9. Auflage, Berlin: Dietz 1984, S. 131–149, hier: S. 138). Auch die von Johnsons Klausur geforderte Darstellung des Übergangsprozesses findet sich in Lenins Schriften: »Nach der Machtergreifung hält die Arbeiterklasse die Macht, bewahrt und festigt sie wie jede Klasse dadurch, daß sie die Stellung zum Eigentum ändert, sowie durch eine neue Verfassung« (Lenin, Rede über den wirtschaftlichen Aufbau (Anm. 287), S. 466). Auffällig ist hier, dass der Begriff in der im Dietz Verlag erschienenen Werkausgabe von Marx und Engels (MEW) fast ausschließlich in den Paratexten, Kommentaren, Personenerläuterungen, des dafür zuständigen Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED zu finden ist; so ist in vier Vorworten von der Machtergreifung, meist des Proletariats, die Rede (vgl. die Vorworte der Bde. 8, 18, 34 und 35). 296 So wird in der DDR-Presse von 1954 mehrfach die »Machtergreifung der deutschen Hitlerfaschisten« erwähnt (Wjatscheslaw M. Molotow: Abzug der Besatzungstruppen noch vor den Wahlen. Neuer Vorschlag der Sowjetunion zu gesamtdeutschen freien Wahlen, Don-
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zugnahmen auf den Stalinismus dürften hingegen selten gewesen sein – vielleicht wurden sie auch als unangemessen sanktioniert. So bewegt sich Johnson in diesem Fall wiederum in einer Grauzone, die es dem Leser überlässt, entweder eine Gleichsetzung von proletarischer und nationalsozialistischer Revolution zu erkennen,297 oder darin nur eine unbedachte, gleichwohl durch Lenin gedeckte Wortwahl zu sehen. Diese Zwischenprüfung über die Grundlagen des Marxismus-Leninismus wurde mit der Note »sehr gut (1–2)« (42v) erfolgreich bestanden. Dozent Scheithauer sieht darin eine »zweifellos gute theoretische Darstellung« (42v), die eben nur durch praktische Beispiele noch gewonnen hätte. Der akademische Lehrer hat die gefahrvollen Stolpersteine in Johnsons Ausführungen geflissentlich überlesen, oder er hat seinem Schüler solche Chuzpe einfach nicht zugetraut. Johnson jedenfalls hat damit seine ›Einsicht in die Entwicklungsgesetze von Natur und Gesellschaft‹ mehr als zufriedenstellend demonstriert. Er hat aber noch mehr getan, wie eine nähere Betrachtung seines Textes gezeigt hat. Jeweils für sich genommen sind seine Variationen des Marxismus-Leninismus Petitessen, sie haben als Quantité négligeable sein positives Prüfungsergebnis nicht beeinflusst. In der Summe allerdings ist eine kritische Haltung des Studenten zu unterstellen, der – sehr wahrscheinlich – aufgrund fundierter Sach- und Textkenntnisse mit den Parolen und Lehrsätzen der ›Klassiker‹ und ihrer ›Renegaten‹ umzugehen wusste. Nicht die Inhalte, sondern die Struktur seines Textes gestaltet er, und zwar bis in die Wortebene, auf eine Weise, die verschiedenen Lesern unterschiedliche Angebote macht. Hier ließe sich wieder an die Oratio figurata denken, die vor allem verwendet wird, um verdeckte Kritik zu äußern, »wenn es zu unsicher ist, offen zu reden«, oder auch dann, »wenn es sich nicht schickt«.298 nerstagsitzung der vier Außenminister, in: Berliner Zeitung, 5. 2. 1954, S. 1). In anderen Kontexten konnte der Begriff nur zweimal für dieses Jahr ermittelt werden: Einmal in einem Bericht über Vietnam, in dem auf die dortige Augustrevolution 1945, »dem Zeitpunkt der Machtergreifung durch das Volk« (Wilfred Burchett: Helden vom Süden kehren heim, in: Berliner Zeitung, 12. 11. 1954, S. 2), und die Ausrufung der Demokratischen Republik Vietnam hingewiesen wird. Ein zweites Mal wird anlässlich eines Gastspiels des Berliner Ensembles in Paris ein französischer Kritiker zitiert, der sich zwar vor einer »Machtergreifung der Marxisten« fürchte, gleichwohl aber den Schauspielern als »eine der zwei oder drei besten Truppen der Welt« applaudieren könne (Käthe Rülicke: Das Berliner Ensemble in Paris. Rückblick auf ein Gastspiel in der französischen Hauptstadt, in: Neues Deutschland, 7. 9. 1954, S. 4). 297 Bereits seit einigen Jahrzehnten wird in der Politik- und Geschichtswissenschaft über die revolutionäre Charakteristik der nationalsozialistischen ›Machtergreifung‹ diskutiert. So spricht etwa Hans-Ulrich Wehler von einer »nationalsozialistischen Revolution seit 1933« (Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, München: C. H. Beck 2008, S. 602). 298 Quintilianus, Ausbildung des Redners (Anm. 254), S. 299 (IX, 2, 66); vgl. hier S. 89f.
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Der Dozent der Gesellschaftswissenschaften findet augenscheinlich eine gute Darstellung der Staatslehre vor: Es ist aus seiner Urteilsfindung nicht erkennbar, ob er bei Johnsons Begriffsverwendung ins Grübeln gekommen ist oder nicht. Da kein anderer Dozent diese Klausur jemals gelesen haben dürfte, durfte der Dozent zur Tagesordnung übergehen – zum Nachteil des Studenten gereichte diese Klausur nicht. Ein anderer Leser kann darin darüber hinaus diese Staatslehre, teils mit den ihr inhärenten ›Widersprüchen‹, in ein kritisches Verhältnis gesetzt sehen. Damit könnte hier auch eine Entwicklung Johnsons konstatiert werden: Galt er in der Erinnerung seiner Rostocker Kommilitonin Käte Walter noch als stromlinienförmiger Verfasser von »Resolutionen zu politischen Tagesereignissen, die möglichst allgemein gehalten werden mußten«, so muss ihre Einschränkung, dass diese »nichts von unserer eigenen Meinung enthalten sollten«, nun modifiziert werden.299 An dieser Klausur, geschrieben kurz vor seinem Wechsel an die Universität Leipzig, lässt sich eine Haltung ablesen.
299 Walter, Aus dem wird einmal ein Schriftsteller (Anm. 1), S. 20.
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Dienstag, 18. Mai 1954 Frei von politischen Implikationen gestaltet sich Johnsons sogenannte »Deutsche Klausur«, die er am 18. Mai 1954 zu schreiben hatte.300 Es geht darin um Grammatik, genauer um eine Leistungsabfrage im Bereich der Syntax. In dieser linguistischen Analyse sind Satzglieder und ihre Beziehungen zueinander zu bestimmen. Bemerkenswert daran sind nun weniger Johnsons formale Bestimmungen, sondern seine darüber hinausgehenden Kommentare zum Untersuchungsgegenstand. Obwohl Aufgabenstellung und -gegenstand nicht dokumentiert sind, lässt sich aus den Ausführungen Johnsons und dem Kommentar des Prüfers, Oberassistent Hans Düwel, rekonstruieren, dass ein Textauszug aus Gottfried Kellers Kleider machen Leute analysiert werden soll. Düwels Wahl eines literarischen Textes für die Syntaxanalyse ist beachtenswert. Mit einem Beispiel aus einem politischen Sachtext, einer Lenin-Streitschrift beispielsweise, hätte er der staatlichen ideologischen Erziehungsprämisse Rechnung tragen, sich selbst zudem als Parteigänger der jungen DDR darstellen können. Auch wäre ein neutraler Sachtext, etwa aus einem Grammatiklehrbuch, denkbar gewesen. Düwel hat sich jedoch für einen dezidiert literarischen Text entschieden und die Sache dadurch politisch und weltanschaulich entspannt, und dabei zugleich für seinen Studenten Johnson wahrscheinlich interessant gemacht. Dabei intendierte der Sprachwissenschaftler augenscheinlich keine Stilkritik mit seinem Beispiel, und vor allem keine Kritik an Gottfried Keller. Dieser ›Klassiker‹, Hauptvertreter des Schweizer Realismus, war in der DDR wohlgelitten, er stand schon früh auf den Lehrplänen der staatlichen Schulen. Der Lehrplan für den Deutschunterricht in der Sowjetischen Besatzungszone empfiehlt 1946 schon für die Klassenstufe 7 Kellers Gedichte Winternacht und Sommernacht, während die 300 Johnsons Klausur, wie auch die Kommentare Hans Düwels, werden in diesem Kapitel nach der originalen Klausur zitiert mit der Blattangabe in Klammern, vgl.: Uwe Johnson: Deutsche Klausur, 18. 5. 1954, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 44–46.
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Erzählung Kleider machen Leute (1874) als Empfehlung immerhin auf dem Lektüreplan der Klassenstufe 8 steht, um den Schülern »Berichte vom Kampf einzelner Männer und der Völker um Freiheit, Recht und Menschenwürde« näherzubringen.301 Die um einen eigenen, vom anderen Deutschland unabhängigen Literaturkanon bemühte Pädagogik und Didaktik der DDR konnte Kellers Biographie mit einigen zweckmäßig gesetzten Schwerpunkten in ihrem Sinne fruchtbar machen. Und das Leipziger Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller schätzt Keller etwa dafür, dass er »die gesellschaftlich-moralischen Begleiterscheinungen des Kapitalisierungsprozesses im Leben der Seldwyler, d. h. des schweizer. Volkes« dargestellt habe, wie er »überhaupt die grausamen Folgen des kapitalistischen Existenzkampfes« entlarve, und stets warnend die »mit der Kapitalisierung um sich greifende Nivellierung und Entdemokratisierung des öffentlichen und privaten Lebens« verfolgt habe.302 Vor möglichen Einwänden gegen eine solche Lesart, die nicht erst aus heutiger Perspektive erhoben werden könnten und auf eine Verortung Kellers als eines bürgerlichen Realisten zielen würden, nimmt ihn das Lexikon präventiv in Schutz. Denn da Keller »die Gesetzmäßigkeit der kapitalistischen Entwicklung und die historische Rolle des revolutionären Proletariats als geschichtsbildende Kraft nicht mehr wahrnahm«, sei er schlicht nicht mehr in der Lage gewesen, in seinem Spätwerk »die aufgegriffenen gesellschaftlichen Probleme künstlerisch adäquat zu gestalten«.303 Dennoch habe sein Werk »Größe«, nicht zuletzt dank »seiner materialistischen Weltanschauung« wie auch seiner »auf sozialpädagogisches Wirken gerichteten Volksverbundenheit.«304 In einer solchen, ambitioniert zu nennenden Lesart taugt Keller also trefflich zu einem mit marxistischleninistischer und damit sozialistisch-pragmatischer Literaturexegese konform gehenden Analysebeispiel. Und es hat den Anschein, als würde ihm lediglich seine frühe Geburt zum Nachteil gereichen, sodass er die ›geschichtsbildende Kraft des Proletariats‹ nicht mehr habe wahrnehmen können. Demgegenüber steht Düwels eigene Biographie, als die eines Philologen, der seinen Studenten den Zürcher ›Staatsschreiber‹ Keller als ideologisch unbedenkliches Exempel des ›bürgerlichen‹ Realismus präsentieren konnte. Und als Johnson seine Klausur zu schreiben hatte, stand sein Lehrer, Jahrgang 1891, mit seiner Habilitationsschrift, Die Bedeutung der Ironie und Parodie in der Struktur von Thomas Manns Roman »Der Auserwählte«, vor dem Höhepunkt seiner späten und kurzen akademischen Karriere. In Thomas Manns Todesjahr, 1955, 301 Lehrpläne für die Grund- und Oberschulen (Anm. 157), S. 44. 302 Keller, Gottfried, in: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 1: A–K, hg. von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Kurt Böttcher, 2., überarbeitete Auflage, Leipzig: Bibliographisches Institut 1972, S. 451–453, hier: S. 452. 303 Keller, in: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller (Anm. 302), S. 453. 304 Keller, in: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller (Anm. 302), S. 453.
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wurde er vom Oberassistenten zum Dozenten an der Universität Rostock, 1958 gar zum Professor berufen, um dann zwei Jahre später in den Ruhestand zu treten. Für Düwel war die DDR, nach Kaiserreich, Weimarer Republik und ›Drittem Reich‹, nun schon die vierte Gesellschaftsform, in der er seine wissenschaftliche Laufbahn verfolgte. Er hatte in beiden Weltkriegen als Soldat gedient, am Ende des zweiten war er im Offiziersrang eines Majors der Wehrmacht in Kriegsgefangenschaft geraten. Zwischen den Kriegen promovierte er mit der Arbeit Der Entwicklungsgedanke in Sören Kierkegaards »Entweder– Oder« und Henrik Ibsens »Komödie der Liebe« (1919), und legte danach die Staatsprüfung für das Lehramt an höheren Schulen ab.305 Bemerkenswert für Johnsons Studien- und Prüfungssituation in Rostock ist, dass noch aus der Laudatio anlässlich Düwels 80. Geburtstag der notdürftige Zustand der jungen Nachkriegsgermanistik an der Universität Rostock herauszulesen ist, an der er seit 1952 als wissenschaftlicher Oberassistent lehrte: In den Jahren, in denen qualifizierte Fachkräfte der Germanistik noch weitgehend fehlten, sicherte Prof. Dr. Düwel durch seine umfassenden Kenntnisse die germanistische Ausbildung an der Rostocker Universität dadurch, daß er nacheinander fast alle wichtigen Lehrveranstaltungen dieses Faches übernahm. So hielt er in der Sprachwissenschaft Vorlesungen, Übungen und Seminare zur Sprachgeschichte und zur historischen Grammatik sowie zur deutschen Sprache der Gegenwart und zur Stilistik. In der Literaturwissenschaft hielt er Lehrveranstaltungen sowohl zur deutschen Klassik und Aufklärung als auch zur deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts.306
Augenscheinlich hat Düwel seine philologischen Interessen über vier politische Systeme hinweg verfolgt, ohne sich dabei in oppositionelle Haltungen zu begeben. Aus dieser intellektuellen Beweglichkeit, die ihn schließlich auch zum Eintritt in die SED führte, erklärt sich vielleicht die Wahl Gottfried Kellers als Gegenstand einer linguistischen Prüfung: Hier konnte sich ein ursprünglich bürgerlicher Wissenschaftler, der nicht mehr als ›gefährlich‹ eingestuft wurde, politisch unverfänglich positionieren und zugleich ein ›bürgerliches‹ literarisches Beispiel von Rang zur grammatischen Übung anbieten.307 Somit hatte
305 Vgl. Eintrag von »Hans Düwel« im Catalogus Professorum Rostochiensium, URL: http:// purl.uni-rostock.de/cpr/00002128 (Zugriff: 23. 1. 2020). 306 Hans-Joachim Gernentz: Laudatio zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. phil. habil. Hans Düwel am 1. März 1971, in: Hans Düwel, Catalogus Professorum Rostochiensium (Anm. 305). 307 Vgl. Kersten Krüger: Die Zweite Hochschulreform in der Rostocker Germanistik, in: Positionen der Germanistik in der DDR. Personen – Forschungsfelder – Organisationsformen, hg. von Jan Cölln und Franz-Josef Holznagel, Berlin: de Gruyter 2013, S. 91–119, hier: S. 105. Als neues Institutsmitglied muss Düwel seine Rolle und politischen Ort erst noch finden, will Anschluss an die linientreuen »Genossen Sielaff und Epping halten und verbrämt zu diesem Zweck seine Vorlesungen mit einigen marxistisch-klingenden Phrasen« (SED-Betriebsgruppe Universität, Abteilungsgruppe phil. Fak. (g)/Protokoll über die Leitungssitzung vom
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Johnson denn die folgenden fünf Sätze aus Kellers Kleider machen Leute in seiner Klausur zu untersuchen: Als Strapinski das Warenlager sah, das sich vor ihm ausbreitete, war seine erste Bewegung, daß er in seine Tasche griff, um zu erfahren, ob er träume oder wache. Wenn sein Fingerhut dort noch in seiner Einsamkeit weilte, so träumte er. Aber nein, der Fingerhut wohnte traulich zwischen dem gewonnenen Spielgelde und scheuerte sich freundschaftlich an den Thalern; so ergab sich auch sein Gebieter wiederum in das Ding und stieg von seinen Zimmern herunter auf die Straße, um sich die Stadt zu besehen, in welcher es ihm so wohl erging. Unter der Küchenthüre stand die Köchin, welche ihm einen tiefen Knix machte und ihm mit neuem Wohlgefallen nachsah; auf dem Flur und an der Hausthüre standen andere Hausgeister, alle mit der Mütze in der Hand, und Strapinski schritt mit gutem Anstand und doch bescheiden heraus, seinen Mantel sittsam zusammennehmend. Das Schicksal machte ihn mit jeder Minute größer.308
Johnson liefert bei der Bestimmung dieser Satzgefüge eine gute Leistung ab, sie wird mit der Note 2 bewertet. Düwel resümiert: »Im ganzen die Bestimmung sonst richtig.« (46v). Mit dieser Art salvatorischer Klausel endet der Kommentar des Prüfers; er moniert danach lediglich noch die kaum leserliche Handschrift. Die gestellte Aufgabe wurde also bewältigt, trotz einiger Kritik, die Düwels »sonst« anzeigt. Diese Kritik ist in der Retrospektive auf Johnsons Biographie beachtenswert: Die Aufgabe war, die Sätze zu bestimmen, nicht an Kellers Syntax Kritik zu üben. Durch syntaktisch unrichtige Auffassung des Semikolons hat Verf. sich die Arbeit erschwert; das Einfache ist ihm offenbar zu einfach, auch im Ausdruck: dieser ist stellenweise preziös (Fremdwörter). (46v)309
Es kann also lohnen, sich gerade jene Passagen anzusehen, in denen Johnson an Gottfried Kellers Syntax ›Kritik übt‹. Denn indem Johnson über die geforderte Analyse hinausgeht, demonstriert er ein Interesse am literarischen Text, das die linguistische Perspektive erweitert. Für den ersten Satz des Keller-Zitats stellt er fest: »Die Anordnung scheint im Anfang wenig klar, sogar verwirrend« (44v), womit er zunächst einmal einen spontanen Lektüreeindruck wiedergibt. Sodann erläutert er diesen Eindruck. Es bestehe hier die Gefahr, dass sich durch die 25. 10. 1951, in: UAR (5.1, 376), Parteileitungssitzungen der Philosophischen Fakultät 1951– 1963, zit. nach: Krüger, Die Zweite Hochschulreform (Anm. 307), S. 105). 308 Gottfried Keller: Kleider machen Leute, in: ders., Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, Bd. 5: Die Leute von Seldwyla, zweiter Band, Basel/Zürich: Stroemfeld/Verlag Neue Zürcher Zeitung 2000, S. 11–62, hier: S. 30. 309 Am Rande ist bemerkenswert, dass Düwel Johnsons Fremdwortgebrauch ausgerechnet als »preziös« kritisiert, insbesondere in Anbetracht seiner Habilitationsschrift über Die Bedeutung der Ironie und Parodie in der Struktur von Thomas Manns Roman »Der Auserwählte«. Aufschlussreich für das Verhältnis zwischen Dozent und Student ist überdies die Anrede in der dritten Person.
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beiden vorangestellten Nebensätze »die Beziehung auf den Hauptsatz zu trüben droht« (44r). Johnson kommt zu dem Ergebnis: Diese Unstimmigkeit aber ist als notwendige Ordnung berechtigt: da nun einmal die Voraussetzungen des Hauptsatzes unmöglich zwischen Hauptsatz und seine direkten Konsequenzen eingeschaltet werden können. – Der Einsatz der Nebensätze geschieht in deutlicher Beziehung und ist durchaus logisch (44v).
Düwel fragt am Rand: »Wozu diese Kritik?« (44v). Aus der Perspektive der Aufgabenstellung ist diese Frage berechtigt, denn für die syntaktische Bestimmung ist die Frage einer Wirkung auf den Leser nachranging – für Johnson ist sie das nicht. Mit seiner Erläuterung demonstriert er ein sukzessiv fortschreitendes Textverständnis, wie es etwa in der Hermeneutik als Methode angewandt wird. Die anfängliche Verwirrung löst sich bei genauerer Betrachtung in eine Art Erkenntnis der Notwendigkeit auf: Nur in dieser speziellen syntaktischen Konstruktion vermag der Autor Keller das erzählte Ereignis in seiner logisch-chronologischen Abfolge konsistent darzustellen. Den folgenden zweiten Satz identifiziert Johnson dann knapp als konditionales Satzgefüge. Eine Kritik übt er daran nicht. Lediglich erläutert er, dass der Hauptsatz »die Folge jener Voraussetzung« sei, nämlich der des einleitenden Nebensatzes. Im umfangreichen dritten Satz Kellers erkennt Johnson zu Beginn, vor dem Semikolon, ein Satzgefüge aus zwei gleichrangigen Hauptsätzen. Sie seien »zwar wesentlich gleichberechtigt, doch wäre eine Umkehrung ihrer Folge psychologisch unratsam« (45r). Für die Zwecke seiner linguistischen Klausur ist eine solche Kategorie eines ›psychologischen Effekts‹ ungeeignet. Wiederum wird damit ein Textinteresse Johnsons anschaulich: Formal sind die beiden Sätze austauschbar, ›psychologisch‹ jedoch, im Hinblick auf einen Leser, womit eine Autorperspektive eingenommen wird, sollten sie in der gegebenen Reihenfolge stehen. Jeder Text hat in irgendeiner Form kommunikative Eigenschaften und ist in Kommunikationssituationen eingebunden. Das gilt insbesondere und in spezieller Weise für literarische Texte. Die Produktion eines solchen Textes steht in aller Regel in einem Verhältnis zu dessen Rezeption, der Verfasser verfolgt eine kommunikative Absicht, die sich in der Gesamtkonstruktion eines Textes niederschlägt.310 Johnson versucht hier, von der Rezeptionsseite ausgehend, einen Grund für die vorhandene Syntagmatik zu ermitteln. Indem er die psychologischen Implikationen auf der Leserseite erkennt, fragt er nach der Rolle des Autors, der eine für die Kommunikationssituation ›ratsame‹ Syntax verwendet 310 Da es hier um grundlegende Prinzipien geht, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, ob Absicht und Textniederschlag einander entsprechen können, und ob es überhaupt möglich bzw. gewollt sein kann, eine solche Entsprechung zu ermitteln.
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hat. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass Johnson hier, als Student der Universität Rostock 1954, von dem sich etwa zur gleichen Zeit gerade erst formierenden Fachgebiet der Psycholinguistik wusste.311 Dennoch berührt er mit seinem Hinweis einen Teilbereich dieses interdisziplinären Forschungsfeldes, nämlich die Sprachprozessforschung. Sie befasst sich mit den psychischen Prozessen der Produktion und Rezeption von Sprache. So offenbart Johnson mit seiner Art der Textbetrachtung ein ausgeprägtes Sprachbewusstsein, das die Konstruktion eines Textes bis in die Satzebene hinsichtlich ihrer strukturbedingten Wirkpotenziale bedenkt: Nicht erst im Discours einer Erzählung ist die Darstellungsabfolge von entscheidender Bedeutung, bereits im Satz ist die ›Informationsreihenfolge‹ von erheblicher – erzählerischer – Relevanz.312 Für das nächste, vierte, Satzgefüge stellt Johnson fest, dass die »Wortfolge im ersten Hauptsatz […] nicht usuell« ist, indem sie nämlich mit »einer Lokalbestimmung« beginnt (46r). Er liefert dafür auch eine Erklärung, denn dies sei »zu verstehen als Beziehung auf jene Verbalvorstellung des vorangehenden Satzkomplexes« (46r). Und obwohl er auch hier die Satzglieder formal bestimmt, liegt sein Hauptinteresse einmal mehr auf der Wirkung der syntaktischen Ordnung statt auf der eigentlichen Syntax. Das »Heruntersteigen beginnt mit den Ereignissen unter der Küchentür; wie überhaupt dieser Vorgang hier durch die ganze Ordnung an Einzelheiten verdeutlicht wird: daher die wiederholte Voranstellung der lokalen Bestimmung, denn diese Bewegung geht ja im Räumlichen vor sich« (46r). Johnson liefert nicht nur eine syntaktische Analyse, sondern begründet deren Ergebnis mit den Erfordernissen des Erzählens. Allerdings entgeht ihm dabei der außerhalb des Textbeispiels liegende Kontext, dass der ›Abstieg‹ des Protagonisten, auf dem »abschüssigen Weg des Bösen«, bereits vor seiner Zimmerflucht begonnen haben muss.313 Denn Keller hat sein Setting genau beschrieben: Das Gasthaus in Goldach besitzt eine Außentreppe, die zur Stube für das untere Volk hinaufführt sowie zum wohnlichen Speisesaal, in dem der falsche Graf Strapinski verköstigt wird. Eine Stiege führt in den Wein- und Vorratskeller hinunter, wo es einen besonderen Verschlag für exquisite Tropfen gibt. Oberhalb von Gaststube, Küche und Abort liegen die Gästezimmer. Strapinski betrat hier den ›abschüssigen Weg des Bösen‹ im doppelten Sinne, und zwar insofern, als er sich nicht nur eine falsche Identität anmaßte, sondern die Treppe des Hauses 311 Ein Aufsatz von Charles E. Osgood und Thomas Sebeok gilt als »›Geburtsstunde‹ der neuen Disziplin« (Gerhard Helbig: Entwicklung der Sprachwissenschaft seit 1970, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1986, S. 272; vgl. auch Charles E. Osgood, Thomas A. Sebeok: Psycholinguistics: A Survey of Theory and Research Problems, in: Journal of Abnormal and Social Psychology, 49/1954, S. 454–462). 312 Johnsons Mutmassungen über Jakob gibt ein eindrucksvolles Zeugnis vom kreativen Umgang mit dem Discours der Erzählung. 313 Keller, Kleider machen Leute (Anm. 308), S. 16.
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auch im Wortsinne hinablief, um das Städtchen zu besehen: »Das Schicksal machte ihn mit jeder Minute größer.«314 Am deutlichsten wird Johnsons erzählerisches Interesse am Schluss dieses vierten Satzes im Keller’schen Beispielzitat. Hier tut Johnson sich etwas schwer mit der formalen Bestimmung, nennt das letzte Satzglied eine »PartizipialKonstruktion«, da ihm »diese Fügung […] immerhin mehr schien als unmittelbares Satzglied und bedeutend weniger als ein ernsthafter Nebensatz« (45v). Das Satzglied Kellers, »seinen Mantel sittsam zusammennehmend«, könne man laut Johnson »keinesfalls umformen« in eine Variante mit einfacher Konjunktion: »und nahm seinen Mantel zusammen« (45v). Denn diese hätte »vergleichsweise zu wenig Gewicht« (45v). Allenfalls sei laut Johnson diese Form möglich: »wobei (während) er seinen Mantel zusammennahm« (45v). Damit zeigt Johnson an, worauf es ihm hier ankommt. Es geht um die Funktion des Partizips »zusammennehmend«, mit dem eine Gleichzeitigkeit der Handlungen ausgedrückt wird. Auf dieser Mikroebene des Discours ist das von Bedeutung. Strapinski nimmt seinen Mantel zusammen, während er aus dem Wirtshaus herausschreitet. Eine syndetische Konstruktion, etwa mit einem ›und‹, hätte eine zeitliche Abfolge, eine Sukzession beider Handlungen angezeigt, erst herausschreiten, dann den Mantel zusammennehmen, die in Kellers Text nicht intendiert ist. So sieht Johnson in diesem vierten Satzgefüge »eine ungemein säuberliche und eindringliche Reihung von Vorgängen« (45v) realisiert. Wobei der Terminus »Reihung« wiederum ein Nacheinander impliziert – treffender wäre gewesen, von einer ›Gleichordnung‹ oder ›Parallelisierung‹ der Vorgänge zu sprechen, die trotz der Sukzession in der (syntagmatischen) Leserichtung angestrebt werde. Dem steht in seinen Augen auch nicht die erhebliche Zergliederung des Satzgefüges entgegen, da alle »Einschübe erläuternd sind«, und so »die Vorstellungen einzeln komplex« machen, und zwar »ohne sie in ihrer Umrissenheit zu verwischen« (46r). Für den fünften und letzten Satz des Beispielstextes stellt Johnson fast lakonisch fest: »Rein formal ist dieser Hauptsatz ohne Besonderheiten« (46r). Damit ist seine Syntaxanalyse abgeschlossen. Es folgt erneut eine – mehr oder weniger – darauf fußende, weitergehende Erörterung. Denn für ›interessant‹ hält er die »rhythmische Funktion« (46r) dieses Satzes: Durch »seine fast lapidare Simplizität« schließe dieser Satz insgesamt »die Unruhe der zersplitterten Konstruktionen, die vorangehen, zusammen« (46r). Als Effekt dieses Rhythmus entstehe »eine Pause (beim Lesen wie beim Sprechen)«, wodurch die gesamte »Satzgruppe gerundet, abgeschlossen« werde (46r). Es lässt sich nicht rekonstruieren, ob Johnson bei seiner Klausur wusste, dass sein Textbeispiel aus genau einem Absatz der Keller-Erzählung bestand. Er hat aber anhand der Syntax und der von ihm 314 Keller, Kleider machen Leute (Anm. 308), S. 30.
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daraus gezogenen Schlüsse erkannt, dass es sich um eine relativ geschlossene Sinneinheit handelt, wie ein Absatz sie darstellt. So lässt sich zusammenfassend feststellen, dass Johnson die Pflichtaufgabe der Syntaxanalyse mit passablem Ergebnis gelöst hat. Es wird dabei allerdings zugleich deutlich, dass sein Interesse an dieser grammatischen Art der Textbetrachtung eher laienhaft als pflichtgemäß erfolgt. Stets fragt er mit einer rezeptionsästhetischen Perspektive nach möglichen Gründen oder Intentionen der vorgefundenen Strukturen, und liefert schlüssige, über die formale Analyse hinausgehende Interpretationen der Textgestalt. Von Anfang an ist ihm klar, dass er es mit einem ästhetischen Text zu tun hat. In seiner Klausur verfolgt er die Spuren der Literarizität, indem er sowohl die ›usuellen‹ als auch die ›nicht usuellen‹ Satzgefüge einerseits auf ihre Stellung und Bedeutung für das Erzählte, und andererseits auf ihre möglichen Wirkungen bei einem Leser hin betrachtet.315 Rückblickend mag ein solch umfassender und auch umsichtiger Blick auf eine Ausarbeitung Johnson für die Aufgaben eines Lektors empfehlen; zur Zeit dieser Klausur war das Verlagslektorat das von ihm kommunizierte Berufsziel. In einer weiteren, biographischen Perspektive kann dieses Textinteresse des Studenten Johnson bereits auf den späteren Autor Johnson hindeuten, der eben zu dieser Zeit seine ersten eigenen belletristischen Versuche mit seinem Romanprojekt Ingrid Babendererde unternahm, und der sich der hier von ihm erörterten Gegenstände für sein literarisches Schaffen bewusst sein wollte und musste.
315 Die Frage nach der Wirkung eines Textes ist eine zentrale Kategorie in der Literarizitätsforschung, einen Überblick liefert Simone Winko: Auf der Suche nach der Weltformel. Literarizität und Poetizität in der neueren literaturtheoretischen Diskussion, in: Grenzen der Literatur. Zum Begriff und Phänomen des Literarischen, hg. von Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer, Berlin: de Gruyter 2009, S. 374–396.
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Hauptwerke der Weltliteratur: Venice Preserved
April/Mai 1955
7.1
Otway – Mayer – Johnson. Zu den Hintergründen des Referats
Über die hervorragende Stellung, die Thomas Otways Tragödien im dramatischen Schaffen der Restaurationszeit einnehmen, gehen die Meinungen nicht wesentlich auseinander. Wenn nicht überhaupt Otway als der bedeutendste Dramatiker bezeichnet wird, so werden doch ganz allgemein wenigstens The Orphan und noch vielmehr Venice Preserv’d als Hauptwerke des tragischen Schaffens der Zeit anerkannt. In dieser Situation ist es um so erstaunlicher, daß sich die Literaturkritik mit Otway selbst und seinen Werken nur sehr selten in eigenen Studien befaßt hat.316
Was Helmut Klingler hier in seinem Forschungsüberblick sagt, lässt sich in ähnlicher Weise auf das Interesse der Johnson-Forschung an dessen Referat über Thomas Otway übertragen, das der Leipziger Student 1955 in einem Seminar bei Hans Mayer gehalten hat: Dieses Forschungsinteresse gilt nicht eigentlich Otway oder seinem Drama Venice Preserved selbst, und nur zum geringsten Teil den Ausführungen Johnsons, als vielmehr den Umständen ihrer Entstehung. Immerhin gehört Johnsons Referat noch zu jenen Quisquilien, die im Verhältnis etwas häufiger Berücksichtigung finden, wenn Johnsons ›Frühwerk‹ der Forschung in den Blick gerät, und dies dürfte auch darin begründet sein, dass es sich hierbei um die umfangreichste der erhaltenen Studienarbeiten Johnsons handelt. In der Hauptsache aber konzentrieren sich die Betrachter auf dieses Referat, weil es auf eine Aufgabenstellung Hans Mayers zurückgeht. Und mehr noch, weil Mayer in seiner Autobiographie bekundet, sich an dieses Referat erinnern zu können:
316 Helmut Klingler: Die künstlerische Entwicklung in den Tragödien Thomas Otways, Wien: Braumüller 1971, S. 6f.
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Der Student, der dem Seminar seinen Text vortrug, ein langer Blonder mit merkwürdigen Augen, war eine Überraschung. Nach ein paar Minuten hörten wir alle aufmerksam zu. Er las sehr gut vor, ausgezeichneter englischer Akzent beim Vortrag der Zitate aus Otway, reines Norddeutsch, ganz und gar kein Sachse also; er hatte gründlich gearbeitet.317
Man mag verwundert sein, wie gut sich Mayer an einen singulären Auftritt nach dreißig Jahren erinnert; man mag seine Erinnerungen für authentisch halten. Man mag aber auch fragen, welche Funktion Mayers ›Erinnerung‹ an seinen Leipziger Studenten haben soll. Dazu gleich etwas mehr. Deutlich wird jedoch hier schon, dass Mayers Ausführungen bestimmte Topoi eines bestimmten Johnson-Bildes transportieren: ein »langer Blonder«, der »reines Norddeutsch« spricht, der sein Auditorium fesselt, der »gründlich gearbeitet« hat. Ungewollt entwirft Mayer hier das größtmögliche Kontrastbild zu sich selbst: zu dem kleinen Kölner, dem man seine Mundart noch immer anhört, und der es mit philologischer Sorgfalt nie besonders genau genommen hat. Dem allerdings, und das ist der gemeinsame Nenner mit Johnson, die Aufmerksamkeit beim Vortrag gewiss ist. Die Johnson-Forschung ist dieser Topik in aller Regel gefolgt, und sie hat sich auch dem Otway-Vortrag so genähert, als ob sich aus dieser Seminararbeit bereits der spätere Schriftsteller von Weltgeltung herauslesen lasse. Das ist einerseits naheliegend und nachvollziehbar, hat aber auch dazu geführt, dass die studentischen Arbeiten, selbst die über Otway, keine ›echte‹ und intensive Auseinandersetzung erfuhren. Sie wurden stattdessen als mehr oder weniger notwendige biographische Fußnoten der Autorenvita Uwe Johnsons betrachtet. Gleichzeitig kommen über den Otway-Vortrag die spezifischen Leipziger Verhältnisse in den Blick, unter denen Hans Mayer lehrte und Uwe Johnson studierte. Der charismatische Lehrstuhlinhaber, der unter anderem Christa Wolf, Volker Braun und Irmtraud Morgner zu seinen Schülern zählte,318 und der nordische Schlacks mit den »merkwürdigen Augen« bildeten, zumindest im Rückblick mancher Zeitzeugen, ein Klima der Weltläufigkeit unter dem engen Horizont ›ostzonaler‹ Gängelung der Wissenschaften. Denn auch in Leipzig war die Germanistik längst ein »ideologisches Fach« geworden, in dem man »[p]arteilich diskutieren« lernte.319 Doch dem wollte sich zumindest Johnson nicht beugen, und mit Mayer war es nur bedingt zu machen. Für den jungen Literaturstudenten, der sich anschickte, Schriftsteller zu werden, war der Leipziger Lehrstuhlinhaber eine Art Zentralgestirn. Denn Mayer 317 Mayer, Deutscher auf Widerruf II (Anm. 81), S. 111f. 318 Vgl. Hanjo Kesting: Weltbürger und Außenseiter. Nach hundert Jahren, in: ders., Begegnungen mit Hans Mayer. Aufsätze und Gespräche, Göttingen: Wallstein 2007, S. 99–122, hier: S. 109. 319 Emmel, Die Freiheit (Anm. 29), S. 121 und S. 123.
Otway – Mayer – Johnson. Zu den Hintergründen des Referats
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bewegte sich nicht nur im Raum der Wissenschaft, sondern auch im Raum der Literatur. So war er beispielsweise einer der wichtigsten Berater des Leipziger Verlages Volk und Welt: »Hans Mayer und Stephan Hermlin prägten mit ihren Übersetzungen und internationalen Kontakten das frühe Gesicht des Verlages.«320 In den Aufbaujahren gehörte Mayer praktisch zu den Gründervätern von Volk und Welt: Es war so, dass sich Mischa Tschesno, Bruno Kaiser, Hans Mayer, Stephan Hermlin, Eduard Claudius und ein gewisser Alois Kolb nach 1945 alle in einem Internierungslager in der Schweiz begegneten. Dort wurde die Idee geboren, einen Verlag zu gründen. Tschesno sagte, er gehe in die Sowjetzone und bemühe sich, einen Verlag zu bekommen für internationale Literatur. Er war Baltendeutscher, sprach fließend russisch und hatte gute Verbindungen. Zunächst organisierte er die Flüchtlingslager, doch 1947 hat er formal den Verlag gegründet und dann alle rübergeholt, Hermlin, Mayer und die anderen. Die waren ja alle erst in Frankfurt am Main. Mayer hat er den Lehrstuhl in Leipzig besorgt, Bruno Kaiser wurde der erste Direktor der Staatsbibliothek nach 1945.321
Volk und Welt unterhielt vorzügliche Kontakte auch nach Westdeutschland. Viele Suhrkamp-Autoren, darunter Samuel Beckett, T. S. Eliot und James Joyce, erschienen in Lizenz im Leipziger Verlag für internationale Literatur. Und als Volk und Welt 1962 plante, mit dem Roman Stiller ein Hauptwerk von Max Frisch herauszubringen, schien für das Nachwort nur Hans Mayer in Betracht zu kommen.322 Das Vorhaben führte zu enormen Verwerfungen und Verzögerungen – nicht zuletzt durch Mayers Fortgang aus der DDR, sodass Stiller erst 1975 in ostdeutscher Lizenz erscheinen konnte. Mayer stand in Leipzig für die literarische Moderne, und entsprechend schwer war es, seine Vorschläge und Vermittlungsversuche in einem Verlagshaus durchzusetzen, das sich häufig ausgebremst sah, wenn es Autoren der Avantgarde oder gar »dekadente« Literatur gegen die Parteilinie durchsetzen wollte.323 Zumal Walter Ulbricht, der bedeutendste Kulturpolitiker der DDR, im ›Forma-
320 Siegfried Lokatis: Nimm den Elefanten – Konturen einer Verlagsgeschichte, in: Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt, hg. von Simone Barck und Siegfried Lokatis, Berlin: Ch. Links 2003, S. 15–30, hier: S. 18. 321 Walter Berger: Michael Tschesno-Hell – Die frühen Jahre, in: Barck, Lokatis, Fenster zur Welt (Anm. 320), S. 356–360, hier: S. 356. 322 Vgl. dazu Roland Links: Der Umgang mit deutschsprachiger Literatur von 1954 bis in die siebziger Jahre, in: Barck, Lokatis, Fenster zur Welt (Anm. 320), S. 97–102, hier besonders: S. 97f., sowie Siegfried Lokatis: Frisch fragmentiert, in: Barck, Lokatis, Fenster zur Welt (Anm. 320), S. 271–274, hier S. 271f. 323 Vgl. dazu Berthold Petzinna: »Todesglöckchen des bürgerlichen Subjekts« – Joyce, Beckett, Eliot und Pound, in: Barck, Lokatis, Fenster zur Welt (Anm. 320), S. 188–192.
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lismus‹ der klassischen Moderne eine »Verzerrung des Menschenbildes ins Pathologische« sah.324 Hans Mayer war demzufolge in Leipzig doppelt stigmatisiert und doppelt faszinierend: galt der jüdische Intellektuelle doch als bürgerlicher Wissenschaftler, der noch dazu vom sozialistischen Realismus in den Künsten nichts hören wollte, sondern seine Neugierde all jenen Autoren zuwandte, die durch das Raster des »ideologischen Deutungsmonopols der SED« zu fallen drohten.325 In Leipzig personifizierte Mayer quasi die Weltliteratur selbst, und als »Verfolgter des Naziregimes« ließ er sich, wie auch Verlagsleiter Walter Czollek, dessen engster Berater er war, nicht so leicht einschüchtern.326 Er befreundete sich mit dem umtriebigen stellvertretenden Cheflektor Fritz J. Raddatz und pflegte seine Auslandskontakte.327 Das Otway-Referat war Johnsons Eintrittskarte in Mayers Kosmos, das Initialereignis einer anhaltenden, teils fruchtbaren Bekanntschaft. Anlässlich der Publikation dieser Studienarbeit 1992 wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – Bernd Neumanns Nachwort folgend – konstatiert, Johnson habe sich mit »diesem Auftritt […] Zugang zum engeren Kreis um den ›Literaturkönig‹ Hans Mayer« verschafft.328 Ganz im Sinne dieser Einschätzung weist Thomas Schmidt im ersten Johnson-Jahrbuch 1994 auf das »Referat über Thomas Otway« hin, das Johnson »die Aufmerksamkeit seines Lehrers Hans Mayer einbrachte«, und mit dem sich der spätere Autor zudem »früh von einer akademischen Terminologie« befreit und »einen Stil« geformt habe.329 Im Jahr darauf dient Uwe Neumann Johnsons Otway-Vortrag – Bernd Neumann referierend – dann als frühes Exempel seines speziellen ›farbigen‹ Erzähltons.330 Weder bei Schmidt noch bei Neumann jedoch wird dieser eigene Stil durch Beispiele und Analysen belegt, die Rede vom Stil tendiert, wie so oft, auch hier zur Leerformel.
324 Vgl. dazu Petzinna, »Todesglöckchen des bürgerlichen Subjekts« (Anm. 323), S. 188–192, hier: S. 188. – Vor allem Georg Lukács war dann lange bemüht, diese Ideologie ästhetisch zu begründen. 325 Petzinna, »Todesglöckchen des bürgerlichen Subjekts« (Anm. 323), S. 189. 326 Vgl. Roland Links: Walter Czollek – Verlagsleiter von 1954 bis 1972, in: Barck, Lokatis, Fenster zur Welt (Anm. 320), S. 255f. 327 Vgl. Roland Links: Fritz J. Raddatz – Eine treibende Kraft der Anfangsjahre, in: Barck, Lokatis, Fenster zur Welt (Anm. 320), S. 337f. 328 Katrin Hillgruber: Der Staatsapparat grüßt den Landvogt. Vom Verlagsgutachten zur Parodie, vom Stahlwerk zur Sichtpropaganda: Der frühe Uwe Johnson, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. 8. 1992, S. BuZ 5. 329 Schmidt, Auf dem Weg zum Klassiker? (Anm. 66), S. 284. 330 Vgl. Uwe Neumann: »Er stellte seine Fallen öffentlich aus«. Zu Uwe Johnsons poetologischen Äußerungen, in: Uwe Johnson zwischen Vormoderne und Postmoderne. Internationales Uwe Johnson Symposium, 22.–24. 9. 1994, hg. von Carsten Gansel und Nicolai Riedel, Berlin: de Gruyter 1995, S. 55–80, hier: S. 62.
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Ähnlich mager sind die Schlaglichter, die in der übrigen Johnson-Forschung auf dieses Otway-Referat geworfen werden. So fällt Robert Gillett unter dem Titel Life writing 2010 lediglich auf, dass Johnson in seinem Referat die Lebensläufe Otways und John Miltons »sorgfältig kontextualisiert« habe, und zwar »in mehrfacher Hinsicht«.331 Beispiele dafür bleibt er jedoch schuldig. Einzig Paul Onasch erkennt 2015 infolge seiner werkgenetischen Perspektive, dass Johnson »Teile dieses Referats […] in seinem Erstling« Ingrid Babendererde verarbeitet habe, um damit »Parallelen zwischen den Puritanern im 17. Jahrhundert und dem real existierenden Sozialismus in der DDR« zu ziehen.332 Der naheliegenden Frage aber, warum Mayer gerade diesen Autor mit diesem Drama zum Gegenstand seines Seminars gemacht und einem Studenten einen sitzungsfüllenden Vortrag darüber zur Aufgabe gestellt habe, ist bislang niemand nachgegangen. Auch hat bislang niemand erkundet, weshalb Johnson sich für dieses Referatsthema interessiert haben könnte (wenn er denn eine Wahl hatte). Seine Affinität zum englischsprachigen Raum, die auch in seinen späteren Romanen, etwa Ingrid Babendererde oder Mutmassungen über Jakob, zum Tragen kommt, würde für dieses Thema sprechen. Der Rang des Autors Otway, den Mayer auf eine Stufe neben Shakespeare gestellt haben wird, dürfte ebenfalls für die Wahl dieses Themas gesprochen haben. Sie eröffnete eine völlig neue Perspektive: Die Abkehr von einem sozialistisch ›verordneten‹ Autor, und sei er noch so bedeutend, und die Hinwendung zu einem bekennenden Royalisten, zumal einem, dem man sich ›frei‹ widmen kann, könnte das Motiv für Johnson gewesen sein, sich dieser Herausforderung zu stellen. Schon der Besuch eines Seminars bei dem ›bürgerlichen Literaturkönig‹ verhieß ja offenbar Befreiung in der Lehre von engen Vorgaben ›gesellschaftswissenschaftlicher‹ Indoktrination. Gleichwohl wird sich zeigen, dass Johnson sich nicht von der in Schule und Universität erlernten Art, wie Literatur zu interpretieren sei, gänzlich freimachen kann. Selbst im venezianischen Ehrenhandel mit Freundesverrat erkennt er Motive eines Klassenkampfs. Otway wurde mit aller Wahrscheinlichkeit, dies sei vorausgeschickt, wegen Hofmannsthals Übertragung von Venice Preserved in das Curriculum des Seminars gehoben. Ihn habe Otways Stück deswegen interessiert, so Mayer, »weil man daran untersuchen konnte, wie es weitergewirkt hat, nämlich anhand der Bearbeitung durch Hugo von Hofmannsthal«.333 Gleichwohl hat auch Otway 331 Gillett, Uwe Johnson und Life Writing (Anm. 117), S. 27. 332 Paul Onasch: »Wenn einer sich umgebracht habe, dürfe er nicht christlich begraben werden.« Kirchengeschichtliche Diskurse in den Romanen Uwe Johnsons, in: Religion und Literatur im 20. und 21. Jahrhundert. Motive, Sprechweisen, Medien, hg. von Tim Lörke und Robert Walter-Jochum, Göttingen: V & R Unipress 2015, S. 541–569, hier: S. 544. Vgl. hierzu Kapitel 7.7 Ausblick ins Werk: Der puritanische Theaterstreit in Ingrid Babendererde. 333 Mayer, Unerwartete Begebenheit (Anm. 88), S. 42.
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selbst seinen Rang und Stellenwert in der englischen Literaturgeschichte, und damit in der ›Weltliteratur‹, wenngleich ›lediglich‹ zwei Dramen seines Œuvres seinen Ruhm dauerhaft begründen: »The fame of Otway now rests on his two tragedies, The Orphan and Venice Preserved; but on these it rests as on the pillars of Hercules.«334 Vielleicht lässt sich sagen, dass sich Thomas Otway (1652–1685) in der englischen Literaturgeschichte einen bedeutenden Nischenplatz gesichert hat. Insbesondere mit Venice Preserved (1682) konnte er bei seinen Zeitgenossen große Erfolge feiern und wurde auch im folgenden 18. Jahrhundert häufig aufgeführt sowie in etlichen Buchausgaben auf den englischsprachigen Markt gebracht. Diese Popularität bei seinem heimischen Publikum griff bald auch auf das europäische Festland über, es folgen verhältnismäßig rasch Übersetzungen und Bearbeitungen, zunächst ins Französische. Eine erste deutschsprachige Fassung wird ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Wien unter dem Titel Die Verschwörung wider Venedig aufgeführt,335 ihr anonym gebliebener Bearbeiter war dem Vernehmen nach jedoch ein »talentloser Schriftsteller.«336 In Leipzig sieht der 20jährige Goethe das Stück 1765,337 dreißig Jahre später wird es unter seiner Leitung am Weimarer Hoftheater in der Spielzeit 1794/95 aufgeführt – in der Übersetzung des Klassischen Philologen Johann Jacob Meno Valett,338 und zwar einmal im Oktober 1794 und ein weiteres Mal im Januar 1795.339 Goethe jedoch war von dem Drama nicht sonderlich angetan: Als er Schiller in Jena über eine Verschiebung der ersten Aufführung informiert, wonach »das gerettete Venedig nicht nächsten Sonnabend, sondern erst Dienstag gegeben« werde, lädt er den jungen Kollegen dabei gleich recht unverhohlen aus, da das Stück »auch nicht eben von dem Gewicht ist, daß es Sie herüberziehen sollte«.340 Zu eben dieser Zeit 334 [Art.] Thomas Otway, in: Chambers’s Cyclopaedia of English Literature. Vol. II, New Edition by David Patrick, London: W. & R. Chambers 1906, S. 71–75, hier: S. 72. 335 Vgl. Die Verschwörung wider Venedig, ein Trauerspiel des Herrn Thomas Otway; theils aus dem englischen Originale, theils aber aus der französischen Nachahmung des Herrn la Place gezogen. Aufgeführet zu Wienn, auf dem Kaiserl. Königl. Privilegirten Stadt-Theater, Wien: Kraus 1754. 336 Johannes Falke: Die deutschen Bearbeitungen des »geretteten Venedig« von Otway (1682), Rostock 1906, S. 23. Der Zufall wollte offenbar, dass gerade an Johnsons einstiger Alma Mater die produktive Rezeption dieses Dramas untersucht worden ist. Hinweise darauf, dass Johnson diese Arbeit zur Kenntnis genommen hat, gibt es nicht. 337 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe an Cornelia Goethe, 6. 12. 1765, in: Goethes Briefe. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Karl Robert Mandelkow unter Mitarbeit von Bodo Morawe, Bd. 1: Briefe der Jahre 1764–1786, 2. Auflage, Hamburg: Wegner 1968, S. 17–24, hier: S. 22. 338 Vgl. Johann Jakob Meno Valett: Das gerettete Venedig. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, von Meno, Bayreuth: Lübeck 1795. 339 Vgl. die entsprechenden Theaterzettel, Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimarer Theaterzettel, Signatur: ZC 120, Verfilmungsnummer: 000780 und 000818. 340 Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich Schiller, 8. 10. 1794, in: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. von Karl
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verleiht Ludwig Tieck seinem Briefroman William Lovell (1795/96) historischliterarische Authentizität, indem die Figur Betty darin voll emphatischen Mitgefühls für des Dichters tragische Biographie »unsern armen Otway recht innig bemitleidet, der so großen Mangel litt, um den sich Niemand kümmerte, und aus dem doch so oft ein recht himmlischer Engel schreibt: wie konnten die Menschen so wenig für ihn sorgen!«341 Venice Preserved kann immerhin als das »bedeutendste englische Trauerspiel« gelten, »das in der Epoche zwischen Shakespeare und Shelley geschrieben worden ist«, wie es auch »als beliebtestes englisches Drama seit Shakespeare den größten Erfolg« gehabt hatte.342 Und das impliziert wenigstens einen Zeitraum von gut hundert Jahren. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts geht die Zahl der Aufführungen und Publikationen dann allerdings bald zurück, das Drama droht allmählich dem Vergessen anheim zu fallen. Anteil daran dürfte unter anderem gehabt haben, dass in dem Bühnenstück auf etliche zeitgenössische Personen und Ereignisse angespielt wird (etwa auf den ersten Earl of Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper, oder auf die vorgebliche Papisten-Verschwörung), die zwangsläufig mit der Zeit für das Publikum verblasst sind.343 Für eine gewisse Wirkungsgeschichte spricht, dass Brockhaus’ Conversations-Lexikon 1817 konstatiert, Venice Preserved sei eines der Stücke, die »sich auf der Bühne erhalten und seinen [Otways; AK] Ruf gegründet« habe, wiewohl des Verfassers »unsittlicher Charakter […] ihn um die allgemeine Achtung gebracht« habe.344 Und auch der österreichische Schriftsteller Franz Grillparzer hat eine eigene Bearbeitung erwogen, ist aber über einige wenige Verse nicht hinausgekommen.345 Brockhaus liefert in den folgenden Auflagen den Otway-Artikel weitestgehend unverändert, in der neunten Auflage (1846) ist der Eintrag dann schon deutlich gekürzt, die Würdigung des Dichters gedämpfter: Venice Preserved werde aber jedenfalls
341 342 343 344 345
Richter u. a., Bd. 8.1: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz, München: btb 2006, S. 27. Ludwig Tieck: William Lovell, in: ders., Werke in vier Bänden, Bd. 1: Frühe Erzählungen und Romane, hg. sowie mit Nachwort und Anmerkungen versehen von Marianne Thalmann, München: Winkler 1978, S. 235–697, hier: S. 624. Griseldis Crowhurst: »Das gerettete Venedig« – Vorbild und Nachdichtung – zur Struktur des Hofmannsthalschen Dramas, Diss. Bamberg 1967, S. 4. Vgl. Crowhurst, »Das gerettete Venedig« (Anm. 342), S. 6. [Art.] Otway (Thomas), in: Conversations-Lexikon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, Bd. 7: O bis Q, 4. Original-Auflage, Altenburg und Leipzig: F. A. Brockhaus 1817, S. 176. Vgl. Grillparzers Sämtliche Werke in zwanzig Bänden, hg. und mit Einleitungen versehen von August Sauer, Bd. 13: Dramatische Fragmente: Übersetzungen, Satiren, Erzählungen, Stuttgart: Cotta 1892, S. 43–47.
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»gegenwärtig noch gern gesehen«.346 ›Gern gesehen‹ hat man das Stück auch gemäß der folgenden Titelauflagen der Enzyklopädie, bis dieser Hinweis schließlich in der dreizehnten Auflage 1885 entfällt.347 Diesen Relevanzverlust konnte auch die Bearbeitung von Stephan Gätschenberger 1874 nicht verhindern,348 seines Zeichens u. a. Herausgeber des Satiremagazins Würzburger Stechapfel sowie Verfasser einer dreibändigen Geschichte der englischen Literatur mit besonderer Berücksichtigung der politischen und Sitten-Geschichte Englands (Prag 1859–1862). Gätschenberger gesteht Venice Preserved »ungewöhnliche Vorzüge« und dramatische Qualität zu, sodass es »die Feuerprobe der Jahrhunderte bestanden haben und dem heutigen Geschmacke noch zusagen« könne.349 Soweit heute festzustellen ist, bleibt ein nennenswerter Erfolg der Bearbeitung durch Gätschenberger jedoch aus, obwohl, wie es im Anzeigenteil der Deutschen Rundschau heißt, diese Fassung »von obscönen Ausdrücken jener derberen Zeit vollständig gereinigt, zu breite Scenen zusammengezogen« und »besser motivirt« sind, »so daß sie auch für das deutsche Theater jetzt vollkommen bühnengerecht erscheinen.«350 Der Brockhaus jedenfalls sieht dann schon in seiner nächsten, 14., Auflage von 1894 die Sache mit ganz anderen Augen, dort heißt es nun, die beiden bedeutendsten Dramen Otways, The Orphan und eben Venice Preserved, »versuchten erfolglos den Verfall des Theaters aufzuhalten.«351 Den promovierten Philologen und Bibliothekar Paul Hagen hinderte dieses recht negative Urteil nicht, 1898 eine eigene Übersetzung von Otways Drama vorzulegen,352 auch sie blieb wohl weitestgehend folgenlos. Als nächstes versuchte sich der erfolgreiche österreichische Bühnenschriftsteller, Lyriker und Erzähler Hugo von Hofmannsthal prominent an einer Bearbeitung. Doch dem Geretteten Venedig (1905) war wenig Erfolg beschieden, schon die »Uraufführung im Berliner Lessing-Theater […] am 21. Januar 1905
346 [Art.] Otway (Thom.), in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände. Conversations-Lexikon, Bd. 10: Moskau bis Patricier, 9. Originalauflage, Leipzig: F. A. Brockhaus 1846, S. 611. 347 Vgl. [Art.] Otway (Thom.), in: Brockhaus’ Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie, Bd. 12: Murrhardt–Phoros, 13., vollständig umgearbeitete Auflage, Leipzig: F. A. Brockhaus 1885, S. 590. 348 Vgl. Philip Massinger, Thomas Otway: Neues Recept, alte Schulden zu zahlen, IntriguenLustspiel in 5 Akten von Ph. Massinger. Venedig’s Rettung, historisches Trauerspiel in 5 Akten von Th. Otway. Zum Erstenmal bühnengerecht für das deutsche Theater bearbeitet von S. Gätschenberger, London: Wohlauer 1874. 349 Stephan Gätschenberger: Vorbericht, in: ders., Massinger, Otway (Anm. 348), S. V. 350 N. N.: Zwei Perlen des englischen Dramas, in: Deutsche Rundschau 1, 1874, H. 1, S. [527]. 351 [Art.] Otway, in: Brockhaus’ Konversations-Lexikon, Bd. 12: Morea–Perücke, 14., vollständig neubearbeitete Auflage, Berlin und Wien: F. A. Brockhaus Leipzig 1894, S. 782. 352 Vgl. Thomas Otway: Die Verschwörung gegen Venedig. Tragödie in 5 Akten. Ins Deutsche übertragen und mit einer Einleitung versehen von Paul Hagen, Leipzig: Avenarius 1898.
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sollte den Autor enttäuschen.«353 Zeitgenossen wie auch spätere Rezipienten kritisieren Hofmannsthals Bearbeitung teils erheblich, eine »Relevanz des Geretteten Venedigs für das Gesamtwerk« ließe sich allenfalls in der Figur Jaffiers begründen, die Hofmannsthal »mit deutlichen Referenzen auf die eigene Biographie« ausgestattet habe.354 Als Resümee bleibt festzuhalten, dass Otways Drama und seine deutschsprachigen Bearbeitungen sich auf den deutschen Bühnen nie haben durchsetzen können, selbst in seiner Heimat ist Otway heute nur noch als Randfigur des akademischen Diskurses präsent. Das Schlagwort ›next to Shakespeare‹, mit dem ursprünglich seine bedeutende Rolle in der englischen Literaturgeschichte herausgestellt wurde, hat heute – und hatte auch schon zu Johnsons Studienzeit – den Charakter einer Marginalie angenommen.355 Leider ist der genaue Seminarplan von Mayers Veranstaltung über die Meisterwerke der Weltliteratur nicht verfügbar, sodass Johnsons spezielle Aufgabe heute ohne Kontext dasteht; wie auch der konkrete Arbeitsauftrag dafür fehlt. Als literarhistorisch anerkannter Vertreter des englischen Dramas in Shakespeares Nachfolge hatte Otway in dem Seminar eine gewisse Berechtigung; wenngleich ›Weltliteratur‹ daraus erst in den folgenden hundert Jahren wurde – aus deutscher Perspektive durch die Übersetzung Hofmannsthals im Jahre 1905. Und es spricht für die literarische ›Weltläufigkeit‹ des Dozenten, Otway ausgewählt zu haben, wenngleich auch auf die Gefahr hin, seine(n) Studenten damit möglicherweise zu überfordern. Denn einschlägige, ja überhaupt vorhandene Literatur von und über den englischen Dramatiker, um ein solches Referat auszuarbeiten, ist auch heute noch rar. Selbst im mit Literatur gut ausgestatteten Leipzig dürfte die Literaturrecherche eine besondere Herausforderung gewesen sein, wo Johnson nicht nur die Universitätsbibliothek zur Verfügung stand, sondern auch die Deutsche Bücherei, die später in der Deutschen Nationalbibliothek aufgehen sollte.356 Mag es für Hans Mayer, der sich gern als ein Professor für Weltliteratur gesehen hätte (und eine solche Professur mit dieser Denomination auch tatsächlich angestrebt hat), aus fachlicher Sicht einerseits naheliegend gewesen sein, mit seinem Seminar auch über Thomas Otway zu sprechen, so mögen anderer353 Herbert Hömig: Hugo von Hofmannsthal. Eine Lebensgeschichte, Münster: Aschendorff 2019, S. 99. 354 Alexander Mionskowski: »Das gerettete Venedig« (1905), in: Hofmannsthal-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Mathias Mayer und Julian Werlitz, Stuttgart: Metzler 2016, S. 203–205, hier: S. 204. 355 Vgl. Aline Mackenzie Taylor: Next to Shakespeare: Otway’s Venice Preserv’d and The Orphan and their history on the London stage, Durham, NC: Duke Univ. Press 1950. 356 Alle Verlage der DDR hatten ab 1955 per gesetzlicher Anordnung Pflichtexemplare ihrer Publikationen dort abzuliefern, viele taten es bereits zuvor, und auch etliche westdeutsche Verlage lieferten freiwillig ihre Exemplare dort ab.
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seits vielleicht die Zeitläufte und ihre Zufälle bei dieser Wahl eine Rolle gespielt haben. Für einen aufmerksamen Beobachter der Weltliteratur gab es seinerzeit durchaus Hinweise auf Otway und sein Drama, auch jenseits des akademischen Fachbetriebs. So sind für den deutschen Sprachraum gelegentliche Aufführungen der Hofmannsthal’schen Bearbeitung zu verzeichnen. Beispielsweise inszenierte der zu jener Zeit bekannte Theaterregisseur Heinz Hilpert im Juni 1950 Das gerettete Venedig als Schweizer Erstaufführung am Schauspielhaus Zürich.357 Während der umfangreichen Feierlichkeiten anlässlich der Krönung von Elisabeth II. im Juni 1953 wurde Otways Venice Preserved in London inszeniert. Das Drama war zuvor in England, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu berichten weiß, »seit achtzig Jahren nicht gespielt worden.«358 Im Jahr 1954 erscheint dann der zweite Band von Hofmannsthals Gesammelten Werken in Einzelausgaben im S. Fischer Verlag, er enthält Das gerettete Venedig, und verweist auch auf dessen Ursprung: »Nach dem Stoffe eines alten Trauerspiels von Thomas Otway«.359 Zu dieser Zeit war die Grenze zwischen DDR und Bundesrepublik, zumal für den angesehenen Hans Mayer, noch offen, und diesem ›Weltliteraten‹ wird diese Veröffentlichung kaum entgangen sein. Viele Jahre später, 1969, erinnert sich Johnson bei der Arbeit an den Jahrestagen der Expertise seines Lehrers und fragt ihn nach einem Zitat, das entweder von Kafka oder von Hofmannsthal stammen müsse. Zwar kann Mayer ihm in diesem Fall nicht helfen, die Anfrage illustriert aber, unter welchen Stichworten Mayer Johnson im Gedächtnis geblieben ist – es sind jene Autoren, zu denen Johnson nachweislich als Student bei Mayer gearbeitet hat.360 Zu Mayers 60. Geburtstag 1967 hat der vormalige Meisterschüler seinem Leipziger Professor ein durchaus persönlich gehaltenes kleines Denkmal gesetzt, mit dem er den Beginn ihrer Bekanntschaft nachzeichnet. Es solle doch bitte »nicht eine der üblichen Festschriften« werden, »sondern ein Buch der Freunde«, wie Fritz J. Raddatz, neben Walter Jens Initiator dieses Vorhabens, es Johnson gegenüber ausdrückt; und Raddatz betont, dass der so Geehrte sich wahr357 Vgl. Günther Rühle: Theater in Deutschland. Seine Ereignisse – seine Menschen, Bd. 2: 1945– 1966, Frankfurt am Main: S. Fischer 2014, S. 1375. 358 Lutz Weltmann: Im Schatten Shakespeares. Londoner Bühnen zur Krönungszeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 6. 1953, S. 4. Weltmann scheint mit seiner Feststellung noch zu untertreiben, laut Taylors Aufführungsverzeichnis fand die letzte Aufführung am 26. Dezember 1856 durch die Covent Garden Company statt (vgl. Taylor, Next to Shakespeare (Anm. 355), S. 303). Taylor verweist noch auf spätere Wiederbelebungsversuche des Stückes, innerhalb und außerhalb Englands und bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein, die jedoch allesamt wenig Wirkung zeitigten (Taylor, Next to Shakespeare (Anm. 355), S. 236–244). 359 Hugo von Hofmannsthal: Das gerettete Venedig, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 2: Dramen, hg. von Herbert Steiner, Frankfurt am Main: Fischer 1954, S. 77– 270, hier: S. 77. 360 Vgl. Uwe Neumann: Uwe Johnson und Heinrich von Kleist. Neuigkeiten aus dem Schlußkapitel der Jahrestage, in: Johnson-Jahrbuch, 7/2000, S. 197–225, hier: S. 225.
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scheinlich »über einen Beitrag von Ihnen ganz besonders freuen würde«.361 Johnson liefert daraufhin sein von Wertschätzung zeugendes Bekenntnis zu Mayer, Einer meiner Lehrer, das Raddatz wenige Wochen vor Redaktionsschluss »von allem mir bisher vorliegenden« für das »mit Abstand beste« hält und schließlich an exponierter Stelle am Schluss des Mayer’schen Festbuches platzieren wird.362 Johnson liefert darin vor allem ein Bild Hans Mayers, wie ihn seine Leipziger Studenten seinerzeit gesehen haben. Als Johnson nach seinem Wechsel aus Rostock in der Messestadt eintraf, sah er sich vor die nur scheinbar attraktive fachliche Wahl gestellt, die zugleich an die Ordinarien Frings, Korff und Mayer gebunden war, nämlich sich zwischen Linguistik, älterer deutscher Literatur und eben neuerer deutscher Literatur und Weltliteratur zu entscheiden. Dem blonden Adepten ist an letzterer gelegen, und so gibt es für ihn nur die »Möglichkeit Mayer«,363 obwohl es der Linguist Theodor Frings war, der nach persönlichem Gespräch mit Johnson dessen Hochschulwechsel nach Leipzig befürwortet hatte.364 Johnsons Würdigung lässt sich, erfolgte sie auch mehr als zehn Jahre nach seinem Studium in Leipzig, immer noch der gewaltige Eindruck ablesen, den der Professor bei dem Jungspund aus der mecklenburgischen Provinz hinterlassen hat. Mayer habe seine Schüler, »denen Besuche in Westdeutschland für die Ferien und überhaupt untersagt sind«, immerhin darauf hingewiesen, »daß es Paris gibt«.365 Ein solcher Hinweis auf eine nicht nur literarische Welt jenseits des sich gerade immer weiter zuziehenden Eisernen Vorhangs war keine Selbstverständlichkeit. War doch die Wissenschaftspolitik der DDR darauf ausgerichtet, sich im Osten einen eigenen akademischen Kanon zu schaffen, der sich an dem Vorbild der ›Sowjetwissenschaften‹ zu orientieren hatte. Mayer ist keineswegs davon freizusprechen, und sei es auch nur der Form halber, daran mitgewirkt zu haben: Im März 1954 hält er einen Vortrag auf der Generalversammlung des Deutschen P.E.N.-Zentrums Ost und West, im April schon wird dieser Vortrag unter dem Titel Deutsche Literatur und Weltliteratur in der ostdeutschen ›kulturpolitischen Monatsschrift‹ Aufbau veröffentlicht. Darin findet sich nun nicht nur sein weltliterarisches Interesse einmal mehr bestätigt, sondern auch seine Fähigkeit, seine philologischen Erörterungen in den ›richtigen Kontext‹ zu stellen, mithin Weltliteratur marxistisch-leninistisch 361 Fritz J. Raddatz an Uwe Johnson, 5. 9. 1966, in: Uwe Johnson, Fritz J. Raddatz: »Liebes Fritzchen« – »Lieber Groß-Uwe«. Der Briefwechsel, hg. von Erdmut Wizisla, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006, S. 13f., hier: S. 13. 362 Fritz J. Raddatz an Uwe Johnson, 18. 10. 1966, in: Johnson, Raddatz, Briefwechsel (Anm. 361), S. 24f., hier: S. 25. 363 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 118. 364 Vgl. hier das Kapitel 2 Die historische und biographische Situation Uwe Johnsons 1952–1956, hier besonders: S. 31f. 365 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 118.
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zu interpretieren. So lobt Mayer beispielsweise überschwänglich Heinrich Heine und Heinrich Mann – später wird er das deutlich zurückhaltender tun –, und lässt sich zu der beinah agitatorischen, erkennbar politisch motivierten These hinreißen: Überall dort also, wo deutsche Literatur in der Welt mithilft, um es mit den Worten des Heine-Gedichts zu sagen, »Reveille mit Jugendkraft« zu trommeln, die Menschen aus dem Schlaf und den veralteten Zuständen und Denkgewohnheiten zu reißen, überall dort schwingt sie sich gleichzeitig zur Weltliteratur auf.366
Auch ein obligatorischer Hinweis auf den »gemeinsamen Kampf von Bürger und Junker gegen die Arbeiterklasse« fehlt in seiner Rede nicht.367 In der weiteren Folge sieht er dann die Vergabe des Literaturnobelpreises zunehmend nach politischen und immer weniger nach ästhetischen Maßstäben motiviert, und Mayer vermutet darin einen Ausdruck des Klassenkampfes. Wobei sich allerdings bei seiner Gegenüberstellung, ob nicht statt T. S. Eliot, Faulkner und Churchill eher »Ehrenburg und Eluard, Bertolt Brecht und Anna Seghers oder Arnold Zweig«368 diesen Preis verdient hätten, doch die gleichen Zweifel einstellen dürften. Von Thomas Otway ist in diesem Exkurs über Weltliteratur übrigens keine Rede, nur Hofmannsthal wird immerhin dreimal erwähnt. Mayers Erörterungen führen ihn schließlich zu einem direkten Angriff auf den bundesdeutschen Literaturbetrieb: Man habe sich nämlich »in Westdeutschland im Zeitungsring der offiziellen Feuilletonisten die Flüsteraufgabe gestellt, Leute, die nicht dorthin gehören, auf den Dichterthron der Gegenwart zu setzen«.369 Hans Mayer ein Paranoiker? – Zumindest zeugt sein Verdacht von jener DDRtypischen Disposition, die hinter allem ›westlichen‹ Verhalten einen potenziellen Angriff vermutete. Dem Festschriftherausgeber Walter Jens waren diese Dinge zumindest 1967 offenbar nicht bekannt. Oder hätte er mit diesem Wissen Mayer zum 60. Geburtstag gratulieren können, mit gerade dieser Feststellung: »Fünfzehn Jahre in der DDR, lieber Hans, und keine Zeile, die Sie in Hamburg oder Frankfurt nicht vorzeigen könnten«.370 In Frankfurt (am Main) zeigte Mayer später jedenfalls einige Zeilen nicht vor. In einem Sammelband wird dort 1989 eine gekürzte und überarbeitete Fassung seines P.E.N.-Vortrags von 1954 wieder abgedruckt, in der die oben zitierte Polemik wie auch etliche Zeilen über sozialistische Literatur, kapitalistisch-imperialistische Implikationen in der Welt366 Hans Mayer: Deutsche Literatur und Weltliteratur, in: Aufbau, 1954, H. 4, S. 299–316, hier: S. 307; die hier gemeinten Erläuterungen zu Heine und Heinrich Mann finden sich dort auf den Seiten 306–308. 367 Mayer, Deutsche Literatur und Weltliteratur (Anm. 366), S. 311. 368 Mayer, Deutsche Literatur und Weltliteratur (Anm. 366), S. 312. 369 Mayer, Deutsche Literatur und Weltliteratur (Anm. 366), S. 314. 370 Walter Jens: Introitus amicus, in: Hans Mayer zum 60. Geburtstag (Anm. 76), S. 5–8, hier: S. 7.
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literatur und die Schwächen spätbürgerlicher Autorschaft fehlen. Dass dieser Vortrag in seinem Wiederabdruck trotz alledem am Ende auf 1954 datiert wird, kommt schon editorischer Camouflage gleich, haben sich doch ganz offensichtlich Wertungen und Gesinnungen Mayers seit dem ersten Abdruck teils erheblich verschoben.371 Der kleine jüdische Gelehrte mit seiner bewegten Vergangenheit ist vorsichtiger geworden: Für den Suhrkamp Verlag wie für seinen Autor, den in den Westen gegangenen einstigen Leipziger Professor, war das ohne Zweifel opportun, es verzerrt aber das Bild seiner literarisch-wissenschaftlichen Haltung, die augenscheinlich mit den jeweils geltenden politischen und lebensweltlichen Gegebenheiten konform gehen sollte. Für Johnson wichtiger scheinen nicht politische Integrität, sondern persönliche und funktionelle Implikationen. Auf ihn macht einigen Eindruck, dass Mayer ihn auf einer Polizeiwache wiedererkennt, einen seiner Studenten, den er bis dahin nur »von einem einzigen Gespräch, von einem einzigen Referat« her kannte.372 Johnson will damals einen neuen Personalausweis beantragen, Mayer muss nach einer Westreise seine Rückkehr in die DDR in persona bezeugen. Das ›einzige Referat‹ kann hier nur jenes über Otway meinen, es ist der einzige Vortrag, den Johnson mit Sicherheit vor Mayer gehalten hat, und beide referieren auf eben dieses Ereignis in ihren Erinnerungen. Denn es ist keineswegs gesichert, ob Johnson auch das zweite Referat über einen Autor von weltliterarischer Bedeutung, nämlich Franz Kafka, überhaupt vorgetragen hat.373 Es ist nicht auszuschließen, dass dieser Vortrag angesichts der Formalismusdebatte unter den Tisch fallen musste; und er stattdessen nur als schriftliche Ausarbeitung den Professor erreichte.374 Stattgefunden hat diese denkwürdige Begegnung ›auf dem Amt‹ zwischen Lehrer und Schüler vermutlich Ende August oder Anfang September 1955, in Johnsons Studienunterlagen findet sich eine handschriftliche eidesstattliche Versicherung von seiner Hand, bei einem Bootsunfall auf der Müritz am 24. August 1955 seinen Studentenausweis verloren zu haben; bei dieser Gelegenheit wird auch sein Personalausweis verlustig gegangen sein.375 371 Vgl. Hans Mayer: Deutsche Literatur und Weltliteratur, in: ders., Weltliteratur. Studien und Versuche, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 9–29. Zu den nicht wieder vorgezeigten Zeilen vgl. die vorangegangenen Zitate aus der Aufbau-Zeitschrift sowie ebendort die Seiten 306–308, 310f., 312–314. Ein erneuter Abdruck, der bereits 1957 in einem Sammelband des ostdeutschen Verlags Rütten & Loening erfolgte, blieb hingegen ohne Änderungen oder Kürzungen, vgl. Hans Mayer: Deutsche Literatur und Weltliteratur. Reden und Aufsätze, Berlin: Rütten & Loening 1957, S. 169–193. 372 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 121. 373 Zum Status des Kafka-Referats vgl. hier das Kapitel 8 Schreibend Leben. Johnsons KafkaManuskript. 374 Vgl. dazu hier: S. 301–305. 375 Vgl. Uwe Johnson: [Eidesstattliche Versicherung], in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 52.
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Neben Gerüchten und Legenden seiner Kommilitonen um Hans Mayer ist dann noch ein wesentlicher Grund für die Verbundenheit Johnsons mit seinem Lehrer, dass dieser ihn als einer der ersten auch als Schriftsteller ernst nimmt. Mayer liest das Manuskript von Ingrid Babendererde, übt offenbar sachliche und produktive Kritik: »Natürlich waren seine Hinweise druckreif, und haben mich lange beschäftigt. Hans Mayer wollte meine Zeit nutzen.«376 Und Mayer berichtet dem einflussreichen Peter Suhrkamp von der Arbeit seines Schülers, woraufhin es zu einer Begegnung zwischen dem Verleger und dem angehenden Autor und beinahe auch zu einer Publikation kommt.377 In seinem Beitrag für die Mayer’sche Festschrift lässt Johnson wenig Zweifel an seiner Wertschätzung für seinen akademischen Lehrer. Dazu gehört auch jene Episode, in der er fast liebevoll die Mayer eigene Kauzigkeit illustriert: Ein Polizist verlangt ein Bußgeld für das verkehrswidrige Abspringen von der Straßenbahn, Mayer ignoriert dabei die Vorhaltungen des Beamten: »Der Mensch will Geld von mir. Ich hab’s ihm sofort angeboten. Das ist ihm nicht genug, er will mich überzeugen. Verstehe den Menschen nicht.«378 Damit zeichnet Johnson das Bild eines Gelehrten, der über den Dingen des Alltags steht, und, pikanter noch, der sich von der Staatsgewalt der DDR nicht ›überzeugen‹ lassen will. Überdies zeigt es einen Mann des Eigensinns, der einer Strafe begegnet, indem er sich freizukaufen sucht, und das eigentliche Delikt, sein Vergehen gegen die geltende Verkehrsordnung, als Quantité négligeable betrachtet. Ein solches Charakterbild seines Lehrers konnte Johnson wohl nur zu einem Zeitpunkt geben, da Mayer schon lange in bundesdeutscher Sekurität lebte. Eine solche Anekdote über einen Professor der DDR hätte diesem womöglich einige Schwierigkeiten eingebrockt. So aber kann seine Prosaskizze zum Lob eines Mannes gereichen, der sich, als er noch in der DDR lebte, ihr nicht oder nur bedingt beugte, sich aber nicht ›überzeugen‹ ließ. Neben dieser ›offiziösen‹ Stellungnahme Johnsons zu Mayer ist überdies bemerkenswert, dass ihr Verfasser dem Herausgeber Raddatz noch einen seiner Leipziger Studienfreunde, Eberhardt Klemm, als weiteren Kandidaten für die Festschrift anempfiehlt: dieser habe noch mehr Zeit mit Mayer verbracht. Erika Klemm gegenüber, der Frau seines alten, gerade mit einer Erkrankung beschäftigten Freundes, spricht Johnson dann allerdings anders vom einstigen 376 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 126. 377 In seiner Laudatio anlässlich Mayers 70. Geburtstag erinnert sich Siegfried Unseld: »Eines Tages im Jahre 1957 kam ein Brief von Hans Mayer an Peter Suhrkamp, in dem er auf das Manuskript eines seiner Studenten aufmerksam machte. Das Manuskript trug den Titel ›Ingrid Babendererde‹ und der schreibende Student hieß Uwe Johnson« (Siegfried Unseld: o.T. [Laudatio auf Hans Mayer], in: Hans Mayer zu Ehren, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 97–101, hier: S. 98). 378 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 122.
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Lehrer: »Hans Mayer, zu den Realitaetskomikern gehoerig«.379 Diese Art Humor geht über das von Raddatz und Jens gewünschte Maß an druckfähigem, amüsantanekdotischem Ton hinaus. Hier wird eine Differenz deutlich, die sich dank des inzwischen möglichen Vergleichs zwischen der autorisierten Haltung Johnsons zu Mayer und jener unter dem Schutz vertrauter Korrespondenz geäußerten privaten Meinung zeigt: Halb-offiziell noch musste Johnsons Briefwechsel mit Fritz Raddatz erfolgen, betrafen Johnsons Schreiben einerseits doch oft den Literaturbetrieb und Geschäftliches, und wusste Johnson andererseits um die gefährliche Geschwätzigkeit der ›Betriebsnudel‹ Raddatz. Beispielsweise verwahrt er sich Raddatz gegenüber entschieden gegen Mayers Behauptung, der Lehrstuhlinhaber hätte seinen Leipziger Studenten dahingehend gefördert, dass er dessen Arbeit an den Mutmassungen über Jakob ›finanziert‹ habe; Johnson insistiert: »grundsätzlich bin ich nur über die Runden gekommen dank der Hilfe meiner Frau, […] von ihr habe ich meine erste Schreibmaschine bekommen, ›finanziert‹ hat sie mich.«380 Im ungleich vertraulicheren Kreis seiner Leipziger Freunde ist der Habitus des Lehrers dann sogar einem milden Spott des einstigen Schülers ausgesetzt. Johnson weiß durchaus, dass Mayer ihn und seine Freunde häufig »in seinen hannoverschen Seminaren erwähnt«, und zwar so, »als wären wir seine intimen Bekannten und verdankten ihm zumindest sämtliche Grundkenntnisse für den Erwerb des Sp[r]achmonteurhochleistungsgedächtnisabzeichens.«381 Johnson, mittlerweile ein renommierter Autor, registriert genau, dass sich Mayer mit ihm schmückt, dass seit seinen Leipziger Jahren Mayers »zwanghafte Selbstdarstellung […] nichts an Intensität verloren« hat: »er fliesst nur so über von brüsseler Ehrendoktoren […], Gastprofessuren, Ehrungen durch Verleger magischer Umsatzgrössen, und er macht sich sehr lächerlich.« Mit räumlicher und zeitlicher Distanz hat sich Johnsons Urteil über diesen ›KraftMayer‹ deutlich relativiert, lediglich »Studenten in der D.D.R., denen die westliche Welt schlicht durch Entbehrung zur Legende geworden war, mögen daran noch die Bedeutung ihres Lehrers« erkennen.382 Als ein solcher Student der DDR aber, der noch eine Weile unter einem ›Mangel an Welt‹ zu leiden haben wird, muss sich Johnson im Frühjahr 1955 der Aufgabe eines Otway-Referats stellen. Nachdem Johnson im September 1954 an die Karl-Marx-Universität Leipzig gewechselt war, besuchte er bei Mayer das 379 Uwe Johnson an Erika Klemm, 10. 10. 1966, in: Johnson, Raddatz, Briefwechsel (Anm. 361), S. 24. 380 Uwe Johnson an Fritz J. Raddatz, 3. 3. 1977, in: Johnson, Raddatz, Briefwechsel (Anm. 361), S. 236–238, hier: S. 237. 381 Uwe Johnson an Manfred Bierwisch, 31. 1. 1969, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/S/000208, Bl. 17. 382 Uwe Johnson an Manfred Bierwisch, 21. 6. 1969, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/S/000217, Bl. 28–29, hier: Bl. 29.
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Hauptwerke der Weltliteratur: Venice Preserved
Seminar »Hauptwerke der Weltliteratur im XVI & XVII«,383 in dem er über Venice Preserved zu referieren hatte. Dozent Mayer war laut seiner ›Erinnerungen‹ mit der Leistung seines Studenten höchst zufrieden: »Alles paßte zueinander: eine klare Schreibweise, kluge, bisweilen boshafte Bewertungen des Otway, wie vor allem auch des Hofmannsthal. Auf irgendwelchen geistesgeschichtlichen Idealismus hatte sich dieser stud. phil. nicht eingelassen.«384 Über diese Bewertung Mayers wird noch zu sprechen sein. So jedenfalls begann laut Mayer die persönliche, von gegenseitigem Wohlwollen geprägte Bekanntschaft. Mayer, der sich selbst gern als eine Art ›gelebter Literaturgeschichte‹ verstand, feiert sich in seiner Autobiographie damit als der Talentscout Johnsons: »So entdeckte ich den Studenten Uwe Johnson, und damit den Schriftsteller dieses Namens.«385 Es ist dabei auffällig, dass sich sowohl Johnson wie auch Mayer auf das Otway-Referat als Origo bezogen haben, um ihr Verhältnis zueinander zu beschreiben. Und so ist auch verständlich, dass Johnson-Forscher diesem Referat besonderes Gewicht zumessen. Einige sind Mayer in seiner Selbsteinschätzung gefolgt, sein Einfluss auf die spätere Johnson-Forschung ist nicht zu unterschätzen. Mayer bildete Generationen von Germanisten aus, machte sie mit seinen Vorstellungen und Wertungen von Literatur vertraut, berichtete ihnen gern und oft von seinen prominenten Dichterbekanntschaften, wie beispielsweise der mit Thomas Mann, mit Brecht, mit Anna Seghers. Seine Autobiographie liest sich wie ein Karussell bunt besetzter Figuren, mit Mayer als ›Axis Mundi‹. Als Student nun, der ein aufwändiges Referat vorzubereiten hatte, sah Johnson die Angelegenheit noch etwas anders. Dem späteren Schriftsteller Jochen Ziem, der zeitgleich mit Johnson in Leipzig studierte, mit ihm durch eine »kurze, dennoch intensive und fröhliche Studentenfreundschaft« verbunden,386 kündigt er im Vorfeld an, er müsse »noch einen Selbstmord verüben, von Referats wegen.«387 Der Suizid verweist deutlich auf den Ausgang von Venice Preserved, in dem Protagonist Jaffier zunächst seinen Freund Pierre und dann sich selbst tötet. Johnsons Formulierung ist aber auch geeignet, Besorgnis über die anstehende Aufgabe auszudrücken: Fürchtete er, Mayers Erwartungen nicht gerecht zu werden, nicht rechtzeitig seine Vorbereitungen und Recherchen abzuschließen, 383 So verzeichnet es Johnson in seinem Studienbuch für das Frühjahrssemester 1954/55; Johnson, Studienbuch (Anm. 10), Bl. 27v. 384 Mayer, Deutscher auf Widerruf II (Anm. 81), S. 111f. 385 Mayer, Deutscher auf Widerruf II (Anm. 81), S. 112 [Hervorh. im Original]. 386 Erdmut Wizisla: Uwe Johnson und Jochen Ziem, in: Uwe Johnson: »Leaving Leipsic next week«. Briefe an Jochen Ziem, Texte von Jochen Ziem, hg. von Erdmut Wizisla, Berlin: transit 2002, S. 7–36, hier: S. 7. 387 Uwe Johnson an Jochen Ziem, 26. 4. 1955, in: Johnson, »Leaving Leipsic next week« (Anm. 386), S. 44.
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oder das Thema nicht bewältigen zu können? Als ein Verdachtsmoment für letzteres mag vielleicht Johnsons Bericht an Ziem gelten. Einige Wochen später, nach gehaltenem Referat, berichtet Johnson, als könne er es selber immer noch kaum glauben, dass er »vor ausgewählter Versammlung hundert Minuten lang gesprochen habe über das literarische XVII in England.«388 Und er fügt sybillinisch hinzu: »mir jedenfalls fehlt das Verständnis dafür.«389 Erstaunt ihn im Nachhinein bloß die Dauer seines Vortrages, oder hadert er mit seiner Rolle als Referent, oder will er sagen, dass ihm das Verständnis für Thomas Otway und seine Zeit fehle? Letzteres scheint insgesamt die wahrscheinlichste Lesart zu sein, und zugleich die unwahrscheinlichste, da sich Johnson in seinen Stoff hineingekniet und ihn gründlich erarbeitet hat. Zugleich hält er sich dicht an seine Quellen, was ein Indiz für eine gewisse fachliche Unsicherheit sein dürfte, die ihm bei aller Sorgfalt geblieben ist. Jedenfalls erhält der Referent unter dem Datum des 17. Mai 1955 seinen Seminarschein zu der »Übung ›Meisterwerke der Weltliteratur‹«, ausgestellt und unterfertigt von Hans Mayer. Sein Referat wird dort mit der der Note »Sehr gut« bewertet. Als dessen Thema findet sich vermerkt: »Otway: ›Das gerettete Venedig‹«.390 Obwohl das Thema offenbar schlicht und eindeutig formuliert ist, behandelt der Referent erst im zweiten, kürzeren Teil tatsächlich Otways Drama. Zuvor liefert er im ersten Teil zunächst ein – für ein Seminarreferat – recht umfangreiches literatur-, sozial- und geistesgeschichtliches Panorama Englands, insbesondere Londons, des späten 17. Jahrhunderts. Ganz offensiv verschiebt Johnson einleitend die Aufgabenstellung. Zwar sei das »eigentliche Thema des Referats« Otways Drama, jedoch müsse dieses »neben einen Bericht über die hauptsächlichsten Ereignisse in der englischen Literatur des XVII« Jahrhunderts gestellt werden.391 Diese Verschiebung war durchaus erwünscht, da eine sich auf den historischen Materialismus berufende Literaturgeschichtsschreibung grundsätzlich davon ausging, dass Literatur- und Gesellschaftsgeschichte untrennbar miteinander verbunden, voneinander abhängig seien. Wie man sich eine derartige marxis388 Uwe Johnson an Jochen Ziem, 16. 5. 1955, in: Johnson, »Leaving Leipsic next week« (Anm. 386), S. 48f., hier: S. 49. 389 Uwe Johnson an Jochen Ziem, 16. 5. 1955, in: Johnson, »Leaving Leipsic next week« (Anm. 386), S. 48f., hier: S. 49. 390 Hans Mayer: Seminarschein, 17. 5. 1955, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/001874. 391 Uwe Johnson: Thomas Otway: »Venice Preserved« & Literatur im englischen XVII, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/ 000458; in diesem Kapitel im Text zitiert mit der Blattangabe in Klammern. Das Titelblatt mit der Gliederung zu diesem handschriftlich ausformulierten Referat findet sich im Rostocker Uwe-Johnson-Archiv getrennt vom eigentlichen Text unter der Signatur UJA/H/000315.
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tisch-leninistisch geprägte historisch-ästhetische Betrachtungsweise vorzustellen habe, wird aus der zeitgenössischen Forderung nach einer neuen deutschen Literaturgeschichte marxistischer Provenienz deutlich. Unverfänglich ist zunächst deren »wichtigste Bedingung«, nämlich »eine klare, historisch begründete Periodisierung der deutschen Literaturentwicklung und die Einschätzung der einzelnen Dichter und Schriftsteller nach objektiven Kriterien.«392 Die kulturpolitische Stoßrichtung offenbart sich dann freilich anhand der darüber hinaus eingeforderten Bedingungen: Dieser objektive Prüfstein für die Einschätzung und Wertung unserer Literatur muß das Verhalten der einzelnen literarischen Strömungen zu den jeweiligen progressiven Ideen, insbesondere zu den Ideen des Kampfes für die bürgerlich-demokratischen Freiheiten und die nationale Einheit und seit der Existenz der modernen Arbeiterklasse und der Theorie des Marxismus-Leninismus zu den Ideen des modernen Sozialismus sein.393
In dieser Lesart müssen die »hauptsächlichsten Ereignisse in der englischen Literatur« also mit einer entsprechenden Teleologie der englischen Gesellschaftsgeschichte überhaupt korrespondieren. Die literarhistorische Perspektive wird damit in den Dienst einer Suche nach sozialem Fortschritt gestellt, der Maßstab ihrer Bewertung – die offenbar die ›Fortschrittlichkeit‹ einschätzen soll – ist retrospektiv ausgerichtet, nach dem in der Gegenwart erreichten Stand des Sozialismus. Literaturgeschichte wird so eher zu einer Geistes-, Sozial-, Wirtschafts- und politischen Geschichtsschreibung, die überdies noch zwischen ›guten‹ und ›schlechten‹ Entwicklungen zu unterscheiden weiß. Das kleine Stadtpanorama aus der Ära der Stuart-Restauration, das Johnson seinem Referat voranstellt, entspricht prinzipiell der Literaturgeschichtsschreibung seiner Zeit. Jedoch unterläuft er deren eigentliche Zielstellung großer Gesellschaftsgeschichte zum Teil, indem er seinen Vortrag mit einem alltagsgeschichtlichen Bild Londons im ausgehenden 17. Jahrhundert eröffnet, und mit einem konkreten Szenenbild die ›Bühne‹ für das Folgende bereitet. Als wesentliches ›gesellschaftliches‹ Ereignis kann das große Feuer von 1666 gelten, dessen umfangreiche Zerstörungen das Stadtbild noch lange prägten, worauf Johnson hinweist.394 Seine Detailkenntnis wirkt dabei auf den ersten Blick durchaus beeindruckend: ([…] An einem Kirchhof befanden sich damals die einzigen Buchläden Londons, die wichtigsten Englands, in ihnen war das öffentliche Interesse an Literatur zusammengefasst. Denn es gab keine einzige öffentliche Bücherei zu der Zeit, oder Buch-Clubs. 392 N. N.: Wir brauchen eine Geschichte der deutschen Literatur!, in: Neues Deutschland, 28. 4. 1953, S. 1. 393 N. N.: Wir brauchen eine Geschichte der deutschen Literatur! (Anm. 392). 394 Die vielleicht eindrucksvollste Schilderung dieses verheerenden Stadtbrandes verdankt sich Samuel Pepys. Auf ihr beruhen die meisten Darstellungen der Enzyklopädien nach 1825.
Otway – Mayer – Johnson. Zu den Hintergründen des Referats
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Selbst der Klerus war ungenügend versehen, und die allein anständige Bibliothek war die Oxford Library. Das war aber eine Universitätsbibliothek. Man ging also auf den St. Paul’s Churchyard und sah sich die Auslagen der booksellers’ shops an, allerdings ohne viel zu kaufen (Miltons Paradise Lost erfuhr bis 1710 drei Auflagen), und es ergab sich, neben puritanischen Traktaten, ein bedeutendes Angebot:) (1r–v).
Wenig überraschend handelt es sich bei Johnsons Detailkenntnis um angelesenes Wissen. Besieht man sich die von ihm konsultierten Quellen, die er in scheinbar penibler Manier eingangs seines Referats aufgezählt hat, überrascht aber doch die große Nähe zwischen seinem Referateingang und der entsprechenden Vorlage. Es handelt sich bei dem einleitenden Bericht über Die Buchläden am St. Paul’s Churchyard zu einem Großteil um eine eigene Übersetzung aus Ephraim Chambers’ Cyclopaedia of English Literature. Bei Chambers lautet die entsprechende Passage wie folgt: There were no great collections of books save at the two universities: even London had no circulating library or bookclub, and readers who did not want to purchase had to snatch a glance at the volumes in the booksellers’ shops in St Paul’s Churchyard. As for private libraries, even the clergy were miserably supplied […]. The republication of books was slow. The last folio of Shakespeare came out in 1685, and was not followed by the first octavo till 1709; while only three editions of Paradise Lost appeared between the Revolution and the end of the century; they were all in folio, and had but a small circulation. Magazines, of course, there were none, while the newspapers which sprang up after the liberation of the press were mere news-sheets that did not always displace the antiquated and lingering newsletter. At the best, John Dunton’s Athenian Gazette (1691) might provide some meagre and frivolous ›answers to correspondents,‹ and for the rest there were sermons, pamphlets, ballad broadsheets, and an odd playbook or ponderous romance.395
Johnson hat diesen Lexikonartikel seinem Zweck angepasst: Seine teils stimmungsvolle, teils holprige Übertragung arbeitet nicht allein mit den relevanten Wissensmengen, sondern vor allem auch mit dem Atmosphärischen. Er erschafft damit ein Stimmungsbild, als sei er selbst an den Tischen der Bouquinisten entlanggeschlendert und habe sich ihre Auslagen angeschaut. Dabei hat er manches zusammengefasst und gerafft und anderes, ihm vielleicht nebensächlich Erscheinendes, weggelassen. Immer bleibt er mit seiner Übersetzung dicht am Original, etwa wenn aus »even the clergy were miserably supplied« bei ihm wird: »Selbst der Klerus war ungenügend versehen«. Rätselhaft erscheint nun, dass Johnson aus der Darstellung eines eher dürftigen Buchmarkts folgert, es ergäbe sich daraus »ein bedeutendes Angebot:«. Der Doppelpunkt am Ende dieser insgesamt durch 395 Robert Aitken: The Revolution Period and After, in: Chambers’s Cyclopaedia of English Literature (Anm. 334), S. 13–16, hier: S. 16.
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Klammern als einleitende Marginalie gekennzeichneten Passage zeigt an, dass Johnson es im Folgenden erläutern wird. Ihm geht es von nun an um die in jener trostlosen Kulisse präsentierten Inhalte, um englische Literatur und Philosophie zu Zeiten von Bürgerkrieg, Commonwealth, Stuart-Restauration und Revolution – der Kontrast könnte kaum größer sein, womit der Student sein Referat effektvoll eingeleitet hat.
7.2
Quellenarbeit 1: Wissenschaft contra Idealismus
Mit seinem ersten Gliederungspunkt, englischer philosophischer Materialism des XVII, wechselt Johnson dann forsch die Perspektive, weg von der pragmatischlebensweltlichen Situation des Buchliebhabers und Flaneurs hin zu einem geistes- und philosophiegeschichtlichen Blick des auf den Marxismus-Leninismus verpflichteten Germanistikstudenten. Einen Bruch in der Argumentation markiert auch die Erwähnung von Friedrich Engels, der als Verfasser einer Studie über das englische Industrieproletariat wie ein Pflicht-Epitheton ornans hier offenbar bemüht werden muss. Dafür folgt Johnson eng seiner eingangs genannten Literatur. In diesem Fall verwendet er Maurice Cornforths Buch Wissenschaft contra Idealismus (1953) als Grundlage für die Behandlung des englischen Materialismus im 17. Jahrhundert. Der Engländer Cornforth, marxistisch-materialistischer Philosoph und bedeutender Ideologe der Kommunistischen Partei Großbritanniens, wurde sowohl in der Sowjetunion als auch in der DDR in Fachkreisen rezipiert. Als Mitarbeiter des Verlags Lawrence & Wishart war er unter anderem an der Herausgabe der Collected Works von Marx und Engels in England beteiligt. In der DDR ist der Dietz Verlag für solche Literatur zuständig, wie auch dafür, »wichtige Werke der ausländischen marxistischen Forschung dem deutschen Werktätigen zugänglich zu machen, darunter Bücher von Cornforth«.396 Anlässlich des Erscheinens der von Johnson benutzten Übersetzung wird Cornforths Buch als »eine Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen reaktionären Philosophen« gelobt, da sie »den Klassencharakter des Kampfes gegen den dialektischen Materialismus und gegen die fortschrittliche Wissenschaft enthüllt.«397 Cornforths Buch ist in 14 Kapitel gegliedert, jedes dieser Kapitel hat zwischen drei und sieben je eigens betitelte Unterkapitel. Es beginnt im ersten Teil, Der englische Materialismus im 17. Jahrhundert, mit dem Unterkapitel Der Materialismus und die wissenschaftliche Anschauung – Bacon. Cornforth setzt mit 396 F. Schi.: Die sozialistische Literatur. Der Dietz Verlag im Jahre 1948, in: Neues Deutschland, 25. 12. 1947, S. 4. 397 N. N.: Neuerscheinungen des Dietz Verlages, in: Neues Deutschland, 21. 5. 1953, S. 5.
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einem ›Klassiker‹-Zitat ein: »England, sagte Engels, ›ist die Urheimat alles modernen Materialismus vom 17. Jahrhundert an …‹«.398 Johnson greift das auf, er beginnt sein Statement über den philosophischen Materialismus »mit dem Ausspruch Engels: England sei die Urheimat allen modernen Materialism, vom XVII an« (1v).399 Nach dieser beinah obligatorischen Reverenz an einen führenden Gesellschaftstheoretiker der DDR-Erbepflege bzw. einen Gründervater ihrer geltenden Staatslehre, steht dann Francis Bacon am Anfang weiterer Ausführungen. Johnson folgt darin Cornforth, wenn er über Bacon sagt: »Er formulierte nicht eine umfassende materialistische Theorie der Welt, sondern war beschränkt auf eine materialistische Erkenntnistheorie und eine wissenschaftliche Methode.« (1v). Während Johnson hier auf die Person Bacons zielt, bezieht sich Cornforth auf dessen Lehre, wodurch beider Satzanfang differiert: »Sie [Bacons Lehre; AK] formulierte nicht eine allumfassende materialistische Theorie der Welt, sondern war beschränkt auf eine materialistische Erkenntnistheorie und eine wissenschaftliche Methode.«400 Angesichts solcher direkten – von Johnson in seinem Manuskript freilich nicht markierten – Übernahmen, erscheint es naheliegend, dass auch der folgende Teilsatz Johnsons, »Diese Erkenntnistheorie allerdings war eine erstaunliche« (1v),401 einen Befund Cornforths entsprechend paraphrasiert: »Diese Erkenntnistheorie jedoch revolutionierte die Philosophie.«402 398 Maurice Cornforth: Wissenschaft contra Idealismus. Eine Untersuchung des »reinen Empirismus« und der modernen Logik, mit einem Vorwort von G.F. Alexandrow, Berlin: Dietz 1953, S. 69. Es konnte nicht abschließend geklärt werden, ob das Buch 1952 oder 1953 erschienen ist. Johnson gibt als Erscheinungsjahr 1952 an, das Buch hat auf dem Titelblatt 1953, als Copyright wird für die erste Auflage 1952 angegeben. Bei Engels lautet die entsprechende Passage: »Und doch ist die Urheimat alles modernen Materialismus, vom siebzehnten Jahrhundert an, nirgendswo anders als in – England« (Friedrich Engels: Einleitung [zur englischen Ausgabe (1892) der »Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«], in: ders., Karl Marx: Werke, Bd. 22, Berlin: Dietz 1977, S. 287–311, hier: S. 292). 399 Es ist dies die einzige Nennung Engels’ in Johnsons Referat. Und obwohl Bernd Neumann für seine ›Annäherung an den Studenten und Literaturwissenschaftler‹ Johnson auf die Quellen des Referats hinweist und auch aus Chambers’ Enzyklopädie zitiert, entgeht ihm, dass Johnson hier Engels vermittels Cornforth ins Spiel bringt. Neumanns These, Johnson sei ein »recht belesener Engels-Kenner« (Neumann, Philologie und Biographie (Anm. 65), S. 161), ist also mit Vorsicht zu begegnen; zumal Neumann mit solchen Urteilen offenbar schnell zur Hand ist; vgl. den vorgeblich »sehr genauen Marx-Kenner« Johnson (Anm. 294). 400 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 70 [Hervorh. im Original]. 401 In der Neumann-Transkription (Uwe Johnson: Thomas Otway: »Venice Preserved« & Literatur im englischen XVII. [Jahrhundert], in: ders., »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz« (Anm. 65), S. 31–61, hier: S. 32) wird der Satz nach »erstaunliche« mit einem Punkt beendet. Johnsons Original dagegen scheint hier tatsächlich ein Komma zu haben, wodurch der anschließende Autoritätsverweis zu Thomas von Aquin enger angebunden ist (vgl. 1v). 402 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 70.
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Der Referent macht hier gezielt eine Pause. Etwas als ›erstaunlich‹ zu bezeichnen, sagt verhältnismäßig wenig, gerade in einem wissenschaftlichen Vortrag, dessen erwarteter Duktus hier teilweise unterlaufen wird. Und durchbrochen wird dieser Tonfall sogleich in dem anschließenden Teilsatz: »Thomas von Aquino hätte sicherlich gesagt, sie sei frech« (1v). Damit wird eine Fallhöhe inszeniert zwischen dem großen, altehrwürdigen Philosophen Thomas von Aquin – zumal in der altertümelnd-italisierten, offensichtlich von Cornforth übernommenen Namensform – und der Unterstellung, dieser könne Bacons Theorie »frech« genannt haben. Denn warum, und wie überhaupt, hätte er das tun sollen? Gerade dadurch aber, dass Johnson derart salopp auf die Letztbegründung Gottes hinweist, betont er eben die grundlegende erkenntnistheoretische Differenz zweier Systeme, zweier Denker, zweier Weltanschauungen. Auch die Gegenüberstellung Bacons mit Thomas von Aquin übernimmt Johnson von Cornforth – auf eben jener Seite, von der die bisherigen Zitate stammen, ist nur einige Zeilen vorher zu lesen: So würde zum Beispiel Thomas von Aquino […] damit übereinstimmen, daß die Erkenntnis mit der Erfahrung beginnt und daß die Sinne dem System der menschlichen Erkenntnis die Daten liefern. Aber für ihn schaltete sich dann die Vernunft ein […], indem er von den empirischen Daten auf »erste Ursachen« schloß, ein System theoretischer Sätze, das unmöglich irgendeiner Erfahrungsprobe unterworfen werden konnte.403
Johnson folgt hier Cornforth in Aussage und Form. Um den wesentlichen Unterschied zwischen den präsupponierten Erkenntnistheorien zu markieren, werden deren beiden vielleicht prominentesten Vertreter einander gegenübergestellt. Auf der einen Seite Thomas als Verfechter der alten, im Ende stets auf Gott zulaufenden Wahrheitsfindung, auf der anderen Seite eben Bacon, der göttliche ›erste Ursachen‹ nicht gelten lassen will. Johnson spitzt diese Rhetorik Cornforths zu, indem er Thomas von Aquin das »frech« in den Mund legt. Dann erläutert er freilich weiter: Wenn Bacon meint die Erkenntnis beginne mit der Erfahrung, und die menschlichen Sinne lieferten verlässliche und verbindliche Daten – könnte Thomas noch zustimmen, aber dann käme für ihn die Vernunft. Und die Vernunft ist von Gott, also schliesst sie von allen empirischen Daten auf sogenannte »erste Ursachen« (1v).
Neben der Vertrautheit erweckenden, freilich konventionellen Verwendung des bloßen Vornamens (»Thomas«) sind hier noch die von Johnson erstmals verwendeten Anführungszeichen bemerkenswert, nicht um ein Zitat Cornforths zu markieren, sondern eines von Bacon, das er bei Cornforth gefunden hat. Deutlich wird in der direkten Gegenüberstellung auch, wie eng Johnson an seiner Vorlage 403 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 70.
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entlangparaphrasiert. Für den gleichen Zweck benutzt er sogleich ein weiteres Mal Anführungszeichen: Da kommt aber für Bacon die Erklärung: solche Schlüsse auf erste Ursachen seien nur »Schranken und Hemmnisse, um das Schiff zum Halten zu bringen und am Weitersegeln zu verhindern; sie haben es zuwege gebracht, dass die Suche nach den natürlichen Ursachen vernachlässigt und stillschweigend übergangen worden ist« (1v).
In seinem Manuskript notiert sich Johnson hier am Rand auch die Quelle des Zitats. Es ist jene, die bei Cornforth für das Bacon-Zitat angegeben wird. Johnson hingegen nennt sie nicht in der Aufzählung der von ihm verwendeten Literatur am Beginn seines Referats. Womöglich diente die Quellennotiz als Vorbereitung auf Nachfragen, oder sie ist Ausdruck eines über die Referatsaufgabe hinausgehenden Interesses. Trotz der Anführungszeichen unterläuft Johnson bei seinem Bacon-Cornforth-Zitat eine kleine Ungenauigkeit, ein Zitierfehler: statt »daß das Suchen« schreibt er »dass die Suche«; wobei hier nicht Johnsons eigensinnige ›ss‹-Schreibung gemeint ist, sondern der Artikel zu ›Suche‹. Bei Cornforth lautet der Satz im Ganzen: Denn in der Tat sind, wie Bacon aufzeigte, solche Schlüsse auf erste Ursachen »nur Schranken und Hemmnisse, um das Schiff zum Halten zu bringen und am Weitersegeln zu verhindern; sie haben es zuwege gebracht, daß das Suchen nach den natürlichen Ursachen vernachlässigt und stillschweigend übergangen worden ist«.404
Das zweifelhafte – weil so bei Bacon nicht vorkommende – Zitat gibt Johnson Gelegenheit, sich etwas weiter von seinem Referenztext zu lösen (da Bacon an anderen Stellen Schiffsmetaphern durchaus gebraucht, liegt Johnson damit auch nicht allzu weit daneben). Zwar verweist Cornforth auf die Zusammenhänge zwischen der Entwicklung neuer Erkenntnismethoden und dem sich ausbreitenden Kapitalismus und Imperialismus in England, vermeidet dabei aber 404 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 70. Johnson ist allerdings schlecht beraten, wenn er sich auf die Quellenangabe bei Cornforth verlässt. Zumal die Angabe mit dem Nachtrag »die Red.« versehen ist, der offenbar eine Recherche der deutschsprachigen Zitate seitens der Redaktion des Dietz Verlags erklärt. Und obwohl die Bacon-Passagen als Zitate mit Quelle markiert werden, handelt es sich nicht um wörtliche Übernahmen, allenfalls können die Angaben der Dietz-Redaktion als Hinweis verstanden werden, wo die gemeinte Passage zu finden ist, denn in der angegebenen Quelle ist es anders formuliert. Die hier als Bacon-Zitat ausgegebene Textstelle lautet in der von der Dietz-Redaktion genannten Quelle tatsächlich: »Ja dergleichen Unterhaltungen sind also viele Aufhaltungen in dem Lauf und Fortgang der Wißenschaften anzusehen, und hindern, wie wir schon gesagt haben die Aufnahme derselben; denn solches Geschwäze hat schon längst verursacht, daß die wahre Untersuchung der ächten physikalischen Ursachen jetzt mangelhaft ist, und ganz mit Stillschweigen übergangen wird.« (Lord Franz Bacon, Großkanzler von England, über die Würde und den Fortgang der Wissenschafften. Verdeutschet und mit dem Leben des Verfaßers und einigen historischen Anmerkungen herausgegeben von Johann Hermann Pfingsten, Pest: Weingand und Köpf 1783, S. 345).
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konkrete Beispiele, wie Johnson sie mit Francis Drake und der Ostindischen Kompanie eigenständig liefert. Damit erweitert Johnson einerseits sein eingangs gegebenes Zeitbild; andererseits bedient er damit die wissenschaftstheoretische Anforderung seiner Gegenwart, den historischen Materialismus: Historische Betrachtungen konnten im fachlichen Diskurs, in dem der Student sich hier bewegt, vorzugsweise nur im Rahmen der jeweiligen ökonomischen Bedingungen stattfinden. Bemerkenswert ist am Otway-Referat, dass diese ideologische Perspektive, im Vergleich zu den vorangegangenen Arbeiten, auf den ersten Blick verhältnismäßig wenig Raum einzunehmen scheint. Ob dieser Umstand schon als Hinweis auf ein ›freieres Klima‹ an der Universität Leipzig bzw. in den Seminaren Hans Mayers gewertet werden kann, lässt sich aufgrund der wenigen und speziellen studentischen Arbeiten, die aus der Rostocker Zeit erhaltenen sind, nicht endgültig entscheiden. Hinsichtlich der Leserbiographie des jungen Studiosus ist hier noch festzuhalten, dass Johnsons Pointe zum englischen Handel, »er sagte dabei Bibel und meinte Kattun« (2r), wahrscheinlich als Anspielung auf Theodor Fontanes Stechlin zu werten ist, wo ganz ähnlich diese Kapitalismus- und Imperialismuskritik an England von der Figur des Pastors Lorenzen formuliert wird: »Und dabei so heuchlerisch; sie sagen Christus und meinen Kattun.«405 Für Lorenzens Provenienz scheint naheliegend, dass der Pastor hier die »Sichtweise und Erfahrung des Autors selbst«, Fontanes also, zum Ausdruck bringt.406 Und für den Studenten deutet der selbstverständliche Umgang mit solchen literarischen Bezugnahmen, ohne dass sie besonders markiert wären, einerseits auf eine ›nur‹ zitierte, damit mittelbare und distanzierte Imperialismus- und Kapitalismuskritik, andererseits und vor allem einmal mehr auf ein ›Leben in Literatur‹ schon des jungen Mannes: Johnson ist zu diesem Zeitpunkt erst 20 Jahre alt. Nach dem sehr knappen historisch-ökonomischen Exkurs wendet sich der Referent wieder Bacon und damit Cornforth zu. Einmal mehr zitiert Cornforth Bacon, der sich erkenntnistheoretisch verhältnismäßig diplomatisch positio405 Theodor Fontane: Der Stechlin, in: ders., Große Brandenburger Ausgabe, hg. in Zusammenarbeit mit dem Theodor-Fontane-Archiv Potsdam, Abt. 1, Bd. 17, hg. von Klaus Peter Möller, Berlin: Aufbau-Verlag 2001, S. 265. Vgl. dazu auch Gudrun Loster-Schneider: Der Erzähler Fontane. Seine politischen Positionen in den Jahren 1864–1898 und ihre ästhetische Vermittlung, Tübingen: Narr 1986, S. 76. Kritik an der britischen Kolonialpolitik seiner Zeit, über die Fontane gut informiert war, findet sich häufiger in seinem Œuvre, vgl. etwa: »Einen Groß-Admiral würd ich morgen ernennen, | Der müßte die englische Flotte verbrennen, | Auf daß, Gott segne seine Hände, | Das Kattun-Christentum aus der Welt verschwände« (Theodor Fontane: Arm oder Reich, in: ders., Gedichte. Bd. 1: Gedichte (Sammlung 1898). Aus den Sammlungen ausgeschiedene Gedichte, hg. von Joachim Krueger und Anita Golz, Berlin: Aufbau-Verlag 1989, S. 73f., hier: S. 74). 406 Norbert Mecklenburg: Theodor Fontane. Realismus, Redevielfalt, Ressentiment, Stuttgart: Metzler 2018, S. 180.
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niert, indem er einerseits die Philosophie »nicht ausschließlich oder hauptsächlich auf die Kräfte der Seele« gestützt sieht, andererseits aber glaubt, dass man »den von der Naturkunde und den mechanischen Versuchen gebotenen Stoff« zwar aufnehme, allerdings »nicht unverändert«, man »verarbeitet ihn im Geiste.«407 Dieser filigranen Differenzierung folgt Johnson nicht, es geht ihm um eine Verortung Bacons, wenn nicht gar um die Illustration eines Kontrasts beziehungsweise eines Konflikts: »Es gab für Bacon nur die Naturwissenschaften, vorzüglich die sinnliche Physik« (2r).408 Diese Zuspitzung ist durch Bacon, vermittels Cornforth, gerechtfertigt. Cornforth führt aus: Bacon hegte nicht den leisesten Zweifel, daß Erkenntnis, die auf diese Weise durch korrekte wissenschaftliche Methoden gewonnen wurde, objektiv war, das heißt sich auf die wirklich existierende materielle Welt bezog und eine wahre, obgleich natürlich immer unvollständige Einschätzung dieser Welt vermittelte.409
Um seine ›radikale‹ Positionierung Bacons zu erläutern, folgt Johnson dieser Darstellung Cornforths, indem er dessen Worte zum Teil nur sehr leicht variiert – und an den entscheidenden Stellen schlicht zu Synonymen greift: Bacon »war tatsächlich der Meinung: eine Erkenntnis gewonnen in exakten wissenschaftlichen Verfahren sei objektiv wahr und beziehe sich, jedenfalls, auf die wirklich existierende materielle Realität« (2r). Cornforth fasst dann Bacons Methode in »kurzen Worten« zusammen, und zwar dergestalt, dass »wissenschaftliche Erkenntnis auf Beobachtung beruht; auf der Grundlage von Beobachtungen werden wissenschaftliche Theorien ausgearbeitet, die durch immer neue Beobachtungen geprüft werden müssen«.410 Johnson übernimmt diese These, baut sie rhetorisch allerdings in eine ex-negativo-Formulierung um, wodurch die Opposition zu Thomas von Aquin noch einmal deutlich akzentuiert wird. Laut Johnson »leugnete« Bacon »wirklich dass es eine andere Wissenschaft gebe, als die nur beobachtende die ihre Feststellungen in Theorien verallgemeinerte und diese Theorien immer wieder experimentell prüfte« (2r). Überdies findet sich in Cornforths Zusammenfassung noch einmal beinah wörtlich Johnsons bereits zitierte Bacon-Erläuterung wieder, nämlich »daß wissenschaftliche Erkenntnis objektiv wahr« sei.411 Es wurde bereits angedeutet, dass Johnson in der Perspektivierung und Methodik gerade seiner historischen Betrachtungen nicht freie Hand hatte. Unter den Bedingungen des Marxismus-Leninismus als leitender ideologischer Prä407 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 71. 408 In der Neumann-Transkription beginnt mit diesem Satz ein neuer Absatz, in Johnsons Handschrift ist das nicht der Fall; vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 33. 409 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 71 [Hervorh. im Original]. 410 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 72 [Hervorh. im Original]. 411 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 72.
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misse, hatte er dabei dem historischen Materialismus Rechnung zu tragen. Ob sein Lehrer ein solches Vorgehen explizit eingefordert hatte, oder ob es zum Zeitpunkt des Referats, 1955, bereits eine Selbstverständlichkeit war, auf dieser Basis zu argumentieren, lässt sich nachträglich schwer entscheiden; letzteres ist wahrscheinlicher. Jeder halbwegs wache Student wusste, dass er auch bei einer literaturwissenschaftlichen Aufgabenstellung der Staats- und Studiendogmatik entsprechend zu handeln hatte. Die Wahl von Cornforths Buch als Grundlage ist ein klarer Beleg dafür, dass auch Johnson sich im wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit zu bewegen verstand. In diesem Diskurs war es erwünscht und somit üblich, regelmäßig die ideologischen Leitfiguren an mal mehr, mal weniger passenden Stellen zu zitieren. Hatte Cornforth seinen Text über Bacon mit Engels eingeleitet, so beendet er ihn mit Karl Marx. Marx – und Engels, denn sie verfassten das betreffende Buch gemeinsam –, der Bacon als den »wahre[n] Stammvater des englischen Materialismus und aller modernen experimentierenden Wissenschaft« ansieht,412 übte Kritik an der auffälligen Inkonsistenz, wenn nicht Radikalität, dieser Erkenntnistheorie. Diese Kritik kommt in dem von Cornforth auszugsweise zitierten Satz zum Ausdruck: »Wie Marx feststellte, ›wimmelt‹ der Materialismus von Bacon ›von theologischen Inkonsequenzen‹.«413 Johnson bedient sich dabei der als Zitat markierten Stellen und fügt sie zusammen: »Marx konnte darauf hinweisen, dass der Materialism Bacons zwar ›wimmelt von theologischen Inkonsequenzen‹« (2r). So erhält er freilich eine zusammenhängende Textur, die gerade im mündlichen Vortrag effektvoller einzusetzen ist, als es das zerstückelte Zitat in Cornforths Ausfertigung ist, die für ein Lesen konzipiert war. Allerdings läuft er hier auch Gefahr eines Paraphrasierens aus zweiter Hand, denn bei Marx/Engels lautet der Satz: »Die aphoristische Doktrin selbst wimmelt dagegen noch von theologischen Inkonsequenzen.«414 Johnson ist offensichtlich entgangen, dass Cornforth einige Seiten später dieses Zitat selbst noch einmal vollständig wiedergibt, und zwar direkt anschließend an einen Passus, den der Referent nur wenig verändert von Cornforth übernimmt.415 Johnsons Zusammenfügung variiert streng genommen das Original und ist aus der Perspektive korrekten wissenschaftlichen Arbeitens bedenklich. Indem er sich sehr eng an seine Vorlage hält, verfälscht er aber nicht die 412 Karl Marx, Friedrich Engels: Die heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten, in: dies., Werke, Bd. 2, Berlin: Dietz 1957, S. 3–223, hier: S. 135f. 413 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 72. 414 Marx, Engels, Die heilige Familie (Anm. 412), S. 135f. 415 Johnson paraphrasiert später Cornforths Satz: »Wie es seiner Stellung als Lordkanzler unter König Jakob I. zukam, […], die beiden könnten miteinander in Konflikt geraten« (vgl. hier: S. 155). Daran schließt bei Cornforth unmittelbar der Marx-Verweis an: »So stellte Marx in bezug auf Bacon fest: ›Die aphoristische Doktrin selbst wimmelt dagegen noch von theologischen Inkonsequenzen‹« (Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 91).
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behandelten Gegenstände. Auf einem anderen Blatt steht dann jedoch, dass seine teils wörtlichen, wenngleich nicht markierten Übernahmen der Cornforth’schen Formulierungen für einen studentischen Seminarvortrag gerade noch hingehen mögen – als wissenschaftliche Arbeit hingegen nähern sie sich gelegentlich der Grenze zum Plagiat. Für Johnson spricht in diesem Fall, dass seine Strategien erkennbar werden, die genau dies vermeiden sollen. So können Cornforth und Johnson hier zwar streckenweise parallel gelesen werden, dennoch sind Methoden des Variierens und Exzerpierens der Vorlage durch letzteren nachvollziehbar. So auch im nächsten Beispiel, in dem Cornforth die Folgen von Bacons Erkenntnistheorie für die Kirchenlehre resümiert: »eine solche materialistische Lehre, die die alte scholastische Philosophie angriff und zerstörte«, sei »vernichtend für die Theologie, deren philosophische Begründung die Scholastik darstellte.«416 Die von Marx (und Engels) festgestellte ›theologische Inkonsequenz‹, so fasst Johnson zusammen, »half der Theologie aber wenig, denn ihr philosophisches Fundament die Scholastik war von eben diesem Bacon betrachtet worden, und da sah sie plötzlich absurd aus« (2r).417 Wie schon bei Thomas von Aquin, so bricht Johnson auch hier bei Bacon komplexe Sachverhalte auf ihre wesentlichen Aspekte herunter und formuliert zugespitzt und salopp, um so die verhandelten weltanschaulichen Differenzen für sein Publikum effektvoll auf den Punkt zu bringen. In der englischen Philosophiegeschichte folgt auf Bacon dessen ›Schüler‹ Thomas Hobbes,418 so auch bei Cornforth mit dem Unterkapitel Ein materialistisches System der Metaphysik – Hobbes, und damit ebenfalls bei Johnson. Und wenngleich bei Cornforth der äußere Zwang zu beständigen Autoritätsverweisen wahrscheinlich geringer war als bei Johnson, beginnt er seine Ausführungen über Hobbes mit einem Marx-Zitat.419 Zunächst erklärt Cornforth, Bacons »Schüler, Thomas Hobbes«, habe die Experimentalwissenschaft seines Lehrers »zu einer systematischen Theorie des metaphysischen Materialismus entwickelt.«420 Um diese Aussage zu untermauern, folgt der Beleg mit Marx: »›Hobbes‹, sagt Marx,
416 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 73. 417 Johnson doppelt hier den Namen Bacon, er steht einmal an einem Zeilenende und wieder gleich zu Beginn der folgenden Zeile, vermutlich ein Versehen. Um den Lesefluss nicht zu stören, wurde diese Doppelung hier entfernt. 418 Zum doch etwas komplexeren Verhältnis der beiden vgl.: Robin Bunce: Thomas Hobbes’ relationship with Francis Bacon – an introduction, in: Hobbes Studies 16, 2003, H. 1, S. 41– 83. 419 Der Vollständigkeit halber ist anzumerken, dass Marx hier wiederum vermittels Engels zitiert wird, der wiederum offenbar auf das gemeinsam mit Marx verfasste Buch Die heilige Familie (vgl. Anm. 414) zurückgreift. Dort findet sich das hier diskutierte Zitat unmittelbar nach dem Absatz zu den ›theologischen Inkonsequenzen‹ bei Bacon. 420 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 73.
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›ist der Systematiker des baconischen Materialismus.‹«421 Johnson allerdings lässt dieses Mal Marx aus und fasst bedachtsam zusammen: »Thomas Hobbes war der Schüler Bacons, und er brachte die Lehre Bacons in ein System« (2v). Gänzlich verzichtet Johnson aber auch hier nicht auf Marx, er macht es nur nicht deutlich, indem er exzerpiert und selbst formuliert. Cornforth zitiert nämlich anschließend Marx mit der Aussage, Geometrie werde als »Hauptwissenschaft proklamiert.«422 Johnson übersetzt das französische Lehnverb, unterstreicht den historischen Kontext durch die Verwendung des Präteritums und zaubert daraus: »Thomas Hobbes erklärte zur Grundwissenschaft die Geometrie« (2v). Um den alten englischen Philosophen dann selbst zu Wort kommen zu lassen, bietet Cornforth wiederum das passende Material: »Eine jede Empfindung«, fuhr er [Hobbes; AK] fort, »setzt einen äußeren Körper oder Gegenstand voraus, der sich unserem jedesmaligen Sinn aufdrängt, entweder unmittelbar, wie beim Gefühl und Geschmack, oder mittelbar, wie beim Gesicht, Gehör und Geruch …«423
Johnson übernimmt dieses Hobbes-Zitat wort- und zeichengenau, inklusive der Auslassungspunkte am Schluss. Den kurzen Einschub Cornforths allerdings variiert und kommentiert er auf bemerkenswerte Weise: »Eine jede Empfindung«, schrieb er, »setzt einen äusseren Körper oder Gegenstand voraus, der sich unserem jedesmaligen Sinn aufdrängt, entweder unmittelbar wie beim Gefühl und Geschmack, oder mittelbar wie beim Gesicht, Gehör und Geruch …« Man könnte auch sagen: schreibt er. (2v)424
Auffällig hieran ist der Nachsatz, mit dem Johnson seine eigene Paraphrase (»schrieb er«) Cornforths kommentiert. Denn zunächst hält sich Johnson in der Zeitform an seine Vorlage und formuliert im Präteritum. Dem Sprechen über historische Gegenstände, in diesem Fall die schriftliche Fixierung von Hobbes’ Theorie, ist die Vergangenheitsform angemessen; zumal der Text selbst als Zitat wiedergegeben und nicht mit eigenen Worten formuliert wird, wobei dann das 421 422 423 424
Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 73. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 74. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 74. Auch an dieser Stelle notiert sich Johnson die vom Dietz Verlag besorgte Quellenangabe. Zwar sind hier die redaktionellen Eingriffe auf eine sprachliche, Duden-konforme Aktualisierung beschränkt, doch auch diese wird nicht kommuniziert, so dass Cornforth wie auch Johnson – von dessen ›ss‹-Schreibung einmal abgesehen – streng genommen ungenau zitieren. In der angegebenen Quelle lautet das Zitat jedenfalls: »Eine jede Empfindung sezzet einen äusseren Körper oder Gegenstand zum voraus [sic], der sich unserm jedesmaligen Sinne aufdrängt, entweder unmittelbar, wie beym Gefühl oder Geschmak, oder mittelbar, wie beym Gesicht, Gehör und Geruch; […].« (Thomas Hobbes: Des Engländers Thomas Hobbes Leviathan, oder der kirchliche und bürgerliche Staat, Bd. 1, Halle: Joh. Christ. Hendels Verlage 1794, S. 9f.).
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Präsens zu erwarten stünde. Johnson zielt hier ab auf die Textgegenwart des Leviathan, dessen Aussage, wie alt sie auch sein mag, noch ihre Gültigkeit besitzt. Überdies kann dieser Kommentar als Kritik an Cornforths Grammatik bzw. jener seiner Übersetzer gelesen werden. Denn es ist durchaus üblich, gerade in der Aktualisierung von Texten und gerade im wissenschaftlichen Kontext, das historische Präsens zu verwenden.425 Für die Zwecke seines Referats hat dieser Kommentar jedenfalls keine Funktion, abgesehen vielleicht von einer aktualisierenden Betonung von Hobbes’ Standpunkt. Um zu erläutern, was es nun mit diesen ›Empfindungen‹ auf sich hat, lässt Cornforth wieder Hobbes selbst zu Wort kommen: Die Einwirkung der äußeren Objekte auf die Sinnesorgane ruft das im Geiste hervor, was Hobbes abwechselnd »Schein« (seemings), oder »Erscheinung« (apparitions) oder »Einbildung« (fancies) nennt […] – »alle Qualitäten, welche empfindbar genannt werden, existieren in dem Objekt, das sie durch so mannigfache Bewegungen der Materie verursacht […]. Auch in uns, die wir beeindruckt werden, sind sie nichts anderes als verschiedenartige Bewegungen […]. Aber ihre Erscheinung ist für uns Einbildung […].«426
Besteht Cornforths Leistung hier im Wesentlichen darin, die relevanten Ausführungen von Hobbes zu zitieren, so gelingt es Johnson immerhin, daraus die wesentlichen Aspekte mit weitgehend eigenen Worten zusammenzufassen, wiewohl er dicht an der Vorlage bleibt. Dabei stellt er die englische Begrifflichkeit von Hobbes heraus und erzeugt so den Eindruck einer gewissen Objektnähe und Authentizität. Durch die relativierende bzw. einschränkende Modalpartikel »wohl« gibt er zu erkennen, dass Hobbes’ Theorie insoweit Spekulation bleiben muss, als die »empfindbaren« Bewegungen der Materie für den Menschen ›eingebildet‹, epistemisch vage, bleiben müssen. Fraglich ist dabei, ob dieses Morphem der Einschränkung auch eine Distanzierung impliziert, mit der sich Johnson von Hobbes abgrenzt: Diese Einwirkung äusserer Objekte auf unsere Sinne rufen hervor seemings oder fancies oder apparitions, die wohl im Objekt existieren als empfindbare Qualitäten, durch Bewegung der Materie entstehen, und vom Menschen durch Bewegung aufgenommen werden; aber alle diese Eindrücke sind eingebildet, sind nicht wirklich. (2v)
Wird Johnson sich an späteren Stellen seines Referatstextes, wenn er englischsprachige Zitate anführt, an den Rand schlicht ›übersetzen‹ notieren (vgl. etwa 5r), so vermerkt er hier die wörtliche Übertragung der Hobbes’schen Begriffe: »Schein Einbildung Erscheinung« (2v). Damit will er vermutlich der Gefahr 425 Vgl. dazu Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt, 6. neu bearbeitete Auflage, München: C. H. Beck 2001. Das historische Präsens »will«, als besprechendes Tempus, »verstehen, erklären, deuten, lehren« (ebd., S. 84). 426 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 74f. [Hervorh. im Original].
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entgehen, die aus demselben semantischen Feld stammenden, eng verwandten Termini in der Vortragssituation durcheinander zu bringen. Es folgt sogleich eine weitere Hobbes-Paraphrase, für die wiederum Cornforth die Quelle bereitstellt, indem er zitiert: »Die Dinge, die wirklich unabhängig von uns in der Welt sind, das sind jene Bewegungen, durch die dieser Schein (seemings) verursacht wird.«427 Bei Johnson wird daraus: »Wirklich, unabhängig davon ob man sie sieht oder fühlt, unabhängig existieren nur die Körper und ihre Bewegungen« (2v). Hatte Cornforth bis hierhin Hobbes’ Theorie überwiegend mittels Zitaten von Engels und Hobbes selbst illustriert, so fasst er deren grundlegendes Weltmodell mit eigenen Worten zusammen: »Die Welt besteht aus Körpern, ihren Bewegungen und mechanischen Wechselwirkungen.«428 Hier übernimmt Johnson beinahe unverändert wie auch unmarkiert: »Für Hobbes besteht also die Welt aus Körpern, Bewegungen, und mechanischen Wechselwirkungen« (2v). Diese materialistisch-mechanistische Weltsicht gilt in Hobbes’ Verständnis auch für die menschliche Erkenntnis schlechthin. Cornforth erläutert, das »Denken besteh[e] in einer sinnvollen Verbindung von Worten«, und indem der Mensch Worte mit »Körpern und Eigenschaften von Körpern« verbinde, »bezeichnen wir verschiedene Tatsachen der Bewegungen und Eigenschaften von Körpern.«429 Johnson variiert leicht die Begrifflichkeit und verdichtet wiederum die Kernaussage: »Denken ist eine sinnvolle Kombination von Worten, und solche Fügung bezeichnet verschiedene Bewegungen oder Eigenschaften von Körpern« (2v). Um zu illustrieren, wie bedeutsam die richtige Verknüpfung von einerseits Körper bzw. Eigenschaft mit dem entsprechenden Wort und andererseits die sinnvolle, das heißt Körper bzw. ihre Eigenschaften berücksichtigende Verbindung von Wörtern ist, entfernt sich Johnson nun etwas weiter von seiner Quelle. Er konzentriert Cornforths Erläuterungen erheblich, paraphrasiert ihn gleichwohl bei der Wahl der Beispiele: Falsch ist ein Viereck als rund zu sehen, falsch ist aber auch zu sagen der Wille sei frei, denn was ist Wille, wie erfährt man ihn? Und völliger nonsense ist denn ja doch wohl eine Meinung über eine »immaterielle Substanz«, das gibt es nicht. (2v)
Augenscheinlich ereifert sich Johnson hier, denn er hat zuvor beim Hobbes zitierenden Cornforth solch einen »Unsinn, wie ›ein Viereck ist rund‹«, lesen müssen, und auch, dass »Behauptungen über eine ›immaterielle Substanz‹ oder einen ›freien Willen‹ aufzustellen« nicht heiße, »die Unwahrheit zu sagen, sondern eher einen bedeutungslosen Unsinn«.430 Freilich unterläuft Johnsons Resümieren und Verdichten an dieser Stelle eine Ungenauigkeit. Er unterscheidet 427 428 429 430
Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 75 [Hervorh. im Original]. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 75. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 76 [Hervorh. im Original]. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 76.
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hier zwischen etwas Falschem und etwas Unsinnigem (»nonsense«). Diese Unterscheidung findet sich grundsätzlich auch bei Cornforth. Dieser betont damit allerdings gerade, dass aus einer fehlerhaften Verknüpfung von Worten, und damit der durch sie bezeichneten Eigenschaften, »sich als Resultat nicht unwahre, sondern sinnlose Gedanken«431 ergeben. Die von Johnson als falsche, sprich unwahre Behauptungen bezeichneten Aussagen sollten bei Cornforth respektive Hobbes also ursprünglich etwas Unsinniges bzw. Sinnloses illustrieren, nicht etwas Falsches. Johnson beschließt seinen Abschnitt über Thomas Hobbes dann per Wiederholung seiner einleitenden Worte. Gerade für einen mündlichen Vortrag ist das ein geschicktes Vorgehen, indem so der Themenabschnitt in die Ausgangsthese zurückläuft und nach ihrer Erläuterung bestätigend und resümierend wiederholt wird: »Hobbes also [sic] systematisierte Bacons Lehre« (2v). Für ein vollständiges Bild des englischen Materialismus des 17. Jahrhunderts fehlt des Weiteren noch John Locke, denn dieser »begründet das Prinzip des Baco[n] und Hobbes«,432 wie Cornforth im nächsten Unterkapitel (Die Begründung, daß sich Erkenntnis aus der Sinnesempfindung herleitet – Erfahrung – Locke) konstatiert. Johnson folgt erwartungsgemäß: »Wenn Hobbes Bacon systematisiert hatte, so begründete der dritte, John Locke (1632 bis 1704 lebend), beider Grundprinzip« (3r). Und wenn Johnson diese Gesetzmäßigkeit formuliert als »den Ursprung aller Wissenschaften aus der Sinnenwelt« (3r), so hat er dieses »Grundprinzip« bei Cornforth erläutert gefunden als »den Ursprung der Kenntnisse und Ideen aus der Sinnenwelt.«433 Hielt Johnson sich schon bei Bacon und Hobbes dicht an seine Vorlage, so geht er nun noch enger mit Cornforth. Letzterer erklärt, Hobbes begann mit einem Angriff auf die »angeborenen Ideen« – das heißt auf die Lehre, daß gewisse Ideen, wie Gott, Substanz, Ursache usw., dem menschlichen Geiste angeboren, nicht aus den Quellen der Erfahrung abgeleitet, sondern selbstverständlich wahr seien.434
Johnson variiert diese Einsicht erst zum Ende hin, übernimmt ansonsten größtenteils wörtlich, betont immerhin mit dem »notwendiger Weise« die Konsequenz von Lockes Vorgehen. Und hatte er eingangs seines Bacon-Abschnitts bereits einmal metonymisch den Autor für dessen Theorie (wie Cornforth es an dieser Stelle macht) gesetzt, so setzt er dieses Stilmittel hier erneut ein, freilich dieses Mal umgekehrt. Cornforth beginnt mit Hobbes, Johnson mit dessen Werk:
431 432 433 434
Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 76. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 77. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 77. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 77.
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Der Essay beginnt, notwendiger Weise, mit einem Angriff gegen die sogenannten »angeborenen Ideen«, solche wie Gott Substanz Ursache von denen die theologisch verpflichtete Philosophie gesagt hatte sie seien dem menschlichen Geiste angeboren und selbstverständlich wahr. (3r)
Es folgt sodann bei Cornforth ein längeres Locke-Zitat, das Johnson komplett, wieder inklusive Auslassungspunkten, übernimmt, lediglich seine Schreibeigenheit des ›ss‹ statt des ›ß‹ setzt er konsequent um. Diese Kompilation soll hier nicht nachvollzogen werden, es handelt sich beinahe vollständig um den zweiten Paragraphen des ersten Kapitels des Zweiten Buchs von Lockes Versuch über den menschlichen Verstand. Locke legt darin dar, dass der menschliche Verstand a priori keine Ideen habe, alles Wissen aus Erfahrung stamme. Johnson übernimmt also Locke aus zweiter, aus Cornforths Hand, und dieses Derivat versieht der Dietz Verlag wiederum mit einer Quellenangabe einer deutschsprachigen LockeAusgabe. Johnson notiert sie sich am Rand und zitiert: »Wir wollen also annehmen, der Geist sei, wie man sagt ein unbeschriebenes Blatt, ohne alle Eindrücke, frei von allen Ideen; wie werden ihm diese dann zugeführt? … Ich antworte darauf mit einem einzigen Wort: aus der Erfahrung. Sie liegt unserem gesamten Wissen zugrunde, aus ihr leitet es sich letzten Endes her. Unsere Beobachtung die entweder auf äussere sinnliche Objekte gerichtet ist oder auf innere Bewusstseinsvorgänge, die wir wahrnehmen und über die wir reflektieren, liefert unserem Verstand das gesamte Material des Denkens. Dies sind die beiden einzigen Quellen der Erkenntnis, aus denen alle Ideen entspringen, die wir haben oder naturgemäss haben können.« (3r)435
Insgesamt scheint Locke von Johnson und seinem ›Stichwortgeber‹ etwas straffer behandelt zu werden als seine beiden Vorläufer. Johnson verkürzt Cornforths ohnehin schon knapp gehaltenen Überblick. Während dieser erst ankündigt, es werde »sich zeigen, daß die ganze Arbeit von Locke darin bestand, die Grundprinzipien seines materialistischen Vorgängers Hobbes auszuarbeiten«436 – macht Johnson daraus umstandslos eine Tatsache: »Die Leistung Locke’s besteht durchaus darin die Grundprinzipien seiner Vorgänger, Hobbes und Bacon, auszuarbeiten« (3r). Wie schon bei Hobbes, so beendet Johnson auch seine relativ kurzen Ausführungen zu Locke, indem er mittels Wiederholung der Kernthese an den Anfang anknüpft, Locke sei ›Begründer der Prinzipien‹ Bacons und Hobbes’. Im Anschluss an sein knappes Locke-Unterkapitel widmet Cornforth ein weiteres der Frage: »Was ist das Objekt der Erkenntnis?«437 Darin geht er auf 435 Vgl. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand. In vier Büchern, Bd. 1: Buch I und II, Hamburg: Meiner 2006, S. 107f. 436 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 79. 437 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 80.
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Lockes Unterscheidung zwischen den Objekten der realen Welt und den Ideen des Menschen ein, die dieser nur von jenen haben könne, und mittels derer nur eine Erkenntnis möglich sei. Teils zitierend, teils paraphrasierend wird diese Theorie hier erörtert, beispielsweise wie folgt: Er behauptete nämlich: Wenn wir wahrnehmen, denken, verstehen, urteilen, erkennen – mit anderen Worten, wenn wir irgendeinen Akt der Erkenntnis von der einfachsten Art der Sinneswahrnehmung bis zum kompliziertesten Gedanken ausführen –, dann sind die Objekte unserer Erkenntnis nicht die äußeren Objekte selbst, sondern vielmehr unsere eigenen Ideen, die in unserem Verstand durch die Einwirkung äußerer Objekte hervorgerufen werden.438
Eine zu enge oder gar wörtliche Übernahme kann an dieser Stelle nicht nachgewiesen werden. Vielmehr hat es den Anschein, dass Johnson dieses gesamte, dreiseitige Unterkapitel in wenigen Sätzen zusammengefasst habe: »Locke sagt nämlich: der eigentliche Gegenstand der Erkenntnis sei nicht das reale Objekt. Sondern die Idee die wir von diesem Objekt haben« (3r).439 Diese gröbere, gleichwohl pointierte Zusammenfassung nähert sich in einem Punkt wieder Cornforths Formulierungen in diesem Kapitel an. Cornforth erläutert Lockes Annahme, der zufolge sich »die Erkenntnis dennoch tatsächlich auf die objektive Welt beziehe, insofern als Ideen Abbilder von Dingen sind.«440 Johnson verdeutlicht diesen Standpunkt noch, indem er sagt, dass es für Locke »selbstverständlich« gewesen sei, »dass sich solche Ideen […] auf die objektive Welt als Abbilder von Dingen« (3r) bezögen. Er resümiert: »So aber kann man nur erkennen, wie diese Dinge beschaffen sind, nicht wie sie sind, nicht ihre wesentliche Natur« (3r–v). Damit pointiert Johnson einmal mehr Cornforth, der Lockes Behauptung dahingehend resümiert, dass »wir bis zu diesem Grad [dem der Abbilder; AK] durchaus wissen, wie die ›Dinge an sich‹ beschaffen sind«, jedoch »über die Natur der Objekte, die diese Welt bilden, können wir nichts wissen.«441 Es folgt Ein Scheideweg. So nennt Cornforth sein nächstes Unterkapitel über den weiteren Fortgang des englischen Materialismus, den er bis dato anhand der Beispiele Bacon, Hobbes und Locke exemplifiziert hat. Bei Johnson hingegen folgt »eine Scheidung« (3v). Spricht Cornforth davon, dass Lockes Erkenntnis438 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 80 [Hervorh. im Original]. 439 Diese zwei Sätze, beginnend nach dem Doppelpunkt und endend nach »Objekt habend«, setzt Neumann in seiner Transkription in Anführungszeichen. Und in der Tat hat es in Johnsons Manuskript auf den ersten Blick den Anschein, dass nach dem Doppelpunkt deutsche öffnende, also unten stehende Anführungszeichen gesetzt sind, es finden sich dann aber keine schließenden; die von Neumann gesetzten haben hier keine Grundlage (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 36). Zudem macht der Modus des ersten Satzes ein Zitat fragwürdig, denn dann müsste jenes vermeintlich Locke zugeschriebene »sei« imperativisch verstanden werden und nicht, naheliegender, als Konjunktiv einer indirekten Rede. 440 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 81 [Hervorh. im Original]. 441 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 82.
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theorie »einerseits vom Materialismus weg zum subjektiven Idealismus und Agnostizismus« geführt habe, so verortet Johnson, das politische Spektrum berücksichtigend:442 »nach rechts ging es zum subjektiven Idealism und Agnostizism« (3v). Die andere Richtung, »andererseits«, charakterisiert Cornforth als »hauptsächlich von den großen französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts ins Werk gesetzt, deren Erbe wiederum im 19. Jahrhundert von Marx und Engels studiert und weiterentwickelt wurde.«443 Hier nun belässt es Johnson nicht bei einer zusammenfassenden Paraphrase oder nur einem Zitat. Stattdessen liefert er selbst Beispiele dafür, wer mit den »französischen Materialisten des 18. Jahrhunderts« gemeint sein könnte. Erneut die politische Geographie beachtend, heißt es bei ihm: »nach links gingen Diderot Descartes und Marx« (3v). Marx wird ausdrücklich von Cornforth genannt, und so erstaunt es wenig, dass er als Fixpunkt in der Geistesgeschichte des Materialismus eben hin und wieder erwähnt werden muss. René Descartes hingegen lebte im 17. Jahrhundert und kann mit seiner mechanistischen Philosophie bestenfalls als Vorläufer materialistischer Ideen gelten. Die Nennung von Denis Diderot als exemplarischem Vertreter des französischen Materialismus im 18. Jahrhundert mag ein wenig überraschen, wären doch beispielsweise La Mettrie oder d’Holbach ebenso möglich, vielleicht geeigneter. Denn wiewohl Diderot als bedeutender Schriftsteller und Enzyklopädist in dieser Zeit wirkte, hat er als Philosoph doch keine geschlossene materialistische Systematik oder Lehre entwickelt. Sehr wohl finden sich in seinen Schriften entsprechende einzelne Standpunkte. Die Nennung Diderots ist aus der Leipziger Studiengegenwart zu verstehen. Die junge DDR war in jeder Hinsicht um Anerkennung und Legitimation bemüht. Dazu gehörte auch die Bildung eines eigenen geistesgeschichtlichen und literarischen Kanons. Diderot bot sich, wenn vielleicht auch nicht im Ganzen, so doch in vielerlei Hinsicht für diese Zwecke an; sicherlich nicht nur, weil er als ein Lieblingsschriftsteller von Marx bekannt war.444 Bereits 1949 erscheint das Buch 442 Die bis heute gebräuchliche politische Rechts-Links-Dichotomie, ausgehend vom französischen Revolutionsparlament, war in Deutschland »schon im Paulskirchenparlament 1848/ 49 fester Bestandteil der politisch-parlamentarischen Sitzordnung und Sprache« (Uwe Backes: Politische Extreme. Eine Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2006, S. 111). 443 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 83. 444 Hans Mayer weist eigens darauf hin; vgl.: Hans Mayer: Nachwort, in: Denis Diderot: Jakob und sein Herr. Nach der Übersetzung von Wilhelm Christhelf Sigmund Mylius, sprachlich erneuert und ergänzt, mit einem Nachwort von Hans Mayer, 3., neu illustrierte Auflage, Berlin: Rütten & Loening 1959, S. 501–553, hier: S. 506. Und auch die Marx-Engels-Werkausgabe vermerkt im Personenverzeichnis von drei Bänden diesen Umstand (vgl. Karl Marx, Friedrich Engels: Werke, Bd. 31, Berlin: Dietz 1965, S. 729; dies., Werke, Bd. 32, Berlin: Dietz 1965, S. 863; dies., Werke, Bd. 33, Berlin: Dietz 1966, S. 868). Wiewohl auch in anderen Bänden dieser Ausgabe erwähnt, wird Diderot dort nicht mit dieser Eigenschaft kommentiert.
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Denis Diderot. Skizze eines enzyklopädischen Lebens (Aufbau-Verlag) wie auch eine Ausgabe von Goethes Übersetzung des Dialogs Rameaus Neffe (Thüringer Volksverlag). Für 1953 sind gleich drei entsprechende Publikationen zu verzeichnen: Diderot. Ein Lesebuch für unsere Zeit (Thüringer Volksverlag), Denis Diderot. Erzählungen und Gespräche (Dieterich) sowie der Roman Jakob und sein Herr (mit einem Nachwort von Hans Mayer, Rütten & Loening). Gerade am Roman, der schon 1954 eine zweite Auflage erfuhr, scheint Johnson, zumindest für spätere Jahre belegbar, interessiert gewesen zu sein. So findet sich im UweJohnson-Archiv dessen dritte Auflage aus dem Jahr 1959. Und 1965 wird der inzwischen zum bundesdeutschen Autor avancierte Johnson von seinem Kollegen Günter Grass um eine Bücherliste gebeten, um die Bibliotheksbestände der Bundeswehr aufzufrischen, denn diese seien seinerzeit »hoffnungslos veraltet und außerdem politisch reaktionär«.445 Zu Johnsons Empfehlungen für die ›Bürger in Uniform‹ gehörte Diderots Roman. Und schon im Jahr darauf taucht das Buch auf einer weiteren Liste auf, mit Titeln, die sich Johnson von seinem Verleger Unseld aus der Produktion des Insel Verlags wünscht.446 Für den kulturhistorischen Kontext kann festgehalten werden, dass seitens der DDR-Kulturpolitik ein erhebliches Interesse an der Tradierung Diderots bestand, er »galt in der DDR unangefochten als führender Vertreter des französischen Materialismus«.447 Als ebensolchen präsentiert ihn Johnson in seinem Referat. Und insbesondere für »die Literaturwissenschaft der DDR« ist zu beobachten, dass sie »das Werk Diderots unter Gesichtspunkten betrachtete, die denen der eigenen Weltanschauung entsprachen«.448 Hans Mayer liest Diderot in genau diesem Sinne, wenn er dessen »gewaltige revolutionäre Sprengkraft«
445 Erdmut Wizisla: Bücher für die Bundeswehr. Eine Initiative von Günter Grass und eine Liste Uwe Johnsons (1965), in: Johnson-Jahrbuch, 13/2006, S. 11–15, hier: S. 11. Vgl. auch: Uwe Johnson an Günter Grass, 16. 7. 1965, in: Uwe Johnson, Anna Grass, Günter Grass: Der Briefwechsel, hg. von Arno Barnert, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 54–63. 446 Vgl. Uwe Johnson an Siegfried Unseld, 8. 3. 1966, in: Johnson-Unseld-Briefwechsel (Anm. 123), S. 427–430. Im Insel Verlag erschien der Roman 1961, freilich nicht mit einem Nachwort von Hans Mayer, sondern mit einem des Romanisten Fritz Schalk. Als Spekulation sei hier die Frage erlaubt, ob ein prominenter erster Satz, »Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen« (Uwe Johnson: Mutmassungen über Jakob. Rostocker Ausgabe. Historisch-kritische Ausgabe der Werke, Schriften und Briefe Uwe Johnsons, hg. von Holger Helbig und Ulrich Fries, Abt. I, Bd. 2, hg. von Astrid Köhler u. a., Berlin: Suhrkamp 2017, S. 7), auf Diderots Eingangsfrage referieren könnte: »Weiß man je, wohin man geht?« (Diderot, Jakob und sein Herr (Anm. 444), S. 5). Daneben böte Diderots dialogisch gestalteter Roman mit seinen nur scheinbar ziellosen Erzählsträngen durchaus Potenzial für eine vergleichende Betrachtung. 447 Isabella von Treskow: Französische Aufklärung und sozialistische Wirklichkeit. Denis Diderots Jacques le fataliste als Modell für Volker Brauns Hinze-Kunze-Roman, Würzburg: Königshausen & Neumann 1996, S. 36. 448 Treskow, Französische Aufklärung und sozialistische Wirklichkeit (Anm. 447), S. 42f.
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hervorhebt, »wofern man nur richtig zu lesen versteht«.449 Der »große Materialist« Diderot, so Mayer, sei in seiner »große[n] Vorläuferrolle« zu Recht von der zeitgenössischen sowjetischen Wissenschaft herausgestellt worden, gehe er doch »als einziger in entscheidenden Punkten über die Grenzen des undialektischen Materialismus hinaus«.450 Soll heißen, ein wenig ideologisch zurechtgebogen, funktionierte Diderot als geistesgeschichtliche Legitimationsfigur der DDRIdeologie. Neben den allgemeineren kulturpolitischen Implikationen steht zu vermuten, dass Johnson um Mayers Nachwort bei Rütten & Loening wusste und deshalb gezielt den Insel-Diderot auf den Wunschzettel setzte. Das ist keine nachrangige Beobachtung, denn wie noch des Öfteren zu sehen sein wird, ist Hans Mayer quasi so etwas wie der ›unbewegte Beweger‹ in Johnsons Kosmos dieser Leipziger Jahre. Zwar soll hier keine Biographistik betrieben werden, doch sind Johnsons Studienarbeiten ohne Ausrichtung auf dieses ›Zentralgestirn‹ nur bedingt zu verstehen. Zurück zum Vortrag und damit – immer noch – zu Cornforth. Johnsons Behauptung, das »Ding an sich, unerkennbar, komm[e] von Locke her, die Behauptung die Welt sei erkennbar: auch« (3v), fußt wiederum auf der bekannten Vorlage. Cornforth arbeitet heraus, dass alle Erkenntnis (gemäß Locke) stets nur eine indirekte sei, nämlich vermittels der Ideen, die der Mensch von den Objekten habe. Die Objekte selbst nun seien, »um einen Ausdruck zu gebrauchen, der hundert Jahre nach Locke geprägt worden ist, unerkennbare ›Dinge an sich‹«.451 Johnson gelangt mit seinem Exzerpt-Referat jetzt in Cornforths zweitem Kapitel an, Der Materialismus und der Aufstieg des Kapitalismus – Wissenschaft, Philosophie und Religion. Hierin behandelt das erste Unterkapitel auf tendenziöse Weise Die gesellschaftlichen Wurzeln des Materialismus im 17. Jahrhundert – Der Materialismus als Rechtfertigung der Wissenschaft. Dem marxistisch-leninistisch geschulten Studenten fällt es entsprechend leicht, in der »Periode des Zerfalls des Feudalismus und der Schaffung der Grundlagen der künftigen kapitalistischen Ordnung«452 zu erkennen, dass hier das »englische Bürgertum begann sich politisch wie wirtschaftlich zu formieren« (3v). Stellt Cornforth als bedeutende »Faktoren« für diesen gesellschaftlichen Wandel »die Entwicklung der Navigation, des Bergbaus und der Verwendung von Artillerie in der Kriegführung«453 heraus, so konstatiert Johnson entsprechend, »es entwickelten sich Navigation Bergbau Artillerie« (3v). Dabei handelte es sich, so Johnson weiter, um »Gewerbe die wissenschaftlicher Nachhilfe unbedingt bedürftig sind« (3v). 449 450 451 452 453
Mayer, Nachwort (Anm. 444), S. 508. Mayer, Nachwort (Anm. 444), S. 529, 532, 530 [in der Reihenfolge der Zitation]. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 82. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 87. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 87.
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Cornforth formulierte diesen Umstand etwas neutraler, indem er sagte, diese »neuen Tätigkeiten […] erforderten die Hilfe der wissenschaftlichen Forschung«.454 Dabei war es laut Johnson »Aufgabe der Philosophie […] also die Methoden der Naturwissenschaft zu rechtfertigen, sie ist in ihrem Wachstum gebunden an die Entwicklung der Naturwissenschaften« (3v). Auch hier fällt es nicht schwer, den nur wenig verklausulierten Cornforth herauszulesen. Als »Funktion« des »englische[n] Materialismus des 17. Jahrhunderts« sieht er die »Rechtfertigung der Methoden der Naturwissenschaft«, denn dieser Materialismus »erwuchs unmittelbar aus der Entwicklung der Naturwissenschaft.«455 Drei Seiten später heißt es abermals ausdrücklich, dass dieser Materialismus »im wesentlichen eine philosophische Rechtfertigung der Ansprüche der Naturwissenschaft«456 gewesen sei. Hatte Johnson sich bislang ausgiebig – und gern auch wörtlich – bei Cornforth bedient, so geschieht nun etwas Erstaunliches. Erstaunlich insofern, als der Referent nun erstmals, zumindest in seiner schriftlichen Ausarbeitung, eine wörtliche Übernahme von Cornforth als solche markiert und darüber hinaus auch noch am Rand in Klammern seine Quelle vermerkt: »Cornforth« (3v), freilich ohne konkretere Angaben: Es kam darauf an zu zeigen »dass alle Erkenntnis aus Erfahrung entstehen und durch Erfahrung bestätigt werden müsse und dass auf dieser Grundlage eine systematische und verifizierbare Darstellung der Natur der Dinge erreicht werden könne.« (3v)
Trotz der Anführungszeichen und des Quellenvermerks ist Johnsons Zitation unvollständig, denn er lässt einen Einschub aus. In seiner Vorlage heißt es am Schluss, dass eine »Darstellung der Natur der Dinge, einschließlich des menschlichen Geistes, erreicht werden könne.«457 Und freilich muss ungewiss bleiben, wiewohl in Anbetracht seiner bisherigen Vorgehensweise zumindest vorsichtige Zweifel angebracht sind, ob er während seines Vortrags dann auch tatsächlich auf die Herkunft dieser Aussage verwiesen hat. Über den eigentlichen gesellschaftlichen Umbruch in England vom Feudalismus hin zum Kapitalismus berichtet Johnsons sodann, dass letzterer »während der ursprünglichen Akkumulation die feudalen Produktionsverhältnisse auflöste und zerbrach,« und »im selben Masse und mit der gleichen Rücksichtslosigkeit leugnete er die religiösen und philosophischen Glaubensmeinungen die seinen Bedürfnissen nicht entsprachen« (3v). Das ist einmal mehr eng an Cornforth angelehnt formuliert, welcher wiederum offensichtlich Marx’ Politi-
454 455 456 457
Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 87. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 86. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 89. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 86.
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sche Ökonomie einigermaßen verinnerlicht hatte. Über den gesellschaftlichen Aufstieg des Kapitalismus heißt es bei ihm, die Kapitalisten zerbrachen […] nicht nur die feudalen Eigentums- und Herrschaftsformen, um das kapitalistische Eigentum und die kapitalistische Herrschaft einzusetzen, sondern zerstörten außerdem den gesamten Komplex religiöser und philosophischer Glaubensmeinungen, die dem Feudalismus verhaftet waren, um die Vorherrschaft neuer religiöser und philosophischer Überzeugungen zu begründen, die mit den Bedürfnissen des Kapitalismus übereinstimmten.458
Eine beträchtliche Zusammenfassung in Anbetracht seiner bisher sehr textnahen Arbeitsweise lässt Johnson dann im nächsten ›Satz‹ folgen: »Andeutungsweise mit Bacon, am Anfang des XVII und des Kapitalism, offen mit Locke als die Glorious Revolution die politische Herrschaft des Bürgertums befestigt hatte« (3v). Denn hier verbindet Johnson Informationen aus dem aktuell von ihm durchgearbeiteten Unterkapitel Cornforths mit Daten aus dem folgenden Unterkapitel. Über den Erfolg der materialistischen Philosophie im Gleichschritt mit dem aufstrebenden Kapitalismus heißt es zum Ende des ersten Unterkapitels, er habe »angefangen mit Bacon, als sie [die Kapitalisten; AK] schon eine vorherrschende gesellschaftliche Kraft darstellten, […] gipfelnd in Locke«.459 Und schließlich seien »Monarchie und Kirche«, so Cornforth im folgenden Unterkapitel, »in der ›glorreichen Revolution‹ von 1688 in die Form gebracht, die am besten mit den Interessen und Wünschen des Großkapitals übereinstimmte.«460 Das Jahr der Glorious Revolution, 1688, vermerkt sich Johnson am Rand neben seiner entsprechenden Textstelle (vgl. 3v). Auch die von ihm sodann festgestellte ›Widersprüchlichkeit‹ des englischen Materialismus hinsichtlich seiner Haltung zur Religion hat ihren Ursprung bei Cornforth. Dieser widmet dem Spannungsfeld zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisstreben und Glaubenslehre und -praxis eigens das folgende Unterkapitel, Der Konflikt von Wissenschaft und Religion. Darin wird die paradox anmutende Situation Englands im ausgehenden 17. Jahrhundert folgendermaßen skizziert: »Dieselben gesellschaftlichen Kräfte, die eine Grenzerweiterung für die wissenschaftliche Erkenntnis wünschten, verlangten außerdem die Aufrechterhaltung der Religion und der christlichen Kirche.«461 Hier bleibt Johnson wieder dichter am Original, indem er einmal mehr nur die Begriffe variiert, teils aber auch präzisiert: »Denn dieselben gesellschaftlichen Kräfte die eine Erweiterung der Grenzen menschlicher Erkenntnis wünschten, verlangten eine Aufrechterhaltung der Religion und der reformierten Kirche« (3v–4r). Anschließend ersetzt Johnson lediglich 458 459 460 461
Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 87f. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 89. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 90. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 90.
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»Pfeiler« durch »Stützen« und »Staat« durch »Monarchie«, um ansonsten mit Cornforths Worten sagen zu können: »Sie begriffen dass Monarchie und Kirche die Stützen der Gesellschaft bleiben mussten« (4r); Cornforth hatte es fast identisch gesagt: »Sie begriffen, daß Kirche und Staat die Pfeiler der Gesellschaft bleiben mußten.«462 Daran habe auch nichts geändert, dass »Monarchie und Kirche in der kurzen Periode des Commonwealth abgeschafft worden waren«, da sie ja »sehr bald danach wieder eingesetzt« wurden.463 Auf das kurze republikanische Zwischenspiel verweist auch Johnson, »die Abschaffung von Königtum und Kirche dauerte nur die Zeit des Commonwealth« (4r). Der folgende Absatz besteht bei Johnson nun aus einem umfangreichen und – erst zum zweiten Mal explizit – markierten Zitat aus Cornforths Buch, Johnson notiert dessen Namen dazu am Rande (vgl. 4r) und schreibt: So hatte die Philosophie eine zweifache Aufgabe – einerseits die Wissenschaft gegen die Dogmen des Katholizism zu verteidigen, andererseits zu zeigen, dass die Wissenschaft dem Atheism keine Unterstützung leiste und mit dem Glauben an Gott und die Unsterblichkeit zu vereinbaren, überhaupt mit den liberaleren Lehren der Anglikanischen Kirche sehr gut in Einklang zu bringen sei. (4r)464
Damit zitiert Johnson an dieser Stelle erstmals seine Vorlage fehlerfrei, ohne Variationen, Paraphrasen oder Auslassungen. Er behält jedoch seine Schreibeigenheiten bei, hat ›ss‹ statt ›ß‹ und verkürzt wie bisher auch das ›-ismus‹-Suffix. Johnson geht es nun darum, die problematische Stellung von Kirche und Religion in diesem Spannungsverhältnis von materialistischer Erkenntnistheorie, kapitalistischem Effizienz- bzw. Gewinnstreben und staatlicher Ordnung zu illustrieren. Er folgt dabei der chronologischen Übersicht Cornforths: Wie es seiner Stellung als Lordkanzler unter König Jakob I. zukam, mußte Bacon die Wissenschaft als eine wesentliche Hilfe für Handel und Manufaktur und die Religion als ein wesentliches Element der gesellschaftlichen Sicherheit unterstützen – und es kam ihm nicht in den Sinn, die beiden könnten miteinander in Konflikt geraten.465
Johnson bedient sich der zentralen Informationen und fasst zusammen, »Bacon«, dem »Lordkanzler unter Jakob dem Ersten«, »kam […] zu, die Wissenschaft als gut für Handel und Manufaktur, die Religion als gut für die gesellschaftliche Sicherheit zu unterstützen« (4r). Abweichend von seiner Vorlage erfolgt dann aber seine Paraphrase des letzten Satzteils, und zwar in ihrem Gehalt. Dort wird unterstellt, Bacon sei es nicht eingefallen, »beide gegeneinander 462 463 464 465
Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 90. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 90. Vgl. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 90. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 91. Hierauf folgt unmittelbar die vollständige Wiedergabe des Marx-Zitats durch Cornforth, das Johnson zuvor unvollständig zusammengefügt hatte, vgl. hier: S. 142.
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Hauptwerke der Weltliteratur: Venice Preserved
auszuspielen« (4r). Das nun ist eine Interpretation des Studenten, für die ihm freilich Cornforth das Material geliefert hat. Dieser stellte bereits kurz zuvor fest: »Bacon hatte noch nicht im geringsten vermutet, daß der wissenschaftliche Materialismus mit der Religion in Konflikt geraten mußte.«466 Eine Aussage, die er kurz darauf (siehe oben) wiederholt. Das solchermaßen behauptete ›gegeneinander Ausspielen‹ begründet sich in der zuvor bereits festgehaltenen, auch von Marx und Engels attestierten, ›theologischen Inkonsequenzen‹ des Bacon’schen Materialismus bzw. seiner Erkenntnislehre. Zudem hatte Bacon als Realpolitiker pragmatische Überlegungen zu berücksichtigen, bei denen es, so Cornforth, zwar gelegentlich zu »Auseinandersetzungen mit den ›absurden‹ Dogmen der katholischen Scholastiker« gekommen sei, aber eben nicht »mit den wesentlichen Glaubenssätzen der christlichen Religion«.467 Johnson resümiert: »man stritt sich manchmal, aber um Kleinigkeiten« (4r). Erst mit Hobbes, so Cornforth weiter, »wurde das Bestehen eines wirklichen und grundsätzlichen Konflikts unmittelbar offensichtlich.«468 Dieser sachlichen Feststellung folgt Johnson nicht, er bewertet diese Entwicklung, indem er sagt, dass nun »das Gegenüber deutlicher« wurde, und »peinlicher« (4r).469 Cornforth erläutert, wie es dazu kommen konnte: In dem politischen Teil seiner Philosophie (die den größeren Teil seines Hauptwerks, des »Leviathan«, ausmacht) versuchte Hobbes, aus seinen materialistischen Prämissen die Notwendigkeit a) der Monarchie und b) der Kirche als unentbehrlicher Elemente der Organisation der bürgerlichen Gesellschaft abzuleiten. Ohne diese beiden Elemente würde, bemerkte er, eine Regierung unmöglich sein.470
Auch Johnson muss das mit Hobbes aufgekommene Konfliktpotenzial erläutern. Er macht es mit der bewährten Exzerptmethode paraphrasierender Verdichtung: »Im politischen Teil des ›Leviathan‹ leitete er von seinen materialistischen Prämissen die Notwendigkeit der Monarchie ab. Und die Notwendigkeit der Kirche. Ohne diese beiden werde eine Regierung unmöglich sein« (4r).471 Hobbes’ ›Problem‹ bestand nun darin, dass er Kirche und Religion noch als Notwendigkeit ansah, während sein Materialismus sie eigentlich obsolet machte. »Die Re466 467 468 469
Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 90. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 90. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 91. Johnson beginnt mit diesem Satz in seinem Manuskript übrigens einen neuen Absatz, den er dadurch markiert, da diese und die vorige Zeile bis an den Blattrand laufen, dass er zwischen den Zeilen einen erweiterten Zeilenabstand belässt. Der Transkription Neumanns ist das nicht abzulesen, wodurch darin die Gliederungsfunktion nicht greifen kann (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 37). 470 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 91. 471 An dieser Stelle ist Neumanns Transkription sinnentstellend, indem er zunächst »Kirche« statt richtig »Monarchie«, und dann »Religion« statt »Kirche« überträgt (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 37).
Quellenarbeit 1: Wissenschaft contra Idealismus
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ligion kann aus politischer Zweckmäßigkeit nicht in der Praxis aufrechterhalten werden«, erläutert Cornforth dieses Dilemma, wenn man gleichzeitig Religion per se »als reinen Aberglauben« betrachte.472 Johnson pointiert, Hobbes »gestand der Religion nur eine politische Zweckmässigkeit zu, ihr Wesen hatte er als Aberglauben dargestellt« (4r). In der zeitgenössischen Rezeption zeitigte das erhebliche Konsequenzen, wie Cornforth ausführt: Die gleiche Folgerichtigkeit, mit der Hobbes die Baconsche Lehre zu ihrer logischen Schlußfolgerung, zum atheistischen Materialismus, entwickelte, entfremdete ihn völlig den aufstrebenden kapitalistischen Kräften, […]. Seine Philosophie wurde allgemein verschrien und gewann nur die Unterstützung derer, die im Gegensatz zum Kapital standen. Das waren auf der einen Seite gewisse Kreise unter den Levellern und auf der anderen Seite ein paar der zynischeren und enttäuschten Vertreter der alten Aristokratie.473
Johnson verdichtet diese Darstellung, indem er die Folgen zusammenfasst: »Die konsequente Ausarbeitung Bacons brachte Hobbes nur Ärger, sein Atheism wurde heftig verabscheut« (4r). Der anderen, Hobbes’ Seite, gesteht Johnson mehr Raum zu: zum jetzt verschrienen Philosophen »hielten nun wieder Leute die Grund hatten das Kapital, das seinen Hobbes verleugnete, nicht zu lieben: das waren einige Leveller und zynische Aristokraten« (4r–v). Die Levellers wird Johnson vermutlich nicht nur Cornforths wegen genannt haben: Sie forderten unter anderem die Abschaffung von Monarchie und alter Feudal- und Ständeordnung sowie ein gelockertes Wahlrecht. Aus der Perspektive der DDR können sie als Vorform eines sich entwickelnden, ›klassenbewussten‹ Proletariats als politisch aktiver und relevanter Gesellschaftsschicht gedeutet werden. Da sich im England des ausgehenden 17. Jahrhunderts nun einmal Naturwissenschaften, Philosophie und Kapitalismus neben Religion und Kirche entwickelt und behauptet hatten, mussten sie miteinander in Harmonie gebracht, musste bestenfalls eine Synthese gefunden werden. Das bei Cornforth folgende Unterkapitel, Das Problem der Versöhnung von Wissenschaft und Religion, behandelt diesen Prozess: Hobbes habe »ein Problem angeschnitten, das gelöst werden mußte.«474 Johnson formuliert umgangssprachlich und lakonisch-pragmatisch: »man musste sich irgendwie einigen« (4v). Es war schließlich John Locke, der den Widerspruch zwischen (materialistischer) Naturwissenschaft und (idealistischer) Religion ›versöhnlerisch‹ aufzuheben vermochte. Er erklärte, so Cornforth, »daß unsere eigenen Ideen und nicht die objektive Welt außerhalb des Bewußtseins das unmittelbare Objekt der Erkenntnis seien.«475 Dass Johnson 472 473 474 475
Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 91f. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 92. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 92. Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 93.
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Hauptwerke der Weltliteratur: Venice Preserved
dieses erkenntnistheoretische Konstrukt durchaus verstanden hat, zeigt seine Paraphrase, die Lockes Theorie erläutert als »jene, die das Bewusstsein der objektiven Realität und nicht die objektive Realität selbst zum unmittelbaren Objekt der Erkenntnis machte« (4v). Die Markierung dieser Differenz war der entscheidende Faktor in Lockes Erkenntnisprinzip, dessen Erfolg Cornforth so erklärt: Gerade weil es den Bereich möglicher wissenschaftlicher Erkenntnis beschränkte und weil es leugnete, daß die wissenschaftliche Erkenntnis bis zur Substanz der Dinge vordringen könnte. Wenn es sich so verhält, dann können die Unsterblichkeit der Seele, ihre Errettung und ihre Beziehung zu Gott durch keinerlei mögliche Anwendung wissenschaftlicher Beobachtung und Folgerung weder aufgedeckt noch umgestoßen werden.476
Inzwischen erwartungsgemäß verdichtet Johnson die Kerninhalte. Durch Locke sei nunmehr »der Radius wissenschaftlicher Erkenntnis beschränkt und die Substanz der Dinge war unerkennbar«, wodurch »die Unsterblichkeit der Seele und ihr Verhältnis mit Gott noch einmal gerettet« werden konnten (4v). Für die wenigen noch folgenden Ausführungen dieses ersten Referatsteils über den englischen Materialismus im 17. Jahrhundert sind dann keine weiteren direkten Übernahmen nachzuweisen. Es ist allerdings zu erkennen, dass Johnson hier im Wesentlichen noch das Unterkapitel Cornforths über Das Problem der Versöhnung von Wissenschaft und Religion als Grundlage benutzt und berücksichtigt. So hätten beispielsweise nun »wissenschaftliche Erkenntnis und die Religion«, jeweils für sich, »ihren eigenen Bereich«, soll heißen, sie »beeinträchtigen einander nicht«.477 Daraus macht Johnson nonchalant die »Übereinkunft des ›jeder macht seins‹« (4v). Und auch, dass Locke sich »einer Theodizee in einem eigenen Kapitel des Essays« (4v) widmet, konnte er bei Cornforth erfahren haben, der über Locke eben berichtet, er habe sich in »einem Kapitel seines ›Versuchs‹« darum bemüht, »einen wissenschaftlichen ›Beweis‹ der Existenz Gottes zu entwickeln.«478 Johnsons abschließender Hinweis, dass die englische Philosophie »noch viel Mühe« haben würde, die erheblichen Widersprüche in Lockes Lehrgebäude aufzulösen, ist vermutlich ebenfalls Cornforth geschuldet. Am Ende seines Unterkapitels, bevor sein drittes Hauptkapitel beginnt, deutet er voraus auf George Berkeley, der als einflussreicher Philosoph des frühen 18. Jahrhunderts sich der Probleme der Materialisten annehmen wird. Damit gehört er aber nicht mehr zum hier betrachteten und vorgestellten historischen Zeitraum. So endet an dieser Stelle Johnsons ausführlicher philoso-
476 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 93 [Hervorh. im Original]. 477 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 93. 478 Cornforth, Wissenschaft contra Idealismus (Anm. 398), S. 94.
Quellenarbeit 2: Antike, Renaissance und Puritanismus
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phiegeschichtlicher Exkurs ins englische 17. Jahrhundert: er schlägt Cornforths Buch zu und ein neues Kapitel auf.
7.3
Quellenarbeit 2: Antike, Renaissance und Puritanismus
Nach diesem Parforceritt zu den geistes- und philosophiegeschichtlichen Entwicklungen im England des 17. Jahrhunderts widmet sich Johnson unter seinem nächsten Gliederungspunkt einem konkreteren Problem. Unter der Überschrift englischer Puritanism und Literatur geht es ihm im Folgenden um eben dieses Konfliktfeld zwischen streng protestantischer Religionspraxis und weltlichem, künstlerisch-literarischem Ausdruck. Als ertragreiche Quelle hat der Student dafür die Monographie Antike, Renaissance und Puritanismus aufgetan, die im Untertitel als Eine Studie zur englischen Literaturgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts angekündigt wird.479 Bei diesem Buch handelt es sich um Walter Franz Schirmers Qualifikationsschrift, mit der er 1923 (publiziert 1924) an der Universität Freiburg habilitiert wurde. Johnson verwendet die zweite Auflage von 1933, bei der es sich um einen fotomechanischen Nachdruck der Karriereschrift handelt, dem lediglich zwei Seiten mit ergänzenden Anmerkungen beigegeben wurden. Zudem hatte Schirmer hier Gelegenheit, bei seinem Namen auf dem Titelblatt den Zusatz »O. Universitätsprofessor, Berlin« hinzuzufügen, denn 1932 war er dorthin berufen worden. Schirmer widmete sein akademisches Wirken nicht nur dem Verhältnis von Puritanismus und Literatur, sondern beispielsweise auch der englischen Literatur des Mittelalters oder der Entwicklung des englischen Humanismus unter italienischem Einfluss. Seine Studie zum letztgenannten Thema »can be used as a reference even today«.480 Nach dem Zweiten Weltkrieg lehrte er bis zu seiner Emeritierung 1957 an der Universität Bonn.481 Die für seine Zwecke erforderlichen Hinweise findet Johnson im fünften Kapitel von Schirmers Habilitation: Puritanische Literatur. Wenn der Referent nun also einleitend auf die »Spannungen zwischen Protestantism und künstlerischen Äusserungen« zu sprechen kommt, »unduldsam und angelegentlich« 479 Vgl. Walter Schirmer: Antike, Renaissance und Puritanismus. Eine Studie zur englischen Literaturgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, 2. ergänzte Auflage, München: Hueber 1933. 480 Alessandra Petrina: Cultural Politics in Fifteenth-Century England. The Case of Humphrey, Duke of Gloucester, Leiden: Brill 2004, S. 27. Gemeint ist hier: Walter Schirmer: Der englische Frühhumanismus. Ein Beitrag zur englischen Literaturgeschichte des 15. Jahrhunderts, Leipzig: Tauchnitz 1931. 481 Vgl. Karl Heinz Göller: Schirmer, Walter Franz, in: Neue Deutsche Biographie, URL: https:// www.deutsche-biographie.de/pnd11875517X.html#ndbcontent (Zugriff: 2. 8. 2021).
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Hauptwerke der Weltliteratur: Venice Preserved
(4v), so konnte er im besagten Kapitel gelesen haben, dass sich »die Spannung zwischen Religion und Kunst verschärft« habe, was sich besonders »im Verhalten der protestantischen Kirche weltlich-schöngeistiger Literatur gegenüber« erkennen lasse.482 Die schon bei Cornforth angewandte Praxis des reduzierendpointierenden Exzerpierens feiert auch hier fröhliche Urstände. Schirmer konstatiert einleitend den Kontrast zwischen katholischer und reformierter Kirche, indem erstere »zwar nicht den Laien die Beschäftigung mit unanstössiger weltlicher Literatur prinzipiell untersagte, […] jedoch die Geistlichen in vielen Hinsichten band«.483 Während die »katholische Kirche […] nur den Geistlichen Vorschriften« gemacht habe, so Johnson, habe sie »der Gemeinde Unanstössiges frei[gestellt]« (4v). Auf Seiten der Protestanten sieht Schirmer hingegen nicht nur »die weissgetünchten Wände kalvinischer Kirchen« als Ausdruck zunehmender »Spannung zwischen Religion und Kunst« realisiert, sondern darüber hinaus auch das »reformatorische[] Bestreben, die breite Masse des Volkes zu aktiver Mitarbeit zu zwingen«.484 Johnson fasst die seelische und sinnliche Selbstkasteiung dieser Dogmatik wie folgt zusammen: »Die Kalvinisten liessen nicht nur ihre Kirchen weiss tünchen, sie zogen auch die ganze Gemeinde dazu heran die Reinheit reformatorischer Bestrebungen wahren zu helfen« (4v). Das hatte erhebliche, konkrete Konsequenzen, wie Johnson feststellt, indem nämlich »jedermann bei jedermann nachprüfte ob [er; AK] die biblischen Anordnungen befolgte« (4v–5r). Schirmer hatte eben darauf hingewiesen, dass es hier »um allgemeinverbindliche Verordnungen der Bibel« gegangen sei, »die jedermann sowohl nachprüfen wie befolgen muss.«485 Dieses Prinzip dürfte Johnson vertraut gewesen sein, hatte er doch bereits in seiner Güstrower Schulzeit wie auch an der Universität Rostock entsprechende Maßregeln kennengelernt. Staat und Gesellschaftsdoktrin der DDR waren darauf ausgelegt, dass sich der Einzelne politisch-ideologisch in ausgestellt affirmativer Weise zu verhalten habe – Verstöße dagegen zu melden, wurde von diesem System überdies belohnt. Aus heutiger Perspektive zeugt das Heer der sogenannten Inoffiziellen Mitarbeiter von der staatlichen Erwünschtheit gegenseitiger Bespitzelung und Denunziation zu einem vermeintlich ›höheren Zweck‹. Johnson resümiert, dieses Mal ohne konkrete Vorlage bei Schirmer, diese Form der Sozialkontrolle habe »zur Heftigkeit des puritanischen Theater- und Literaturkampfes« (5r) beigetragen. Eine ähnliche Formulierung ist bei Schirmer zu finden, wenn er von der »Heftigkeit der puritanischen Angriffe« spricht;486 damit sind bei ihm allerdings Attacken gegen
482 483 484 485 486
Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 196. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 196. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 196. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 196. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 182.
Quellenarbeit 2: Antike, Renaissance und Puritanismus
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antike Vorbilder in der Kunst gemeint – er diskutiert sie in seinem Buch bereits zwei Kapitel zuvor. Nach seiner Skizze des grundlegenden Konfliktfeldes orientiert der Referent sein Publikum über den nächsten Schritt seines Vortrags: »Zunächst zur Literatur« (5r). Dafür benennt Johnson als erstes die »Grundvorschrift des puritanischen Verhaltens« – »der siebente Vers im vierten Kapitel des ersten Timotheus-Briefes«, den er sogleich auch zitiert: »but refuse profane and old wiues fables, and exercise thy selfe rather vnto godlinesse« (5r). Er übernimmt dieses Bibelzitat penibel zeichengenau von Schirmer, der es als einen »Grundgedanken der Reformation« in der speziellen puritanischen Lesart als »unzweideutige Verurteilung der weltlichen Literatur« präsentiert.487 Schirmer stellt seinem Zitat die Information »Authorized version« voran, womit er als Quelle die King James Bible angibt, deren Usus entweder mit diesem Zusatz oder nur durch ihn gekennzeichnet wird. Durch den Wort- und Zeichenbestand wird zudem nahegelegt, dass es sich um eine sehr frühe Ausgabe handeln muss. Der Einsatz von ›u‹ statt ›v‹ innerhalb eines Wortes (»wiues«) wie auch von ›v‹ statt ›u‹ am Wortanfang (»vnto«) sind klare Indizien für deren Historizität, wie auch die getrennte Schreibung von »thy selfe« und das nachgestellte ›e‹ in »godlinesse«. Johnson notiert sich am Rande seines Manuskripts Schirmers Quelle, »authorized version«, und schreibt sich dazu die Übersetzung nach »Luther: der ungeistlichen aber und altvettelischen Fabeln entschlage dich; übe dich selbst aber an der Gottseligkeit« (5r). Dafür musste er nicht selbst beim Wittenberger Reformator nachschlagen, denn Schirmer hat ihm auch die Übersetzung geliefert, die so nur noch wort- und zeichengenau abzuschreiben war.488 Für das Zitieren aus zweiter Hand kann somit festgestellt werden, dass Johnson Schirmer genauer exzerpiert, als er es mit Cornforth tat. Seine Erläuterung der puritanischen Lesart dieses Bibelverses, dem zufolge alles »Fabelhafte […] also grundsätzlich unanständig« sei, hingegen als »gefällig […] nur Dichtwerke« gelten könnten, »die inspirierte Wahrheit vermitteln« (5r), vermochte Johnson so einesteils aus der Übersetzung Luthers zu beziehen, zum anderen Teil aus Schirmers weiterführender Erklärung, dass puritanische Dichter sich zur Rechtfertigung ihres Schaffens stets »auf Dichtwerke, denen Inspiriertes zugrunde liegt«, berufen hätten.489 Diese »Negierung der schöpferischen Literatur«, so Schirmer weiter, wurde überdies »noch verschärft dadurch, dass das als Aufgabe der Dichtung hingestellte Lob Gottes nicht einfach in einem Lobpreisen« bestehen durfte, »sondern dass eine tätige Wirksamkeit, ein Praktisch-
487 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 197. 488 Vgl. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 197. 489 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 197.
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Hauptwerke der Weltliteratur: Venice Preserved
Erziehliches, Proselytenmacherei usw.« damit angestrebt werden musste.490 Hier übernimmt Johnson von Schirmer, auch in der vorgegebenen Reihenfolge, formuliert aber eigenständig: »Die Forderung Gott zu loben schliesst in diesem Falle schöpferische Literatur aus« beginnt er, und verdeutlicht Schirmers Steigerung (»noch verschärft«): »und damit nicht genug«, um dann zu erklären, dass es »nicht um Lobpreisen allein« ging, sondern »Dichtung […] die Aufgabe moralpädagogischer Wirksamkeit« gehabt habe (5r). Um diese ›Aufgabe‹ seinem Publikum verständlich zu machen, übersetzt Johnson Schirmers – allgemein negativ konnotierten – Begriff der Proselytenmacherei: »die anwesenden Gläubigen zu befestigen, die noch Ungläubigen zu gewinnen« (5r). Ohne direkte Vorlage resümiert Johnson den Zustand puritanischer Literatur dann eigenständig: »Geduldet war Literatur die Propaganda war« (5r). Bei Schirmer wie Johnson folgt dann die Begründung für dieses dogmatisch motivierte Literaturverständnis. Schirmer führt aus, dass in dieser Lesart »schon Bibel und kalvinische Bibelexegese die intensive Beschäftigung mit weltlicher Literatur« verbieten würden, und somit »eine solche Beschäftigung fragwürdig schien, da sie der der göttlichen Verehrung zu widmenden Zeit Abbruch tat und also nutzlos vergeudet wurde.«491 Johnson folgt hier in der Sache, strafft lediglich die Aussage, indem er pointiert: »die Zeit die aufgewandt wurde für dichterische Leistungen galt als zweckentfremdet, der Verehrung Gottes entzogen« (5r). Um das zu illustrieren, weist er darauf hin, dass Literatur seinerzeit in England pejorativ konnotiert als »idle talk superfluity vain ostentation« (5r) gegolten habe. An den Rand notiert er sich dazu schlicht: »übersetzen« (5r), und zeigt sich damit an dieser Stelle sicherer im Englischen als zuvor bei der Übersetzung der Hobbes’schen Begriffe der »seemings oder fancies oder apparitions« (vgl. 2v und hier: S. 145f.), die er sich noch zusätzlich deutsch vermerkte. Seine Beispiele hat Johnson bei Schirmer gefunden, der erklärt, dass aufgrund des puritanischen Primats des Gotteslobs »immer wieder die Bezeichnungen idle talk, superfluities, vain ostentation auf die Literatur angewendet« worden seien.492 Diese Haltung, so Schirmer weiter, »begünstigte nüchterne Zweckmässigkeit und wandte sich gegen die schöne Literatur«, sodass selbst »unter den Dichtern« keine Literatur befürwortet wurde, »die nicht vor allem belehrend war«.493 Johnson reduziert wiederum auf das Wesentliche, derlei »Zweckmässigkeit lässt keine schöne Literatur gelten, nur belehrende« (5r). Als ostentatives Leitmotiv eines solchen künstlerischen Schaffens zitiert er dann: »art is good, 490 491 492 493
Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 197. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 198. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 198 [Hervorh. im Original]. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 198.
Quellenarbeit 2: Antike, Renaissance und Puritanismus
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where it is beneficial« (5r). Zwar markiert er mittels Anführungszeichen dieses Zitat als solches, benennt aber nicht dessen Herkunft, lediglich der Hinweis »übersetzen« (5r) findet sich als Nebentext hier am Rande seines Manuskripts. Schirmer ist da gründlicher, indem er »Penns Diktum: Art is good, where it is beneficial«494 mit Fußnote und Quelle versieht, womit der Schriftsteller, auch Quäker und Gründer des nach seinem Vater benannten Pennsylvania, William Penn als Urheber deutlich wird. Diesem Kunstverständnis folgend, so Johnson weiter, »fühlt sich der puritanische Dichter gar nicht als Dichter, sondern als Lehrer, und Instrument Gottes« (5r). Um das zu erfahren, musste der Student zweimal umblättern, um so Schirmers tiefergehende Erläuterung zum Konflikt zwischen Puritanismus und Literatur in England zu überspringen, und um dann von ihm beinahe wortgleich übernehmen zu können: »der puritanische Dichter fühlt sich nicht als Dichter, sondern konform dem Humanistenideal als Lehrer und in weiterer Steigerung als Instrument Gottes.«495 Einige Zeilen weiter erklärt Schirmer dann, dass diese dichtenden Puritaner folglich »ihr Werk nicht als Kunstwerk eingeschätzt wissen« wollten, und sie überdies sogar »eine deutliche Gleichgültigkeit gegen ästhetische Wertung im engeren Sinn« hegten.496 Johnson variiert die Formulierung und überzeichnet die ›Gleichgültigkeit‹ zu einer ›Unangemessenheit‹ in seiner Charakterisierung des puritanischen Schriftstellers, der wolle schließlich »seine Arbeiten nicht als Kunstwerke betrachtet wissen, jede ästhetische Auffassung ist unangebracht« (5r). Am »deutlichsten«, so Schirmer, habe diese allgemeine ›Anti-Ästhetik‹ der Prediger und Schriftsteller John Bunyan zum Ausdruck gebracht, wenngleich die Auffassung »der Dichtungsgabe als eines göttlichen Geschenks, das ehrfürchtig zu nutzen war und nicht zu unheiligen Zwecken missbraucht werden dürfe« durchaus »gemeinpuritanisch« gewesen sei.497 Sich hier wieder enger an seiner Vorlage entlangbewegend, stellt Johnson fest: »Allgemeine Meinung ist immerhin: die Fähigkeit zu dichten sei ein Geschenk Gottes und sie dürfe nicht zu unheiligen Zwecken missbraucht werden« (5r). Wie diese puritanische Literatur nun konkret gestaltet wurde, darauf geht Johnson anschließend ein:
494 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 199. 495 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 202f. In Neumanns Transkription »fühlt sich der puritanische Dichter gar nicht als Richter, sondern als Lehrer« (Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 39). Dabei fügte sich der »Richter« nicht recht in den Kontext vom Selbstverständnis puritanischer Dichter. Allerdings hat Johnsons, zugegebenermaßen oft schwer zu entziffernde, Handschrift an dieser Stelle recht deutlich »Dichter«. Und mit der offensichtlichen Vorlage Schirmer ist eine weitere Diskussion über die Transkription dieser Textstelle hinfällig. 496 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 203. 497 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 203.
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Der Literatur war nichts weiter erlaubt als die Menschenseele und der Schöpfer, ihr Verhältnis, Gottes Wille und die menschliche Seele, die Erkenntnis des göttlichen Willens durch das einzelne Individuum als in ihm selbst vorhanden und mittelbar tätig: dies war das Thema der Literatur. (5r–v)
Schirmer offenbar gründlich studierend, hatte Johnson nämlich weitergeblättert und konnte bald zur These finden, der zufolge der puritanische Dichter »nichts gelten [lasse] als die Menschenseele und den Schöpfer«.498 Allerdings folgen bei Schirmer dann Ausführungen zur Verwendung von Allegorien sowie weitere literarhistorische Bemerkungen zu puritanischen Schriftstellern. So hieß es für den Studenten erneut zweimal blättern, um den an dieser Stelle notwendigen Aufschluss darüber zu finden, dass »Seele, Gewissen und die Beziehungen des Menschen zu Gott […] Themen der Literatur« geworden seien, entsprechend dem grundsätzlichen »Thema des Puritaners«, das da lautet: »Gottes Wille und die Menschenseele und die Erkennung von Gottes Willen durch die Menschenseele als in dem Einzelindividuum und durch es tätig.«499 Es zeigt sich sodann, dass Johnson die Ausführungen Schirmers zur Allegorie nicht einfach überblättert hatte, sondern sie im Detail zur Kenntnis genommen haben muss. So erläutert Schirmer etwa, dass »die puritanische Wertschätzung« für den mittelalterlichen Dichter William Langland im Wesentlichen darauf beruhte, dass »dessen Allegorik auch nicht das Mindeste mit Symbol und Philosophie zu tun [habe], sondern praktisch-poetisches Mittel [sei], den abstrakten moralischen Gedanken auszusprechen.«500 Allegorien dieser Art waren demnach »die einzige Möglichkeit […], puritanische Gedanken in der Kunst auszusprechen, und allgemeine Begriffe […] dem Gebiet der Prosa zu entrücken«.501 Schirmer sieht darin eine »Fortsetzung Langlands«, nun allerdings basierend »auf der Bibel, deren Gleichnisreden und Bildlichkeit«.502 Aus diesen Versatzstücken stellt sich Johnson seine Charakterisierung puritanischer Literatur zusammen, insbesondere ihrer Verwendung der Allegorie: Da sie damit [dem puritanischen Gebot, in der Kunst nur Gottes Willen und sein Wirken im Individuum darzustellen; AK] irgendwie fertig werden mußte, arbeitete sie mit Allegorik. Einer Allegorik der jedes symbolhafte und philosophische Element durchaus abging, die eben nur Übersetzung sein sollte für den abstrakten moralischen Gedanken. Es war die einzige Möglichkeit puritanische Gedanken anders zu sagen als prosaisch. Die Grundlage solcher poetischen Verklärung war die Bibel, ihre Gleichnisreden und Bildtechnik. Niemals aber durfte diese Allegorik die moralische Wirkung gefährden, durch sinnliche Schönheit. (5v) 498 499 500 501 502
Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 207. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 211. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 207. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 207. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 207.
Quellenarbeit 2: Antike, Renaissance und Puritanismus
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Hierbei stellt der erste Satz eine freie Zusammenfassung von Schirmers Erläuterungen dar, wonach die Allegorie als traditionsreiches Stilmittel den puritanischen Dichtern die Möglichkeit eines sowohl gottgefälligen als auch künstlerischen Ausdrucks geboten habe. Die hier im letzten Satz von Johnson angesprochenen sehr strengen Rahmenbedingungen findet er ebenfalls bei Schirmer, der für die Praxis der puritanischen Allegorie erklärt, es sei ihr nicht gestattet gewesen, »durch die sinnliche Schönheit den Zweck illusorisch« zu machen.503 Diesen »Zweck« solcherart religiösen Utilitarismus’ hatten Autor und Student zuvor bereits identifiziert, mit Johnsons Worten bestand er in »moralpädagogischer Wirksamkeit« (5r). Aus diesem Erkenntnismoment in Johnsons Referat und Gedankenfolge lässt sich sicherlich noch keine Beobachtung für seine eigene spätere Werkstiftung gewinnen, jedenfalls keine zwingende. Jedoch sprechen die kulturelle Evidenz und Relevanz von Gottesbezug, Bibelwissen und Allegorese als Mittel künstlerischen Ausdrucks und Möglichkeit dichterischer (Selbst-)Befreiung von kanonischen Vorgaben der Bibelrezeption (schon in der Frühen Neuzeit) dafür, dass Johnson hier, vielleicht erstmals, Bekanntschaft gemacht haben könnte mit einem fundamental bedeutsamen Verfahren aller großen Kunst: sich ohne ›Einflussangst‹ (Harold Bloom) auf geistesgeschichtlich unverzichtbare und uneinholbare kulturelle Instanzen zu beziehen, sie in das eigene Werk einzubeziehen und sich dabei die Freiheit zu nehmen, sie im Sinne eigener Intentionen neu zu interpretieren. Die Erweiterung des semantischen Raumes, die damit einhergeht, dient nicht nur dem eigenen Werk, sondern auch den Referenztexten, auf die man sich bezogen oder zu beziehen hat. Die dargestellte Bibelpolitik in Ingrid Babendererde dient folglich auch der Auslegung der Bibel in der Moderne, unter dem Vorzeichen totalitär-materialistischer sowie anti-klerikaler Gestaltung von Wirklichkeit, wie sie in der DDR mehr erzwungen als gelebt wurde. Erst der Bibelbezug, der Bezug auf die Verfassung der DDR, selbst auf die Hosen der Eva Mau lassen erkennen, wie jede Form von Gängelung in ihr Gegenteil umschlagen muss. Und je kanonischer ein Text, je strikter seine Auslegungsregeln, desto größer die Versuchung, sich über sie hinwegzusetzen. In seinem beständigen werkstiftenden Bibelbezug geht Johnson dann den produktiveren Weg des ›Gesprächs mit Autoritäten‹, wie sie zum Beispiel auch die New York Times darstellen.504 Nun genügte selbst der puritanischen Literatur nicht nur eine einzige rhetorische Stilfigur. Und so konnte der puritanische Autor laut Schirmer überdies »Kunst geben, indem er entweder die Bibel wiederholt oder paraphrasiert«.505 Der 503 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 211. 504 Vgl. dazu insgesamt Onasch, Hat Gott gar nichts mit zu tun (Anm. 54). 505 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 211.
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literarisch interessierte und über Literatur referierende Student schließt sich dieser Feststellung an, »neben der Allegorik, [sei] die Wiederholung und Paraphrasierung der Bibel überhaupt« ( 5v) eine weitere Möglichkeit künstlerischen Ausdrucks. Dabei wären aber einige Dinge zu beachten. Um sich nicht der »Gefahr unkünstlerischer Wirkung« auszusetzen, galt es zu berücksichtigen, dass »der Stil der Bibel im allgemeinen weder eine Verkürzung noch eine Erweiterung verträgt«.506 – »Die Bibel ist aber ein Buch«, klingt es in Johnsons Worten bald nach einem orthodoxen Manifest, »das mit jeder Verkürzung und Erweiterung seine künstlerische Bedeutung verliert« (5v). War die Bibel in diesem Verständnis also schon selbst ein Objekt der Kunst, so kann Schirmer mit einigem Recht im Anschluss die puritanischen Dichtungen als »Bibelparaphrasen« bezeichnen, bei denen »stets der praktische Zweck […] im Vordergrund steht«, nämlich das Gotteslob, das sich als permanente Bibelrepetition »dem Gedächtnis am unvergesslichsten einprägen« sollte.507 Bereits drei Seiten zuvor hatte er zudem deutlich gemacht, dass »Sinnendinge, Sinnenschönheit« dabei nur »ablenkende Trivialitäten« seien.508 Johnson montiert sich wiederum die kondensierten Informationen in für sich passender Weise, »dass jede Sinnenfreude auch hier unnützliche Ablenkung ist«, und »dass letztlich als wahrhaft erfüllter Zweck der Bibelparaphrasen die Gedächtnisübung für den Leser übrigbleibt« (5v). Zu diesen Gedächtnisübungen gehört an erster Stelle das Terrain der Predigt, als »dem eigentlichen Gebiet der Puritaner«, auf das Johnson jetzt knapp zu sprechen kommt.509 Hier geschieht dann aber etwas Bemerkenswertes. Ist Johnson bislang seinen Quellen weitestgehend gefolgt, hat Daten und Argumente für seinen Vortrag ausgiebig übernommen, so begibt er sich nun in Widerspruch zu Schirmers Ausführungen. Zumindest handelt es sich um eine eigenwillige Interpretation, wenn Johnson sagt: Hinzuweisen ist darauf dass in dieser Zeit der Glaubensstreite die Predigt durchaus als Literaturform geübt wurde. Diese aus der seelsorgerlichen Arbeit herauswachsenden Erörterungen befassen sich naturgemäss mit praktischen Dingen und versuchen auf unverblümte einfache Weise dem Zuhörer und Leser sein Verhältnis mit Gott zu erleuchten. (5v)
Schirmer gesteht zwar durchaus zu, dass »bei den Puritanern die Ablösung von der früheren Form [der Predigt; AK] langsam vor sich«510 gegangen sei (die ›frühere Form‹ meint hier die rhetorisch ausgefeilten Reden der Renaissancepredigt), und überdies habe es sehr wohl Puritaner gegeben, die ihre Predigten 506 507 508 509 510
Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 214. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 215. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 212. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 223. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 223.
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»als literarisches Kunstwerk gedacht und ausgeführt« hätten.511 Auch fanden sich lange noch in ihren Predigten rhetorische Figuren, wie eben etwa die Allegorie. Aber es wird desgleichen ganz klar festgestellt, dass »die puritanischen Geistlichen nicht gleichzeitig Literaten waren«; ihnen galt »die Mahnung ›to be plain‹«, also sich in einfacher, leicht verständlicher Sprache auszudrücken, um so »auch an die ungebildeten Pfarrkinder möglichst gründlich heranzukommen«.512 Somit erscheint es gewagt, »die Predigt durchaus als Literaturform« zu bezeichnen. Schirmer hatte dafür insofern eine Hintertür offengelassen, indem er feststellte, dass »in England die Predigt nicht in gleichem Masse wie in anderen Ländern (Fénelon, Bossuet!) Literatur werden« konnte.513 Das impliziert für die englische Predigt immerhin einen gewissen Spielraum literarischen Sprechens. Womöglich sollte Johnsons Betonung mittels »durchaus«, sofern sie denn ironisch gelesen werden kann, auf die geringere literarische Qualität der puritanischen Rede hindeuten. Um seine Ausführungen über puritanische Literatur zu einem Abschluss zu bringen, resümiert Johnson dann, dass im »allgemeinen […] aber wohl gesagt werden« könne, »dass Puritanism und Literatur sich feindlich gegenüberstehen« (5v) würden. Mit diesem Resümee referiert er auf den Anfang des von ihm hier reichlich exzerpierten Schirmer’schen Kapitels, wo bereits eingangs festgestellt worden war, »dass an sich Kalvinismus und Puritanismus der Literatur feindlich gegenüberstehen« würden.514 Der darauf folgende Befund, der Puritaner verstünde es nicht, »religiöse Überzeugung anders auszudrücken als durch praktische Aktion« (5v), ist dann als Zusammenfassung der dargelegten puritanischpragmatischen Auffassung von Religiosität zu verstehen. Es gäbe jedoch eine Ausnahme, so Johnson, nämlich John Milton. Der Name des berühmten englischen Dichters tauchte zuvor nur in seiner Gliederung auf und dann einmal als Hinweis auf Kommendes in der Einleitung. Und auch hier führt Johnson nichts weiter zu ihm aus, offenbar soll so Neugier beim Publikum geweckt werden, denn zunächst kommt der referierende Student ohne Überleitung zu seinem nächsten Punkt: »Zum Theaterstreit« (6r). Dieser Theaterstreit wird selbstverständlich auch von Schirmer verhandelt. Noch bevor dieser sich der puritanischen Literatur zuwendet, erörtert er als einen Spezialfall das Verhältnis von Puritanismus und Drama. Johnsons Einleitung, der zufolge sich der »Streit des Puritanism um die Bühne« schon »durch das ganze XVI« (6r) Jahrhundert gezogen habe, kann als gerafftes Resultat seiner Lektüre dieses Kapitels gewertet werden. Denn so eindeutig und klar formuliert es 511 512 513 514
Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 224. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 225. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 224. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 197.
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Schirmer nicht, stattdessen zeichnet er recht detailliert die Entwicklung dieses Konflikts nach. Johnson hingegen bleibt seiner Argumentation treu, wenn er feststellt, dass eine »Beruhigung« dieser Auseinandersetzung erst »in der allgemeinen Schliessung der öffentlichen Bühnen unter Cromwell« eingetreten sei, und schließlich »mit der Restauration« ein vorläufiges Ende gefunden habe (6r). Für die Details hält sich Johnson dann aber wieder eng an seine Vorlage. So konstatiert Schirmer, die Haltung des »Puritanertums dem Theater gegenüber« sei »eine grundsätzlich ablehnende« gewesen, und zudem keine auf die Puritaner, England oder auch nur das 17. Jahrhundert beschränkte.515 Vielmehr sei es beim englischen Theaterstreit der Frühen Neuzeit um den künstlerischen Ausdruck des grundlegenden Konfliktpotenzials von Religions- und Lebenspraxis gegangen. Die »Ablehnung des Theaters«, so Johnson, habe ihren Ursprung schon in »den Tagen des Urchristentums« (6r). Damit verkürzt er Schirmers historischen Abriss, der den Anfang dieses Theaterkampfes ebenfalls auf die »Zeit des Urchristentums« datiert, wenngleich er damals noch nicht mit der gleichen »Heftigkeit« (5r) wie im 17. Jahrhundert geführt worden sei. Insgesamt habe es sich »nur um eine neue Welle eines uralten Streites« gehandelt.516 Aus Schirmers Nachzeichnung des ›traditionsreichen‹ Konflikts wählt sich Johnson seinen Fokus und fasst die zentralen Fakten, wieder teils wörtlich übernehmend, für sein Referat zusammen: Man beruft sich zunächst auf Plato, der den Wert des Schauspiels leugnete: einmal weil das Laster zu verlockend sei als dass man es darstellen dürfe zum anderen weil die allein übriggebliebene Tugend keinen dramatischen Konflikt ergeben könne. Plato legte dar das Drama sei eine doppelte Nachahmung, Nachahmung einer unzulänglichen Kopie des göttlichen Ideals, und müsse demzufolge mit Notwendigkeit unter dem Ideal bleiben. (6r)
Es waren also die »Puritaner, die sich auf Plato beriefen«, und Platon, als Philosoph einer Staats- und Verfassungsform wie auch einer Erziehungslehre »bestritt den Wert des Schauspiels« aus verschiedenen Gründen; einerseits, »weil das Laster nicht dargestellt werden könne, ohne Wohlgefallen daran zu erregen«, und ferner, »weil anderseits [sic] die Darstellung der Tugend keinen dramatischen Konflikt ergebe.«517 Platon habe im Schauspiel eine »doppelte Nachahmung, Nachahmung einer fehlerhaften Kopie der göttlichen Idee« gesehen, und als solche müsse »das Drama weit unter dem Ideal bleiben.«518 Neben leichten Begriffsvarianten, Auslassungen und Umstellungen ist die Betonung »mit Notwendigkeit« hier schon Johnsons größter Eingriff in den übernommenen Text. 515 516 517 518
Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 186. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 187. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 187. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 187.
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Ein wenig mehr Eigenleistung steckt dann in seiner Zusammenfassung: »grundsätzlich ausgesuchte Rückhalte ergaben sich aus dem Alten Testament, das kategorisch verbot sich ein Bildnis zu machen« (6r). Schirmer erläutert zum Bilderverbot, dass die Puritaner vertraut waren mit »aus dem alten Testament geholten Belegen«, denen zufolge man es dort »als Götzendienst ansah, das Göttliche und Geistige in die Sphäre der Sinnlichkeit hineinzuziehen (du sollst kein Bildnis machen …!)«,519 was im antiken Drama ja durchaus Usus war. So kann Schirmer denn hinsichtlich der ursprünglichen Konfliktwerdung festhalten, dass »vor allem bei den ersten Christen, […] der Gegensatz unüberbrückbar sich auftun« musste.520 Johnson fasst die jetzt nicht mehr philosophisch, sondern religiös motivierte Kontroverse knapper, gleichwohl immer noch nah an seiner Vorlage: »Heftiger wurde der Gegensatz mit den ersten Christen« (6r). Diese nämlich »sahen in dem Verfall des griechisch-römischen Theaters, der Sittenlosigkeit des Schauspielers, den Zirkus-Spielen, besonders aber im dionysisch-festseligen Rausch des antiken Theaters etwas Gott ganz und gar nicht Gefälliges« (6r). Die Beispiele stammen, bis auf eine Ausnahme, aus Schirmers Buch, worin »der Verfall des Theaters« beispielsweise an der »Sittenlosigkeit […] des Schauspielers« festgemacht wird: »die Pantomimen und Zirkusspiele – all das mag die Theaterfeindschaft der ersten Christen verstärken und teilweise erklären«.521 Den von Johnson angeführten »dionysischfestseligen Rausch« findet man so allerdings nicht in seiner Quelle, wiewohl Schirmer freilich auf den antiken »Dionysos-Kult«522 wie auch die »heidnische Festlust«523 hinweist. Daran anschließend resümiert Schirmer knapp die jahrhundertelange Auseinandersetzung mit dem »heidnisch orientierten Theater«, er spricht von einer »umfangreichen literarischen Fehde seitens der Kirchenväter«, benennt auch einige Vertreter mit ihren Schriften, die schließlich vom Reformator Johannes Calvin und in der Folge auch von den Puritanern aufgegriffen wurden.524 Für sein Referat bedarf Johnson dieser Einzelheiten nicht, ihm genügt es, dass »ein umfangreiches polemisches Schrifttum« vorlag, »das dann im englischen Streit dankbar und bedenkenlos exzerpiert wurde« (6r). So leitet er über und zurück in die Gegenwart des englischen 16. und 17. Jahrhunderts. Schirmer sieht in der Reformation und ihren Folgen »eine Umwälzung, die dem ersten Auftreten des Christentums vergleichbar ist«, in beiden Fällen sei »das Eingreifen der weltlichen Gewalt von entscheidender Bedeutung« gewe519 520 521 522 523 524
Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 187. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 187. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 187f. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 187. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 188. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 188.
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sen.525 Im puritanischen Theaterstreit standen sich nun abermals zwei ›weltliche‹ Kräfte gegenüber, und zwar ganz konkret »der Magistrat von London und der Hof«,526 wie Schirmer es ausdrückt, woraus bei Johnson dann ein »Gegenüber zweier gesellschaftlicher Kräfte« wird, nämlich »des königlichen Hofes und des Magistrats von London« (6r–v). Dieser begriffliche ›Übergang‹ verdankt sich ohne Zweifel der stehenden Rede von den ›gesellschaftlichen Verhältnissen‹, die in marxistischer Manier zum Kräftemessen von Adel und Bourgeoisie führen mussten. Das Nachsehen dabei hatte der – sozial nicht abgesicherte – Stand der Schauspieler und Schausteller, der der Genehmigung des Magistrats bedurfte, um ›spielen‹ und gastieren zu dürfen. Seitens des Hofes bestand die Forderung, »die Schauspieler müssten spielen dürfen, als Proben, um vor der Königin spielen zu können«, und da überdies »die Truppe nicht von dem Hof erhalten werden« konnte, »musste die Stadt Aufführungen erlauben.«527 Johnson fasst lakonisch zusammen: »Der Hof schützte das Theater, der Königin wegen. Allein aber konnte er die Kosten dafür nicht tragen, also musste die Stadt Aufführungen zulassen« (6v). Die »Argumente des Magistrats« liefert Schirmer, als da wären »die Befürchtung der Feuersgefahr, die Verkehrsstörungen, die Ausbreitung der Pest usw., dann waren es die puritanischen Gefühle, die ihn bewegten«, und darüber hinaus auch »das Bewusstsein der wachsenden bürgerlichen Gewalt, die dem Hof eine Machtprobe leistete.«528 Wie schon zuvor, verkürzt Johnson solche Beispiele auf das Wesentliche, so auch hier: der Magistrat habe sich gewehrt, »sprach von Feuersgefahr Verkehrsstörungen Pestverbreitung – er sprach nicht von seinen puritanischen Hintergedanken«, und auch »das Bewusstsein […] dass sich hierbei Adel und Bürgertum eine Kraftprobe lieferten«, fehlt in seiner Aufzählung nicht (6v). Die von Johnson nebenher erwähnte Vermittlerrolle Elisabeths I. zwischen dem erstarkenden »Kapital und dem missgünstig-hochnäsigen Adel« (6v) ist so allerdings nicht in seiner Quelle belegbar. Und so steht hier zu vermuten, dass Johnson entweder in bemerkenswerter Weise in der Lage war, aus Schirmers vagen Hinweisen eine solch klare Aussage abzuleiten – oder aber er verfügte über eine intime Kenntnis des Elisabethanischen Zeitalters, was in Anbetracht seiner bisherigen Arbeitsweise jedoch wenig wahrscheinlich ist. Gleich darauf ist Johnson dann wieder bei Schirmer, wenn er davon berichtet, dass »das Theater der Stadtgerichtsbarkeit entzogen« worden sei, woraufhin die »Magistratserlässe […] Ähnlichkeit« bekamen »mit den unzähligen Pamphleten die in dieser Zeit verbreitet wurden« (6v). Sowohl die historische Tatsache wie auch den Textsor525 526 527 528
Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 190. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 190. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 190f. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 191.
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tenvergleich von Erlass und Pamphlet fand Johnson bei Schirmer, dort freilich wiederum etwas ausführlicher dargelegt. So führte nämlich eine »Verordnung von 1574«, die besagte, »dass das Theater der Lizenz des Stadtrats bedürfe«, »zum Bau der Theater […] auf einer Stelle, die der Stadtgerichtsbarkeit entzogen war«; in der Konsequenz, so Schirmer weiter, »wirkten die städtischen Erlasse mehr in der Art der Pamphletisten«.529 Wie Johnson dann aber behaupten kann, dass die meisten Pamphlete in diesem Theaterstreit »anonym« erschienen seien, lässt sich zumindest mit Schirmers Buch nicht erhärten, im Gegenteil. Schirmer liefert sogar eine tabellarische Auflistung der »wichtigsten […] in diesem Streit veröffentlichten Schriften und Gegenschriften«, inklusive Verfassernamen, Titeln und Erscheinungsjahren; seine Auflistung enthält insgesamt 19 Einzelschriften, und nur zwei von ihnen sind ohne Nennung des Autors.530 Mit dieser fragwürdigen Behauptung ist Johnson unterdessen nun schon im Resümee seines Berichts über den puritanischen Theaterstreit angelangt. Er verweist zusammenfassend nochmals auf die »erwähnten alttestamentarischen und platonischen Ausstellungen sowie die Argumente der Kirchenväter«, wie auch auf die grundlegende »Besorgnis das Theater sei eine gefährliche Konkurrenz für die Kirche« (6v). Einen ebenso spannenden wie rätselhaften Fall seiner abschließenden Ausführungen stellt das von Johnson angeführte ›englische Zitat‹ dar, das die puritanische Haltung zum Drama exemplarisch illustrieren soll: »It is lawful if only read« (6v). Johnson gibt dafür weder Verfasser noch Quelle an, doch notiert er am Rande seines Manuskripts einmal mehr die Anweisung an sich selbst: »übersetzen« (6v). Dadurch wird die Angelegenheit aber nur noch kurioser, denn dieser Satz findet sich nicht bei Schirmer, und er konnte in dieser Form auch sonst nirgendwo nachgewiesen werden. Was sich hingegen in Johnsons bisheriger Vorlage sehr wohl findet, und zwar am Anfang des Kapitels über Puritanismus und Drama, ist die in indirekter Rede wiedergegebene Quintessenz der damaligen »grossen Streitschriften«, der zufolge »nämlich das Drama erlaubt (lawful) sei, sofern es nur gelesen werde«.531 Es darf daraus gefolgert werden, dass sich der Referent hier womöglich per Mimesis einen für seine Zwecke sehr passenden ›Originalton‹ geschaffen hat, der dem Anschein nach dem Kontext des behandelten Themas entstammt. Seine Markierung »übersetzen« zeigt überdies an, dass er das fingierte als ein originäres Zitat behandelt hat, womit sich der treffende Satz diskret in die Debatte einschreibt. Für eine wissenschaftliche Arbeit, und sei es auch ›nur‹ ein studentisches Seminarreferat, das wissenschaftliche Methoden ja gerade einüben soll, ist das ein heikles Vorgehen: Hat der 529 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 191. 530 Vgl. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 191f., Zitat: S. 191. 531 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 184.
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Student Uwe Johnson hier gemogelt? Zu seiner ›Ehrenrettung‹ sei gesagt, dass an dieser Stelle einer weitere, (noch) nicht identifizierte Quelle nicht auszuschließen ist; zumal der Hinweis »sagt man« (6v) eine Vorlage andeutet. Wer jedoch Johnsons Vorgehensweise als Vorausdeutung auf die spätere Autorschaft wertet, mag in der schlichten Effizienz des Resultats bereits den künftigen Schriftsteller von Rang erkennen. Als eine Paraphrase Schirmers schließt sich an dieses vermeintliche Zitat Johnsons Wertung an: »Aber das ist eine ziemlich mürrische Lizenz« (6v). Schirmer, der die puritanische Rechtmäßigkeit des Lesedramas erklärt hat, führt sodann weiter aus: Dieses »Lob ist schwach und nur mit Widerstreben wird etwas gestattet, das man ohne Bedauern vom Erdboden hätte verschwinden sehen.«532 Eine solche Haltung ist mit »mürrisch« wohl treffend – wenn auch recht salopp – charakterisiert. Vielleicht aber bezieht sich diese Morosität auch auf die Gleichgültigkeit, die aus ihr folgt – und die sich in fingierten Zitaten Luft verschafft. Tatsächlich zusammenfassenden Charakter hat dann Johnsons Feststellung, es hätten »die vielfachen und vorsichtigen Vorschriften über Wahl und Behandlung der Gegenstände weniger Lustdramen entstehen lassen als religiöse Erbauungsbücher« (6v). Schirmer referiert die puritanische Haltung zum Theater eingangs seines Kapitel im Wesentlichen mit Bezug auf William Prynne, den einflussreichen Schriftsteller, der die puritanischen Einwände gegen das Theater pointiert zusammenfasste. Im Ergebnis seiner Argumentation gegen das seit der Antike tradierte Drama und vor allem dessen Aufführung in Theatern, bleibt bestenfalls noch die nur zu lesende Form übrig, die »eine Art religiösen Erbauungsbuches sein müsse.«533 Abschließend wiederholt Johnson noch das historische Faktum, dass zur Zeit des Commonwealth keine öffentlichen Theater gestattet waren, und beendet so den zweiten Unterpunkt seines Referats. Er legt Schirmers Studie zu Antike, Renaissance und Puritanismus beiseite und wendet sich seinem nächsten Thema zu. Es folgt eine ausführliche Biographie John Miltons mit eigener Fokussierung auf Paradise Lost.
532 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 184. 533 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 185.
Quellenarbeit 3: John Milton und Paradise Lost
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Quellenarbeit 3: John Milton und Paradise Lost
Nachdem Johnson bis hierhin ein umfangreiches Panorama Englands im 16. und 17. Jahrhundert entworfen hat, das teils detaillierte Einblicke in Philosophie und Wissenschaftsgeschichte, aber auch in Ökonomie, Soziologie und Kultur dieses historischen Raums gewährt hat, wendet er sich nun ausführlich einem konkreten Autor mit einem konkreten Werk zu. Es ist aber keineswegs der Autor, über den zu sprechen er beauftragt worden ist. Johnson referiert stattdessen das Leben John Miltons, den er bereits einleitend mit seinem Zwischentitel als Puritaner vorstellt.
7.4.1 Eine Biographie John Miltons Rein äußerlich ist an diesem Teil des Referats schon bemerkenswert, dass Miltons Leben ausgedehnter geschildert wird als das Thomas Otways, seines eigentlichen Gegenstands, rund 280 Wörter mehr werden ihm gewidmet. Noch erstaunlicher ist sodann, dass Johnson über Milton spricht, ohne dabei deutlich zu machen, warum er das tut. Er gibt keinerlei Begründung oder Kontextualisierung mit Otway und dessen Werk, sodass im Referat diese beiden Autoren, abgesehen von ihrer schriftstellerischen Tätigkeit in der gleichen historischen Epoche, in keiner Beziehung zueinander stehen. Der gleiche Befund gilt im Übrigen auch für Johnsons anschließende Vorstellung von Paradise Lost. Vermuten ließe sich, dass Johnson Milton als Kontrast zu Otway darstellen will, sowohl anhand beider Biographien als auch ihrer Werke. In einer solchen Lesart stünde auf der einen Seite der Puritaner Milton, der sich für eine demokratische Gesellschaft mit puritanischem Gemeindemodell einsetzte – die in der historischen Realität dann freilich in einer Diktatur unter Lordprotektor Oliver Cromwell endete –, mit einem religiös inspirierten epischen Gedicht, das diese sozialen und religiösen Werte vermitteln sollte. Demgegenüber fände sich Otway, den es als Sohn eines Geistlichen zur Aristokratie drängte, die ihn aber nicht annahm, und der als »strikter Royalist« mit Venice Preserved 1682 – Karl II. bemühte sich gerade um die Restauration königlicher Herrschaft – ein Drama lieferte, das einen »beispiellosen Erfolg […] bei der triumphierenden Hofpartei« feierte.534 Johnson stellt keine wie auch immer gearteten direkten literarischen Vergleiche zwischen Paradise Lost und Venice Preserved an. Sehr wohl weist er aber auf die jeweiligen religiösen, vor allem aber politischen Implikationen hin. So »wünschte Milton«, erläutert Johnson, »als Lehrer seiner Nation zu gelten, die 534 Klingler, Die künstlerische Entwicklung in den Tragödien Thomas Otways (Anm. 316), S. 158.
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das Königreich Gottes und die puritanische Demokratie tatsächlich verwirklichte« (10r). Wohingegen es sich bei Venice Preserved nach seiner Auffassung um »das Drama eines Bürgers« handelt, »der meinte Royalist zu sein« (18v). Eine derartige, kaum literarische, vielmehr politisch-gesellschaftliche Betrachtungsweise legt die Vermutung nahe, dass sich Johnsons Referat, bei aller ›weltliterarischen Freiheit‹ des Themas im Seminar Hans Mayers, innerhalb der marxistisch-leninistisch präjudizierten Interpretationsschemata eines historischen Materialismus bewegt, der literarische Entwicklungen nur als Ausdruck gesellschaftlicher Prozesse deuten kann und will. Diese erkenntnisleitende These soll in der weiteren Betrachtung von Johnsons Referat berücksichtigt werden, insbesondere, da Johnsons literarisch-biographische Erörterungen nun zunächst mit Milton beginnen, den er als einen Verteidiger einer »revolutionären Bewegung« (8r) bezeichnet. Die quellennahe Arbeitsweise des Referenten wurde für die vorangegangenen Teile seines Vortrags bereits offengelegt, es folgt die Quelle seiner Biographie Miltons. Johnson weist auf einen Gastvortrag eines gewissen Professors Luther der Universität Budapest hin, den er »berücksichtige« (7r). Tatsächlich sagt er damit nur, dass er das Faktum beachtet, dass besagter Professor mit dem auffälligen Namen einen Vortrag mit dem Thema »Milton: A Bourgeois Revolutionary« gehalten habe, zu dem die Teilnehmer seines Seminars eine »dringliche Einladung« bekommen hätten (7r). Da weder dieser Professor noch sein Vortrag in Leipzig dokumentiert sind, soll ein Vergleich mit der nachweislichen und verfügbaren Quelle Johnsons, nämlich erneut Chambers’ Cyclopaedia of English Literature, dabei helfen, den tatsächlichen Einfluss des Gastvortrags auf Johnsons Referat abzuschätzen. Johnson ist wahrscheinlich bei diesem Vortrag zugegen gewesen, zweimal weist er auf dort referierte Sachverhalte aus dem Leben Miltons explizit hin. Johnson beginnt seine Rekapitulation von Miltons Biographie mit Richard Milton, dem Großvater. Dieser war »ein Katholik«, der »trotz zweier hoher Geldstrafen« seiner Konfession treu geblieben sei (7r). Da Johnson bereits zuvor auf den schwierigen Stand der katholischen Kirche im England jener Zeit hingewiesen hatte, muss er hier auf den Hintergrund dieser Bestrafung nicht weiter eingehen, zumal es ja noch um den Großvater geht. In gleicher Weise beginnt Chambers’ Artikel mit Miltons Großvater. Nachdem dort einleitend noch allgemein Miltons große Bedeutung für die englische Poesie betont und sein Geburtsort und -datum genannt werden, heißt es anschließend über seine Familie: »His grandfather was Richard Milton […], a zealous Catholic, who in the year 1601 was twice fined £ 60 for absenting himself from the parish church and
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refusing to conform.«535 Die Details der ausgesprochenen Strafen sind für Johnson nicht relevant, allein der Umstand eines offenbar glaubensfesten, vielleicht etwas starrsinnigen Altvorderen ist als biographische Information erheblich. Die Relevanz dieser Fakten ergibt sich sogleich im Anschluss, als es um Miltons Vater geht: »Der Vater John Miltons, des vorigen Sohn, wurde ein Protestant. Er wurde enterbt« (7r). Die auffällige Betonung der männlichen Erblinie ist hier keine eigene Schwerpunktsetzung, Johnson hat sie aus Chambers’ Artikel übernommen, dabei lediglich die Reihenfolge geändert und die Perspektive verschoben – statt vom Sohn des Großvaters spricht er vom Vater Miltons und meint damit denselben wie Chambers: »His son John, the poet’s father, became a Protestant, was accordingly disinherited«, was dann zur Folge gehabt habe, dass Miltons Vater »established himself in London as a scrivener, a lawyer who drew contracts and arranged loans.«536 Johnson schmückt den familial-religiösen Konflikt ein wenig aus, indem er behauptet, Miltons Vater habe »sich davon [dem Enterben; AK] ebensowenig überzeugen« (7r) lassen, um dann mit seiner Übersetzung fortzufahren: »er zog von Oxfordshire nach London und testete dort seine Gottgefälligkeit als Advokat und Geldverleiher« (7r). In seiner Charakterisierung von Miltons Elternhaus ist dann zwar noch der Chambers-Artikel als Vorlage erkennbar, doch nimmt sich Johnson bei seiner Übersetzung einige Freiheit heraus, wenn er verkürzend von einem »derart bewusst (halsstarrig) protestantischem Hause« spricht, in das »John Milton geboren« (7r) worden sei. Seine Vorlage war dahingehend ausführlicher: »The father’s firmness under trial and his sufferings for conscience’ sake tinctured the temper of the son, who was a stern, unbending champion of religious freedom«.537 Chambers wie auch Johnson betonen beide damit in markanter Weise die Bedeutung der Religion für Milton. Chambers fährt fort, indem er ein für Miltons Entwicklung wichtiges Verdienst seines Vater herausstellt, »who carefully instructed him in the art, the poet loved music.«538 Auch bei Johnson fehlt die frühe künstlerische Sozialisierung nicht, Milton sei »angehalten« gewesen, »zur Pflege der Musik und zu Interesse für schöne Künste« (7r). Über die Ausbildung des jungen Milton berichtet Johnson weiter, er habe durch seinen Vater die »günstigsten Möglichkeiten geistiger Entwicklung, vom puritanischen Priester als Privatlehrer, über die puritanisch ausgerichtete St. Paul’s School, London, bis zum Christ’s College in Cambridge« erhalten (7r). In dieser Darstellung ist deutlich die Vorlage zu erkennen, denn bei Chambers heißt es ein wenig detaillierter: »The younger Milton was educated with great 535 [Art.] John Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia of English Literature. Vol. I, New Edition by David Patrick, London: W. & R. Chambers 1901, S. 687–711, hier: S. 687. 536 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 687. 537 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 687. 538 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 687.
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care. He had as private tutor a Scottish Presbyterian, Thomas Young, M.A. of St Andrews, and at twelve he was sent to St Paul’s School, London. Thence he removed to Christ’s College, Cambridge, being admitted a pensioner in February 1625.«539 Hier scheint es bei Johnson theologische Grundkenntnisse zu geben, die den presbyterianischen Privatlehrer zu einem Puritaner machten: Als eigene Gruppierung, mit eigenen Vorstellungen über die Glaubenspraxis und die Organisation der Gemeinde, zählten die Presbyterianer durchaus zu den Puritanern. Dieses Wissen mag der Student nachgeschlagen haben. Zu vermuten steht aber gleichermaßen, dass Johnson, der »prägende Jahre im Konfirmandenunterricht und eine Zeit lang wohl auch in der Jungen Gemeinde verbracht hat«,540 über derlei Feinheiten seit seiner Güstrower Jugend Bescheid wusste. Fragwürdig ist es hingegen, die St Paul’s School zu Miltons Zeit als puritanisch zu bezeichnen. Zutreffend ist eher, dass diese Schule, unter der damaligen Leitung von Alexander Gill dem Älteren, »an orthodox and rational Anglican theologian«,541 einer humanistischen Bildung verpflichtet war. Und der junge Milton war hier »exposed to a philosophy of rationalism in matters human and divine.«542 Eine solche, seinerzeit als progressiv-liberal geltende Schulbildung mag ihren Teil zu Miltons späterem, speziellem ›Puritanertum‹ beigetragen haben. Ähnlich indifferent hinsichtlich historischer Details zeigt sich Johnson dann in seinem folgenden Satz, wenn er behauptet, das Christ’s College (an der Universität Cambridge) sei »die theologische Fakultät« (7r). An englischen Universitäten waren und sind die Colleges keineswegs an bestimmte Fächer gebunden, vielmehr bilden sie den Lebens- und Lernraum für die Studenten, während der akademische Unterricht von der Universität organisiert wird. Worauf Johnson hier vermutlich hinauswill, ist die Tatsache, dass Miltons Ausbildung »designed for the Church« war,543 wie Chambers es formuliert. Johnsons Zuspitzungen sollen offenbar das Bild eines streng religiös-puritanisch geprägten Zöglings zeichnen. Bei seinem Vortrag ist Johnson darum bemüht, Miltons Biographie sukzessiv chronologisch nachzuzeichnen. In seiner Quelle ist das nicht so streng der Fall. So berichtet Chambers über Miltons Schul- und Studienzeit weiter:
539 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 687. 540 Rainer Paasch-Beeck: Aus dem Schatten des Güstrower Domes. Uwe Johnsons literarische Auseinandersetzung mit der mecklenburgischen Kirche, in: Johnson-Jahrbuch, 17/2010, S. 83–115, hier: S. 84. 541 Donald Lemen Clark: John Milton at St. Paul’s School. A Study of Ancient Rhetoric in English Renaissance Education, Reprint der Ausgabe New York, NY: Columbia University Press 1948, Hamden, CT: Archon Books 1964, S. 78. 542 Clark, John Milton at St. Paul’s School (Anm. 541), S. 67. Vgl. auch: Rolf Lessenich: Milton, John, in: Metzler Lexikon Englischsprachiger Autorinnen und Autoren, hg. von Eberhard Kreutzer und Ansgar Nünning, Stuttgart: Metzler 2006, S. 402–405, hier besonders: S. 402. 543 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 687.
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in his twenty-first year, he had written his grand Hymn on the Nativity, any one verse of which was sufficient to show that a new master’s hand was touching the lyre of English poetry. It was not by any means his first venture in verse, for Milton ranks along with Cowley and Pope as one of the most precocious of English poets, his versions of two of the Psalms having been produced when he was fifteen years old.544
Naheliegend schließt Johnson übersetzend daraus, dass Milton schon »während dieser Laufbahn«, nämlich in seiner Studienzeit, »ausserordentlich interessiert an der Verfertigung von Gedichten« gewesen sei, sodass er schon »fünfzehnjährig« als Dichter »bekannt« wurde (7r), wobei der Psalm (als ursprünglich alttestamtliches Lied) wiederum auf die geistige Sphäre deutet, in der er sich bewegt. Miltons Nachdichtungen bzw. Bearbeitungen (»versions«) dürften dabei mehr als bloß gefällige Nachschöpfungen gewesen sein, denn es heißt von ihm, dass er »dabei nicht nur eben befriedigende, sondern hervorragende StudienLeistungen« (7r) erzielt habe. Und so bringt Johnson in die chronologisch richtige Reihenfolge, dass Miltons »gelegentlich einer Übung entstandene ›Hymn on the Nativity‹ […] ihn berühmt« gemacht habe, »damals war er 21 Jahre alt« (7r). Um seinen Bericht über das frühe akademische und literarische Leben des englischen Dichters abzuschließen, sagt Johnson dann noch einen Satz zu seinem gesellschaftlichen Leben: »Ausserdem hatte er in Cambridge sich mit der Mehrzahl seiner Studienkollegen ebenso zu streiten, wie sie, konservativ und adlig, ihn höflich anfeindeten« (7r). Auch Chambers weist auf persönliche Reibereien mit Kommilitonen und Betreuern hin, hält sich aber bedeckter: »How far his own temper was the cause of some unpleasant incidents in his college career must be matter of conjecture; but it seems indubitable that he was once chastised in some manner by his tutor, and that he had even to leave the university for a while.«545 So muss vermutet werden, dass Johnsons auf einen ›Klassenkonflikt‹ hinauslaufende Spezifizierung entweder seiner eigenen Interpretation des Lexikonartikels oder den Ausführungen des ungarischen Professors Luther entstammt. Der Aspekt einer dräuenden Relegation von der Universität auf Zeit mag für Johnson mit ein Grund gewesen sein, sich intensiver als nötig mit Milton zu beschäftigen: 321 Jahre später geriet ein angehender Poet ebenfalls in einen ›Glaubenskonflikt‹, wenn man so will, der ihn in Bedrängnis brachte. In Miltons Biographie folgt auf die Jahre seiner Schul- und Studienzeit eine Art mehrjähriger Inkubationsphase, in der er sich umfangreichen Lektüren und weiteren schriftstellerischen Versuchen widmet. Chambers’ Lexikonartikel informiert darüber: In 1632 he left the university, and found a new home with his father, who had retired from business and had purchased a small property at Horton, in Buckinghamshire. 544 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 687 [Hervorh. im Original]. 545 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 687.
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Here he lived nearly six years, studying the classical literatures, and here he wrote L’Allegro, Il Penseroso, Arcades, Comus, and Lycidas.546
Johnson findet hier etwas vorgebildet, was seiner eigenen Inkubationsphase ähnelt – mit dem Unterschied, dass er immatrikulierter Student einer Alma Mater bleibt, während er seine Erfahrungen mit der Jungen Gemeinde, der Universität und der Staatsmacht literarisch verarbeitet. Faszinierend am Vergleich von Vor- und Nachbild ist sicherlich die lange Phase der Resilienz als der Bewältigung eines Konfliktstoffes von großer Tragweite: Es entstehen in dieser Phase nicht nur Studienarbeiten im engeren Sinn und ein Roman, sondern auch Übergangsformen, die als Klammer von Universitätsmilieu und literarischem Leben interpretiert werden müssen. Solch eine Klammer lässt sich sogar anhand einer einzelnen Klausur (»Thema 3«) nachweisen.547 Milton lebte, wie es scheint, mit lebenspraktischer Vernunft, indem er seinen Neigungen folgte und zugleich seine Probleme bewältigte; er nahm sich dafür die Zeit, die er benötigte. Johnson folgte ihm darin, sich der knappen Ressource Zeit ökonomisch zu bedienen, indem er sein Studienziel weiterverfolgte und zugleich seine Autorschaft vorantrieb. Solches Verweilen in der Zeit (»Here he lived nearly six years«) wird nicht als Verschwendung apostrophiert, sondern als gut angelegte Investition ›klassischer‹ Horizonterweiterung und schriftstellerischer Verheißung. Dabei ist es nicht so, dass Milton und Johnson der zeitlichen Sorge und Fürsorge für sich enthoben wären, aber sie nutzen den Ausnahmezustand, der sich ihnen jeweils bietet, zur umfassenden Formung ihrer Persönlichkeit. Wenn Johnson fortfährt, dass Milton, »[g]ründlich versehen mit humanistischer und theologischer Bildung« (7r) die Universität verlassen habe, so erschafft er sich einen Idealtypus. Denn aus den Daten bei Chambers lässt sich zwar auf eine ›theologische Bildung‹ leicht schließen, von einer explizit humanistischen aber ist dort nicht die Rede. Und die St Paul’s School, die einem humanistischen Bildungskonzept durchaus verpflichtet war, hatte er schon zu einer puritanischen Schule verklärt. Johnsons Ausführungen zeugen von einem tiefgehenden Interesse an der Person Milton, und eine nicht dokumentierte Quelle oder auch Professor Luthers nicht dokumentierter Vortrag mögen hier die potenziellen Kandidaten für den Ursprung dieses ›Humanismus‹ sein. Sogleich hält sich Johnson dann aber wieder eng an seine Vorlage: Milton, dergestalt nun gebildet, übersetzt er, verliess […] die Universität, und zog zu seinem Vater aufs Land der die Geschäfte hatte aufgeben können. Hier in Horton, Buckinghamshire, blieb er fast fünf Jahre und las alle Autoren des klassischen Altertums deren er habhaft werden konnte, ausserdem schrieb 546 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 687 [Hervorh. im Original]. 547 Vgl. hier das Kapitel 10 Schriftstellerkongresse und Ingrid Babendererde. Teilhabe am literarischen Diskurs.
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er die Maskenspiele »Arcades« und »Comus«, ein Requiem »Lycidas«, Abhandlungen und kleineres. (7r–v)548
An Johnsons Übertragung fallen einige Dinge auf: Zum einen impliziert seine Wortwahl, laut der Miltons Vater »die Geschäfte hatte aufgeben können«, dass Johnson von dessen wirtschaftlichem Erfolg wusste, was als Folgerung auf der Hand liegen mag. In Chambers’ Artikel ist davon gleichwohl nicht die Rede. Zum anderen ist rätselhaft, weshalb bei Johnson aus Chambers’ »nearly six years« ein Jahr weniger wird, nur »fast fünf Jahre«. Und schließlich fällt auf, dass bei Chambers die Darstellungsform des Maskenspiels fehlt, wohingegen bei Johnson nur drei der in der Vorlage genannten fünf Werke Miltons angeführt werden. Erklären lassen sich diese Auffälligkeiten mit den bei Chambers direkt an das obige Zitat anschließenden Sätzen: »The Arcades formed a portion of a ›mask‹ or masque ›presented‹ to the Countess-Dowager of Derby, at Harefield, near to Horton. Comus, also a masque, was produced at Ludlow Castle in 1634«.549 Erst auf der nächsten Seite von Chambers’ Artikel – Johnson hat bis hierin nur von dessen erster Seite Material übernommen – erfährt dann auch das dritte Stück die nähere Textsortenbestimmung: »Lycidas […] is a monody or elegy«.550 Wie schon bei der Einleitung seines Vortrags über den St. Paul’s Churchyard, und teils auch bei der Verarbeitung der Vorlagen von Schirmer und Cornforth, übersetzt Johnson nicht nur, sondern kondensiert dabei zugleich das ihm relevant Erscheinende. Sein Hinweis, dass Professor Luther Miltons »Zeit der Zurückgezogenheit […] als ein bewusstes Sichvorbereiten auf die Aufgabe: der Dichter Englands zu werden« (7v) gedeutet habe, ist zudem als Beleg für Johnsons Präsenz und innere Beteiligung bei diesem Vortrag zu werten; bei Chambers findet sich keine solche Aussage. Mit seiner bis hierhin mehrfach demonstrierten Methode exzerpiert Johnson das weitere Leben Miltons aus dem Lexikonartikel. Chambers referiert zunächst über die Europareise: »In April 1638 the poet left the paternal roof […] and travelled for fifteen months in France and Italy. In Paris he was introduced to Grotius […] and at Florence he visited Galileo, then a prisoner of the Inquisition.«551 Johnson übersetzt nicht nur, sondern er rechnet auch nach, dass 548 Zu erwähnen ist hier noch, dass Johnson in seinem Manuskript neben diesem Absatz die Jahreszahl 1632 notiert, und zwar genau neben diese Stelle seines Textes: »verliess er die Universität und zog« (7r). Hier nun folgt nach »Universität«, das zuvor an einem Zeilenende steht, ein Komma. Danach, wie nachträglich vor der nächsten Zeile am Rand ergänzt, die Zahl 1632, wiederum von einem Komma gefolgt. So sollte das Jahr offenbar zum eigentlichen Text gehören und nicht eine Randnotiz sein, womit es bei Johnson also hieße: »verliess er die Universität, 1632, und zog« (7r). Damit wird seine Vorlage bei Chambers besser zu erkennen, bei dem es wie oben zitiert heißt: »In 1632 he left the university«. 549 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 687 [Hervorh. im Original]. 550 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 688 [Hervorh. im Original]. 551 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 688.
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15 Monate seit dem April 1638 das Ende der Reise im folgenden Jahr bedeuten müssen: »1638 und 1639 reiste er durch Frankreich und Italien, in Paris wurde er bekannt mit Grotius, in Florenz besuchte er Galileo Galilei, der ihn im Gefängnis empfangen musste wo ihn die Inquisition sich aufhalten liess« (7v). Die Reisebeschreibung erfolgt bei Chambers ausführlicher als bei Johnson, benennt etwa auch Aufenthalte in Genua, Rom und Pisa; Johnson wählt hier hingegen nur zwei Stationen, die an Begegnungen mit prominenten Persönlichkeiten der Zeit geknüpft sind. Ein Zusammentreffen beispielsweise mit Giovanni Battista Manso, einem Bekannten und ersten Biographen des italienischen Dichters Torquato Tasso, übergeht er allerdings.552 Die ›eilige‹ Rückkehr Miltons nach London, angesichts der »ersten Nachrichten aus England […] von der Vorbereitung des Krieges« (7v), entstammt dann offenbar Johnsons eigener Hand, sofern nicht Professor Luther es so berichtet hatte. Für seine Dramaturgie hatte dies den Effekt, das Leben des englischen Dichters mehr erzählend als berichtend referiert zu haben. Johnsons Behauptung, Milton habe »schon vor Beginn des Bürgerkrieges sehr Böses gesagt über die katholische Kirche und ihre Umstände«, wie er dann auch »während der ganzen Revolutionsperiode nur Traktate für die Partei der Puritaner« geschrieben habe (7v), kann dann wieder eindeutig Chambers zugeordnet werden: »Before the commencement of the Civil War he had begun to write against Episcopacy, and he continued during the whole of the ensuing stormy period to devote his pen to the service of his party«.553 Es fällt hier auf, dass Johnson einmal mehr Milton als Puritaner klassifiziert, während seine Quelle zwar dessen religiöse Orientierung hervorhebt, diese aber nicht in gleicher Weise benennt. Auch im nächsten Satz folgt Johnson seiner Vorlage wieder, mit Einschränkungen. So bedeute Miltons politisches Engagement während des englischen Bürgerkriegs »keinen Abschied von der Dichtung, indem man viele seiner Streitschriften eher Dithyramben als Prosa nennen könnte« (7v). Abgesehen von der hier durch Johnson präsupponierten Höherbewertung hymnischer Versdichtung gegenüber der »Prosa«, forciert er damit eine Sicht auf den Dichter, die bei Chambers noch als abzuwägende Frage formuliert war.554 Milton, heißt es dort einerseits, »had taken a long farewell of poetry«, während andererseits dagegengehalten wird, »though it may fairly be argued that many of his arguments are dithyrambs rather than prose tracts«.555 Hier ist zu erkennen, dass Johnsons forsche Hierarchisierung der Textsorten auf seiner verkürzenden Übersetzung der »prose tracts« fußt als der in ungebundener Rede formulierten 552 Vgl. [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 688. 553 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 688. 554 Die Höherbewertung der Poesie gegenüber der Prosa dürfte damals allgemein Konsens gewesen sein, nicht nur in England. 555 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 688.
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Streitschriften. In der Vorlage wird der von Chambers intendierte Unterschied deutlich, indem dort »prose« als determinierendes Attribut für die formal frei verfassten politischen Texte fungiert. Anders als Johnson zielt Chambers mehr auf die grundsätzliche typologische Differenz zwischen Versdichtung einerseits und einer ganz allgemein nicht durch Metrum, Reim usw. gebundenen Textform andererseits. So wird bei ihm zwar auch eine Höherbewertung der Versdichtung gegenüber freier Rede vorgenommen, dabei allerdings die Grenze zur Zweckliteratur deutlicher gezogen, wie Traktate sie darstellen. ›Prosa‹ als literarischkünstlerische Ausdrucksform »erobert seit dem 18. Jh. ihren Platz in der Epik«556 und ist gerade in literaturwissenschaftlichen Kontexten zu einem »Sammel- und Oberbegriff für alle Arten fiktionaler Texte vom Roman bis zu kleinen Erzählformen«557 geworden. Dieser Befund kann im Wesentlichen auch für Johnsons studentische Gegenwart Geltung beanspruchen.558 Die bei Chambers folgenden Details zu einzelnen Streitschriften überspringt Johnson und kommt auf das Privatleben zu sprechen, mit dem es dann auch in der Cyclopaedia weitergeht. Dabei beschränkt sich Johnson auf die Eckdaten von Miltons erster Ehe, lässt Erläuterungen zur Familie der Braut weitestgehend aus, etwa, dass man sich kannte, weil der Brautvater vom Vater des Bräutigams einmal Geld geliehen hatte: »1643 heiratete er eine siebzehnjährige junge Adlige, die erste seiner drei Frauen« (7v). Hieraus lässt sich einmal mehr ersehen, dass Johnson nicht in jedem Falle seiner Vorlage sklavisch folgte. Ist der Anfang so noch bei Chambers zu finden: »In 1643 Milton married Mary, the daughter of […] a cavalier of Oxfordshire«,559 so ist hier schon die Tatsache, dass sie adlig war, eine selbständige Folgerung Johnsons der ›daughter of a cavalier‹. Und um zu erfahren, dass Milton drei Mal verheiratet war, musste Johnson den Lebensabriss wenigstens bis zur Seite 690 geblättert haben. Auf Seite 689 wird – Milton »married Katherine Woodcock« – bereits die zweite Ehe geschlossen, und zwar im »November 1656«, und der folgenden Seite kann er dann entnehmen, dass Milton »had then married a third time.« Aber schon von der ersten Ehefrau ist Bemerkenswertes zu sagen, denn Miltons »Lebens- und Arbeitsgewohnheiten, seine philosophische Würde gefielen ihr nicht« (7v). So nämlich hatte Chambers es dargestellt, »the studious habits and philosophical austerity of the republican 556 [Art.] Prosa, in: Gero von Wilpert: Sachwörterbuch der Literatur, Sonderausgabe der 8., verbesserten und erweiterten Auflage 2001, Stuttgart: Kröner 2013, S. 640f., hier: S. 641. 557 Eckehard Czucka: Prosa, in: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, hg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender, Burkhard Moenninghoff, 3., völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart: Metzler 2007, S. 613f., hier: S. 613. 558 Somit kann Johnsons Verkürzung in die Irre führen, indem sie eine – historisch im 17. Jahrhundert sicherlich gegebene – wertende Opposition von Vers und Prosa in der Gegenwart des Referats für gültig erklärt, obwohl die im Original gemeinte Prosa eine andere ist, als jene vom Studenten Johnson aufgerufene. 559 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 688.
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poet proved so depressing to the cavalier’s daughter«, was dann zur unmittelbaren Folge gehabt habe, »that she left his house on a visit to her parents, and showed no intention of returning.«560 Erst einige Zeilen später allerdings reicht Johnson nach, dass »ihn seine Frau« (7v) bald darauf verließ. Dazwischen reiht er noch eine Bemerkung über Miltons grundsätzliche Haltung zur Ehe ein, nämlich »dass das Gesetz des Moses eine Ehescheidung zulasse ›for unfitness561 or contrariety of mind‹, wenn die Gemüter nicht zueinander passten oder sich gegensätzlich verhielten« (7v). Einmal mehr zitiert Johnson hier ein Zitat aus zweiter Hand, ohne einen Quellenhinweis zu liefern – allein der Kontext verdeutlicht Miltons Provenienz. Er hätte seine Anführungszeichen auch erweitern können, denn er klebt hier wiederum sehr dicht, beinahe wörtlich an seiner Vorlage, in der es heißt, Milton habe in einer entsprechenden Publikation zum Ausdruck gebracht, »that the law of Moses allowed of divorcement for unfitness or contrariety of mind«.562 Nun erst kommt Johnson darauf zu sprechen, dass Milton von seiner ersten Frau verlassen worden sei. Und auch wenn er dabei betont, dies sei »unabhängig« (7v) von Miltons Ansichten über Ehe und Scheidung geschehen, insinuiert die gewählte Abfolge seiner Ausführungen doch die Lesart, Miltons Haltung zur Ehe und die Trennung von seiner Frau würden sich kausal bedingen. Unabhängig vom Privaten, habe diese »Meinung«, »die er des öfteren noch drucken liess und sein Leben lang bewahrte […] ihm viel Verdächtigung und Ungunst […] sogar von puritanischer Seite« eingebracht (7v– 8r). Johnsons Vorlage schimmert auch hier wieder durch seine Übersetzung, so heißt es bei Chambers über Miltons Haltung zur Scheidung: »This dangerous doctrine, which he maintained through life, brought on him much suspicion, dislike, and abhorrence even from his own party.«563 Für den folgenden Einschub, dem zufolge Miltons Frau zu ihm zurückkehrte, »als sie zwanzig Jahre alt war« (8r), kann Johnson nur bedingt auf Chambers zurückgegriffen haben, denn dort wird etwas gröber datiert: »Two years after her desertion […] his wife returned to him repentant.«564 Frau Milton wäre demgemäß bei ihrer Rückkehr erst 19 gewesen – womöglich aber hatte Professor Luther sie in seinem Gastvortrag etwas älter gemacht. Um sich wieder dem Wirken Miltons zuzuwenden, widmet sich Johnson dem Zensurwesen jener Zeit – ein Thema, das ihn lebhaft interessiert haben dürfte
560 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 688. 561 In Neumanns Transkription hat sich ein Fehler eingeschlichen: »unfilness« (Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 43) statt »unfitness«. 562 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 688. 563 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 688. 564 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 688.
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(wie jeden, der in der DDR publizieren wollte).565 Da Milton einigen »Ärger mit der Druckgenehmigung für die Ehescheidungs-Traktate« (8r) gehabt habe, veröffentlichte er 1644 die Areopagitica. Die gleiche Begründung führt auch Chambers an: »it was the proceedings taken against Milton for publishing his views on divorce without the license required by the Parliament that led him to write Areopagitica«.566 Der Einschätzung, wonach dies »the noblest of his prose works« sei, folgt Johnson dahingehend, dass er die Streitschrift zu einem »der bedeutendsten Prosawerke Miltons« (8r) erklärt. Hier ist nun zu fragen, ob Johnson nicht wenigstens die zentralen Themen dieser Streitschrift kannte, denn zum einen ist seine Übersetzung von »the noblest« zu einem »der bedeutendsten Prosawerke« nicht gerade naheliegend übersetzt, zum anderen ist Areopagitica ein auch für Johnsons Gegenwart noch sehr aktueller und brisanter Text. Denn es handelt sich dabei um Miltons Plädoyer gegen die zu seiner Zeit übliche Vorzensur, die einen jeden Text im England des 17. Jahrhunderts betraf und seinen Verfasser noch vor der Veröffentlichung zur Einholung einer Drucklizenz verpflichtete. Aus heutiger Sicht erscheint die Forderung noch moderat: »Milton does not argue against censorship, but only against prepublication censorship«.567 Gleichwohl gilt der englische Dichter damit als Vorreiter einer europäischen Druck- und Pressefreiheit. Unklar bleibt, inwieweit Johnson zu diesem Zeitpunkt schon von dem in der DDR üblichen Druckgenehmigungsverfahren wusste, bei dem ein jedes Buch vor seiner Veröffentlichung, vor allem auch hinsichtlich politischer Zuverlässigkeit, geprüft werden musste. Mit dem Manuskript von Ingrid Babendererde wird er gut ein Jahr nach diesem Referat damit nachweislich Bekanntschaft machen. Einem kompetenten, um Miltons Kampf mit der Zensur wissenden Zuhörer sendet Johnson damit, zumal mit seiner ausgestellt positiven Bewertung, ein Zeichen: Erst dem gut informierten Zeitgenossen wird die aktuelle kulturpolitische Problematik eines vorzensierten Publikationswesens bedeutet. Dozent Hans Mayer war ohne Zweifel ein solcher Intimus des Verlagswesens, er selbst war gelegentlich als Vor-Zensor in der DDR tätig. So fragte er beispielsweise, vom Aufbau-Verlag um ein Gutachten gebeten, ob er »nur prüfen soll[e], ob es sich um eine ideologisch einwandfreie Arbeit handelt«, oder ob er darüber hinaus aufgefordert sei, allgemein etwas zur Qualität des ihm vorgelegten Textes zu sagen.568 565 Neumann markiert den an dieser Stelle in Johnsons Manuskript klar erkennbaren Absatz nicht (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 43). 566 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 688. 567 [Art.] Areopagitica, in: Marshall Grossman: The Seventeenth-Century Literature Handbook, Chichester, West Sussex: Wiley-Blackwell 2011, S. 203–211, hier: S. 205. 568 Hans Mayer an Max Schroeder, 13. 11. 1952, in: Hans Mayer. Briefe 1948–1963, hg. und kommentiert von Mark Lehmstedt, Leipzig: Lehmstedt 2006, S. 140–142, hier: S. 141.
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Als begriffserklärende Glosse vermerkt sich Johnson: »Der Name bezieht569 sich auf den Areopagus des Altertums der die Werke des Protagoras verbrennen liess, wegen Atheism« (8r). Diese für die Seminarteilnehmer gewiss hilfreiche Erklärung stammt ebenfalls aus der Cyclopaedia, die zu diesem Zweck Miltons eigene Deutung des Begriffs liefert: »The Areopagus (Mars Hill) was the court at Athens that dealt with morality and blasphemy; […] ›the books of Protagoras were by the judges of Areopagus commanded to be burnt and himself banished the territory.‹«570 Neben der etymologischen Herleitung des Titels erfolgt hier noch dessen Aktualisierung, denn die Areopagitica kann als Warnung verstanden werden: der Schritt von der Zensur hin zur Verbrennung von Büchern ist nicht mehr allzu groß. Während Johnson weiterblättert, kann hinsichtlich seiner quellennahen Arbeitsweise festgestellt werden: er exzerpiert und übersetzt von der zweiten Seite des Lexikonartikels erkennbar weniger Material als noch von der ersten, die eingehender das Leben als das Werk Miltons behandelt. Die Ausführungen lassen sich nun intensiver auf die politische Laufbahn des englischen Dichters in der Periode des Commonwealth ein.571 Mit einer Ausnahme werden sämtliche bei Chambers aufgeführten Einzelschriften übergangen und auch die Protagonisten des Konflikts um die Hinrichtung Karls I. werden bloß summarisch erwähnt. So finden sich der »celebrated scholar Salmasius, or De Saumaise, a French Protestant« sowie »Du Moulin, son of a famous French Calvinist, and Morus (More), son of a Scottish Protestant professor in France«,572 bei Johnson versammelt als »die moralischen Anwälte des entsetzten Kontinents (Du Moulin Salmasius/de Saumaise More u. a.)« (8r).573 Hebt Chambers aus den vielen Streitschriften »the great Joannis Miltoni Angli pro Populo Anglicano
569 Neumann transkribiert hier unverständlicherweise »bezog« (Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 43). 570 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 688f. 571 Auch diesen Absatzwechsel Johnsons (vgl. 8r) zeigt Neumann nicht an (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 43). 572 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 689. 573 Neumann transkribiert hier »(Du Moulin, Salmatius de Saumaise, More u. a.)«. Johnson hat in seinem Manuskript, wie so oft, die Aufzählung allerdings nicht mit Kommata gegliedert. Die Schreibung »Salmatius de Saumaise« ist zudem irreführend. Hier wird der latinisierte Name des französischen Universalgelehrten Claude de Saumaise, Claudius Salmasius, zum einen falsch wiedergeben, zum anderen wird durch die Kommasetzung Neumanns intendiert, »Salmatius de Saumaise« sei ein Name (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 43). Bei Johnson finden sich zwar keine Kommata, allerdings ein Zeichen zwischen »Salmasius« und »de Saumaise« das als ein Schrägstrich gedeutet werden kann, womit Johnson auf die beiden Namensvarianten hinweist.
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Defensio«574 hervor, so macht Johnson daraus »die beachtlichste dieser Schriften« (8r). Dieser offenbar recht frei und selbständig formulierte Abschnitt sticht zudem durch die Nennung Thomas Hobbes’ aus dem bisherigen Vorgehen hervor. Milton habe das Todesurteil gegen den König als »unanfechtbares Recht der revolutionären Bewegung« (8r) verteidigt, auch gegen Hobbes, »beachteter Philosoph Englands« (8r). Hobbes hier abermals zu erwähnen mag der Vortragsarchitektur dienen, um die schwache Verbindung zwischen den einzelnen Teilen zu stärken. Als Grundlage seiner nächsten Behauptung, Milton sei »der Freund Cromwells« (8r) gewesen, muss Johnson dann wieder Professor Luther oder eine andere Quelle bemüht haben. In der Cyclopaedia findet sich lediglich bestätigt, dass Milton »ein vorzüglicher Latinist« (8r) war: In 1649 Milton, whose skill as a Latinist was especially valuable when diplomatic correspondence was conducted almost wholly in Latin, had been appointed foreign or Latin secretary to the Council of State. […] At first his special duties were the drafting of letters sent by the Council of State to foreign states and princes […].575
Abgesehen von der Freundschaft mit Cromwell, orientiert sich Johnson nun wieder verhältnismäßig dicht an seiner Vorlage: »1649 wurde Milton, weil er […] ein vorzüglicher Latinist war, zum Auslandssekretär für den Staatsrat ernannt, in welcher Eigenschaft er für den, damals lateinisch geführten, internationalen Briefverkehr des Commonwealth mit den anderen Staaten und Potentaten verantwortlich war« (8r). Johnsons Ableitung aus diesen historischen Bedingungen, denen zufolge sich hier »Künstlertum und politische Aktion« als »untrennbar« erwiesen hätten (8r), scheint dann wiederum eigenständig formuliert zu sein. Chambers’ Beispiel, wonach Milton in seiner offiziellen Rolle nicht nur »indignant letters on the massacre of the Vaudois Protestants« verfasst, sondern auch »his private feelings in the sonnet On the late Massacre in Piedmont« zum Ausdruck gebracht habe, mag ihm dabei das Argument geliefert haben.576 Darüber hinaus gehörte die hier behauptete ›Untrennbarkeit‹ von Politik und Kunst gerade in der DDR und besonders in den 1950er Jahren zu den politisch propagierten Lippenbekenntnissen der eingeforderten Staatsraison. So galt es beispielsweise als opportun, »eine Literatur zu schaffen, die eine mächtige Hilfe bei der Lösung der großen Lebensfragen des deutschen Volkes« sein könne.577 574 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 689 [Hervorh. im Original]. Johnson macht beim Abschreiben des Titels einen kleinen Fehler, statt »Anglicano« hat er »Anglico« (8r). 575 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 689. 576 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 689. 577 Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur. Entschließung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auf der Tagung vom 15.–17. März 1951, in: Hans Lauter: Der Kampf gegen den Formalismus
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Zu einer solchen Perspektivierung passt das Bild des aufopferungsvollen Staatsdieners, das Johnson im Anschluss skizziert, denn durch »die unaufhörliche Anstrengung« hätten Miltons »Augen besorglich gelitten«, und seine »letzte Kraft opferte er, wissend was er tat, der Herstellung oben erwähnter Defensio, Ende 1652 war er vollständig blind« (8r). Diese Einschätzung eines sacrificium intellectus (poetae) hat Johnson in der Cyclopaedia vorgefunden: For ten years Milton’s eyesight had been failing, owing to the ›wearisome studies and midnight watchings‹ of his youth. The last remains of it were sacrificed in writing his (first) Defensio; he was willing and proud to make the sacrifice; and by the close of the year 1652 he was totally blind, dark, dark, irrecoverably dark.578
Daraufhin, so behauptet Johnson jedenfalls, seien die »folgenden Werke […] sämtlich im Diktat entstanden, unter Mitarbeit seiner zweiten und dritten Frau« (8r). Miltons zweite Frau, Katherine Woodcock, starb nach nur etwas mehr als einem Jahr Ehe im Februar 1658 im Wochenbett. Sie hatte nicht viel Gelegenheit, Milton bei seiner Arbeit zu helfen. Über seine dritte Ehe mit Elizabeth Minshull gehen die Meinungen auseinander. Zweifellos war Milton nach seiner Erblindung auf Hilfe angewiesen, schon um seine Traktate zu diktieren, wie auch überhaupt sein Leben, mit immerhin drei Töchtern aus erster Ehe, bewältigen zu können. So verfolgte er mit seiner dritten Heirat auch ganz pragmatische Zwecke. In älteren Biographien findet sich noch der Hinweis auf Elizabeths Hilfe: »he then dictated to his wife, or any other person who might be with him capable of acting as his amanuensis.«579 In späteren Biographien liegt der Tenor dann mehr darauf, dass »new lines were dictated to anyone who could write the words.«580 Entscheidend für Johnsons Referat ist nun, dass Chambers’ Artikel weder auf die eine noch die andere Ansicht eingeht, dass darin keinerlei Mitarbeit der Ehefrauen an Miltons Werkstiftung thematisiert wird. Somit ist zu fragen, ob Johnson hier selbst aus der Erblindung und der dritten Hochzeit seine Schlüsse gezogen hat, oder ob vielleicht einmal mehr der Budapester Gastreferent Luther als Quelle gedient haben mag. Johnson selbst konnte auf Elisabeths Hilfe zählen, wenn es darum ging, seine Texte zu verschriftlichen, und es war sein ›Regal‹, Elizabeth und Elisabeth übereinanderzublenden. Ohne Übergang oder Kontextualisierung benennt Johnson dann zwei politische Schriften Miltons, deren Titel er offenbar selbst übersetzt: »1659 veröf-
in Kunst und Literatur, für eine fortschrittliche deutsche Kultur. Entschließung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auf der Tagung vom 15.– 17. März 1951, Berlin: Dietz 1951, S. 148–167, hier: S. 158. 578 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 689. 579 The Life of John Milton, in: The complete poetical works of John Milton. With Life, Edinburgh: Gall & Inglis 1855, S. v–xvi, hier: S. xiv. 580 Anna Beer: Milton. Poet, Pamphleteer and Patriot, London: Bloomsbury 2008, S. 305.
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fentlichte Milton eine Abhandlung über die ›Staatsgewalt in kirchlichen Angelegenheiten‹, ›Betrachtungen über die annehmbarsten Mittel Mietlinge aus dem Kirchenamt zu entfernen‹« (8r). Augenscheinlich ist er hier wiederum eng dem Cyclopaedia-Artikel gefolgt. Denn nachdem dort Miltons Erblindung und seine zweite kurze Ehe behandelt wurden, geht es hier mit eben diesen Schriften weiter: »In 1659 appeared A Treatise of Civil Power in Ecclesiastical Causes, and Considerations touching the likeliest means to remove hirelings out of the Church.«581 Johnsons eigene Titelfindung, und nicht etwa Recherche nach bereits erfolgten Übertragungen ins Deutsche, ist daran zu erkennen, dass bei ihm die insgesamt selten übersetzten Traktate historisch abweichende Titel tragen. So wurde aus A Treatise of Civil Power in Ecclesiastical Causes durch Wilhelm Bernhardi die Abhandlung von der weltlichen Macht in kirchlichen Angelegenheiten, worin nachgewiesen wird, daß keine Macht auf Erden ein Zwangsrecht in Religionssachen hat.582 Die zweite bei Chambers genannte Schrift heißt in der Übersetzung: Betrachtungen in Betreff der besten Mittel Miethlinge aus der Kirche zu entfernen, wobei auch gehandelt wird von Zehnten, Kirchenabgaben und Kircheneinkünften und ob ein Unterhalt der Geistlichen durch ein Gesetz festgestellt werden kann.583 Abgesehen von einer Illustration von Miltons grundsätzlich kirchenkritischer und damit staatskritischer Haltung (das Commonwealth ausgenommen), die Johnson zuvor bereits deutlich gemacht hatte, steht diese Aufzählung in keinem Kontext. Sie steht in Chambers’ Artikel allerdings direkt vor dem politisch gewichtigeren Satz: »In 1660, on the very brink of the Restoration – and the tide was running strongly against all Milton’s ideas of liberty – the eager and fearless poet published The Ready and Easy Way to establish a Free Commonwealth, […] containing a scheme for a perpetual Parliament.«584 Johnson stellt in seiner Übernahme die Reihenfolge um und belässt Teile der Ausführungen, darunter den Titel von Miltons Streitschrift, im englischen Original: Während die Restauration vor der Tür stand und die allgemeine Stimmung sich gegen Miltons Vorschläge richtete, hatte er den Mut zum Druck des »The Ready and Easy Way to Establish a True Commonwealth« in dem er ein Schema der Verwaltung und
581 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 689 [Hervorh. im Original]. 582 Vgl. John Milton: Abhandlung von der weltlichen Macht in kirchlichen Angelegenheiten, worin nachgewiesen wird, daß keine Macht auf Erden ein Zwangsrecht in Religionssachen hat, in: ders., Politische Hauptschriften. Uebersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. Wilhelm Bernhardi, Bd. I, Berlin: Koschny 1874, S. 1–27. 583 Vgl. John Milton: Betrachtungen in Betreff der besten Mittel Miethlinge aus der Kirche zu entfernen, wobei auch gehandelt wird von Zehnten, Kirchenabgaben und Kircheneinkünften und ob ein Unterhalt der Geistlichen durch ein Gesetz festgestellt werden kann, in: ders., Politische Hauptschriften. Uebersetzt und mit Anmerkungen versehen von Dr. Wilhelm Bernhardi, Bd. III, Leipzig: Koschny 1879, S. 127–164. 584 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 689 [Hervorh. im Original].
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Regierung ausarbeitete und besteht auf der »inconveniency of readmitting the kingship« (8r–v).
Entgegen seiner vorangegangenen Praxis übersetzt Johnson hier nicht den Titel, sondern vermerkt sich neben dem englischen Original schlicht: »(übersetzen)« (8v). Gleiches gilt für die ›Unannehmlichkeit, das Königtum wieder aufzunehmen‹, woneben er sich als Eigenregie salopp nur »(ebenso)« (8v) notiert. Miltons Titel lautet vollständig: The Ready and Easy Way to Establish a Free Commonwealth, and the Excellence thereof, Compared with the Inconveniencies and Dangers Of readmitting Kingship in this Nation.585 Und so mag Johnsons Verkürzung pragmatisch motiviert sein, oder aber sie ist ein Hinweis darauf, dass er Miltons Traktat nur vermittels Chambers’ Cyclopaedia zur Kenntnis genommen hat, wo der vollständige Titel nicht genannt wird; nebenher mag es ihm auch darum gegangen sein, die ›Unannehmlichkeit, das Königtum wieder aufzunehmen‹ zu betonen. Damit hat Johnson die Biographie Miltons vor allem als das Leben eines politischen Aktivisten gezeichnet. Ungeachtet schwieriger privater Verhältnisse, entgegen Anfeindungen aus den eigenen Reihen, und nicht zuletzt trotz seiner Erblindung sei Milton, auch noch im Angesicht des gescheiterten Commonwealth, für seine republikanisch-demokratischen Ziele eingetreten – gegen aristokratische Herrschaft und Königtum. Um einen englischen Dichter des 17. Jahrhunderts geht es in Johnsons Referat allenfalls am Rande. Literaturgeschichte wird von ihm hier, ganz im Sinne des Marxismus-Leninismus, als eine von Klassenkämpfen durchsetzte Gesellschaftsgeschichte präsentiert. In seinem Kampf gegen die herrschende Klasse taugt Milton in dieser Darstellung als positive Figur: Zu seiner emanzipatorischen Haltung gehört, Johnson macht es durch eigene Wortwahl deutlich, dass er sich über »Staatsgewalt in kirchlichen Angelegenheiten« Gedanken gemacht hatte – und sie nicht so einfach hinzunehmen gedachte. Ob die Frage, warum hier so ausführlich über Milton gesprochen wird, damit aber schon beantwortet ist? Jedenfalls verwundert es kaum, dass Johnson provokant unhistorisch von einer »Konterrevolution« spricht und damit »die Restauration des Königtums« meint (8v). Bei Chambers taucht der Terminus nicht auf. Diese ›Konterrevolution‹ (eigentlich eine Restitution) sei es gewesen, die »Milton sofort von seinen staatlichen Ämtern frei« gesetzt habe, wie sie ihn auch »vertrieb […] aus London« (8v). Hinsichtlich der Fakten bleibt Johnson hier wieder dicht bei Cham585 Vgl. etwa John Milton: The Ready and Easy Way to Establish a Free Commonwealth, and the Excellence thereof, Compared with the Inconveniencies and Dangers Of readmitting Kingship in this Nation, in: The Prose Works of John Milton. Containing His Principal Political and Ecclesiastical Pieces, with New Translations, and an Introduction, by George Burnett, Bd. 2, London: Miller 1809, S. 588–623.
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bers: »The Restoration deprived Milton of his public employment, and drove him into hiding«.586 Er wählt jedoch keine akademisch neutrale Terminologie, sondern einen marxistischen Kampfbegriff, der für die hier zur Rede stehenden Ereignisse ungeeignet ist. Der Zedler formuliert sachgerechter: Milton arbeite auch an einem heroischen Gedicht, das verlohrne Paradies genannt. Hierüber starb Cromwell, und sein Sohn Richard konte die Autorität seines Vaters nicht erhalten, wobey Milton dennoch nicht unterließ, mit Schrifften die democratische Regierungs-Art wider die monarchische zu behaupten. Nachdem aber König Carl II. wiederum in Engelland die Königliche Krone erhielt, mußte sich Milton eine Zeit lang verbergen, bis eine General-Amnestie publiciret wurde […].587
Von einer »Untersuchung gegen« Milton, wie Johnson weiter berichtet, »die unter Umständen zu einem Todesurteil hätte führen sollen«, ist im englischen Lexikon allerdings keine Rede. Dort wird lediglich davon gesprochen, dass Milton »by the interest of his friends – Marvell certainly, and according to a pretty story D’Avenant also – and perhaps partly because his pamphlets showed how little of a practical politician he was, his name was included in the general amnesty.«588 Johnsons verkürzende ›Nachdichtung‹ lautet, Miltons »Freunde (Marvell, d’Avenant)589 erreichten, dass Karl II. Miltons Namen mit auf die Liste der allgemeinen Amnestie setzte« (8v). Johnson spart hier augenfällig eine Kleinigkeit aus, nämlich den Umstand, dass Miltons »pamphlets showed how little of a practical politician he was«. Damit hätte das von ihm zuvor gezeichnete Bild des ›Revolutionärs‹ Milton doch vielleicht Schaden genommen.590 Die folgenden zwei Absätze des Lebensabrisses werden dann relativ eigenständig resümiert, wiewohl sich darin Versatzstücke aus dem Chambers-Artikel wiederfinden lassen. Von Bedeutung ist hier der Hinweis auf Paradise Lost, 586 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 689. 587 [Art.] Milton (Johann), in: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschaften und Künste, Bd. 21: Mi–Mt, Leipzig, Halle: Zedler 1739, Sp. 258–262, hier: Sp. 261. 588 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 689. 589 An dieser Stelle wird die Problematik von Neumanns Transkription augenfällig, statt wie Johnson und Chambers hier d’Avenant (auch Davenant) zu benennen, findet sich bei ihm »d’Armant«, überdies fehlt bei ihm das von Johnson gesetzte Komma vor dem Namen (Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 44). Mit William d’Avenant, einem der prominentesten Theaterdirektoren der Restauration, hätte sich – durch Neumann mehr noch als durch Johnson – eine Verbindung knüpfen lassen zu Thomas Otway. Denn d’Avenant war der Ziehvater von Elizabeth Barry, jener Schauspielerin, für die Otway Rollen schrieb, die in seinen Stücken spielte, und in die er lange tragisch verliebt war (vgl. Tessa Murdoch: Barry, Elizabeth, in: A historical dictionary of British women, rev. ed., London: Europa Publications 2003, S. 35). 590 Vielleicht aber auch nicht: Der Dilettant ist nicht selten sympathischer als der Berufsrevolutionär.
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Miltons Hauptwerk, dem er sich in seinen späten Lebensjahren gewidmet hat. Johnson nimmt es zum Anlass, den englischen Dichter in den Kontext der Aufklärung zu rücken, denn damit habe Milton »der Lehrer seiner Nation« (8v) werden wollen. Um sich auf diese Aufgabe konzentrieren zu können, und gewiss auch aufgrund der neuen politischen Verhältnisse, habe sich Milton »von öffentlicher Teilnahme in weitem Masse« zurückgezogen, berichtet Johnson weiter, und »auch von jeder puritanisch-religiösen Institution löste er sich« (8v). Ganz ähnlich hatte Chambers das spätere Mannesalter dargestellt: »In his later years he was not attached to any religious body, and attended no kind of public worship.«591 Auf die beiden wichtigen Spätwerke, Paradise Regained und Samson Agonistes, weisen Chambers wie auch Johnson selbstverständlich hin. Für die Charakterisierung von Miltons Lebensabend, »er lebte vor sich hin mit Musik und guten Freunden« (8v), greift Johnson dann wieder ausführlicher auf Chambers zurück, Milton »had the solace of music and the attention of friends«.592 Und Johnsons Resümee dieses politischen Schriftstellerlebens ist noch deutlicher mit Hilfe seiner Vorlage verfasst: Milton sei in gleicher Weise ein Kind der Renaissance und des Puritanism, er verteidigte auf der einen Seite leidenschaftlich Schönheit und Freiheit, auf der anderen ordnete er alles rückhaltlos593 den Vorschriften der Bibel unter. Er war durchaus ein Puritaner, aber ein schwieriger für seine Bundesgenossen: er lehnte die Dreieinigkeit ab er wollte eine freie Presse für alle, er kämpfte um die Ehescheidung und sprach sich aus für die Polygamie, und er ging in den letzten Jahren seines Lebens in keine Kirche mehr, enttäuscht von dem Bruch der puritanischen Revolution […]. (8v–9r)
Diese durchaus differenzierende Conclusio entpuppt sich als eine weitere, recht textnahe Übersetzung des Cyclopaedia-Artikels: he was the child at once of the Renaissance and of Puritanism, a passionate lover of beauty and freedom, yet remorseless in seeking to conform all things to the standard of the Bible in its Puritan interpretation. He was vehemently Puritan, and yet what a trying Puritan to his allies! An open repudiator of the doctrine of the Trinity […]; an assertor of the right of free printing of heresies, and so of freethinking itself; a pleader for free divorce; a defender of polygamy, who in his later years went to neither church nor chapel.594
Milton habe »als Politiker und Dichter gedient«, stellt Johnson schließlich fest, und sei somit »a bourgeois revolutionary« (9r). Hier greift der Referent den Gastvortrag Professor Luthers zitierend auf, der unter genau diesem Titel ge591 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 691. 592 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 691. 593 Nicht »zurückhaltlos«, wie Neumann es transkribiert (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 45). 594 [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 691.
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halten wurde. Mit dieser Losung als Schlusswort seines Porträts verdeutlich Johnson sein Anliegen: Denn wiewohl es keine ausgeprägte Milton-Rezeption in der Literaturwissenschaft der DDR gegeben hat, so kann dieser englische Dichter des 17. Jahrhunderts doch schon beinahe als Musterbeispiel eines Autors im Sinne des historisch-dialektischen Materialismus gelten. In ihm findet sich ein Homme de Lettres, der seine Fähigkeiten – wie auch seine Gesundheit – in den Dienst einer guten, revolutionären Sache gestellt hat. Erst als eine ›Konterrevolution‹ ihn ins Privatleben zu emigrieren zwingt, schreibt er sein Opus Magnum, das mit seinem zeichenhaften Titel auch als ein Requiem auf die erkämpfte und wieder untergegangene Republik gelesen werden kann: Das verlorene Paradies. Anlässlich des 350. Geburtstages Miltons 1958 konnte man in der DDR-Presse lesen, dass er vermittels der »beiden Seiten seiner Tätigkeit als Dichter und Staatsmann«, eine »bedeutsame Stellung in der Weltentwicklung« eingenommen habe, indem er »als aktiver Teilnehmer an der bürgerlichen Revolution in England« langfristig »zur Festigung der bürgerlichen Freiheiten, zur Parlamentsherrschaft« und mit dem »Durchbruch zum Kapitalismus schnell auch zu einer wirtschaftlichen Blüte« beigetragen habe.595 Wie diese brachial aktualisierende Ehrung, so ist auch Johnsons Lebensabriss auf die politisch-gesellschaftliche Mission Miltons ausgerichtet. Weder hier noch dort erfährt man etwas über bloße Titelnennungen Hinausgehendes, etwas über den Dichter und sein künstlerisches Werk. Wenn das wissenschaftliche Seminarreferat und ein Zeitungsartikel – zumal von einem Philologen verfasst – in so frappanter Weise den gleichen Schwerpunkt setzen, so ist daran gut der gemeinsame ideologische Nenner abzulesen: Die Bedeutung des Künstlers begründet sich in dieser Lesart in seiner gesellschaftlichen Haltung, sogar auch in entsprechender Agitation. Um Milton in der DDR-Literaturgeschichte zu behandeln, bedurfte es der historisch »passenden gesellschaftlichen Ereignisse«.596 Miltons Verdienste konnten sie liefern, und Johnson so einen ideologisch passenden wie DDR-kritischen Abschnitt seines Referats präsentieren. So mag Johnsons Vortrag über Milton als gutes Beispiel für den literaturwissenschaftlichen Unterricht seiner Zeit gelten, von einer ausgewiesen besonderen Debattierfreiheit in den Seminaren Hans Mayers zeugt er allerdings nicht unbedingt.
595 Leopold Magon: Sucher nach dem verlorenen Paradies. John Milton, Dichter und Staatsmann, in: Neue Zeit, 9. 12. 1958, S. 4. 596 Emmel, Die Freiheit (Anm. 29), S. 98.
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7.4.2 Eine Zusammenfassung von Paradise Lost Entgegen dem Eindruck, der infolge von Neumanns Herausgabe entstanden sein mag, dass die Ausführungen zur Milton-Biographie sozusagen abschließend zu Paradise Lost übergeleitet hätten, macht Johnson hier tatsächlich – wie zuvor bei jeder Teilüberschrift auch – einen klaren Schnitt mit angedeuteter Leerzeile und neuer Überschrift: Paradise Lost (vgl. 9r).597 Damit markiert er seine Inhaltsparaphrase als eigenständigen Gliederungspunkt seines Referats. Ein Zusammenhang mit dem Vorangegangenen ergibt sich hier aus der Tatsache, dass dieser Anfang wiederum deutlich als Chambersparaphrase zu erkennen ist. Beachtenswert ist an dieser Stelle noch, dass sich Johnson hier an den Rand seines Manuskripts notiert: »(4.10h morgens)« (9r). Da sich die Notiz genau auf der Höhe zwischen dem vorangegangenen Abschnitt über Milton und dem nun beginnenden über Paradise Lost befindet, lässt sich nicht eindeutig entscheiden, ob damit ein Abschluss oder ein Anfang markiert werden soll. Aus seiner späteren schriftstellerischen Praxis ist bekannt, dass Johnson sich häufig »Angaben zu Ort und Zeit der Niederschrift« auf seinen Manuskripten vermerkte.598 Somit liegt die Vermutung auf der Hand, dass die frühe Uhrzeit seinen Arbeitsbeginn am Abschnitt über Miltons Werk markiert. Zur Entstehungs- und Publikationsgeschichte führt Chambers’ Cyclopaedia aus, »Paradise Lost, planned long before, was really begun about 1658«.599 Johnson schmückt das »long before« ein wenig aus: »›Paradise Lost‹ dessen erste Konzeptionen weit in die Frühzeit der puritanischen Revolution hineinreichen, wurde tatsächlich 1658 begonnen, 1667 veröffentlicht« (8v). Das Jahr der Veröffentlichung hatte er einige Zeilen später finden können, »published in 1667«.600 Als eigene Leistung kann ihm attestiert werden, dass er gut gerechnet hatte. Chambers informiert nämlich: »In eleven years from the date of its publication 3000 copies had been sold«.601 Johnson addiert diese elf Jahre zum Jahr der Erstveröffentlichung hinzu und kann festhalten: »Bis 1678602 wurden dreitausend Exemplare verkauft« (8v). Nun beginnt Johnson eine »Angabe des Inhalts« von Paradise Lost, die prima facie den Anschein wecken könnte, er habe das Buch gründlich studiert und zusammengefasst, oder mindestens eine gute Zusammenfassung in der Sekun597 598 599 600 601 602
Vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 45. Nachwort, in: Johnson, Mutmassungen über Jakob (Anm. 446), S. 259–305, hier: S. 266. [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 690. [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 690. [Art.] Milton, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 535), S. 690. Mitnichten hat Johnson hier »versehentlich 1628« geschrieben, wie Neumann es in einer seiner wenigen editorischen Anmerkungen behauptet (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 45).
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därliteratur gefunden. Sein bisher recht freier Umgang mit Quellenangaben schließt das nicht aus, im Gegenteil. So hat beispielsweise der von ihm bereits ausführlich konsultierte Walter Schirmer eine umfangreiche Geschichte der englischen Literatur vorgelegt, die auch eine Inhaltsangabe von Paradise Lost enthält.603 Die Erläuterungen Schirmers zum Geschehen decken sich jedoch nicht mit jenen, die Johnson liefert. Der Student hat wahrscheinlich tatsächlich eine Ausgabe von Paradise Lost verwendet, womöglich im englischsprachigen Original. Denn Milton hat jedem der zwölf Bücher, die das Epos gliedern, ein sogenanntes Argument vorangestellt, in dem die wesentlichen Handlungsverläufe vorab resümiert werden. So war es damals üblich, und ein Vergleich dieser Arguments mit Johnsons Inhaltsparaphrase soll prüfen, ob ein Nachzeichnen dieser Resümees die Methode des Referenten gewesen ist. Nach seinen bisherigen, oft sehr textnahen Exzerpten, Übersetzungen und wörtlichen Übernahmen, ist das eine naheliegende Hypothese. Um festzustellen, dass Paradise Lost »in zwölf Bücher« (9r) aufgeteilt ist, genügt ein Blick ins Inhaltsverzeichnis. Das erste dieser Bücher beginnt damit, hebt Johnson an, dass »Milton den Plan seines Epos« mitteile, nämlich von »des Menschen Ungehorsam und de[m] Verlust des Paradieses« (9r) zu erzählen. Im Argument zum ersten Buch findet sich eben diese Einführung Miltons, indem dieses »first book proposes […] the whole subject: Man’s disobedience, and the loss thereupon of Paradise«.604 Wie bei seinen bisherigen Übersetzungen bleibt Johnson auch hier mal mehr, mal weniger dicht an seiner Vorlage. Er fährt fort, es folge »eine Beschreibung Satans der die Ursache sei dieses Unglücks« (9r). Gleichermaßen wird auch im Argument »the prime cause of his fall« benannt, nämlich »the serpent, or rather Satan in the serpent, who revolting from God and drawing to his side many legions of angels«.605 Von diesem Aufstand Satans berichtet auch Johnson, »Satan habe sich gegen Gott erhoben«, woraufhin er »mit seinen Anhängern aus dem Himmel gewiesen worden« sei (9r). Damit hält sich Johnson an die Ereignisfolge, wie sie von Milton dargestellt wird, man habe Satan »by the command of God driven out of Heaven with all his crew«.606 Im Ergebnis »fallen«, so Johnson weiter, Satan und seine Anhänger »in eine wüste Gegend namens Chaos oder Hölle« (9r). Ganz ähnlich charakterisiert Milton, »presenting Satan with his angels now fallen into Hell«, diesen Ort als einen »place of utter darkness, fitliest called chaos«.607 Etwas frei übersetzt Johnson dann, wenn er von 603 Vgl. Walter F. Schirmer: Geschichte der englischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Halle/Saale: Niemeyer 1937, S. 338–340. 604 John Milton: Paradise Lost. Authoritative Text Sources and Background Criticism, ed. by Gordon Teskey, New York: Norton 2005, S. 3 605 Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 3. 606 Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 3. 607 Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 3.
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einer »Betäubung« (9r) spricht, von der sich Satan und seine Gefolgschaft hier erholen mussten. Denn im Argument ist zwar davon die Rede, dass sie »thunderstruck and astonished« gewesen seien, was sich allerdings ›nur‹ in einer gewissen »confusion« niedergeschlagen habe.608 Sobald er sich davon dann erholt hat, wendet sich Satan an seine Anhänger, berichtet Johnson weiter, und »erinnert […] an das Gerücht, Gott beabsichtige eine neue Welt zu schaffen und eine neue Art Lebewesen die darauf wohne« (9r). Abgesehen von einer anderen Reihenfolge ist das so auch in Miltons Inhaltsankündigung zu finden, Satan spreche von »a new world and new kind of creature to be created, according to an ancient prophecy or report in Heaven.«609 Dann weicht Johnson allerdings von seiner wahrscheinlichen Vorlage ab: »Satan schlägt als Rache vor, man solle dies neue Wesen zur Sünde verleiten« (9r). Wenn er keine andere Quelle benutzt hat, der mysteriöse Budapester Professor Luther käme hier wiederum infrage, so darf vermutet werden, dass Johnson an dieser Stelle auf Bibelwissen um den Sündenfall zurückgreift.610 Gleichermaßen und vielleicht auch naheliegender kann er auf die Verführung des Menschen zur Sünde aus den weiteren Arguments geschlossen haben. Zwar wird dieser Umstand dort nicht explizit benannt, der Vorgang der Verführung Evas aber sehr wohl dargestellt. Tatsächlich wird im ersten Buch von Satan erst der Entschluss gefasst, über die weiteren Schritte nach der Verbannung aus dem Himmel zu verhandeln. So fährt denn auch Johnson fort, dass »eine Beratung gehalten« werden solle, und zwar »in dem Pandaimonium dem Palast Satans der wie durch Zauberei der Erde entsteigt« (9r). Mit der »Zauberei« hat Johnson seine Quelle augenscheinlich etwas ausgeschmückt, ist ihr aber ansonsten gefolgt: »To find out the truth of this prophecy, and what to determine thereon, he refers to a full council.«611 Stattfinden soll die Beratung im »Pandemonium, the palace of Satan«, der zu diesem Anlass »rises, suddenly built out of the deep. The infernal peers there sit in council.«612 Während Milton in der Zusammenfassung des zweiten Buches dann noch die zentralen Standpunkte dieser Versammlung benennt, kommt Johnson gleich zum »Ergebnis der Konferenz«, das in dem Beschluss bestehe, »Satan die gefährliche Reise« selbst unternehmen zu lassen (9r). Welche Reise damit jedoch gemeint ist, wird in Johnsons Darstellung nicht recht deutlich, in Miltons zwei608 Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 3. 609 Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 3. 610 Paul Onasch gibt in seiner Dissertation einen ausführlichen Überblick über Johnsons frühe und gründliche Beschäftigung mit der christlichen Religion, etwa durch Konfirmationsunterricht, Teilnahme an einem evangelischen Jugendkreis und nicht zuletzt durch »seine Großeltern war er mit den religiösen Vorstellungen der altlutherischen Kirche wohlvertraut« (vgl. Onasch, Hat Gott gar nichts mit zu tun (Anm. 54), S. 24–32, hier: S. 27). 611 Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 3. 612 Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 3.
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tem Argument hingegen schon: Anlass der Reise war es, »to search the truth of that prophecy or tradition in Heaven concerning another world and another kind of creature equal or not much inferior to themselves, about this time to be created.«613 Satan macht sich also auf den Weg, und »überwindet mit einiger Mühe die Torwächter der Hölle« (9r). Diese ›Mühe‹ bezeugt auch das Argument, wenn es für das zweite Buch einen Bericht darüber ankündigt, »[w]ith what difficulty he [Satan; AK] passes through«.614 So sind bei Milton zwar auch die Torwächter Thema, auf die Satan am Höllentor trifft: »He passes on his journey to Hell gates, finds them shut and who sat there to guard them, by whom at length they are opened«.615 Jedoch werden die Torwächter nur indirekt benannt, als diejenigen, die am Tor saßen und Satan letztendlich passieren ließen. Johnson allerdings bezeichnet die Höllenwächter ausdrücklich als den »Tod und des Todes Mutter die Sünde« (9r–v). Im Argument zum zehnten Buch finden sich dann auch »Sin and Death, sitting till then at the gates of Hell«616 – nur die nähere Beschreibung der Sünde als ›Mutter des Todes‹ fehlt hier. So mag diese Zuschreibung auf gute Bibelkenntnisse hindeuten, die sich Johnson in seiner Jugend in Güstrow angeeignet haben kann.617 In der Bibel wird dieses Verhältnis zwischen Sünde und Tod häufiger thematisiert, »die Sünde aber, wenn sie vollendet ist, gebiert den Tod« (Jak 1,15).618 Johnsons Auftakt zum dritten Buch weicht dann allerdings von Miltons Darstellung ab, denn im entsprechenden Argument ist keine Rede davon, dass Gott Satan auf seinem Weg zur Erde aufgehalten habe (vgl. 9v). Vielmehr sieht Gott »Satan flying towards this world, then newly created, shows him to the Son«, und sagt seinem Sohn den Erfolg von Satans Versuch voraus, »in perverting Mankind«.619 So »beklagt« Gott also weniger »das Elend das Satan über die Welt bringen« wird, als dass er es konstatiert. Gleich darauf ist Johnson aber anscheinend wieder dichter am Argument, wenn er übersetzt, »Gott der Sohn bietet sich als Lösegeld an« (9v). Das kann als direkte Übernahme von Milton gewertet werden: »The Son of God freely offers Himself a ransom for Man«.620 Johnson verkürzt hier die Diskussion zwischen Gott und seinem Sohn über den Schöpfungsplan und strafft damit seine Wiedergabe der wesentlichen Ereignisse. So ist für den weiteren Verlauf bedeutsam, dass Satan »eine Verkleidung annimmt« 613 614 615 616 617 618
Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 26. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 26. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 55. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 229. Vgl. hier: Anm. 610. Bibelzitate erfolgen in dieser Arbeit, soweit nicht anders angegeben, nach dem Text der Lutherbibel 2017. Vgl. hierzu beispielsweise: »der Sünde Sold ist der Tod« (Röm 6,23); und: »wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen« (Röm 8,13). 619 Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 55. 620 Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 55.
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(9v), wie auch Milton es, freilich etwas präziser, darstellt: Satan »changes himself into the shape of a meaner angel«.621 Für Johnsons Umschreibung Satans als »Geist des Übels« findet sich im dritten Argument keine Entsprechung, dafür aber im vierten Argument, wo Satan als »the evil spirit«622 bezeichnet wird. Als Satan dann »auf der Sonne ankommt«, lässt »er sich von Uriel dem Engel dieses Planeten informieren über die Möglichkeiten sich der Welt zu nähern« (9v). Diese Schilderung Johnsons deckt sich wiederum mit jener Miltons, in der Satan aufsteigt »to the orb of the sun«, wo »he finds there Uriel, the regent of that orb«.623 In der Verkleidung eines einfachen Engels erfährt Satan von Uriel von der neuen Welt und dem Menschen: Satan »inquires of him the place of his habitation and is directed«.624 Für seine Schilderung des vierten Buchs überspringt Johnson dann die im Argument angeführten Zweifel Satans über sein Vorhaben, denn im Ergebnis »findet« Satan »den Weg ins Paradies« (9v), wie er auch bei Milton »journeys on to Paradise«.625 Dort angekommen sitzt er »als Wasserrabe (Kormoran) auf einem Ast des Lebensbaumes, und betrachtet die Schönheiten des Gartens sowie die Abendruhe Adams und Evas nach der Arbeit« (9v). Diese Darstellung deckt sich mit der Miltons zum Teil, Satan »sits in the shape of a cormorant on the Tree of Life«, wobei dann auch »Satan’s first sight of Adam and Eve« erfolgt.626 Dann aber überspringt Johnson die Warnung Uriels an Gabriel, den Wächter des Paradieses, denn erst danach ist bei Milton von der »[n]ight coming on« die Rede, denn nun erst »Adam and Eve discourse of going to their rest«, wobei dann auch ihr »evening worship« erwähnt und damit die späte Tageszeit benannt ist.627 Aus dem Anfang des entsprechenden Arguments ergibt sich naheliegend, dass das fünfte Buch dann »die Ereignisse des folgenden Morgens« (9v) erzählt: »Morning approached«.628 Lakonisch knapp berichtet Johnson vom weiteren Geschehen und klebt an seiner Vorlage: »Eva hat böse Träume gehabt. Adam tröstet sie, Morgengebet, sie gehen an die Arbeit« (9v). Milton hat ähnlich raffend den folgenden Morgen zusammengefasst und erwähnt Evas »troublesome dream«, woraufhin Adam »comforts her«, und sich beide dann »their day labors«
621 622 623 624 625 626 627 628
Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 55. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 77. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 55. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 55. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 77. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 77. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 77. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 105. Neumanns Transkription berücksichtigt an dieser Stelle nicht, dass Johnson hier einen Absatz macht, wie er es auch für seine Berichte der vorangegangenen Bücher bereits getan hatte (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 46).
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widmen, zunächst aber noch »their morning hymn« abhalten.629 Bei Johnson erfolgt eine erhebliche Straffung, und zwar sei der »Rest dieses Buches und sämtliche drei folgenden (VI, VII, VIII) […] ausgefüllt mit einem Gespräch zwischen Adam und Raphael« (9v). Dabei verweist er auf die zentrale Funktion des von Gott gesandten Raphaels, der nämlich »den Menschen warnen« (9v) solle. Davon ist bereits im Argument zum fünften Buch zu lesen, Raphael informiert Adam darin »of his enemy near at hand«.630 Johnson überspringt den Sermon Raphaels vermutlich, weil er zum Fortgang der Rahmenhandlung kaum etwas beiträgt. Als Warnung vor Satan berichtet Raphael mit seiner Binnenerzählung vom Aufstand und Krieg Satans gegen Gott, dem anschließenden Sturz in die Hölle, und gibt überdies einen Überblick über die göttliche Schöpfung sowie den Platz des Menschen darin. Im neunten Buch wird die Rahmenhandlung um Satans Rache weitergesponnen. Um einen Anschluss daran zu knüpfen, greift Johnson auf das vierte Argument zurück. Darin wurde berichtet, dass »two strong angels« Satan bei der schlafenden Eva gefunden hätten, »tempting her in a dream«, und ihn trotz einigen Widerstands in die Flucht hätten schlagen können, Satan »flies out of Paradise.«631 Mit diesem Rückgriff gelingt Johnson eine stimmige Fortsetzung der Rahmenerzählung, indem er so behaupten kann, dass »Satan der von den Wächterengeln vertrieben worden war nächtlich als Nebel« zurückgekehrt sei, und »die Gestalt einer Schlange« angenommen habe (9v). Mit eben diesem Ereignis beginnt das neunte Argument, in dem Milton berichtet, dass Satan »returns as a mist by night into Paradise, enters into the serpent sleeping.«632 Als dann »Adam and Eve in the morning go forth to their labors«, geschieht es, dass, trotz der Warnung Raphaels und ihrer Vorahnung im Traum, »Eve proposes to divide in several places, each laboring apart«.633 Johnson übernimmt hier das entscheidende Faktum, wonach Eva morgens vorgeschlagen habe, »an diesem Tage getrennt zu arbeiten« (9v). Dadurch erst, so Johnson weiter, habe »die Schlange Satan Eva zum Essen der verbotenen Frucht bewegen« können (9v). In Miltons Argument ist die Begegnung von Eva und Satan ausführlicher dargestellt, die von Johnson genannten Kernelemente finden sich darin als Versatzstücke in der Form wieder, als »the serpent finds her alone«, sie zum »Tree of Knowledge forbidden« führt, und kann schließlich »with many wiles and arguments induces her at length to eat.«634 Um den ›Sündenfall‹ komplett zu machen, schwärmt Eva Adam von der verbotenen Frucht vor und überzeugt ihn, ebenfalls davon zu 629 630 631 632 633 634
Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 105. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 105. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 77. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 196. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 196. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 196.
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kosten. Das neunte Argument informiert auch darüber, während Johnson sich auf das Nötigste beschränkt: »Eva gibt Adam« (9v), nämlich von der verbotenen Frucht. Im zehnten Buch wird dann Adam und Eva »das Urteil gesprochen« (9v), gemäß Miltons Schilderung, der zufolge Gott »sends his Son to judge the transgressors, who descends and gives sentence accordingly«.635 Die einstigen Wächter der Hölle, Sünde und Tod, »bauen eine Strasse zwischen Erde und Hölle« (9v). Diese Straße ist es, über die »Satan im Triumph zurückkehrt« (9v). Allerdings, so Johnson weiter, werden Satan »und die anderen gefallenen Engel« bei ihrer Rückkehr in die Hölle »in Schlangen verwandelt« (9v). Auch in dieser Darstellung der Ereignisse lässt sich das zehnte Argument als Vorlage erkennen. Milton schildert analog, dass »Sin and Death […] pave a broad highway or bridge over chaos according to the track that Satan first made.«636 Jedoch wird Satan nun, »proud of his success, returning to Hell«, von seinen Anhängern »instead of applause […] entertained with a general hiss by all his audience«, denn er und sein Gefolge sehen sich »transformed […] suddenly into serpents«.637 Im elften Buch ist dann von Bedeutung, dass »Adam und Eva bereuen« – sie »bitten um Vergebung« (9v). Das entsprechende Argument Miltons berichtet von den »prayers of our first parents, now repenting«.638 »Gott glaubt ihnen ihre Reue« zwar, so Johnson weiter, »lässt sie aber trotzdem durch den Erzengel Michael von dannen geleiten, wobei Michael ihnen die Folgen ihrer Tat voraussagt« (9v). Auch Miltons »God accepts« die Gebete und Reue Adams und Evas, »but declares that they must no longer abide in Paradise«.639 Deswegen schickt er »Michael […] to dispossess them, but first to reveal to Adam future things.«640 Die Voraussage der Zukunft findet sich in diesem elften Argument noch ein weiteres Mal, in der gleichen Konstellation von Adam und Michael, letzterer »sets before him [Adam; AK] in vision what shall happen«.641 Im zwölften Buch werden Adam und Eva schließlich aus dem Paradies geführt, wobei sie aber immerhin Michael, so Johnson, »mit der Hoffnung auf Erlösung tröstet« (9v–10r). Der Trost Michaels wird in Miltons letztem Argument zwar etwas ausführlicher dargestellt, dennoch bleibt es auch hier bei dem gleichen Ergebnis. Während Eva schläft, ermutigt Michael Adam, der sich sodann auch »greatly satisfied and recomforted by these relations and promises«642 zeigt; 635 636 637 638 639 640 641 642
Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 229. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 229. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 229. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 260. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 260. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 260. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 260. Milton, Paradise Lost (Anm. 604), S. 284.
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zusammen mit Eva wird er aus dem Paradies auf die Erde gebracht. Damit ist Johnson am Ende seiner Paraphrase angelangt, er verdeutlicht es seinem Publikum noch mit der Schlussformel: »Dies der Inhalt« (10r).
7.4.3 Ein ›bürgerlicher Revolutionär‹ namens Milton Mit der bloßen Wiedergabe von Handlungsfolgen ist es hier aber nicht getan, denn Johnson referiert schließlich in einem Seminar über Weltliteratur. So verortet er das behandelte Werk noch literarhistorisch, und dabei vor allem auch politisch. Er beruft sich dabei auf den Gastvortrag von Professor Luther. Der von Johnson dabei konsequent verwendete Konjunktiv I zeigt an, dass er dessen Standpunkt wiedergibt, und nicht einen eigenen. Laut Luther, so Johnson, müsse man »bei einer neueren Interpretation« von Paradise Lost den »Grundgedanken der puritanischen Bewegung« berücksichtigen, nämlich den »Gedanken der Reform, der Rückkehr zu einer Welt die purer war als die vorgefundene« (10r). Damit ist schon angedeutet, um was für eine Lesart es sich hier nur handeln kann. Eine ›neuere Interpretation‹ kann in Budapest wie in Leipzig zu dieser Zeit nur unter dem Vorzeichen des Marxismus-Leninismus erfolgen. Schon der Titel von Luthers Vortrag, »Milton: A Bourgeois Revolutionary«, hat das erahnen lassen. In Luthers Verständnis sei »der Kampf des englischen Bürgertums ausgefochten« worden »unter puritanisch-religiösen Vorwänden« (10r). Womit er dem religiösen Aspekt seine historische Bedeutung abspricht, indem es sich dabei nur um ›Vorwände‹ gehandelt habe. So kann Luther dann für Paradise Lost behaupten, der »Himmel sei nicht Symbol, wiewohl er der Himmel des Puritanertums sei« (10r). Das Puritanertum ist in dieser Lesart also nur Deckmantel für den eigentlichen gesellschaftlichen Konflikt zwischen englischem Bürgertum und Aristokratie. Der ›sozialistischen Literaturwissenschaft‹ ging es bei ihrer Lektüre nicht oder nicht primär um ästhetische Fragen, um erzählerische Konstruktionen oder ein Erschließen potenzieller Deutungshorizonte. Literarische Texte wurden dogmatisch nach den stets gleichen Aspekten befragt, etwa nach ihrem historischen Ort gemäß der durch den historischen Materialismus festgestellten gesellschaftlichen Entwicklung und der damit zusammenhängenden ökonomischen Voraussetzungen des jeweiligen ›Geistesschaffenden‹. Literatur wird in diesem Sinne als Reflex auf Gesellschaftsgeschichte verstanden, von dem für die sozialistische Gegenwart etwas zu lernen sei. Auf diese Aspekte hin hatte der Literaturwissenschaftler, wie auch sein studentisches Auditorium, einen jeden Text hin zu untersuchen. Professor Luther hat das, soweit es aus Johnsons Ausführungen nachvollzogen werden kann, beispielhaft getan. Um den Niederschlag der historischen Ereignisse im Figureninventar von Paradise Lost aufzuzeigen, zitiert Johnson Professor Luthers Kernaussage mit den Worten, es
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können »Satan and his crew be identified with the chevaliers who fought against order and are ready to take arms again against law, who are powerfull and clever in all minds of double dealing« (10r). Johnson notiert sich hier am Rand seines Manuskripts wieder die mittlerweile geläufige Regieanweisung an sich selbst: »übersetzen« (10r). Um Luthers Position aber noch zu verdeutlichen, wiederholt er dessen These mit wahrscheinlich eigenen Worten: »vermutet wird hier ein Bezug auf die Haltung der Aristokraten während des Commonwealth« (10r). Um »den Menschen zu schützen«, nämlich vor der satanischen und opportunistischen Aristokratie, werde ihm, so Johnsons Luther-Referat weiter, »das Prinzip des Guten als Demokratie gegenübergestellt« (10r). Es fällt nicht schwer, Paradise Lost als Reaktion auf oder Verarbeitung von Erfahrungen Miltons mit dem englischen Bürgerkrieg und dem Commonwealth zu begreifen. In einer solchen Lesart kämpft und intrigiert Satan gegen die paradiesische Ordnung, verführt aus Bosheit die Menschen zu ihrem Schaden und zu einem jammervollen Erdendasein. Das biblische Thema eignet sich dabei für weltlich-gesellschaftliche Interpretationen sehr. In diesen stünde das Commonwealth, mit demokratischen Zielen für eine neue Gesellschaftsordnung angetreten, als ein anfangs bürgerliches Paradies den satanischen Aristokraten gegenüber, die ihren Macht- und Herrschaftsanspruch geltend machen wollen. Aus marxistisch-leninistischer Perspektive ist damit das Konfliktfeld von Revolution und Reaktion skizziert. Miltons besondere Leistung bestehe nun darin, erklärt Johnson mit Luther weiter, »den Feind mächtig-willenskräftig und sogar bewunderungswürdig zu zeigen« (10r). Aus den Erfahrungen mit der englischen Restauration wird in dieser Lesart eine Warnung an die sozialistische Revolution vor einer bürgerlichpolitischen Reaktion. Dem steht auch nicht entgegen, dass Milton ein »Bourgeois Revolutionary« gewesen sei, denn die bürgerlich(-kapitalistische) Revolution zur Überwindung der Feudalordnung war aus Sicht des historischen Materialismus eine notwendige Vorbereitung, um überhaupt erst eine ›moderne‹ Arbeiterklasse entstehen zu lassen. Der in Paradise Lost reflektierte Erfolg der feudalaristokratischen Restauration kann der sozialistischen Gesellschaft als literarisches, mehr noch historisches Beispiel die Gefahr politischer Reaktion vor Augen führen. Schließlich »wünschte Milton als Lehrer seiner Nation zu gelten«, so Johnson, und Paradise Lost sollte darüber hinaus auch »bedeutsam sein für die ganze Menschheit« (10r). Mit dieser abschließenden Einschätzung attestiert Johnson Milton mithin auch die pädagogische Eignung, die sowohl die Kulturpolitik wie auch die Literaturwissenschaft der DDR von Literatur erwarteten. Mit seinen Ausführungen hat Johnson insgesamt deutlich zu machen versucht, dass Milton und sein Versepos ihren Platz im Kanon der Weltliteratur zu Recht behaupten, einem Kanon, wie er in der DDR Gültigkeit beanspruchen
Quellenarbeit 4: Thomas Otway und Venice Preserved
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durfte. Damit bedient der Student ein »zentrales kulturpolitisches Ziel der DDR«, nämlich die »systematische Pflege eines kulturellen ›Erbes‹, zu dem auch ›klassische‹ Schriftsteller der englischen Literatur gehörten«.643 Um dies zu bewerkstelligen, ist er nach der gleichen Methode vorgegangen, die er bereits in den vorangegangen Teilen seines Referats angewandt hat. Er hat für die Biographie Miltons eine passende Quelle ausgiebig exzerpiert, dabei nicht nur paraphrasiert, sondern zum Teil auch wörtlich Passagen übernommen bzw. übersetzt, und nicht zuletzt auch Informationen ausgespart. Seine Zusammenfassung von Paradise Lost ist wahrscheinlich ein Kondensat der Arguments, in denen Milton selbst die wesentlichen Handlungsstränge und Ereignisse seines Texts vorweggenommen hat. Für seine abschließende historische Verortung und Bewertung referiert Johnson dann den Gastvortrag Professor Luthers. Bei alldem bleibt aber nach wie vor die Frage offen, aus welchem Grund Johnson überhaupt darüber spricht und diesen Weg der Milton-Digression wählt – denn Thema seines Vortrags ist nach wie vor Thomas Otway und dessen Drama Venice Preserved.
7.5
Quellenarbeit 4: Thomas Otway und Venice Preserved
Nachdem Johnson bis hierhin ausführlich über die englische Geistes- und Sozialgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts, John Milton und Paradise Lost gesprochen hat, kommt er nun – man möchte sagen: endlich – zum eigentlichen Gegenstand seines Referats. Erst nach 19 seiner insgesamt 36 Manuskriptseiten stößt er zu seinem angekündigten Thema vor, dem er somit zumindest quantitativ nur den kleineren Teil seiner Aufmerksamkeit geschenkt hat. Hatte er den ersten Teil seines Referats unter den Titel Die Buchläden am St. Paul’s Churchyard gestellt, und damit metonymisch einen Ort benannt, an dem die von ihm referierten Ideen und Theorien in Büchern kondensiert gehandelt wurden, so dient auch für den zweiten großen Abschnitt seines Vortrags eine Ortsmetonymie als Prospekt, um die dortigen Ereignisse und deren Folgen zu verhandeln: Das Dorset Garden Theatre. Es ist die Bühne Thomas Otways.
643 Barbara Körte, Sandra Schaur, Stefan Welz: Britische Literatur in der DDR – Vorbemerkungen, in: Britische Literatur in der DDR, hg. von Barbara Körte, Sandra Schaur und Stefan Welz, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 1–12, hier: S. 4.
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Hauptwerke der Weltliteratur: Venice Preserved
7.5.1 Eine Biographie Thomas Otways Bevor sich der Referent aber dem Werk des englischen Dramatikers widmet, lässt er zunächst das Leben Otways Revue passieren. Die hier naheliegende Vermutung, er habe sich dafür abermals bei Chambers’ Cyclopaedia bedient, bestätigt sich allerdings nicht; wiewohl dort ein mehrseitiger Artikel über den Autor zu finden ist, der sich zum größeren Teil jedoch aus Werkauszügen speist; Otways Vita hingegen ist dort auf nur einer Seite knapp zusammengefasst.644 Eine andere Quelle ist hier wahrscheinlicher, und zwar die Edition der Dramen in The Mermaid Series, versehen mit Anmerkungen von Roden Noel. Der Student hat diese Ausgabe pflichtgemäß als eine von ihm verwendete zu Beginn seines Referats benannt. Die 1887 begonnene Buchreihe der Mermaid Series verfolgte das Programm, »the best plays of the Elizabethan and later dramatists« zu versammeln, um so »the chief contribution of the English spirit to the literature of the world« zu zeigen.645 Damit bot sich die Buchreihe für Mayers Seminar über Weltliteratur geradezu an. Jeder Band der Reihe widmete sich einem Dramatiker mit einer Auswahl, »on an average five complete plays«, seiner jeweils besten Dramen, wobei darauf geachtet wurde, »that the plays selected are in every case the best and most representativ – and not the most conventional«.646 Autoren und Werke wurden in der Mermaid Series, freilich in unterschiedlichem Umfang, überdies mit Anmerkungen bedacht, teils zur Textgestalt, teils mit Sach- und Begriffsklärungen und Hinweisen zur Aufführungspraxis. Beigesteuert wurde in der Regel auch, nun von besonderem Interesse, ein einleitender Überblick über Leben, Werk und Wirken des betreffenden Autors. Roden Noel, der als passabler Dichter und guter Essayist in die englische Literaturgeschichte eingegangen ist – seine Essays behandeln vor allem Leben und Œuvres anderer Autoren –, widmet Thomas Otway immerhin 42 Seiten. Nach dieser Einführung folgen vier Stücke, Don Carlos, The Orphan, The Soldier’s Fortune sowie Venice Preserved, und abschließend noch ein kurzer, doch für Otways Biographie aufschlussreicher Anhang. Noel beginnt seine Erläuterungen mit einem literarhistorischen Bild des 17. Jahrhunderts in England, in dem er Otway und dessen Schaffen verortet. Erst zum Ende hin, auf den letzten elf Seiten, liefert er dann die eigentliche Biographie des Autors nach.
644 Vgl. [Art.] Otway, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 334), S. 71–75. 645 The Mermaid Series, in: Thomas Otway. With an introduction and notes, by the Hon. Roden Noel, London: Vizetelly 1888, S. 393. Milton wurde nicht in diese Reihe aufgenommen, mit seinen beiden einzigen Schauspielen, dem höfischen Maskenspiel Comus (1634) und dem Lesedrama Samson Agonistes (1671), zählt er nicht zu den ›besten Dramatikern des Elisabethanischen oder späterer Zeitalter‹. 646 Mermaid Series, in: Thomas Otway (Anm. 645), S. 393 [Hervorh. im Original].
Quellenarbeit 4: Thomas Otway und Venice Preserved
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Bereits der Beginn dieses Lebensbildes ist beachtenswert, denn Noel datiert Otways Geburt auf »March 3rd, 1651«.647 Offenbar orientiert sich Johnson an diesem Datum, ohne es mit anderen Quellen abzusichern, und behauptet dementsprechend: »Thomas Otway lebte von 1651648 bis 1685« und sei »geboren am 3. März« (10v). Tag und Monat stimmen zwar, das Jahr hingegen nicht. Hätte Johnson, wie für Milton, auch für Otway auf Chambers’ Cyclopaedia zurückgegriffen, wäre ihm die Diskrepanz der Geburtsjahre aufgefallen.649 Das von Johnson übernommene falsche Geburtsjahr muss als starkes Indiz dafür gelten, dass mit großer Wahrscheinlichkeit Noels Otway-Biographie seine Vorlage gewesen ist. Es ist auch arbeitsökonomisch naheliegend, auf die Dichtervita des Buches zurückzugreifen, in dem man ohnehin dessen Werk liest. Der weitere Vergleich zwischen Johnsons Referat und Noels Ausführungen soll diese Vermutung auf den Prüfstand stellen. Noel beginnt seine Lebensbeschreibung konventionell mit der Geburt des Autors: »Thomas Otway was born March 3rd, 1651, at Trotton near Midhurst in Sussex, and was the only son of the Rev. Humphrey Otway, Rector of Wolbeding in the same county.«650 Johnson kürzt und übersetzt: »Thomas Otway, geboren am 3. März, kam aus dem Hause des Rektors einer Bezirksschule in der Grafschaft Sussex« (10v). Noel liefert dem Leser alles Wissenswerte, nur den »Rector of Wolbeding« versteht Johnson offenbar falsch, wobei Noel, in dieser Hinsicht zumindest, auch einigermaßen missverständlich formuliert. Denn Otways Vater war nicht Schulrektor, sondern Rektor der Kirchgemeinde Woolbeding; genauer gesagt, wurde er es erst lange nach der Geburt seines Sohnes: zuvor war er als Seelsorger tätig.651 Über den Bildungsweg des späteren Dramatikers berichtet Noel dann, Thomas Otway »was educated at Wickeham School, Winchester, and at eighteen was entered a commoner of Christ Church College, Oxford«.652 Die schulischen Details erachtet Johnson für weniger bedeutsam, die höhere Ausbildung hingegen 647 Roden Noel: Thomas Otway, in: Thomas Otway (Anm. 645), S. vii–xlix, hier: S. xxxix. 648 Neumanns Transkription berichtigt hier kommentarlos Johnsons Fehldatierung von 1651 auf das korrekte 1652 (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 47). 649 Vgl. [Art.] Otway, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 229), S. 71, wo das richtige Jahr 1652 genannt wird. 650 Noel, Otway (Anm. 647), S. xxxix. 651 Vgl.: »He [Humphrey Otway; AK] was at the time of his son’s birth curate of Trotton. After the Restoration he became rector of the adjoining parish of Woolbeding, and died in 1670« (Samuel Johnson: Lives of the Most Eminent English Poets, with critical observations on their works. With notes corrective and explanatory by Peter Cunningham, in three volumes, Vol. I, London: Murray 1854, S. 211). Im 19. Jahrhundert schien man sich beim Geburtsjahr Otways nicht recht sicher zu sein, Samuel Johnson zeigt hier offen seine Unsicherheit. Impliziert Samuel Johnsons Kapitelüberschrift noch vermeintliche Sicherheit und schreibt »OTWAY. 1651–1685«, so wird gleich darauf im Text dann relativiert: »1651–2« (ebd.). 652 Noel, Otway (Anm. 647), S. xxxix.
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scheint ihm von Belang. So übersetzt er, Otway sei nach »einem allgemeinen Schulunterricht […], 18jährig, aufgenommen in das Christ’s Church College in Oxford« (10v). Dieser Teil folgt recht dicht der Vorlage, dann aber ergänzt Johnson einen Hinweis, der nicht von Noel stammt: »das ist auch die theologische Fakultät« (10v). Hieran ist zweierlei zu beobachten: Zum einen begeht Johnson hier den gleichen Fehler, den er schon bei seinem Bericht über Miltons Studium gemacht hatte, indem er einem College einer englischen Universität eine spezifische Fachrichtung zuwies.653 Zum anderen insinuiert Johnson hier eine mögliche Verbindung zwischen den Lebensläufen Miltons und Otways, indem er betont, dies sei »auch die theologische Fakultät« (10v). Das ›auch‹ kann an dieser Stelle als ›ebenfalls‹, und damit als Verweis auf jene ›theologische Fakultät‹ gelesen werden, die Johnson schon im Christ’s College der Universität Cambridge vermutete, das Milton besucht hatte. In der Sache hatte Johnson zweifelsohne Recht, Otway – wie ja auch Milton – »war eigentlich die kirchliche Laufbahn vorgeschrieben« (10v), wie er von Noel erfahren konnte: Otway »had been intended for the Church«.654 Während Milton sein Studium in Cambridge allerdings erfolgreich als Master of Arts abgeschlossen hat, verließ Otway die Universität Oxford ohne akademischen Titel. Die Umstände von Otways Studienabbruch sind hier insofern von besonderem Interesse, als an ihnen sichtbar wird, wie exakt Johnson seiner Vorlage gefolgt ist. Beispiel: Noel berichtet von der avisierten Karriere im Priesteramt, denn Otway »had been intended for the Church; but the death of his father, who, as he tells us, ›left him no other patrimony than his faith and loyalty,‹ probably obliged him to leave Oxford without taking a degree.«655 Johnson folgt hier dem Lebenshintergrund in der von Noel gebotenen Reihenfolge, auch hinsichtlich syntaktischer Gliederung und Zeichensetzung; als größter Eingriff seinerseits kann noch die Ersetzung von »father« mit »Reverend Humphrey Otway« gelten; zum Vergleich die Passage im studentischen Referat: ihm war eigentlich die kirchliche Laufbahn vorgeschrieben; aber der Tod des Reverend Humphrey Otway zu dem der Sohn bemerkt: er habe ihm kein anderes Erbe hinterlassen als seinen Glauben und seine Loyalität – dieser Tod, oder wenn man will: solches Erbe veranlasste Otway Oxford ohne Examen und Grad zu verlassen, er ging nach London, 1671. (10v)
Johnsons letztes, wie angestückelt wirkendes Satzglied ist hier schon Raffung des bei Noel an dieser Stelle folgenden Satzes über Otways weiteren Weg: »In 1671 he went to London to seek his fortune there.«656 In Englands Hauptstadt beginnt 653 654 655 656
Vgl. hier: S. 176. Noel, Otway (Anm. 647), S. xxxix. Noel, Otway (Anm. 647), S. xxxix. Noel, Otway (Anm. 647), S. xxxix.
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Otways schriftstellerische Laufbahn mit einem Fehlschlag als Schauspieler, Noel und der ihm darin folgende Johnson kommen nun darauf zu sprechen: »At the theatre in Dorset Garden […] Otway himself made his first and only appearance as an actor […]. This attempt was eminently unsuccessful.«657 – Johnson liefert den gleichen Sachverhalt in Übersetzung, formuliert Otways schauspielerisches Scheitern aber subtiler, wiewohl mit Ironie, und dürfte damit einigen Effekt bei seinem Publikum erzielt haben: »Am Dorset Garden Theatre […] versuchte er zunächst als Schauspieler zu arbeiten, der erste Auftritt misslang durchaus und war der letzte, darauf begann er Stücke zu schreiben« (10v). Johnsons Behauptung, Otway sei dem Dorset Garden Theatre »dann zehn Jahre lang treu« (10v) geblieben, gründet sich wahrscheinlich zum einen auf Noels Feststellung, dass »all Otway’s plays, except the last«, dort aufgeführt wurden, sowie einer simplen Berechnung aus den weiteren Aufführungsdatierungen: Venice Preserved, sein vorletztes Stück, »was brought upon the stage in 1682«, und »Otway’s last play«, das dann nicht mehr am Dorset Garden gezeigt wurde, »was a comedy called The Atheist, a continuation of The Soldier’s Fortune, represented in 1683, or the following year«.658 Das ergibt für Johnson dann, ausgehend von Otways Ankunft in London 1671, rein rechnerisch die genannten zehn Jahre. Über Otways Ankunft in der Hauptstadt des British Empire berichtet Johnson dann weiter, dass der angehende Schriftsteller dort »in den Kreisen der Londoner Aristokratie« (10v) verkehrt habe, für einen Priestersohn (und Studienabbrecher) ein bemerkenswerter Umgang, wenngleich die Geistlichen zu den Honoratioren gehörten. Johnson hat dieses Wissen von Noel, der vom gesellschaftlichen Leben in der Metropole ausführlicher berichtet, Otway »seems now to have cultivated the society of men of rank and fashion, who tolerated him as a boon companion for the sake of his agreeable social qualities«.659 Dieser Umgang hatte aber auch seine Schattenseite, die Johnson freilich – wenigstens vorerst – ausspart, wiewohl sie das spätere Schicksal des Dramatikers für seine Zuhörer nachvollziehbarer gemacht haben würde. Die aristokratischen Klüngel um Otway, so Noel, »helped him to get rid of his money in many foolish ways«.660 Als eine Ausnahme gilt Noel der »young Earl of Plymouth, […] a college friend«, der aufrichtig »did befriend him«; wobei diese Freundschaft aufgrund des »premature death« des Freundes nicht lange währte.661 Johnson unterdrückt auch dieses 657 Noel, Otway (Anm. 647), S. xxxix f. 658 Noel, Otway (Anm. 647), S. xlv und S. xlvi [Hervorh. im Original]. Heute wird The Atheist auf 1684 datiert (vgl. Paul D. Cannan: Thomas Otway, in: The Oxford Encyclopedia of British Literature, hg. von David Scott Kastan, Bd. 4: Modernism–Percy Bysshe Shelley, Oxford: Oxford Univ. Press 2006, S. 172–175, hier: S. 175). 659 Noel, Otway (Anm. 647), S. xl. 660 Noel, Otway (Anm. 647), S. xl. 661 Noel, Otway (Anm. 647), S. xl.
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Detail und so erscheint seine Darstellung hier positiv gestimmt zu sein: ein talentierter Pfarrerssohn soll Eingang in die ersten Kreise finden. Wiewohl ihm Noel ein durchaus differenziertes und kritisches Bild liefert, soll Otway in Johnsons Vortrag offenbar, gewiss berechtigt, politisch-gesellschaftlich »ganz auf der Seite der Tories« verortet werden.662 Für eine Kritik der Aristokratie freilich, wie sie Johnson dann am Ende dieser Biographie offen artikuliert, hätte hier schon erste Gelegenheit bestanden. Denn der sich andienende Emporkömmling wurde von seinen falschen Freunden ausgenutzt. Hinsichtlich einer Inszenierung, einer ›dramatischen Konstruktion‹, ist es hingegen gewiss effektvoller, an dieser Stelle das positive Bild des aufstrebenden Poeten noch nicht zu beschädigen. Um so deutlicher wird dann der Kontrast, die Fallhöhe, als der mittellose Dichter nach seiner Militärexpedition seine vermeintlichen Freunde tatsächlich um Hilfe ersucht, die sie ihm dann aber verweigern. Nach dieser Ausleuchtung der Lebensumstände wendet sich Johnson mit Noel Otways Œuvre zu. Noel hält fest: Otways »earliest play was Alcibiades, first printed in 1675«, eine »poor production«, mit immerhin einigen »scenes in it of distinct promise.«663 Johnson folgt ihm in der Sache, entscheidet sich aber für eine andere Gewichtung, indem er die vielversprechenden Szenen auslässt: »1675 wird Otways erstes Stück gedruckt, eine Alkibiades-Tragödie ohne weitere Bedeutung« (10v).664 Für das zweite Drama, das »folgende ›Don Carlos‹«, bemüht Johnson dann den Kontext des Seminarthemas, Weltliteratur, indem er daran erinnert, dass das Thema dieses Stückes, ebenso »wie Schillers[,] zurückgeht auf die Novellen des Abbé St. Réal«, es habe außerdem einigen »Erfolg« gehabt (10v). Der Bezug zu Schiller bzw. St. Réal verdankt sich seinen Referatsvorbereitungen und ist auch bei Noel nachzulesen. Im literarhistorischen Teil seiner Einführung, bevor er die Autorbiographie liefert, verweist Noel auf die unterschiedlichen Ausgestaltungen des Grundmotivs, etwa hinsichtlich der historischen, politischen und privaten Gewichtung, in Otways Dramen Don Carlos und Venice Preserved einerseits und »the narratives of Saint-Réal, from which they are taken« andererseits, und er stellt überdies einen direkten Bezug von »Otway’s with Schiller’s Don Carlos« her.665 Die nähere Charakterisierung der Schauspiele Otways, es handle sich um »gereimte heroische Stücke die dem französischen Modell folgen« (10v), liest sich dann erneut als vorlagengetreue Übersetzung: »All these were rhyming, so-called 662 Klingler, Die künstlerische Entwicklung in den Tragödien Thomas Otways (Anm. 316), S. 158. 663 Noel, Otway (Anm. 647), S. xl [Hervorh. im Original]. 664 In Neumanns Transkription geht Johnsons Text hier, nach der Freundschaft zum Earl of Plymouth, nahtlos weiter, während in Johnsons Manuskript tatsächlich ein Absatz den Schritt zum nächsten Gegenstand markiert (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 47). 665 Noel, Otway (Anm. 647), S. xxx [Hervorh. im Original].
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›heroic‹ plays, our playwrights herein following the French example.«666 Hier unterläuft Johnson bei seinem Exzerpt allerdings ein Lapsus. Denn Noels Erläuterung bezieht sich nicht (nur) auf Otways Alcibiades und Don Carlos, wie es Johnsons Übertragung nahelegt, sondern gilt in erster Linie zwei anderen Stücken: »In 1677 Otway produced two translations from the French, Titus and Berenice, from Racine, and The Cheats of Scapin, from Molière. All these were rhyming, so-called ›heroic‹ plays, our playwrights herein following the French example.«667 Bei Johnson entsteht der Fehler durch Umstellung der Reihenfolge; überdies setzt er zwischen diesen beiden Sätzen noch einen Absatz, und vergrößert so ihren Abstand: »Dies sind gereimte heroische Stücke die dem französischen Modell folgen. 1677 erscheinen zwei Übersetzungen aus dem Französischen: Tite et Berenice von Corneille, und Scapins Streiche von Molière« (10v). Das »All these« schließt die zuvor genannten Stücke Alcibiades und Don Carlos gewiss mit ein, der unmittelbare Bezug besteht aber zu Otways Übertragungen aus dem Französischen. Gerade Don Carlos aber nimmt in der künstlerischen Entwicklung Otways eine bedeutende Stellung ein. Zwar findet sich darin einerseits noch das »heroische Drama mit seinen Konventionen«, andererseits zeigt es aber auch ganz klar, »daß der Dichter, von dieser Grundlage ausgehend, bereits ein durchaus eigenes Werk zu schaffen vermochte, das die Vorbilder in manchem weit hinter sich ließ.«668 Hingegen kann beispielsweise für Otways Übernahme von Jean Racines Tragödie Bérénice eine viel engere Bindung an die französische Vorlage festgestellt werden. Otway ging es in seiner Bearbeitung darum, »dieses typische französische Drama möglichst getreu so zu übertragen und nur soweit abzuändern, daß es einem englischen Publikum akzeptabel erscheinen konnte.«669 Johnsons kontextlose Nennung der beiden bearbeiteten französischen Stücke ist aus noch einem weiteren Grund problematisch. Wird bei Noel zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich bei Otways Titus and Berenice um eine Bearbeitung des Stücks von Racine handelt, so ändert Johnson nicht nur den Titel, sondern verwechselt auch den französischen Urheber: »Tite et Berenice von Corneille« (10v). In der Tat hat es ein Stück dieses Namens, Tite et Bérénice, des französischen Dramatikers Pierre Corneille gegeben. Es behandelt das gleiche Sujet wie Racines Bérénice, die tragische Liebe zwischen dem römischen Kaiser Titus und der jüdischen Prinzessin Berenike, und beide Stücke wurden 1670 im Abstand
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Noel, Otway (Anm. 647), S. xl. Noel, Otway (Anm. 647), S. xl [Hervorh. im Original]. Klingler, Die künstlerische Entwicklung in den Tragödien Thomas Otways (Anm. 316), S. 89. Klingler, Die künstlerische Entwicklung in den Tragödien Thomas Otways (Anm. 316), S. 94.
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weniger Tage in Paris uraufgeführt.670 Es erscheint somit als naheliegende Vermutung, dass die Nähe von Otways englischem Titel Titus and Berenice zum französischem Tite et Bérénice Corneilles den Referenten hier auf die falsche Fährte gelockt hat. Anschließend kommt Johnson auf eine tragische, da einseitige Liebesbeziehung zu sprechen, der er eine »ausserordentliche[] Bedeutung für das Leben Otways« zuschreibt, nämlich dessen »Liebe zu einer Schauspielerin Mrs. Barry die berühmt wurde mit den Stücken die er für sie schrieb, ihn aber nicht wiederliebte« (10v–11r). Gemeint ist die seinerzeit populäre Schauspielerin Elizabeth Barry.671 Hier nun hält sich Johnson in seiner Bezugnahme weniger streng an seine Vorlage, gleichwohl bleiben die Versatzstücke Noels erkennbar, aus denen Johnson sein Referat zusammenstellt. Von dem problematischen Verhältnis zwischen dem Schriftsteller und der Schauspielerin weiß Noel, dass »Otway fell desperately in love«, und zwar eben mit »the fine actress, Mrs. Barry«.672 Sie habe nicht nur in Alcibiades einen Part übernommen, sondern auch in Venice Preserved und The Orphan Hauptrollen gespielt, so Noel weiter. Und der Biograph äußert den Verdacht, wiewohl die Aktrice den Autor offenbar nicht geliebt hat (»but Mrs. Barry did not return it«), habe sie ihn doch weiterhin in ihren Bann geschlagen (»keep him dangling attendance upon her if he wrote parts that suited her as an actress«).673 Als Ergebnis dieser einseitigen Passion habe »die Weltliteratur sechs sehr unglückliche Liebes-Briefe« (11r) erhalten, konstatiert Johnson. Auch Noel informiert seine Leser über diese Briefe, dass es genau sechs sind, musste Johnson im Anhang der Mermaid-Series-Ausgabe allerdings selbst herausfinden, wo sie abgedruckt sind. Während Noel vom tragisch-traurigen Ton dieser Korrespondenz berichtet, etwa von einer geplatzten Verabredung, zu der Mrs. Barry nicht erschienen war, kann davon ausgegangen werden, dass Johnson sie für seine Einschätzung gelesen hat. ›Unglücklich‹ sind diese Briefe in der Tat; um ein Beispiel der daraus abzulesenden Verzweiflung des jungen Dichters zu geben: »Everything you do is a new charm to me; and, though I have languished for seven long tedious years of desire, jealously and despairing, yet every minute I see you I still discover something new and more bewitching.«674 Die Angelegenheit wird für Otway noch tragischer, weiß Johnson weiter, denn: »Mrs. Barry liebte aber Lord Rochester, der sich darin gefiel recht willkürlich Dramatiker und ihre Stücke zu protegieren, und viel Geld auszugeben denn er hatte es. Otway 670 Vgl. das Kapitel Der Beginn der englischen Racine-Adaption: »Titus and Berenice«, in: Martin Brunkhorst: Tradition und Transformation. Klassizistische Tendenzen in der englischen Tragödie von Dryden bis Thomson, Berlin: de Gruyter 1979, S. 55–68. 671 Vgl. hier: Anm. 589. 672 Noel, Otway (Anm. 647), S. xli. 673 Noel, Otway (Anm. 647), S. xli. 674 Thomas Otway: Letter IV, in: Thomas Otway (Anm. 645), S. 391.
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hatte es nicht« (11r). Von Noel war auch dieses zu erfahren: Mrs. Barry »deemed the attractions of Lord Rochester superior«, denn vermutlich habe sie »preferred the witty and poundful peer to the tragic and penniless poet«.675 Lord Rochester war also eindeutig die bessere Partie. Er gefiel sich mit seinem Geld in der Rolle eines Kunstpatrons, »who dropped an author as soon as he acquired, by merit or popularity, some independent standing, fancying that his own literary dictatorship might be thereby imperilled.«676 Für eine Weile stand auch Otway in Rochesters Gönnerschaft, was Johnson allerdings nicht erwähnt. So kann er dann auch hauptsächlich Otways Armut als Grund angeben, weshalb sich dieser »1678 in einem Dragoner-Regiment nach Flandern« (11r) begab. Noel hingegen stellt heraus, dass die tragische Liebe die Ursache für den Militärdienst gewesen sei: Otway »could no longer bear to hang about the Duke’s Theatre, as had been his wont, in order to get a glimpse of his lady«, weswegen er sich dann einer »cornet’s commission in a new regiment of horse« verpflichtete, »which was sent out at this time (1678) to join the army under Monmouth in Flanders«.677 Es mag hier für ein gewisses militärhistorisches Wissen sprechen, dass Johnson die »cornet’s commission« mit dem im Deutschen entsprechenden Dragoner übersetzt, einer leicht bewaffneten Reitereinheit. Womöglich hatte er auch Rilkes Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke im Sinn.678 Allerdings sollte Otways Expedition auf das europäische Festland nicht lange dauern, wie Johnson zu berichten weiß: »die Truppe wurde aber bald aufgelöst, während ihre Löhnung durch Zwischenhändler veruntreut worden war« (11r). Die Truppenauflösung wie auch das gerade für Otway finanzielle Desaster schildert auch die Vorlage: »shortly after, however, the troops were disbanded and recalled, while the money voted by the Commons for their payment was shamefully misappropriated«.679 Im Ergebnis, so wieder Johnson, kehrte Otway »in ziemlich erbärmlichem und mutlosem Zustand nach London zurück, und schrieb weiter« (11r). Hier verschiebt Johnson ein wenig die Vorlage, denn »the poet came home in so miserable a plight«, nämlich wegen des finanziellen Verlustes, allerdings »not on account of any want of courage.«680 Zwar übernimmt Johnson für sein Referat die Zuschreibungen, »miserable a plight« als ›erbärmlich‹ und »courage« als ›Mut‹, trifft aber nicht die gleiche Unterscheidung wie Noel. Letzterer bezieht die »courage« offensichtlich auf den 675 676 677 678
Noel, Otway (Anm. 647), S. xli. Noel, Otway (Anm. 647), S. xl. Noel, Otway (Anm. 647), S. xliii. Vgl. Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke, in: ders., Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 1: Gedichte 1895–1910, hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, Frankfurt am Main: Insel 1996, S. 139–152. 679 Noel, Otway (Anm. 647), S. xliii. 680 Noel, Otway (Anm. 647), S. xliii.
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kämpferischen Mut des Soldaten, wohingegen Johnsons Variante von »courage« auf den seiner Umstände wegen ›mutlosen‹ Dichter abstellt. Als nach seiner Rückkehr nun gerade Lord Rochester damit beginnt, »to reproach him on this score«, hält Otway dagegen, »gave him as good as he got in the ›Poet’s Complaint‹«.681 Für Johnson sind das augenscheinlich vernachlässigbare Details, auf die Auseinandersetzung weist er nur allgemein salopp hin: Otway »stritt sich literarisch mit dem Lord Rochester« (11r). Neben literarischen Händeln, in die auch Mrs. Barry einbezogen war, widmete sich Otway nun in London wieder der Bühne. Noel kommt auf sein nächstes Stück, »Caius Marius, which he produced in 1680«, zu sprechen: »It is a barefaced, and indeed avowed plagiarism from Romeo and Juliet, though one or two scenes are his own, and have some merit. […] This play occupied the place of Romeo and Juliet on our stage for seventy years.«682 Johnson verkürzt seine Übersetzung erneut auf das Wesentliche, die Vorlage bleibt dabei kenntlich: »1680 veröffentlicht er ein Stück (›Caius Marius‹) das ausführlich und freimütig ›Romeo and Juliet‹ plagiiert, und die Stelle des Originals auf der englischen Bühne mehr als siebzig Jahre behauptet« (11r). Wie eine nachträgliche Ergänzung, die zudem aus der Chronologie fällt, wirkt dann Johnsons folgender Hinweis auf ein nachgetragenes, früheres Stück: schon 1678 sei »auch eine Komödie entstanden, ›Friendship in Fashion‹« (11r). Das lässt sich als ein Hinweis auf Johnsons Arbeitsweise lesen, denn am Ende des Absatzes, in dem Noel von dem Romeo und Julia-Plagiat spricht, weist auch er – als sei es ihm eben noch eingefallen – auf dieses Schauspiel hin, ohne dass es weiter kontextualisiert oder sonst etwas dazu gesagt würde: »Before leaving England he had written his first comedy, Friendship in Fashion, which appeared in 1678.«683 Es kann aus dieser Syntagmatik gefolgert werden, dass Johnson parallel zu seiner – ersten – Lektüre Noels Otway-Biographie exzerpierend übersetzt hat. Dafür spricht auch die folgende Absatzregelung: Noel wie Johnson setzen jeweils neu an, und zwar beide mit demselben Aspekt. Johnsons Vorlage berichtet: »In the year 1680 Otway’s second great play, The Orphan, appeared. Voltaire attacked it furiously, and will allow no merit to le tendre Otway. Ten681 Noel, Otway (Anm. 647), S. xliii. Vgl. zu diesem literarischen Streit und Otways politischsatirischer Ode The Poet’s Complaint of his Muse die Ausführungen von Thomas Thornton: »It must be noticed, that, at this time, the poet was smarting under the lash of Lord Rochester, who, in his ›Session of the Poets‹, lavishes such a vulgar abuse upon him, notwithstanding his recent patronage of the author of ›Don Carlos‹« (Thomas Thornton. The Poet’s Complaint, in: The Works of Thomas Otway. In three volumes, with notes, critical and explanatory, and a life of the author, by Thomas Thornton, Vol. III, London: Turner 1813, S. 215f., hier: S. 216). 682 Noel, Otway (Anm. 647), S. xliii [Hervorh. im Original]. 683 Noel, Otway (Anm. 647), S. xliv [Hervorh. im Original].
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derness anywhere was not likely to find favour with the tigre-singe, whose fascinating wit was of an icy brilliance.«684 Die Übersetzung bleibt wieder dicht an ihrer Vorlage: »1680 wurde Otways neben ›Venice Preserved‹ bedeutendstes Stück ›The Orphan‹ aufgeführt. Voltaire griff es heftig an, besonders die ›Zärtlichkeit‹ des Autors bemängelnd, während die englische Öffentlichkeit sich empörte gegen die Immoralität des Stückes« (11r). Zu fragen ist dabei, ob Johnsons Aufwertung von The Orphan einer ungenauen Übersetzung des »second great play« entstammt – was in Anbetracht seiner ansonsten passablen Englischkenntnisse unwahrscheinlich ist –, oder ob sie als eigene Folgerung aus den Ausführungen Noels resultiert, der zwar The Orphan lobend bespricht, eine solch forcierte Hochschätzung aber nicht erkennen lässt. Und es steht zu fragen, warum Johnson Voltaires Urteil übernimmt, abgesehen davon, dass seine Vorlage es ihm eben nahelegt. Hier spielt wahrscheinlich Johnsons Wissen um sowie Sensibilität für die literatur- und kulturpolitische Gegenwart eine Rolle. Voltaire war in der DDR wohlgelitten, es empfahl sich sogar, auf ihn zu verweisen: »Mit Berufung auf aufklärerisches Denken, in dessen Traditionslinie sich die DDR sah, und in massiver Hinwendung zum ›bürgerlichen kritischen Realismus‹ wurden die Großen dieser Jahrhunderte, also vor allem Voltaire, Diderot und Rousseau […] zugänglich gemacht.«685 Und Hans Mayer lobt in seinem Diderot-Nachwort auch Voltaire, den die »bürgerliche Aufklärung […] als sichtbares Haupt seit langem anerkannt« habe.686 Nimmt man nun Noels Otway-Biographie als zentrale Vorlage für Johnsons Referat über den englischen Schriftsteller an, und bislang wie auch fernerhin spricht alles dafür, so entspricht seine folgende Einschätzung, der zufolge »die englische Öffentlichkeit« sich empört habe »gegen die Immoralität des Stückes« (11r), einer nicht ganz zutreffenden Verallgemeinerung. Unter Bezug auf die seinerzeit prominente Kritik an der Restaurationskomödie, A Short View of the 684 Noel, Otway (Anm. 647), S. xliv [Hervorh. im Original]. 685 Brigitte Sändig: Französische Literatur in der DDR, in: Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945, hg. von Nicole Colin u. a., Tübingen: Narr 2013, S. 251–253, hier: S. 251. Vgl. hierzu Johnsons Erwähnung Diderots in ähnlicher Funktion, hier: S. 150– 152. Zu Bedauern ist an dieser Stelle fast, dass Johnson nicht auch Noels Bonmot »tigresinge«, den Tigeraffen, als Beschreibung des Engländers für den Franzosen übernimmt, der mit eben diesem Ausdruck verächtlich gerade auf sein eigenes Volk zu blicken pflegte, so etwa hier: »La moitié de votre nation est composée de petits singes qui dansent, et l’autre de tigres qui déchirent« (Voltaire an d’Étallonde de Morival, 6. 10. 1767, in: Œuvres Completes de M. de Voltaire. Recueil des Lettres de M. de Voltaire. 1767–1768, Deux-Ponts: Sanson 1792, S. 298). 686 Mayer, Nachwort Diderot (Anm. 444), S. 528; vgl. auch hier: S. 151f. – Was die ›bürgerliche Aufklärung‹ freilich wertschätzte, war mit der Aufklärungsideologie des Marxismus unvereinbar. Erstere setzte dem Staat Grenzen durch individuell-private, für jedermann geltende Menschen- und Bürgerrechte. Letztere unterwarf die bürgerlichen Errungenschaften und Freiheitsrechte dem Klassenstandpunkt.
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Immorality and Profaneness of the English Stage, stellt Noel fest, dass deren Verfasser Jeremy Collier »also attacked the play«, allerdings »on other grounds«, als es Voltaire getan habe.687 Collier war Zeitgenosse Otways, Revolutionsgegner, Bischof und Theaterkritiker. Colliers 1698 veröffentlichte Polemik, ein »nicht sehr origineller, ressentimentgeladener Angriff auf schmutzige Redewendungen, Flüche, antiklerikale Tendenzen« in den seit 1660 populären Restaurationskomödien, denunzierte in einem Rundumschlag etliche Tragödien, die seinem Kunst- und Moralempfinden widersprachen.688 So wurde neben vielen anderen auch Otways The Orphan angegriffen. Collier beklagte beispielsweise, etliche »Poets make Women speak Smuttily«, und zwar nicht nur in »the Comedies«, sondern »sometimes« eben auch in der »Tragedy«, wofür er als ersten Beleg eine Protagonistin Otways anführt: »The Orphans Monimia makes a very improper Description«.689 Otway war zum Zeitpunkt von Colliers Kritik schon über ein Jahrzehnt tot, und seine Dramen bilden nur einen Nebenschauplatz bei Collier, wiewohl die postume Behandlung durch den Theaterkritiker zugleich ein Indiz für ihre fortdauernde Popularität sein dürfte. Ausdruck ihrer Nachrangigkeit jedoch ist bei Noel die Formulierung »also attacked«. Wie gut Johnson über Noel und Chambers hinaus über diese literarhistorischen Streitgründe informiert war, bleibt offen. Mit seiner Übertreibung Noels trifft er jedenfalls – wissentlich oder nicht – den Kern der Sache. Denn Colliers Kritik kann als Symptom verstanden werden, nämlich für einen Wandel im englischen Theater im Übergang vom 17. in das 18. Jahrhundert. Nach der allgemeinen Theaterschließung während Commonwealth und Protektorat erfreuten sich mit der Wiedererrichtung der Monarchie und Wiedereröffnung der Theater anfangs vor allem heroische, aristokratisch-höfische Versdramen einerseits und derb-prosaische Komödien mit »illusionslos gesehenen Verknüpfungen zwischen Sex, Liebe, Ehe und Geld« andererseits großer Beliebtheit.690 Dabei hat auch die Befreiung von den bislang dominierenden puritanischen Sittenvorschriften eine bedeutende Rolle gespielt. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts wurde es dann wieder etwas ›ruhiger‹ auf den englischen Bühnen, Empfindsamkeit und Sentiment hielten Einzug, ein bürgerliches Publikum hatte sich herausgebildet und legte Wert auf Moral, Tugend und Erbauung; hier wurden Grundlagen für das spätere sogenannte bürgerliche Trauerspiel gelegt.
687 Noel, Otway (Anm. 647), S. xliv. 688 Johann N. Schmidt: Die Restaurationskomödie, hg. von Hans Ulrich Seeber, 5. aktualisierte und erweiterte Auflage, Stuttgart: Metzler 2012, S. 223–226, hier: S. 226. 689 Jeremy Collier: A Short View of the Immorality and Profaneness of the English Stage. Together with The Sense of Antiquity Upon this Argument, 4. Auflage, London: Keble 1699, S. 9 [Hervorh. im Original]. 690 Schmidt, Restaurationskomödie (Anm. 688), S. 223.
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Ist Johnson bis hierhin weitestgehend Noels Sittengemälde gefolgt, so vollzieht er nun einen Bruch, um ein knappes, allgemeineres Bild der Restaurationszeit zu geben: Charles II, aus seinem französischen Exil zurückgekehrt, hatte die puritanische Ordentlichkeit sofort allen Angriffen ausgesetzt die seine französischen Erfahrungen hervorbringen konnten. Und der jahrelange Reinheitszwang der Republik forderte unter der Restauration eine Zügellosigkeit in sexuellen, sozialen Verhältnissen heraus. Korruption und Veruntreuung Verrat regierten. (11r)
Auch für dieses kleine ›Sittenbild‹ der Restaurationszeit hat er bei Noel ein Vorbild finden können. Dieser hatte es bereits zu Beginn seiner Ausführungen geliefert, etliche Seiten bevor er sich mit Otways Vita genauer befasst. Die für Johnson wesentlichen Aspekte sind darin enthalten, so das Exil und der französische Einfluss Charles II., die damit einhergehende Freizügigkeit und auch die gesellschaftliche ›Verrohung‹ durch Korruption. Was dort hingegen fehlt, sind die von Johnson durch seine Begriffswahl implizit vorgenommenen Bewertungen: Wenn er etwa von ›puritanischer Ordentlichkeit‹ oder einem neurotischen ›Reinheitszwang der Republik‹ spricht, so mag darin auch ein wenig Zeitdiagnose seiner eigenen Gegenwart mitschwingen, der sogleich (ironisch?) die vermeintlichen ›Gefahren‹ einer Restauration (sprich Reaktion) in Form von Zügellosigkeit, Korruption und Verrat gegenübergestellt werden. Der historische Bericht Noels formulierte drastisch: Then, after the Restoration – (partly through that tendency to reaction from extremes which characterizes human nature, partly through the direction given to our stage by a dissolute and light king, who had lived an exile at a court where he and his courtiers, besides acquiring foreign tastes, might well learn disuse, and forget the habit of patriotism) – not only a wide-spread sexual license, but a very general social and political corruption prevailed in England.691
Gemäß dieser Sachlage liegt die anschließende Feststellung durchaus nahe, dass sich nun, in der Restauration, die »Aristokratie erholte«, und zwar »am Theater wie am Hofe wie in der Wirtschaft«, und die einst tonangebenden Puritaner sich jetzt auf den »persönlichen Bereich beschränkt« sahen (11r–v). Nach diesem kleinen historischen Exkurs kehrt Johnson sogleich wieder zurück in die von Noel gebotene Chronologie von Otways Leben. Dort geht es weiter mit Erläuterungen zum nächsten Bühnenstück: »1681 Otway produced The Soldier’s Fortune, a comedy which contains allusions to his own adventures abroad«.692 Johnson erwähnt lediglich den Titel und das Jahr der Veröffentlichung, überspringt aber die weiteren Ausführungen Noels in Über691 Noel, Otway (Anm. 647), S. viii. 692 Noel, Otway (Anm. 647), S. xliv [Hervorh. im Original].
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leitung zu jenem Drama, über das er im Titel seines Referats angekündigt hat zu sprechen. Nach der eben genannten Komödie »wurde 1682 das grösste Drama Otways aufgeführt, Venice Preserved, or: A Plot Discovered« (11v). Auch diese Einschätzung konnte er seiner Vorlage entnehmen, wo Noel fast wortgleich urteilt, Otways »greatest work, Venice Preserved, was brought upon the stage in 1682.«693 Hier nun erlaubt sich der Leipziger Referent eine eigenständige Fokussierung, frei zumindest von jeder genannten Quelle, er macht schon hier »aufmerksam auf so merkwürdigen Titel: der einen Anschlag (a plot) von vornherein als gescheitert, Venedig von vornherein als ›gerettet‹ bekanntgibt« (11v). Eine weitere Deutung des auffälligen Titels erfolgt dann aber nicht, wenngleich das in einem literaturwissenschaftlichen Seminar durchaus zu erwarten gewesen wäre. Eine Beziehung zum Sujet des Dramas wird bestenfalls indirekt hergestellt: Etwas später fällt Johnson nämlich auf, dass man nicht behaupten könne, »dies Drama bezöge seine Spannung aus der Heimlichkeit und Lebensgefahr einer Verschwörung« (14v). In dieser zutreffenden Beobachtung liegt schon die Erklärung des Titels. Denn Otway hat ganz offensichtlich »die politische Handlung […] keineswegs in den Vordergrund seiner Tragödie gestellt«.694 Kenner des Texttyps würden dies auch nicht erwarten – insofern ist Johnsons Bemerkung überflüssig, womöglich der Seminarsituation geschuldet.695 Es folgt bei Noel, und ebenso bei Johnson, ein Einblick in die zeitgenössische Wirkung von Otways Œuvre, und den damit einhergehenden Folgen für dessen Leben. Noel stellt fest, dass »Otway’s plays were well received«, weshalb es »may seem strange that he should have remained so poor.«696 Bei Johnson geschieht an dieser Stelle etwas Bemerkenswertes. Während er den ersten Teil noch von Noel übernimmt, die »Dramen Thomas Otways wurden wohl in der Mehrzahl gut aufgenommen« (11v), formuliert er im zweiten Teil freier. Hat er auch dafür eine Quelle? Denn trotz seines Erfolgs, so Johnson weiter, habe der Dramatiker von »seinen Freunden«, und auch »noch in der englischen Literaturgeschichte, den Spitznamen ›Poor Otway‹« erhalten (11v).697 Damit liegt Johnson durchaus richtig: »The tragedy of ›poor Otway‹ has been bewailed by several generations of
693 Noel, Otway (Anm. 647), S. xlv [Hervorh. im Original]. 694 Klingler, Die künstlerische Entwicklung in den Tragödien Thomas Otways (Anm. 316), S. 158. 695 Es gibt keine Tragödien, weder englische noch deutsche, die solche ›Haupt- und Staatsaktionen‹ ins Zentrum der Handlung rücken würden. 696 Noel, Otway (Anm. 647), S. xlv. 697 Johnson macht hier in seinem Manuskript einen Absatz, und trennt so die Feststellung von Otways Armut von der folgenden, deren Umstände erhellenden Erläuterung. Darin folgt ihm Neumann in seiner Transkription nicht und fährt nahtlos fort (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 49).
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sentimental biographers«.698 Als ein früher Beleg dieses ›Eingangs in die englische Literaturgeschichte‹ kann William Whiteheads A charge to the poets (1762) gelten, eine Ermahnung des »Poet Laureate« des Vereinigten Königreiches unter George II. an seine Kollegen zu ehrenwertem künstlerischen Schaffen, in der er auch dem lange Verstorbenen mitleidig gedenkt: »Poor Otway in an ale-house dos’d, and died!«699 Rätselhaft ist hier, woher Johnson vom diskreten Topos des ›poor Otway‹ wusste. Denn weder bei Noel noch in den anderen von ihm genannten wie den bis dato ermittelten Quellen findet er Erwähnung. Der Ausdruck kommt in der Mermaid-Series-Ausgabe ein einziges Mal vor, Otway selbst unterschreibt einen seiner Liebesbriefe mit: »Remember poor OTWAY.«700 Daraus kann Johnson aber kaum auf eine Tradierung dieser Eigenschaft als attributive Formel geschlossen haben. Spätestens dadurch wird also evident, dass Johnson, wenigstens für dieses schon recht spezielle Wissen, auf eine weitere Quelle zurückgegriffen haben dürfte. Eine Quelle, die er nicht nennt, und die sich in Ermangelung weiterer Hinweise derzeit auch nicht ermitteln lässt. Gleich darauf hält sich Johnson aber wieder dicht an Roden Noels Ausführungen über die Stellung von Theater und Schriftsteller im späten 17. Jahrhundert. Über den damaligen Kulturbetrieb berichtet Noel: »Theatrical amusements were not the general resort of the people«.701 Johnson übersetzt etwas freier: »Das Theater war in jener Zeit kein Unternehmen allgemeinen Interesses« (11v), und fährt fort: viele wurden noch von puritanischen Skrupeln zurückgehalten, andere von der Offenheit die damals modern war und die sie Unanständigkeit nannten. Das beliebteste Stück konnte sich nicht lange auf der Bühne halten. Dazu: zu Otways Lebzeiten hatte der Autor nur einen Anspruch auf den Ertrag der third performance, der dritten Vorstellung, der unter den geschilderten Umständen nicht gering war. Andererseits: die Buchhändler bezahlten beispielsweise für das Copyright von »Venice Preserved« fünfzehn Pfund. Otway hatte oft seine third night verpfändet. (11v)
Wie eng Johnsons Übersetzung an dieser Stelle an seine Vorlage anschließt, wird durch den direkten Vergleich deutlich. Die bedeutendste Änderung Johnsons in diesem Abschnitt ist noch die Ersetzung des Namens Jacob Tonson durch dessen Berufsstand. Wobei diese spezielle Metonymie nicht zwingend auf eine weitere Quelle oder umfangreiches Wissen Johnsons hindeuten muss. Denn schon der Hinweis Noels, dass Tonson das Copyright gekauft habe, lässt in ihm einen Buchhändler vermuten: 698 Roswell G. Ham: Otway’s Duels with Churchill and Settle, in: Modern Language Notes 41, 1926, No. 2, S. 73–80, hier: S. 73. 699 William Whitehead: A Charge to the Poets, London: Dodsley 1762, S. 13. 700 Thomas Otway: Letter IV, in: Thomas Otway (Anm. 645), S. 391. 701 Noel, Otway (Anm. 647), S. xlv.
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Religious scruples still withheld many, as in Commonwealth days; and others were kept away by the indecency then in vogue. The most popular play did not remain long on the boards. In Otway’s time, moreover, an author had only one benefit from the representation, which was on the third night. […] Gildon says that Otway got a hundred pounds a piece for The Orphan and Venice Preserved, while old Jacob Tonson bought the copyright of Venice Preserved for fifteen pounds. The poet was sometimes in such straits that he had to pawn his third day for fifty pounds.702
Neben Einkünften aus Buchverkäufen und Theateraufführungen gab es für den ›armen Otway‹ noch eine weitere Einnahmequelle. In recht freier Paraphrase Noels kommt Johnson darauf zu sprechen, dass eine »viel ausgenutzte Möglichkeit […] noch Prologe und Vorreden« waren, die von den »solcherart geehrten Persönlichkeiten mit Guineen« bezahlt wurden, dazu gehörten »Anlässe wie ein Thronwechsel« (11v). Bei Noel folgt auf den Bericht über die kläglichen Saläre für Theaterdichter ein entsprechender Hinweis auf diese Widmungspraxis aus monetären Erwägungen. So habe Otway anlässlich des Todes von König Charles II. ein entsprechendes Gedicht veröffentlicht. Noel gibt dabei allerdings zu bedenken, dass Otways »praises of Charles were probably not much more sincere than those which he, and other writers of the day, lavished upon people of rank in their dedications for the sake of a few guineas.«703 Und auch noch Johnsons pauschale Verurteilung dieser Kasuallyrik Otways, sie sei »sämtlich von Übel« (11v), hat wahrscheinlich in Noel ihre Vorlage. Dieser hatte ähnlich radikal geurteilt: »All Otway’s poems are bad«, ließ aber immerhin noch eine Ausnahme gelten: »except the Epistle to Duke, his friend.«704 Für das Leipziger Referat war ein solches Detail unerheblich, unerheblich wie offenbar auch Otways letztes Bühnenstück, die Komödie The Atheist. Dabei mag eine Rolle gespielt haben, dass auch Roden Noel es nur knapp als die Fortsetzung von The Soldier’s Fortune erwähnt, sich ansonsten aber über dieses Schauspiel ausschweigt, vielleicht wegen des »confusing plot« dieser Beziehungskomödie.705 Auf die finanziellen Schwierigkeiten und auch die tragisch-einseitige Liebe Otways war Johnson bereits eingegangen; im resümierenden Schluss seiner Otway-Biographie greift er beides noch einmal auf. Thomas Otway sei »[a]ufgerieben von der sieben Jahre lang bewahrten und unerfüllten Liebe zu jener Mrs. Barry«, und überdies »zermürbt von dauernder Geld-Not«, und darum »begann Otway zu trinken« (11v). Hier fällt die konkrete Zahl der sieben Jahre seiner vergeblichen Liebe ins Auge. Sie ist nur indirekt aus Noels Bericht zu ermitteln, 702 703 704 705
Noel, Otway (Anm. 647), S. xlvi. Noel, Otway (Anm. 647), S. xlvi. Noel, Otway (Anm. 647), S. xliii–xliv. Zenón Luis-Martínez: Otway, Thomas, in: The Encyclopedia of British Literature 1660–1789, Vol. II: Em–Q, hg. von Gary Day und Jack Lynch, Chichester: Wiley Blackwell 2015, S. 862– 867, hier: S. 866.
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aus der Datierung seines ersten Stücks Alcibiades, das 1675 mit Elizabeth Barry uraufgeführt wurde und dem vermutlichen Ende von Otways Hoffnungen, als sein »last attempt to win his lady’s love« scheiterte, zudem noch »under accumulated debt, he, like how many others, surrendered himself to those habits of inebriety«.706 Noel datiert diese Ereignisse auf etwa 1681/82, 1682 spielte Barry noch die Hauptrolle in Venice Preserved. Daraus ergibt sich dann ungefähr das von Johnson genannte siebenjährige Martyrium. Wobei allerdings im Dunkeln bleibt, wann genau Otway auf Mrs. Barry getroffen sein mag, war er doch schon seit 1671 in London ansässig. Vermutlich hat Johnson die Liebesbriefe Otways im Anhang der Mermaid-Ausgabe konsultiert. Die im vierten Brief geschilderten »seven long tedious years of desire« wurden hier bereits zitiert. Und im fünften Brief klingt Otway dann fast schon resigniert und ein wenig zornig: In short, I have made it the business of my life to do you service and please you, if possible by any way to convince you of the unhappy love I have for seven years toiled under; and your whole business is to pick ill-natured conjectures out of my harmless freedom of conversation, to vex and gall me with, as often as you are pleased to divert yourself at the expense of my quiet.707
Am Ende, so Johnson dann weiter, habe sich Otway »vor der Meute seiner Gläubiger in ein übel verschrienes Haus« zurückgezogen, wo er schließlich auch »gestorben sein soll« (11v–12r). Dabei seien die genauen Umstände seines Todes ungeklärt, »man erzählt da verschiedene Geschichten«, in denen »beständig wiederkehrt er sei an Hunger gestorben« (12r). Roden Noel widmet sich der Schilderung von Otways letzten Tagen ausführlicher: Der verarmte Dichter »had withdrawn from the importunate clamour of creditors to an obscure publichouse«,708 wo er dann schließlich gestorben sei. Über die genauen »circumstances of his death« gäbe es »a conflict of evidence.«709 Um diese Überlieferungslage zu illustrieren, gibt Noel die verschiedenen Versionen des möglichen Ablebens wieder: Otway sei entweder, nachdem er nach langem Hunger endlich zu einem Stück Brot gekommen sei, daran erstickt, oder er sei, so eine andere Variante, an den Folgen einer Verfolgungsjagd gestorben; dadurch und durch Hunger geschwächt, habe er Fieber bekommen und dann sei sein überhitzter Körper kollabiert, als er endlich etwas Wasser bekam. Noel beschließt seinen Bericht mit der Feststellung: »Yet undoubtedly insufficient nourishment must have accelerated his end.«710 Darin ist deutlich die Vorlage für Johnson zu erkennen, der als
706 707 708 709 710
Noel, Otway (Anm. 647), S. xlv. Thomas Otway: Letter V, in: Thomas Otway (Anm. 645), S. 392. Noel, Otway (Anm. 647), S. xlvii. Noel, Otway (Anm. 647), S. xlvii. Noel, Otway (Anm. 647), S. xlviii.
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gemeinsamen Nenner der verschiedenen Berichte eine Mangelernährung des ›armen Poeten‹ konstatiert. Schließlich dringt Noel als Vorlage noch einmal im Schlusswort von Johnsons Otway-Biographie durch. Wenn Johnson meint, »dass die Aristokratie für die sich Otway jedenfalls entschieden hatte, einen Künstler verriet« (12r), so ist das ein mögliches Resümee aus Noels Lebensbeschreibung. Otway habe zwar einerseits »cultivated the society of men of rank and fashion«, andererseits war es diese Gesellschaft, die nicht nur »helped him to get rid of his money in many foolish ways«, sondern darüber hinaus auch »left him in the lurch when he needed them most«.711 Und daher macht es am Ende den Eindruck, so Noel abschließend, dass Otway »fell a victim to this devoted comradeship, which he has so forcibly delineated in his tragedy.«712 Er stünde damit in einer Reihe anderer prominenter Dichter, wie etwa Keats oder Byron. Einer solchen, poetisierenden Verklärung will sich Johnson nicht anschließen. Die historischen Fakten gereichen ihm zu einem politischen Seitenhieb, ganz im Sinne der in der Gründungsphase der DDR gewünschten Lesart: Denn es sei schließlich die »Aristokratie« gewesen, die herrschende Klasse also, die jemanden, der sich für sie »entschieden hatte«, ausgebeutet und keine Hilfe in der Not gewährt habe, mithin »einen Künstler verriet der nicht hätte nach 34 Jahren sterben müssen« (12r).713 Fraglich bleibt, ob diese Klassenkampf-Rabulistik hier vonnöten war (Hans Mayer dürfte sie wohl kaum gefordert haben), oder ob sie einen Protest darstellt gegen das plakative Befragen historischer Befunde nach gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, wie sie von DDR-Wissenschaftlern gern als Epitheton ornans am Anfang und Ende ihrer Ausführungen angebracht wurden, um dann im eigentlichen Darstellungsbereich umso ungestörter und freier ihren wahren Überzeugungen folgen zu können. Alle Schüler- und Studienarbeiten Johnsons legen Zeugnis ab von dieser beständigen Suche nach der geeigneten Form: Das sehr schulmäßige Otway-Referat, das wohl vor allem in der Performanz coram publico überzeugte, wird abgelöst von freieren (und frecheren) Präsentationsformen, wie noch zu sehen sein wird, die nicht unbedingt den Beifall Hans Mayers finden, bis hin zu schwer zugänglichen, komplex-voraussetzungsvoll sprechenden Klausuren, die sich dem akademisch-studentischen Diskurs zu entziehen suchen. Dabei ist einzuräumen, dass auch Hans Mayer nur bedingt akademisch aufgetreten sein dürfte: Er gab mehr den charismatischen Erzähler711 Noel, Otway (Anm. 647), S. xl. 712 Noel, Otway (Anm. 647), S. xlix. 713 Johnson hat in seinem Manuskript die Zahl 33 mit 34 überschrieben, so stimmte seine Rechnung, wenn er 1651 als Geburtsjahr annimmt. Neumann transkribiert hier die 33, und bleibt so immerhin konsequent, nachdem er das von Johnson ›falsch‹ angegebene Geburtsjahr Otways von 1651 auf 1652 stillschweigend korrigierte (vgl. Anm. 648).
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Philologen, der sich egomanisch ins Zentrum der Literaturgeschichte stellte, der sich als Hommes des Lettres vielseitig interessiert und begabt zeigte, der musizierte und in Künstlerkreisen verkehrte. Mayer arbeitete erkennbar anders als Johnson in seinem Otway-Referat, Mayer pflegte einen geradezu gewissenlosen Umgang mit seinen Quellen, so er sie überhaupt anführte, und seine literarhistorischen Betrachtungen waren oft Ausdruck bedenklicher, aber auch beeindruckender Gedächtnisleistungen: Er fabulierte gern, aber Befunde sorgfältig herzuleiten und nachzuweisen, war seine Sache nicht. Auch Johnson wird sich befreien von seiner fast sklavischen Gefolgschaft, die er seinen Quellen schuldet, auch er wird die Freiräume literarischen Sprechens und Argumentierens in die Universität tragen und damit auch Konflikte mit seinem akademischen Lehrer provozieren, dessen alleiniges Regal es war, in der Wissenschaft Literatur zu leben. In der Summe lässt sich sagen, dass Johnson seinen Quellen und Vorlagen minutiös folgt und sich nur unerhebliche Abweichungen und Raffungen erlaubt. Ideologisch nutzt er Noels Gesellschaftspanorama für eine generalisierende und pauschalisierende Kritik der historischen Bedingungen der Frühen und Bürgerlichen Neuzeit, die – Stichwort Aristokratie – von sozialer Ungleichheit und Ausbeutung geprägt gewesen sei. Ganz im Sinne des historisch-dialektischen Materialismus erscheint Otways sozialer Abstieg hier als quasi naturgesetzliche Kausalwirkung der Verhältnisse, die den Grundwiderspruch von Kapital und Arbeit nicht überwinden kann, sodass das Subjekt notwendig scheitern muss. Noch im Augenblick des künstlerischen Triumphs muss der Autor den Lohn seiner Arbeit verpfänden, sodass er im Sinne kapitalistischer Ökonomie niemals prosperieren wird und von seiner Kunst auch niemals profitieren kann. Aber selbst wenn Johnson diesem Erklärungsmodell im Wortsinne folgt, darf daraus noch nicht geschlossen werden, dass er es auch im Wortsinne glaubt. Denn eine Strategie bürgerlicher Literaturwissenschaft in der DDR war es, wie gesagt, einleitend ein Lippenbekenntnis zur je geforderten Ideologie abzulegen, um dann gleichwohl solide Philologie im Sinne der tradierten Geisteswissenschaften zu betreiben: Man war institutionell korrumpiert, ohne sein wissenschaftliches Ethos verraten zu haben. Überdies muss hier die Möglichkeit ironischen Sprechens erwogen werden. Johnsons Wortwahl wirkt für den heutigen Leser fast zu plump, als dass sie ohne Abstriche ernstgenommen werden könnte. Vielleicht war es auch Communis Opinio in den Vorlesungen und Seminaren Hans Mayers, dass man sich in das Unumgängliche schickte, indem man der geforderten Gesellschaftstheorie und Geschichtsphilosophie Tribut zollte, zugleich aber mimisch-gestisch durchblicken ließ, was man von ihr tatsächlich hielt. Von den Wortreferaten Johnsons wäre also ihre Performanz vor dem universitären Auditorium zu unterscheiden – eine Performanz, die leider nicht überliefert ist. Bekannt ist aber Johnsons
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Vermögen, intensional von der Wortwörtlichkeit des Gesagten abzuweichen, das heißt uneigentlich und auch ironisch zu sprechen, dergestalt, dass bei linientreuer Rede der Nebensinn persönlicher Distanz zum Gesagten mit aufschien. Ob dem hier so war, oder ob Johnson mit Überzeugungsnähe zum Referierten gesprochen hat, ist leider nicht (mehr) zweifelsfrei zu entscheiden.
7.5.2 Ein heroisches Drama der Restauration Bevor Johnson in seinem Referat nun aber endlich auf Otways Venice Preserved zu sprechen kommt, unternimmt er noch einen vorbereitenden Exkurs über das englische Restaurationsdrama. Als einen exemplarischen Vertreter behandelt er hier das Œuvre des seinerzeit prominenten und ästhetisch einflussreichen Dramatikers John Dryden. Bei der näheren Betrachtung von Johnsons Referatsmanuskript fällt auf, dass er hier, anders als bisher, offenbar keiner seiner bislang verwendeten, von ihm genannten oder nicht genannten, Vorlagen streng gefolgt ist, sondern seinen Text stattdessen, wenigstens zum Teil, auf der Grundlage mehrerer Quellen kompiliert zu haben scheint. Demgemäß soll es im Folgenden darum gehen, die von Johnson genannten Quellen seines Vortrags daraufhin zu prüfen, ob sie ihm die notwendige argumentative Schützenhilfe geliefert haben können, um daran ermessen zu können, wie er mit seinem Material umgegangen ist, und ob Hinweise auf weitere, nicht genannte Quellen – wie etwa im Falle Miltons – zu vermuten sind. Johnson hebt wiederholend damit an, dass zur Zeit von Cromwells Commonwealth zwar »sämtliche Theater geschlossen« gewesen seien,714 man »aber zuweilen […] musikalische Aufführungen privater Art gestattet« (12r) habe. Aus seinem Quellenreservoir mag hierfür der Artikel zu John Dryden in Chambers’ Cyclopaedia verantwortlich sein. Darin wird als frühes Beispiel des heroischen Dramas »D’Avenant’s Siege of Rhodes« genannt, denn das paradigmatische Stück sei »safeguarded by its title of ›opera,‹« gewesen, und habe »actually preceded the Restoration and the reopening of the theatre generally (1656).«715 Daraus mag der findige Student geschlossen haben, dass eben »zuweilen […] musikalische Aufführungen privater Art gestattet« gewesen sein mochten, wiewohl der Aspekt des Privaten in der Argumentation nicht vorkommt. Tatsächlich nimmt William D’Avenant für dieses Genre eine Vorreiterrolle ein, sein »heroic play«, wird »mit seinen ›ideas of greatness and virtue‹, edlen Motiven und unlösbaren Konflikten 714 Vgl. hier: S. 172. 715 George Saintsbury: John Dryden, in: Chambers’s Cyclopaedia of English Literature. Vol. I, New Edition by David Patrick, London: W. & R. Chambers 1901, S. 791–816, hier: S. 796 [Hervorh. im Original].
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[…] dem Genre den Namen geben, der Titel seines erfolgreichen Werkes Love and Honour (1634) dazu das Programm.«716 Obwohl D’Avenant als Royalist zeitweise inhaftiert gewesen war, konnte er noch während des Lordprotektorats seiner schriftstellerischen Arbeit wieder nachgehen, wobei er eine Leidenschaft für die Oper entwickelte: Er »began to experiment with staged performances that were sufficiently non-dramatic to avoid the interregnum prohibition of theater.«717 Es gelang ihm, die puritanische Obrigkeit vom Nutzen dieser ›gemischten‹ Kunstform zu überzeugen, und so durfte er The Siege of Rhodes (1656) unter den strengen Sittenauflagen des Commonwealth aufführen, und zwar dezidiert öffentlich; von Inszenierungen »privater Art« ist hingegen nicht die Rede. Für den Referenten Johnson ist die – zumindest von ihm kommunizierte – Quellengrundlage in diesem Fall recht dünn, so dass zu vermuten steht, er habe entweder weitere, nicht genannte Quellen zur Verfügung gehabt oder über ein bemerkenswertes Spezialwissen der englischen Theatergeschichte verfügt. Der Chambers-Artikel kommt in diesem Fall zwar einerseits als Quelle in Betracht, da darin unmittelbar auf das Stück D’Avenants verwiesen wird, dem auch Johnson »eine besondere Bedeutung« bescheinigt, indem es »die Hauptrichtung der englischen Restaurationstragödie« festgelegt und »die englische dramatische Oper« begründet habe (12r); und auch Johnsons zweiter wichtiger Gewährsmann Roden Noel stellt die bedeutende Rolle D’Avenants heraus, indem er auf »the origins of the so-called ›heroic‹ drama in England« hinweist, nämlich eben jene »semioperatic creation of Sir W. Davenant under the Protectorate«718 – doch wird andererseits weder von Noel noch von Chambers die von Johnson behauptete Tragweite von The Siege of Rhodes deutlich gemacht. Nach diesem einleitenden Überblick will Johnson stracks »Zum Drama« (12r) kommen. Zu diesem Zweck widmet er sich dem prominentesten Vertreter der (frühen) Restaurationsdramatik: John Dryden. Dessen Vita referiert er nun deutlich geraffter als zuvor jene Miltons oder Otways. So konzentriert sich seine Darstellung der engen Verbindung von Leben und Werk dieses prägenden und wirkungsmächtigen Autors der Restauration und ihres heroischen Dramas auf die historisch relevanten Bedingungen sowie die weltanschaulichen Folgen seines Kunstschaffens. Diese engen Verflechtungen werden gleich zu Beginn deutlich, als Johnson darauf verweist, dass Dryden zwar »der Tradition seiner Familie entsprechend Puritaner war«, er allerdings »mit der Restauration sich in einen Royalisten« (12r) verwandelt habe – wie viele seiner Kollegen damals auch. In Chambers’ Cyclopaedia ist über die puritanische Gesinnung des Elternhauses 716 Fritz-Wilhelm Neumann: Davenant, William, in: Metzler Lexikon Englischsprachiger Autorinnen und Autoren (Anm. 542), S. 148 [Hervorh. im Original]. 717 [Art.] Davenant, Sir William, in: Grossman, Seventeenth-Century Literature Handbook (Anm. 567), S. 267–269, hier: S. 268. 718 Noel, Otway (Anm. 647), S. xi.
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nichts zu erfahren, auch der ›Gesinnungswandel‹ angesichts der Restauration lässt sich allenfalls mittelbar dort herauslesen. Deutlicher ist Roden Noel in dieser Hinsicht in seiner Otway-Biographie, er kommt bei der Darstellung des produktionsästhetischen Umfelds mehrfach auf Dryden zu sprechen. Dort konnte Johnson lesen, dass »Dryden was born a Puritan, though he died a Catholic«.719 Doch damit nicht genug, so Johnson weiter, denn Dryden wurde überdies »für James II. dann katholisch und poeta laureatus«, bevor er schließlich »durch die Revolution seines Amtes enthoben« worden sei (12r). Hier fasst der Referent die historische Ereignisfolge sehr forsch zusammen, was einerseits dem beabsichtigten Überblickscharakter, andererseits auch der dürftigen Quellenlage entsprochen haben mag. So wird aus der Literatur zu seinem Vortrag nur indirekt ersichtlich, dass Dryden gerade »für James II.« katholisch geworden ist, wiewohl das offenbar den Tatsachen entspricht.720 Chambers spricht ein wenig diskreter von »Dryden’s change of faith shortly after the accession of James II.«721 Die von Johnson syntagmatisch unterstellte Kausalität von Konfessionswechsel und Ernennung zum Hofdichter ist historisch allerdings nicht gegeben. Von Chambers ist im Gegenteil zu erfahren, dass Dryden »was made (1670) poetlaureate«, also noch unter der Regierung von Charles II., übrigens »in succession to D’Avenant«.722 Der (noch) anglikanische Dryden wurde bereits von seinem ebenfalls (noch) anglikanischen Fürsten ernannt – zumindest offiziell, denn auf dem Sterbebett wurde König Charles II. Katholik. Dryden wurde demzufolge bereits 1668 zum »Poet Laureate« gemacht, während er erst etwa 20 Jahre später seinen Glauben dem neuen katholischen König James II. anpasste. Zutreffend ist dann bei Johnson wieder, dass Dryden im Zuge der Revolution, jener so genannten ›Glorious Revolution‹ von 1688/89, seine offizielle Stellung verlor. Bei Noel bleibt dieser Verlust – um nicht von einer Degradierung oder Demütigung zu sprechen, denn die Position des »Poet Laureate« wurde zu jener Zeit auf Lebenszeit verliehen – unerwähnt, und auch Chambers hält sich bemerkenswert bedeckt, spricht davon, dass »when the wreck came it was, as far as place and pension went, total.«723 Johnson lässt seinen kurzen biographischen Abriss
719 Noel, Otway (Anm. 647), S. xi. 720 Vgl.: »Als nach dem Tode von Charles II 1685 dessen jüngerer römisch-katholischer Bruder als James II den Thron bestieg, wurde auch D[ryden], der noch 1682 in dem Lehrgedicht Religio Laici die anglikanische Kirche verteidigt hatte, römischer Katholik und rechtfertigte nunmehr seine neue Kirche in der allegorischen Tierfabel The Hind and the Panther (1687)« (Rolf Lessenich: Dryden, John, in: Metzler Lexikon Englischsprachiger Autorinnen und Autoren (Anm. 542), S. 171–173, hier: S. 172). 721 Saintsbury, Dryden (Anm. 715), S. 793. 722 Saintsbury, Dryden (Anm. 715), S. 792. 723 Saintsbury, Dryden (Anm. 715), S. 793.
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– formuliert als einziger langer Satz – in das Begräbnis des Dichters »in Westminster Abbey« (12r) 724 münden. Seine Grablegung an diesem prominenten Ort »verdankt er seinen Versen« (12r), so Johnson, und leitet damit auf die Betrachtung von Drydens künstlerischem Schaffen über. Den außergewöhnlichen literarischen Rang des englischen Dichters, der ein solches Begräbnis rechtfertigte, fand Johnson bei Chambers vorformuliert: Drydens »intellectual and literary greatness […] has scarcely ever been denied by any competent authority.«725 Dort war auch zu erfahren, dass Drydens Œuvre »Versdramen, literarische Satiren, philosophische Gedichte, Fabeln und Dithyramben für den Katholizism« (12r) 726 umfasst, wobei letztere, die Loblieder auf den Katholizismus, als Interpretationsleistung des Studenten angesehen werden müssen, denn bei Chambers wird Drydens »change of faith« zwar durchaus thematisiert,727 dessen literarischer Niederschlag hingegen kaum behandelt. Mit der forschen These, »Dryden war der eigentliche Schöpfer dieses heroischen Dramas« (12r), bezieht Johnson literarhistorisch Stellung. Er entscheidet sich offenkundig gegen die Position von Chambers’ Cyclopaedia. Unmissverständlich sagt Chambers über Drydens Rolle bei der Entstehung dieser Sonderform des heroischen Versdramas: »He did not exactly invent it; it is one of those literary kinds which, in a famous phrase, were never directly invented by any one, but ›growed‹.«728 Noel hingegen lobt Dryden als Pionier englischer Lehrdichtung, wenngleich nur in einer Fußnote: »Dryden is the father of […] didactic verse«.729 Doch trifft er keine vergleichbare Aussage über eine konkrete Vorreiterrolle Drydens für dieses »Zwittergenre« der »heroic tragedy«, wie Johnson sie behauptet.730 724 In Johnsons Manuskript ist die Londoner Kirche eindeutig benannt, allein seine oft schwer zu entziffernde Handschrift erklärt wohl Neumanns Transkription zu »bestimmter Abbey« (Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 50), die bei ihm sachlich und semantisch allerdings ohne Referenz steht. 725 Saintsbury, Dryden (Anm. 715), S. 794. 726 Nach »Katholizism« folgt in Johnsons Manuskript noch ein Gedankenstrich und dann ein Absatz, der den thematischen Wechsel vom Überblick hin zur Detailbetrachtung des Werks unterstreicht; Neumann übernimmt diesen Absatz nicht (vgl. Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 50). 727 Saintsbury, Dryden (Anm. 715), S. 793. 728 Saintsbury, Dryden (Anm. 715), S. 796. 729 Noel, Otway (Anm. 647), S. xi f. 730 Eckart Stein: Aureng-Zebe, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 4: Cl–Dz, hg. von Walter Jens, München: Kindler 1988, S. 887f., hier: S. 888 [Hervorh. im Original]. Dass es sich bei The Indian Queen um eine Co-Autorschaft Drydens mit seinem Schwager Robert Howard gehandelt hat, findet sich nicht bei Schirmer – und folglich auch nicht bei Johnson –, Howard kommt in seiner Studie überhaupt nicht vor. Freilich handelt sich dabei nicht um eine Erkenntnis neuerer Forschung. Zu den »first heroic plays proper« rechnet schon 1920 der englische Literatur- und Theaterwissenschaftler Allardyce Nicoll »Howard and Dryden’s
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Hier nun ist der Punkt erreicht, ab dem sich Johnsons weitere Ausführungen nicht mehr auf Sekundärliteratur zurückführen lassen. Schon die bis hierhin aufgezeigten Textreferenzen zwischen seinem Vortrag und Chambers’ Lexikon beziehungsweise Roden Noels Einführung in Otways Werk erfordern stellenweise ein gewisses Maß an geschickter, teils auch spekulativer Übernahme. Mit einiger Sicherheit zeichnen Noel und Chambers für den biographischen Hintergrund verantwortlich; alles darüberhinausgehende Wissen erklärt sich durch sie nur bedingt. Johnson macht nun aber gerade an dieser Stelle seines Referats, bei seinen Ausführungen über das heroische Drama, deutlich, dass er sich seine Kenntnisse und Einschätzungen sehr wohl angeeignet hat: »wie ich gelesen habe« (12v). Konsultiert hat er zu diesem Zweck – einmal mehr – Walter Schirmer. Allerdings nicht dessen Habilitationsschrift über Antike, Renaissance und Puritanismus, sondern seinen literarhistorischen Überblick über die Kurze Geschichte der englischen Literatur.731 Dabei handelt es sich um eine gekürzte Ausgabe der bereits 1937 erschienenen Geschichte der englischen Literatur.732 Die Kurze Geschichte hat nach dem auf das Jahr 1943 datierten Vorwort des Verfassers zum »Ziel, nicht nur dem Studenten ein Lehrbuch, sondern dem gebildeten Leser Einführung und Überblick zu bieten«.733 Der Referent schöpfte vor The Indian Queen« (Allardyce Nicoll: The Origin And Types Of The Heroic Tragedy, in: Anglia. Zeitschrift für englische Philologie 44, 1920, S. 325–336, hier: S. 328). In einer Anmerkung schlägt er die Autorschaft dann sogar Howard allein zu (vgl. ebd., S. 333, Anm. 4). Dabei ist bis dato nicht entschieden, welchen Anteil die beiden Autoren je konkret an dem Stück hatten, es gilt als »collaboration of Dryden an his brother-in-law Sir Robert Howard, but authorities have hotly debated the division of labour« (Curtis Alexander Price: Henry Purcell and the London Stage, Cambridge: Cambridge University Press 1984, S. 125). Bis heute wird zumeist verkürzend Dryden die Autorschaft zugeschlagen und nur in Fachpublikationen entsprechend differenziert: »co-written with John [sic!] Howard« (Barbara Korte: Aphra Behn’s The Widow Ranter: Theatrical Heroics in a Strange New World, in: Anglia. Zeitschrift für englische Philologie 133, 2015, H. 3, S. 435–451, hier: S. 437). 731 Vgl. Walter F. Schirmer: Kurze Geschichte der englischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Halle/Saale: Niemeyer 1945. 732 Vgl. Schirmer, Geschichte der englischen Literatur (Anm. 603). 733 Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. III. Aus heutiger Perspektive, vor dem Hintergrund vielfacher und teils sehr prominent geführter öffentlicher Diskussionen über korrektes wissenschaftliches Arbeiten und die möglichen vielfältigen Folgen von Plagiaten in wissenschaftlichen Texten, mutet Schirmers Vorwort beinahe befremdlich an. Um sein Ziel, »Einführung und Überblick zu bieten«, zu erreichen, hat Walter Schirmer für seine gekürzte Literaturgeschichte nämlich gezielt »die bibliographischen Angaben aufs äußerste begrenzt« (ebd.). Das ist aber kein Ausdruck geringeren wissenschaftlichen Anspruchs oder Qualität, sondern mehr ein Zeichen für eine andere Priorisierung, bei der der Fokus auf der Darstellung des Themas liegt. Die notwendigen Belege und Quellen werden von Schirmer selbstverständlich geliefert, jedoch ohne dass eine ›formale Überfrachtung‹ damit einhergeht. Hans Mayer hingegen hat sich generell nicht mit Quellenangaben und Zitatnachweisen aufgehalten. So erklärt er etwa im Nachwort seiner Büchner-Biographie, sich dadurch »an ein breiteres Publikum wenden« zu können, nicht nur »an den Kreis der Fachhistoriker und Spezialisten für deutsche Literatur«, gleichwohl
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allem das darin enthaltene Kapitel John Dryden und das Drama für seinen Vortrag ab, und insbesondere dessen zweiten Abschnitt Das heroische Drama. Trotz seines ausdrücklichen Hinweises auf dieses angelesene Wissen, lässt er sein Publikum über seine konkrete Quelle im Ungewissen, in seinem Referatsmanuskript findet sich kein Hinweis darauf. Dort hebt Schirmer, nachdem er einleitend »Drydens wegweisende Bedeutung für das Drama« hervorgehoben hat, mit der historischen Tatsache an, wonach die englischen »Theater während der Republik 1642–1660 geschlossen« waren: »aber gelegentlich wurden musikalische Aufführungen privater Art gestattet.«734 Die Übereinstimmung mit Johnsons Einstieg in das Thema ist augenfällig: »Unter dem Commonwealth von 1642 bis 1660 waren sämtliche Theater geschlossen, aber zuweilen wurden musikalische Aufführungen privater Art gestattet« (12r). Diese offenkundige Engführung setzt sich auch im anschließenden Satz sowohl Schirmers als auch Johnsons fort. Schirmer betont hinsichtlich der musikalischen Aufführungen: unter diesen hat Sir William D’Avenants (1606–1668) The Siege of Rhodes (1656) besondere Bedeutung, denn diese den Liebe- und Ehre-Vorwurf mit musikalischer Umrahmung abwandelnde »heroische Geschichte« […] legte die Hauptrichtung der Restaurationstragödie fest und begründete die englische oder dramatische Oper.735
Johnson paraphrasiert ihn, stellt nur ein wenig um, bleibt aber ansonsten plagiatorisch dicht bei den Ausführungen des Anglisten Schirmer: Unter diesen hat »The Siege of Rhodes«,736 eine heroische Geschichte mit musikalischer Umrahmung von Sir William D’Avenant eine besondere Bedeutung, denn dies Stück legte die Hauptrichtung der englischen Restaurationstragödie fest und begründete die englische dramatische Oper. (12r)
seien alle seine Aussagen und Zitate »urkundlich zu belegen« (Hans Mayer: Georg Büchner und seine Zeit, Lizenzausgabe, Berlin: Volk und Welt 1947, S. 397). Vielleicht sind diese beiden ›Vorbilder‹ zum Teil für des Studenten Johnsons forschen Umgang mit Quellen verantwortlich. – Solche ›condensed books‹, wie das von Schirmer, zielen nicht selten auf einen zweiten Markt und ein größeres Publikum. So kürzte Heinz Schlaffer sein mäßig erfolgreiches Buch Poesie und Wissen (Suhrkamp 1990) und landete mit Die kurze Geschichte der deutschen Literatur (Hanser 2002) einen Bestseller. Ähnlich legte der Verlag C. H. Beck Hermann Bengtsons ursprünglich für das Handbuch der Altertumswissenschaft verfasste Studie über die Griechische Geschichte für ein größeres Publikum in einer Studienausgabe vor, die auf den Anmerkungsapparat der wissenschaftlichen Ausgabe verzichtet (zehn Auflagen zwischen 1965 und 2009). 734 Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 137. 735 Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 137. 736 Neumanns Transkription hat hier »The Singer of Rhodes« (Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 50), und bezeugt damit einmal mehr eine oberflächliche Beschäftigung mit Johnsons Thema.
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Johnson ist in seinem Vortrag Schirmer allerdings nicht ausnahmslos gefolgt, wie die sich hieran anschließende Kurzbiographie Drydens zeigt, die bei Schirmer keine Entsprechung hat, und die, wie gezeigt, offenbar Chambers und Noel zur Grundlage hat. So erwähnt Schirmer beispielsweise nicht, dass Dryden Hofdichter, »Poet Laureate«, gewesen sei, und äußert sich auch nicht über dessen puritanische Herkunft. Gleich im Anschluss an die Kurzvita ist Johnson jedoch mit seiner Stellungnahme, Dryden sei der »eigentliche Schöpfer dieses heroischen Dramas« (12r) gewesen, wieder bei Schirmer. Dieser konstatiert in seiner Literaturgeschichte: »Der eigentliche Schöpfer dieses in der Oper D’Avenants vorgedeuteten heroischen Dramas war Dryden.«737 Um aufzuzeigen, wie Dryden das heroische Theater ›begründet‹ habe, erläutert Johnson, Schirmer weiter folgend, dass Dryden »aus dem Konflikt des erwähnten Musik-Dramas von D’Avenant ein dramaturgisches Schema« entwickelt habe – Schirmer spricht vom »Muster der Gattung«738 –, das »so aussieht: die Ehre der handelnden Personen, für den Helden also Treue, Mut, Ritterlichkeit, für die Heldin etwa Keuschheit Beständigkeit Grossmut« (12r–v). Johnson hat hier lediglich die Reihenfolge der weiblichen und männlichen Figurenmerkmale getauscht, ansonsten ist die Charakteristik von Schirmer wörtlich übernommen: »Keuschheit, Beständigkeit, Großmut zeichnen die Heldin aus, Treue, Mut, Ritterlichkeit den Helden.«739 Ferner werde das dramaturgische Schema dadurch definiert, so Johnson weiter, dass »diese Ehre […] durch die Leidenschaft der Liebe in Frage gestellt« (12v) werde. So nämlich kommt es zu einer dramatischen Spannung, wie Johnson bei Schirmer, etwas wortreicher, erfahren konnte: »Der Konflikt erwächst aus dem In-Frage-Gestellt-Werden dieser Eigenschaften […] durch die Leidenschaft der Liebe«, und der Anglist arrondiert noch gleich, »die Lösung besteht im SichBewähren.«740 Dieser knappen Präzision kann Johnson sich nicht entziehen, erweitert in diesem Fall sogar seine Vorlage, um immer noch lakonisch festhalten zu können: »Lösung solchen Konfliktes besteht im Sich-Bewähren« (12v). Auch bei der Benennung der wegweisenden Tragödie, das »nach solcher Vorschrift gearbeitete Drama ›Indian Queen‹« (12v), hält sich Johnson an Schirmer. In dessen Lehrbuch zur englischen Literaturgeschichte wird ausgeführt: »Indian Queen (1664) begründete eine zwei Jahrzehnte herrschende […] Mode, an der sich alle bedeutenden Dramatiker der Zeit beteiligten wie z. B.
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Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 138. Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 138. Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 138. Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 138.
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Elkanah Settle […], Thomas Otway […] und Nathaniel Lee […].«741 Johnson, in seinem Referat um eine Überblicksdarstellung bemüht, belässt es bei der Nennung der Autorennamen, wohingegen er die von Schirmer jeweils gelieferten Titel exemplarischer Stücke übergeht. Seiner Vorlage einmal mehr zwar mit Auslassungen, aber ansonsten wörtlich folgend, referiert Johnson somit, Drydens The Indian Queen »begründete eine Theater-Mode die etwa zwei Jahrzehnte lang anhielt und an der sich die bedeutenden Dramatiker der Zeit beteiligten, da wären zu nennen diese: Elkanah Settle Nathaniel Lee und Thomas Otway« (12). Dieses neue ›dramaturgische Schema‹, mit seinem zugrundeliegenden LiebeEhre-Konflikt und einem sich bewährenden Protagonisten, hatte allerdings auch seine Nachteile. Die Menge der Figuren wird reduziert, ihre Charaktere auf wenige markante Eigenschaften mit konkreten Zielen begrenzt, Ort und Zeit der Handlung immer weiter eingeschränkt, der Ausgang solcher Stücke war vorhersehbar. So wurde damit zwar einerseits eine »den Tod des Helden fordernde Tragödienauffassung überwunden«, andererseits, da »das Bewähren – im Gegensatz zu Shakespeare – weder Entwicklung noch Erschütterung der heldischen Persönlichkeit darzustellen erlaubt, […] mußten Handlung wie Helden sich überall ähneln.«742 Diese Beobachtung Schirmers wird von Johnson übernommen und überdies mit einer negativen Wertung versehen. In seinen Worten haben alle diese Dramen eine beschämende Ähnlichkeit miteinander, denn wenn sich der Held einfach bewährt, kann er sich nicht entwickeln, noch erschüttert werden, sein Tod ist oft schwierig herbeizuführen, also ist eine Handlung und ein Held im allgemeinen wie die und der andere. (12v)
Selbst mit der neu identifizierten Vorlage Walter Schirmers muss die nun folgende Aussage, der zufolge »Dryden etwa ein Jahrzehnt lang versucht« habe, »seine Dramen in Reimversen zu schreiben«, als gewagtes Vorpreschen gelten (12v). Als Wendepunkt dieser Praxis geben Schirmer und so auch Johnson das 1677 uraufgeführte Drama All for Love an. Zwar trifft es durchaus zu, dass Dryden zuvor, bis auf eine Ausnahme, seine Stücke stets gereimt verfasst hatte, doch ist sein erstes Schauspiel, die Komödie The Wild Galant, bereits 1663 uraufgeführt worden. Und auch wenn man sich nur auf die explizit heroischen Dramen bezieht, datiert The Indian Queen (1664) immerhin noch dreizehn Jahre vor All for Love (1677), womit Johnsons »etwa ein Jahrzehnt« gerade noch gerechtfertigt sein mag. Findet sich bei Roden Noel keine Aussage über den Wechsel vom Reim zum Blankvers, so weist Chambers immerhin auf Drydens »blank-verse tragedies« hin, »which he produced after giving up rhyme«, die überdies »undoubtedly 741 Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 138. Die Auslassungen nach den Namen kürzen hier die von Schirmer jeweils exemplarisch genannten Stücke, so für Otway etwa Don Carlos. 742 Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 138.
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contain his noblest work in drama«743 – eine genauere Datierung liefert auch er nicht. Pragmatisch und arbeitsökonomisch liegt nahe, dass Johnson auf der Grundlage von Schirmer, in der Sache grundsätzlich bestätigt von Chambers, seine Überschlagsrechnung angestellt hat. Schirmer ist überdies naheliegender, da sich Johnson für seinen Überblick über die Restaurationsdramen überwiegend bei ihm bedient. Der Berliner Literaturhistoriker weist darauf hin, dass Dryden »die Handlung und ihre Träger ins Außergewöhnliche« steigere, »wie er auch die Sprache durch bilderreiche Redeweise und heroische Reimpaare vom Alltag abrückte.«744 Das Leipziger Referat fasst diese Darstellung dahingehend zusammen, dass Dryden »die Sprache durch ausserordentliche Kostbarkeit vom Alltäglichen abzusetzen« versucht habe (12v). Über die »Eintönigkeit des Schemas« (12v), auf die Johnson dabei hinweist, ist bei Schirmer zu erfahren, dass diese »Eintönigkeit durch Prunk und sprunghafte Verwicklung« kaschiert werden sollte.745 Diese Art der Folgerung ex negativo – wenn Monotonie camoufliert werden sollte, war sie offenbar vorhanden – wendet der Referent sogleich ein weiteres Mal an. Der schematischen Gleichförmigkeit sollte begegnet werden, und zwar »durch vielfältige Handlungszüge (mehrere Leidenschaften seiner Helden)« sowie durch »überraschende Verwicklungen« (12v). Das gilt in Schirmers Darstellung allerdings vorwiegend für die zeitgenössischen Kollegen Drydens, weniger für ihn selbst. Denn Dryden, so Schirmer, habe sich angeschickt, »eine mittlere Stellung einzunehmen«: seine »Figuren sind zur Einlinigkeit gesteigert und einer einzigen Leidenschaft untergeordnet«.746 Daraus konnte Johnson nun den Schluss ziehen, dass, wenn Dryden sich mit »Einlinigkeit« und »einer einzigen Leidenschaft« von der von ihm initiierten Theatermode absetzen wollte, diese Mode also durch »vielfältige Handlungszüge« und »mehrere Leidenschaften« gekennzeichnet gewesen sein musste. Eine verhältnismäßig schlichte Variation des Zieltextes ist es dabei, die »sprunghafte Verwicklung« des Ausgangstextes als »überraschende Verwicklungen« vermittels Synonym und Pluralbildung zu übernehmen. Aus diesen Ausführungen Schirmers konnte Johnson somit leicht schließen, dass Dryden »mit seinem grössten Drama ›All for Love‹« bestrebt war, »sich auf eine einfachere Haltung zurückzuziehen« (12v). Neben der Klimax – auch Schirmer spricht vom »größten Drama All for Love« – übernimmt Johnson auch einige Wesenszüge dieses Trauerspiels und dessen literarhistorisch prägenden Eigenheiten, die Schirmer für diese »Antonius-Cleopatra-Tragödie« festhält: sie sei nicht nur »örtlich und zeitlich«, sondern auch »thematisch zusammenge743 744 745 746
Saintsbury, Dryden (Anm. 715), S. 796. Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 138. Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 138. Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 138.
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faßt«.747 Demgemäß konstatiert Johnson lakonisch: »›All for Love‹, die AntoniusKleopatra-Tragödie, ist bei Dryden nun örtlich/zeitlich/thematisch straff zusammengefasst« (12v). Überdies, so Johnson weiter, hätten »die Personen […] nur eine einzige Willensrichtung« und sprächen »gemessen und würdig« (12v). Auch diese Charakterisierung ist kaum verändert von Schirmer übernommen, der den »Ausdruck« der Figuren als »zur gemessenen Würde gedämpft« beschreibt.748 Hinsichtlich der literarhistorischen Folgewirkungen weiß Schirmer zu berichten, dass mit dem reduziert-konzentrierten Dramenschema eine Form etabliert worden sei, die »von Shakespeare so verschieden« sei, dass die spätere »klassizistische Richtung« des englischen Theaters »sich auf Dryden berufen konnte.«749 Einmal mehr verkürzt der Referent und bekundet, diese »Manier« bereite »den späteren Klassizismus vor« (12v). An dieser Stelle zeigt sich nun noch einmal besonders deutlich, wie dicht Johnson seiner Vorlage überwiegend gefolgt ist: Ohne vorher explizit ein ›einerseits‹ angesprochen zu haben, beginnt Schirmer seinen nächsten Satz mit »Andererseits«. Denn hatte Dryden auf der einen Seite, nämlich mit der Reduzierung der Handlungsebenen und ihrer Verwicklungen, Elemente des klassischen Theaters vorweggenommen, so bedeutete auf der anderen Seite seine »freiere und dramatisch wirkungsvolle Charakterzeichnung« wiederum »eine Annäherung an das Shakespearedrama«.750 Johnson leitet seinen entsprechenden Abschnitt nun ebenfalls mit einem ›andererseits‹ ein, das zuvor keine explizite Entsprechung hatte: »andrerseits herrscht in ›All for Love‹ eine Freiheit und dramatische Lebendigkeit der Charakterzeichnung (wie ich gelesen habe) die sich wieder an Shakespeare annähern« (12v). Der Klammerzusatz »wie ich gelesen habe« soll wohl signalisieren, dass der Referent hier ohne Eigenleistung seiner wissenschaftlichen Vorlage gefolgt ist; diese Vorsichtsmaßnahme mag angezeigt sein für den Fall, dass Mayer Schirmers Studie gekannt und vielleicht sogar empfohlen hat. Und schließlich sind auch die von Johnson exemplarisch aufgezählten Autoren, die »diese Annäherung an das Drama Shakespeares« erreicht hätten, von Schirmer geliefert worden, nämlich »Nathaniel Lee und Thomas Otway« (12v–13r). Schirmer ist dabei deutlicher und ausführlicher gewesen als der ihn exzerpierende Johnson, und nur er spricht auch von einer »Annäherung an das Shakespearedrama, wie sie von Thomas Otway (1652–1685: The Orphan, 1680; Venice Preserved, 1682) und Nathaniel Lee (1653–1692: Theodosius, 1680; Lucius Junius Brutus, 1681) entschiedener durchgeführt wurde.«751 Für
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Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 138f. Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 139. Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 139. Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 139. Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 139.
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seinen Überblick begnügt sich Johnson mit den Namen, die Dramentitel nennt er nicht. Um seine Ausführungen über das heroische Drama abzuschließen, lässt er eine Regieanweisung für sein Auditorium folgen: »Womit wir am Ende des Programmheftes angelangt wären, und die Aufführung beginnen könnte« (13r). Deutlicher als zuvor wird hier kenntlich, dass Johnson seinen Vortrag zu ›inszenieren‹ bemüht war, ihm ein strukturierendes Gerüst zu geben suchte, das dem Thema verwandt ist. Sein ›Programmheft‹ liefert den historisch-gesellschaftlichen und auch literarischen Hintergrund, vor dem Venice Preserved entstanden und somit zu verstehen ist. So erklärt sich zum einen vielleicht auch die quantitative Aufteilung des Referats, in dem dieser Verstehenshorizont mehr Platz beansprucht als die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Drama. Zum anderen bedient der Vortragende damit ein philologisches Interesse seiner Gegenwart, nämlich in jeder historischen Betrachtung, und sei es eben Literaturgeschichte, einen Ausdruck der grundlegenderen Gesellschaftsgeschichte zu sehen. Gerade sein Lehrer Hans Mayer gilt manchem als einer der profiliertesten Verfechter dieser neuen Sichtweise, auch über sein Wirken in der DDR hinaus.752 Ob dem freilich so ist, darf auch leise bezweifelt werden: Bei der Entwicklung und Entstehung einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur hat Hans Mayer keine prominente Rolle gespielt. Vielmehr hat er Literaturgeschichte in sein eigenes, höchst persönliches Koordinatensystem eingemessen. Auch sein ›Gegenkanon‹ der »Außenseiter« kann letztlich nirgendwo überraschen – zu kanonisch sind die dort verhandelten Autoren, zu gängige Münze ist die Weltsicht, die er von ihnen zu prägen sucht. Allein die überall präsente Bezugsgröße ›Hans Mayer‹ macht den Reiz dieser Kompilation aus – alle Literaturgeschichte, auch Weltliteratur, läuft auf Hans Mayer hinaus.753 752 Vgl. dazu Lothar Scheithauer, seit 1954 Assistent von Mayer: »Wichtig war ihm [Mayer] vor allem immer der geschichtliche Kontext zur literarischen Darstellung in Drama und Roman, aber auch zur Biographie des Autors. Seine aus einer gewissen Pietät heraus unverändert gelassene Erstlingsarbeit heißt ja programmatisch Georg Büchner und seine Zeit.« Mayer habe vor allem ein »sozialgeschichtliches Interesse« verfolgt, das er mit Vorliebe an seinem »Paradebeispiel für marxistische Literatur«, nämlich dem »Royalist Balzac«, illustriert habe. Scheithauer ist sich »sicher, daß Uwe Johnson es gekannt« hat: Balzac habe in Mayers Lesart »in seinen Gesellschaftsromanen die brutale Herrschaft der Geldbesitzer effektiver dargestellt als das Kommunistische Manifest. Folgerung: Die Theorie des Historischen Materialismus bestätige die Widerspiegelung der ökonomischen und gesellschaftlichen Realität im unbewußten, kritischen Realismus der Dichter genauer, als es deren subjektives Bewußtsein wahrhaben will« (Lothar Scheithauer: Die Jahre in Leipzig. Ein Gespräch, in: JohnsonJahrbuch, 4/1997, S. 17–38, hier: S. 35 [Hervorh. im Original]). 753 Hanjo Kesting befindet etwa für Mayers 1975 erschienene Studie Außenseiter, dass darin »Literaturgeschichte als Gesellschaftsgeschichte geschrieben« werde. Wobei Kesting betont, Mayer habe »allen marxistischen Literaturdoktrinen zum Trotz« stets die von der Literatur vertretene »radikale Subjektivität« betont (Kesting, Weltbürger und Außen-
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Mit Blick auf Johnson ist festzustellen, dass er hier seine bisherige Arbeitsweise fortsetzt, sich ein Thema eng an einem Text entlang zu erarbeiten. Dabei muss als einigermaßen, sozusagen ›wissenschaftlich fahrlässig‹ gelten, auf die Benutzung von Sekundärliteratur hinzuweisen, sie aber an keiner Stelle konkret zu benennen. Walter Schirmers Lehrbuch über die Kurze Geschichte der englischen Literatur ist ohne jeden Zweifel für diesen Teil seines Vortrags die Vorlage gewesen.754 Entschuldigend sei jedoch ausgeführt, dass auch Hans Mayer selten konkrete Quellen nennt oder Belege für seine Beobachtungen und Behauptungen liefert. Wo also hätte Johnson lernen sollen, wie man wissenschaftlich arbeitet? Und selbst wenn er es bei anderen Professoren gelernt haben mochte, so wusste er gewiss – solche Dinge lernen Studenten schnell –, dass es von Mayer nicht erwartet wurde. Wenn schon der wichtigste akademische Lehrer nur aus eigener Autorität heraus formuliert – und was er sich angelesen hat und weitergibt, gehört wesentlich für ihn dazu –, dann kann eine plagiierende Übernahme wie die seines Schülers niemals problematisch werden. In dieser Einvernahme spricht letztendlich ja die Literaturgeschichte selbst, Details sind dabei bestenfalls Zierrat: Autoritäten jenseits dieser einen Autorität existieren nicht. Überdies stand in einem mündlichen Referat kaum zu erwarten, dass eine vollständige Bibliographie vorgetragen werden musste. Für die spätere literarische Entwicklung des Autors Uwe Johnson ist bedeutsam, dass er hier, bei seiner Rede über das heroische Restaurationsdrama, erstmals von »handelnden Personen« (12r) spricht, wenn es um literarische Figuren geht. Bislang hatte er eine solche, literaturwissenschaftlich freilich abgeschwächte kategorielle Bezeichnug vermieden, nannte die erzählten Figuren, etwa Arnold Zweigs oder John Miltons, bloß bei ihrem Namen oder kennzeichnete sie durch ihre Eigenschaften oder Funktionen. Dabei war es auch schon in den 1950er Jahren üblich, den Figurenbegriff zu verwenden. Was auch immer seine späteren Beweggründe für diese Begriffspraxis sein mögen, sie erfolgt unter den dann gänzlich anderen Voraussetzungen eines Schriftstellers, der sich den Gepflogenheiten der Wissenschaften nicht zu fügen braucht;755 beim Studenten seiter (Anm. 318), S. 102). Diese Behauptung wäre anhand von Mayers Publikationen, insbesondere in einem historisch-chronologischen Vergleich ihrer Veröffentlichung in der DDR bzw. Bundesrepublik, einmal zu überprüfen. 754 Schirmers ausführlichere Studie über die englische Literaturgeschichte (vgl. Anm. 603) hat vergleichbare, dabei deutlich eingehendere Passagen über das hier behandelte Restaurationsdrama. Grad bzw. Menge der teils wörtlichen Übereinstimmung mit Johnsons Referat ist allerdings bei Schirmers Kurzer Geschichte der englischen Literatur deutlich größer. 755 Johnson pflegt als Schriftsteller von seinen literarischen Figuren stets als ›Personen‹ zu sprechen. Über sein literarisches Schreiben informierte er gelegentlich eines Rundfunkgesprächs, es handle sich um den »Versuch, ein gesellschaftliches Modell herzustellen. Das Modell besteht allerdings aus Personen. Diese Personen sind erfunden, sind zusammengelaufen aus vielen persönlichen Eindrücken, die ich hatte« (Christof Schmid: Gespräch mit
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der Germanistik dürfte dieser Nicht-Gebrauch der Fachterminologie insofern nicht überraschen, als auch Mayers Spielart historischer Literaturgeschichtsschreibung auf jedes ›Begriffsdropping‹ verzichtet: Es ist verpönt, weil es terminologisch eine falsche Wissenschaftlichkeit in die Geisteswissenschaften hineintragen würde, die sich seit Wilhelm Dilthey mehr dem Geistigen als dem Wissenschaftlichen verpflichtet fühlen.756
7.6
Deutungsangebote zu Venice Preserved
Johnson hat in seinem Referat bis hierhin ausführlich den historischen Horizont, in sozialer, geistesgeschichtlicher und literarhistorischer Hinsicht, auf der Grundlage eines intensiven und textnahen Literaturstudiums skizziert. Er hat dafür mehr Quellen verwendet, als von ihm angegeben. Für seine Untersuchung von Venice Preserved ist naheliegend, dass er das Stück in der von ihm genannten Quelle, der Ausgabe der Mermaid Series, gelesen hat. Um in die Tragödie einzuführen, liefert er zunächst Eckdaten zu ihrer formalen Gestaltung, ihrem historischen und literarischen Ursprung sowie zum vorangestellten Widmungstext. Mit Letzterem greift Johnson am konkreten Beispiel die von ihm bereits thematisierte zeitgenössische Widmungspraxis auf, der gerade auch Otway sich bediente, sich bedienen musste, um seinen Verdienst aufzubessern.757
7.6.1 Noch einmal Quellenarbeit: Die Einführung in Venice Preserved Johnsons einleitende und etwas übereifrige Feststellung, Venice Preserved sei »ein Drama in fünftaktigen jambischen Blankversen« (13r), findet sich in der Mermaid Series-Edition nicht derart explizit formuliert; und auch nicht derart redundant attribuiert, ist der Blankvers doch gerade als ein aus fünf Takten Uwe Johnson (Am 29. 7. 1971 in West-Berlin, in: Fahlke, »Ich überlege mir die Geschichte« (Anm. 266), S. 253–256, hier: S. 253). Bei anderer Gelegenheit wird er noch deutlicher, indem er seinem Gegenüber, Manfred Durzak, ins Wort fällt, der etwas über »bestimmte Figuren« fragen möchte, wobei Johnson unterbricht und insistiert: »Personen, Entschuldigung« (Manfred Durzak: Dieser langsame Weg zu einer größeren Genauigkeit. Gespräch mit Uwe Johnson, in: ders., Gespräche über den Roman. Formbestimmungen und Analysen, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 428–460, hier: S. 437). 756 So spricht man auch von den ›sogenannten Geisteswissenschaften‹ (vgl. Die sogenannten Geisteswissenschaften. Innensichten, hg. von Wolfgang Prinz und Peter Weingart, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990). Sie sind keine ›echten‹ Wissenschaften und wollen es auch nicht sein, und deshalb entlehnen sie auch ihre Terminologie der Erfahrung und der Umgangssprache. Diltheys Hermeneutik gerät erst später, infolge von Formalismus und Strukturalismus, in die Kritik. 757 Vgl. hier: S. 216.
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bestehender Jambus definiert. Aus Schirmers Kurzer Geschichte der englischen Literatur konnte er erfahren, dass Otway den Blankvers verwendet habe.758 Ohnehin dürfte es für den fortgeschrittenen Germanistikstudenten vermutlich nicht allzu schwer gewesen sein, das gängige Versmaß selbst zu bestimmen. Venice Preserved »wurde geschrieben und aufgeführt im Jahre 1682« (13r), fährt Johnson fort. Die Einführung in das Drama in der Mermaid Series hebt an: »Venice Preserved was written and acted in 1682«.759 Wo und durch wen diese erste Inszenierung erfolgte, ist dort jedoch nicht zu erfahren. Dafür musste Johnson wiederum in Roden Noels umfangreicher biographischer Einleitung nachschlagen, um zu erfahren: »At the theatre in Dorset Garden, Salisbury Court, all Otway’s plays, except the last, were performed by the Duke of York’s company«.760 So konnte er damit glänzen, dass die Tragödie »aufgeführt« wurde »auf dem Dorset Garden Theatre von der Truppe des Herzogs von York« (13r) – dafür hatte er nur zu berücksichtigen, dass Venice Preserved eben nicht Otways letztes Stück gewesen ist, was er ebenfalls bei Noel nachlesen konnte.761 Über den Ursprung des Themas wie auch dessen erste literarische Bearbeitung gibt Johnson zu wissen kund, diese »Fabel« sei »entnommen der historischen Novelle des Abbé St. Réal ›Die Verschwörung der Spanier gegen Venedig von 1618‹« (13r). Dabei sei »die Forschung«, so Johnson weiter, »sich nicht einig darüber ob es nun wirklich Spanier oder vielmehr Franzosen waren« (13r), die sich gegen Venedig verschworen. Diese Gemengelage scheint wiederum auf eine zum Teil sehr freie Übersetzung aus der Einführung zu Venice Preserved zurückzugehen: »It is founded on the historical novel of Saint-Réal, Conjuration des Espagnols contre la Venise en 1618«.762 Deutlich freier geht Johnson mit dem folgenden Vorbehalt um, in dem zu bedenken gegeben wird: »though Sir Henry Wotton, who was our ambassador to Venice at the time, calls it a French conspiracy.«763 758 Vgl. Schirmer, Kurze Geschichte der englischen Literatur (Anm. 731), S. 139 und S. 171. 759 Venice Preserved Introduction, in: Thomas Otway (Anm. 645), S. 288f., hier: S. 288. Diese Einführung hat keinen eigenen Titel, deswegen erhält sie hier diesen Arbeitstitel. Sie fasst auf zwei Seiten knapp Informationen zu Entstehung, Inhalt und Rezeption des Dramas zusammen. Weder von Chambers noch Noel oder Schirmer konnte Johnson erfahren, dass Niederschrift und Uraufführung des Dramas in dasselbe Jahr fielen, sie sprechen allgemeiner von »produced« ([Art.] Otway, in: Chambers’s Cyclopaedia (Anm. 334), S. 72) oder davon, dass es »was brought upon the stage in 1682« (Noel, Otway (Anm. 647), S. xlv). Schirmer nennt nur Titel und Jahreszahl. 760 Noel, Otway (Anm. 647), S. xxxix. Die unmittelbar nach dem Ende des Commonwealth 1660 mit königlicher Erlaubnis von William D’Avenant gegründete Schauspieltruppe stand unter der Patronage des Dukes of York, dem späteren König Jakob II. Sie fand 1671 in dem Dorset Garden Theatre ihre feste Spielstätte, an der dann auch Otway wirkte (vgl. hier: S. 205). 761 Vgl. Noel, Otway (Anm. 647), S. xlvi. 762 Venice Preserved Introduction, in: Thomas Otway (Anm. 645), S. 288. 763 Venice Preserved Introduction, in: Thomas Otway (Anm. 645), S. 288.
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Es klingt ambitioniert, wenn ein Student auf solch dürftiger Basis von »Forschung« spricht. Jedoch ist festzuhalten, dass – bis heute – von einer ausgeprägten Forschungslage zu César Vichard de Saint-Réal (wohl) keine Rede sein kann. Die Conjuration des Espagnols contre la Venise en 1618 erfuhr beispielsweise erst 1990 eine deutsche Übersetzung. Und gerade aus deutschsprachiger Perspektive lag und liegt der Fokus bei diesem Schriftsteller auf den motivgeschichtlichen Zusammenhängen von dessen Dom Carlos (1672) als Vorlage für Friedrich Schillers Don Carlos, Infant von Spanien (1787). Dennoch scheint Johnsons Forschungshinweis auf Grundlage der Einführung in Otways Werk zu erfolgen. Denn auch mit seiner historischen Erläuterung hält er sich wieder an diese Vorlage. Johnson erklärt nämlich die Unentschiedenheit in ›Forschungsfragen‹ damit, dass die »Republik Venedig […] diesen ärgerlichen tatsächlichen Zwischenfall so dunkel wie möglich gehalten« (13r) habe. Dieser Befund beruht auf der Werkeinführung, wo entsprechend festgehalten wird: »The whole thing was kept as dark as possible by the Republic«.764 Nach diesen insgesamt knapp gehaltenen Quisquilien kommt Johnson noch auf die »lange Widmungsrede« (13r) zu sprechen, die auch in der Edition der Mermaid Series dem Stück vorangestellt ist: »To Her Grace the Duchess of Portsmouth« (13r).765 Eine Fußnote Roden Noels informiert an dieser Stelle über diese Dame, es handelt sich um Louise de Kérouaille, »Charles II.’s well-known mistress«.766 »Wealth and honours were heaped upon her«, kann Johnson hier über sie erfahren, sie habe zudem über großzügig ausgestattete »apartments at Whitehall« verfügt, dem damaligen Londoner Königspalast, wie auch über »many enemies«.767 Noel zitiert in dieser Fußnote schließlich sogar ein Spottgedicht auf die königliche Mätresse, um die zeitgenössischen Feindseligkeiten gegen sie zu illustrieren. Diese Anmerkung Noels war somit wahrscheinlich die Quelle für Johnsons kurzen Bericht über die in der Widmungsrede gepriesene »Mätresse[] des Königs Karl II.«, von der Johnson dann noch weiß, dass »über deren luxuriöse Lebensführung ganz London murrte« (13r), wiewohl er mit »ganz London« übertrieben haben dürfte. Unabhängig von seiner Quelle dürfte er damit jedoch wahrscheinlich nicht allzu weit neben den historischen Tatsachen gelegen haben, denn abgesehen von ihrem zur Schau gestellten Luxus war Louise de Kérouaille überdies katholischen Glaubens – und damit einer Mehrheit der Bevölkerung verdächtig. Schlicht, aber deutlich formuliert Johnson sein ästhetisches Verdikt über diese Zueignung: »diese ist nicht schön zu lesen« (13r). Für einen Germanistikstu764 Venice Preserved Introduction, in: Thomas Otway (Anm. 645), S. 288. 765 Vgl. den identischen Titel dort: Thomas Otway: To Her Grace The Duchess of Portsmouth, in: Thomas Otway (Anm. 645), S. 290–292, hier: S. 290. 766 Otway, To Her Grace The Duchess of Portsmouth (Anm. 765), S. 290. 767 Otway, To Her Grace The Duchess of Portsmouth (Anm. 765), S. 290.
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denten in einem horizonterweiternden Seminar zur Weltliteratur ist das ein salopper Gestus. Indem er seinen Stab über Otways Zueignung bricht, lenkt er zudem die Rezeption seines Publikums, bevor er den Dichter selbst ›zu Wort‹ kommen lässt: Er übersetzt exemplarisch Schlaglichter, ausgewählte Passagen, aus der Zueignung, die sein subjektives Rezeptionsurteil stützen sollen: »Vergebt mir immerhin, Madame,768 dass ich (wie ein armer Bauer einst einem Herrscher einen Apfel zum Geschenk machte) – dass ich diesen geringen Tribut, die demütige Frucht meines kleinen Gartens … zu Euren Füssen lege« (13r).769 Johnsons nahezu wörtliche Übertragung folgt ihrer Vorlage sowohl in der Syntax als teils auch in der Zeichensetzung. Gleichermaßen originalgetreu überträgt er auch die Schlussformel der Widmung: »Madam, Your Grace’s entirely devoted Creature. THOMAS OTWAY« – sie wird bei ihm zu: »Madame, Euer Gnaden völlig ergebene Kreatur Th. O.« (13r). Die gravierendste Abweichung ist hier noch die Abkürzung des Namens, was vermutlich reiner Pragmatismus sein dürfte, um nicht noch einmal den vollen Namen ausschreiben zu müssen: der Referent würde ihn aussprechen. Schließlich dürfte der Lohn dieser Widmung, »alles in allem wohl zehn Guineen« (13r), eine Erfindung des Referenten sein. Eine derart konkrete Summe konnte Johnson keiner der bekannten Quellen entnehmen, dennoch war sie vermutlich nicht völlig aus der Luft gegriffen, sondern entsprach einigermaßen dem Usus der Zeit; Roden Noel blickt missgünstig auf die erniedrigende Widmungspraxis jener Tage, bei der Schriftsteller sich anbiederten, »for the sake of a few guineas.«770
7.6.2 Der Student liest Venice Preserved – Ein erster Zugang Johnsons Untersuchung seines eigentlichen Gegenstands, auf den er nun so umständlich hingearbeitet hat, ist unterteilt in eine Vorstellung der zentralen Figuren, eine Zusammenfassung der wichtigsten Handlungselemente, »Bemerkungen zum dramatischen Plan« (14r), wobei einzelne Figuren in den Fokus
768 Wiewohl Johnson in seinem Manuskript offenbar das französische ›madame‹ statt des in seiner Vorlage stehenden englischen ›madam‹ schreibt, kann es sich bei Neumanns Transkription zu »Madama« an dieser Stelle nur um einen Irrtum oder Herstellungsfehler handeln (Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 52). 769 Im englischen Original lautet die Passage: »Forgive me, then, madam, if (as a poor peasant once made a present of an apple to an emperor) I bring this small tribute, the humble growth of my little garden, and lay it at your feet« (Otway, To Her Grace The Duchess of Portsmouth (Anm. 765), S. 291). 770 Noel, Otway (Anm. 647), S. xlvi.
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geraten, und mündet schließlich in eine literarhistorische Bewertung des Dramas. Apodiktisch konstatiert Johnson für das Figurenensemble von Venice Preserved: »Es betreten 36 Personen die Bühne« (13v), womit er sich erneut für den Begriff der ›Person‹ statt der ›Figur‹ entscheidet. Diese Bestimmtheit ist jedoch insofern problematisch, als sie weder der Tabula der dramatis personae, dem vorangestellten Figurenverzeichnis, noch dem Stück selbst plausibel zu entnehmen ist. In den Mermaid Series werden die Figuren nach ihrem gesellschaftlichen Rang aufgeführt, beginnend mit der Nebenrolle des »Duke of Venice«, gefolgt von »Priuli, Father of Belvidera, a Senator«, dann »Antonio, a fine speaker in the Senate«, also einem weiteren Mitglied des Senats, und schließlich »Bedamar, the Spanish Ambassador«.771 Johnson, der nur »die wichtigsten« Figuren aufzählt, beginnt mit »Priuli, Senator«, gefolgt von »Belvidera, dessen Tochter und Geliebte des Jaffier, nicht Senator, aber Bürger« (13v). Erst nach dem Bürger nennt Johnson dessen engen Freund Pierre, einen Offizier, und schließlich dessen Geliebte Aquilina, eine »bekannte ›Kurtisane‹« (13v), sowie Senator Antonio. Seine Auswahl orientiert sich somit an den tatsächlich handlungstragenden Protagonisten, wobei auch er zugleich deren gesellschaftliche Stellung benennt, die für die Entwicklung des tragischen Konflikts bedeutsam ist. Johnsons Inventarliste weicht damit erheblich von seiner Vorlage ab, wo insgesamt 13 Figuren mit einer umschweifenden Klammer als »Conspirators« zusammengefasst werden, darunter auch die Freunde Jaffier und Pierre, die nicht weiter attribuiert werden.772 Wenn Johnson dann davon spricht, hinzu kämen »noch acht die sämtlich als Verschwörer bezeichnet werden« (13v), so hat er hier zwei Figuren unter den Tisch fallen lassen. Das Verzeichnis der dramatis personae zählt noch Belvidera, Aquilina, mit dem von Johnson für sich verkürzt übersetzten Zusatz »a Greek Courtesan«, sowie zwei ihrer Dienerinnen und zwei Begleiterinnen Belvideras auf.773 Schließlich wird das »Council of Ten« nachgetragen,774 zu dem die beiden Senatoren Priuli und Antonio gehören, wie sich im Verlauf des Stücks erschließt, womit schon hier die Aufzählung der Figuren ungenau wird, zumindest vorweg schwer nachvollziehbar. Abschließend folgen noch einige Nebenfiguren: »Officer, Guard, Friar, Executioner, and Rabble«,775 wobei letzterer, der Mob oder Pöbel, kaum konkret zu beziffern ist. Die aus diesem Figureninventar eindeutig zu besetzenden Rollen, den Mob einmal ausgenommen sowie die beiden Senatoren im Rat der Zehn vorausgesetzt, be771 Thomas Otway: Venice Preserved; or, A Plot Discovered, in: Thomas Otway (Anm. 645), S. 287–386, hier: S. 294. 772 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 294. 773 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 294. 774 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 294. 775 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 294.
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laufen sich somit auf 35. Allerdings ergeben sich noch weitere Unwägbarkeiten hinsichtlich dieser Zahl. So ist an einer Stelle beispielsweise von »two Footmen« die Rede,776 an einer anderen von »six Guards«,777 oder von einer unbestimmten Anzahl von »Servants« sowie einem »Officer and others«.778 Diese Vagheit hat zur Folge, dass die Personalstärke nicht allein von Dramentext und Regieanweisung abhängt, sondern auch von der jeweiligen Inszenierung und ihren Bedingungen vor Ort. Allein auf Grundlage des Textes und Nebentextes wird aber ersichtlich, dass die von Johnson genannten »36 Personen« kaum der konkreten Menge der tatsächlich auftretenden Figuren entsprochen haben dürfte. In Otways Figureninventar ist eine Dreiteilung zu erkennen, in der die dramatis personae spezifischen gesellschaftlichen und funktionalen Gruppen zugeordnet werden. Da sind zum einen die staatstragenden beziehungsweise politischen Rollen (Duke, die Senatoren), zu denen überraschenderweise auch der spanische Botschafter Bedamar gezählt wird, obwohl er als Kopf der Verschwörung – wenn auch aus dem Hintergrund – hervortritt. Dann die Gruppe der Hochverräter, und schließlich noch eine Gruppe des ›privaten‹ Raums, die sich aus den weiblichen Rollen speist. Die Erwähnung einer vierten Gruppe, die sämtliche Nebenfiguren mit überwiegend dekorativen Funktionen umfassen würde, erübrigt sich an dieser Stelle. Johnson folgt Otways Dreiteilung mit der Ausnahme, dass er Jaffier als ›Bürger‹ herausstellt und damit eine bestimmte gesellschaftliche Klasse benennt, die so explizit bei Otway nicht eigens vorkommt, in der Betrachtungsweise marxistisch-leninistischer Provenienz jedoch Anstoß erregen dürfte. Johnsons ausführliche Erläuterungen der historisch-sozialen Gegebenheiten Otways und insgesamt Englands im 16. und 17. Jahrhundert haben dieses Exponieren des Bürgers vorbereitet, es wird in der weiteren Behandlung des Dramas eine Rolle spielen. Um den folgenden Ausführungen besser folgen zu können, soll eine Übersicht der zentralen Figuren helfen: – Jaffier: Protagonist, verarmt, verheiratet mit Belvidera, Freund von Pierre – Belvidera: Tochter von Priuli, verheiratet mit Jaffier – Priuli: Senator, mit der Ehe seiner Tochter und Schwiegersohn Jaffier nicht einverstanden – Pierre: Soldat Venedigs, ein Rädelsführer der Verschwörer, überredet Jaffier zum Verrat – Aquilina: Kurtisane Antonios, Geliebte Pierres – Antonio: Senator der Republik Venedig
776 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 329 [Hervorh. im Original]. 777 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 349 [Hervorh. im Original]. 778 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 383 [Hervorh. im Original].
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Antonio
Aquilina
Senat
Priuli
Bürger Belvidera Pierre
Jaffier
Als nächstes widmet sich Johnson der Ereignisfolge. Er übergeht den Prolog Otways, worin Handlungselemente der Tragödie angedeutet und mit Anspielungen auf zeitgenössische Ereignisse – von der Papisten-Verschwörung über den ersten Earl of Shaftesbury bis hin zur einflussreichen Bordellbetreiberin Elizabeth Cresswell – verflochten werden, und wendet sich dem ersten Akt zu. Dieser beginnt in medias res mit einer Analepse, in der Priuli und Jaffier die der dargestellten Handlung vorgelagerten Ereignisse diskutieren. So erfährt das Publikum Ursachen und Entwicklung der privaten Konfliktsituation: Jaffier hat gegen dessen Willen Priulis Tochter geheiratet. Im anschließenden Gespräch zwischen Jaffier und seinem Freund Pierre wird dieser Konflikt verschärfend auf eine staatstragende Ebene gehoben: Pierre hat entdeckt, dass seine Geliebte Aquilina sich aus Geldnot dem Senator Antonio prostituieren muss, er kann nichts dagegen unternehmen und prangert daraufhin grundsätzlich die gesellschaftliche Ungerechtigkeit und politische Willkür in der Republik Venedig an. Als weitere Eskalation ist die Pfändung von Jaffiers Hausstand auf Befehl Priulis zu betrachten, die Pierre kurz zuvor beobachtet hat. So endet der erste Akt, der die zentralen Handlungsträger und das Konfliktpotenzial vorstellt, und der damit seine strukturierende Funktion als Exposition für den weiteren Handlungsverlauf erfüllt hat. Otway nutzte die historisch verbürgte und seinerzeit bereits literarisch durch St. Réal bearbeitete ›Verschwörung‹ gegen die Republik Venedig als Folie für die staatstragende Rahmenhandlung. In der Tat gab es offenbar im Jahre 1618 einen Komplott, dessen Akteure sich am prosperierenden Venedig bereichern wollten. Der große Historiker Leopold von Ranke widmete diesen Ereignissen eine eigene Studie und zitiert aus einer venezianischen Chronik: »Die Absicht sey gewesen, den Senat zu überfallen und in Stücke zu hauen, Venedig einzunehmen und zu plündern«.779 Insgesamt sieht Ranke aber ein Missverhältnis zwischen dem von 779 Leopold von Ranke: Ueber die Verschwörung gegen Venedig, im Jahre 1618, Berlin: Duncker und Humblot 1831, S. 2f.
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ihm rekonstruierten Geschehen und dessen überschwänglicher Rezeption in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten. Er kommt zu dem Schluss: »Von dieser Verschwörung lässt sich sagen, dass sie zugleich wahr und nicht wahr sey.«780 Otways Londoner Publikum war für das Thema einer heimlich vorbereiteten, jedoch vereitelten Intrige empfänglich: Mit Vorlage der Exclusion Bill 1679 sollte ein katholischer König verhindert werden, denn ein solcher stand in Gestalt des Bruders des amtierenden Charles II., dem späteren James II., zu befürchten. Die insgesamt anti-katholische Stimmung wurde überdies durch den Geistlichen Titus Oates befeuert, der das Gerücht einer ›Papisten-Verschwörung‹ streute, die angeblich eine Gegenreformation in England anstrebte und einen katholischen König inthronisieren wollte. Wiewohl sich dieses Gerücht 1681 als falsch erwies, waren bis dahin etliche vermeintliche ›Verschwörer‹ verhaftet, einige sogar hingerichtet worden. Die venezianischen Umtriebe boten Otway Gelegenheit, auf diese jüngsten Entwicklungen in seiner Heimat in historischem Gewand zu referieren – eine Strategie, der sich wahrscheinlich auch der Leipziger Referent wenigstens punktuell bedient haben dürfte. Ähnlich wie im (späteren) Bürgerlichen Trauerspiel verbleibt auch bei Otway die zentrale Handlung im privaten Raum, obgleich ›höfisches‹ – in diesem Fall zumindest sich so gerierendes und regierendes – Personal involviert ist. In seinem Referat differenziert Johnson zwischen der in der Exposition berichteten Vorgeschichte und dem dargestellten aktuellen Handlungsauftakt. In diesem Sinne kann auch seine ungelenk wirkende Einleitung verstanden werden: »Ich löse die Exposition in Vorgeschichte auf:« (13v). Denn zunächst berichtet er nur die im Streitgespräch von Priuli und Jaffier mitgeteilten Ereignisse. Dabei fallen zwei Dinge auf. Zum einen, als eine Kleinigkeit, behauptet Johnson, dass Jaffier »seit zwei Jahren« (13v) mit Belvidera zusammenlebe. Bei Otway heißt es hingegen recht eindeutig, dass »scarce five years are past« seit jenem Schiffsunglück, bei dem Jaffier die Senatorentochter gerettet hat, und er mit Gewissheit sagen kann: »from that hour she loved me«.781 Überdies wurde diese Liebe bald formell durch eine Ehe besiegelt: »Three years are past since first our vows were plighted«,782 sodass die von Johnson genannten zwei Jahre hier schlicht nicht zutreffen. Zum anderen, gravierender als das obige Versehen, folgt Johnson in seinem insgesamt neutral gehaltenen Bericht der Vorgeschichte an zwei Stellen 780 Ranke, Ueber die Verschwörung gegen Venedig (Anm. 779), S. 124. Ranke erlaubt sich auch einen Seitenhieb auf die effekthaschende Rezeption: »Es ist eine sehr merkwürdige Erscheinung, dass die Uebelstände der Literatur und Kunst dieser Zeit, welche wesentlich darin bestehen, dass man den Weg der Natur und des Gesetzes verlässt, und sich in dem Willkürlichen, dem Gewaltig- und Erhabenscheinenden gefällt, auch in den thätigen Menschen hervortreten, und die Welt verwirren« (ebd., S. 139). 781 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 297. 782 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 298.
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der Perspektive von Senator Priuli. Einerseits meint er, Jaffier habe »dessen Tochter entführt« (13v), und andererseits würden die beiden in einer »unanständigen Verbindung« (13v) leben. Damit folgt er der Haltung des Senators: »You stole her from me; like a thief you stole her«.783 Da Jaffier und Belvidera seit drei Jahren verheiratet sind, Priuli ihren Wohnort kennt und eine Pfändung veranlasst hat, kann von einer ›Entführung‹ im Wortsinne hier kaum die Rede sein. ›Unanständig‹ ist diese Beziehung als Mesalliance, da die beiden Liebenden nicht vom gleichen gesellschaftlichen Stand sind, sie ist es weniger in moralischsittlicher Hinsicht. Bei Priulis Rede handelt es sich somit um die Klage eines Vaters, der sich um seine einzige Tochter betrogen fühlt. Aus dieser Parteinahme Johnsons ist nun noch keine Tendenz abzuleiten. Tatsächlich wird er sich mit seiner Inhaltsparaphrase und Deutung im Folgenden eher auf die Seite Jaffiers stellen, beziehungsweise zu jener gesellschaftlichen ›Klasse‹ halten, zu der er Jaffier zählt. Indem Johnson seinen Bericht der Vorgeschichte sorgfältig vom Handlungsbeginn trennt, kann er sich im Anschluss auf die Ereignisfolge konzentrieren. Dabei unterstreicht er die Opposition der Figuren Priuli und Jaffier, indem er sie, wie schon im Figurenverzeichnis, erneut mit ›Klassenattributen‹ versieht: Er berichtet vom »Streitgespräch zwischen dem Senator Priuli und dem Bürger Jaffier« (13v). Mit dieser Zuschreibung verdeutlicht er seinem Publikum das vorliegende Konfliktpotenzial und fokussiert es auf einen Klassendissens. Diese Perspektivierung ist wahrscheinlich auch für seine Interpretation dieses Streitgesprächs verantwortlich. So lässt sich aufgrund von Otways Text nur implizieren, dass Jaffier Priuli um finanzielle Hilfe gebeten habe, im Dialog selbst beklagt er immerhin ausführlich seine Notlage. Johnson scheint das für die – gewiss naheliegende – Feststellung zu genügen, Jaffier »möchte […] um Unterstützung bitten« (13v). Den interpretierenden Charakter seines Befunds zeigt er dabei womöglich durch das epistemische »möchte« an, er formuliert so seine Deutung der Aussageabsicht der Figur, nicht deren tatsächliche Äußerung.784 Eine spezifische Perspektivierung durch den Referenten ist auch in der Zusammenfassung des anschließenden Gesprächs zwischen Jaffier und Pierre zu erkennen. Pierre berichtet von »allgemeiner Empörung« und der »Not der venetianischen Bürger« (13v), die sich im Hass gegen die Willkürherrschaft des Senats niederschlägt. Pierre ist zudem in einen Streit mit Senator Antonio verstrickt, der sich mit Geld und Privilegien ›seine‹ Aquilina erkauft hat. Pierres Klage dagegen wurde vom Senat abgelehnt. Ist Jaffier zunächst noch unentschlossen, so kann 783 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 297. 784 In der Transkription Neumanns geht diese feine Differenzierung verloren. Statt: »der sich und seine Verbindung mit Belvidera rechtfertigen möchte und um Unterstützung bitten« (13v), hat Neumann: »der sich und seine Verbindung mit Belvidera rechtfertigen möchte und um Unterstützung bittet« (Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 53).
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Pierre ihn zum Handeln überreden, er schwört schließlich: »I will revenge my Belvidera’s tears!«785 Bei Pierre verbinden sich persönliche und gesellschaftliche Motivationen, um in die Forderung zu münden: »burn, and level Venice to thy ruin.«786 Sie verabreden sich zu einem nächtlichen Treffen, und erst von dort aus führt Pierre seinen Freund in den Kreis der Verschwörer ein. Johnsons Darstellung enthält zwar die persönlichen Motive, in deren Folge sich »die private Wut zur allgemeinen Empörung« (14r) auswächst, sie unterschlägt aber das ebenfalls zentrale Motiv der Rache zugunsten der Behauptung, es gehe der Verschwörung darum, »allgemeine soziale Gerechtigkeit herstellen« (14r) zu wollen. Ganz so hehre Anliegen verfolgen jedoch weder Pierre und Jaffier noch die übrigen Verschwörer. Es geht ihnen zunächst darum, den Senat zu stürzen, und sei es um den Preis der Zerstörung Venedigs. So stellt Bedamar, der Kopf der Verschwörung, fest: »The general doom is sealed«.787 Mit Parolen wie »lop their nobles | To the base roots, whence most of them first sprung«, geht es den Aufrührern jedoch nicht nur um die Beseitigung des als ungerecht empfundenen Herrschaftssystems und seiner Machthaber, sondern zugleich auch darum, sich selbst an die Staatsspitze zu stellen; »till Venice own us for her lords«, wie Bedamar es formuliert.788 Mindestens ungenau ist Johnson auch hinsichtlich des Pfands, das Jaffier in Gestalt Belvideras den Verschwörern überlässt. In den Worten des Studenten »muss« Jaffier »seine, sehr geliebte, Belvidera als Geisel übergeben« (14r). Das ›muss‹ er allerdings nicht, denn tatsächlich offeriert er sie von sich aus als Pfand seiner Treue und Verschwiegenheit: »Your friends survey me | As I were dangerous; but I come armed | Against all doubts, and to your trust will give | A pledge, worth more than all the world can pay for. | My Belvidera! Ho! my Belvidera!«789 Damit nicht genug, fordert Jaffier seine Mitverschwörer sogar auf, im Falle seiner Untreue Belvidera zu töten: »To you, sirs, and your honours, I bequeath her, | And with her this: when I prove unworthy | You know the rest – then strike it [gemeint ist ein Dolch; AK] to her heart«.790 Im Weiteren folgt Johnson dann den Ereignissen ohne ähnlich gravierende Abweichung von Otway: Er berichtet von Jaffiers Zweifel an der Verschwörung sowie der versuchten Vergewaltigung Belvideras durch den Aufrührer Renault, wodurch Jaffier von seiner Frau letztendlich überzeugt wird, den Senat, und damit auch Belvideras Vater Priuli, vor dem Umsturzversuch zu warnen, »von seiner Liebe zu ihr gezwungen« (14r) dies zu tun, wie Johnson festhält. Jaffier 785 786 787 788 789 790
Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 304. Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 304. Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 318. Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 318. Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 320. Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 322.
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»bittet sich das Leben Pierres und seiner Mitverschworenen aus« (14r) – eine Bedingung, die der Senat nur annimmt, um sie sofort wieder aufzukündigen: die Verschwörer werden gefangen genommen und hingerichtet. In seinem Resümee dieser zentralen Szene, der Hinrichtung der Verschwörer, wird Johnson einmal mehr ungenau, und zwar in einer Weise, die seiner Lesart dient. Zunächst berichtet er, dass sich Jaffier »nach ausführlicher Versicherung seiner Liebe von Belvidera« (14v) verabschiedet habe und zur Hinrichtung gegangen sei. Dabei unterschlägt er das bedeutsame Faktum, dass Jaffier Belvideras Leben als Unterpfand einsetzen wollte, um so seine Treue dem Freund Pierre und den Verschwörern gegenüber zu bekräftigen. Gemäß Johnsons Zusammenfassung besteigt Jaffier dann »zusammen mit Pierre das Schafott, versöhnt mit ihm« (14v). Johnson spart den Tod der beiden aus, dieser ergibt sich aus ihrer Verurteilung zum Schafott. Bemerkenswert ist nun, dass er auf die Hinrichtung später noch einmal zu sprechen kommt, nämlich in seiner Erörterung der dramatischen Struktur: »als wiederversicherte Freunde besteigen sie [Jaffier und Pierre; AK] das Schafott« (18r). Johnson unterlässt es allerdings beide Male, seinem Publikum die genauen Todesumstände darzulegen. Diese Umstände sind jedoch sowohl hinsichtlich der Beziehung der Freunde als auch bezüglich der Konzeption und ›Lösung‹ des dramatischen Konflikts von erheblicher Relevanz. Pierre und Jaffier sterben nämlich nicht durch den Henker, sondern Jaffier tötet zunächst Pierre – auf dessen Bitte hin als einen Freundschaftsbeweis – und dann sich selbst, wiewohl er durch den Senat freigesprochen worden war: »Jaffier, upon the scaffold, to prevent | A shameful death, stabbed Pierre, and next himself«.791 Bei den weiteren Ereignissen hält sich Johnson dann wieder enger an Otways Vorlage. Jaffier und Pierre erscheinen Belvidera als Geister, sie »stirbt an diesem Anblick« (14v). Ihr Vater, Priuli, »beschliesst in die Einsamkeit zu gehen« (14v), er will als eine Art Mahnung für »alle grausamen Väter« (14v) den Rest seines Lebens in Isolation verbringen. Schließlich vergisst Johnson nicht, auch die »Nebenhandlung« (14v) um Aquilina und Antonio zu erwähnen: Aquilina erbittet von Antonio das Leben Pierres, »anderenfalls sie ihn töten werde, den Antonio« (14v). Sie hat mit ihrer Bitte keinen Erfolg, und es bleibt offen, wie sehr Antonio sich, ungeachtet ihrer Morddrohung, tatsächlich um Pierre bemüht hat. Johnsons Inhaltsparaphrase ist insgesamt insofern gelungen, als sie die Ereignisfolge auf die wesentlichen Konflikte bis hin zu ihrem Ende – um bei dieser Tragödie nicht dramenanalytisch von einer Lösung sprechen zu müssen – begrenzt und seinen Zuhörern Angebote macht, sie auf ihre eigene Lebenswirklichkeit zu beziehen. Im Anschluss an die Inhaltswiedergabe entwickelt Johnson seinen Zuhörern den »dramatischen Plan« (14v) der Tragödie: Hier könne »nicht die Rede« davon 791 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 383.
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sein, dass dieses Stück »seine Spannung aus der Heimlichkeit und Lebensgefahr einer Verschwörung« beziehe (14v). Bereits in seiner Biographie Thomas Otways hatte er auf den »merkwürdigen Titel« aufmerksam gemacht, »der einen Anschlag (a plot) von vornherein als gescheitert, Venedig von vornherein als ›gerettet‹ bekanntgibt« (11v). Da der Titel den Aufbau eines Spannungsbogens auf der politischen Ebene somit von Anfang an auszuschließen scheint, sieht Johnson eine andere »ausserordentliche Spannung wirksam« (15r) werden, die in seinen Augen dann doch wieder eine politische Dimension hat. Diese Spannung werde nämlich »wirksam aus dem Wesen einer bürgerlichen Opposition, und daraus dass diese Opposition, sehr merkwürdiger Weise, scheitert: scheitern muss« (15r). Damit bringt Johnson erneut den staatspolitisch negativ konnotierten, privatim aber noch geschätzten Begriff des ›Bürgerlichen‹ ins Spiel – vor allem aber deutet er seine Ambivalenz (»merkwürdiger Weise«) diesem Spannungsverhältnis gegenüber an. Denn es ist klar, dass auch die Deutsche Demokratische Republik gefährdet ist – wohl aber weniger durch ›bürgerliche‹ Kräfte, die sich (siehe Hans Mayer oder Ernst Bloch) in ihr einzurichten suchen; und wohl auch nicht primär von imperialistischen Kräften, die am 17. Juni 1953 angeblich versucht haben sollen, die innere Ordnung der DDR zu stören; sondern wohl eher vom stalinistischen Rigorismus der Staatsregierung, der empfindliche Auswirkungen auf die Bildungs- und Hochschulpolitik zeitigt. In einem knappen Exkurs verweist Johnson dann darauf, dass Hugo von Hofmannsthal »in seiner Bearbeitung von ›Plot‹ ganz eindeutig nicht Jaffier und Belvidera, sondern den Offizier und Revolutionär Pierre in den Vordergrund gestellt« (15r) habe. Damit habe Hofmannsthal zeigen können, so Johnson, dass »Jaffier und Belvidera dem Untergang Pierres[,] eines bürgerlichen Empörten« (15r), gedient hätten – ein Umstand, der laut Johnson bei Otway zwar schon vorhanden, allerdings »noch verhüllt« (15r) gewesen sei. Zweifelsohne bedient der Student eine Anforderung des Seminars über Weltliteratur, wenn er das englische Drama aus dem 17. Jahrhundert mit dem des deutschsprachigen Autors aus dem frühen 20. Jahrhundert in Beziehung setzt, und so die Bedeutung des letzteren für die Tradierung des Sujets im deutschsprachigen Raum herausstellt. Aber bedient er auch einen Aspekt sozialistischer Literaturgeschichtsschreibung, die alle Literatur als synchronen Ausdruck gesellschaftlichen Fortschritts verstehen möchte? Die Revolution frisst ihre Kinder – das dürfte der eigentliche dramatische Konflikt sein, den Hofmannsthal gegenüber Otway modern und tagesaktuell herausarbeitet und zuspitzt. Während Jaffier bei ihm »meuchlings hingerichtet« wird, stirbt Pierre dort »ehrenhafter als bei Otway«.792 Die Fokussierung auf Pierre verleiht, geschickt inszeniert, einem ab792 Michel Vanhelleputte: Hofmannsthal und Thomas Otway. Zur Struktur des »Geretteten Venedig«, in: Revue Belge de Philologie et d’Histoire 42, 1964, S. 926–939, hier: S. 933.
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gelebten Stück gegenwärtige Brisanz. In diesem Sinne ist Hofmannsthal gegenüber Otway der ›fortschrittlichere‹ Schriftsteller, indem er den letzten Ehrendienst, »einen freien, würdevollen Tod«, an einem tragischen Revolutionär ›in den Vordergrund stellt‹.793 Von »bisweilen boshafte[n] Bewertungen […] vor allem auch des Hofmannsthal«,794 an die Hans Mayer sich zu erinnern glaubt, ist diese Lesart weit entfernt. Diese Entfernung gilt offensichtlich auch für eine andere Variante von Mayers ›Erinnerung‹, die den Titel des Seminars als »Das gerettete Venedig. Thomas Otway und Hugo von Hofmannsthal« in sein Gedächtnis ruft und ihn berichten lässt, dass Johnson »Hofmannsthal nicht gönnerhaft« behandelt, sondern »ihn sehr ernst« genommen habe: »Zu Recht stellte er sich die Frage: Warum hatte Hofmannsthal gerade dieses Werk zu Beginn unseres Jahrhunderts bearbeitet?«795 Statt einer solchen Frage nachzugehen, dient Johnsons knapp gehaltener Verweis auf den österreichischen Dramatiker aber offensichtlich vielmehr der von ihm avisierten Argumentation, indem für den ›Untergang‹ des ›bürgerlichen Revolutionärs‹ Pierre der ›bürgerliche‹ Jaffier und dessen Frau verantwortlich zeichnen müssen. In einer marxistisch-leninistisch geprägten Lesart ließe sich aus dieser ›verschobenen‹, mittelbar erzwungenen Tat die Unfähigkeit der bürgerlichen Klasse zur Revolution ableiten. Johnsons Lesart kann sich dem nicht anschließen, im Gegenteil: Sie kehrt hervor, wie politische Willkür persönliche Bindungen zugleich festigt und zerstört. Anders als etwa in Schillers Ballade Die Bürgschaft ist hier keine ›idealistische‹ Auflösung des Konflikts möglich – die dünne Larve eines unmenschlichen Systems camoufliert kein menschliches Antlitz. Den potenziellen Revolutionär Pierre gilt es somit genauer zu betrachten. Johnson erläutert dessen zum erheblichen Teil persönlich motivierten Konflikt mit der Republik Venedig in Gestalt des Senators Antonio, der sich seiner Geliebten, Aquilina, bemächtigen will. Hatte Johnson schon häufiger mehr oder weniger versteckte Anspielungen in sein Referat einfließen lassen, so bringt er nun die wohl prominenteste wie für seinen Gegenstand auch passendste, literarisch inspirierte Redensart unter: Pierre schließe von seiner zunächst privaten Angelegenheit darauf, dass »etwas faul ist im Staate Venedig« (15r). Als wichtigster Vertreter des englischen Dramas, dem Otway allenfalls zeitweilig den Rang ablaufen konnte, ist Shakespeare eine naheliegende Referenz, und sei es auch nur für ein Bonmot. Wobei der Bezug zum ahnungsvollen Ausspruch des Wachmanns Marcellus hier noch mehr sein kann, als das Ausstellen von Belesenheit.796 793 794 795 796
Vanhelleputte, Hofmannsthal und Thomas Otway (Anm. 792), S. 933. Mayer, Deutscher auf Widerruf II (Anm. 81), S. 112. Mayer, Unerwartete Begebenheit (Anm. 88), S. 42. Die lässt sich in diesem Fall recht genau zurückverfolgen: In Rostock besuchte Johnson bereits ein Seminar zur Weltliteratur, Meisterwerke der Weltliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts, bei Hildegard Emmel. Dort wurde er mündlich über Hamlet geprüft, und zwar
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Die Worte fallen unmittelbar, bevor Hamlet die Ermordung seines Vaters gesteckt wird: Hamlet erfährt, dass der König, sein Vater, durch dessen Bruder Claudius beseitigt worden ist, damit dieser selbst König werden und überdies seine Schwägerin heiraten kann. In dieser Intrige überlagern sich für Hamlet privates wie ›staatstragendes‹ Unglück und gründet sich der zentrale Konflikt des Dramas. Mit seiner Adaption von Shakespeares Worten markiert Johnson einen ähnlichen Erkenntnismoment: Als Pierre erfährt, dass ein Senator seine Geliebte beansprucht, der Senat seinen Einspruch abwehrt, wird ihm die insgesamt korrumpierte Regierung augenfällig. Er beschließt, etwas gegen sie zu unternehmen und seinen Freund Jaffier dafür einzuspannen, womit die Ausgangssituation für Otways Tragödie geschaffen ist. Aquilina beteuert zwar, dass sie Pierre liebe und handelt auch entsprechend, erklärt aber Antonio zu einem notwendigen Übel: »the beast has gold, that makes him necessary« (15r). Damit wird der private Konflikt nicht nur politisch, es geht damit auch eine soziale Komponente einher: die Kurtisane ist auf das Geld des Senators angewiesen. Nebenher ist dies die einzige Passage, die Johnson wörtlich aus dem englischen Original Otways zitiert.797 Ob Dank dieser wenigen englischen Worte nun Johnsons »ausgezeichneter englischer Akzent beim Vortrag der Zitate aus Otway« in Hans Mayers Erinnerung eingegangen ist, muss offen bleiben.798 Der Zweifel an Mayers Einschätzung verstärkt sich, wenn Johnson deutlich zu machen sucht, dass die unterschiedlichen Charaktere Jaffiers und Pierres sich auch in deren markant abweichender Rhetorik niederschlägt, was zugleich ein Beleg für die literarische Qualität der Figurentypologie sein kann. Um dies aufzuzeigen, zitiert Johnson einen Dialogausschnitt, allerdings in deutscher Übersetzung. Der einleitende Hinweis eingangs seines Referats, »[v]orkommende Übersetzungen sind von mir« (1r), dürfte in der Hauptsache auf diese Übertragungen zielen, denn nur hier ist zu erkennen, dass der Student aus einer Quelle übersetzt; bei seinen sonstigen Übertragungen literarhistorischer Quellen markierte er das nicht.799 Um einen Eindruck von der Übersetzungsleistung zu erhalten, sollen Original und Johnsons Lösungsversuch hier einander gegenübergestellt werden: über die »Bedeutung und Funktion« des Geistes bei seinem Auftritt in der fünften Szene des ersten Akts – am Ende der vierten Szene fällt der berühmte Satz (Mündliche Prüfung am 25. 5. 1954, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 32). 797 Vgl. Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 308. 798 Mayer, Deutscher auf Widerruf II (Anm. 81), S. 112. 799 Hinzu kommt, dass Johnson für seine Zwecke schlicht nicht auf die vorhandenen Übertragungen zurückgreifen konnte, da es sich stets um mehr oder weniger stark bearbeitete Fassungen und nicht um Interlinearversionen handelt. Die erste textgetreue Übersetzung legte erst Simon Werle 2003 vor; vgl. Thomas Otway: Das gerettete Venedig oder Eine aufgedeckte Verschwörung. Deutsche Fassung von Simon Werle, Frankfurt am Main: Verlag der Autoren 2003.
246 Otway800 Jaffier: Sure thou art honest?
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Johnson801 JAFFIER: Sicherlich bist du ehrbar?
PIERRE: Man hält mich in der Tat dafür, jedoch man irrt sich da: ich bin ein Schuft so gut wie sie, ein feiner heitrer kühngesichtger Schuft wie du mich siehst. Wohl bezahl ich meine Schulden gegen Schuldschein, bestehle keinen, zerschneide keine Kehle, zur Börse eines grossen Mannes zu gelangen Or a whore’s bed; I’d not betray my friend, oder in einer Hure Bett; ich werd nicht meinen Freund verraten To get his place or fortune: I scorn to flatter für seinen Platz oder für sein Glück; ich verachte es zu schmeicheln A blown-up fool above, or crush the wretch einem aufgeblasnen Dummkopf über mir, oder die Bedrückten unter mir zu treten. Beneath me. – Jedoch Jaffier: bei alledem bin ich ein Yet, Jaffier, for all this, I am a villain. Schurke. Jaffier: A villain! JAFFIER: Ein Schurke?! Pierre: So indeed men think me; But they’re mistaken, Jaffier: I am a rogue As well as they; A fine, gay, bold-faced villain, as thou seest me: ’Tis true, I pay my debts when they’re contracted: I steal from no man; would not cut a throat To gain admission to a great man’s purse,
Pierre: Yes, a most notorious villain: PIERRE: Jawohl, ein abgefeimter Schurke: ich sehe meiner Mitmenschen Leiden To see the sufferings of my fellow-creatures, And own myself a man; to see our senators und nenne mich einen Mann; sehe unsere Senatoren das verführte Volk mit einer Farce von Cheat the deluded people with a show Of liberty, which yet they ne’er must taste Freiheit betrügen, von der sie niemals of. kosten müssen. They say, by them our hands are free from Sie sagen durch sie sein unsere Hände frei fetters, von Fesseln, Yet whom they please they lay in basest doch wen sie belieben legen sie in tiefste Gewölbe, bonds; wen sie belieben bringen sie in Not und Bring whom they please to infamy and Verruf, sorrow; Drive us like wrecks down the rough tide of sie treiben uns wie Wracks den rauhen Strom der Macht hinunter power, und bleibt kein Halt vorm Untergange um Whilst no hold’s left to save us from dezu retten struction: All that bear this are villains, and I one, die dies ertragen die sind Schurken, und ich bin einer Not to rouse up at the great call of nature, dass ich den grossen Ruf der Natur nicht erhebe und diese Brut serviler Verderber zertrete, And check the growth of these domestic spoilers, die uns zu Sklaven machen, und sagen, das That make us slaves, and tell us ’tis our sei unser Beruf. charter. 800 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 300. 801 Johnson, Otway (Anm. 391), Bl. 15r–15v.
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Anhand dieser Synopse wird deutlich, dass Johnson darum bemüht ist, möglichst wortgetreu am Original entlang zu übersetzen. Auch dem von Otway vorgegebenen Versmaß versucht er weitestgehend zu folgen. Bei der Interpunktion hingegen geht er offenbar seinen eigenen Weg, setzt Kommata und Semikola nach individuellen Sinneinheiten und nicht gemäß den Dudenregeln oder Otways Vorlage. Mit teils altertümelnder Sprache, wie etwa ›abgefeimt‹, und teils kreativ-enger Anbindung an die Vorlage (»kühngesichtger« für »bold-faced«),802 dürfte es Johnson gelungen sein, den Duktus des Originals seinem Seminarpublikum näherzubringen. Nicht gelungen ist ihm hingegen, den »bemerkenswerte[n] Gegensatz« der Rede Pierres »zu dem Pathos Jaffiers« aufzuzeigen (15r), wie er es angekündigt hatte, denn er zeigt nur Pierre – die sechs Worte Jaffiers dürften dafür kaum genügt haben. Dessen ungeachtet taugt Johnson die von ihm zitierte Rede dafür, in Pierre jemanden zu sehen, dem »durchaus zuzutrauen« sei, »dass er eine Verschwörung organisiert« (15v). Interpretationsbedürftig ist hingegen seine Deutung, dass es »etwas sehr Bedenkliches« an sich habe, in eine solche Verschwörung einen Menschen einzubeziehen, »bei dem er auf nichts weiter vertrauen kann als auf eine Freundschaft« (15v). Man mag ihm entgegenhalten, dass in einem Staat, wie auch Johnson es beobachtet hat, der auf Willkürherrschaft und Machtmissbrauch gegründet ist, gerade Freundschaft, mithin der Rückzug auf das Private, vielleicht eine letzte verlässliche Instanz darstellt. Zumal sich Jaffier am Ende der Tragödie gerade in dieser Hinsicht, ganz im Sinne des Schemas der Restaurationstragödie, als Freund ›bewährt‹. Aber vielleicht ist gerade dies der Hintergrund für Johnsons Argument: Soll man einen Menschen für ein Vorhaben in Anspruch nehmen, das politisch heikel ist, nur weil er sich als Freund anbietet? Wäre dies nicht ein Missbrauch der Freundschaft (oder wenigstens eine missbräuchliche Inanspruchnahme eines Freundschaftsdienstes)? Die Rolle dieses Freundes wie auch seiner Gattin betrachtet Johnson nun genauer, wiederholt dazu die bereits einleitend vorgestellte Vorgeschichte ein wenig ausführlicher, und betont bei dieser Gelegenheit erneut den Klassenkonflikt. Jaffier sei letztendlich nur »ein Bürger«, der »eine ehemalige Senatorentochter so behandeln« möchte, »als sei sie es noch immer, und nicht die Frau eines Bürgers« (16r). In der Tat ist Jaffier daran gelegen, seiner Frau aus Liebe zu ihr ihren gewohnten Lebensstandard zu sichern. Johnson forciert: »diese Belvidera treibt es nun nicht so weit mit der Opposition dass sie verzichten möchte auf 802 Johnsons Handschrift ist schwer zu lesen, oft nicht eindeutig zu entziffern, und unter Umständen könnte man Neumanns Transkription zu »kükengesichtiger« (Johnson, Thomas Otway (Anm. 401), S. 55) gelten lassen. In diesem Fall aber spricht eindeutig der Kontext gegen diese Lesart, sie würde die durch Otway gegebene Bedeutung an dieser Stelle in ihr Gegenteil verkehren, und somit auch Johnsons Übersetzungsleistung schmälern. Ähnliches gilt für »einer Hure Bett«, aus dem bei Neumann »einer Hure Börse« wird (ebd.).
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Aufwartung und Dienerschaft« (16v). Damit stellt er einerseits seine Textkenntnis unter Beweis – Belvidera betritt am Ende des ersten Akts mit ihren Bediensteten die Bühne, wie eine Regieanweisung zeigt: »Enter BELVIDERA, attended.«803 –, und andererseits setzt er damit ein besonderes Konzept von Bürgertum ins Bild. Der Bürger ist hier Opponent, aber nicht als historisch wirksame gesellschaftliche Kraft, wie ihn der historische Materialismus etwa als Totengräber der Aristokratie in hierarchischen Ordnungen konzeptualisiert, oder dergestalt, wie Oppositionelle in modernen westlichen Demokratien Meinungsvielfalt, Pressefreiheit und Parlamentarismus befördern. Jaffier und seine Mitverschwörer eint das gemeinsame Bestreben, die bestehende Ordnung der vermögenden Aristokratie zu beenden, wodurch sie zu Staatsfeinden werden. Ihre Motive und Ziele machen sie überdies zu ›Feinden des Staates‹ im doppelten Sinne, indem es ihnen vor allem um Rache und eigene Bereicherung geht, statt um eine freiheitliche Konstitution, die zu einem ›besseren‹ Staat führen könnte. Hauptgegner sind im Stück Senat und Senatoren. Als Oligarchen repräsentieren sie die Macht, die sich durch die Bürgerlichen gefährdet sieht. Sie bilden eine kleine, undurchdringliche Schicht der Wenigen, die ihren Machtanspruch eisern verteidigt – sodass auch nicht gern gesehen wird, dass eine Senatorentochter aus ihrer Kaste ausbricht und sich mit einem Bürgerlichen vermählt, oder dass eine ›ihrer‹ Huren von einem Soldaten geliebt und beansprucht wird. Insofern kämpfen hier Senatorenadel und Bourgeoisie um ihre Vormachtstellung innerhalb der vertikal differenzierten Stratifikation der Klassengesellschaft und sind noch nicht ›reif‹ für einen grundlegenden Systemwechsel im Sinne funktionaler Differenzierung.804 Die Arbeiterklasse als ›fortschrittliche Kraft‹ ist hier noch gar nicht aufs historische Tableau getreten. Ob sie überhaupt ein Fortschrittsmodell darstellt, darf von heute aus bezweifelt werden – denn zumindest ideologisch etabliert sich mit ihr eine neue Kaste von Privilegierten. Als sie etabliert war und in ihrem jungen Arbeiter- und Bauernstaat feststellen musste, dass sich ihr zügig eine Elite aus Funktionären und begünstigten Kadern vor die Nase gesetzt hatte, probte auch sie den Aufstand – und scheiterte wie die empörten Bürger in Otways altem Venedig. Jedoch vernachlässigt Johnson mit seiner teils gesuchten Charakterisierung Belvideras völlig das zentrale Motiv der Liebe zwischen ihr und Jaffier. In seiner Darstellung wird der Eindruck erweckt, als habe sich die Senatorentochter mit 803 Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 305. 804 Die erhofften Innovationen blieben in der DDR auch deshalb aus, weil es dem ›klassenlosen‹ Staat nicht gelang, die Privilegienwirtschaft der Funktionärsgarde zu beseitigen, bestimmte Ranggruppen zu entmachten oder Staatsapparate nach deren Qualität und Effizienz zu bemessen. Die Unterscheidung von vertikal differenzierter Stratifikation und funktionaler Differenzierung nach Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984.
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ihrem bürgerlichen Leben nicht abfinden können, stünde immer noch treu zu ihrem Vater und damit wohl auch zum Senat, und würde deshalb Jaffier zum Verrat seiner Mitverschwörer anstiften. Damit macht Johnson sie zu einer Art verlängertem Arm der herrschenden Klasse, der die bürgerliche Verschwörung unterminiert. Ihre wiederholten Liebeserklärungen,805 ihre Ehe mit Jaffier und das gemeinsame Kind berücksichtigt er dabei nicht. Für sie spreche immerhin noch, dass sie ihren Vater nicht von ihrem Ehemann ermordet sehen möchte. Da dieser Vater aber gerade der Senator Priuli ist, trägt selbst diese familiale Sorge oder ›Menschlichkeit‹ einen Hautgout der Klasseninteressen. So kommt Johnson der Entdeckung des Konfliktschemas dieses Restaurationsdramas näher, wenngleich mit seiner eigenen Bewertung. Denn zwar zeige dieser Wunsch, dass der Vater nicht getötet werden solle, »eine anerkennenswerte Menschlichkeit«, doch gehe »daran eine nicht eben unmenschliche Sache zugrunde« (16v). Belvideras Dilemma zeitigt im Kleinen den Grundkonflikt der gesamten Tragödie, in dem sich die Protagonisten zwischen gleichberechtigten Ansprüchen der Liebe wie der Ehre entscheiden müssen. Für Johnson ist das eine »Merkwürdigkeit« (16v), die er nicht so recht nachvollziehen kann. Vielleicht meint er diese dramatische Struktur, als er seinem Freund Jochen Ziem über sein Referat berichtet: »mir jedenfalls fehlt das Verständnis dafür.«806 Doch obwohl ihm der Zugang partiell versperrt bleibt, kann er das Dilemma des Protagonisten Jaffier auf den Punkt bringen: Es geht natürlich nicht an von Jaffier zu verlangen er solle, statt auf die Bande der Natur Rücksicht zu nehmen die seine Belvidera trotz vielem noch mit einem Senator verbinden, er solle statt dessen das Geheimnis des geplanten Aufstandes für sich behalten, und sich Pierres Freundschaft würdig erweisen: das geht nicht an. Weil eben dieser Verrat Jaffiers als etwas immerhin auch Anerkennungswürdiges gestaltet ist, nämlich als ein Beweis seiner Liebe zu Belvidera, und andererseits gestützt ist durch die vielberufene Weichheit seines Charakters. (16v)
Durch Belvideras Eingreifen, so Johnson, »schädigt eine Bürgerlichkeit die andere« (16v): die Liebe des Bürgers Jaffier verhindert die bürgerliche Revolution. Darin sieht Johnson eine »Verwirrung der Motive« (16v) vorliegen, die im »Schema der Restaurationsthematik« (17r) begründet liege. Das bürgerliche Lager werde durch Jaffiers Interessenkonflikt geschwächt, wodurch Venedig gerettet werden könne – ›gerettet‹ nämlich im Sinne dieses Schemas, das die
805 Ganz deutlich sagt sie beispielsweise, dass sie mit Jaffier auch in Armut leben würde: »Though the bare earth be all our resting-place, | Its roots our food, some clift our habitation, | I’ll make this arm a pillow for thy head« (Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 307). 806 Uwe Johnson an Jochen Ziem, 16. 5. 1955, in: Johnson, »Leaving Leipsic next week« (Anm. 386), S. 48 f. , hier: S. 49. Vgl. dazu hier: S. 133.
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Bestätigung der bestehenden Ordnung einfordert, wozu die »übliche Selbstdarstellung der Monarchie« gehört.807 Das Restaurationstheater konnte gar nicht anders, als sich affirmativ zur bestehenden Ordnung zu verhalten, denn schließlich stellte die Lizenz für den Theaterbetrieb der König aus; überdies gab es eine Vorzensur, die jedes neue Stück vor seiner Aufführung streng prüfte. Otways Drama, schon mehr am Ende der Reihe heroischer Bühnenstücke zu verorten, bricht dieses starre Schema in mancher Hinsicht bereits auf: die Darstellung idealisiert heldenhafter und selbstbewusster Protagonisten »weicht einer Privatisierung des Konflikts«.808 Das war für Otways Darstellung der gescheiterten Revolution sogar notwendig, denn ein typischer Protagonist des heroic plays hätte notwendig triumphieren müssen.809 Da aber nicht sein kann, was nicht sein darf, durfte die gerade erst ›restaurierte‹ englische Monarchie – und sei sie in die Kulissen Venedigs gerückt – nicht von ihren Bürgern unterlaufen und gestürzt werden; gerade das Scheitern der Verschwörer, vom Publikum als Referenz auf die vorgebliche, vereitelte ›Papisten-Verschwörung‹ wahrgenommen, begründete die große zeitgenössische Wirkung. Johnson geht auf die kulturpolitischen Implikationen an dieser Stelle nicht ein, er hatte diese Umstände bereits zuvor dargestellt (bei Milton etwa auf die Zensurthematik hingewiesen). Somit überlässt er es seinem Publikum, zumindest dessen aufmerksamen und verständigen Teil, diese Verbindung zwischen Politik und Kultur herzustellen, hier am konkreten Beispiel des ›merkwürdigen‹ Schemas. Wer unter Johnsons Zuhörern konnte und wollte, vermochte sich schon hier diese Merkwürdigkeit zu erklären und auszudeuten, der Referent hat das Notwendige bereits geliefert: Die Künstler standen in finanzieller und damit ›direkter‹ Abhängigkeit von der herrschenden Aristokratie (zu erkennen etwa an der Widmungspraxis), die Abhängigkeit wurde zudem ›inhaltlich‹ von der Zensur überwacht – das Ergebnis war insofern ein Kunstdiktat, das diese Gesellschaftsschicht nicht grundsätzlich in Frage stellen durfte.810 – Ein höchst brisantes Thema auch noch zur Zeit des Referats, das explizit besser nicht angesprochen wurde. Sodann wechselt Johnson von der Darstellung des ›dramatischen Plans‹ zu seiner Einschätzung dieses Plans. Dieses »Schema der Restaurationsthematik« 807 Johann N. Schmidt: Das heroische Drama, in: Englische Literaturgeschichte (Anm. 688), S. 220–223, hier: S. 223. 808 Schmidt, Das heroische Drama (Anm. 807), S. 223. 809 Vgl. hier: Anm. 812. 810 Freilich war es möglich, sich über einzelne Vertreter zu amüsieren: So macht es Otway in seinem Prolog mit den Ambitionen des Earl of Shaftesbury, der König von Polen werden wollte (vgl. Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 293).
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sei das »Übel dieses Stückes«, wobei es gleichermaßen als dessen »Gerüst« diene (17r). Otway scheine sich daran »festzuhalten«, und zwar, »um nicht zu sehr bürgerliche Sympathien über seine royalistische Ideologie siegen zu lassen« (17r). So gelangt Johnson zu seiner Kritik an Otways Stück. Zwar erkennt er das Schema als solches an, »die Ehre eines Mannes wird durch die Leidenschaft der Liebe in Frage gestellt, und gelöst wird der Konflikt in der Bewährung der Ehre« (17r). Doch legt er sein Augenmerk auf die Verschwörung: schließlich sei die Ehre in diesem Fall »untrennbar von einer Verschwörung«, die als ein »durchaus sozial gerechte[s] Vorhaben« anzusehen sei (17r). Das berührt den Kern von Johnsons Kritik, der zufolge der Kampf einer unterdrückten Klasse gegen eine ausbeuterische Willkürherrschaft befürwortet werden könne. Und so kommt dieser Student dazu, »zu fragen, ob diese mit dem Gelingen der Verschwörung bedingungsweise gekoppelte Ehre hätte so gründlich in Frage gestellt werden dürfen« (17r). Die rhetorische Frage impliziert ihre Antwort: es ist ein grundsätzlicher Vorwurf gegen den Verfasser Otway und die Konzeption seiner Tragödie. Mag eine solche ahistorische Literaturkritik in der DDR ihre Berechtigung gehabt haben, so erscheint sie aus heutiger Perspektive höchst bedenklich. Johnson selbst wird sein Urteil zum Ende seines Referats noch relativieren. Um seine Deutung zu untermauern, zitiert er noch einen Dialog aus der Eröffnung. Damit soll offenbar das noble Anliegen der Verschwörung um einen moralischen Aspekt erweitert werden: »Denn was da hätte beseitigt werden sollen, erscheint der Beseitigung äusserst würdig« (17r). Johnson übersetzt dafür einen weiteren Passus aus der Exposition, dem Streitgespräch zwischen Priuli und Jaffier, in dem der Senator seine Tochter Belvidera und Jaffier verflucht, ihnen etwa Not, Kummer und Armut wünscht. Der negativ gezeichnete Charakter des Vaters soll so stellvertretend die ›Beseitigungswürdigkeit‹ des Senats illustrieren. Das Beispiel spricht für sich, und kommentiert wird lediglich, dies sei »nicht schön anzuhören« (17v). Offenbar hat Hans Mayer sein Seminar ermuntert, Geschmacksurteile zu fällen. Vielleicht hat er auch saloppe Tonlagen wie diese anstandslos passieren lassen, weil er selbst dazu neigte, in seinen Vorlesungen und Veröffentlichungen seiner persönlichen Meinung und Gesinnung die Zügel schießen zu lassen. Einen differenzierend-abwägenden Umgang mit historischen Sujets konnte der angehende Literaturwissenschaftler bei Mayer nicht lernen, dafür aber eine Betonung der Negativskizze des Herrschaftsrepräsentanten sowie eine Hypostasierung des eigenen Standpunktes. Ein ähnliches Urteil fällt Johnson dann auch über »die Reden des Herrn Senators Antonio« (17v), dem er sich im Anschluss zuwendet, um so sein Bild des Senats zu vervollständigen. Dabei erkennt Johnson durchaus die Funktion dieser Figur – dem Popanz eines alternden, seine Macht missbrauchenden Lüstlings, im Drama wie auch im literarhistorischen Kontext. Die Rolle Antonios sei »selbstverständlich übertrieben, einmal vielleicht um dem Parkett etwas zu bieten […];
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zum anderen ist das eine etwas zu deutlich geratene Satire auf einen zeitgenössischen Politiker« (17v).811 Schließlich findet Johnsons Einschätzung ihren Höhepunkt in der Feststellung, der Senat sei »eine Versammlung von Feiglingen« (17v), die Jaffier das Leben der Verschwörer zusicherten, nur um »unmittelbar darauf die Exekution anordnen« zu können (18r). Johnson übernimmt so das im Stück angebotene Feindbild vom Senat, der nicht nur seiner Willkürherrschaft wegen zu verurteilen sei, sondern der überdies noch von moralisch unzureichenden Männern gebildet werde. Auf dieser Grundlage wiederholt Johnson nun seine Kritik an Otways Tragödie: Und eben das ist fragwürdig: ob die Ehre die mit Beseitigung solcher Gestalten steht und fällt so gründlich hätte in Frage gestellt werden dürfen, dass unerträgliche Zustände bestehen bleiben, und allenfalls Gelegenheit geben im Untergang Seelengrösse zu beweisen. (18r)
Einzelnen Figuren gesteht er dabei durchaus ›Seelengröße im Untergang‹ zu, wie es auch von Otway angelegt ist. Ein Beispiel sei etwa Jaffier, der um der Ehre willen sich mit Pierre versöhnt und mit ihm das Schafott besteigt. Wie bereits erwähnt, lässt Johnson das Ereignis aus, bei dem Jaffier zunächst Pierre ersticht, damit der Freund dem schmachvollen Henkerstod entgeht, und dann sich selbst tötet, was diesen Ehrenpunkt in der gegebenen gesellschaftlichen Konvention noch mehrt. Auch Aquilina sei ein solches Beispiel, indem sie »versichert Antonio töten zu wollen«; Mutmaßung des Referenten: sie »wird das auch wohl tun« (18r). Das gerade für eine Kurtisane bemerkenswerte Motiv ihrer Rache, ihre Liebe zu Pierre, lässt Johnson unberücksichtigt. Und selbst dem Schicksal Priulis kann Johnson ein ehrenwertes Moment zugestehen in Anbetracht dessen – durchaus unwahrscheinlichen – Wandels zum reuigen Einsiedler angesichts des Todes seiner Tochter, an dem er eine Mitschuld trägt. Doch obwohl Johnson Einsicht in diese durch das Schema notwendig gewordenen Tode zeigt, kann er sich damit nicht einverstanden zeigen, ihm »bleibt 811 Hier macht sich Johnson eine Randnotiz, womöglich um auf Nachfragen vorbereitet zu sein: »Sir Ashley Cooper. royalist, puritan M. P., restaurator, torry, whig« (17v). Die Vorlage dazu war eine ausführliche Fußnote Roden Noels beim ersten Auftritt Antonios zu Beginn des dritten Akts. Noel weist darauf hin, dass es sich hier um eine »satire« auf diesen ersten Earl of Shaftesbury handelte und liefert eine knappe Biographie, worin leicht die Vorlage für Johnsons Anmerkung zu erkennen ist: »He was first a Royalist, then a Parliamentarian, later contributed to the Restoration; after this a Tory, and finally a Whig« (Otway, Venice Preserved (Anm. 771), S. 324f., hier: S. 325). Bemerkenswert ist daran einerseits, dass Johnson vom ›Puritanertum‹ Coopers weiß, von dem seine Quelle nichts sagt, wie andererseits, dass er den »Parlamentarian« seiner Vorlage mit »M. P.« abzukürzen versteht, wie es im Englischen üblich ist (für ›Member of Parliament‹). Denkbar ist überdies, dass Johnson Otways zeitgenössische Referenz auf Shaftesbury, der sein Fähnchen stets in den politisch opportunen Wind drehte, auch auf Akteure seiner Gegenwart gemünzt wissen wollte, etwa auf die Verantwortlichen des politischen Schlingerkurses im Jahre 1953.
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der Eindruck hier sei mit unangebrachten Mitteln Tragik hergestellt worden« (18r). Ihn stört, dass einerseits »bürgerliche Ideen wie Ehre Freundschaft Liebe hochgehalten und aristokratischer Unwürdigkeit entgegengehalten werden« (18r–v), während andererseits »tatsächliche Aktionen geleugnet werden« (18v), die postulierten Ideale somit nur als Lippenbekenntnisse gelten können. Das hat in seinen Augen zur Folge, »dass am Ende wirklich die Falschen tot auf der Bühne liegen« (18v). Damit gibt sich Johnson einmal mehr als Kind seiner Zeit, das ein Drama des 17. Jahrhunderts nach Ansprüchen marxistisch-leninistischer Konditionierung der Gegenwart bemisst. Ein zeitgenössischer Leser ›weiß‹ um die Notwendigkeit von bürgerlichen Revolutionen in einer Feudalgesellschaft, um so im Sinne des historischen Materialismus einen gesellschaftlichen Umbruch voranzutreiben, der schließlich – über kapitalistische Zwischenstufen – die Revolution der Arbeiterklasse und so eine sozialistische Gesellschaftsordnung überhaupt erst ermöglichen soll. Johnson demonstriert mit seiner Kritik an Otways Stück die Perspektive der sozialistischen Literaturdoktrin seiner Zeit, die durch erhebliche Verengung ihres marxistischen Blickwinkels zur ahistorischen Determinante des Klassenkampfs greift, und die so bestimmte literarische Phänomene nicht zu deuten versteht, sie für ›merkwürdig‹ befindet. Johnson scheint sich dieses Problem bis zu einem gewissen Grad vergegenwärtigt zu haben. Er hält Venice Preserved »in einem verzweifelt typischen Sinne« für »ein Drama aus der Zeit von 1660 bis 1688« (18v), ein exemplarischer und symptomatischer Ausdruck der Zeitläufte. Es sei, so sein abschließendes Urteil, das Drama eines Bürgers der meinte Royalist zu sein, das Drama eines Bürgertums das sich als berechtigt empfand (und als berechtigter) aber nicht den Mut hatte und nicht die Möglichkeit dies sich tatsächlich zuzugestehen und praktisch zu verwirklichen. (18v)
Johnson legt den Maßstab seiner eigenen Gegenwart an Otway und dessen Tragödie an: beide können davor nicht bestehen. Da in der sozialistischen Interpretationspraxis die Literatur als Spiegel gesellschaftlicher Prozesse gilt, kann Johnson somit auch Otway und seinen Zeitgenossen den Vorwurf machen, sich ihren ›Rechten‹ – und Pflichten? – nicht gemäß verhalten zu haben, sprich eine Revolution durchzuführen und sie auch literarisch darzustellen. Was hier schlicht und einfach zu fehlen scheint, ist der notorische ›positive Held‹. In Johnsons eigener Gegenwart ist eine vergleichbare Schwächung des Bürgertums zu beobachten. Es gelingt dieser ›tragenden Mittelschicht‹ nicht mehr, sich gegen Verstaatlichung und Zwangskollektivierung zur Wehr und einen positiven Akzent zu setzen. Während das Bildungs- und Erziehungssystem nach sowjetischem Vorbild reformiert und organisiert wird, während privatwirtschaftliche Betriebsformen aufgelöst oder behindert werden, während ›revisionistische
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Abweichler‹ vor Gericht und im Zuchthaus landen, setzt eine Massendemissionierung Richtung Westen ein, getragen vorrangig vom gut ausgebildeten Mittelstand, von Ärzten und der sogenannten Intelligenz, aber auch von Landwirten und kleinen und mittleren Unternehmen, die sich eine Zukunft unter marktwirtschaftlichen Bedingungen erhofften und auch vorstellen konnten. Diesem Exodus wirtschaftlichen, intellektuellen und kulturellen Kapitals wusste man schließlich nur mit Stacheldraht und Mauerbau zu begegnen. So sehr Johnson damit auch richtig liegen mag, dass Venice Preserved als typisches Drama der Restaurationszeit gelten kann,812 so wenig berücksichtigt er die Umstände seiner Entstehung. Das ist insofern überraschend, als er die historische Voraussetzungssituation zuvor ausführlich dargelegt hat. Er hat erkannt, dass Thomas Otway Royalist gewesen ist, und macht ihm das zum Vorwurf, denn seine soziale Stellung gebe dazu keinen Anlass; mit anderen Worten, Otway habe sich nicht seiner Klasse gemäß verhalten und auch nicht ihr gemäß geschrieben. Johnson bedenkt nicht, dass es gerade in der Restaurationszeit kaum möglich gewesen sein dürfte, ein Theaterstück aufzuführen, das eine erfolgreiche Revolution gegen die feudale Herrschaftsordnung zum Thema hat. Gerade das Restaurationsdrama in seiner heroischen Spielart war mit seiner »ultramonarchistischen Gesinnung […] die höfische Dramengattung par excellence«.813 Und dem englischen Publikum nach den Erfahrungen von Bürgerkrieg, Puritanismus und Commonwealth implizit vorzuwerfen, im Angesicht der Restauration der Monarchie nicht sogleich die nächste Revolution angezettelt zu haben, ist schon nassforsch, übersieht wenigstens die Beschaffenheit der historischen Situation. Dieser Befund zeitigt im ersten Zugriff einen ›Systemkritiker‹, der in stetiger Auseinandersetzung mit der marxistisch-leninistischen Literaturdoktrin seiner Zeit analysiert und argumentiert. Saloppe sprachliche Gesten, etwa einen dramatischen Dialog lediglich als ›nicht schön zu lesen‹ zu beschreiben, irritieren diesen Eindruck kaum – auch ein Georg Lukács hat nicht selten ästhetisch ar812 Genauer wäre zu sagen, dass Venice Preserved zwar durchaus ein populäres Drama dieser Zeit war, dabei allerdings keineswegs typisch für das Restaurationsdrama im Sinne des ›heroic play‹, denn Otway verstieß gegen dessen Konventionen. Weder »fehlten alle ›niederen‹ komischen Elemente«, Antonius’ Rolle bietet genau diese, noch wird eine »poetical justice« wirksam, die »verlangte, dass der heroische Held (anders als der tragische) am Ende der göttlich sanktionierten Belohnung zugeführt wurde« (Schmidt, Das heroische Drama (Anm. 807), S. 222 [Hervorh. im Original]). Tatsächlich rückte Otways Stück damit »wieder in die Nähe ursprünglicher Tragödienkonzeptionen« (ebd.), indem er das »formalisierte Liebe-Ehre-Schema aufbricht« (ebd., S. 223). Auch Helmut Klingler ist der Meinung, dass sich Otway mit Venice Preserved »von jeder heroischen Konzeption der Tragödie entfernt« (Klingler, Die künstlerische Entwicklung in den Tragödien Thomas Otways (Anm. 316), S. 212). 813 Schmidt, Das heroische Drama (Anm. 807), S. 221 [Hervorh. im Original].
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gumentiert, wenn er seine Widerspiegelungstheorie exemplifizierte. Diese Haltung entsprach zudem einer literaturwissenschaftlichen Praxis, die Theorie zugunsten von Geschmacksurteilen abschwächte. Sie mochte motiviert sein durch das Bemühen, dem offiziellen Leitbild der politisch-soziologischen Grundlagenfächer auszuweichen, die das Unterrichtswesen lähmten. Was immer Johnsons Motive und Überlegungen hier gewesen sein mögen – seine Praxis, sich Referatsthemen zu erarbeiten, zeigt Spielbein und Standbein: ein (teils) salopper Umgang mit (teils) hart erarbeiteter Faktizität kündet von Selbstbewusstsein, gepaart mit Gewissenhaftigkeit. Für heutige Leser mag Johnsons Vorgehensweise auf eine mehr ideologische als literaturanalytische Motivation deuten. Doch sollte dieser eigenwillige Kopf, der in eine Klausur über den Marxismus-Leninismus das Angebot einer kritischen Lektüre eingeflochten hat, und der in einer linguistischen Klausur zur Syntaxanalyse es nicht unterlassen konnte, die literarischen Eigenschaften des Beispieltextes genauer zu besehen, gerade in einem Seminar des sich als intellektuellen Weltbürger betrachtenden Hans Mayers literaturpolitisch auf Linie gebracht worden sein? Zweifel erscheinen hier durchaus angebracht.
7.6.3 Uwe Johnson liest Venice Preserved – Ein zweiter Zugang Es steht nun an zu fragen und das Referat darauf hin zu untersuchen, ob Uwe Johnson damit eine literaturpolitisch ausschließlich affirmative Deutung vorgetragen hat, oder ob es über diese vorhandene erste Text- und Deutungsebene hinaus noch etwas zu entdecken gibt. Der erste Teil seines Referats fasst die Entwicklung des englischen Materialismus mit seinen ökonomischen, religiösen und gesellschaftlichen Interdependenzen zusammen. Dabei stellt Johnson heraus, dass diese »Philosophie […] eine bürgerliche Angelegenheit« gewesen sei, zur fraglichen Zeit sogar eine »bürgerlich-oppositionelle Angelegenheit«, wohingegen es die »Aufgabe der Philosophie« gewesen sei, »die Methoden der Naturwissenschaften zu rechtfertigen« (3v). Während der naturwissenschaftlich-technologische Fortschritt in wirtschaftlicher Hinsicht den Kapitalismus befördert habe, dergestalt, dass er »die feudalen Produktionsverhältnisse auflöste«, wären im »selben Masse […] die religiösen und philosophischen Glaubensmeinungen« geleugnet worden, die den kapitalistischen »Bedürfnissen nicht entsprachen« (3v). Die englischen Materialisten erkannten allerdings – eine Haltung, die Johnson zeitgemäß als »[w]idersprüchlich« (3v) charakterisiert –, »dass Monarchie und Kirche die Stützen der Gesellschaft bleiben mussten« (4r), und der Versuch, beide während des Commonwealth abzuschaffen, schlug letztendlich fehl. So zeigt Johnson das England des 17. Jahrhunderts als ein Beispiel dafür, dass wissenschaftliche,
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wirtschaftliche und vor allem philosophische Fortschritte allein nicht ausreichen, um eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen. Johnson erinnert so an die historische Tatsache, dass eine Philosophie, eine materialistische zumal, sich zwar in einer Zeit allgemeinen Fortschritts zu entwickeln, nicht aber allein eine veränderte Gesellschaftsordnung herbeizuführen vermochte, sondern sich stattdessen mit zeitgenössischen Notwendigkeiten, etwa der Kirche, zu arrangieren hatte: »man musste sich irgendwie einigen« (4v). In diesen historischen und philosophischen Ausführungen verbirgt sich noch kein kritischer Standpunkt. Expliziter wird der Referent bei der Darstellung des Verhältnisses von Puritanismus und Literatur sowie dessen realpolitischen Folgen. Schon bei der Charakterisierung der puritanischen Literaturauffassung mögen einem kritischen Zeitgenossen Parallelen zu Johnsons Gegenwart aufgefallen sein: Die Forderung Gott zu loben schliesst in diesem Falle schöpferische Literatur aus, damit nicht genug: es geht nicht um Lobpreisen allein, Dichtung hat die Aufgabe moralpädagogischer Wirksamkeit: die anwesenden Gläubigen zu befestigen, die noch Ungläubigen zu gewinnen. Geduldet war Literatur die Propaganda war. (5r)
Die DDR nahm für sich Ähnliches in Anspruch, Menschen zwar nicht von einem Glauben, aber von einer Ideologie zu überzeugen, mit ihrem kulturellen Schaffen einen ›neuen sozialistischen Menschen‹ zu erziehen. Bereits bei seinem Bewerbungsaufsatz für die Universität Rostock hatte der Siebzehnjährige die Bedeutung erkannt, die einer pädagogischen Literatur kulturpolitisch aufgetragen war, und auf den Lehrbuchcharakter von Arnold Zweigs Romanzyklus hingewiesen.814 Wegweiser für diese Art von Literaturauffassung war Georg Lukács, der für die DDR eine literarische Propaganda einforderte: Die Aufgabe der Literatur besteht in der Darstellung des Menschen durch die Aufdeckung des Gegensatzes zwischen Menschen alten und neuen Typs. […] Der sozialistische Realismus erfordert gebieterisch die Stellungnahme für das Werdende und gegen das Absterbende. Das schließt die objektive Glaubwürdigkeit der Menschendarstellung keinesfalls aus. […] Nichtdestoweniger nimmt der Schriftsteller in diesen Gestalten gegen das Absterbende Stellung, indem er zeigt, daß es sich hier um einen wirklichen Kampf und einen Schritt vorwärts handelt.815
Dieses seit den 1950er Jahren verfolgte Ziel findet sich schließlich »gebieterisch« auch in der späteren Verfassung der DDR wieder: »Die Deutsche Demokratische Republik fördert und schützt die sozialistische Kultur, die […] der Entwicklung
814 Vgl. hier: S. 71. 815 Georg Lukács: Der höchste Grad des Realismus. Die Aufgaben der marxistischen Schriftsteller und Kritiker, in: Neues Deutschland, 8. 7. 1949, S. 3.
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der sozialistischen Menschengemeinschaft dient.«816 Die DDR-Literatur hatte wie die puritanische Literatur eine konkrete Aufgabe: beide waren an bestimmte Formen und Gesinnungen gebunden und sollten die Menschen überzeugen und erziehen. Für Puritaner wie Sozialisten waren das nicht nur theoretische Erwägungen, sondern tatsächliche Erfordernisse und Handlungsvorgaben. Johnson erörtert die Konsequenzen dieses Kunstdiktats anhand des englischen Theaterstreits: Hier standen sich ein selbstbewusstes puritanisches Bürgertum in Gestalt des Londoner Magistrats und der regierende Hof der Königin Elisabeth gegenüber. Elisabeth schätzte und förderte das Theater, dem Magistrat hingegen war es ein Dorn im Auge, er suchte immer neue Vorwände, Aufführungen zu verbieten, »sprach von Feuergefahr Verkehrsstörungen Pestverbreitung« (6v). Hier geriet die Kultur zwischen die Fronten einer auch politischen Auseinandersetzung, einem »Gegenüber zweier gesellschaftlicher Kräfte« (6r–v), die der Hof damals noch für sich entscheiden konnte. Als mit Cromwell später die Puritaner die Oberhand gewannen, zur »Zeit der Republik« (6v), wurden die Theater im Commonwealth geschlossen. Die Puritaner hatten Literatur nur insoweit gelten lassen, als sie ihren Zielen diente, dem Lob und der Verbreitung ihrer Lehre, und auch nur solange sie die Gesellschaft, die Literatur produzierte und rezipierte, nicht dominierten. Das Resümee einer solchen Entwicklung muss lauten, dass eine für einen derartigen Zweck instrumentalisierte Literatur, mithin Propaganda, am Ende Gefahr läuft, obsolet zu werden. Auf die geistesgeschichtlichen Erörterungen lässt Johnson seinen Bericht über John Milton und Paradise Lost folgen. Dieser Teil des Referats sticht insofern heraus, als er nicht deutlich macht, warum überhaupt über diesen Schriftsteller und sein Werk so ausführlich gesprochen werden muss. Wahrscheinlich ist, dass Milton als Gegenentwurf zu Otway auftreten soll. Milton, der ›Bourgeois Revolutionary‹, verfasste »während der ganzen Revolutionsperiode nur Traktate für die Partei der Puritaner« (7v), und er stieg in der Folge zu einer der wichtigsten politischen Figuren des Commonwealth auf: »Künstlertum und politische Aktion erwiesen sich in seinem Leben als untrennbar« (8r) – sozusagen ein Idealtypus des politisch engagierten ›Kulturschaffenden‹, wie er in der DDR erwünscht war. Erst die »Konterrevolution« (8v), so Johnson weiter, beendete diese Karriere, und Milton widmete sich der Niederschrift von Paradise Lost. Darin wird ebenfalls die Geschichte einer Verschwörung erzählt, die zum Scheitern verurteilt sei. Paradise Lost werde »bei einer neueren Interpretation« insbesondere getragen »von dem Gedanken der Reform«, der mit dem »Kampf des englischen Bürgertums« in Beziehung stehe (10r). In dieser Lesart war Milton, »als Lehrer seiner Nation«, daran gelegen, »das Prinzip des Guten als Demokratie« darzustellen, eine Utopie 816 Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, 6. 4. 1968, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin, 9. 4. 1968, Nr. 8, S. 199–222, hier: S. 208.
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zu zeigen, »die das Königreich Gottes und die puritanische Demokratie tatsächlich verwirklichte« (10r). Überflüssig zu sagen, dass Miltons Paradise Lost eine weltliche in eine metaphysische Ordnung transponiert und dabei der Vorstellung der Renaissance folgt, wonach Satan gegen Gott opponiert habe. Dabei spielt das Scheitern der satanischen Verschwörung offenbar eine untergeordnete Rolle, der bürgerlichpuritanische Dichter Milton hat sozusagen deren positiven Geist eingefangen, das Infragestellen, den Willen zu Veränderung und aktiver Mitgestaltung der Verhältnisse. Bemerkenswert ist dazu folgender Hinweis Johnsons: »Und dieser Wert sei gerade verteidigt durch die Fortsetzung der epischen Tradition den Feind mächtig-willenskräftig und sogar bewunderungswürdig zu zeigen« (10r). An diese Tradition des ›viel Feind, viel Ehr’‹ knüpft auch Georg Lukács an und macht sie dem marxistischen Schriftsteller zur Aufgabe: »Auch der Gegner darf nicht als eine Strohfigur dargestellt werden«.817 Für eine marxistisch-leninistische Interpretation, wie Johnson sie hier unter Berufung auf Professor Luther präsentiert, ist Milton beispielgebende Figur. Politisch hat er sich für gesellschaftliche Veränderungen eingesetzt, vor allem die Überwindung von Königtum und Feudalherrschaft (und auch für ein liberales Scheidungsrecht), sowie literarisch ein pädagogisch-didaktisches Werk verfasst, das im Angesicht der Restauration für Republik und Demokratie plädiert und vor deren mächtigen Feinden warnt. Das genaue Gegenstück dazu ist Thomas Otway und sein Venice Preserved, das als Kernstück in Johnsons Referat allerdings nicht nur als Negativfolie zu Paradise Lost dient. Frei von den religiösen Allegorien und Symbolen Miltons, handelt Otways Tragödie von einer tatsächlichen Verschwörung. Einem geknechteten und ausgebeuteten Volk »wird die private Wut zur allgemeinen Empörung« (14r). Es kommt zu einer »Verschwörung gegen die Republik« (14r), die Johnson als »durchaus sozial gerechte[s] Vorhaben« (17r) bewertet. Diese Republik tritt in Gestalt des Senats und seiner amoralisch handelnden Mitglieder auf, bei ihm ist alle Macht konzentriert und korrumpiert, sie kennt offensichtlich auch keine Gewaltenteilung. Der Senat vereint mindestens die exekutive und judikative Gewalt, wahrscheinlich auch die legislative. Priuli kann über die Exekutive verfügen, indem er die Pfändung des Hausstands seiner Tochter und ihres Mannes anordnet. Und mit der Abweisung der Klage Pierres gegen Antonio wird die uneingeschränkte Machtfülle des Senats deutlich, indem Antonio seinem gesetzlichen Verfahren entzogen wird. Manch Zeitgenosse Johnsons mochte in dieser Machtkonzentration durchaus Parallelen etwa zum Politbüro des Zentralkomitees der SED erkennen.
817 Lukács, Der höchste Grad des Realismus (Anm. 815).
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Die Empörer wollen nun »den Senat stürzen und allgemeine soziale Gerechtigkeit herstellen« (14r). Da Otway aber den Fehlschlag des Aufruhrs bereits im Titel vorwegnimmt, kann diese ›Revolution‹ nicht der Kern des Dramas sein, zumal von den Verschwörern kein Signal der ›Versöhnung‹ der verschiedenen gesellschaftlichen Kräfte ausgeht, kein ›Runder Tisch‹ des Ausgleichs der unterschiedlichen Interessen angestrebt wird, sondern im Gegenteil eigensüchtige Ziele die leidenschaftliche Handlungsweise der Umstürzler grundieren und teils dominieren. Von Otway ist die Verschwörung als eine von mehreren Komponenten der komplexen Liebe-Ehre-Konfliktsituation angelegt. Johnson rückt sie ins Zentrum seines Interesses, und in dieser einerseits reduzierenden wie andererseits fokussierenden Deutung liegt der entscheidende Unterschied zu seiner – insgesamt vagen – Vorstellung von Paradise Lost. Ihm zufolge scheitert Otways in der Sache erfolgversprechende Verschwörung an sich selbst, vielmehr an den Interessens- und Gewissenskonflikten ihrer Akteure. Die von Milton dargestellte Revolte hingegen hat von vornherein durch ihren übermächtigen Gegner keine Aussicht auf Erfolg, dennoch wird sie unternommen, da der Grundkonflikt des Bösen gegen das Gute der Weltstruktur eingeschrieben ist. An dieser Stelle überlagern sich zwei miteinander zum Teil konfligierende Angebote an den Leser, die es genau zu unterscheiden gilt. Die erste Lesart wurde im vorangegangenen Kapitel vorgestellt: Ein Interpret deutet das englische Drama gemäß den Gepflogenheiten sozialistischer Literaturwissenschaft. Demnach habe Milton dem Anliegen der Revolution einen großen Dienst erwiesen, indem er auf die Gefährlichkeit ihrer Gegner (das wären in dieser Lesart auch Konterrevolutionäre) sowie die Möglichkeit der Verwirklichung einer gesellschaftlichen Utopie – wenn auch unter religiösem Vorzeichen – hingewiesen habe. Als politisch und literarisch aktiver Bürger habe Milton das ihm Mögliche für einen gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne der Gesetzmäßigkeiten des historischen Materialismus getan. Wie anders dagegen Thomas Otway: Zwar wird auch bei ihm das ›sozial gerechte Vorhaben‹ einer Revolution artikuliert und in Angriff genommen, doch reiben sich die revolutionären Kräfte untereinander zum Schaden der größeren Sache auf. Otways Protagonisten vermögen ihre individuellen Konflikte nicht zu lösen oder wenigstens zu suspendieren, um ihr gemeinsames hehres Ziel zu verfolgen. Durch seine Konzentration auf die politische Dimension von Venice Preserved kann Johnson das Scheitern der Revolte weder angemessen verstehen noch umfassend erklären, da er den privaten Verwicklungen des Dramas zu wenig Gewicht beimisst. Und schlimmer noch: Der bürgerliche Autor Otway bekennt sich überdies als Royalist und bestätigt die feudale Gesellschaftsordnung, indem er in seiner Tragödie die Republik der Oligarchen bestehen lässt. Dass Otway sich nicht getraut habe, seine »bürgerliche Sympathien über seine royalistische Ideologie siegen zu lassen« (17r), kann als Mutmaßung aus der Mottenkiste marxistisch-leninistischen
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Ideenguts gelesen werden, das einen bürgerlichen Royalisten schlecht gelten lassen kann, ohne in ihm einen letztendlich Unterdrückten zu sehen. Es ist hier jedoch noch eine zweite Lesart angezeigt, bei der die interpretatorischen Vorzeichen genau umgekehrt liegen. Den Anlass dazu bietet Johnson mittels der ideologisch präfigurierten Art seiner Betrachtung, die unter Abschwächung des historischen Kontextes deutet und bewertet. Dieses Vorgehen läuft im Ende auf die – gewiss nicht unberechtigte – Frage hinaus, was dieser Text dem heutigen, sozialistischen Leser bedeuten und besagen könne. Indem Johnson den Maßstab seiner eigenen Zeit an ein Historiengemälde des 17. Jahrhunderts legt, wird damit auch eine Aussage über ihn selber möglich, der das tut, und damit wird dem Text zugestanden, dass er der Gegenwart etwas ›mitzuteilen‹ habe. Johnsons individueller Zugriff zeigt sich am markantesten in den von ihm ausgewählten und übersetzten Zitaten aus Venice Preserved. Denn um den Unterschied zwischen dem Pathos Jaffiers und der nüchternen Sprache Pierres zu illustrieren, so nämlich sein Anliegen, hätte es andere, geeignetere Passagen gegeben, zumal Jaffier in Johnsons Zitierpraxis kaum zu Wort kommt. Allerdings steckt in Pierres Rede eine subtile Brisanz, die auch in realer Gegenwart Wirkung entfalten kann, löst man sie aus ihrem ursprünglichen Kontext und trägt sie 1955 in der DDR vor. So mag das Zitat im philologischen Kontext in erster Lesart zwar als reiner Beleg dienen, mit dem ein Betrachter den literarischen und historischen Bedeutungshorizont zu illustrieren sucht. Allerdings verändern sich in der aktuellen Rezeptionssituation zwangsläufig die Denotate des Textes in ihrer Anschlussfähigkeit an die gegenwärtigen ›Verhältnisse‹ und ermöglichen dadurch eine zweite Lesart in wechselseitiger Durchdringung von Damals und Heute. Pierre klagt sich selbst als Schurke an, weil er einerseits zwar das Leid seiner Mitmenschen erkennt, andererseits aber nichts dagegen unternimmt. Um die Sprengkraft dieser Rede, vor allem in politischer Hinsicht, zu verdeutlichen, soll sie hier noch einmal zitiert werden: Jawohl, ein abgefeimter Schurke: | ich sehe meiner Mitmenschen Leiden | und nenne mich einen Mann; sehe unsere Senatoren | das verführte Volk mit einer Farce von Freiheit betrügen, | von der sie niemals kosten müssen. | Sie sagen durch sie sein unsere Hände frei von Fesseln, | doch wen sie belieben legen sie in tiefste Gewölbe, | wen sie belieben bringen sie in Not und Verruf, | sie treiben uns wie Wracks den rauhen Strom der Macht hinunter | und bleibt kein Halt vorm Untergange uns zu retten | die dies ertragen die sind Schurken, und ich bin einer | dass ich den grossen Ruf der Natur nicht erhebe | und diese Brut serviler Verderber zertrete, | die uns zu Sklaven machen, und sagen, das sei unser Beruf.818
818 Johnson, Otway (Anm. 391), Bl. 15v.
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Ohne den konkreten literarischen Kontext und den Terminus der Senatoren, hätte der Verfasser einer solchen Stellungnahme in der DDR wohl erhebliche Konsequenzen zu befürchten. Das Universitätsmilieu als Rahmen wie zugleich auch als Bühne dieses Intertextes schützt den Vortragenden allerdings vor peinlicher Befragung durch die Staatsmacht. Dieses Prinzip, eine (politisch) heikle Angelegenheit durch Einbettung in eine vermeintlich unverfängliche Situation zu behüten, wird Johnson auch als Autor anwenden.819 Er hat die Willkürjustiz der DDR in Güstrow beobachten können und sie in Rostock schließlich am eigenen Leibe erfahren, war selbst »in Not und Verruf« geraten: Als er dem »Ruf der Natur« folgte und sich gegen die Unterdrückung der Jungen Gemeinde aussprach, bekam er »den rauhen Strom der Macht« empfindlich zu spüren. Es geht hier aber nur vordergründig um eine individuelle Biographie, wenngleich Johnsons persönliche Haltung gewiss in die Auswahl und Akzentuierung gerade dieses Zitats eingeflossen ist. Wichtiger ist hingegen, dass dieser Passus als kritische Zeitdiagnose für die DDR der 1950er Jahre gelesen werden kann. Die »Farce von Freiheit« konnte jeder aufmerksame Zeitgenosse anhand der Diskrepanz zwischen verfassungsgemäß garantierten Freiheitsrechten und realpolitischer Praxis beobachten. Beginnend beim schiefen Gründungsnarrativ der DDR von der Befreiung vom Faschismus, über die Gewährleistung der persönlichen Freiheit inklusive Postgeheimnis (Art. 8), einer Meinungsfreiheit (Art. 9), die jederzeit als ›Boykotthetze‹ denunziert und sanktioniert werden konnte, »Glaubens- und Gewissensfreiheit« (Art. 41) sowie die »Freiheit der Vereinigung zu Religionsgemeinschaften« (Art. 43), die den Kirchenkampf von 1953 nicht verhinderten, ferner die »wirtschaftliche Freiheit des einzelnen« (Art. 19), die sich beispielsweise etliche zwangskollektivierte Bauern in den 1950er Jahren gern bewahrt hätten, bis hin schließlich zur vermeintlichen Wahlfreiheit (Art. 54).820 Den Bürgern des ›ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden‹ wurde wiederholt eingetrichtert, dass nun Dank des Sozialismus ihre »Hände frei von Fesseln« wären. Und wenn auch nicht jeder DDRBürger die Schriften von Marx, Engels und Lenin kannte – unter anderem das kurz vor Johnsons Studienbeginn eingeführte Gesellschaftswissenschaftliche Grundstudium sollte diesen ›Mangel‹ beheben –, so war doch eines der propagierten Legitimationsnarrative der ostdeutschen Kommunisten die Befreiung vom Kapitalismus, sprich von den ›Fesseln kapitalistischer Produktionsverhältnisse‹.821 Wie dicht die bald 300 Jahre alte Klage an die Gegenwart der DDR rührt, 819 Vgl. hier das Kapitel 7.7 Ausblick ins Werk: Der puritanische Theaterstreit in Ingrid Babendererde. 820 Die in Klammern angegebenen Artikel beziehen sich auf die zur Zeit von Johnsons Referat gültige Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik vom 7. Oktober 1949. 821 Im Kern berief man sich auf Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, wo bereits im Vorwort dieser zentrale Gedanke formuliert ist: »Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten
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zeigt sich auch an Pierres Vorwurf, der Senat würde die Menschen »zu Sklaven machen«. So gehörte beispielsweise zu den Parolen der – durch die Arbeitsnormerhöhungen zu erheblichen Teilen ökonomisch motivierten – Aufständischen des 17. Juni 1953 unter anderem diese: »Wir sind keine Sklaven«,822 beziehungsweise, in kreativer lokaler Variation: »Berliner reiht euch ein, wir wollen keine Arbeitssklaven sein«.823 Für diese zeitdiagnostische Lesart lassen sich weitere Anhaltspunkte aufführen. So kann die Figur Jaffiers in Johnsons Darstellung allgemein als Prototyp eines jeden gelesen werden, der sich durch Eingriffe einer Obrigkeit zu ihr in ein Missverhältnis gesetzt sieht. Jaffier ist solange nichts an Staatsaktionen gelegen, bis der Staat in seine individuelle Lebenswirklichkeit eingreift; erst in diesem Moment wird seine »private Wut zur allgemeinen Empörung« (14r). Im kollektiven Gedächtnis der DDR dürfte eine solche ›allgemeine Empörung‹, wie sie sich am 17. Juni 1953 entlud, zum Zeitpunkt von Johnsons Referat noch in lebhafter Erinnerung gewesen sein. Für etliche der an diesem Tag Protestierenden wird Entsprechendes gegolten haben. Und auch in der Biographie des Vortragenden gibt es einen solchen Auslöser, den er selbst später als Schlüsselmoment inszeniert: Bekanntlich unterläuft Johnson den ihm anbefohlenen Auftrag, gegen die Junge Gemeinde zu agitieren, denn wenn diese Agitation »eine Verschwörung [nämlich der Staatsmacht; AK] sei, so wolle er […] da austreten.«824 Will sagen: Er erkennt die in der Sache unbegründete, allein politisch motivierte Propaganda als Intrige, an der er sich nicht beteiligen mag. In der Folge sieht er sich von der Exmatrikulation bedroht, und damit seinen weiteren Werdegang gefährdet, womit er nun »seine ureigene Sache, seinen persönlichen Handel mit der Re-
die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln [sic] derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein« (Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, in: ders., Friedrich Engels: Werke, Bd. 13, Berlin: Dietz 1961, S. 3–160, hier: S. 9). Variationen davon konnten die DDR-Bürger regelmäßig in ihrer Presse finden, etwa so: »Die kapitalistischen Produktionsverhältnisse sind zu Fesseln der Entwicklung der Produktivkräfte geworden. Solange die Kapitalisten Eigentümer der Produktionsmittel sind, hängt die Ausnutzung der modernen Technik von egoistischen Profitinteressen des Monopolkapitals ab« (Adolf Hottenrott: Warum geht es bei uns aufwärts? Die neuen Produktionsverhältnisse fördern die Entfaltung der Produktivkräfte, in: Neues Deutschland, 30. 10. 1954, S. 4). 822 17. Juni 1953 – Zeitzeugen berichten. Protokoll eines Aufstands, hg. von Peter Lange und Sabine Roß unter Mitarbeit von Barbara Schmidt-Mattern im Auftrag der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und des Deutschlandfunk, Münster: LIT 2004, S. 142. Vgl. auch Ilko-Sascha Kowalczuk: 17. Juni 1953. Geschichte eines Aufstands, München: C. H. Beck 2013, S. 34. 823 17. Juni 1953 (Anm. 822), S. 70. 824 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 66.
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publik« begründet.825 In der Retrospektive erklärt Johnson, da »ihm verwehrt ist, dies öffentlich auszutragen, wird er es schriftlich tun«, und macht somit diesen Moment der individuellen politischen Empörung zur Geburtsstunde seiner Autorschaft.826 Ungewiss bleibt, ob solch ein ›verhinderter Opponent‹ in den Augen Pierres nicht doch als ›Schurke‹ gelten müsste: Denn Pierre erklärt einen jeden dazu, der gegen die offensichtlichen Missstände nichts unternimmt. Johnson betont in seinem Referat mehrfach die hehren Ziele der Verschwörung gegen Venedig, es gehe um »allgemeine soziale Gerechtigkeit« (14r), »eine nicht eben unmenschliche Sache« (16v); im Übrigen sei die Regierung in Gestalt des Senats »der Beseitigung äusserst würdig« (17r). Seine betont salvierende Deutung einer missglückten Verschwörung gegen eine Willkürherrschaft geht weit über die konkrete literarische Vorlage hinaus, so weit, dass er sie nicht restlos nachvollziehen kann: die ›sozial gerechte Sache‹ hätte siegen müssen. Dabei lässt er unberücksichtigt, dass diese Verschwörung durch den ausländischen Botschafter Bedamar vorangetrieben wird, und es im Wesentlichen darum geht, selbst an die Macht zu gelangen, im Zweifel Venedig sogar zu diesem Zweck zu zerstören.827 Eher beiläufig erwähnt Johnson, dass der Verschwörer Renault sich an Belvidera vergehen wollte, ein klassisches Motiv, um Aufrührer zu desavouieren. Dieser Umstand muss aber entsprechend Gewichtung finden, weil er nur so seinem Publikum Belvideras Motivation verständlich machen kann, Jaffier zum Verrat zu überreden. Damit bleibt Renault in Johnsons Darstellung der einzige Makel der ansonsten positiv skizzierten Revolte. Ihren ausbleibenden Erfolg erklärt Johnson mit dem »Schema der Restaurationsthematik«, dem »Übel dieses Stückes« (17r). Diese (literar-)historische Eigenheit verhindere, so ist Johnson zu verstehen, einerseits die Darstellung einer erfolgreichen Revolution, wie sie andererseits ihr Scheitern nicht hinreichend zu begründen vermag. Somit sind die historisch bedingten ästhetischen Anforderungen dieses Genres für das Scheitern der Revolution im Stück verantwortlich, sie konnte unter den gegebenen Umständen nicht adäquat literarisch dargestellt werden. Damit erhält die zweite Lesart eine kulturpolitische Komponente. Hatte Johnson mit Miltons Areopagitica bereits auf die Problematik der Zensur hingewiesen,828 so berührt er nun die Problematik einer politisch begründeten Ästhetik, die bestimmte Themen und Formen von vornherein ausschließt. Denn das Thema der Restauration durfte eben nicht ihre Abschaffung sein, Kultur und Literatur unterlagen einem übermächtigen politischen Oktroi. Andernfalls hätte das »sozial gerechte[] 825 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 69. 826 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 69. 827 Für Johnsons Verschweigen Bedamars kann vermutet werden, dass er damit der offiziellen Darstellung der DDR, der Aufstand des 17. Juni sei von ausländischen Provokateuren angestiftet worden, keinen Raum gibt. 828 Vgl. hier: S. 183.
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Vorhaben – um das es überhaupt eigentlich geht –« (17r) erfolgreich sein können und müssen, so Johnsons Deutung. Für diese kritische Lesart ist festzuhalten, dass sie offenbar nicht konsequent in das studentische Referat eingearbeitet ist. Das wird auch, trotz allen weltliterarischen Geistes in Hans Mayers Seminar, kaum möglich gewesen sein. Vielmehr finden sich über das Referat hinweg Versatzstücke einer kritischen Haltung zur Gegenwart. Das beginnt etwa bei einer augenfälligen Parallelität zwischen puritanischer und sozialistischer Kunstauffassung, setzt sich fort im Beispiel des letztlich gescheiterten Revolutionärs und literarischen ›Agitators‹ Milton, auch dem Schicksal des Autors Otway, der nicht zu seiner Klasse stehen wollte, zeigt sich darüber hinaus im Befremden der gescheiterten Revolution gegenüber und kulminiert schließlich in dem geschickt ausgewählten Zitat, das als Anklage gegen Duckmäusertum zugleich als Aufforderung zum Widerstand gegen Willkür und Unrecht seitens der Regierung gelesen werden kann. Schon die Fülle dieser Hinweise und Indizien auf eine derartige zweite Verstehensebene ist das Verdienst ihres Verfassers. Sie ist ein Angebot an das Publikum, allen voran Seminarleiter Hans Mayer, das dem verständigen Zuhörer signalisiert, dass aus dieser englischen Literatur des 17. Jahrhunderts Fäden in die Gegenwart geknüpft werden können, die zu Fallstricken für eine marxistisch-leninistisch oktroyierte Interpretation werden können.
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Ausblick ins Werk: Der puritanische Theaterstreit in Ingrid Babendererde
Auf das Faktum, dass Johnson Teile seines Otway-Referats für seinen Roman Ingrid Babendererde verwendet hat, hat Paul Onasch bereits hingewiesen.829 Wiewohl es Onasch in seinem Aufsatz primär um Kirchengeschichtliche Diskurse in den Romanen Uwe Johnsons ging, fiel ihm dabei die Nähe zwischen den von Johnsons Referat konstellierten Fakten zum puritanischen Theaterstreit im England des 16. und 17. Jahrhunderts und einer im Roman erzählten Englischstunde auf. Diesem werkgenetischen Hinweis soll an dieser Stelle nachgegangen werden.830 829 Vgl. hier: S. 121. 830 Der Vollständigkeit halber ist hier zu erwähnen, dass bereits Bernd Neumann eine Verbindung zwischen Johnsons Vortrag und dem Roman Ingrid Babendererde festgestellt hatte, die Tragweite und Folgen dieser Parallele jedoch nicht gesehen hat, wie er auch die Quellen Johnsons in diesem Fall nicht ermitteln konnte: »Denn die sozialgeschichtlichen Konturen des Elisabethanischen Zeitalters, die der Student mit Blick auf Otway nachzeichnet, sie kehren ja wieder als Inhalt der Englisch-Stunde in der Babendererde, wo sich Klaus und Jürgen über die ›mental reservations‹ der englischen Puritaner und deren jungfräulicher
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7.7.1 Schriftstellerische Arbeitsökonomie. Vom Referat zum Roman In Johnsons Romanhandlung konfrontiert Englischlehrer Sedenbohm einen seiner Schüler, die Nebenfigur Hannes Goretzki, mit einer Frage, die als heikel aufgefasst werden kann – und die auf eine Bekenntnisfrage hinauslaufen könnte. Der als ›bürgerlich‹ gezeichnete, bei seinen Schülern beliebte Sedenbohm berührt mit seiner Frage einen weltanschaulichen Aspekt von großer Tragweite für die noch junge DDR und damit für ihren Unterricht: »I would like to learn your opinion. In the England of Shakespeare there was a certain rivalry between the aristocracy and the others, the new class, bourgeois …?«831 Hannes, eher flüchtig auf den Unterricht vorbereitet, weiß gleichwohl eine Antwort zu stammeln, die jeder Schüler der Oberstufe parat haben sollte und die nach ideologischer Eintrichterung schmeckt: »Yes Sir: […], nämlich: Die aristokratische Klasse war im Besitz der … Vorrechte und der … Ländereien. Ländereien, und waren der Königin –, der Königin: […] Favourites (Günstlinge) – the Queen’s favourites: sagte Hannes mit grosser Selbstverständlichkeit.«832 Musste ihm seine Mitschülerin Ingrid hier noch bei dem englischen Wort für Günstlinge helfen, so kann Hannes die andere Konfliktpartei sodann ohne Unterstützung stotternd nachliefern: »Die bürgerliche Klasse auf der anderen Seite. Strebte nach der Macht, entsprechend, entsprechend: ihrer wirtschaftlichen Entwicklung, und wünschte nicht die – eingeengt zu werden in die mittelalterliche Feudalordnung, sondern wünschte die –, die …, wünschte Macht auch.«833 Der Terminus des »Günstlings«, den Hannes pauschal auf die Aristokratie münzt, ist hier sicherlich fehl am Platze. Er hat den Hautgout des unverdient Bevorzugten, während Englands Aristokratie in jener Zeit zweifellos einer der wichtigsten Pfeiler der Ständeordnung gewesen ist und sich nicht bloß durch Günstlings- oder Vetternwirtschaft in dieser Rolle zu behaupten wusste. Vermutlich deshalb stuft der Erzähler Hannes’ Wortbeitrag auch als »[g]anz oder halb verkehrte Benennung« ein, die von Sedenbohm als »zufriedenstellend« halb nachsichtig oder ganz verkehrt beurteilt wird. Die »Benennung der Dinge«, das heißt der historischen Verhältnisse (und ihrer Lesart) wie der Leistungen des Schülers, ist – dies weiß Sedenbohm ganz genau (ebenso wie der Erzähler) – sowohl nach der intellektuellen Kapazität des Einzelnen wie nach den ideologischen Vorgaben, den Rahmenrichtlinien des Unterrichts also, zu beurteilen. Und diese Richtlinien wiederum sind nicht individuell gesetzt, sondern haben den Maximen der Leitwissenschaft der DDR, des Marxismus-Leninismus, zu folgen. Königin Elizabeth streiten« (Neumann, Philologie und Biographie (Anm. 65), S. 158 [Hervorh. im Original]). 831 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 77. 832 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 77. 833 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 77.
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Man kann es Hannes deshalb nicht verdenken, wenn er Worthülsen absondert, zumal Sedenbohm selbst mit dem Terminus des »bourgeois« ein entsprechendes Klischee abfragt und bedient, also eine entsprechende Brücke zum Erwartungshorizont zumindest der Parteileitung an der Schule gebaut hat. Da Hannes hier nun aber nicht weiterweiß, erkundigt sich Sedenbohm bei seinem Klassenkameraden Klaus Niebuhr, eine der Hauptfiguren des Romans, nach dessen Einschätzung der englischen Königin Elisabeth I. Klaus bekennt, sich respektvoll erhebend (und damit ein Zeichen der Loyalität gebend, da man in der Oberstufe gewöhnlich nicht mehr von seinem Platz aufsteht, wenn man etwas zum Unterricht beitragen soll), dass er eine »vorzügliche« Meinung von der Dame habe,834 die er sodann begründet: Es gehe hier nämlich um »das Theater, die Schau-Stellung«, denn »Elisabeth die Königin und Erste Bürgerin von England sah gern so etwas«.835 Eine gemessene, fast feierliche Stimmung ist entstanden, die der Erzähler spannend intoniert: »Zum Aussprechen einer solchen Meinung mußte man ja wohl aufstehen. Inzwischen hatte man sich von allen Seiten dem festlichen Zwischenfall zugewendet, man sah von Klaus zu Sir Ernest und wartete auf den Fortgang der Veranstaltung.«836 Ein »Zwischenfall« als ein ›unvorhergesehenes Ereignis‹ stellt diese Unterrichtssituation insofern dar, als Klaus hier eine Auffassung hören lässt, die bei einem nicht-bürgerlichen Lehrer sicherlich nicht verfangen würde, und dass er diese Auffassung mit Aplomb vertritt, indem er sie körpersprachlich und gestisch »mit vornehmem Handschwenken« (»das eben das Sir Ernests war«) als Besonderheit inszeniert.837 Die Aufmerksamkeit aller im Klassenraum für diese mehrdeutige – zugleich liebevolle wie ironische – Geste ist ihm sicher. Und der Erzähler, der so referiert, als ob er unter den Schülern säße, beobachtet mit Genuss und Hingabe, wie – auch politisch – souverän Klaus hier, im Gegensatz zu Hannes, auftritt. Aus jedem seiner Worte, aus jeder Geste spricht Sicherheit: Klaus weiß, was er tut, und er weiß, was er tun darf. Er berücksichtigt auch, wie sein Lehrer denkt, und dieses Mit- und Vorauswissen erlaubt es ihm, diesen eleganten Grenzgang mit Witz zu vollführen, den seine Antwort in ihrer ganzen Performanz impliziert: Hier ist keine Respektlosigkeit erkennbar, sondern eine Haltung, die aus Empathie für den Stoff (und für den Lehrer), aus rationalem Kalkül für die Erfordernisse des Unterrichts (und die Erwartungen der Mitschüler) sowie aus politischer Reife, gepaart mit Selbstbewusstsein, resultiert. Ein solcher Schüler stellt das Ideal eines ›anderen‹ Unterrichtes dar, eine jede Ge834 835 836 837
Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 78. Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79. Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 78f. Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79.
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sellschaftsordnung müsste stolz darauf sein, junge Menschen wie ihn für sich gewinnen zu können. In der DDR hingegen, wo der Unterricht derart zwanghaften Erwartungen ausgesetzt ist, dass, wie Johnson in seinem Roman mit unübertrefflicher Stimmigkeit einzufangen weiß, eine jede Wortmeldung eines Schülers zu einer Probe seiner Courage werden kann, muss eine solche Schülerreaktion, wie Klaus sie an den Tag legt, geradezu ereignishaft sein. Fast scheint es so, als ob ein solcher Auftritt nur in einer DDR-Schule möglich wäre, oder nur hier von einer solchen – gesamtgesellschaftlichen – Brisanz und Relevanz sein könne. Stimmig ist auch, dass Schüler Niebuhr seinen Auftritt nicht überzieht, sondern ihn in eine vermeintliche Nebensächlichkeit münden lässt, indem er noch die historische Tatsache ergänzt, »dass der Magistrat die Vorstellung« habe »genehmigen« müssen – was allerdings »etwas Beiläufiges« gewesen sei.838 Klaus unterstreicht damit gleichwohl den rechtlichen Rahmen, der auch in historischen Gesellschaften, denen von neuen Gesellschaftsideologien gern bloße Willkür in ihrem Gebaren unterstellt wird, immer gegeben war. Und ganz so nebensächlich ist die Sache denn auch wieder nicht – mag es doch Gesellschaftsordnungen geben, so impliziert Klaus, in denen es eben nichts Beiläufiges ist, Theateraufführungen zu erlauben – und in denen es vorkommen mag, dass Theaterabende verboten werden: sei es aus ›puritanischen‹ Erwägungen, sei es aus politischem Vorbehalt und Kalkül. Die Tatsache, dass die englische Königin »gern« ins Theater ging und augenscheinlich keine puritanischen Bedenken hegte (und auch keine politischen?), gibt dieser »Bürgerin von England« ihren ›ersten‹ Rang: sie ist eine kultivierte Frau, wie man sie auch unter Bürgerlichen findet. Noch der Terminus der ersten »Bürgerin« Englands lässt aufhorchen: Friedrich der Große bezeichnete sich als den ›ersten Diener‹ seines Staates, eine preußische Tugend, die als ›biographisches Substrat‹ ihrer eigenen Historie von der DDR erst in ihrer Spätphase wiederentdeckt wurde, aber nicht mehr mobilisiert werden konnte: ›Preußentum und Sozialismus‹ blieb eine heikle Zwillingsformel, zumal ihr Schöpfer ein vielzitierter, wenngleich wohl weniger gelesener Untergangsprophet war.839 Eine »Erste Bürgerin« von (Ost-)Deutschland freilich konnte es in der DDR nicht geben; doch verzichtete die SED nach Stalins Tod, gerade im Jahr von Johnsons Reifeprüfung 1953, auf den Titel Generalsekretär und machte Walter
838 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79. 839 Vgl. Oswald Spengler: Preußentum und Sozialismus, München: Beck 1920 [1919]. Preußen müsse, so die zentrale These, »das innere England« (scil. den Liberalismus) »in sich bekämpfen« und den Marx’schen Sozialismus »befreien« (vgl. Anton Mirko Koktanek: Preußentum und Sozialismus, in: Kindlers Neues Literaturlexikon, hg. von Walter Jens, Bd. 15: Scho–St, München: Kindler 1991, S. 813f., hier: S. 813 [Hervorh. Im Original]).
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Ulbricht zu ihrem Ersten Sekretär.840 Auch die Institution des Ministerpräsidenten der DDR (bekleidet von Otto Grotewohl, der sich zugleich mit Wilhelm Pieck in den Parteivorsitz der SED teilte), ließ sich auf Dauer nicht halten.841 Und weder Lotte Ulbricht noch Margot Honecker hatten das Format zu einer ›First Lady‹. Eben mit dieser komplexen Gemengelage ist aber gerade die historische Konstellation benannt, um die es hier geht und die nun von Johnson weiter entfaltet wird. Der Streit um Theateraufführungen ist dabei augenscheinlich Symptom einer größeren, grundsätzlicheren Auseinandersetzung um zentrale humanistische Werte. Schüler Niebuhr macht dies durch seine Haltung deutlich, die ihm sein demonstratives Aufstehen im Unterricht ermöglicht hat: mit größerem Nachdruck kann er, aufrecht stehend und frei sprechend, die »Unwiderruflichkeit« puritanischer Haltungen benennen, die ein Theater, das nicht gewollt ist, kategorisch ausschließen und damit untersagen. Dies wäre auch die gesellschaftliche Position des Rektors der Oberschule: Robert Siebmann, genannt Pius (»›Pius‹ ist lateinisch und bedeutet ›Der Fromme‹, und für die 12 A bedeutete dies im besonderen dass Pius auf eine fromme Art zu tun hatte mit der Sozialistischen Einheitspartei«842), tritt als stalinistischer Hardliner auf. Zugleich fungiert er als Vertreter der Parteileitung an der Schule: »Diese Puritaner. Sie genehmigten sie nicht, denn sie waren die bürgerliche Klasse: […]. Sie waren bürgerlich und hielten sich an die Bibel, die verbietet nämlich Theater«.843 Um das Feindbild der bürgerlichen Puritaner weiter zu konturieren, fährt Klaus Niebuhr fort: »Sie sagten das alles aber nicht, sie erklärten heuchlerisch: Theater sei feuergefährlich, und solche Menschen-Ansammlung begünstige die Pestilenz … sie verschwiegen ihre biblischen – what’s the English for ›Hintergedanken‹?«, und ergänzt dann, »biblical and mental reservations« habe es seitens der Puritaner gegeben.844 Nun kann Pius keineswegs als Bürgerlicher gelten, sondern ganz im Gegenteil als Verfechter der neuen Gesellschaftsordnung, die alles ›Reaktionäre‹ über840 Zuvor nannte man dasselbe Amt (und in diesem Fall auch dieselbe Person) noch Generalsekretär. Bei der Umbenennung des Amtes folgte man dem Vorbild der Sowjetunion. In den 1970er Jahren kehrte man dann zur alten Bezeichnung zurück. 841 Otto Grotewohl war von 1949 bis zu seinem Tod 1964 Ministerpräsident der DDR, danach übernahmen die Vorsitzenden des Ministerrates diese Funktion, erst nach der Volkskammerwahl 1990 gab es mit Lothar de Maizière wieder einen Ministerpräsidenten der DDR (bis zum 2. Oktober 1990). 842 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 86f. 843 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79. Wenn auch ohne Anführungszeichen, so wird hier Klaus’ direkte Rede wiedergegeben. Im Roman wird die direkte Rede mit unterschiedlichen typographischen Mitteln signalisiert, es kommen sowohl Anführungszeichen und Gedankenstriche als auch häufig Doppelpunkte zum Einsatz. 844 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79. Auch hier spricht Klaus.
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winden will. So hat er bereits den ›bürgerlichen‹ Rektor Sedenbohm, Sir Ernest, im Amt abgelöst, dem seither nur noch sein Fachunterricht geblieben ist, nebst einiger Verbitterung.845 Was Pius jedoch mit ›bürgerlichen‹ Puritanern vergleichbar macht, ist seine Lebensfeindlichkeit und Ausschließlichkeit, dergestalt, dass er nicht zulassen will, was ihm nicht frommt. Somit wird das – ebenfalls halb schiefe und stereotype – Bild, das Klaus dem Auditorium vom Puritanismus und von der sogenannten ›bürgerlichen Klasse‹ vermittelt, verständlich und zugleich als abgegriffene Münze politisch-ideologischer Rabulistik erfahrbar. Klaus vollzieht im Sprechen einen (ideologischen, auch sprachlichen) Registerwechsel, der demonstrieren soll, wie souverän er mit (politischen, ästhetischen, sozialen) Erwartungen verschiedenster Provenienz umzugehen weiß. Nebenher hat er gezeigt, dass die Sozialisten die neuen Puritaner sind, mit Verboten schnell bei der Hand und einer orthodoxen Lehre hörig.846 Wohingegen Bürgerliche, und seien sie Aristokraten, sich in die Lage versetzt sehen können, etwas zu goutieren und zu akzeptieren, was sie selbst in ihrer Rolle und Funktion anfechten dürfte – denn alles Theaterspielen ist insofern »feuergefährlich«, als es dazu tendiert, jegliche Macht im Staate anzuzweifeln und die Legitimität von Funktionsträgern kritisch zu befragen. Vielleicht kann man den Autor-Erzähler der Ingrid Babendererde als Archifigur begreifen, die sich in die beiden Figuren – Freunde und Kontrahenten – Klaus und Jürgen aufsplittet: »Jürgen sah aber ohne Bewegung vor sich hin.«847 Jürgen, der als FDJ-Funktionär Pius näher steht als alle anderen Figuren des Romans, lässt diese implizite Kritik am Schulleiter, wonach dieser »heuchlerisch« wäre, zunächst passieren. Dabei ist es eine auffüllbare Nullposition,848 dass er hier für seine Nichtreaktion erwähnt wird, die darauf schließen lässt, dass eine Abwehrreaktion von ihm erwartet worden wäre – demgemäß, dass die Haltung, die Klaus hier erkennen ließ, Widerspruch provoziert. 845 Vgl. Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 159–161. 846 Wie zum Vergleich folgt auf die Englischstunde im Discours von Ingrid Babendererde, nach Physik- und Mathematikunterricht, noch eine Geschichtsstunde mit Pius. Auch er »redete über den Klassenkampf im siebzehnten Jahrhundert«, freilich mit einer ganz anderen Perspektive, nämlich einer historisch-materialistischen. Für die Aufmerksamen unter den Schülern, hier besonders Ingrid, wird er durch die ›gesetzmäßige‹ Lehre wie seine persönliche Haltung berechenbar – man ahnt bei seiner Rede über den englischen Klassenkampf: »so wie er jetzt im Zuge war mochte er es nicht mehr weit haben bis zur Jungen Gemeinde« (Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 88). Dabei wird eine weitere erhebliche Differenz im Unterricht der beiden Lehrer deutlich: Sedenbohm lässt die Schüler diskutieren, Siebmann hält einen Vortrag. 847 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79. Die Möglichkeit einer Autoreferenzialität Johnsons, »als außerliterarische[r] Ausgangspunkt«, in beiden Figuren sieht auch Krappmann, indem Jürgen als »Doppelgänger« und Klaus als ›Gegenbild‹ gelesen werden können (Krappmann, Die Namen in Uwe Johnsons Jahrestagen (Anm. 264), S. 147). 848 Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte, München: Fink 1972, S. 37.
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Johnson konnte bei den Vorbereitungen für sein Referat sowohl bei Cornforth wie auch von Schirmer erfahren, dass sich im England des ausgehenden 16. Jahrhunderts, vor allem aber im 17. Jahrhundert, dank zunehmender wirtschaftlicher Stärke ein selbstbewusstes Bürgertum formiert hatte. Schirmer glaubt, dass sogar schon »im 15. Jahrh. das bürgerliche Zeitalter das feudalkirchliche abgelöst« habe.849 Seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts fand der Puritanismus in England immer mehr Anhänger und entwickelte sich zu einem gesellschaftlich relevanten Faktor, der die anglikanische Kirche ebenso wie das noch absolutistisch geprägte Königtum herausforderte. Der erhebliche Einfluss der Puritaner zeigte sich beispielsweise im Theaterstreit, von dem Johnsons Referat kündet, dem zufolge sich diese »Leidenschaftlichkeit« im Streite vor allem darin begründet habe, »dass sich der Gegensatz verdeutlichte im Gegenüber zweier gesellschaftlicher Kräfte: des königlichen Hofes und des Magistrats von London« (6r–v). Auf den Punkt gebracht, lautet das Argument, dass sich hier »Adel und Bürgertum eine Kraftprobe« geliefert hätten (6v). Wie bereits gezeigt, ist diese Konfliktbeschreibung von Schirmer übernommen, der von »der wachsenden bürgerlichen Gewalt« berichtet, »die dem Hof eine Machtprobe leistete.«850 Schon hier kann gefolgert werden, dass der (künftige) Autor Johnson diesen vom Schüler Hannes stockend vorgetragenen Grundkonflikt um politische Macht und gesellschaftliche Kontrolle mittelbar den Erläuterungen Walter Schirmers verdankt. Weitere Befunde unterstreichen diese Vermutung: Klaus Niebuhr beginnt seine Erörterung mit einem Hinweis auf das »Theater, die Schau-Stellung«. Eine solch vermeintliche Redundanz mag in erster Lesart als eine vokabelexerzierende und -strapazierende Betulichkeit des Schülers (wie des Autors) erscheinen. Tatsächlich handelt es sich jedoch (zumindest auch) um eine Betonung des performativen Akts der Aufführung. Dahinter verbirgt sich die Grundthematik des Theaterkonflikts, der seine Ursache in der lust- und spielfeindlichen puritanischen Kunstauffassung hat. Die Puritaner lehnten im Wesentlichen jede Kunstform ab, die nicht dem Zweck des Gotteslobs diente; Schauspieler und ihre als lasterhaft empfundenen Darbietungen hatten bei ihnen einen schlechten Stand, und ein Drama mochten sie bestenfalls gelten lassen, »sofern es nur gelesen werde«, wobei es dann aber auch »eine Art religiösen Erbauungsbuches sein müsse.«851 Somit betraf der gesellschaftlich-religiöse Konflikt zwischen streng-bürgerlichen Puritanern auf der einen Seite und dem liberaleren Adel und der großherzigen Königin auf der anderen Seite auch die Kunst und deren Existenzrecht als Quell des Vergnügens und der Zerstreuung. Elisabeth I. ih849 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 73. 850 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 191. 851 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 184 und S. 185.
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rerseits gilt als entschiedene Förderin aller Kultur, vor allem aber des Theaters. Unter ihrer Herrschaft entwickelte sich das englische Patronagesystem, in dem Adlige vagierende und feststehende Schauspielensembles unter ihre Schirmherrschaft nahmen; Elisabeth selbst veranlasste die Gründung der Schauspieltruppe der Queen Elizabeth’s Men. Dadurch gelangte der Beruf des Mimen in England zu einem gewissen Ansehen, während im übrigen Europa Schauspieler noch lange in einem zweifelhaften moralischen Ruf standen.852 Für das Verständnis von Klaus Niebuhrs weiterer Erläuterung jener Nebensache, der zufolge »der Magistrat die Vorstellung« habe »genehmigen« müssen,853 fehlt dem Leser von Ingrid Babendererde das Kontextwissen, das vom Roman nicht mitgeliefert wird. In seinem Referat hatte Johnson es bereitgestellt: Gemeint ist der Magistrat von London, der »Aufführungen zulassen« (6v) musste, und zwar, weil der Hof »die Kosten dafür nicht tragen« (6v) konnte. Solche Zuwendungen zu verweigern, konnte der Kunstzensur dienlich sein – denn der von Puritanern dominierte Magistrat, so Johnson weiter, »wehrte sich« (6v) vehement gegen Anordnungen des königlichen Hofes, Theateraufführungen in der Stadt zuzulassen. Schirmer erläutert den Konflikt ausführlicher, indem er auch auf die Notwendigkeit schauspielerischer Praxis hinweist: Der Hof […] hielt um der Königin willen seine schützende Hand über das Theater. Allein konnte die Truppe nicht von dem Hof erhalten werden, also musste die Stadt Aufführungen erlauben, und wenn immer der Magistrat Verordnungen erliess, kamen die Gegenverordnungen der Sternkammer, die forderte, die Schauspieler müssten spielen dürfen, als Proben, um vor der Königin spielen zu können.854
Auch die seitens des Magistrats vorgeschobenen Gründe, Zerstreuungen dieser Art zu verbieten, hat Johnson für sein Referat von Schirmer übernommen: »Die Argumente des Magistrats waren […] die Befürchtung der Feuersgefahr, die Verkehrsstörungen, die Ausbreitung der Pest usw.«855 In seinem Seminarvortrag verkürzt Johnson diese Aufzählung zu »Feuergefahr Verkehrsstörungen Pestverbreitung« (6v). Von diesen drei Gründen finden sich dann noch zwei in der Englischstunde bei Sedenbohm wieder: »Theater sei feuergefährlich, und solche 852 Die Schauspielkunst »litt vielmehr unter der seit Platon und Aristoteles anhaltenden und kontrovers geführten Debatte über den moralischen Stellenwert des Theaters. Kirchenväter, Protestanten und Aufklärer kritisierten das Schauspiel, das Theater und die Schauspielkunst als unschicklich, verstörend und anzüglich. Hinzu kommt, dass die Komödianten seit dem 16. Jahrhundert in Wandertruppen organisiert waren und zusammen mit Quacksalbern, Spielmännern, Seiltänzern, Zahnbrechern, Taschen- und Marionettenspielern, Marktschreiern und anderen Vagabunden auftraten« (Tim Zumhof: Die Erziehung und Bildung der Schauspieler. Disziplinierung und Moralisierung zwischen 1690 und 1830, Wien: Böhlau 2018, S. 12 [Hervorh. im Original]). 853 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79. 854 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 190f. 855 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 191.
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Menschen-Ansammlung begünstige die Pestilenz«.856 Die »Menschen-Ansammlung« kann dabei nicht nur die Gefahr einer Pandemie steigern, sondern mag nebenher noch rudimentär auf ein mögliches Verkehrschaos verweisen: Wo der Plebs als Masse auftritt, sind Probleme zu gewärtigen – statt moralischer Festigung drohen Sittenverfall und Ausschreitung. Trotz dieser Verkürzung werden hier die vier Stufen effizienter Textökonomie mittels (Selbst-)Zitierung und Multifunktionalisierung eines nicht bloß angelesenen, sondern auch mit Wissen und Kompetenz aufbereiteten und angereicherten (Quellen-)Textes am deutlichsten. Will sagen: Zunächst verarbeitet Johnson als wissenschaftliche Quelle für sein Otway-Referat ein Standardwerk des Anglisten Walter Schirmer (scil. Antike, Renaissance und Puritanismus), aus dem er nicht nur historische Fakten über die Otway-Zeit schöpft, sondern sich hinsichtlich der Darstellungsweise sowohl sprachlich wie (welt-)anschaulich orientiert (bis hin zu wörtlichen Übernahmen Schirmers). In einem zweiten Schritt hält er seine Ausarbeitung als vielfältig schillernden Seminarvortrag, und zwar augenscheinlich in so überzeugender Weise, dass sein akademischer Lehrer sich noch Jahre später daran zu erinnern glaubt (wobei sich Mayer, wie andernorts gezeigt, häufig doch nicht richtig erinnert haben kann).857 In einem dritten Schritt überführt Johnson seine Kenntnisse aus der Vortragssituation (scil. seinen Literaturrecherchen und seinem Seminarvortrag) in einen literarischen Kontext: Aus der Gebrauchsrede wird ›Wiedergebrauchsrede‹, aus der Pflicht des Seminarkontextes die Kür im Raum der Literatur, Praxeologie und Poetologie geben sich den Staffelstab in die Hand. Der angehende Autor erfindet für seinen Roman Ingrid Babendererde eine Englischstunde, in der es prima facie um den englischen Puritanismus geht. Im Zuge dieser ›Literarisierung‹ einer historischen Problemkonstellation (in der bündigen Darstellung Schirmers) jedoch wird der nicht bloß angelesene, sondern auch bereits verinnerlichte ›Stoff‹ für den künftigen Romancier zum ›Sprengstoff‹: Johnson erkennt nämlich, dass sich der puritanische Theaterstreit der Frühen Neuzeit als Folie zur Darstellung der Konfliktkonstellation seiner eigenen Gegenwart eignet; um sich (und dem Leser) diese Brücke über dreihundert Jahre hinweg zu schlagen, erfindet er – auch um der Namensgleichheit willen – eine Figur namens Elisabeth; sein Darstellungsziel: die Abiturklasse der GustavAdolf-Oberschule soll nicht einfach einen ›abgelebten‹, entbehrlichen, allenfalls literarhistorisch interessanten Unterrichtsgegenstand besprechen, sondern zugleich ihre persönliche, existenziell bedrohliche Lage als eigenen Konflikt thematisieren und kathartisch ›durchleben‹. Der ästhetische und emotionale Gewinn hierbei: Die Namensgleichheit der (kulturell akzeptierten) Königin Elisa856 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79. 857 Vgl. hier: S. 118 und S. 244f.
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beth und der (allgemein geschätzten) Mitschülerin Elisabeth hat Witz, Eros und menschliche Wärme. In einer Momentaufnahme blitzt hier etwas auf von einer anderen, besseren, menschlicheren Welt, in der man einander gelten lässt und respektiert. Die Schönheit und Subjektivität dieser zugleich diskreten wie unmissverständlichen Szene erweist Johnson bereits als großen Erzähler. In einem (soweit bekannt:) letzten Schritt resümiert Johnson im Rahmen seiner Frankfurter Poetikdozentur diese denkwürdige Englischstunde bei Dr. Sedenbohm. Johnsons Poetikvorlesung, zugleich werk- und autobiographische Retrospektive des Autors wie auch der wichtigste Baustein seiner Poetologie, leistet ein Doppeltes: Sie macht seine Hörer auf seinen Romanerstling, der bis dato nicht erschienen ist (und den er sogar noch in der DDR verfasst hat), neugierig, und sie vermittelt seinem akademischen wie bürgerlichen Frankfurter Publikum einen Einblick in einen zentralen Konflikt der noch jungen DDR: den Konflikt um die Junge Gemeinde. Das Ausmaß dieses Konfliktes, der zugleich als Stresstest für Bildungspolitik des ›kommunistischen‹ Staates gelten muss, wird jedoch für die Gesamtgesellschaft der DDR in ihrem wahrscheinlich größten Krisenmoment zwischen Stalins Tod und dem ›Volksaufstand‹ des 17. Juni, und auch die innere Beteiligung Johnsons an diesem Konflikt (den er selbst andernorts, nämlich in Güstrow und Rostock, realiter auszutragen hatte), nicht so recht deutlich, wenn er schlicht sagt: »Mehr aus Übermut, ja aus Spass war der Schüler Niebuhr von dem Theater des elisabethanischen Zeitalters zu reden gekommen auf eine andere Elisabeth, ein Kind aus einer unteren Klasse mit Namen Rehfelde«.858 Erst heutige Leser können ermessen, dass Johnson – 25 Jahre nach Referat und erzählter Englischstunde – diesen teils erfundenen, teils erlebten, teils historischen, teils unmittelbar gegenwärtigen Vorgang in seiner Poetikvorlesung nicht zu einer Nebensache gemacht hat, zu einem harmlosen Jungenstreich (den sein westdeutsches Auditorium kaum verstehen kann), sondern dass er hier an einer empfindlichen Stelle rührt, die im Prinzip für sein ganzes weiteres Werk von fundamentaler Bedeutung sein wird: denn damals sind, literarisch wie biographisch, Weichen gestellt worden, die noch unser heutiges Bild des Autors prägen. Das wird auch daraus deutlich, dass er ausführlich aus Ingrid Babendererde zitiert und den Konflikt, um den es ihm gegangen ist, mehrfach von verschiedenen Seiten beleuchtet. Uwe Johnson bietet in der Vorlesungssituation seiner Poetikdozentur dem Auditorium eine Lehrstunde in Sachen totalitärer Staat. Dabei mögen seine Zuhörer die Situation der Englischstunde zunächst tatsächlich als einen »Spass« (des Schülers Niebuhr) verstanden haben, denn das heikle, prekäre Moment dieser anschaulichen Lehrstunde ist der Lebenswirklichkeit des honetten 858 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 80.
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Frankfurter Bürgertums nicht ohne weiteres zugänglich oder bekannt. Auch von daher holt der ›gelernte DDR-Bürger‹ Johnson weit aus und demonstriert diesem westdeutschen Publikum anhand seines Romans jene andere Welt, die er – wenn auch in anderer Weise – selbst durchlitten und womöglich beschadet durchgestanden hat. Es wird deutlich: der Übermut Klaus Niebuhrs ist ein kalkulierter und nur möglich unter »Sir Ernests resignierter Aufsicht« – möglich aufgrund der Nachsicht eines ›bürgerlichen‹ Lehrers also, der sich die hoch politisierte Dynamisierung seines Unterrichts durch die beteiligten Oberschüler selbst so lange gefallen lässt, als sie »unterrichtsgemäß in englischer Sprache« stattfindet.859 Sedenbohms Klasse, allen voran Klaus Niebuhr, weiß um diesen gefährdeten Freiraum in den Englischstunden, sie nutzen ihn jedoch nicht aus, etwa im Sinne einer Provokation ihres verehrten Lehrers, sondern sie schätzten diesen Hortus conclusus als Refugium freien Denkens und Argumentierens. Nur hier kann sich Klaus mit seinem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn zu einem »Übermut« freier Rede hinreißen lassen, die, weil sie gewitzt und zugleich galant ist, ihm und seinen Mitschülern auch »Spaß« bereitet. Es gelingt Klaus sogar, seinen Englischlehrer Sedenbohm für seine »Hintergedanken« zu interessieren und ihn für seine Redestrategie gleichsam einzuspannen. In diesem galanten Diskurs gelingt beiden »etwas Beiläufiges«: sie sprechen über den englischen Puritanismus und würdigen zugleich die »vorzügliche« Elisabeth – die Mitschülerin der Klasse 11 A ebenso wie die Königin und »Erste Bürgerin« im elisabethanischen England. Die Englischstunde bei einem ›bürgerlichen‹ Lehrer tendiert hier mimisch und gestisch zu einem höfischen Spiel: Schüler Klaus Niebuhr betreibt seine Galanterie unter den Augen Dritter, also »gewissermaßen unverbindlich«, das heißt, ohne eine Verbindung zu Elisabeth anzustreben. Gleichwohl ist seine Werbung für alle sichtbar und erfahrbar – sie will, wie das Theater, bloß »gefallen, ohne sich und den anderen zu engagieren«.860 Diese doppelsinnige, heitere Lehrstunde eröffnet zugleich eine sprechende Perspektive auf den Unterricht der anderen Lehrer, der dagegen »bedauerlich eingeengt« wirkt.861 Sedenbohms Haltung, hier streng auf sein Fach, die englische Sprache, weniger auf die gesprochenen Inhalte bezogen, ist dabei nur im ersten 859 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 80. 860 Niklas Luhmann: Von der Galanterie zur Freundschaft, in: ders., Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992, S. 97–106, hier: S. 97f. Luhmann bezieht sich hier auf eine der Hauptquellen seiner Argumentation, auf Charles Jaulnay: Questions d’amour, ou Conversations galantes, dédiées aux belles, Paris 1671, S. 98. 861 Die Formulierung ist hier aus einem vergleichbaren Kontext entlehnt, in dem das äußere Erscheinungsbild Rektor Siebmanns metaphorisch für dessen politisch motivierte pädagogisch-didaktische Haltung steht: »In seinem Äusseren wirkte Vertrauen erweckende frische Jugendlichkeit, die bedauerlich eingeengt war durch viel Wichtigkeit und Anspruch des Auftretens« (Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 87).
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Anschein eine passive oder eine des Laissez-faire. So steht zu vermuten, dass er nicht zufällig ausgerechnet Hannes Goretzki als erstes nach dem historischen ›Klassenkonflikt‹ und der englischen Königin befragt, denn Hannes ist schließlich der Freund Elisabeth Rehfeldes und hätte hier Gelegenheit, sich zu dem Vorfall zu äußern und ›seine‹ Elisabeth zu verteidigen. Da er diese Gelegenheit weder erkennt noch ergreift, steht dann Klaus ihm und Elisabeth zur Seite. Der Lehrer Sedenbohm beweist hier Haltung – und nebenher zugleich pädagogischdidaktisches Geschick –, gerade damit, dass er die ihm Anvertrauten auch über jene Dinge reden lässt, die sie bewegen. Seine Schüler danken es ihm, indem sie nicht nur in der gewünschten Sprache parlieren, sondern darüber hinaus die Kompetenz beweisen, das Fachliche auf ihre Gegenwart anzuwenden, und zwar sowohl hinsichtlich der ideologisch geforderten, als auch hinsichtlich der ›individuell‹ präferierten, selbst gedanklich entwickelten Kausalität jenseits von ›Klasseninteressen‹. In dieser liberalen Haltung dürfte überdies der Hauptgrund dafür liegen, dass Sedenbohm der »einzige[] Lehrer« war, »den die Klasse achtete, von dem sie Rügen annahm, dessen Lob noch etwas galt«.862 Hier wird das Ideal einer ›Klassensolidarität‹ erfahrbar, die sich über Klassengegensätze hinwegsetzt, weil sich in diesem Klassenverbund (aber nur im Verbund mit diesem Lehrer) ein passionierter Unterricht erleben lässt, der die Probleme der Jugend repräsentiert, ohne sich bei ihr anzubiedern. Das ist der ganz wesentliche Unterschied zu Pius. Mit dem Abstand eines Vierteljahrhunderts geht Johnson in den Begleitumständen auf seinen ersten Roman ein und versucht, seinem Publikum in Adornos legendärem Hörsaal VI der Frankfurter Goethe-Universität das Paradoxe dieses Schulalltags in der DDR zu verdeutlichen. Eines Schulalltags, den er immer noch für gegenwärtig halten musste, hatte sich die ostdeutsche Bildungspolitik seit der Niederschrift seines Romans doch nicht grundlegend geändert oder gerade in dieser Hinsicht gar gebessert. Umso eindrücklicher muss seine Feststellung gewirkt haben, und wirkt in der historischen Perspektive bis heute nach, dies sei ein »normaler Schultag« gewesen, dessen Normalität er seinem westlich sozialisierten Publikum sogleich als Absurdität vorführte.863 Dies belegt auch seine Lesung aus dem Romanmanuskript: Nach der Englischstunde folgt hier, in der Handlungsgegenwart des Jahres 1953, Physikunterricht, wo eine andere Art von 862 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 80. Keineswegs »ergreift ›Sir Ernest‹« in dieser Stunde also, wie Colin Riordan es behauptet, »freudig die Gelegenheit, die unbequeme Diskussion über die politische Konfrontation zu vermeiden«, indem er sich auf »Einzelheiten der Aussprache und des Sprachgebrauchs« beschränkt, um so »die Tragweite von Klaus’ Rede bequem übergehen« zu können. Zutreffend ist hingegen Riordans Beobachtung, dass »das Englische somit als eine Art Hafen [dient], der vor politischen Stürmen schützt« (Colin Riordan: »Ein sicheres Versteck.« Uwe Johnson und England, in: Deutsch-deutsches Literaturexil. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik, hg. von Walter Schmitz und Jörg Bernig, Dresden: Thelem 2009, S. 157–172, hier: S. 160). 863 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 80.
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Haltung deutlich wird, nämlich Enthaltung, indem der Physiklehrer Blumenkrantz kurzerhand erklärt, »er sehe keinerlei Weg, von der Integralrechnung auf die Innenpolitik zu kommen.«864 Wiewohl man bedenken muss, dass Enthaltung im politischen System der DDR durchaus schon als Form mangelnden Engagements aufgefasst werden konnte (und auch als Opposition gewertet wurde), zumal Blumenkrantz überdies als ›Bürgerlicher‹ gilt, der sich reserviert-resignativ in die politischen Entwicklungen der DDR schickte; diese blasse, gebrochene Figur, »ein bedauernswerter achtbarer Herr mit seinem eingesperrten Sohn«, ist in Johnsons Roman nicht als Widerstandsfigur angelegt.865 Sie fungiert vielmehr als Schattierung in jenem Spektrum, dessen Extreme durch den ›bürgerlichen‹ Sedenbohm und den markigen Sozialisten Pius markiert sind: dem Liberalen und dem Abgemeierten steht hier ein Scharfmacher gegenüber. Den Standpunkt von Rektor Robert »Pius« Siebmann verdeutlicht Johnson in seiner Vorlesung mit einem direkten Roman-Zitat, und zwar aus Pius’ Geschichtsunterricht, wo er ein politisches Stakkato vernehmen lässt: »Das heisst die religiösideologischen. Interessen des Bürgertums –. Waren immer! Bemän-te-lungen. Der Profitgier!«866 Diese ganz andere, rigid-ideologische Haltung wird von den dargestellten Schülern natürlich registriert – sie verhalten sich entsprechend vorsichtig und verstehen, damit umzugehen: »die Klasse wusste: wenn er [scil. Pius] so im Zuge war, würde er leicht einen Übergang finden vom Klassenkampf im Siebzehnten Jahrhundert auf die Junge Gemeinde in diesem.«867 In seiner Werkschau über sein verhindertes Romandebüt resümiert Johnson hier dessen zentralen Konflikt für sein Frankfurter Publikum, dem eine solche Situation völlig fremd sein muss. Konzentriert erzählt er ihm von einer Welt, in der Schüler im Stundentakt wissen und entscheiden mussten, was sie mit wem auf welche Art zu reden und zu regeln hatten, alles andere hätte im schlimmsten Fall ihre Existenz bedrohen können, die sie mit einem Abitur gerade erst beginnen wollten.
864 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 80f. Fast wortgleich erklärt der Lehrer in der später publizierten Fassung von Ingrid Babendererde: »er wisse nicht wie er von der Integralrechnung auf die Innenpolitik kommen solle«, auch wenn »es ja wohl erwünscht« sei (Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 89). 865 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 150. 866 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 81 [Hervorh. im Original]. Vgl. wortgleich Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 87 [im Roman ohne Kursivierung und mit anderer Trennung: »Be-män-te-lungen«]. 867 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 82.
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7.7.2 Resonanzräume des Referats Diese Englischstunde, man kann es nicht anders sagen, ist von höchster innenpolitischer Brisanz, wie gleich noch weiter ausgeführt werden soll. Zudem bildet sie eine Klammer zwischen Johnsons Arbeit an seinem Romanerstling, zwischen seinem Referat, das er 1955 vor Hans Mayer zu halten hatte – und zwischen den Ereignissen der ›Fünf Tage im Mai‹ 1953. Dafür gibt es sowohl im Referat wie auch im Roman deutliche Indizien. Bemerkenswerterweise gewinnt Johnson diese Indizien aber auch aus seiner Quellenarbeit für sein Otway-Referat. Dafür seien die Begriffe »Verkehrsstörungen«, »bürgerliche[] Gewalt« und »Machtprobe« genannt, die Johnson von Schirmer übernimmt, während er in seinem Roman wie in seinem Referat noch den sprechenden Terminus »Hintergedanken« verwendet und in seinem Protagonisten Klaus Niebuhr in der fiktiven Englischstunde dann überdies noch den Terminus »Menschen-Ansammlung« in den Mund legt. Es ist daher hier zunächst zu zeigen, wie Johnson seine Quelle – Schirmer – gelesen hat, auf welche Gedanken er dabei gekommen sein muss, und wie es ihm gelungen ist, über den ›Volksaufstand‹ zu sprechen (und im Roman zu schreiben), ohne den 17. Juni 1953 explizit erwähnen zu müssen. Es soll dabei demonstriert werden, wie Johnson bereits als junger Autor, schon in seinem Erstlingsroman, mit einem avisierten ›kritischen Leser‹ zu kommunizieren wusste, der sich bereits bei dem Untertitel des Romans, »Reifeprüfung 1953«, seinen Teil gedacht haben wird – und den Johnson nicht enttäuschen durfte.868 Da Johnson Schirmers Buch Antike, Renaissance und Puritanismus nicht nur für sein Referat, sondern auch für seine Romanarbeit genutzt hat, muss das entscheidende Zitat, um das es hier geht – und das Johnson zu seinem bemerkenswerten Gedankengang anregte –, in voller Länge wiedergegeben werden. Dabei wird deutlich werden, wie ein augenscheinlich unauffälliger Text, der in seinem wissenschaftlichen Kontext etwas anderes bedeutet und besagen will, in seiner Transformation durch den Germanistikstudenten und in seiner literarischen Funktionalisierung durch den (angehenden) Autor Lesarten produzieren helfen kann, die Johnson weit über den Tag hinaus beschäftigen sollten, weil sie auf Ereignisse verwiesen, die das ganze Land erfasst hatten, die vielleicht die erste große Krise der DDR bedeutet hatten, die ein bleiernes innenpolitisches Klima in der DDR zeitigten, dessen weitere Folgen zwar noch kaum absehbar waren, aber die Menschen – auch gerade die Jugend – doch schon erheblich beunruhigten. 868 Als »Reifeprüfung für Leser« hat Lutz Hagestedt den Roman gelesen, vgl. ders., Reifeprüfung für Leser. Ingrid Babendererde aus ost- und westdeutscher Sicht, in: Uwe Johnson und die DDR-Literatur. Beiträge des Uwe Johnson-Symposiums Klütz, München: belleville 2011, S. 87–124.
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Die Adaption und Funktionalisierung von Schirmers Buch (und insbesondere sein Umgang mit dem nachstehenden Zitat) kann als Beleg dafür gewertet werden, wie ›absolut‹ Johnsons Persönlichkeit – als Zeitzeuge, als Student, als junger Autor – bereits ›da ist‹, die wie ein Schwamm alles aufsaugt, was sie bewegt, und die sich alles anzuverwandeln weiß, was sie betrifft. Ein Referat zu halten, ist für ihn etwas völlig anderes als für manch andere Studenten seines Jahrgangs (wobei es Ausnahmen ähnlichen Kalibers gegeben haben mag, gerade auch im Leipziger Freundeskreis): Jede Lektüre in dieser Zeit geht potenziell auch bereits in die Romanarbeit ein, jede Lesefrucht ist zugleich Recherche, jede kluge Beobachtung lässt sich jederzeit ummünzen für die eigenen Erfordernisse. Daher hier zunächst das Langzitat: Der Verlauf des Kampfes kann hier nur resümiert werden. Die Argumente, wie gesagt, sind dieselben wie die der Kirchenväter, die Triebkräfte, vor allem moralische Entrüstung und Hass gegen Rom (der katholische Kult ist ›idolatrie‹, also dem Heidentum gleichgestellt und füglich mit denselben Argumenten zu bekämpfen); der Anlass sind wirtschaftliche und ordnungspolizeiliche Missstände. Die Reformation und ihre Folgeerscheinungen bildeten die Auflösung des mittelalterlichen kirchlichen Systems und eine Umwälzung, die dem ersten Auftreten des Christentums vergleichbar ist. Wie dort, so hier ist das Eingreifen der weltlichen Gewalt von entscheidender Bedeutung. Die weltliche Gewalt, die im puritanischen Theaterkampf eine Rolle spielt, ist eine zweifache: der Magistrat von London und der Hof. Der Hof – und damit selbst Leicester und Essex, die doch den Puritanern geneigt waren – hielt um der Königin willen seine schützende Hand über das Theater. Allein konnte die Truppe nicht von dem Hof erhalten werden, also musste die Stadt Aufführungen erlauben, und wenn immer der Magistrat Verordnungen erließ, kamen die Gegenverordnungen der Sternkammer, die forderte, die Schauspieler müssten spielen dürfen, als Proben, um vor der Königin spielen zu können. Die Argumente des Magistrats waren erstens, aber durchaus nicht am meisten, die Befürchtung der Feuersgefahr, die Verkehrsstörungen, die Ausbreitung der Pest usw., dann waren es die puritanischen Gefühle, die ihn bewegten und wohl ebenso das Bewusstsein der wachsenden bürgerlichen Gewalt, die dem Hof eine Machtprobe leistete.869
Auch der Stalin-Kult ist »Idolatrie« gewesen, und Nikita Chruschtschow sollte ihm (und ihr) in seiner berühmten Geheimrede den Garaus machen. Und selbst die DDR-Gesellschaft ist schon als »puritanisch« beschrieben worden, »mit ihrer noch puritanischeren Spitze«.870 Wichtiger aber sind in diesem Zusammenhang die Schlüsselwörter »Verlauf des Kampfes«, »moralische Entrüstung und Hass« (gegen Berlin), »wirtschaftliche und ordnungspolizeiliche Missstände« (»und ihre Folgeerscheinungen«), »Auflösung« und »Umwälzung«, »das Eingreifen der 869 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 190f. 870 Wolfgang Emmerich: Deutsche Demokratische Republik, in: Geschichte der deutschen Lyrik vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von Walter Hinderer, 2., erweiterte Auflage, Würzburg: Königshausen & Neumann 2001, S. 576–604, hier: S. 595.
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weltlichen Gewalt«, »Verordnungen« und »Gegenverordnungen«, »die Befürchtung der Feuersgefahr«, »die Verkehrsstörungen« sowie »die Ausbreitung der Pest« ebenso wie »das Bewusstsein der wachsenden bürgerlichen Gewalt, die dem Hof eine Machtprobe leistete«, die Johnson geradezu ›angesprungen‹ haben müssen. Jedoch: Er konnte davon nicht (direkt) erzählen, jedenfalls nicht im Rahmen eines Romans, der das ›Schicksalsjahr‹ 1953 in den Blick nahm, und auch nicht im Kontext eines Hochschulseminars bei einem ›bürgerlichen‹ Professor, der vielleicht schon ›gefährdet‹ war, den man jedenfalls schützen wollte und musste, wenn man ihn der Repression durch die Staatsgewalt nicht unnötig aussetzen wollte. Unter den Aspekt »Verordnungen und Gegenverordnungen« könnte man, in aktueller Bezugnahme auf den Juni-Aufstand, die Anhebung und Wiederaussetzung der Leistungserwartungen (»Arbeitsnormerhöhungen«) zählen.871 Ferner die »Verschärfung des Klassenkampfes«, wie er in der Agitation gegen die Junge Gemeinde zum Ausdruck kam, gefolgt von der Aufhebung oder Abmilderung dieser Maßnahmen (im Neuen Deutschland als demonstrativer Friedensschluss zwischen Kirche und Partei inszeniert).872 Biographisch die (ange-
871 Im Vorfeld des 17. Juni war die Regierung der DDR bemüht, die sich immer stärker abzeichnende Unzufriedenheit der Bevölkerung durch die Rücknahme einzelner Verordnungen abzufangen. So wurde am 11. Juni 1953 »eine Anzahl an Maßnahmen beschlossen, durch welche die auf den verschiedensten Gebieten begangenen Fehler der Regierung und der staatlichen Verwaltungsorgane korrigiert« werden sollten; die neuen »Verordnungen und Beschlüsse« hatten zum Ziel, jene »Maßnahmen in der Vergangenheit« zu berichtigen, die sich »als fehlerhaft erwiesen« hätten (Kommuniqué über die Sitzung des Ministerrats der DDR vom 11. Juni 1953, in: Neues Deutschland, 12. 6. 1953, S. 1). An der Erhöhung der Arbeitsnormen, einer der Hauptursachen der Unzufriedenheit, wurde zu diesem Zeitpunkt noch festgehalten. 872 Gemäß einer kurzen Pressemitteilung Ende Mai 1953, hatte Ministerpräsident Grotewohl schon bei einer ›Aussprache‹ mit Kirchenvertretern den »Standpunkt der Regierung zu den kirchlichen Verhältnissen« erläutert, und er »wies nach [sic!], daß von einem Kirchenkampf keine Rede sein kann« (N. N.: Aussprache des Ministerpräsidenten mit evangelischen Pfarrern, in: Neues Deutschland, 28. 5. 1953, S. 1). Ein weiteres, mit noch mehr hochkarätigem Personal besetztes Treffen wurde einige Tage später abgehalten, am 10. Juni. Dort sei man bei einer »vom Geiste gegenseitiger Verständigung getragenen Verhandlung« zu dem Entschluss gelangt, »die Wiederherstellung eines normalen Zustandes zwischen Staat und Kirche« anzustreben. Wenn auch Grotewohl kurz zuvor noch nicht von einem »Kirchenkampf« sprechen mochte, so wurde nun immerhin die Abwesenheit eines »normalen Zustandes« festgestellt. Man wusste auch gleich, wie eine Normalität wieder erreicht werden konnte: Mit generösem Ton wurde »staatlicherseits die Bereitwilligkeit erklärt, das kirchliche Eigenleben nach den Bestimmungen der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik zu gewährleisten« – der Staat erklärt also, sich nun an seine eigene Verfassung zu halten (Kommuniqué des Ministerrates und der evangelischen Kirche (Anm. 55), S. 2). Hätte Johnsons folgenreiche Rede zur Jungen Gemeinde an der Universität Rostock nicht einige Tage zuvor stattgefunden, könnte man diesen Artikel des Neuen Deutschlands als seine Vorlage vermuten; hatte er dabei der Regierung doch »einen mehrfachen Bruch der Ver-
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drohte) Exmatrikulation Johnsons von seiner Rostocker Alma Mater, die dann zurückgenommen wurde. Die Ausschreitungen am 17. Juni selbst konnten als »Gewalt« gewertet werden, die der Regierung »eine Machtprobe leistete«; »wirtschaftliche und ordnungspolizeiliche Missstände« gaben dafür erst den »Anlass«. »Entrüstung und Hass« gegen die kommunistischen Machthaber hatten sich hier entladen.873 Ost-Berlin musste einen ›Flächenbrand‹ fürchten (scil. »die Befürchtung der Feuersgefahr«), der dann teilweise auch tatsächlich beobachtet werden konnte.874 Die »Verkehrsstörungen« kamen nicht nur durch die Massen an Arbeitern zustande, die etwa die Prachtstraßen und prominenten Plätze Ost-Berlins besetzten (die Bilder aus diesen Tagen legen davon Zeugnis ab) und Barrikaden errichteten, sondern auch durch die sowjetischen Panzer, die sich den Demonstranten entgegenstellten. Allein im Bezirk Leipzig waren, durch »das Eingreifen der weltlichen Gewalt«, neun Tote und etliche Verletzte zu beklagen.875 Die Ballung der ›prekären‹ Begriffe aus Schirmers Studie führt direkt in Johnsons Referat und indirekt in Johnsons Werk. Der Brückenschlag erfolgt durch Klaus Niebuhrs auffällige Vokabelfrage, »what’s the English for ›Hintergedanken‹?«. Durch diese Frage wird der Leser erst auf Hintergedanken gebracht (beziehungsweise sich Gedanken über Hintergedanken zu machen) – wenn er nicht ohnehin schon gelernt hat, ›zwischen den Zeilen‹ zu lesen und Nebenbedeutungen des Gesagten und Mitgesagten, politisch Implizierten, mitzulesen und mitzudenken, aufzugreifen und zu diskutieren. Und gerade Klaus Niebuhr wird fassung der Deutschen Demokratischen Republik« (Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 65) vorgeworfen. 873 Ein sich – nicht erst aus heutiger Sicht – selbst entlarvender Artikel findet sich im Neuen Deutschland vom 14. Juni 1953, der die Unzufriedenheit speziell der Berliner Bauarbeiter nicht auf die eigentlichen Normenerhöhungen zurückführt, sondern auf eine falsche Kommunikation der – namentlich genannten und damit an den öffentlichen Pranger gestellten – Mitarbeiter der ›Normabteilung‹ vor Ort. Darin heißt es, die »Normarbeiter […] haben jede Verbindung mit ihren Kollegen auf den Baustellen verloren«, denn die »Beschlüsse unserer Regierung und Partei« hätten doch »nicht diktatorisch und administrativ durchgeführt werden« sollen, stattdessen hätten die »Brigademitglieder von der Bedeutung dieser Maßnahme […] überzeugt« werden müssen (Siegfried Grün, Käthe Stern: Es wird Zeit, den Holzhammer beiseite zu legen, in: Neues Deutschland, 14. 6. 1953, S. 6). 874 Selbst das Parteiorgan Neues Deutschland konnte die Ereignisse des 17. Juni im Nachhinein nicht als nur auf Berlin beschränkt darstellen. Zwar steht in den ersten Reaktionen OstBerlin als Epizentrum der Ereignisse klar im Fokus, doch schon bald gibt man auch »Unruhen«, freilich von »faschistischen Agenten ausländischer Mächte und ihren Helfershelfern« provoziert, in anderen Landesteilen zu, so etwa »in Magdeburg, Dresden, Görlitz und einigen anderen Orten der Deutschen Demokratischen Republik« (Otto Grotewohl: Die nächsten Aufgaben, in: Neues Deutschland, 20. 6. 1953, S. 1f., hier: S. 1). 875 Schon Ingrid Babendererde kann insofern als Roman zu diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund gelesen werden, der Untertitel legt es nahe. Vgl. auch die Darstellungen im Dritten Buch über Achim und die entsprechenden Kommentare in der Rostocker Ausgabe; vgl. Johnson, Das dritte Buch über Achim (Anm. 262), S. 260–266 und S. 574–579.
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dem Romanleser als ein Schlüssel zur Aufdeckung solcher Lesarten empfohlen, denn er weiß Konfliktsituationen zu deuten und durchschaut die Rede seines Gegenübers. Er wird in den Roman mit einem Erkenntnismoment eingeführt, ihm »erschien es unerhört komisch dass sie hier etwas begingen in ernsthafter Arbeitsgemeinschaft, was ihnen im Grunde nicht gefiel.«876 Hier werden zum ersten Mal die Schule und eine Unterrichtsstunde dargestellt, und zwar, wegweisend für den Roman, vor allem aus Klaus’ Perspektive. Er beobachtet, dass der Erdkunde-Lehrer Kollmorgen, dieser »gebildete und durchaus würdige Herr«, Dinge sagt, politisch bedingt offenbar sagen muss, »die zu sagen ihm wirklich unangenehm war«, während seine Schüler »es für immerhin nützlich [hielten] ihm zuzuhören, aber ausser dem Schüler Petersen fühlten sie sich alle gestört und belästigt.«877 Bei einer anderen Gelegenheit, als der Goldschmied Wollenberg ihm gegenüber Ingrid als das »schönste und netteste Mädchen am Orte« lobt, wird durch den an dieser Stelle auf Klaus fokalisierenden Erzähler deutlich gemacht: »Er sagte dies vielleicht damit es Klaus nicht so hart ankam eine solche Menge Geld auf ein Mal zu verlieren; der Schüler Niebuhr war aber so beschaffen dass er sich das dachte.«878 Niebuhrs Erklärung, die von den Puritanern genannten Gründe gegen Theatervorstellungen seien »heuchlerisch«,879 lässt an die »weltliche Gewalt« denken, »die im puritanischen Theaterkampf eine Rolle spielt[e]«, und nicht nur dort. Johnson referierte, der Magistrat der Stadt London habe »nicht von seinen puritanischen Hintergedanken« (6v) gesprochen. Denn auch laut Schirmer waren es weniger die offiziell genannten Gründe, die zu »Verordnungen« und »Gegenverordnungen« führten, zu »Gewalt« und Gegengewalt, sondern – neben der »Ausbreitung der Pest« – vor allem die vorgeschobenen Gründe (»die Befürchtung der Feuersgefahr«, »die Verkehrsstörungen«). Somit seien es in Wirklichkeit die »puritanischen Gefühle« gewesen, die den Magistrat »bewegten«, gegen Theatervorstellungen in der Stadt vorzugehen, »und wohl ebenso das Bewusstsein der wachsenden bürgerlichen Gewalt.«880 Was hier also ausgedrückt werden soll – und was Johnson aufgefallen sein muss –, ist der Umstand, dass schon die absolutistischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit dazu tendierten, Verbote sachlich und indirekt zu begründen, etwa im Sinne des Volkswohles, und zwar schon deshalb, weil sie damit ihre eigene Macht nicht zu gefährden brauchten. Denn an die »Gefühle« der Bürger zu appellieren, Vernunftgründe geltend zu machen, um damit der Vergnügungssucht der Menschen zu begegnen, wäre sicherlich gefährlicher gewesen als Ge876 877 878 879 880
Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 18. Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 17f. Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 28. Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79. Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 191.
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fahren zu beschwören, deren Abwehr jedermann vernünftig finden musste. Oft sind es also die ›Hintergedanken‹, die politisches Handeln auslösen, sich aber nicht explizit manifestieren und artikulieren dürfen. Und was für absolutistische Gesellschaften gilt, gilt ebenso für totalitäre, die ihr Menschenbild und ihr Gesellschaftsverständnis absolut, vorgeblich sogar sachlich-wissenschaftlich begründet, setzen wollen: Da die Regierenden der DDR ihr Staatsvolk nicht auflösen und sich ein neues wählen konnten, mussten auch sie zu einer Politik des Hintergedankens, der sanften oder gewaltsamen Manipulation greifen. Wer hier Hintergedanken hat, wird, wenn er Johnson liest, erkennen müssen, dass die historischen Erörterungen und Bezugnahmen in Ingrid Babendererde insgesamt nur die Folie sind, vor der der aktuelle Konflikt zwischen Junger Gemeinde und Freier Deutscher Jugend ausgetragen wird. Einer Folie, die mit Kalkül in die gesamtgesellschaftliche Problematik der DDR um 1953 und danach einführt. Denn auch diese Auseinandersetzung der (und um die) Jugendorganisationen ist letztlich nur ein ›Symptom‹, ein Nebenschauplatz eines übergeordneten und grundsätzlichen Spannungsfeldes des ostdeutschen Staatsapparates und seiner Bürger. Es geht hier um Macht- und Glaubensfragen, um die (behauptete) neue gesellschaftliche Ordnung der DDR (im Gegensatz zur ›bürgerlichen‹), um die Differenz und das Zusammenstimmen von Gesagtem und Gemeintem. Nur in der Zusammenschau des Gemeinten mit dem Mitgemeinten, nur implizit Gesagten und Mitgesagten, ergibt sich eine stimmige Lesart von Johnsons Roman, von Johnsons Otway-Referat – sowie von Johnsons Quelle. Dank Johnson kann man Schirmers herausragende wissenschaftliche Studie, die bereits in der Zwischenkriegszeit (in zweiter Auflage 1933) publiziert worden war, mit den Augen eines DDR-Bürgers der fünfziger Jahre lesen. Und in dieser Rezeptionssituation kann ein historischer Konflikt beinahe erschreckende Aktualität zeitigen, indem sich in der Gegenwart ähnliche Bedingungen und Konstellationen einer Auseinandersetzung offenbaren, die sich selbst noch im Vokabular wiederfinden, das den Konflikt beschreibt. Dabei ist es dann eine Sache, wenn ein Student aus einem wissenschaftlichen Buch für sein Referat abschreibt; eine ganz andere Sache ist es, wenn sich dieser Student, in seiner Transformation zum Autor, das wissenschaftliche Buch vermittels seines Referats einverleibt, wenn er diese wissenschaftliche Erkenntnis seinem literarischen Text in einer Weise zu eigen macht, die mittels spezifischer (Inter-)Textsignale den historischen Konflikt als einen ›Spiegel‹ seiner Gegenwart präsentiert; und zwar – das kommt erschwerend hinzu – ohne dabei allzu offensichtlich sein zu können und zu wollen, denn schon die Benennung des aktuellen Konflikts hätte Sanktionen zur Folge. Es musste darum gehen, den geneigten Leser zu erreichen, ohne sich dabei dem nicht geneigten auszusetzen. Neben dem Signalwort der »Hintergedanken« mag ein weiterer Begriff als Effekt oder Gelenkstelle fungiert haben, um das historische Sujet in die Gegen-
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wart Johnsons zu transponieren. Als gemeinsamen Nenner der von Schirmer erfahrenen, vorgeschobenen Gründe, »Verkehrsstörungen« und »Pestverbreitung«, kondensiert Johnson aus seinem Referat die »Menschen-Ansammlung« in den Roman. Zu solchen kam es bekanntlich am 17. Juni 1953 in der ganzen DDR, und es blieb kaum Zeit, Gründe dagegen vorzuschieben, wenngleich es versucht wurde. So berichtete das Neue Deutschland über die Ereignisse jenes Tages etwa von »großen Menschenansammlungen und johlenden Provokateuren«.881 Die sowjetische Administration, der Berliner Stadtkommandant Dibrowa, sah sich gezwungen, per Dekret sämtliche »Demonstrationen, Versammlungen, Kundgebungen und sonstigen Menschenansammlungen« zu verbieten.882 Und nicht nur Johnson selbst, auch sein Romanpersonal hat ein spezifisches Sensorium für Zwischentöne entwickelt. Daher erfolgt die Aufforderung des Englischlehrers Sir Ernest an Klaus, der Klasse seine Gedanken über die englische Königin mitzuteilen, die als Repräsentantin der »aristokratische[n] Klasse« Erwähnung findet, die im Besitz aller »Vorrechte« und »Ländereien« und so weiter gewesen sei: »wie Sie denken über Elisabeth.«883 Relevant ist hier, dass die sicherlich auf Englisch gestellte Frage deutsch wiedergegeben wird. Dadurch wird auch die Namensform der englischen Königin zu »Elisabeth« eingedeutscht, sodass sie allein hier noch doppelsinnig ist, dergestalt, dass der Leser zweifeln könnte, ob Sedenbohm nach der Königin oder nach der Schülerin Elisabeth Rehfelde fragt, zumal er spezifizierende Attribute, etwa ›die erste‹ oder ›die Königin‹, weglässt. Mit der Namensform »Elisabeth« kann Klaus also von beiden Frauen sprechen, von der Königin wie von der Mitschülerin. Letztere hatte erst kürzlich für einen Eklat gesorgt, als sie »das Dokument ihrer Mitgliedschaft in der Freien Deutschen Jugend auf den Boden« geworfen hatte.884 Somit ist Klaus Niebuhrs ›vorzügliche‹ Meinung von ihr, Elisabeth der Königin wie Elisabeth der Mitschülerin, doppelt motiviert.885 Nachdem hier, wie bei Schirmer, von puritanischen Hintergedanken und Gefühlen die Rede war, verbindet der Roman nun explizit den einstigen (histo881 E. K.: Horst Klehr erfüllte eine patriotische Pflicht, in: Neues Deutschland, 30. 6. 1953, S. 6. 882 Pjotr A. Dibrowa: Befehl des Militärkommandanten des sowjetischen Sektors von Berlin. Betrifft: Erklärung des Ausnahmezustandes im sowjetischen Sektor von Berlin, in: Neues Deutschland, 18. 6. 1953, S. 1. 883 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 77 und S. 78. 884 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79f. 885 Seine Beobachtung von 2015 (vgl. hier: S. 121 und S. 264) über die Englischstunde greift Paul Onasch in seiner 2020 publizierten Dissertation wieder auf, und erkennt ebenfalls, dass »der Schüler Niebuhr das rechtswidrige staatliche Vorgehen gegen die Junge Gemeinde mithilfe einer historischen Verschränkung« aufdecke (vgl. Onasch, Hat Gott gar nichts mit zu tun (Anm. 54), S. 111–113 und S. 154–159, hier: S. 158). Wegen seiner anders, nämlich eben auf biblische Diskurse, ausgerichteten Perspektive wie auch der ihm fehlenden Quellen Johnsons für das Referat und die Englischstunde, erschließt Onasch freilich nicht die ganze Tragweite des dort diskutierten Konflikts mit all seinen vor allem politischen Implikationen.
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rischen) Konflikt des aristokratisch-bourgeoisen Englands mit der sozialistischen Gegenwart der DDR: »Als aber nun (das war später) die proletarische Klasse in das Rathaus kam, wusste sie lange Zeit nicht was sie machen sollte mit der bürgerlichen.«886 Die ›proletarische Klasse im Rathaus‹ kann hier als Synonym für die ›Nomenklatura‹ der Partei, die Machtelite in Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft der DDR gelesen werden. Und dass diese »lange Zeit nicht« wusste, »was sie machen sollte«, zumal mit den Bürgerlichen, ist ein deutlicher Hinweis auf die von Aktionismus geprägte Politik dieses Herrschaftssystems, gerade in den ersten Jahren nach der Zwangsvereinigung von SPD und KPD und der ostdeutschen Staatsgründung. Zwar war die DDR-Führung eben in dieser Anfangsphase auf die sogenannte bürgerliche Klasse angewiesen, um einen funktionierenden Staat aufbauen zu können. Gleichwohl durfte diese bürgerliche Klientel aus Sicht der marxistisch-leninistisch geschulten Kader langfristig aber nicht im neuen Staat verbleiben, und der 1952 proklamierte verschärfte ›Klassenkampf‹ richtete sich vor allem, wenn auch nicht ausschließlich, gegen das Bürgertum und seine Interessen. In dessen Folge geriet im Jahr darauf die Junge Gemeinde ins Visier der ›Klassenkämpfer‹, denn sie war hinsichtlich Christenlehre und kirchlichem Engagement Teil eines separierten bürgerlichen Milieus, das sich mit dem sozialistischen Staat nicht ›gemein‹ machen wollte. Die Staatsvergottung des modernen Klassenkampfs wurde in diesem Milieu abgelehnt. Wie billig die Argumentations- und Sprachmuster von ›Vater Staat‹ waren, demonstriert Johnsons Roman anhand seiner Bildlichkeit. Davon zeugen »unzählige Spruchbänder und Schriftleisten« mit Kampfparolen für den Frieden.887 Auf Aspekte der Nötigung weist die Parteileitungssitzung hin, bei der Jürgen die Provokation Elisabeths – nämlich Dieter Seevkens Forderung, sie solle sich zwischen Junger Gemeinde und FDJ entscheiden – mit »individuellem Terror« gleichsetzt, der aber von den älteren Genossen für gut befunden wird, weil diese »Eigenmächtigkeit« eine »nützliche!« gewesen sei;888 ferner das »Bildnis des Führers der Kommunistischen Partei der Sowjetunion«,889 auch als »Führer der Völker« bezeichnet,890 das gerade mit dieser immer gleichen Attribuierung besonders ›die Deutschen‹ an ihren einstigen ›Führer‹ erinnern musste, 886 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79. 887 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 161; vgl. hierzu weiter S. 24, S. 102, S. 113 und S. 140. 888 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 114. In dieser Sitzung wird die beinah schizophren anmutende Haltung dieser Parteileitung ganz offensichtlich: Während Jürgen eine Ermahnung »wegen eigenmächtigen und parteischädigenden (versöhnlerischen) Verhaltens« (ebd.) kassiert, weil er Elisabeth ihr FDJ-Mitgliedsbuch zurückgibt, wird Dieter Seevkens provozierende »Eigenmächtigkeit« gegenüber Elisabeth als etwas betrachtet, das »uns vor-wärts-bringt!« (ebd.). 889 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 102. 890 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 170.
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von dem sie der andere – vor allem in der Lesart der DDR – befreit hatte; wie schließlich auch die sich selbst entlarvende, polemische Rhetorik des Rektors Siebmann, der die Junge Gemeinde als »illegale Verbrecherorganisation«891 zu diffamieren sucht, als könnte es eine ›legale Verbrecherorganisation‹ geben.892 Aufgrund ihres ›revolutionären‹ Auftrags war die ›proletarische‹ Nomenklatura im Rathaus und in der Schule nun der Meinung, »Elisabeth habe in Wirklichkeit eine Bombe in ihrer Bibel«: »das sagten sie, und dachten an den Klassenkampf«.893 Und sie entblödeten sich dessen nicht. Die Sprachregelung impliziert, dass diese Nomenklatura bei jeder, auch ihrer eigenen, gesellschaftlichen »Umwälzung« vor allem dem Eingreifen der ›weltlichen Gewalt‹ entscheidende Bedeutung zumisst – ganz so, wie Schirmer es für das »Auftreten des Christentums« überhaupt, die Reformation und deren Folgen in England beobachtet hat.894 Und so, wie sich die Puritaner im elisabethanischen Theaterkampf als Heuchler erwiesen, so erweisen sich jetzt Funktionäre des städtischen Verwaltungsapparates als Leute, die im weltanschaulichen Kampf »moralische Entrüstung« heucheln.895 Hier geht es jetzt also nicht mehr primär um die englische Königin, sondern mindestens auch um die mecklenburgische Schülerin Rehfelde, die sich demonstrativ für die Junge Gemeinde und gegen die FDJ entschieden hatte, indem sie ihr theatralisch das Mitgliedsbuch vor die Füße warf.896 Angesichts dieser, 891 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 141. 892 Denkt man dieses Bild im Sinne eines Gegensatzpaares weiter, so würde die politisch gewollte Konkurrenz der Jungen Gemeinde, die Freie Deutsche Jugend, den Platz der ›legalen Verbrecherorganisation‹ einnehmen. 893 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79. 894 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 190. Vgl. dazu hier: S. 169f. 895 Schirmer, Antike, Renaissance und Puritanismus (Anm. 479), S. 190. 896 Dieser Vorgang wird mehrfach im Roman erzählt: Dreimal heißt es wortgleich, dass Elisabeth Dieter Seevken »das Mitgliedsbuch vor die Füsse« schmiss, einmal warf sie es »zu Boden« (Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 34, 54, 59 und 113). Die eindeutige Geste gewinnt noch an Kontur vor folgendem Hintergrund: Karl Friedrich Wilhelm Wanders Sprichwörtersammlung kennt den Ausdruck »Einem den Hund vor die Füsse werfen« und erklärt dazu: Dies sei eine Geste, um »die höchste und letzte Entrüstung auszudrücken« und rühre als Redensart daher, »dass ehemals Männer, die zur Strafe des Hundetragens verdammt waren, ihren Unterdrückern den Hund vor die Füsse warfen, wenn sie Gelegenheit sahen, sich wieder frei zu machen oder, wenn sie den Tod diesem Schimpf vorzogen« (Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk, Bd. 2: Gott bis Lehren, hg. von Karl Friedrich Wilhelm Wander, Leipzig: Brockhaus 1870, Sp. 886). Der Hund galt dabei, und das ist das – von Wander leider unterschlagene – entscheidende Detail, als »Symbol der Treue«, das von solchen Delinquenten als Zeichen der Reue zu tragen war, die wegen »Landsfriedenbruches« zum Tode verurteilt worden waren (Johann Baptist Friedreich: Die Symbolik und Mythologie der Natur, Würzburg: Stahel 1859, S. 393). Elisabeth Rehfelde befindet sich in einer vergleichbaren Konstellation: Ihr Staatstreue wird zur Diskussion gestellt und sie wirft dem sie anklagenden Vertreter dieses Staats das ›Symbol der Treue‹, ihr Mitgliedsbuch der FDJ, ›vor die Füsse‹, um so ihre ›höchste und letzte
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unter den gegebenen Umständen mutig-riskant zu nennenden Haltung, so Niebuhr weiter, »kann man nicht umhin vorzüglich zu denken über die Königin Elisabeth von England«,897 die hier aber nur Elisabeth Rehfelde meinen kann. Vergangenheit und Gegenwart überlagern sich an dieser Stelle, ein außerzeitliches ›Prinzip Elisabeth‹ scheint auf.898 Der anschließende Versuch, wieder auf das tatsächliche historische Thema zurückzulenken, scheitert gründlich, die folgende Empörung des überzeugt sozialistischen Mitschülers Jürgen Petersen illustriert das: Er verwahrt sich gegen eine Gleichsetzung dieser beiden Elisabeths. Klaus Niebuhr tritt für seine Mitschülerin ein, indem er auf den Konflikt zwischen FDJ und Junger Gemeinde hinweist und speziell ihrer Prinzipientreue Respekt zollt: Die Glaubwürdigkeit dieser jungen Frau, gepaart mit ihrer Impulsivität, hinterlässt Eindruck, wohingegen Rektor Siebmann schon den Weg in die Nestwärme der Kleinbürgerlichkeit angetreten zu haben scheint. Mit seiner Ernennung zum Rektor hat er seine Schäfchen ins Trockene gebracht, sein Engagement für die sozialistische Sache schläft erkennbar ein, es wird »plötzlich ein Unterschied sichtbar von Dienst- und Freizeit.«899 Dieser opportunistische Betonkopf, der jede Versöhnung mit dem Klassenfeind als ›kompromisslerisch‹ geißeln würde, ist habituell längst schon in bürgerlicher Sekurität angekommen – er wohnt in einer »Villa am Hafen«, macht sich durch »seine durchaus bürgerlich prächtige Hochzeit« im Ort allgemein »lächerlich«, und schließlich ersetzen seine eigenen Schüler bei Begegnungen außerhalb der Schule »Anstandes halber«, wie es heißt, den FDJ-Gruß »›Freundschaft‹ durch ›Guten Tag‹«.900 Auffällig ist noch, dass der sonst eher als politisch indifferent zu charakterisierende Schüler Klaus sich in dieser Englischstunde bereits als »verbissen« ideologisch indoktriniert zeigt; ohne freilich dadurch besonders aufzufallen, was Rückschlüsse auf alle Anwesenden zulässt. Als er auf das Bürgertum zu sprechen kommt, richtet er darüber »verächtlich und mit Pius’ Unwiderruflichkeit.«901 Neben der offensichtlichen Mimikry der politischen Agitationsweise des Rektors
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Entrüstung auszudrücken‹, und sich dadurch entweder ›wieder frei zu machen‹ oder den (zumindest gesellschaftlichen) ›Tod‹ vorzuziehen. Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79f. Der Name Elisabeth bedeutet »Gott ist Fülle«, oder besser »Mein Gott ist Vollkommenheit« (vgl. zur Bedeutung Erwin Kischel: Zwei ungleiche Gleiche. Uwe Johnsons Lisbeth Cresspahl und Ernst Barlachs Henny Wau, in: Johnson-Jahrbuch, 22/2015, S. 127–144, hier: S. 134). Die beiden Elisabeths, die hier aufeinander bezogen werden, die historische wie die gegenwärtige, repräsentieren Vitalität und Selbstvertrauen: Sie sind dem Leben zugewandt, ihr Habitus ist modern und kraftvoll, sie sind überdies für Kultur empfänglich, das macht sie attraktiv. Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 162. Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 163. Letzteres ist besonders pikant, war es doch der aufstrebende Siebmann, der zuvor »die allgemeine Einführung des Wortes ›Freundschaft‹ als Grussformel« durchsetzte (ebd., S. 159). Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 79.
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ist hier noch eine zweite Lesart möglich: Das in der DDR grundsätzlich negativ besetzte Begriffsfeld des ›Bürgers‹ erzeugt selbst bei einem politisch moderaten Schüler einen antrainierten ›Beißreflex‹, als könnte man nicht anders als abwertend von der bürgerlichen Klasse reden; und niemand stört sich daran, dass es so geschieht. Gerade darin offenbart sich nun eine pejorative Kultur der Herabsetzung, die bestenfalls auf Parolen und Oberflächlichkeit beruhen kann. Denn schließlich galt es, mit dem Aufbau des sozialistischen Staates die vorangegangene, bürgerlich geprägte, kapitalistische Gesellschaftsordnung abzulösen. Dass in der historisch-materialistischen Perspektive jedoch auch eine bürgerliche ›Klasse‹ durchaus begrüßenswert sei, indem sie nämlich die noch rückständigere Feudalordnung ablöste und damit überhaupt erst die Entwicklung eines Proletariats in einer kapitalistischen Gesellschaft ermöglicht habe, wird in der aktuellen Situation völlig ausgeblendet. Verächtlich über das englische Bürgertum des 16./17. Jahrhunderts zu sprechen bedeutet, die Voraussetzungen der eigenen Klasse zu verurteilen. So gesehen ist es mit der historischen Gesetzlichkeit, die den Sozialismus begründen soll, nicht allzu weit her. Da Johnson sich in seinem Studium gezwungenermaßen und nachweislich sowohl mit den Grundlagen des Marxismus-Leninismus wie auch dem englischen Bürgertum im 16. und 17. Jahrhundert befasst hat, kann davon ausgegangen werden, dass diese von ihm im Roman illustrierte Ahistorizität, dieser Mangel an historisch-politischer Selbstreflexion, gerade auch von den Vertretern einer vermeintlich wissenschaftlich begründeten Staatsideologie, als gezieltes Charakterisierungselement für seine Figuren eingesetzt wird. Aufschlussreich hinsichtlich dieses politisch aufgeladenen Sprechens ist ein Blick ins Archiv: In allen erhaltenen Manuskripten findet sich diese Englischstunde in ihren wesentlichen Zügen bereits ausgearbeitet, Schirmer als Quelle scheint überall durch. Für die letzte Fassung, die dritte in Leuchtenbergers Zählung und Vorlage für die Publikation, ist an gerade dieser Stelle eine bemerkenswerte Änderung gegenüber den vorangegangenen Fassungen zu konstatieren: So lautete in der zweiten Fassung (auch in ihren verschiedenen Ausfertigungen durch Johnson, mit nur marginalen Variationen) der ursprüngliche Satz: »Dies sprach Klaus verbissen und verächtlich, als sei man in einer Versammlung der FDJ.«902 Vor diesem Hintergrund werden insbesondere die provokativen Hardliner der FDJ, etwa Jürgen Petersen und Dieter Seevken, zu einem gewissen Teil als Agitatoren entlarvt. ›Zu einem gewissen Teil‹, weil sie angesichts ihres jugendlichen 902 Uwe Johnson: Ingrid, 2. Fassung, Typoskript, o. D., in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/000224, Mappe 1–4, hier: Mappe 1, Bl. 49r. Die entsprechenden Parallelstellen finden sich dort in: UJA/H/000226, Mappe 5, Bl. 51r; UJA/H/000231, Mappe 2, Bl. 3v; UJA/H/000240, Mappe 7, Bl. 15r. Zur Zählung der Fassungen vgl. Leuchtenberger, »Wer erzählt, muß an alles denken.« (Anm. 2), S. 62.
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Alters und ihrer manipulierbaren Stellung als Schüler zu genau solch einem oberflächlichen Gebaren angehalten werden: sie verkörpern Gewissheiten in einem Maß, das sie gerade noch zur (durchschaubaren) politischen Parteinahme anstiftet, sie jedoch nicht veranlasst, die sozialistische Ideologie selbst zur Disposition und ihre eigene ›Parteilichkeit‹ kritisch infrage zu stellen. Für Jürgen, dessen politische ›Gewissheiten‹ durch die Ereignisfolge auf die Probe gestellt werden, ist außerdem festzuhalten, dass er den Parolen letztendlich nicht blindlings folgt und schließlich sogar in einem späteren Gespräch mit Siebmann fähig ist, »den verächtlichen und abschätzigen Sinn, in dem Pius ›bürgerlich‹ gebrauchte, in seinem Ton« zu zitieren.903 Johnsons Roman fällt in die Aufbauphase der DDR. Das programmatische Ideal in Kunst und Kultur war seinerzeit das klare Bekenntnis zum Sozialismus als historischer Notwendigkeit. Jede Form bürgerlicher Ambivalenz und politischer Ambiguität gegenüber den neuen gesellschaftlichen Kräften galt schon als Revisionismus. Während Johnson an Ingrid Babendererde schrieb, erschienen in der DDR in rascher Folge Aufbauromane nach sowjetischem Vorbild. Es handelte sich dabei um Manifestationen propagandistischer Bekenntnisliteratur, die alle Aspekte des gesellschaftlichen Umbruchs thematisierten: Kollektivierung, Industrialisierung, Arbeitsorganisation.904 Darstellungsziel dieser Aufbauliteratur war die sozialistische Umgestaltung der Welt. Protagonisten waren häufig Betriebsarbeiter im marxistischen Sinne, Bauern der LPGs, Wortführer der Parteirhetorik – am Ende stand stets eine Art fügsamer Einsicht in die Richtigkeit des neuen Weges. Ein politisch fragwürdiges »Verpflichtungswesen«, wie Eduard Claudius es nannte, löschte »künstlerische Kreativität zugunsten gleichsam maschinell gefertigter Literatur« aus.905 Vor diesem Hintergrund steht zu vermuten, dass Johnson mit seinem differenzierenden Blick auf unglückliche Konfliktlagen in der Frühphase der DDR ein ›gefährliches Spiel mit dem Feuer‹ gespielt hat. Denn wie leicht galt man als ›Abweichler‹, ›Kompromissler‹, ›Versöhnler‹, wenn man Verständnis zeigte für Gewissensproben, Skepsis und Reserviertheit? Johnson wollte diesen Roman in der DDR veröffentlichen. Seine Figuren sind dabei geeignet, potenziellen Lesern einen Spiegel vorzuhalten, oder – und das ist 903 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 223. 904 Zu nennen wären etwa August Hilds Die aus dem Schatten treten (1952), Maria Langners Stahl (1952), Karl Mundstocks Helle Nächte (1952), Werner Reinowskis Vom Weizen fällt die Spreu (1952), Benno Voelkners Die Tage werden heller (1952), Jurij Breˇzans 52 Wochen sind ein Jahr (1953), Hans Lorbeers Die Sieben ist eine gute Zahl (1953), Werner Reinowskis Diese Welt muß unser sein (1953), Erwin Strittmatters Tinko (1954), Harry Thürks Die Herren des Salzes (1956). 905 Vgl. dazu Matthias Aumüller: Minimalistische Poetik. Zur Ausdifferenzierung des Aufbausystems in der Romanliteratur der frühen DDR, Münster: Mentis 2015, S. 213.
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das Raffinierte an dieser Textur – eben nicht. Eine im Tenor konstruktive kritische Haltung gegenüber dem eingeschlagenen Weg und dem aktuellen Zustand der DDR ist dem Sujet leicht abzulesen, schon sie dürfte für die Ablehnungen des Romans durch Verlage der DDR verantwortlich gewesen sein. Wie umfangreich und mit welcher Detailfülle Johnson diese kritisch-konstruktive Haltung aber seinem Text eingeschrieben hat, wird erst durch eine gründliche und respektvolle Analyse deutlich, die den Weg vom Otway-Referat her rekonstruiert. Der Roman lässt dem Leser die Wahl – das Manuskript lässt auch einem Lektor die Wahl, den Bezug auf den 17. Juni so vage zu finden, dass er nicht zu bemerken war und also ›durchschlüpfen‹ konnte. Oder er lässt einem anderen Lektor die Wahl, den Bezug als so überdeutlich zu empfinden, dass er dem Autor am liebsten eine »Gehirnwäsche« verpassen möchte.906 Insbesondere der Untertitel – der auch eine »Reifeprüfung für Leser«907 bedeutet – legt von Beginn an diese Doppelspur der wörtlichen und übertragenen Bedeutung, die sich nicht nur auf Wörter, sondern auch auf die Handlungsweisen der Figuren, auf ihre Redestrategien, auf Konstellationen, vor allem Zeitbezüge usw. beziehen lässt. So, wie schon Mayers Student lesen gelernt hat, indem er Schirmer, und auch Otway, auf seine unmittelbare Lebenssituation bezog, so solle im ›Leseland DDR‹ auch jeder kundige, weltanschaulich orientierte, politisch wache Rezipient von Literatur lesen gelernt haben. In der Rückschau auf die Verlagsgutachten, die Johnson für seinen Roman erhielt, ist weder in Ost noch West erkennbar, ob die Lektoren diese Spur in diese vielleicht politisch heikelste Krisensituation der frühen DDR bemerkt haben und bemerken wollten. Denn: Wenn sie sie bemerkt und bewusst nicht artikuliert haben, so vielleicht in der Absicht, sich selbst und den Autor zu schützen. Vielleicht sogar in der Hoffnung, das Buch realisieren zu können. Im Spannungsfeld Herbert Nachbar – Max Schroeder ließe sich argumentieren, dass der eine (Nachbar) Johnsons Potenzial erkannt hat, ohne die Tragweite dessen ermessen zu können, was an Sprengstoff darin verborgen lag, während der andere (Schroeder) den Sprengstoff, die »Bombe« spürte, den Johnsons Erzählung barg, ohne jedoch bestimmt am Typoskript festmachen zu können, wo genau das vage Unbehagen (der noch unbegründete Verdacht) des professionellen Lesers durch das riskante Vexierspiel des angehenden Autors die manifeste Grundlage erhielt. Welchen Eventualitäten sich ein angehender Autor aussetzte, wenn er sich überhaupt getraute, ein Manuskript einzureichen, kann man hier lebensnah erfahren – dank der recht guten Überlieferungslage der Gutachten, der Rückschau Johnsons in den Begleitumständen, auch dank der überlieferten Studienarbeiten. Nicht zuletzt zeitigt die Sensibilität, deren sich die Johnson-Forschung 906 Max Schroeder: Gutachten, Faksimile in: »Die Katze Erinnerung« (Anm. 3), S. 63. 907 Vgl. Hagestedt, Reifeprüfung für Leser (Anm. 868).
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mittlerweile befleißigt, solche Ergebnisse: Da man weiß, wie ›reif‹ die poetische ›Reifeprüfung‹ Johnsons Mitte der 1950er Jahre bereits war, sodass sein (verhinderter) Erstling tatsächlich – wenn auch erst Jahre später – in einem renommierten Verlag mit einem prominenten Nachwort erscheinen konnte, ist man geradezu genötigt, äußerste Umsicht bei der Ermittlung der von Johnson angelegten Lesarten walten zu lassen. Da man auch um die Umstände der Rezeption von Literatur unter den Vorzeichen einer Diktatur weiß, sodass hier neben den offenbaren auch (und gerade sie) die versteckten und verdeckten Schreibweisen zu gewärtigen, zu erkennen und zu interpretieren sind, muss es den Betrachter wunder nehmen, dass diese wichtige Spur des Romans in die DDR-Wirklichkeit des ›Aufstandes‹ vom 17. Juni nicht schon längst aufgenommen und verfolgt worden ist. Zumal sie, diese essentiell wichtige Spur, im Spannungsfeld von Affirmation (gegenüber einem idealiter zu entwickelnden Sozialismus, wie er in der DDR gedacht wurde, aber nicht realisiert war) und Subversion nicht anders verläuft als die anderen vergleichbaren Spuren dieser Art im Roman: das Kleidungsverhalten der Eva Mau, die Unterrichtspraxis von Ernst Sedenbohm, das Spannungsverhältnis von FDJ und Junger Gemeinde (die, teils, ihre Orientierung haben, aber sie nicht gegen den jeweils anderen und auch nicht gegen den Staat gewendet wissen wollen). Denn diese jungen Leute, die hier zur Rede stehen, bekommen die Alternative ›Gehen oder Bleiben‹ aufgezwungen – sie selbst würden einen dritten Weg bevorzugen und der (vielleicht naiven) Vorstellung folgen, dass sich der Anspruch der politischen Klasse (wie er sich etwa in der Verfassung der DDR widerspiegeln mag) mit dem legitimen Interesse demokratischer Teilhabe vereinbaren ließe. Der Verlauf dieses Kampfes ist immer nur resümiert worden. Die Argumente von Johnsons Lesern, seinen Lektoren wie seinen Freunden und Kollegen, führten nie bis in die Details. Die einen gerierten sich wie die »Kirchenväter« (das Beispiel von Lektor Schroeder), die alle ›devianten‹ »Triebkräfte« aus der Literatur der DDR fernzuhalten suchten, und die als Folge ihrer ideologischen »Entrüstung« vor allem »Gehirnwäsche« predigten – jede Abweichung wurde von ihnen quasi dem »Heidentum« gleichgestellt und füglich nicht nur mit Argumenten bekämpft. Die anderen, die (potenziell) Reformwilligen (das Beispiel Herbert Nachbars), hofften vielleicht auf die »Auflösung« des mittelalterlich anmutenden Zwangssystems von Zensur und Vorzensur. Auf eine revolutionäre »Umwälzung«, die dem Auftreten des Klassenfeindes zuzurechnen wäre (etwa den bei Hans Mayer und anderen erwähnten »unverkennbar westlichen Fahrrädern«908), rechnete 908 Mayer, Deutscher auf Widerruf II (Anm. 81), S. 50. Mayers Erinnerung, »die er 25 Jahre nach seiner Flucht in die Bundesrepublik zu Papier brachte, entsprach der offiziellen Linie der SED, die von westlichen Saboteuren und Operationen bundesdeutscher und amerikanischer
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ernstlich vermutlich niemand: Solche Vorstellungen ähneln jenen Verschwörungstheorien, die komplexe soziale und politische Gemengelagen auf die einfache Formel zu bringen suchen. Wenngleich durch das Amt Blank und die Kasernierte Volkspolizei einerseits, die Stalinnote oder Harichs Streitschrift Plattform für den besonderen deutschen Weg zum Sozialismus andererseits stetig neue Fakten geschaffen und neue Gedankenexperimente in die Welt gesetzt wurden, blieb doch das »Eingreifen der weltlichen Gewalt« die Ultima Ratio in diesem Kräftespiel: die Sowjetunion hielt ihre »schützende Hand« über die Genossen von Berlin: sie sollten weiter ›spielen dürfen‹, als Marionetten Moskaus, um ›spielen zu können‹.
7.8
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Lesen kann eine heikle Angelegenheit sein. Über Literatur zu sprechen, ist unter Umständen gefährlich. Versierte Leser, etwa Literaturwissenschaftler, hüten sich heute in aller Regel vor absoluten Urteilen, die zu treffen wären, insbesondere dann, wenn es um den Bedeutungshorizont eines literarischen Werks insgesamt geht. Ganz gleich, welche Methode der Interpretation zum Einsatz kommt, es bleibt stets ein Rest, der inhaltlich, ästhetisch, weltanschaulich, formal nie ganz zu greifen und in erklärende Worte zu fassen ist: Zur Artifizialität aller Kunst gehört ganz wesentlich ihre »Verstehensschwierigkeit«.909 Diese vermeintliche Vagheit und Opazität ist folglich eine der zentralen Eigenschaften von Literatur, sie bewahrt sie bestenfalls davor, ausgedeutet, fertig und zu Ende interpretiert zu sein, sodass alles, was darüber gesagt werden könnte und sollte, schon gesagt worden sein kann. Ein Text allein konstituiert keine Bedeutung, erst im Zusammenspiel mit einem Leser kann das geschehen. Text wie Leser begegnen sich unter unterschiedlichen Voraussetzungen, sind auf die eine oder andere Weise stets Ergebnis bzw. Akteur der sie jeweils bestimmenden Bedingungen, seien sie sozial, historisch, politisch, ideologisch oder intellektuell. Ein umsichtiger, verantwortungsvoller Interpret ist sich dieser Tatsache für beide Seiten bewusst, weist darauf hin, dass er seine individuelle Interpretation anbietet, und ist darum bemüht, sie seinem Publikum so plausibel wie möglich zu machen, wissend, dass auch anderes denkbar und möglich wäre. Der Leser muss sich entscheiden, was er in einem Text liest; wenigstens zu einem gewissen Grad, denn die Wahl und Auswahl der Möglichkeiten hängt zu einem wesentlichen Teil von ihm ab, etwa Geheimdienste ausging« (Hendrik Niether: Leipziger Juden und die DDR. Eine Existenzerfahrung im Kalten Krieg, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 134). 909 So jedenfalls argumentiert Niklas Luhmann in: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 70. Das »Kunstwerk«, eben auch das literarische, wird »auf Staunen hin produziert« (ebd., S. 71).
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seinem Vorwissen, seinen Analysefähig- und -fertigkeiten oder seinem Deutungsgeschick. Am Ende steht bestenfalls ein kohärentes und fundiertes Bild einer der zahllosen vom Text angebotenen Deutungsaspekte. Dabei soll hier nicht unterstellt werden, dass literarische Texte eine beliebige Menge solcher Möglichkeiten enthielten, im Gegenteil. Der Text bildet als stabiles Fundament die Grundlage für eine beliebige Menge von Interpretationen, die Zeit erhöht ihre Zahl. Im Verlauf der Zeit haben bestimmte Deutungen Konjunktur, werden von anderen abgelöst und so selbst Teil der Geschichte eines Texts wie der Geschichte seiner Leser. Gleichwohl verfestigen sich Lesarten, die sich rezeptionsgeschichtlich bewährt haben. Ein Beispiel dafür liegt mit Johnsons Otway-Referat vor, in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist es ein unverfälschtes zeithistorisches Dokument eines Literaturstudenten in den frühen Jahren der DDR. Wissenschaftsgeschichtlich ist es nicht nur aufgrund seines spezifischen äußeren Entstehungskontextes spannend, sondern auch hinsichtlich der daran zu beobachtenden Art, (Literatur-) Wissenschaft zu betreiben. Zumal diese Vorgehensweise von dem seinerzeit zuständigen Fachmann, Hans Mayer, für ›sehr gut‹ befunden wurde. Zum anderen bietet der Vortrag Einblick in Johnsons individuellen Umgang mit Literatur, sowohl hinsichtlich Auswahl und Rezeption seiner Quellen für das Verfassen eines eigenen Textes als auch hinsichtlich der Analyse und Bewertung sowie schließlich der Formulierung des eigenen Standpunkts; und er gewährt dabei auch Einblick in die vermittels seines Textes öffentlich explizit wie implizit eingenommene Haltung, die alle ›Begleitumstände‹ der gegebenen Kommunikationssituation zu berücksichtigen wusste. Und darüber hinaus wird drittens hier ein früher Prozess literarischer Verarbeitung und funktionaler (Mehrfach-) Verwertung deutlich, die der angehende Autor produktiv in die Konstitution des eigenen Werks einfließen lässt. Dieses Referat ist somit eine der ersten Gelegenheiten, bei denen man Uwe Johnson bei der Arbeit über die Schulter schauen kann. Es handelt sich nicht um eine Klausur, in der angelerntes Wissen abgefragt wird, sondern um die selbständige Erschließung einer komplexen Thematik auf Grundlage angelesener Befunde sowie eigener Recherchen. Ob sich Johnson das Thema selbst wählt oder es ihm durch Hans Mayer zugeteilt wurde, lässt sich nicht mehr zweifelsfrei feststellen. Und bei allen sonstigen Zweifeln an Mayers Erinnerungen, so spricht aus ihnen im Kern doch glaubwürdig – und sei es im Sinne einer Funktionalisierung zur selbst erlebten Literaturgeschichte – Überraschung und Begeisterung über den Auftritt seines Studenten. Gefühle, die als Beleg dafür gewertet werden können, dass Johnson in hohem Maß eigenständig und kreativ diese wissenschaftliche Übung angegangen ist und bewältigt hat. Johnson hat sich seiner Aufgabe mit Enthusiasmus und Geschick gestellt, sein umfängliches Quellenstudium geht weit über das zu erwartende Maß hinaus. Zielsicher findet und
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präsentiert er wissenschaftliche Studien und Quellen zur Sozial- und Geistesgeschichte Englands, setzt durch seine Auswahl einerseits Schwerpunkte, wie er sich andererseits gerade dadurch ein gewisses Maß kritischer Haltung bewahrt. Dabei erkennt er in der komplexen Gemengelage bürgerlich-aristokratischer Konflikte, auch in ihren Folgen für Schriftstellerbiographien und Literatur, Parallelen zu den Ereignissen und Entwicklungen seiner unmittelbaren Gegenwart. Johnson skizziert das soziale, wirtschaftliche und kulturell-geistige Panorama eines vorrevolutionären Englands, das eine Revolution wagt und das Experiment einer Republik versucht. An diesem Punkt stehen auch Johnsons Zeitgenossen wenige Jahre vor seinem Referat, auch sie versuchen ein Experiment, das einer sozialistischen, demokratischen Republik. Das englische Experiment scheitert schließlich, die alten Eliten kehren in ihre Paläste zurück. Und auch das Experiment DDR drohte am 17. Juni 1953 zu scheitern, oder war schon gescheitert, und der Unmut und die Unzufriedenheit der Bevölkerung waren durch die sowjetischen Panzer keineswegs beendet, bestenfalls unterdrückt. Die Machtprobe der Juni-Revolte führte letztendlich nur zu einer zeitweiligen Kurskorrektur der SED-Führung, bis sie sich ihrer Macht sicherer war, bis die DDR letztendlich ihre Bürger einsperren und engmaschig überwachen würde. Dass es soweit kommen könnte, war zum Zeitpunkt seines Referats noch nicht unbedingt zu erahnen, aber dass ›etwas faul war im Staate DDR‹, konnte jeder wache Zeitgenosse täglich spüren. Und der Literaturstudent stieß bei seinen historisch-philologischen Studien auf eine Zeit und ein Drama, die ihm in ihren Konstellationen und Strukturen bemerkenswert aktuell vorkommen mussten. Thomas Otway hat seinen Platz in der englischen Literaturgeschichte gefunden. Für eine marxistische Literaturwissenschaft bietet auch und gerade Venice Preserved Anknüpfungspunkte im Sinne einer produktiven, ideologisch präjudizierten Interpretation. Otways anderes populäres Stück, The Orphan, mit dem er seine ersten großen Erfolge auf der Londoner Bühne feiern konnte, taugt mit seinem Familiendrama um eine Dreiecks-Liebesgeschichte vermutlich weniger für Zwecke dieser Art Literaturgeschichtsschreibung. Bei Venice Preserved fügen sich Autor und Drama besser in das auch von Hans Mayer proklamierte Ziel, gegen den sogenannten bürgerlichen Historismus zu wirken, der »das Bild der Literaturgeschichte verfälscht« habe, nicht zuletzt, um »die lebendigsten Gestalten der Literatur der Vergangenheit neu zu entdecken und neu zu werten.«910 In diesem Sinne kann Venice Preserved als ein Symptom seiner Zeit, der Restauration der Monarchie und Unterdrückung des Bürgertums, dem Studienkreis um Hans Mayer und der jungen DDR historisches Anschauungsmaterial 910 rt.: Das echte Kulturerbe muß erhalten bleiben. Prof. Mayer sprach – Klassische Meisterwerke geben Wertmaßstäbe, in: Neue Zeit, 24. 2. 1951, S. 3f., hier: S. 3.
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und gleichermaßen Warnung über die Folgen einer gescheiterten Revolution sein. Diese Warnung kann nun dank Johnsons Darstellung in zwei Richtungen verstanden werden. Einerseits liegt sie ganz auf der Parteilinie, indem Literaturgeschichte als ein Ausdruck von Gesellschaftsgeschichte verstanden wird. Das Beispiel John Milton sticht dabei hervor, in ihm vereinigen sich sozusagen die Tugenden historisch-materialistischer Literaturgeschichtsschreibung. Politisch war er aktiv am Zeitgeschehen in einem ›fortschrittlichen‹ Sinn beteiligt, und wirkte in gleicher Weise literarisch auch nach der Konterrevolution weiter. Das Gegenstück dazu ist in dieser Lesart Thomas Otway, der sich nicht zu seiner bürgerlichen Herkunft bekannt habe, sich den literarischen Zwängen seiner Zeit unterwarf, indem er ein dramatisches ›Schema‹ bediente, das sich in den Dienst der Aristokratie gestellt sah. Andererseits, deutlich versteckter und nur in Andeutungen, offeriert Johnson die Möglichkeit, seine breit entfaltete (literar-) historische Betrachtung als einen Prüfstein für die Gegenwart zu lesen. Gelegenheit dazu bietet etwa die augenfällige Parallelität von puritanischem und sozialistischem Literaturverständnis, oder auch Pierres Klage über eine vom Volk geduldete Willkürherrschaft. Und wenn Johnson sagt, das Schema des Dramas sei sein ›Übel‹, an dem die Revolution letztendlich scheitern müsse, dann bedeutet dies, dass es vor allem die Zeitumstände und Kräfteverhältnisse sind, die diese ›gerechte‹ Revolution verhindern. Denn das tradierte Machtgefüge und damit auch die literarische Meinungshoheit waren noch stark genug, um eine erfolgreiche Revolution, und sei sie eben ›nur‹ literarisch, zu verhindern. In diesem Sinne kann Johnsons Referat als eine Parabel auf die Literatur- und Kulturpolitik der DDR gelesen werden, die zu dieser Zeit von ihren Künstlern einen kruden sozialistischen Realismus einforderte, und die dabei andere ästhetische Konzepte unter dem Schlagwort des Formalismus offensiv bekämpfte. Hans Mayer dürfte erkannt und geschätzt haben, welchen Parforceritt Johnson mit seinem Referat zurückgelegt hat. Dessen Vorstellung lieferte zweifellos eine Deutung und Adaption des alten englischen Dramas, wie es die DDR-Literaturwissenschaft sich seinerzeit nur wünschen konnte. Mit literarischen Referenzen, von Diderot bis Fontane, gibt sich Johnson überdies als überaus belesener und fachlich versierter Student zu erkennen. Und er bedeutet wenigstens seinem Lehrer, dass man aus dieser Literaturgeschichte mehr für die Gegenwart lernen kann, als es seitens der Kulturpolitik erwünscht war. Um Literatur ging es in diesem Seminar der Weltliteratur tatsächlich nur am Rande, ganz so, wie es Hans Mayer und mit ihm das Gros der DDR-Philologie forderten. Man wollte aus der Literaturgeschichte etwas für die Gegenwart lernen, aber nur unter der Prämisse, dass diese Gegenwart eine sozialistische wäre. Was dieser Perspektivierung nicht diente, wurde nicht behandelt oder nicht verstanden. An Johnsons Referat wird diese Problematik ganz deutlich. Er legt das
Prägende Vielstimmigkeit – Resümee des Otway-Referats
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Schema des englischen Restaurationsdramas dar, befindet es aber für ›merkwürdig‹, da sich daraus nicht die ›richtigen‹ Schlüsse für seine Gegenwart ziehen ließen. In diesem Erfüllen der philologisch-historischen Anforderungen mag eine weitere Ebene einer kritischen Haltung verborgen sein. Johnson exerziert die geltende Methode bis an ihre Grenzen und zeigt sie damit auf, die sozialistische Wissenschaft vermag diese Literatur nicht recht zu begreifen. Seine Recherchen für dieses Referat haben Johnson die Parallelitäten zwischen puritanischem Theaterkampf und marxistisch-leninistischer Kulturpolitik deutlicher vor Augen geführt, und zwar in weit größerem Maße, als das in seinem Vortrag vorderhand explizit wird. Und so schlägt sich Walter Schirmers eindringliche Erörterung dieses Konflikts in Johnsons Roman Ingrid Babendererde in der Vorführung eben dieser Konvergenz nieder. An dieser Stelle kann die Werkgenese bis auf die Wortebene nachverfolgt werden, die im Entstehen begriffene historisch-kritische Edition seiner Werke wird das berücksichtigen müssen.911 Einen weiteren Niederschlag findet Johnsons Referat auch in seinem zweiten Roman Mutmassungen über Jakob. Dabei ist Vorsicht geboten, denn es soll an dieser Stelle nicht die Biographie des Autors mit seinem Werk vermengt werden. Der Transposition des Otway-Referats in den Mutmassungen aber liegt zweifellos eine Reminiszenz Johnsons an seine Studienzeit zugrunde. Bernd Neumann hat bereits darauf hingewiesen und den entsprechenden Passus ausführlich zitiert.912 Gemeint ist jene Szene, in der Anglistik-Assistent Jonas Blach dem Referat eines seiner Studenten über die Shakespeare-Zeit lauschen muss. Wieviel von dieser Situation Johnsons eigener Erfahrung bei Mayer entspricht, sei dahingestellt. Nach dem Studium von Johnsons Vortrag und seiner Quellen mag folgendes Zitat aber begründet als selbstkritische Retrospektive Johnsons auf sein eigenes Referat gelesen werden: »deutlich waren die Nahtstellen zwischen den benutzten Büchern abzuhören«.913 Diese Nahtstellen liegen nun offen. Aus diesen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, dass es sich bei Johnsons Otway-Referat nicht um ein eigenständiges Werk handelt, sondern um die Schülerarbeit eines Studenten, die keinen eigenen ›Hof‹ ausbildet, vielmehr auf andere Werke bezogen bleibt und sich dabei diskursiv auf eingeforderte Rezeptionsweisen bezieht.914 Dies zu zeigen, war der Zweck dieser zugegeben etwas mühseligen Verfahrensweise des Stellenvergleichs. Dabei geht es hier nicht um Einflussforschung – denn die Einflüsse sind evident. Es geht vielmehr darum, 911 Wie auch eine kritische Überprüfung der Transkriptionen Neumanns angeraten ist, wie sie hier begonnen wurde. 912 Vgl. Neumann, Philologie und Biographie (Anm. 65), S. 154–156, und Johnson, Mutmassungen über Jakob (Anm. 446), S. 83f. 913 Johnson, Mutmassungen über Jakob (Anm. 446), S. 83. 914 Vgl. hier das Kapitel 3 Überlegungen zum Werkbegriff.
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im weitgehend unoriginellen Gedankengang Johnsons, der sich argumentationsweise eng an seine Quellen hält und sie paraphrasiert, gewisse Eigenheiten (auch) aufzuzeigen, die schon den späteren Schriftsteller bzw. dessen Arbeitsweise annoncieren, die immer eng auf Quellen und Bezugstexte bezogen bleiben wird; dann aber in einer Weise, die der eigenen Werkstiftung förderlich ist, sie begleitet und unterstützt, statt sie zu hemmen, wie das hier noch der Fall gewesen zu sein scheint.
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Schreibend Leben. Johnsons Kafka-Manuskript
Mai 1955 Am 13. Mai 1969 fragt Umstandskrämer Johnson seinen ehemaligen Lehrer Hans Mayer, fast noch im ehrfürchtigen Ton des einstigen Studenten, »um Erlaubnis zu einer Frage«, nämlich der Frage nach der Herkunft eines Zitats: »Hofmannsthal, oder Kafka, haben einmal die Qualität einer Prosa (vielleicht Kafka die Hofmannsthals) lobend beschrieben mit dem Vergleich | wie der Anblick feuchter (roter) Steine in einem (weissen) Hausflur.«915 Professor Mayer – sein Gegenüber seit einigen Briefen schon mit dem Vornamen anredend – kann leider nicht helfen, auch ein von Mayer konsultierter Hofmannsthal-Experte habe versagt. So bleibt Johnson nur, selbst »nach dem Kafka-Zitat zu graben« und es schließlich in Max Brods Kafka-Biographie zu finden.916 Seine erste Vermutung, Kafka habe damit Hofmannsthal loben wollen, bestätigt sich. Johnson meldet seinen Erfolg Hans Mayer: »Als Beispiel für das, was ihm gefiel, zitierte Kafka einen Passus von Hofmannsthal: ›Der Geruch nasser Steine in einem Hausflur‹.«917 Johnson liefert auch die korrekte Quellenangabe, nämlich »Max Brod, ›Franz Kafka‹, Frankfurt, 3-1954, p. 59«.918 An dieser Stelle erzählt Brod von einer Kontroverse mit Kafka über moderne Literatur in der frühen Phase ihrer Bekanntschaft. Brods Beispiel der Prosa Gustav Meyrinks, »der Schmetterlinge mit großen, aufgeschlagenen Zauberbüchern verglich«, wies Kafka als gekünstelt zurück: Kafka rümpfte die Nase. Derartiges erschien ihm weit hergeholt und allzu aufdringlich; was effektvoll und intellektuell, künstlich erdacht anmutete, verwarf er […]. In ihm war etwas (und das liebte er auch an andern) von der »leise redenden Stimme der Natur«, die Goethe ansprach. Als Gegenbeispiel, als das, was ihm gefiel, zitierte Kafka einen Passus 915 Uwe Johnson an Hans Mayer, 13. 5. 1969, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/250884. 916 Uwe Johnson an Hans Mayer, 6. 6. 1969, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/250886. 917 Johnson an Mayer, 6. 6. 1969 (Anm. 916). 918 Johnson an Mayer, 6. 6. 1969 (Anm. 916).
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Schreibend Leben. Johnsons Kafka-Manuskript
von Hofmannsthal: »Der Geruch nasser Steine in einem Hausflur«. Und er schwieg lange, setzte nichts hinzu, als müsse dieses Heimliche, Unscheinbare für sich selbst sprechen.919
Johnson hat sich dieses Beispiels und auch der beteiligten Autoren erinnert, und er fragt nicht irgendjemanden danach, sondern eben gezielt den ›Weltliteratur‹Professor aus seiner Leipziger Studienzeit, den es mittlerweile nach Hannover verschlagen hat. Bei ihm hatte Johnson im Frühjahr 1955 sowohl die Vorlesung als auch das dazugehörige Seminar über die Deutsche Literatur im Kaiserreich besucht und dabei auch von Kafka gehört.920 Der angehende Schriftsteller hatte damals ein Referat über das Leben des Prager Schriftstellers angefertigt (und vielleicht auch gehalten). Es steht zu vermuten, dass er als Grundlage für seine Ausfertigung die einzige seinerzeit verfügbare Biographie verwendet hat – von ihr dürfte seine teils dunkle, teils noch recht genaue Erinnerung im Jahre 1969 herrühren. Und überdies, so hat Uwe Neumann bei seiner intertextuellen Spurensuche herausgefunden, schlägt sich gerade dieses Kafka-Zitat auch im Roman Ingrid Babendererde nieder, an dem Johnson damals ›nebenher‹ (oder ›überwiegend‹) geschrieben hat: »Oft konnte Ingrid durch den ganzen Flur sehen: einen weissdämmerigen Gang über rote Backsteine.«921 Dieser Satz, so Neumann, korrespondiere »in seinen Einzelelementen mit der Erinnerung, wie sie Johnson in seinem Brief an Mayer formuliert, weniger mit der von Max Brod wiedergegebenen Reaktion von Kafka.«922 In 919 Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie, 3., erweiterte Auflage, Berlin: Fischer 1954, S. 59. Kafkas Erinnerung scheint ein wenig getrübt, zumindest haben weder Brod für seine Biographie noch Johnson für seinen Hinweis an Mayer darauf verwiesen, dass Hofmannsthal nicht einen Hausflur, sondern eine Hausflur schreibt. So jedenfalls ist es in seinem literarischen Gespräch über Gedichte nachzulesen, einem »der zentralen und zugleich einer der vertracktesten poetologischen Texte Hofmannsthals« (Claudia Bamberg: »Das Gespräch über Gedichte« (1904), in: Hofmannsthal-Handbuch (Anm. 354), S. 322–324, hier: S. 322); worin den Steinen auch weniger Wasser anhaftet als in Brods Kafka-Erinnerung: »Sind nicht die Gefühle, die Halbgefühle, alle die geheimsten und tiefsten Zustände unseres Inneren in der seltsamsten Weise mit einer Landschaft verflochten, mit einer Jahreszeit, mit einer Beschaffenheit der Luft, mit einem Hauch? Eine gewisse Bewegung, mit der du von einem hohen Wagen abspringst; eine schwüle sternlose Sommernacht; der Geruch feuchter [sic] Steine in einer Hausflur; das Gefühl eisigen Wassers, das aus einem Laufbrunnen über deine Hände sprüht: an ein paar tausend solcher Erdendinge ist dein ganzer innerer Besitz geknüpft, alle deine Aufschwünge, alle deine Sehnsucht, alle deine Trunkenheiten« (Hugo von Hofmannsthal: Das Gespräch über Gedichte, in: ders., Gesammelte Werke in zehn Bänden, Bd. 7: Erzählungen, Erfundene Gespräche und Briefe, Reisen, hg. von Bernd Schoeller, Frankfurt am Main: S. Fischer 1986, S. 495–509, hier: S. 497). 920 Vgl. Johnson, Studienbuch (Anm. 10), Bl. 27v. 921 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 38. 922 Uwe Neumann: Die göttlichen Einzelheiten. Zu Uwe Johnsons Poetik des Details, in: Johnson-Jahrbuch, 25/2018, S. 107–126, hier: S. 112. Woran genau diese Quelle »ersichtlich« wird, bleibt Neumann allerdings schuldig.
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Neumanns Lesart überlagern sich also die Erinnerung an das eigene Werk wie dessen intertextuelle Anregung durch Brod beziehungsweise Hofmannsthal vermittels Kafka. Als weiteres Indiz spricht Neumann von der »kafkaesken Atmosphäre«, die in diesem Kapitel herrsche.923 Ein wohlfeiles Argument, und manches mag dafürsprechen. Für die Erörterung von Johnsons Kafka-Referat ist nun allerdings folgender Befund Neumanns von zentraler Bedeutung: »Aus dem Referat wird ersichtlich, dass Johnson als maßgebliche Quelle die Biografie von Max Brod verwendet hat.«924 Neumanns Namensvetter Bernd spekulierte noch auf drei mögliche Vorlagen: neben Brod kämen auch Walter Benjamin oder der mit Kafka und Brod befreundete Pavel Eisner in Frage. Konkret sind damit Benjamins Essay Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages und Eisners Ausführungen über Franz Kafka and Prague gemeint.925 Beides ist unwahrscheinlich: Bernd Neumann ist sich seiner Sache selbst nicht so ganz sicher, wenn er einerseits vermutet, dass Johnson die Benjamin-Edition »wahrscheinlich noch rechtzeitig genug für sein Kafka-Referat« erhalten habe, andererseits aber einschränkt, »diese Frage [sei] heute nicht mehr mit Sicherheit zu entscheiden.«926 Von heute aus besehen lag weder Benjamins Kafka-Essay »seit dem Frühjahr 1955 in dessen Gesammelten Schriften vor«, sie erschienen erst im Herbstprogramm des Suhrkamp Verlags, noch lässt sich Neumanns Behauptung belegen, derzufolge Johnson diese Schriften »beim Verlagshaus Suhrkamp bestellt und erhalten« habe.927 Und wenig triftig ist auch sein anderer Hinweis, denn wie sollte ein Leipziger Student an die New Yorker Monographie Eisners gelangt sein, die aufgrund ihres englischen Idioms nicht unter den Sammlungsauftrag der Deutschen Bücherei fiel? Wichtiger ist jedoch etwas Anderes: Nämlich die Frage, wie hier Erinnerungsmomente der Moderne abgerufen werden. Bei Hofmannsthal ist es der Geruchssinn, der an den inzwischen sprichwörtlich gewordenen ›Madeleine923 Neumann, Die göttlichen Einzelheiten (Anm. 922), S. 112. 924 Neumann, Die göttlichen Einzelheiten (Anm. 922), S. 112. 925 Vgl. Neumann, Philologie und Biographie (Anm. 65), S. 169f.; Walter Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, in: ders., Schriften, Bd. 2, hg. von Theodor W. Adorno und Gretel Adorno, Frankfurt am Main: 1955, S. 196–228 und Pavel Eisner: Franz Kafka and Prague, New York: Arts Inc. 1950. 926 Neumann, Philologie und Biographie (Anm. 65), S. 169. 927 Neumann, Philologie und Biographie (Anm. 65), S. 169 [Hervorh. im Original]. Eine Ankündigung von Benjamins Schriften für den Herbst findet sich etwa hier: N. N.: Aus der Herbstproduktion der deutschen Verlage, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 7. 1955, S. 10. Und erst im Frühjahr 1956 erscheint dort eine Besprechung dieser Ausgabe, vgl. Karl August Horst: Kritische Ideenbeschwörung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31. 3. 1956, S. BuZ 7. Wiewohl sich die zweibändige Benjamin-Edition von 1955 in Johnsons Bibliothek befindet (vgl. UJA BP 00239 und UJA BP 00240), konnte im Rahmen dieser Arbeit kein Hinweis darauf gefunden werden, wann und wie Johnson sie erhalten hat.
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Effekt‹ von Prousts Recherche erinnert. Das synästhetische Bild Hofmannsthals hat Kafka eingeleuchtet, das hat er als »Gegenbeispiel« gegen Meyrinks blumigüberfrachteten Vergleich in Stellung gebracht. Bei Johnson hingegen ist es eine (primär) visuelle Spur, die erinnert wird; aus dem Geruchs- wird der Sehsinn: dem haptisch-visuell olfaktorisch Nassen bei Kafka (bzw. Hofmannsthal) entspricht das ›Weissdämmrige‹ bei Johnson: der mit rotem Backstein ausgelegte Flur, die weiß getünchten Wände, das Helldunkel des Dämmerlichts, das Sfumato der Erinnerung, in deren trüb-verschleiernden Nebel er eintaucht (seine Figur Ingrid blicken lässt). Das Erinnerungsbild scheint gleichermaßen aus dem Leben wie aus der Lektüre geschöpft zu sein, es wirkt doppelt ›belichtet‹, zweifach motiviert. Spätestens als Autor war Johnson »empfänglich für die Magie des Einfachen«,928 die er vermittels Brods und dessen ungenau erinnerter GoetheMünze von der »leise redenden Stimme der Natur«929 hier schon als Student kennenlernte und dann auf das Reservoir eigener Erfahrungen produktiv anzuwenden wusste: »Rote Backsteine in Verbindung mit weißen Flächen sind ein häufig anzutreffendes Merkmal norddeutscher Bauweise.«930 Den backsteingotischen Dom der fiktiven Kleinstadt Jerichow hat Johnson mit »emphatische[m] Regionalismus« eingefangen.931 Im vorangegangenen Kapitel zu Johnsons Otway-Referat ist ersichtlich geworden, wie dicht Johnson bei seinen Ausarbeitungen zum Teil seinen Quellen gefolgt ist. Und so wird auch im Falle des Kafka-Referats nach solchen Vorlagen zu fahnden sein. Es soll hier aber nicht nur nach den Quellen des studentischen 928 Neumann, Die göttlichen Einzelheiten (Anm. 922), S. 111. 929 Brod setzt seine Goethe-Referenz zwar in Anführungszeichen, dennoch ist sein vermeintliches Zitat ungenau, in Goethes Schrift Über den Granit heißt es: »Ja, man gönne mir, der ich durch die Abwechselungen der menschlichen Gesinnungen, durch die schnelle Bewegungen derselben in mir selbst und in andern manches gelitten habe und leide, die erhabene Ruhe, die jene einsame stumme Nähe der großen, leise sprechenden Natur gewährt, und wer davon eine Ahndung hat folge mir« (Johann Wolfgang von Goethe: Granit II, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter u. a., Bd. 2.2: Erstes Weimarer Jahrzehnt 1775–1786, hg. von Hannelore Schlaffer u. a., München: btb 2006, S. 503–507, hier: S. 505). 930 Neumann, Die göttlichen Einzelheiten (Anm. 922), S. 112. In Ingrid Babendererde spaziert die Protagonistin in der gemeinten Szene an den Häusern ihrer Heimatstadt entlang: »Die nicht grossen schmucklosen Fenster standen meist offen, in denen schwangen die Gardinen leise vor den kühlen Stuben. Oft konnte Ingrid durch den ganzen Flur sehen: einen weissdämmerigen Gang über rote Backsteine. Aber am Ende lag der Hof hinter der kühlen Schattigkeit als hitzehelles flirrendes Viereck« (Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 38). 931 Mecklenburg, Die Erzählkunst Uwe Johnsons (Anm. 270), S. 147. – »Über lauter blühenden Obstbäumen türmte sich der Dom grob und trockenrot in die Stille« (Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 230). Dies ein weiteres synästhetisches Bild im Anschluss an Kafka bzw. Hofmannsthal. Es lässt sich beobachten, wie dieses Beispiel Schule macht; und auch weiterentwickelt wird: »es war ganz still vor Licht und kühlen Schattenräumen und Vogelstimmen in den Bäumen« (Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 230).
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Vortrags gefragt werden. Darüber hinaus ist zu untersuchen, wie Johnson mit Kafkas Biographie umgegangen ist, nicht nur hinsichtlich der Person des Autors und des biographischen Substrats des Œuvres, sondern auch im Hinblick auf die kulturpolitische Situation seiner Zeit. Denn gerade die Zeitumstände spielen hier eine wichtige Rolle, war Kafka doch in der DDR der 1950er Jahre weitestgehend verschmäht – wie Karl May zwar nicht verboten, aber eben auch nicht gedruckt –, passte nicht in das Konzept eines kritischen oder sozialistischen Realismus nach Art eines Johannes R. Bechers, Hans Lauters oder Georg Lukács’.932 Zunächst ist zu Johnsons Kafka-Referat festzuhalten, dass abschließend nicht zweifelsfrei zu klären ist, in welcher Form er es bei Hans Mayer vorgebracht respektive vorgetragen hat. Schon Bernd Neumann hat darüber spekuliert: Daß Hans Mayer (er hat sich bei Gelegenheit von Johnsons später Heine-Klausur geweigert, die schwierige Handschrift seines Protegé [sic] zu entziffern) diese KafkaArbeit gelesen hat, scheint mir daher nicht sicher. Vielleicht, daß der Student sie gar nie eingeliefert hat; fand sie sich doch nicht im Archiv der Leipziger Universität oder in Hans Mayers Unterlagen, sondern in Johnsons eigenem Nachlaß; und trägt sie keinerlei Spuren eines bearbeitenden Lesens an sich.933
Dazu ist rein äußerlich festzuhalten, dass Johnsons Kafka-Manuskript, wie auch jenes zum Otway-Referat, sich im Uwe-Johnson-Archiv befindet, also bei dem Verfasser verblieben ist. Beide Manuskripte haben keine »Spuren eines bearbeitenden Lesens an sich«: Weder hat Johnson es überarbeitet, noch gibt es Korrekturen Hans Mayers. Da das Otway-Referat offensichtlich gehalten wurde, könnte dies dafür sprechen, dass auch jenes über Kafka von Johnson vorgetragen worden ist, das Manuskript aber von ihm einbehalten wurde. Neumanns Beobachtungen und Folgerungen werden hingegen dadurch gestützt, dass sich Mayer an keiner Stelle an ein zweites Referat seines Vorzeigestudenten erinnert. Stünde das denn zu erwarten? Denn das Kafka-Referat hätte einerseits nur wenige Tage nach dem Otway-Referat gehalten werden müssen; andererseits behandelt es einen Autor, der Mayer deutlich näher gelegen haben dürfte als der Engländer aus dem 17. Jahrhundert.934 Johnson seinerseits schreibt seinem Studienfreund 932 So hat Becher bspw., wenige Wochen vor Johnsons Vortrag, in Leipzig vernehmen lassen: »Dichter wie Kafka […] seien in ihrem Werk für unser Empfinden veraltet, und es bestehe, wenn man von einer kleinen Schicht absehe, kein echtes Interesse an ihnen mehr« (Ro.: Um die Klärung der geistigen Positionen. Kulturgespräche mit Johannes R. Becher in Westberlin und Leipzig, in: Neue Zeit, 10. 3. 1955, S. 4). 933 Neumann, Philologie und Biographie (Anm. 65), S. 167. 934 Mayer befasste sich wiederholt mit dem Prager Autor. Als er 1948 in der Frankfurter Paulskirche über den Schriftsteller und die Krise der Humanität redet, will er auch »von Franz Kafka sprechen«, diesem »großen und gequälten Menschen«, der »im ständigen Kampf gegen die Krankheit des Geistes und des Körpers« gelebt habe (Hans Mayer: Der Schriftsteller und die Krise der Humanität, in: ders., Literatur der Übergangszeit. Essays, Berlin: Volk und Welt 1949, S. 188–199, hier: S. 193). Als Leipziger Dozent erklärte er »vom
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Jochen Ziem, und zwar im gleichen Brief, in dem er von seinem gerade gehaltenen Otway-Vortrag berichtet, dass er »einige Arbeit darauf verwandt habe den Lebenslauf, vielleicht auch das Leben des Herrn Dr. Franz K. darzustellen, unter der Fiktion es sei ein Referat«.935 Hier spricht die ›Fiktion eines Referats‹ dann allerdings dafür, dass es eben nicht vorgetragen, sondern allenfalls schriftlich ausgearbeitet und nur in dieser Form, wenn überhaupt, eingereicht wurde. Jedoch gibt es noch zwei Indizien, die darauf schließen lassen könnten, Johnson habe doch vor Mayer referiert. Ein Hinweis findet sich wiederum im Briefwechsel mit Ziem, dem Johnson drei Tage später auf einer Postkarte mitteilt, er sei »wieder von einem Referat genesen (der Erdenwandel des Herrn Dr. Franz Kafka)«.936 Die notwendige Erholung ließe sich erstens durchaus als Folge eines tatsächlich gehaltenen Vortrags lesen, wiewohl auch bereits dessen Ausarbeitung, zumal in enger Folge mit der umfangreichen Otway-Arbeit, einige Anstrengung bedeutet haben wird. Der zweite Hinweis findet sich im Prüfungsprotokoll in Johnsons Studienakte: Für die Ergebnisse der dritten Zwischenprüfung, die im Mai und Juni 1955 zu absolvieren war, behält der Vordruck für die Noten eine Dreiteilung bereit: Es können schriftliche, mündliche und schließlich eine Gesamtnote eingetragen werden. Die von Hans Mayer unter dem Podium im Hörsaal 40 aus«, dass er »Kafka für einen der größten Schriftsteller der deutschen Sprache des 20. Jahrhunderts hielt und von der dogmatischen Etikette ›dekadent‹ für Kafka nichts hören wollte« (Yan Baoyu: Zu Persönlichkeit, Lehre und Arbeitsstil von Hans Mayer aus der Sicht seiner chinesischen Schüler der Leipziger Zeit, in: Hans Mayers Leipziger Jahre. Beiträge des dritten Walter-Markov-Kolloquiums, hg. von Alfred Klein, Manfred Neuhaus und Klaus Petzold, Leipzig: Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 1997, S. 163–167, hier: S. 165), und lud etwa im Januar 1961 den über Kafka promovierten Lektor Klaus Wagenbach nach Leipzig ein, damit dieser »über seine Kafka-Forschungen« sprechen konnte (Hans Mayer an Heinrich Böll, 18. 1. 1961, in: Mayer, Briefe (Anm. 568), S. 456–458, hier: S. 457). Ein vergleichbarer Einsatz für Otway ist nicht belegt. In seinem Aufsatz über Deutsche Literatur und Weltliteratur muss er Kafka wenigstens erwähnen (vgl. Mayer, Deutsche Literatur und Weltliteratur (Anm. 366), S. 313), um ihn an anderer Stelle als einen »Dichter des Unheimlichen« neben Edgar Allan Poe zu stellen (Hans Mayer: Exkurs über Dr. Jekyll und Mr. Hyde, in: ders., Deutsche Literatur und Weltliteratur. Reden und Aufsätze (Anm. 370), S. 621–624, hier: S. 622). Und auch über seine Leipziger Zeit hinaus begleitet ihn Kafka (vgl. Hans Mayer: Kafka oder »Zum letzten Mal Psychologie«, in: ders., Zur deutschen Literatur der Zeit. Zusammenhänge, Schriftsteller, Bücher, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1967, S. 270–275), in seinem gemischt-subjektivem Rückblick auf die DDR etwa hält er fest: »Es gab keinen westlichen Schund der Groschenheftchen, aber auch nicht Proust und Kafka und Joyce« (Mayer, Der Turm von Babel (Anm. 99), S. 200), und noch seinen Erinnerungen an Zeitgenossen, die von seinen persönlichen Verhältnissen zu Autoren berichten, stellt er eine kleine Parabel vom Hungerkünstler Franz Kafka nach (vgl. Hans Mayer: Parabel vom Hungerkünstler, in: ders., Zeitgenossen. Erinnerung und Deutung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998, S. 368–371). 935 Johnson an Ziem, 16. 5. 1955 (Anm. 388), S. 49. 936 Uwe Johnson an Jochen Ziem, 19. 5. 1955, in: Johnson, »Leaving Leipsic next week« (Anm. 386), S. 50.
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Datum des 24. Mai 1955 eingetragene Note 1 für Deutsche Literatur im deutschen Kaiserreich steht hier in der Spalte für die mündlichen Zensuren.937 Die Unentscheidbarkeit wird nun noch durch ein weiteres Dokument vergrößert, in dem Johnson, offenbar an Mayer adressiert, um Entschuldigung dafür bittet, dass er »gezwungen« sei, »das Referat in handschriftlichem Zustand einzureichen«, da er »keine Schreibmaschine besitze« und sich auch keine leihen könne.938 Da dieses Dokument bei Johnson verblieben ist, wie auch das Referat-Manuskript, mag beides als Vorlage für eine leserliche Abschrift für den Professor gedient haben. Das Schreiben an Mayer und die Note im Prüfungsprotokoll, ein dazugehöriger Seminarschein ist leider nicht erhalten, schließen immerhin plausibel die Möglichkeit aus, dass Johnson dieses Referat seinem Lehrer gar nicht hat zukommen lassen. Im Ergebnis lässt sich somit nicht mit Sicherheit behaupten, dass Johnson sein Referat über Franz Kafka tatsächlich gehalten hat, oder ob es eine rein schriftlich zu erledigende Aufgabe war; vielleicht musste es formal eine mündliche Prüfung sein, für die Johnson und Mayer, möglicherweise auch in Anbetracht des Otway-Referats oder anderer Umstände, sich darauf einigten, sie als verschriftlichtes Referat gelten zu lassen. Abgesehen von diesen pragmatischen Umständen, ist das eigentlich Bemerkenswerte an diesem Referat sein Thema. Gilt in der heutigen Literaturgeschichtsschreibung gemeinhin die so genannte Kafka-Konferenz vom Mai 1963 im tschechoslowakischen Liblice sozusagen als Geburtsstunde der literaturwissenschaftlichen wie literarischen Auseinandersetzung mit Franz Kafka in der DDR, so geht dabei oft unter, dass Kafka durch die Bemühungen einzelner Wissenschaftler, Autoren, Verleger und anderer Akteure des Literatur- und Wissenschaftsbetriebs schon in den Jahren davor immer wieder ins Gespräch gebracht worden ist. Unter anderem deshalb galt es in Liblice dann, »einen marxistischen Zugang« zu Kafka zu finden und ihn »in die sozialistische Welt heimzuholen«. Denn sein Werk galt in der offiziellen Auffassung und Sprachregelung nach wie vor als »dekadent.«939 In der Folge seiner Wiederentdeckung sprachen sich auch DDR-Schriftsteller, etwa Franz Fühmann, Stephan Hermlin940 937 Vgl. Prüfungsprotokoll, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 29r. 938 Uwe Johnson: Franz Kafkas Leben, Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150871. 939 Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR, Bd. 2: Kultur in der Bildungsgesellschaft 1958– 1976, 2., überarbeitete Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, S. 985. Vgl. zur Kafka-Konferenz auch Mittenzwei, Die Intellektuellen (Anm. 22), S. 206–210. 940 Hermlin hatte zusammen mit Hans Mayer bereits 1947 einen Sammelband mit 30 Beiträgen herausgegeben, die auf ihre literaturkritische Arbeit beim Radio Frankfurt zurückgehen. Das Buch erschien in dem gerade mit Lizenz der Sowjetischen Militäradministration gegründeten Verlag Volk und Welt. Von Hermlin findet sich darin auch ein Beitrag über Kafka; vgl. Stephan Hermlin: Franz Kafka, in: ders., Hans Mayer: Ansichten über einige Bücher und Schriftsteller, Berlin: Volk und Welt 1947, S. 158–163. Parallel dazu erschien das Buch im
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und Anna Seghers, für Kafka aus, und im Jahr »1965 erschien dann die erste Kafka-Edition in der DDR«.941 Das Œuvre wurde seitens der DDR-Philologie dabei als vor allem historisch interessantes Beispiel einer ästhetischen Moderne betrachtet, das als ein solches in die sozialistische Literaturgeschichtsschreibung aufgenommen werden konnte. Zu deren Eigenheiten gehörte die Betonung und Bewertung der jeweiligen Autorbiographie. Und so war es – zu großen Teilen – ausgerechnet Kafkas ungeliebte Anstellung bei der Prager Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt, »die kulturpolitische Schlüsselfunktion der Berufstätigkeit Kafkas […], die es ermöglichte, einen in der damaligen DDR als ›bürgerlichdekadent‹ klassifizierten Autor wieder in die ideologisch sensiblen Verhandlungen um die literarische Moderne einzubeziehen.«942 Dergestalt einigermaßen rehabilitiert und verortet, vermochte Kafkas Werk als vor allem historisches Phänomen der sozialistischen Gegenwart wenig zu sagen, und eine kritische Lektüre mit Bezügen zum real existierenden Sozialismus war somit weitestgehend ausgeschlossen. Kulturpolitisch derart ›entschärft‹ war es dann sogar möglich, dass 1978 in der DDR insgesamt »fünf Verlage neun Ausgaben von Kafka mit circa 550.000 Exemplaren« veröffentlichen konnten, und »1981 wurde Kafka gar Lesestoff in den Abiturklassen«.943 Ganz anders allerdings stellt sich die Situation um 1955 dar: Die Prager Moderne gilt noch als Kaffeehausliteratur, wird nicht verlegt und kaum öffentlich diskutiert. Und so erklärt sich die Wahl von Johnsons Referatsthema, mehr noch vielleicht als im Falle Otways, durch seinen Universitätslehrer. Mayer gehörte zu den wenigen Literaturwissenschaftlern in der DDR der 1950er Jahre, die eine Auseinandersetzung mit moderner Literatur forderten und auch tatsächlich betrieben, selbst wenn sie (noch) jenseits kulturpolitischer Erwünschtheit stand. So hielt Mayer beispielsweise im Frühjahr 1954 ein »obligates Oberseminar und eine öffentliche Vorlesung für Hörer aller Fakultäten […] über einige deutsche Dichter der Gegenwart, wobei [er] gegenwärtig über Kafka spreche.«944 Laut seinem Studienbuch besuchte Johnson diese Vorlesung über Probleme der deutschen Gegenwartsliteratur.945 Im folgenden Semester war Kafka dann im Rahmen der Literatur des Kaiserreichs ganz offensichtlich erneut Thema. Für
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gleichen Jahr unter ähnlichem Titel, Ansichten über einige neue Schriftsteller und Bücher, beim Wiesbadener Verlag Limes, darin fehlten bemerkenswerterweise jedoch vier Beiträge, unter anderem der über Kafka. Dietrich, Kulturgeschichte der DDR 2 (Anm. 939), S. 990. Benno Wagner: Amtliche Schriften, in: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Manfred Engel und Bernd Auerochs, Stuttgart: Metzler 2010, S. 402–409, hier: S. 408. Gerd Dietrich: Kulturgeschichte der DDR, Bd. 3: Kultur in der Konsumgesellschaft 1977– 1990, 2., überarbeitete Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2019, S. 1826. Hans Mayer an Walter Wilhelm, 6. 2. 1954, in: Mayer, Briefe (Anm. 568), S. 193–195, hier: S. 194. Vgl. Johnson, Studienbuch (Anm. 10), Bl. 26v.
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einen Kommilitonen Johnsons, Helmut Richter, der sein Studium ebenfalls 1956 als Diplomgermanist abschloss, wurde Mayer zum Betreuer einer Dissertation mit dem Thema Werk und Entwurf des Dichters Franz Kafka: Eine literaturkritische Untersuchung (Promotion 1959). Zusammen mit der nur wenige Monate zuvor abgeschlossenen Promotion von Klaus Hermsdorf über Kafka waren dies lange Jahre die einzigen eingehenden literaturwissenschaftlichen Arbeiten zum Prager Autor in der DDR.946 Für seine Ausarbeitung hält sich Johnson zunächst an die Faktenlage einer Biographie und beginnt mit den Lebensdaten, die er sodann, zur historischen Orientierung, mit einem politischen und einem ökonomischen Ereignis umrahmt, »der Zeit die liegt zwischen der kriegerischen Aufbereitung des deutschen Imperialismus und dem Höhe-Punkt der Inflation« (1r).947 Wiewohl der Begriff des Imperialismus im kulturpolitischen Kontext wie auch im Referat eindeutig negativ konnotiert ist, und auch die Inflation auf eine Krise des Kapitalismus verweist, ist daraus hier noch nicht zwingend eine politisch präfigurierte Darstellungsabsicht abzuleiten, wenngleich damit eine entsprechende Erwartungshaltung bedient worden sein mag. Allerdings handelt es sich einerseits bei beiden Schlagwörtern um durchaus zutreffende historische Befunde respektive Begebenheiten, zum anderen wird eine solche Lesart bzw. Erwartung durch die weiteren Ausführungen nur vereinzelt gestützt. Vom ersten Satz seines Kafka-Konvolutes an fällt die sprachliche Gestalt der Beobachtungen ins Auge. Thomas Schmidt sieht in diesem Auftakt bereits ein Beispiel für die Suche des noch jungen Hochschülers nach »präzisen und ungewöhnlichen Formulierungsmöglichkeiten«: »Das Leben Franz Kafkas geschah in der Zeit von 1883 bis 1924« (1r).948 Schmidt geht jedoch nicht weiter darauf ein. Offensichtlich aber weicht schon dieser Teilsatz vom üblichen und erwarteten Duktus eines studentischen Referats ab. Ein Leben ›geschieht‹ nicht, und es vollzieht sich auch nicht ›in der Zeit‹. Zweifelsohne, die bis hierhin behandelten Studienarbeiten legen es nahe, hat Johnson mit Bedacht sowie zweck- und zielgerichtet die Worte gewählt, die er vor seinem Auditorium ausprobierte und seinem akademischen Lehrer zumutete. 946 Hermsdorf wurde an der Humboldt-Universität in Ost-Berlin promoviert, bei Alfred Kantorowicz, der während der Promotionsphase in die Bundesrepublik ging, sodass die Arbeit schließlich von Leopold Magon betreut wurde. Beide Dissertationen wurden in der DDR publiziert; vgl. Helmut Richter: Franz Kafka. Werk und Entwurf, Berlin: Rütten & Loening 1962 und Klaus Hermsdorf: Kafka. Weltbild und Roman, Berlin: Rütten & Loening 1961. 947 Uwe Johnson: Das Leben Franz Kafkas, Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/000462; in diesem Kapitel im Text zitiert mit der Blattangabe in Klammern. 948 Schmidt, Auf dem Weg zum Klassiker? (Anm. 66), S. 284. Schmidt zitiert denn auch den hier zitierten Anfang des Referats.
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Und so ist nach der Funktion dieser ›neuen Idiomatik‹ zu fragen, die sich vor allem in Wortwahl und Syntax niederschlägt. Dabei muss die Rede von einem ›geschehenen Leben‹, stellt man den Redegegenstand in Rechnung, nicht als artifizieller, gesucht-bemühter Ausdruck, als Stilübung des angehenden Autors gelesen, sondern kann als gleichermaßen effektiver wie effektvoller Auftakt verstanden werden. Denn Johnsons Ausführungen, das wird gleich in seinen nächsten Sätzen deutlich, laufen darauf hinaus, Kafkas Leben als passiv erlittene, von ihren äußeren Einflüssen über die Maßen dominierte Existenz zu zeichnen. Überdies intoniert Johnson damit in einer Art, wie sie aus Erzähleingängen von Märchen, Legenden, Mythen (›es geschah zu einer Zeit‹) und auch Bibeltexten, hier meist als so genannte ›Vollzugsformel‹ (›und es geschah‹), vertraut ist, womit das Erzählte stets bestätigt und als sich bereits ereignet habendes unterstrichen werden soll.949 In all diesen Fällen geht es darum, mit dieser Formel einen Realitäts- oder Wahrhaftigkeitsanspruch zu behaupten. Im Nebensatz, der nun folgt, ist eine Wortumstellung auffällig (»der Zeit, die liegt zwischen der«), die vermutlich auf eine Betonung der Mündlichkeit der Performanz abzielt; auffällig ist desgleichen der Terminus der »kriegerischen Aufbereitung« (1r) des Imperialismus (und der Terminus des »Imperialismus« selbst) sowie die ungewöhnliche Schreibweise von »Höhe-Punkt« (1r). Weitere, in ihrer Schreibweise auffällige Komposita gesellen sich hinzu: »Sonder-Existenz«, »Kafka-Haus« (1r), »Hochschul-Studiums« (1v), »Arbeiter-Unfallversicherung«, »Schreiben-Könnens« (2r), »Vater-Problems« (3r), »Arbeiter-Bewegung« (3r), »Gross-Stadt« (3v). Hier kann die »Arbeiter-Unfallversicherung« sogar noch als pragmatische Verkürzung der bei Brod vorgefundenen Schreibweisen gelten,950 für die anderen Varianten trifft das jedoch nicht zu. Mögen die Wortbildungen »Sonder-Existenz«, »Schreiben-Könnens« und »Vater-Problems« ihrer besonderen Semantik wegen noch als auffällig auszustellende Begriffe gelten, das »Kafka-Haus« als orthographisch korrekte Wortbildung mit Eigennamen (sog. Durchkopplung) verstanden werden, und die »Gross-Stadt« auf die Doppel-s-Schreibeigenheit Johnsons (vielleicht für einen damit nicht vertrauten Leser) zurückzuführen sein, so greifen diese Erklärungen für die übrigen Wörter (»Höhe-Punkt«, »Hochschul-Studiums«, »Arbeiter-Bewegung«)
949 Vgl. etwa: »Und Gott sprach: Die Erde bringe hervor lebendiges Getier, ein jedes nach seiner Art: Vieh, Gewürm und Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art. Und es geschah so.« (1 Mo 1,24); »Und es geschah am dritten Tage, da beging der Pharao seinen Geburtstag« (1 Mo 40,20). Vgl. zur ›Vollzugsformel‹ bspw. Marion Hellwig: Alles ist gut. Untersuchungen zur Geschichte einer Theodizee-Formel im 18. Jahrhundert in Deutschland, England und Frankreich, Würzburg: Königshausen & Neumann 2008, S. 55. 950 Vgl. »Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt«, »Arbeiter-Unfall-Versicherung« und »Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt« (Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 99, S. 101 und S. 102).
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nicht mehr; hier scheint zu einem gewissen Grad Willkür am Werk gewesen zu sein. Und es geht sperrig weiter: Das Leben Franz Kafkas war aber angelegt als ein durchaus empfindliches, und als eine schreibende Weise des Lebens, beschlossen in sich und seinen Umständen, und abhängig davon in besonderem Masse. (1r)
So kann man schlechterdings nicht formulieren. Einem Studenten der Germanistik würde man vermutlich attestieren, dass er nicht in der Lage sei, auch nur einen einigermaßen eleganten Satz in einem geläufigen Deutsch zu formulieren – wäre es nicht Johnson, der hier spricht.951 Denn Johnson hat dies getan und es, so die These, gezielt in einem Gestus getan, der dem Leser Unbeholfenheit suggerieren mag, dem Hörer allerdings auch einen Dienst erwies. Vermittels der durch Kommata markierten Sprechpausen werden hier vier Aussagen über Kafkas Leben klar strukturiert wiedergegeben. Johnson verzichtet auf übermäßig komplexe Satzgefüge, sondern reiht – nicht nur in diesem Beispiel – seine einzelnen Aussagen mit Kommata und der Konjunktion ›und‹ aneinander; gelegentlich unterbrechen Parenthesen diese Gefüge. Diese ›schlichte‹ Syntax eignet sich besonders für den mündlichen Vortrag, und Johnson verwendet sie als ein Konstruktionsprinzip seines Referats. Hinzu kommt, wie gleich noch zu zeigen ist, eine häufige Wiederholung von Wörtern bzw. semantisch dicht beieinanderliegenden Begriffen. Damit wird das Stakkato seiner ›additiven‹,952 tendenziell parataktischen Syntax semantisch aufgehoben und Textkohärenz (wieder) hergestellt.953 951 Hier müssen die Rezeptionssituationen scharf getrennt werden: Aus heutiger Perspektive, die diesen Text zum ›Hof‹ der Œuvres Johnsons zählt (vgl. hierzu Kapitel 3 Überlegungen zum Werkbegriff), kann diese Formulierung als kreatives Stilexperiment oder eben rhetorisches Vortragsinstrument passieren. In zeitgenössischer Perspektive dürfte der ungewöhnliche Satzbau wenigstens aufgefallen sein, wenn er nicht gar Widerspruch hervorrief – der Bewertung dieser Arbeit durch Hans Mayer hat sie offenbar nicht geschadet. 952 Der Begriff referiert hier – nicht in der ganzen Strenge der folgenden Definition – auf die semantische Klasse additiv basierter Konnektoren, die nach dem Muster logischer Junktoren bestimmt sind: »Ein Konnektor ist ein additiv basierter Konnektor genau dann, wenn er zwischen seinen Konnekten ein Verhältnis der Konjunktion beschreibt – beide Sachverhalte gelten –, darüber hinaus aber keinen Kausalzusammenhang zwischen den in den Konnekten bezeichneten Sachverhalten obligatorisch denotiert. Die Betonung der Obligatorik ist deshalb wichtig, weil in Einzelfällen auch additiv basierte Konnektoren eine Bedeutungsanreicherung hin zu einem implikativen Zusammenhang zwischen den Konnekten erfahren können […]. Solche Deutungen sind aber Ergebnisse konversationeller Implikaturen und entsprechen nicht der lexikalischen Bedeutung des Konnektors« (Eva Breindl, Anna Volodina, Ulrich Hermann Waßner: Handbuch der deutschen Konnektoren, Bd. 2.1: Semantik der deutschen Satzverknüpfer, Berlin: de Gruyter 2014, S. 258 [Hervorh. im Original]). 953 Unentschieden muss an dieser Stelle noch bleiben, ob hierin schon Johnsons, spätestens an den Mutmassungen über Jakob offensichtlich werdende, Neigung zur Parataxe ersichtlich wird, oder ob sie vielleicht von Kafkas selbst oft parataktischer Prosa beeinflusst ist. Vgl.
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Kafkas Leben habe in einem Kontrast zu seinen historischen Lebensumständen gestanden und sei mit ihnen in Konflikt geraten, so Johnson. Denn es sei einerseits »ein durchaus empfindliches« Leben gewesen, »beschlossen in sich und seinen Umständen«, andererseits sei dieses Leben »abhängig davon [scil. seinen Umständen] in besonderem Masse« (1r). Diese Umstände manifestierten sich als erstes – und ein Leben lang – in Kafkas Vater. Ihn stellt Johnson als skrupellosen Kapitalisten dar, »der sich gerechtfertigt sah nur in einem Streben nach Erwerb und wirtschaftlichem Fortkommen, einem Streben dem alles diente: Ausrichtung der Familie, wie gesellschaftliche Konvention die bis zu wirklich angemasstem954 Judentum ging« (1r). Hingegen blieb der »Einfluss der Mutter«, so Johnson weiter, »nahezu unwirksam« (1v). Und zu seinen »drei Schwestern ergaben sich (vorerst) keine Bindungen« (1v). Bemerkenswert ist hier das in Klammern gestellte »vorerst«, das einerseits auf eine spätere Änderung dieses Verhältnisses hinweist, wie es andererseits dem Publikum signalisiert, dass man sich damit im Verlauf des Referats noch beschäftigen wird. Das ist aber nicht der Fall. So hat diese Prolepse ihren Ursprung womöglich in Max Brods KafkaBiographie, wo in ähnlicher Weise vorausgedeutet wird. Brod berichtet von »drei Schwestern, die sich stets zusammengehörig und dem Bruder gegenüber in Distanz fühlten. In späterer Zeit, nach Franzens Erkrankung, wurde dieser Abstand von der jüngsten Schwester mit größter Entschiedenheit durchbrochen«.955 Im Gegensatz zu Johnson wird Brod auf Kafkas Geschwister freilich noch häufiger zu sprechen kommen. Es folgt bei Johnson ein knapper Abschnitt zu Kafkas schulischer Laufbahn: Er habe sie im Wesentlichen »am deutschen Staatsgymnasium in Prag« absolviert, und zwar in der Zeit »von 1893 bis 1901«956 (1v). Diese Detailinformation ist ein starkes Indiz dafür, dass Johnson tatsächlich Brods Biographie verwendet hat, denn sie ist beispielsweise in den anderen, von Neumann ›rein theoretisch‹ vermuteten Quellen (Benjamin, Eisner), nicht zu finden.957 Bei Brod ist an gleich
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Herbert Kolb: Rückfall in die Parataxe. Anläßlich einiger Satzbauformen in Uwe Johnsons erstveröffentlichtem Roman, in: Neue Deutsche Hefte 10, 1963, H. 96, S. 42–74. Neumann hat hier »angepassten« transkribiert (Uwe Johnson: Das Leben Franz Kafkas, in: ders., »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz« (Anm. 65), S. 62–66, hier: S. 62), statt des »angemassten« in Johnsons Manuskript. Johnsons Adjektiv trifft auch eher das Verhältnis von Kafkas Vater seiner Religion gegenüber, wie in Brods Biographie aus den Brief-an-denVater-Zitaten deutlich wird: es ist für ihn eine leere Übung, die gesellschaftliche Konventionen seines Milieus bedient, gelebter Religionspraxis oder gar Religiosität aber fernsteht. Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 15. Neumann transkribiert hier »1902« (Johnson, Das Leben Franz Kafkas (Anm. 954), S. 62). Auch andere zeitgenössische Texte über Kafka liefern diese Information nicht, weder Hermlins Rundfunkbeitrag (vgl. Anm. 940) noch etwa Friedrich Beißner: Der Erzähler Franz Kafka, Stuttgart: Kohlhammer 1952. Damit sind diese anderen Texte zwar noch nicht ausgeschlossen, es finden sich jedoch im gesamten Referat keine Hinweise, die exklusiv auf eine
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zwei Stellen davon zu lesen: Zum einen in einem faksimilierten und transkribierten Lebenslauf von Kafkas Hand, wo noch ohne konkrete Jahreszahlen das »Altstädter deutsche Staatsgymnasium« erwähnt wird, zum anderen steuert Brod eine Zeittafel bei, die als zweiten Punkt, gleich nach der Geburt, Kafkas Gymnasialzeit aufführt: »1893–1901 Altstädter deutsches Staatsgymnasium.«958 Diese Zeittafel dürfte dem Studenten Johnson überdies ein nützliches Gerüst für die Erarbeitung seines Referats gewesen sein. Zu seinen Mitschülern habe Kafka indes keine engeren Beziehungen aufbauen können, berichtet Johnson. Brod als Vorlage angenommen, zeigt sich damit eine aufmerksame, teils distanzierte Lektüre. Denn Brod meint zwar, den »eigentlichen Umgang des jungen Franz« müsse »man wohl unter den Mitschülern suchen«, um dann allerdings gerade diesen Umgang in seinen Einzelfällen wieder auszuschließen und schließlich festzustellen: »Nur mit Oskar Pollak kam eine engere Verbindung zustande«.959 So lässt sich festhalten, dass Kafka »eine einsame Kindheit« gehabt habe, die er »mit viel Lesen und unablässiger Schwächung« (1v) verbracht habe.960 Ähnlich hatte Brod mit Verweis auf Berichte von Kafkas Mutter geurteilt, ihr Sohn sei »ein schwaches zartes Kind […] – ein Kind, das viel las und nicht turnen wollte«.961 Eine Bemerkung am Rande: Unklar bleibt, ob Johnson der Nebensinn dieser Formulierung aufgefallen ist. Denn vor ›unablässiger Schwächung‹ warnt die Ratgeberliteratur, wenn sie auf die Gefahr (männlicher) Onanie hinweisen möchte. Schon Grimms Wörterbuch weiß: »seine natur schwächen, vim naturae suae inferre, vires suas debilitare […]; das huren schwächet die kräften; eines mannheit schwächen«.962 Notorische Selbstbefriedigung wurde folglich nicht als Kräftigung des Organismus verstanden, sondern als Sexualimmoralismus mit
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andere Quelle hindeuten würden. Was Johnson für seine Arbeit brauchte und benutzte, konnte er bei Brod finden. Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 308 und S. 304. Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 22. Neumanns Transkription ist an dieser Stelle fehlerhaft: Statt »mit viel Lesen und unablässiger Schwächung. Sehr würdelos durch eine Lebensordnung« (Johnson, Das Leben Franz Kafkas (Anm. 954), S. 64), lautet es in Johnsons Manuskript: »mit viel Lesen und unablässiger Schwächung. Schwächung durch eine Lebensordnung« (1v). Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 21. Kafkas Haltung zur sportlichen Betätigung änderte sich freilich mit der Zeit. Brod spricht von »Kafkas späterem starkem Interesse für Sport und Körperübungen« (ebd.). Eine Nähe zur Turnbewegung, die sich seinerzeit in vielen Ländern Europas, in weiten Teilen an den Modellen Friedrich Ludwig Jahns orientiert, verbreitet hatte, kann Kafka nicht unterstellt werden, schon gar nicht eine Nähe zu jener damit oft verbundenen »Gesinnung, die diese Übungen als eine vaterländische Sache angesehen wissen will« ([Art.] Turnkunst, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens, 6., gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage, Bd. 19, Leipzig: Bibliographisches Institut 1909, S. 836–839, hier: S. 839). [Art.] schwächen, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Bd. 15, Leipzig 1854–1961, Sp. 2157–2160, hier: Sp. 2159, URL: www.woerterbuchnetz.de/DWB/schwächen (Zugriff: 6. 3. 2021).
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der Gefahr auch geistiger Schwächung, die damit einhergehen könne. Infolgedessen stellt die Masturbation »die mit Abstand am häufigsten und ausführlichsten erörterte sexuelle Abweichung dar.«963 Und noch auf der Schwelle ins 20. Jahrhundert mahnte der Leipziger Arzt Hermann Rohleder ausführlich vor der »Schwächung, welche der Körper infolge der Onanie« erleide und warnte vor »wenigstens zeitweiser merklicher Schwächung des Gedächtnisses und Unvermögen zu andauernder geistiger Arbeit, Energielosigkeit, deprimierter Gemütsstimmung, die selbst bis zur Melancholie führen kann«, seien »die gewöhnlichen Folgen wohl selbst bei geringer oder mittelmässiger Onanie«.964 Überflüssig zu sagen, dass dies ein Topos der psychoanalytischen Kafka-Deutung geworden ist. Brod illustriert Kafkas Kindheit weiter durch ausführliches Zitieren und Kommentieren des Briefs an den Vater, wodurch die eigentlichen Kinderjahre aus dem Blickfeld geraten, zugunsten dieser späteren autobiographisch-literarischen Reflexionen, und Fakten aus den frühen Jahren rar bleiben. Sofern Johnson Brods Buch konsultiert hat, fällt ins Auge, dass er auf diesen Text an keiner Stelle direkten Bezug nimmt. Indirekt scheint der Brief an den Vater dann aber doch Eingang in Johnsons Referat gefunden zu haben, und sei es vornehmlich im Bezug auf die von Brod zitierten ›O-Töne‹, weniger im Nachvollzug der dazugehörigen Wertungen des Biographen. Denn Johnson legt dar, dass Kafka »im Auftrage seines Vaters« in Prag Jura studiert habe, der Vater ihn »zu Erwerbssinn und zu dem Bourgeois der er war« erziehen wollte (1v). Damit folgt Johnson mehr der Perspektive Kafkas als der Brods, der zwar unter Berufung auf den Brief an den Vater auf einen Zusammenhang der »Berufswahl mit dem Vom-Vater-Besiegtsein« verweist, diesen Zusammenhang aber »für eine spätere Konstruktion« des Autors hält.965 Brod legt seinen Fokus darauf, dass es Kafka bei seiner Entscheidung darum gegangen sei, einen Brotberuf zu erreichen, der ihm Gelegenheit zum Schreiben lassen würde – belegen soll das Kafkas berühmter Brief: Eigentliche Freiheit der Berufswahl gab es für mich nicht, ich wußte: alles wird mir gegenüber der Hauptsache genau so gleichgültig sein wie alle Lehrgegenstände im Gymnasium, es handelt sich also darum, einen Beruf zu finden, der mir, ohne meine Eitelkeit allzusehr zu verletzen, diese Gleichgültigkeit am ehesten erlaubt.966
963 Corinna Wernz: Sexualität als Krankheit. Der medizinische Diskurs zur Sexualität um 1800, Stuttgart: Enke 1993, S. 94. 964 Hermann Rohleder: Die Masturbation. Eine Monographie für Ärzte, Pädagogen und gebildete Eltern, Berlin: Kornfeld 1902, S. 209. Die erste Auflage erschien 1899, die vierte und – soweit ermittelt werden konnte – letzte Auflage 1921. 965 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 54. 966 Franz Kafka: Brief an den Vater, zit. nach: Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 54.
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Obwohl Brod ausgiebig mit biographischer Perspektivierung aus dieser Brieffiktion mit ihrem »faktual-fiktionalen Zwitterstatus« zitiert,967 lässt er auch manches aus. So erzählt der Sohn darin weiter, sein Vater habe ihm zwar rein äußerlich »völlige Freiheit« bei der Berufswahl gewährt, um dann aber zu erläutern, welchem Druck und welcher Unsicherheit er sich ausgesetzt fühlte von der väterlichen »allgemeinen Söhnebehandlung des jüdischen Mittelstandes«.968 Der Sohn wähnt sich mit einer Erwartungshaltung konfrontiert, der er nicht entsprechen zu können glaubt und fragt schließlich: »In diesem Zustand bekam ich also die Freiheit der Berufswahl. War ich aber überhaupt noch fähig, eine solche Freiheit eigentlich zu gebrauchen?«969 Johnsons Parteinahme für den Autor und gegen dessen Vater kann so entweder auf eine kritische Lektüre von Brods Deutungen der von ihm zitierten Stellen hinweisen, oder auf eine direkte Kenntnis dieses ›Briefes‹. Der Brief an den Vater wurde »zuerst (mit dem heute gängigen Titel) 1952 in der Neuen Rundschau gedruckt und dann in Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande (1953) aufgenommen«970 – Johnson hätte ihn zum Zeitpunkt seines Referats also kennen können. Und en passant demonstriert Johnson einiges Geschick mit seiner Wortwahl, wenn er den Vater als »Bourgeois« bezeichnet. Der Begriff musste in einem Seminar an einer nach Karl Marx benannten Universität im ersten Reflex auf des Namensgebers Verwendung dieses Wortes zur Benennung von Angehörigen der besitzenden, kapitalistischen Klasse referieren. Und so wird damit einerseits die Erwartungshaltung ideologisch gefärbten öffentlichen Sprechens bedient, und eben dadurch andererseits die Distanz zwischen Vater und Sohn vergrößert. Der familiale Konflikt wird gesellschaftlich-politisch aufgeladen und Kafka, der sich von diesem bürgerlichen Vater und seiner Lebensweise habe lösen wollen, dem ideologisch präfigurierten DDR-Leser angedient. Für die Familiensituation, die sich aus dem dominanten Vater, der machtlosen Mutter und den distanzierten Schwestern konstituierte und der Kafka sich nicht zu entziehen vermochte, konstatiert Johnson: Die Familie war die bestimmende Ordnung gewesen und blieb es in einer Welt (so noch in: »Die Aeroplane von Brescia« 1909) deren Anordnung sich wohl registrieren liess, im letzten aber nicht einzusehen war und unheimlich blieb.971
967 Daniel Weidner: Brief an den Vater, in: Kafka-Handbuch (Anm. 942), S. 293–301, hier: S. 294. 968 Franz Kafka: Brief an den Vater, in: ders., Nachgelassene Schriften und Fragmente II (Kritische Ausgabe), hg. von Jost Schillemeit, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2002, S. 143–217, hier: S. 193. 969 Kafka, Brief an den Vater (Anm. 968), S. 196. 970 Weidner, Brief an den Vater (Anm. 967), S. 293. 971 Johnson, Das Leben Franz Kafkas (Anm. 954), S. 64. Johnson hat in seinem Manuskript den Titel in der Tat als »Die Aeroplane von Brescia« statt des richtigen Die Aeroplane in Brescia.
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Die hier zitierte Transkription Neumanns soll auch ein editorisches Problem zeigen. In Johnsons Manuskript ist der Einschub in Klammern offenbar nachträglich am Rande ergänzt worden, und zwar neben den beiden folgenden Zeilen: »ordnung sich wohl registrieren | liess, im letzten aber nicht ein-« (2r). Parallel dazu verläuft der Einschub ebenfalls über zwei Zeilen, darüber befindet sich die handschriftliche Paginierung Johnsons, die ein Argument dafür sein könnte, dass der Einschub nicht höher angesetzt werden konnte, was für Neumanns Transkription spräche. Allerdings ist im Kontext des Satzes durchaus fraglich, ob Johnsons Nachtrag an die von Neumann gewählte Position gehört. Die Aeroplane in Brescia,972 Kafkas Reportage über ein Flugspektakel in Italien, hat keinen Bezug zu einem familialen Kontext, wie es Neumanns Positionierung suggeriert. Vielmehr kann dieser Kafka-Text als eindrucksvolles Exempel einer Fernbetrachtung von ›Welt‹ rezipiert werden, seien es die ersten Flugzeuge mit ihren tollkühnen Piloten, seien es die Mengen begeisterter Zuschauer einer Flugschau, bei der zwar das Geschehen festgestellt und sachlich dargestellt wird, die Zusammenhänge und Hintergründe jedoch, seien es die technischen oder die sozialen bzw. emotionalen, durch den Berichtenden nicht mit wirklichem Verständnis oder Empathie nachvollzogen werden. Es ist dieses Verweilen auf der »Ereignisoberfläche, die der fast unbeteiligte Beobachter präzise schildert«,973 das mit Johnsons Charakterisierung von Kafkas distanzierter Stellung zur Welt korreliert. Sinnfälliger würde dieser Einschub somit hinter »registrieren liess« oder am Ende des Satzes stehen. Überdies ist hier zu fragen, ob es sich überhaupt um einen Einschub an dieser Stelle handelt, oder nicht vielmehr um eine Randbemerkung, eine glossierende Fußnote im weiterführenden Sinne. Denn es ist dies die einzige Nennung eines Werktitels im gesamten Referat – eines Titels zumal, der allenfalls bedingt für Kafkas Schaffen stehen kann, zudem noch an einer Stelle, datiert auf das Jahr 1909, die den chronologischen Aufbau des Vortrags durchbricht. So ist hier eher wahrscheinlich, dass es sich um eine ergänzende Information und nicht um einen Bestandteil des eigentlichen, vorzutragenden Referatstextes handelt. Diese exemplarische Kritik der Transkription soll keine Beckmesserei sein: Der zuverlässig transkribierte und sorgfältig edierte Text ist in aller Regel Grundlage jeder weiteren Auseinandersetzung. Neumanns mangelhafte Edition dieses Johnson-Referats veranlasste beispielsweise Robert Gillett zu der irritierenden Feststellung: »Kafkas Erfahrung von der bestimmenden Ordnung der
972 Der Text erschien zuerst stark gekürzt als Artikel in einer Prager Zeitung, vgl. Franz Kafka: Die Aeroplane in Brescia, in: Bohemia, Morgenausgabe, 29. 9. 1919, S. 1–3. 973 Ronald Perlwitz: Die Aeroplane in Brescia, in: Kafka-Handbuch (Anm. 942), S. 127–129, hier: S. 128. Ausgeschlossen ist damit ausdrücklich nicht, dass dieser Text von einem »metaphorischen Reichtum[]« (ebd.) zeugt, nur eben gerade nicht in familialer Hinsicht.
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Familie spiegelt sich in Aeroplane von Brescia wider«.974 Und schließlich: Nimmt man Brods Kafka-Buch als Quelle des Referats an, so relativiert sich auch Neumanns Überraschung, derzufolge Johnson »immerhin sogar die frühen Aeroplane von Brescia (1909) kannte«,975 denn dieser Text ist als Anhang der Biographie mitgegeben. So erklärt sich auch, weshalb dies die einzige Arbeit Kafkas ist, die von Johnson erwähnt wird. Eine zwar naheliegende, aber wohl eigenständige Folgerung Johnsons ist, dass man dem jungen Kafka »nicht zutraute die Leitung des Kaufhauses am Altstädter Ring fortzuführen« (2r), weshalb er ein Studium – mehr oder weniger – seiner Wahl beginnen konnte. Max Brod benennt explizit keinen derartigen Kausalzusammenhang, wenngleich Kafkas mangelnde Eignung zur Übernahme des väterlichen Geschäfts früh in seiner Biographie deutlich wird. Und so studierte Kafka »etwas verlegen Nützliches: Jura« (2r). Ob diese spezielle, auf Pragmatik zielende Formulierung Johnsons in Kenntnis der Vita seines Dozenten Mayer erfolgte, der sich seines Zeichens nur »halb gelangweilt bereit gefunden« hatte, »die Rechtswissenschaften zu studieren«, wird offen bleiben müssen.976 Für Kafka jedenfalls galt: »Das juristische Examen und die Promotion waren Voraussetzungen für die Beschäftigung in einem staatlichen oder anderen Büro, und solche Beschäftigung war geeignet ihn auszuweisen als zum Dasein berechtigt« (2r). An dieser Stelle kann wieder eine Nähe zu Brods Ausführungen konstatiert werden, der über die Entscheidung zum Studium berichtet: Das Jusstudium, als die unbestimmteste, kein Ziel oder die größte Anzahl verschiedenartiger Ziele (Advokatie, Beamtenstellen) umfassende, also die Entscheidung noch hinausschiebende und jedenfalls keine besondere Vorliebe verlangende Laufbahn, wurde seufzend in Angriff genommen.977
Ziel dieses Studiums sei es gewesen, so Johnson weiter, nicht nur vor dem Vater zu bestehen, sondern auch, »sich auszuweisen vor den Umständen des Wilhelminischen Reiches, es kam darauf an heimlich schreiben zu dürfen« (2r). Schriftsteller, so die Lesart, müssen sich ihr Lebensrecht verdienen, indem sie ihre Passion mit einer nützlichen Tätigkeit camouflieren (und häufig auch finanzieren). In der Nützlichkeit als Daseinsberechtigung hat Johnson womöglich eine biographische Parallele erkannt, die im Rückblick noch deutlicher zutage tritt: Hatte Kafka »sich auszuweisen vor den Umständen des Wilhelminischen Reiches« (2r), so musste Johnson seine Berufswahl mit Rücksicht auf die staatliche 974 Gillett, Uwe Johnson und Life Writing (Anm. 117), S. 28 [Hervorh. im Original]. 975 Neumann, Philologie und Biographie (Anm. 65), S. 168. 976 Hans Mayer: Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen I, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 65. 977 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 54.
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Berufslenkung in der DDR begründen: Sein »lange Zeit vorhandenes Interesse für die deutsche Literatur und literarische Dinge überhaupt«, so der 17jährige designierte Student, sei der Grund, weshalb er sich »für den Beruf eines Verlagslektors entschieden« habe, den er »nach Fähigkeit und Neigung glaube am besten ausfüllen zu können.«978 Zwar wäre es spekulativ, in diesem proklamierten Berufswunsch schon die kaschierte Absicht einer eigenen Autorschaft zu vermuten, jedoch ist ihm nachweislich zumindest nicht an einer ›gewöhnlichen‹ Karriere gelegen, die in den Sprach- und Literaturwissenschaften seinerzeit in der Regel in den Beruf eines Lehrers gemündet wäre.979 Wählte Kafka ein Studium, um seine Autorschaft zu ermöglichen, um »heimlich schreiben zu dürfen«, so dürfte Johnson während seiner Studienzeit die Notwendigkeit heimlichen Schreibens für sich erkannt haben. Er fasste nach seinem Auftritt vor der Rostocker FDJ-Versammlung, bei dem ihm deutlich wurde, bestimmte Dinge nicht ungestraft sagen zu können, den Entschluss: »Da ihm verwehrt ist, dies öffentlich auszutragen, wird er es schriftlich tun.«980 Die asymmetrische Opposition von Öffentlichkeit und Schriftlichkeit – wo Geschriebenes doch stets intendiert, gelesen zu werden – impliziert dabei einen zunächst ins Private genötigten, mithin diskreten Charakter des Schreibens. Wenn Johnson dann Kafkas Schreiben als eine »Betätigung ausserordentlicher Andacht und Seligkeit« (2r) charakterisiert, so mag dafür Brods Darstellungsabsicht insgesamt verantwortlich sein, die einen religiösen ( jüdischen) Einfluss auf die Autor-Biographie betont, wie auch jüdisches Leben insgesamt in der DDR kaum ein Thema war.981 Allerdings folgt Johnson dieser Perspektive ansonsten nicht, Kafkas ›Judentum‹ wird von ihm nicht weiter thematisiert. Und so erscheint es naheliegender, dass Johnson sich auf die Worte des Prager Autors selbst bezogen habe, aus dessen Tagebuch Brod unter anderem Folgendes zitiert:
978 979 980 981
Johnson, Begründung (Anm. 3). Vgl. hier: S. 20f. Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 69. Zu Beginn der 1950er Jahre stand die DDR-Führung unter dem Einfluss eines von der noch stalinistischen Sowjetunion betriebenen ›aggressiven Integrationsbestrebens‹, das bis hin zu offenem Antisemitismus reichte. Jüdische Bürger sollten zu sozialistischen gemacht werden, wobei ihre religiöse Identität keine Rolle spielen durfte. Prominent für die DDR sei hier auf Paul Merker verwiesen, bis 1950 Mitglied des Politbüros. Infolge des tschechoslowakischen Slánský-Prozess wurde ihm u. a. »Zionismus« und »Verschiebung von deutschem Volksvermögen« vorgeworfen; schon die Wortwahl macht deutlich, wes Geistes Kind diese Anschuldigungen waren (Lehren aus dem Prozeß gegen das Verschwörerzentrum Slänsky. Beschluß des ZK der SED vom 20. Dezember 1952 (Auszüge), in: Mario Keßler: Die SED und die Juden – zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967, Berlin: Akademie Verlag 1995, S. 153–155, hier: S. 154; zum Konfliktfeld von jüdischem Leben und sozialistischer Politik in der frühen DDR vgl. ebd., S. 52–105). Und auch danach taten sich offizielle Stellen der DDR oft schwer mit ihren jüdischen Bürgern.
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»Schreiben als Form des Gebetes«.982 Johnsons Wortwahl verweist auf den hohen Stellenwert, eben vergleichbar nur mit religiöser Praxis, einem profanen Gebet, wenn man so will, den das Schreiben für Kafka einnimmt: Die Inbrunst dieser Autorschaft nahm beinahe sakrale Züge an. Überdies wird Brod nicht müde, den Konflikt zwischen »Brotberuf und Schreibkunst« hervorzuheben, so dass schon ein Dienstende am frühen Nachmittag dem »Seelenheil« des Künstlers zugute kommen würde.983 Stichpunktartig (›additiv‹) handelt Johnson dann Kafkas Übergang in das Berufsleben ab. Dabei scheint wiederum naheliegend, dass Brods Zeittafel im Anhang ihm Hilfestellung geleistet hat: »Kafka promovierte an der Universität Prag zum Doktor der Rechte, er leistete im Jahr darauf seine Gerichtspraxis, arbeitete kurze Zeit in der ›Assicurazioni Generali‹, trat in die prager ArbeiterUnfallversicherung ein« (2r). Die erste Information dürfte dabei auch dem Anfang des dritten Kapitels von Brods Darstellung, Kämpfe um Beruf und Berufung, entlehnt sein, das mit dem Satz anhebt: »Am 18. Juni 1906 wurde Kafka an der k. k. deutschen Karl-Ferdinands-Universität in Prag zum Doktor der Rechte promoviert.«984 Derart präzise musste es für das Referat nicht sein, die Zeittafel liefert jedoch etwas sehr knapp: »1906 Juni, Doktor juris.«985 Noch im selben Jahr, nicht »im Jahr darauf«, begann Kafka sein juristisches Praktikum, wie es die Zeittafel wiederum genauer festhält: »1. Oktober 1906 bis 1. Oktober 1907 Gerichtspraxis in Prag beim Strafgericht, dann beim Zivilgericht.«986 Von seiner Kenntnis der gelisteten Daten legt Johnsons Randnotiz »1906–1907« (2r) Zeugnis ab. Für den Oktober 1907 wird in der Chronik auch der Beginn der Arbeit bei der Assicurazioni Generali verzeichnet. Und das Jahr 1908 markiert dann den »Eintritt in die Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt«987 – Kafka »trat in die prager Arbeiter-Unfallversicherung ein« (2r), wie Johnson es strikt nach Vorlage formuliert. Bei diesen Lebensstationen lässt Johnson nicht nur biographische Einzelheiten aus, er verzichtet auch darauf, an chronologisch passender Stelle auf das Œuvre hinzuweisen, etwa auf »Kafkas frühestes erhaltenes Werk«,988 die Beschreibung eines Kampfes, dessen Publikation in der Zeittafel für 1909 vermerkt wird. Kafkas Hoffnung jedoch, »durch solche Arbeit sein Lebenswerk zu sichern, mit bezahlter Leistung sich zu verdienen dass er schreiben durfte« (2v), erfüllt 982 983 984 985 986 987 988
Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 98. Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 98. Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 97. Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 304. Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 304. Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 304. Barbara Neymeyr: Beschreibung eines Kampfes, in: Kafka-Handbuch (Anm. 942), S. 91–102, hier: S. 91.
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sich nicht. Voller Emphase erzählt Johnson von diesem Scheitern. Es hat den Anschein, als identifiziere er sich in hohem Maße mit Kafka, als könne er dessen ungeliebte Zwitterstellung nur zu gut nachvollziehen: War dies Sicherung? War dies Sicherung eines Menschen der, an entscheidender Stelle verwundet, Sehnsucht hatte nach Natürlichkeit und Menschlichkeit des Lebens, und danach solches zu verwirklichen? Nein: es war nicht beruhigend989 Akten zu bearbeiten […]; es war beunruhigend zu lesen von Dienstmädchen die ihre neugeborenen Kinder mit Herrenkrawatten erwürgten und in die Kloake warfen […]. (2v)
Das Beispiel des Dienstmädchens hat Johnson dabei wiederum direkt übernommen, Brod zitiert es aus Kafkas Tagebuch vom 2. Juli 1913: »Geschluchzt über dem Prozeßbericht einer dreiundzwanzigjährigen Marie Abraham, die ihr fast dreiviertel Jahre altes Kind Barbara wegen Not und Hunger erwürgte, mit einer Männerkrawatte, die ihr als Strumpfband diente und die sie abband.«990 Auffällig ist hier, dass Johnson den Einzelfall im Plural wiedergibt und ihn so generalisiert, wodurch der aufs Exemplarische zielende Charakter des Beispiels noch mehr betont wird. Dabei unterstreicht er durch seine – zufällig den historischen Fakt treffende – Erfindung, es habe sich um ein Dienstmädchen gehandelt, deren prekäre gesellschaftliche Bedingungen im Kaiserreich. Darüber hinaus überzeichnet Johnson das Beispiel weiter eigenständig mit seiner Behauptung, dass die junge Mutter ihr Kind »in die Kloake« geworfen habe – weder in Kafkas Tagebucheintrag noch bei Brod ist von solcher Hyperbel und Ausschmückung die Rede.991 Und auch die »Zuchthausstrafen« (2v) sind Johnsons Erfindung, wahrscheinlich, um die »Verzweiflung und Not eingeengten Lebens« (2v) möglichst tragisch zeichnen zu können. Tatsächlich wurde Marie Abraham freigesprochen, und die Geschworenen sammelten am Ende des Prozesses sogar noch »den Betrag von sechzig Kronen« für sie.992 Ein Beleg dafür, dass die Belletristik häufig grausamer verfährt als die Wirklichkeit. Der Brotberuf des Autors, 989 Neumanns Transkription hat hier nicht nachvollziehbar »befriedigend« (Johnson, Das Leben Franz Kafkas (Anm. 954), S. 65). 990 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 105. Dieser Bericht über Marie Abraham könnte ein Hinweis auf Eisners Kafka-Buch sein, wo dieses Beispiel ebenfalls angeführt wird: »Sobbed over the newspaper account of Marie Abraham, aged twenty-three, who choked to death her almost nine-months-old child Barbara with a man’s tie, which served as a garter and which she unfastened« (Eisner, Franz Kafka and Prague (Anm. 925), S. 72). 991 Kafka bezieht sich bei seinem Tagebucheintrag auf einen Zeitungsartikel der Abendausgabe des Prager Tagblatts, worin die Gerichtsverhandlung ausführlich wiedergegeben wird. Dort wird – im Gegensatz zu Kafka – Marie Abraham als »vierundzwanzig Jahre alt« beschrieben, sie sei einst ein »Dienstmädchen in Prag« gewesen, bis sie ihren Geliebten kennenlernte, ihren Beruf aufgab und mit ihm drei Kinder hatte. Aus wirtschaftlicher Not heraus ermordete sie ihre jüngste Tochter schließlich in einem Wald, wo sie einige Tage später »unter einer Tonne« gefunden wurde (N. N.: Ihr Kind erwürgt. Das Motiv: Hunger, in: Prager Tagblatt. Abend-Ausgabe, 2. 7. 1913, S. 3). 992 N. N., Ihr Kind erwürgt (Anm. 991).
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so versucht Johnson hier offenbar zu vermitteln, stahl nicht nur dem Schreiben wertvolle Zeit, er rührte auch erheblich an die Psyche des Prager Autors – bedeutete »aufwühlende Unruhe993 für Franz Kafka« (2v). An diesem Beispiel aus Kafkas Berufsleben lässt sich noch ein rhetorisches Instrument Johnsons beobachten, nämlich die Wiederaufnahme gleicher bzw. sinnverwandter Begriffe eines Wortfelds: Es war »nicht beruhigend«, diese Akten zu lesen, »es war beunruhigend«, solche Schicksale zu erfahren, es erzeugte »aufwühlende Unruhe« im Schriftsteller (hier ist zudem die nuancierte Klimax bemerkenswert, hin zu »Unruhe«). Es finden sich weitere Beispiele, hier die augenfälligsten: – – – –
»Das Leben Franz Kafkas geschah« – »Das Leben Franz Kafkas war« (1r) »einem Streben nach Erwerb […], einem Streben dem alles diente« (1r) »Diese quälende Bindung« – »Die Bindung riss nie«(1v) »Kafka studierte in Prag. Er studierte« (1v) – »Kafka studierte […], Kafka studierte« (2r) – »die Beschäftigung […], und solche Beschäftigung« (2r) – »War dies Sicherung? War dies Sicherung eines« – »Dies war nicht Sicherung« (2v).
Solche »lexikalische[n] Rekurrenzen von wörtlicher Wiederholung des gleichen Lexems« sind ein wesentliches Merkmal von Textkohäsion,994 womit – nicht nur – der formale Zusammenhalt einer Isotopie in ihrer Oberflächenstruktur bezeichnet wird. Im Falle dieses Referats trägt darüber hinaus noch das von Johnson ›obstinativ‹ (freilich nicht ausschließlich) favorisierte Leittempus Präteritum zur Textkohäsion bei.995 In Verbindung mit den oben angesprochenen additiven Satzstrukturen zeigen sich Johnsons Ausführungen syntagmatisch und semantisch in einer Kohärenz stiftenden Weise verfasst, die deutlich auf Mündlichkeit, auf Performanz hin ausgerichtet ist. Erholung von der ›aufwühlenden Unruhe‹ habe es stets nur »in (zu kurzen) Urlaubszeiten« (2v) gegeben, von denen Brod ausführlich berichtet, wobei man sich »für zwei oder drei Wochen aus der Haft unserer Büroarbeit« befreit habe.996 993 Neumanns Transkription hat hier »Momente« (Johnson, Das Leben Franz Kafkas (Anm. 954), S. 65), was im Kontext zwar passen mag, durch das Manuskript aber nicht begründet ist. Überdies weist Johnson zuvor darauf hin, dass Kafkas Arbeit »nicht beruhigend« bzw. »beunruhigend« gewesen sei, womit die Steigerung zur »aufwühlende[n] Unruhe« vorbereitet wird. 994 Elisabeth Stark: Textkohäsion und Textkohärenz, in: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 20.1: Sprachtypologie und sprachliche Universalien, hg. von Armin Burkhardt, Hugo Steger und Herbert Ernst Wiegand, Berlin: de Gruyter 2001, S. 634– 656, hier: S. 641. 995 Als Obstination werden in der Textlinguistik »[h]ochgradige Rekurrenzwerte« sprachlicher Zeichen bezeichnet, sodass etwa »Tempus-Formen zu den obstinaten Zeichen« zählen (Weinrich, Tempus (Anm. 425), S. 25). 996 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 123.
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Den Stellenwert dieser Freizeitaktivitäten unterstreicht der Biograph, indem er sie detailliert referiert, etwa vom Baden, Rudern, Klettern und Wandern mittels Brief- und Postkartenzitaten erzählt.997 Johnson fasst diese Zeiten als »Flucht, Bewahrung, sehnsüchtige Erholung« (2v) nur knapp zusammen, um dann ähnlich kursorisch Kafkas Liebesleben zu referieren. So lässt er die von Brod breit berichtete mehrjährige Beziehung zu Felice Bauer vollständig unter den Tisch fallen und geht umstandslos zur letzten »Lebensgefährtin […] Dora Dymant« (3r)998 über. Damit überspringt Johnson nicht nur die Jahre der Berufstätigkeit Kafkas, was insofern noch einzusehen sein mag, als der Brotberuf dem Schriftsteller nur lästig war und schon genug darüber gesagt worden ist; Johnson übergeht aber auch die produktiven Phasen literarischen Schaffens, in denen etwa die drei Romane des Prager Autors entstanden sind. Die Charakterisierung der letzten Partnerin Dymant, sie sei ein »Mädchen aus jüdischer durchgeistigter Familie« (3r), kann dabei als Übernahme von Brod gelesen werden, demzufolge sie »aus einer angesehenen ostjüdischen chassidischen Familie« stamme, wobei der Referent seinem Publikum den Begriff des »chassidischen« sinngemäß erhellend übersetzt.999 Doch auch Dora bleibt bestenfalls Staffage, nur zum Schluss seines Referats kommt Johnson einmal auf sie zurück: Kafka habe »1923 in Berlin mit Dora Dymant« (3v) gelebt. Die Herausstellung dieser letzten Liebschaft bedeutet nicht nur einen erheblichen Zeitsprung, sondern kündigt die Auflösung der bis dato weitestgehend eingehaltenen chronologischen Ordnung des Referats an. Kafka lernte Dora im Sommer 1923 kennen, und zwar im mecklenburgischen Badeort Müritz (seit 1938 Graal-Müritz), das der sonst so heimatverbundene Johnson befremdlicherweise nicht erwähnt. Gleich im Anschluss, als sei es ihm eben noch eingefallen, trägt Johnson nach, dass Kafka seit 19021000 mit Max Brod befreundet gewesen und darüber hinaus noch »mit Franz Werfel und Oskar Pollack« (3r) Umgang gepflegt habe. Spätestens hier wäre für Johnson Gelegenheit gewesen, auf seine Quelle hinzuweisen, zumal Brod neben der Biographie schließlich auch die postume Veröffentlichung von Kafkas Werk verantwortet hat. Dieser Hinweis unterbleibt, stattdessen wird zusätzlich auf Werfel und Pollak verwiesen, was wahrscheinlich auf Brods Ausführungen über die teils engen Verbindungen zu beiden zurück997 Vgl. Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 123–152. 998 Johnson, wie auch Brod in seiner Biographie, schreibt in seinem Manuskript eindeutig die jiddische Namensform und nicht, wie es bei Neumann zu finden ist, das deutsche »Diamant« (Johnson, Das Leben Franz Kafkas (Anm. 954), S. 65). 999 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 240. 1000 Neumann hat hier 1901 (Johnson, Das Leben Franz Kafkas (Anm. 954), S. 65), was sich spätestens durch Brods Aussage als falsch erweist und nur mit Johnsons undeutlicher Handschrift zu erklären sein mag.
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gehen mag; Pollak als einziger Jugendfreund, Werfel als mit Kafka lebenslang freundschaftlich verbundener und zu Lebzeiten ungleich prominenterer Autor. Im literarischen und literaturwissenschaftlichen Diskurs der DDR spielte Werfel Mitte der 1950er Jahre hingegen kaum eine Rolle. Erst mit Beginn der Lizenzausgabe – dem S. Fischer Verlag in zähen Verhandlungen ausbedungen –1001 im Aufbau-Verlag ab 1956 (Die vierzig Tage des Musa Dagh) wurden seine Werke in der DDR wieder rezipiert. Johnson wird nach seinem Studium, im Sommer 1957, für den Aufbau-Verlag ein umfangreiches Exposé über die geplante DDR-Gesamtausgabe des österreichischen Schriftstellers anfertigen.1002 Stark raffend fasst Johnson dann das letzte Lebensjahrzehnt Kafkas zusammen. Seine kursorische Skizze dieser Jahre beginnt mit einer Fehldatierung, indem er die Erkrankung an »ernsthafter Tuberkulose« (3r) auf 1915 datiert und nicht, wie Brod und die Kafka-Forschung bis heute, auf das Jahr 1917.1003 Zutreffend hingegen bedeutet das Jahr 1915 »endlich eine Erträglichkeit« (3r) insofern, als Kafka in diesem Jahr »dem Bannkreis der Familie zu entgehen« weiß, »selbständig zu sein« versucht:1004 »Kafka bezog endlich ein eigenes Zimmer in Prag, gab die Stelle bei der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt auf, und lebte, obwohl bereits durch seine Krankheit behindert, durchaus für seine Arbeit« (3r). Hier ist Johnsons geringste Ungenauigkeit noch, dass Kafka zwar in der Tat 1915 ein eigenes Zimmer bezog, in der folgenden Zeit allerdings mehrfach die Wohnungen wechselte und mit Ausbruch seiner Krankheit sogar zeitweise zurück in die elterliche Wohnung zog. Seinen Dienst bei der Assekuranz hatte er überdies nicht ›aufgegeben‹: Zwar bittet er um seine Pensionierung, »erreicht jedoch nur einen Erholungsurlaub«.1005 Brod berichtet von diesem Entschluss, wonach Kafka einen »Erholungsurlaub verbringen sollte«, der »mehrmals verlängert« worden sei, wobei Kafka das »ein oder das andere Mal versuchte […], die Berufsarbeit wieder aufzunehmen, doch gelang es nur für kurze Zeitspannen.«1006 Für ›seine Arbeit‹ – womit Johnson offenbar auf das literarische Schreiben zielt – lebte Kafka erst wieder nach einiger Zeit, er unterbrach beispielsweise sein Tagebuch mit Bekanntwerden seiner Erkrankung und konzentrierte sich zunächst auf »Reflexionen und Notizen, die er in seinen Oktavheften« festhielt.1007 Mit einer weiteren Falschdatierung fährt Johnson fort, dass sich »1920 […] die Tätigkeit 1001 Vgl. Julia Frohn: Literaturaustausch im geteilten Deutschland 1945–1972, Berlin: Links 2014, S. 155–157. 1002 Vgl. Uwe Johnson: Herausgabe-Exposé über das erzählerische und dramatische Werk von Franz Werfel, in: ders., »Wo ist der Erzähler auffindbar?« (Anm. 13), S. 24–80. 1003 Vgl. Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 198 und S. 305 sowie Ekkehard W. Haring: Leben und Persönlichkeit, in: Kafka-Handbuch (Anm. 942), S. 1–27, hier: S. 20. 1004 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 188. 1005 Haring, Leben und Persönlichkeit (Anm. 1003), S. 20. 1006 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 200. 1007 Haring, Leben und Persönlichkeit (Anm. 1003), S. 21.
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und Verhinderung im Büro« (3r) fortgesetzt habe. Dieser Irrtum kann mutmaßlich anhand Brods Zeittafel erklärt werden, in der für 1920 festgehalten ist: »Nochmals Büro in Prag.«1008 Offenbar hat der Student bei seinen Vorbereitungen die detaillierteren Ausführungen des Biographen überblättert, die bereits für den »Sommer 1918« davon berichten, Kafka sei wieder »nach Prag« gekommen und habe »eine Zeitlang als Beamter« gearbeitet.1009 Johnson geht es bei seiner Darstellung der letzten Lebensjahre Kafkas kaum um biographische Stationen oder Einzelheiten. Selbst historisch einschneidende Ereignisse, der Erste Weltkrieg, die Novemberrevolution sowie die galoppierende Inflation, werden von ihm nur insofern berührt, als sie sich auf das Gefühlsleben auswirkten. Auf emotionale Überwältigung ist sein Fokus gerichtet, wenn er wiederum rhetorisch fragt: was sollte ›Erträglichkeit‹ ausrichten gegen ein Erlebnis von solcher Grausamkeit wie es der erste Weltkrieg war, gegen ein neues Aufbäumen des Vater-Problems, gegen die Jahre der Not und der Inflation die folgten, die Erschütterung brachten und Hilflosigkeit vor unmenschlichem Leiden das nicht zu bessern war, nicht anders zu bewältigen war als durch Mitleid. (3r).1010
Johnsons gefühlige Rede trägt den Hautgout einer triefenden Anklage gegen die Zeitläufte, die den ihren Umständen hilflos ausgelieferten Schriftsteller erschüttern. Zwar war Kafka selbst nicht als Soldat im Weltkrieg, war »als Beamter eines staatsnotwendigen Instituts vom Waffendienst enthoben«, aber mittelbar durchaus von ihm betroffen.1011 So musste Kafka beispielsweise seinen eingerückten und im Feld stehenden Schwager in dessen Fabrik vertreten, wodurch ihm noch zusätzlich Zeit für die eigene schriftstellerische Arbeit verloren ging, und mit dem Tod seines Jugendfreunds Oskar Pollak an der Isonzofront starb jener »Mann, der in jungen Jahren entscheidende Bedeutung für Kafka gewonnen hatte.«1012 Insgesamt aber nimmt der Krieg in Brods Darstellung, und in dessen Folge vermutlich auch in Johnsons Referat, nur eine Randstellung ein. Von der Inflation glaubt Brod dann allerdings, es sei der »schreckliche Inflati-
1008 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 306. 1009 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 205. 1010 Die kritische Edition dieser Texte Johnsons hat einige Arbeit vor sich; hier die Fehltranskriptionen Neumanns in diesem Zitat in der Reihenfolge ihres Auftretens: Johnson hat »Vater-Problems, gegen« statt Neumanns »Vaters. Dagegen, gegen«, »Erschütterung brachten« statt »Erschütterung erzeugten«, »durch Mitleid« statt »durch Arbeit« (Johnson, Das Leben Franz Kafkas (Anm. 954), S. 65, und Bl. 3r). 1011 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 189. Nachdem Kafka zunächst für untauglich erklärt worden war, wurde er bei einer weiteren Musterung dann doch für kriegstauglich befunden. Und obwohl er sich dann darum bemühte, auch tatsächlich eingezogen zu werden, verhinderte das sein Arbeitgeber, später dann seine Krankheit. 1012 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 73.
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onswinter 1923« gewesen, »der recht eigentlich Franz getötet« habe.1013 Auf solche Spekulationen lässt sich Johnson freilich nicht ein, folgt dem Biographen jedoch immerhin insoweit, als Kafka die »Not der Armen […] ans Herz« gegriffen habe.1014 Der betont in die Schriftstellerpsyche einfühlende Bericht wird dann allerdings in erstaunlicher Weise durchbrochen, in einer Ruptur, die sich nur mit dem historischen Ort des Referats erklären lässt: »Nach Kafkas Einsicht«, formuliert Johnson, sei der bemitleidenswerte Zustand der Welt »nicht zu bessern« (3r). Die an dieser Stelle überraschende Begründung lautet: »Denn der organisierten Arbeiter-Bewegung1015 und ihrer Theorie stand er völlig fern« (3r). Die hier unausgesprochene, gleichwohl offensichtliche Pointe folgt also der Prämisse, dass eine Nähe oder Neigung zur ›organisierten Arbeiterbewegung‹ Kafka Hoffnung auf ›Weltverbesserung‹ hätte geben können. Was hier etwas leerformelhaft anklingt, ist ein – vermutlich ironisch gebrochener – Kotau vor der ideologisch verordneten Leitdisziplin aller Wissenschaften in der DDR. Gemäß einer dogmatisch präfigurierten Lesart nach marxistisch-leninistischem Strickmuster hat der Referent damit sicherlich recht. Es ließe sich zudem argumentieren, er setze damit jenen politischen Faden seines Vortrags fort, der mit dem ›bourgeoisen‹ Vater begonnen wurde und sich mit den Erfahrungen Kafkas bei der ArbeiterUnfallversicherung weiterspann. Einige Gründe sprechen allerdings gegen eine derart sinnfällige Lesart: An erster Stelle steht dabei der Umstand, dass das subjektive Krisenempfinden äußerst unvermittelt, unvorbereitet, fast schon ruppig mit dem Fehlen eines spezifischen politischen Interesses – oder gar einer Teilhabe – in Verbindung gebracht wird. Schon bei der Behandlung der ungeliebten Büroarbeit hätte Gelegenheit bestanden, über Kafkas Haltung den ›Arbeitern‹ gegenüber zu sprechen. Brod hätte dafür Material geliefert, berichtet etwa davon, dass Kafkas »soziales Gefühl […] mächtig aufgewühlt« worden sei, »wenn er die Verstümmelungen sah, die sich Arbeiter infolge mangelhafter Sicherheitsvorkehrungen zugezogen hatten«; und zitiert den Autor mit den Worten: »Wie bescheiden diese Menschen sind […]. Sie kommen zu uns bitten. Statt die Anstalt zu stürmen und alles kurz und klein zu schlagen, kommen sie bitten.«1016 Darüber hinaus habe Kafka, so Brod weiter, »einen großen Teil seiner Welt- und Lebenskenntnis […] aus der Berührung mit den Unrecht leidenden
1013 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 245. 1014 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 245. 1015 Obwohl in Johnsons Manuskript das Wort am Zeilenende nach »Arbeiter-« getrennt wird, beginnt die folgende Zeile deutlich mit der Großschreibung »Bewegung«, was gegen Neumanns Transkription »Arbeiterbewegung« spricht (Johnson, Das Leben Franz Kafkas (Anm. 954), S. 65). 1016 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 102.
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Arbeitern« gewonnen.1017 Johnson seinerseits beachtet in seiner Darstellung diesen sich aus der beruflichen Praxis potenziell anbietenden menschlichen und politischen Aspekt überhaupt nicht. Stattdessen konzentriert er sich auf die Auswirkungen der Büroarbeit auf Psyche und Werkstiftung des Autors, erwähnt zwar die Berichte der durch nachlässigen Arbeitsschutz verstümmelten Arbeiter, rückt dabei aber bereits syntagmatisch das emotional eindringlichere Beispiel der Kindsmörderin in den Fokus der Aufmerksamkeit. Und so kann die durch Johnsons »Denn« (3r) behauptete Kausalität von Arbeiterbewegung mit Hoffnung auf ›Weltbesserung‹ kaum anders als ironisch gelesen werden. Einer politisch-ideologischen Ausdeutung dieses Lebens, wie sie Jahre später etwa in Liblice geschehen sollte, wird damit eine Abfuhr erteilt. In kantig-abrupter Weise schwenkt Johnson auf den gesellschaftspolitisch verordneten Kurs aller Humanwissenschaften in der DDR ein, um sich davon brüsk zu distanzieren. Schließlich zieht Kafka mit Dora Dymant für einige Zeit nach Berlin, wo er weit weniger unter der »Bewegung der Gross-Stadt und ihrer hektischen1018 ausgehöhlten armseligen Existenz« (3v) leidet, als Johnson es ihm unterstellt. Zumindest wenn man Max Brod Glauben schenken mag, der Kafka in »seinem letzten Lebensjahr, das trotz der grauenhaften Krankheit ihn vollendete, auf dem richtigen Weg und mit seiner Lebensgefährtin wahrhaft glücklich gesehen« haben will.1019 Mag die Ausdeutung der subjektiven Befindlichkeit in die eine oder andere Richtung möglich sein, und mag der Biograph anders gewichten als der Hochschüler,1020 so sollte es bei der Wiedergabe von Fakten jedoch keinen Spielraum geben. Nur wenige Monate lebte Kafka in Berlin, bevor er wegen seines sich stark verschlechternden Gesundheitszustands im März 1924 zunächst nach Prag (in die elterliche Wohnung) und dann in das Sanatorium »Wiener Wald in Niederösterreich« gebracht wurde.1021 Nach einem Aufenthalt in der Wiener Universitätsklinik wird er von Dora »schließlich ins ländlich gelegene Sanatorium Dr. Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg« eingeliefert, wo er am 3. Juni 1924 stirbt.1022 Johnsons Darstellung dieser letzten Wochen verkürzt Kafkas Leiden bis zur Verfälschung, denn weder »suchte er im März 1924 ein prager Sanatorium auf« noch »starb er in einem Krankenhaus bei Wien« (3v).
1017 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 104. 1018 Neumann hat hier »rachitisch« transkribiert (Johnson, Das Leben Franz Kafkas (Anm. 954), S. 65). 1019 Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 242. 1020 Brod berichtet etwa vermittels Dymant, dass Kafka, der im erst wenige Jahre zuvor zu Gros-Berlin eingemeindeten Vorort Steglitz wohnte, von Fahrten in die eigentliche Stadt erheblich erregt zurückkehrte, »wie aus dem Schlachtgetümmel« (Brod, Franz Kafka (Anm. 919), S. 245). 1021 Haring, Leben und Persönlichkeit (Anm. 1003), S. 24 [Hervorh. im Original]. 1022 Haring, Leben und Persönlichkeit (Anm. 1003), S. 24.
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So erweckt vor allem dieses letzte Drittel seines Referats den Eindruck hastiger, kursorischer Erarbeitung. Johnsons in anderen Fällen penible Arbeitsweise kommt hier nicht zum Tragen, ist vielleicht, wenigstens zum Teil, auch gar nicht gewollt. Es kommt Johnson auf die exakten Einzelheiten offenbar gar nicht an. Vielmehr liefert er mit großer Identifikationsbereitschaft eine Art Psychogramm des Prager Schriftstellers und seiner »schreibende[n] Weise des Lebens« (1r). Prototypisch ist hier zu beobachten, wie sehr Max Brods Lebensdarstellung die Kafka-Rezeption geprägt und das ›unglückliche Bewusstsein‹ des Schriftstellers festgeschrieben hat. Er ist damit ähnlich wirkungsmächtig wie Goethe mit seinem Werther, sodass man respektvoll sagen muss: ›Se non è vero è ben trovato!‹1023 Genau darauf legt Johnson den Fokus seines Referats, auf das Spannungsverhältnis zwischen künstlerischer Werkstiftung und pragmatischer Lebensfähigkeit und -nützlichkeit, die (angeblich) den Grundkonflikt in Kafkas Vita markiert. Damit bringt Johnson einen Topos unzähliger Schriftstellerbiographien aufs Tapet, den Thomas Mann etwa als den »Anschein einer Feindseligkeit des Dichters gegenüber der Wirklichkeit« begriff, und den er sogleich als Fehldeutung des Publikums entlarvt, das nicht zwischen »Künstler- und Menschentum« unterscheiden könne, denn der »Blick, den man als Künstler auf die äußeren und inneren Dinge richtet, ist anders als der, womit man sie als Mensch betrachtet«.1024 Diese ›Feindseligkeit‹ ist nun, ungeachtet Manns Ausdeutungen, immer wieder nicht nur für das Werk, sondern vor allem für das Leben etlicher Schriftsteller durch ihre Biographen zu einem Paradigma der Künstlerexistenz der Moderne erhoben worden. Hinzu kommt, auch das kann inzwischen als biographischer Topos gelten, das Leiden des künstlerisch veranlagten Jünglings unter einer dominanten und durch die Nachwelt zu verurteilenden Vaterfigur.1025 1023 ›Wenn es nicht wahr ist, ist es gut gefunden!‹ Mit einer Variante dieser auf Giordano Bruno zurückgehenden Redewendung bedenkt bekanntlich Dörchläuchten das Seemannsgarn Kasper Ohms (vgl. John Brinckman: Kasper-Ohm un ick. Een Schiemannsgoorn, Greifswald: Abel 1928, S. 190). 1024 Thomas Mann: Bilse und ich, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 14.1: Essays I. 1893–1914, hg. und textkritisch durchgesehen von Heinrich Detering, Frankfurt am Main: S. Fischer 2002, S. 95–111, hier: S. 105 und S. 107 [Hervorh. im Original]. 1025 Ein markantes Beispiel für eine solche Dämonisierung der Väter liefert Emanuel Hurwitz: Otto Gross. »Paradies«-Sucher zwischen Freud und Jung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979. Ebenfalls in die Zeit passt die Darstellung von Falladas Vater bei Jenny Williams: Mehr Leben als eins. Hans-Fallada-Biographie, aus dem Englischen übersetzt von HansChristian Oeser, Berlin: Aufbau-Verlag 2002. Und nicht zufällig trägt eine der jüngsten Kafka-Biographien den Titel Der ewige Sohn. Das Kafka-Handbuch relativiert einleitend mit Blick auf die Werkstiftung immerhin: »Der angeblich so zentrale Vater-Sohn-Konflikt bestimmt in Wahrheit nur die Schriften aus der ersten Phase des mittleren Werks« (Manfred Engel, Bernd Auerochs: Vorwort, in: Kafka-Handbuch (Anm. 942), S. XIII–XVI, hier: S. XIV). Noch Joachim Unseld sollte sich, womöglich im Konflikt mit deinem eigenen ›Übervater‹, dem Verleger Siegfried Unseld, für eine Dissertation über Kafkas ›Schrift-
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Johnsons Referat reiht sich in dieses Deutungsmuster ein, das vorgibt, Leben und Werk hinlänglich miteinander verschränken zu können. Angesichts seiner Quelle ist ihm daraus jedoch kaum ein Vorwurf zu machen, hat Brod seine Lebensbeschreibung Kafkas doch topologisch nach eben diesem Erklärungsmuster ausgerichtet, ihr überdies noch seine eigene religiöse Perspektive eingeschrieben, von der sich Johnson immerhin explizit emanzipiert. Einige Aspekte und Konstellationen, die von dieser Biographie behauptet werden, dürften für den angehenden Schriftsteller Johnson denn auch von besonderem Interesse gewesen sein: »Das Aufschreiben nun dessen was durch ihn hindurchmusste […] war Lebensweise, war Notwendigkeit« (2r). Dieser Zu- und Vorgriff auf die »Lebenswerk«-Thematik, die nur eine dem Künstler gemäße »Lebensweise« kennt, die Werkstiftung nämlich, impliziert eine Unvereinbarkeit von Leben und Werk. Das Beispiel Kafkas – im Leben ›gescheitert‹, das Werk Fragment geblieben – führt Johnson vor Augen, dass es hier keine Kompromisse geben könne. Als Beamter habe Kafka vergeblich versucht, mit seiner »Arbeit sein Lebenswerk zu sichern« (2v), so Johnson. Aber das »Lebenswerk« ordnet der Werkstiftung alles unter: sonstige berufliche Ambitionen und gesellschaftliche Rollen, die Herkunftsfamilie und die eigene Fortpflanzungsfamilie, die Freundschaften, das persönliche Wohlergehen und Auskommen. Für das Lebenswerk wird gegebenenfalls die Gesundheit aufs Spiel gesetzt, werden Beziehungen infrage gestellt oder aufgelöst, werden Ablenkungen und sonstige Neigungen bis zur Selbstisolation zurückgedrängt. Mit der Idee des Lebenswerkes erschafft sich der Künstler ein raumgreifendes Ungetüm, das alle seine Kräfte mit Beschlag belegt, und zwar auf lange Sicht, als sei er für die Welt gestorben. Für viele Autoren der Moderne war das augenscheinlich ein attraktives Modell, und wohl auch für Uwe Johnson, der offenkundig bemüht war, nicht einzelne Werke vorzulegen, sondern ein Werk mit innerem Zusammenhang. So führt das Adreßbuch für die Jahrestage auch in viele andere Romane und Erzählungen seines Œuvres.1026 Ein solches Lebenswerk war offenbar nur durch ein ›schreibendes Leben‹ zu erreichen: »Goethe starb schreibend«, konstatiert Thomas Mann, der Weimarer Klassiker habe noch im Augenblick seines Todes getan, was er »sein Leben lang
stellerleben‹ entscheiden (vgl. Joachim Unseld: Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben. Die Geschichte seiner Veröffentlichungen, mit einer Bibliographie sämtlicher Drucke und Ausgaben der Dichtungen Franz Kafkas, 1908–1924, Diss. Berlin 1981 (1982 im Münchner Hanser Verlag publiziert). 1026 Vgl. Kleines Adreßbuch für Jerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman ›Jahrestage‹. Angelegt mit Namen, Orten, Zitaten und Verweisen von Rolf Michaelis, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983.
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getan hatte: er schrieb auf«.1027 Er war ein Schriftsteller noch im Tode, das hatte Thomas Mann sagen wollen, eine Briefstelle Goethes zitierend: »Eigentlich bin ich zum Schriftsteller geboren.«1028 Und was Goethe für die Klassik war, das war Kafka für die Moderne. Für ihn postuliert Johnson »eine schreibende Weise des Lebens« (1r). Und obwohl Johnson in seinem Vortrag keine explizite Bewertung eines solchen Lebens vornimmt, so wird doch deutlich, dass er dieser Lebensweise einiges abgewinnen kann, der gegenüber er bestenfalls »Erträglichkeit« auszumachen vermag. Als arrivierter Schriftsteller, der an der Vollendung des eigenen Lebenswerks arbeitet, wird Johnson diese Lebens- und Arbeitsweise erneut zu seinem Thema machen. Eingangs seiner Poetikvorlesungen spricht er eine Warnung aus, gegründet auf seine »Erfahrungen im Berufe des Schriftstellers«, seine »zwanzig Jahre in diesem Bereich«, will er sein Publikum gewarnt wissen vor »einer Ausrichtung seines Lebens auf das so genannte Schreiben«.1029 Dabei kokettiert er mit diesem Topos des ›schreibenden Lebens‹, berichtet mit dem ihm eigenen, zugleich ernsthaften wie ironischen Ton von den Umständen, die »einen gewöhnlichen jungen Menschen abdrängen […] auf jene Bahn, an deren Ende der Beruf des Schriftstellers droht; […] wie er tatsächlich ins Schreiben gerät.«1030 Ging es Johnson zu Beginn seines Studiums, und vielleicht auch noch zum Zeitpunkt dieses Referats noch nicht darum, »sich zu verdienen dass er schreiben durfte« (2v), so kann das allerdings für die unmittelbar darauffolgende Zeit gelten. Nach seinem Studium bemühte er sich einerseits um Brotarbeit bei Verlagen, und versuchte parallel andererseits, seinen ersten Roman zu veröffentlichen, »besessen von dem Wahn, aus einem abgeschlossenen Typoskript müsse zwangsläufig ein gedrucktes und erhältliches Buch werden.«1031 Dieses Buch sollte in seiner Heimat, die nun einmal die DDR war, erscheinen, er fühlte sich mit ihr verbunden, und bringt dafür eine bemerkenswerte Begründung vor, die seine ›Warnung‹ vor dem eigenen Beruf hinfällig machen muss: »Er zog das Land D.D.R. vor. Schreibend meinte er es endgültig erworben zu haben wie ein Eigentum.«1032 Dieser Hochschulabsolvent wollte es sich ›verdienen‹, dass er ›schreiben durfte‹, formuliert Johnson hier – viele Jahre später – doppelsinnig, 1027 Thomas Mann: Goethe’s Laufbahn als Schriftsteller, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelbänden, Frankfurter Ausgabe, hg. und mit Nachbemerkungen versehen von Peter de Mendelsohn, Frankfurt am Main: S. Fischer 1982, S. 180–209, hier: S. 181. Wie sehr sich Thomas Mann mit dieser Haltung identifizierte, rekonstruiert Rolf Günter Renner: Lebens-Werk. Zum inneren Zusammenhang der Texte von Thomas Mann, München: Fink 1985. 1028 Mann, Goethe’s Laufbahn als Schriftsteller (Anm. 1027), S. 181. 1029 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 24. 1030 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 57. 1031 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 88. 1032 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 152.
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und er wollte sich die DDR, gleichermaßen für sie und für sich werbend, erwerben. So gelesen wäre Ingrid Babendererde ein Plädoyer für die DDR, ein Buch, mit dem man sich Heimatrecht erwirbt. Und zwar nicht trotz der Kritik, die man an ihren ›Verhältnissen‹ zu üben hat, sondern gerade wegen und aufgrund dieser Kritik, die als Aufbauleistung und Hilfestellung auf dem Weg zu einem tatsächlich besseren Deutschland gewertet wird. Vergeblich: »Schreibend« hatte sich Johnson eine Heimat gestiftet, die zufällig, der Zeitläufte wegen, auch vom Staatsgebilde der DDR beansprucht wurde. Diesen Ort mochte er nicht gern verlassen. Er tat es schließlich doch, und zwar seinem Werk zuliebe, ließ Freunde und auch seine künftige Ehefrau zurück, ging in jenes andere Land, wo sein Werk ein Publikum finden konnte. Und so ›geschah‹ auch Johnsons Leben ›schreibend‹.
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Montag, 4. Juni 1956 Eine seiner letzten Prüfungen auf dem Weg zum Diplom ist Johnsons Klausur über Heinrich Heines Wintermärchen gewesen. Das Thema war keineswegs zufällig gewählt: »1956 stand – nach Goethe und im Jahr zuvor Schiller – Heinrich Heine auf dem offiziellen Feiertagskalender der DDR: sein 100. Todestag stand ins Haus.«1033 Für den um ein eigenes kulturelles Erbe bemühten jungen ostdeutschen Staat war dies »ein glücklicher Zufall«.1034 Es bot sich mit Heine die Gelegenheit, neben den beiden großen, über alle Zweifel erhabenen und in Ost wie West geehrten Klassikern, ein kulturelles, literarhistorisches Alleinstellungsmerkmal zu propagieren und zu popularisieren; und in der Folge darüber hinaus auch ein ›Alleinvertretungsrecht‹ zu beanspruchen.1035 Ausdruck dieses Anliegens war die von Wolfgang Harich bei Aufbau besorgte, sechsbändige Leseausgabe der Gesammelten Werke (1951). Diese Auswahlausgabe fußte sowohl auf der von Ernst Elster herausgegebenen Klassiker-Ausgabe der Sämtlichen Werke in sieben Bänden (Meyers Klassiker-Ausgaben, Leipzig und Wien: Bibliographisches Institut, 1887–1890) wie auch auf Oskar Walzels 1033 Dieter Schiller: Die Heine-Konferenz 1956 in Weimar, in: Heine-Jahrbuch, 46/2007, S. 199– 211, hier: S. 199. 1034 Schiller, Die Heine-Konferenz 1956 in Weimar (Anm. 1033), S. 199. 1035 Vgl.: »Auf Heinrich Heines Schaffen beanspruchte die DDR-Politik das Alleinvertretungsrecht, ausgewählte und stets mit politisch richtigen Interpretationsvorgaben versehene Texte Heines gehörten zum Kanon des Literaturunterrichtes.« Die Verehrung und Aneignung war aber keineswegs bedingungslos. Als später die Säkularausgabe erarbeitet wurde, »zensierte die ZB [Zentralbibliothek der Deutschen Klassik; AK] neun wissenschaftlich seriöse Publikationen über Heine zwischen 1972 und 1986« (Roland Bärwinkel: Zensur in der Zentralbibliothek der deutschen Klassik von 1970 bis 1990, in: »Forschen und Bilden«. Die Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar 1953–1991, hg. von Lothar Ehrlich, Köln: Böhlau 2005, S. 125–165, hier: S. 158).
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Edition der Sämtlichen Werke in zehn Bänden (1910–1920 im Leipziger Insel Verlag). Sie zog sofort die Kritik Bruno Kaisers auf sich, weil sie die neueren Forschungsergebnisse der elfbändigen Edition von Fritz Strich (München: Müller 1925) nicht berücksichtigt habe.1036 Harichs Edition bot weder einen neuen Text- noch einen neuen Forschungsstand, doch sie erschloss Heine für ostdeutsche Nachkriegsleser. Erst die zehnbändige Heine-Ausgabe Hans Kaufmanns (Berlin und Weimar: Aufbau 1961–1964), in dessen Augen Harichs Sammlung »den literatur- und kunsttheoretischen Arbeiten Heines eine zu geringe Bedeutung«, den politischen aber eine zu große beigemessen habe, setzte diesbezüglich andere Standards.1037 Ein Alleinstellungsmerkmal gelang der DDR mit Heine jedoch kaum: In der Bundesrepublik erschien als ehrgeiziger Auftakt einer wiedergutmachenden Erbepflege die erste Gesamtausgabe der Briefe, herausgegeben von Friedrich Eugen Hirth. Zwischen 1948 und 1957 wurden drei Text- und drei Kommentarbände im Mainzer Kupferberg Verlag vorgelegt, nach den Handschriften ediert sowie eingeleitet und kommentiert vom Herausgeber. 1956 erwarben die Stadt Düsseldorf, das Land Nordrhein-Westfalen und die Bundesrepublik Deutschland den handschriftlichen Nachlass Heines für das Düsseldorfer HeineArchiv; er bildete die Basis für die westdeutsche Heine-Edition von Manfred Windfuhr.1038 Ob und in welchem Ausmaß Heine in der jungen Bundesrepublik »zu einem Opfer der unbewältigten Vergangenheit, des Kalten Kriegs und der allgemeinen Wiederherstellungspolitik«1039 geworden ist, und wie weit die »fortdauernde
1036 Vgl. Wolfgang Harich zum Gedächtnis. Eine Gedenkschrift in zwei Bänden, hg. von Stefan Dornuf und Reinhard Pitsch, Bd. 1, München: Müller & Nerding 1999, S. 221–223. 1037 Hans Kaufmann: Rezension zu: Heine: Gesammelte Werke, in: Aufbau, 1952, H. 3, S. 282– 285, hier: S. 283. 1038 Vgl. Heinrich Heine: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf, Hamburg: Hoffmann und Campe 1973–1997. Anfang des 20. Jahrhunderts hatte der Leiter des Bibliographischen Instituts in Leipzig, der Professor für Kolonialgeographie und Kolonialpolitik und Erstbesteiger des Kilimandscharo Hans Meyer (sic), den Nachlass Heinrich Heines aus Paris erworben. Später verkaufte er daraus die Handschriften an die ›Bankiersfamilie Strauß‹, von deren Erben die Manuskripte dann 1956 für Düsseldorf gekauft werden konnten (vgl. Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 3: Nordrhein-Westfalen, A–I, hg. von Severin Corsten, Hildesheim: OlmsWeidemann 2006, S. 296). Vgl. Bodo Plachta: Heine-Editionen, in: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte, hg. von Rüdiger Nutt-Kofoth und Bodo Plachta, Tübingen: Niemeyer 2005, S. 141–161. 1039 Jost Hermand: Streitobjekt Heine. Ein Forschungsbericht 1945–1975, Frankfurt am Main: Athenäum Fischer Taschenbuch 1975, S. 25.
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Geringschätzung Heines«1040 gereicht haben mag, kann hier nicht untersucht werden. Festzustellen bleibt, dass Heine bald wieder in Schul- und Überblicksanthologien (wie den ›Echtermeyer‹, ab 1954 neugestaltet von Benno von Wiese) aufgenommen wurde, und dass Auswahlausgaben sowohl der Lyrik wie auch der Prosa bei Reclam (Stuttgart) und anderswo, teils noch vor der Staatsgründung, erscheinen konnten.1041 Zweifellos blieb das Verhältnis der Deutschen zu Heine angespannt: Schon im Kaiserreich und in der Weimarer Republik kaum wohlgelitten, wahlweise angegriffen wegen seiner Herkunft aus einer Düsseldorfer Kaufmannsfamilie assimilierter Juden oder aufgrund seiner vorgeblich antideutschen Ressentiments, konnte sich der Autor bestenfalls mit seiner verträglichen Lyrik (Die Lore-Ley) breit im bürgerlichen Publikum verankern, während sein satirisches Œuvre weit weniger geschätzt und rezipiert wurde. Die Nationalsozialisten versuchten schließlich, ihn »aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen auszulöschen.«1042 Die politisch motivierte Ausgrenzung des Autors wirkte noch bis in die junge Bundesrepublik nach, beispielsweise auch im teils unveränderten universitären Lehrpersonal, das sich nun generell von politischen Ausdeutungen tunlichst distanzierte – nicht ohne Grund erlebten werkimmanente Interpretationsansätze eine Konjunktur. Der »Wunsch zur Entpolitisierung« einerseits und die »immer noch nicht seltene[] Geringschätzung Heines« andererseits führten dazu, »dass sich die meisten Germanisten in Publikationen nicht oder nur am Rande mit ihm befassten.«1043 In der Sowjetischen Besatzungszone wurde bereits im Herbst 1945 das Wintermärchen in einer Auflage von 20.000 Exemplaren im Aufbau-Verlag herausgegeben, 1947 feierte man offiziell den 150. Geburtstag des Autors. Bei dieser Gelegenheit kam der Schriftsteller, Kulturfunktionär und spätere Herausgeber
1040 Heine und die Nachwelt. Geschichte seiner Wirkung in den deutschsprachigen Ländern, Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare, Bd. 2: 1907–1956, hg. von Dietmar Goltschnigg und Hartmut Steinecke, Berlin: Schmidt 2008, S. 138. 1041 Vgl. Heinrich Heine: Reisebilder. Eine Auswahl, hg. und mit einem Nachwort versehen von Klaus Herrmann, Stuttgart: Günther 1946; Heinrich Heine: Deutschland, ein Wintermärchen, Stuttgart: Reclam 1947; Heinrich Heine: Die Harzreise. Nach den Ausgaben von Elster, Walzel und Strich revidiert und mit Anmerkungen versehen von Manfred Windfuhr. Mit einem Nachwort von Friedrich Sengle, Stuttgart: Reclam 1955. Das Düsseldorfer HeineJahrbuch wurde 1962 begründet, die Heine-Studien erscheinen seit 1971, wichtige HeineMonographien seit den sechziger Jahren. 1042 Hartmut Steinecke: »Schluß mit Heinrich Heine!« Der Dichter und sein Werk im nationalsozialistischen Deutschland, in: Heine-Jahrbuch, 47/2008, S. 173–205, hier: S. 173. 1043 Goltschnigg, Steinecke, Heine und die Nachwelt (Anm. 1040), S. 137.
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des populären Heine-Lesebuchs,1044 Walther Victor, nicht umhin, Heines »fast immer grandiose Aktualität zu bewundern« – und er formulierte, absichtlich oder nicht, richtungsweisend die künftige, explizit politisch motivierte HeineRezeption in der DDR: »der Denker, ja der Sozialpsychologe und Gesellschaftswissenschaftler Heine« sollte in ihrem Fokus stehen.1045 Neben den Gesammelten Werken in sechs Bänden erschienen weitere Einzelpublikationen, die Heine auch einem breiteren Publikum in diesem Sinne näher bringen sollten.1046 Und im nächsten ›Heine-Jahr‹ 1956, anlässlich des hundertsten Todestags, konnte die DDR-Germanistik mit einer tatsächlich international besetzten Heine-Tagung einen Prestigeerfolg für sich verbuchen.1047 Von Anfang an sollte »in der DDR mit erheblicher publizistischer Anstrengung Heine als Klassiker neu etabliert« werden.1048 Die DDR versuchte Heine dort zu fassen, wo er gemäß Franz Mehrings marxistischer Lesart als »sozialistischer Lyriker hervortritt«, etwa im Weberlied und gerade im Wintermärchen;1049 und Georg Lukács machte »Heine als nationalen Dichter kenntlich.«1050 Für die Literaturwissenschaft der DDR jedoch war und blieb Heine ein Zweifelsfall, wie das folgende Zitat belegt: Gerade aber weil Heine sich in seiner politischen und poetischen Konfession so deutlich der Arbeiterklasse näherte und sein Werk zum unmittelbaren Vorläufer und direkten 1044 Vgl. Heine. Ein Lesebuch für unsere Zeit, hg. von Walther Victor, Weimar: Thüringer Volksverlag 1950. Bereits 1954 erreichte das Buch in der 7. Auflage das 91.–100.000. Exemplar. 1045 Walther Victor: Heine, der unser war …, in: Neues Deutschland, 13. 12. 1947, S. 3. 1046 Vgl. Walther Victor: Marx und Heine. Tatsache und Spekulation in der Darstellung ihrer Beziehungen, Berlin: Henschel 1951; Werner Ilberg: Unser Heine. Eine kritische Würdigung, Berlin: Henschel 1952; Heinrich Heine: Die Harzreise. Nach Adolph Strodtmanns Handexemplar berichtigt und hg. von Otto F. Lachmann, Leipzig: Reclam 1952; Heinrich Heine: Briefe aus Berlin, hg., eingeleitet und mit Erläuterungen versehen von Herbert Scurla, Berlin: Verlag der Nation 1953; Heinrich Heine: Zur Geschichte der deutschen Philosophie, hg. von Wolfgang Harich, Berlin: Aufbau-Verlag 1956. 1047 Hier wurde als vielleicht wichtigstes und nachhaltiges Ergebnis über eine Heine-Gesamtausgabe diskutiert, woraus sich die Säkularausgabe entwickeln sollte. Dennoch hatte dieser ›Erfolg‹ einen Beigeschmack, kurz nach der Tagung wurde deren Hauptredner Harich verhaftet, was zur Folge hatte, dass der geplante Tagungsband, der den Erfolg weithin und dauerhaft sichtbar machen sollte, nicht erscheinen konnte (vgl. dazu Schiller, Die HeineKonferenz 1956 in Weimar (Anm. 1033)). 1048 Walter Reese: Zur Geschichte der sozialistischen Heine-Rezeption in Deutschland, Frankfurt am Main: Lang 1979, S. 242. 1049 Franz Mehring: Sozialistische Lyrik. G. Herwegh – F. Freiligrath – H. Heine, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung. In Verbindung mit einer Reihe namhafter Fachmänner aller Länder hg. von Carl Grünberg, Bd. 4, Stuttgart: Kohlhammer 1914, S. 191–221, hier: S. 218. Mehrings Aufsatz war ein wesentlicher Referenzpunkt der marxistischen Literaturkritik der DDR. 1050 Ernst Bloch: Diskussion über Expressionismus (1938), in: ders., Erbschaft dieser Zeit, erweiterte Ausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 264–275, hier: S. 270.
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Erbe der sozialistischen Literatur wurde, er aber den nächsten Schritt, »nämlich unter Bedingungen, da das Proletariat als einzige revolutionäre Kraft der alten Gesellschaft gegenüberstand, ›die große Idee seines Lebens‹ mit den Bestrebungen dieser Klasse ganz zu vereinigen«, nicht zu gehen vermochte, – gerade deshalb gewinnen diese Äußerungen eine symptomatische Bedeutung für die vom Standpunkt bürgerlich-humanistischer, kritischer und liberaler Schriftsteller und Dichter aus vorgenommene Gegenüberstellung von Kunst und Proletariat, wie sie auch Clara Zetkin kritisch wertete.1051
Die Vereinnahmung Heines für das jeweilige Gesellschaftsmodell konnte, folgt man Hans Mayer, weder in West- noch in Ostdeutschland gelingen, weil Heine »jenseits der Religionen, Weltanschauungen und eingespielten gesellschaftlichen Systeme« sozialisiert worden sei, was ihn zum »einzigartigen Fall des Menschen ganz ohne Tradition« gemacht habe.1052 Hans Mayer spielte bei dieser staatlich verordneten ›Heine-Renaissance‹ kaum eine Rolle. Seine wesentlichen Beiträge dazu waren eine noch in Frankfurt am Main gehaltene Rede zum Gedenkjahr 1947, die zwei Jahre später in der DDR 1051 Manfred Naumann u. a.: Gesellschaft – Literatur – Lesen. Literaturrezeption in theoretischer Sicht, Berlin: Aufbau-Verlag 1973, S. 260. 1052 Hans Mayer: Ahnen und Erinnern Heinrich Heines, in: ders., Literatur der Übergangszeit. Essays, Berlin: Volk und Welt 1949, S. 31–50, hier: S. 34. Joseph A. Kruse zitiert diesen Satz Mayers zustimmend in seinem Aufsatz über Heine als Theologe; vgl. ders., »Die wichtigste Frage der Menschheit«. Heine als Theologe, in: Heinrich Heine. Neue Wege der Forschung, hg. von Christian Liedtke, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2000, S. 147–162, hier: S. 151. Mayer erweiterte später den Text seines einstigen Festvortrags und veröffentlichte ihn 1959 in der Bundesrepublik; vgl. ders., Die Ausnahme Heinrich Heine, in: ders. , Von Lessing bis Thomas Mann. Wandlungen der bürgerlichen Literatur in Deutschland, Pfullingen: Neske 1959, S. 273–296. Aufhorchen lassen dabei einige Überarbeitungen, die offenbar dem bundesdeutschen Leser von ›bürgerlicher Literatur‹ entgegenkommen sollten – diesem wird gleich zu Beginn historische Distanz mittels Präteritum angezeigt: »Heine – das bedeutete damals Bekämpfung von Vorurteilen« (1959, S. 273), dem Leser in der DDR dagegen wird Aktualität suggeriert: »Heine – das bedeutet Bekämpfung von Vorurteilen« (1949, S. 31). Im jüngeren Text spricht Mayer dann auch nicht mehr vom »Genie des jungen Dr. Marx« (1949, S. 32), sondern meint sachlicher die »Bedeutung des jungen Dr. Karl Marx« (1959, S. 274). Neben weiteren derartigen Petitessen ist dann allerdings »noch ein letztes Wort in Heines Verhältnis zu Marx und zur kommenden Herrschaft der Plebejer« (1949, S. 42) frappant. Mayer zitiert aus der französischen Lutetia-Vorrede den sterbenskranken Heine dahingehend, dieser sei »getröstet durch die Überzeugung, daß der Kommunismus […] ihnen [den ›Teutomanen und ultradeutschen Narren‹] den Gnadenstoß versetzen wird« (1949, S. 43). Das Zitat selbst präsentiert Mayer auch dem bundesdeutschen Leser, allein er bereitet es ihm schonender auf: Es sei »des Dichters letztes Wort«, ohne irgendein Verhältnis zu Marx oder Plebejern, die an dieser Stelle nicht mehr vorkommen, es sei schlicht »Heines Vermächtnis« (1959, S. 281). Und des Dichters zitierte ›Hoffnung‹ auf den Kommunismus wird dem BRD-Leser sogleich ins Verhältnis gesetzt, es sei »bloß gemeinsame Gegnerschaft; ein Bündnis aus gemeinsamer Negation. Verbundenheit gegen die Teutomanen, nicht mit den Proletariern« (1959, S. 282). Dem Leser in der DDR rückte Mayer das Zitat nicht derart zurecht, ihm kommentierte er es gar nicht.
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publiziert wurde, und eine in Sinn und Form abgedruckte Gedichtinterpretation.1053 Und so blieb seine »Wirksamkeit« für die die marxistische Heine-Diskussion im Wesentlichen beschränkt »auf die Hörer seiner legendären Vorlesungen, in denen er auch Heine ausführlich behandelte«.1054 Diese eher beiläufige Beschäftigung mit Heine bediente einerseits die offiziellen ideologisch-gesellschaftswissenschaftlichen Interessen, wie sie andererseits nur zum Teil über »den Horizont DDR-marxistischer Literaturwissenschaft« hinauswies.1055 Anlässlich seiner Anmerkung zu einem Gedicht von Heinrich Heine resümiert Mayer 1951: wenn die Lehren von Marx und Engels durch Lenin und Stalin zur weltumspannenden Idee und zu einer Wirklichkeit gemacht wurden, die auf einem Sechstel der Erde bereits den Weg vom Sozialismus zum Kommunismus durchlief, so findet sich in dieser Bewegung auch der tiefste Gehalt von Heinrich Heines Dichtung und Denken für alle Zeiten bewahrt.1056
Neben derart konformistischer Stellungnahme wusste er auch die gängige Münze der Heine-Rezeption im Nachkriegsdeutschland zu liefern: Heine sei ein »europäisches Ereignis« gewesen, so Mayer andernorts, doch »ausgerechnet in Deutschland« sei er »bei gewissen bösartigen Spießern der bürgerlichen und erst recht der monarchisch-adligen Oberschicht stets ein Ärgernis geblieben.«1057 Im zentral koordiniert begangenen Heine-Jahr 1956 bietet der Professor und Leiter der Abteilung ›Geschichte der Nationalliteraturen‹ am Leipziger Germanistischen Institut dann selbstredend und naheliegend sowohl eine Vorlesung (Heinrich Heine in seiner Zeit) als auch ein Seminar (Heinrich Heines kritische
1053 Vgl. Mayer, Ahnen und Erinnern (Anm. 1052) und ders., Anmerkung zu einem Gedicht von Heinrich Heine, in: Sinn und Form 3, 1951, H. 4, S. 177–184. Zu nennen wäre noch die Einleitung zu der von Mayer herausgegebenen Textsammlung Meisterwerke deutscher Literaturkritik, in der er überproportional auf Heine eingeht. Hier ist auch Mayers Bemühen darum – wie schon bei Diderot (vgl. hier: S. 151f.) – zu beobachten, Literatur ›richtig‹ zu verstehen: Er hält seine literarhistorische Einteilung Von Heine bis Mehring für »konventionell«, »versteht man sie richtig«, nämlich »als Periodisierungsversuch«, dessen Pole einerseits durch Heine als »entlaufener Romantiker und Überwinder der Romantik« sowie andererseits durch Mehring, der »nach Marx und Engels die ersten bedeutenden Beiträge zu einer historisch-materialistischen Literaturbetrachtung in Deutschland vorgelegt« habe, markiert würden (Hans Mayer: Einleitung, in: Meisterwerke deutscher Literaturkritik. Von Heine bis Mehring, hg. und eingeleitet von Hans Mayer, Berlin: Rütten & Loening 1956, S. IV–XXV, hier: S. IV f.). 1054 Heine und die Nachwelt. Geschichte seiner Wirkung in den deutschsprachigen Ländern, Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare, Bd. 3: 1957–2006, hg. von Dietmar Goltschnigg und Hartmut Steinecke, Berlin: Schmidt 2011, S. 58. 1055 Reese, Zur Geschichte der sozialistischen Heine-Rezeption in Deutschland (Anm. 1048), S. 239. 1056 Mayer, Anmerkung zu einem Gedicht von Heinrich Heine (Anm. 1053) S. 184. 1057 Mayer, Deutsche Literatur und Weltliteratur (Anm. 366), S. 305.
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Schriften) zum gefeierten Autor an.1058 Hierzu nun hat Johnson seine Klausur zu schreiben. Er geht diese Aufgabe in bemerkenswerter Weise an, über die im Folgenden zu sprechen sein wird, und die eines besonderen Zugangs bedarf. Denn Johnsons Elaborat – so viel sei vorweggenommen – folgt nicht den Regeln universitärer Wissens- und Leistungsabfrage. Seine Ausführungen sind vielmehr darauf angelegt, bei einem kompetenten, vor allem literarhistorisch und geistesgeschichtlich versierten Leser, vermittels Hinweisen, Zitaten und Stichwörtern Assoziationen auszulösen und Lektüren anzuregen. Daher soll sich dieser Klausur nun in zwei Schritten genähert werden: Im ersten Schritt geht es darum, den Hinweisen und Andeutungen Johnsons konnotativ zu folgen, den ausgelegten Spuren nachzugehen. Es handelt sich dabei insofern um einen der Analyse vorgeschalteten Exkurs, als darin den von Johnsons Klausurtext potenziell evozierten Assoziationen gefolgt wird. Im zweiten Schritt erfolgt dann eine denotative Lektüre, die die Konstruktion dieser Klausur, die literarischen und sonstigen Verweise und die damit evozierten Deutungsräume zu ergründen sucht.
9.1
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Es dürfte kein Zufall sein, dass Johnsons Heine-Arbeit mit einer Grenzkontrolle beginnt. Freilich, als der Student Johnson seine Betrachtungen aufsetzte, hatte noch niemand die Absicht, eine Mauer zu bauen. Gleichwohl waren die Demarkationslinien zwischen Ost- und West-Berlin sowie zwischen den umliegenden Landesteilen der DDR bereits bewacht und mit sogenannten Kontrollpassierpunkten versehen – nur dort durfte man die innerdeutschen Grenzen und die Sektoren kontrolliert passieren. Rein quantitativ mochte das ein Fortschritt sein: »Statt Landesväter drey Dutzend« zu haben, über die Heine sich noch beklagte.1059 Wobei das Gros dieser Landesväter statt eines Hallsteins immerhin einen Zollverein hatte. Es wurde und wird an deutschen Grenzen Gepäck nach Konterbande durchsucht, nach Druckerzeugnissen aller Art, um die staatliche Souveränität vor ausländischer Propaganda zu schützen. Die Gedanken sind frei, mögen sich Heine und auch Johnson gedacht haben, im Gepäck aus Paris waren sie jedenfalls nicht zu finden. Leider hatte die fran-
1058 Vgl. Günter Albus: Hans Mayer in Leipzig 1948–1963. Eine bio-bibliographische Chronik, in: Hans Mayers Leipziger Jahre (Anm. 934) S. 171–190, hier: S. 180. 1059 Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermährchen, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 4: Atta Troll. Ein Sommernachtstraum, Deutschland. Ein Wintermärchen, bearb. von Winfried Woesler, Hamburg: Hoffmann und Campe 1985, S. 89–157, hier: S. 115.
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zösische Freiheit zu Heines Zeiten gelitten, »sich den Fuß verrenkt«:1060 Auf Revolution und »Erneuerung des Parlaments« folgte letztendlich die »Krönung eines Kaisers« (16r). Aber zum Schrecken des alten Europas war dieser Kaiser modern und liberal. Nicht nur, dass seine Grande Armée gen Osten quer über den Kontinent marschierte und dabei Brücken über alte Grenzen schlug, sie machte aus den hunderten deutschen Ländern und Städten jene drei Dutzend, die Heine immer noch zu viel waren. Und diese waffenstarrende Armee hatte auch noch den Code Civil im unkontrollierten Gepäck, der alle Untertanen zu Bürgern und obendrein noch gleich vor dem Gesetz machen sollte. Die Französische Revolution, die ganz Europa geängstigt hatte, war zu Heines Bedauern nun lange vorbei, und selbst Napoleon am Ende bitter aus Europa vertrieben worden. Aus dem Osten kam später eine andere Armee, die an ostdeutschen Wänden den Chaplinbart gegen einen potenten Schnauzer tauschte und mit ihm eine neue Lebensweise brachte. Die Verbindung, die Uwe Johnson hier zwischen der Französischen Revolution und dem kleinen jüdischen Emigranten Heine herstellt, der in Hamburg seine Mutter besuchen will, zielt auf den Hintergrund der Demagogenverfolgungen, die im hysterischen Europa Metternichs für politische Stabilität sorgen sollten, damit aber auch friedfertige Bürger verstörten, die in ihren Einrichtungen saßen und deutscher »Innerlichkeit« (16r) frönten. Jene freiheitsliebenden deutschen Stürmer und Dränger, »welch ein Name« (16r), die sich allzu ernst nahmen, hatten sich in ihren gelben Westen längst entleibt. Als der Sturm und Drang seinen Namen bekam, war er schon vorbei; und »die Klassik besann sich auf die griechischen Ermahnungen von gebändigter Form« (16v). Übrig blieb von edler Einfalt und stiller Größe die stumme Einfältigkeit geregelten Fortkommens: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Die letzte, politisch motivierte Hinrichtung lag lange zurück und hatte wohl einem Buchhändler zu Nürnberg gegolten, der sich von Napoleons Franzosen erniedrigt fühlte. Jedenfalls: Der Aufhänger für Johnsons Heine-Betrachtung ist gut gewählt und von jungdeutschem Witz. Der Parforce-Ritt durch die deutsche Literaturgeschichte, der ein wenig einer Springprozession gleicht (zwei Schritte vor, einen zurück), bringt ironisch (spät-)aufklärerisches Gedankengut aus Kants Gelehrtenstube mit dem resignativen Gestus heilsgeschichtlicher Skepsis zusammen. Wohlgemeinte Maximen taugen nicht als Handlungsanweisungen, wo die kasernierte Volkspolizei gerade zur Volksarmee geworden ist und das
1060 Uwe Johnson: 2. Klausur im Staatsexamen »Neuere Deutsche Literatur«. Heines Deutschlandkritik im »Wintermärchen«, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 16–18, hier: Bl. 16r; Johnsons Klausur wird in diesem Kapitel im Text zitiert mit der Blattangabe in Klammern.
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Sagen oder vielmehr Brüllen hat. Und so wird aus dem kategorischen Imperativ bei Johnson der »betrübliche Konjunktiv« (16v). Wovon Europa profitierte, wovon aber die DDR nichts mehr wissen will, ist die »allgemeine Gesetzgebung« (16v) Napoleons, die weithin neue rechtliche Grundlagen schuf, nach denen sich auch Potentaten zu richten hatten. Nebst modernen Verwaltungsstrukturen, einem straffen, länderübergreifend organisierten Wegebau und vielen anderen Neuerungen mehr. Errungenschaften, die blieben, als Napoleon schon längst auf Sankt Helena festsaß und sein Leben in Verbannung fristete. Dieser ungeheure Modernitätsschub der Napoleonischen Reformen, der später durch Bismarcks Sozialversicherungen flankiert wurde, wird nun von der stalinistischen Blockadepolitik des Warschauer Paktes hinweggefegt. Die Kontinentalsperre soll als Eiserner Vorhang jetzt mitten durch den Kontinent verlaufen und die Grenzen undurchlässig machen. Das liberale jüdische Bürgertum, dem Heine entstammte, hat umsonst für seine Emanzipation gekämpft. Der sterbende Fechter sagt, was er »gefühlet«, beendet erst im Tod jene »Komödie«, die er sehenden Auges »so lang als ein Komödiant« mitgespielt hat.1061 Metternich restaurierte die alte Ordnung und »die Romantik machte eine ganze Welt aus sich allein« (16v). Die genügte dem ›deutschen Michel‹ mit seiner Schlafmütze einstweilen und brachte niemanden auf revolutionäre Gedanken: »Die Romantik als bewusstes Werkzeug der herrschenden Klasse.«1062 Solche Überlegungen mögen dem akademischen Lehrer durch den Kopf geschossen sein, als Hans Mayer 1956 Johnsons Heine-Klausur las. Auch dieser Leser mochte »Heines Deutschlandkritik« auf die aktuelle Lage Deutschlands beziehen. Statt einer Dichterkrönung mit Lorbeerkranz mochte er einen Schweinskopf, mit Petersilie garniert, erblicken. Was war an diesem Deutschland noch zu kritisieren – vielmehr: was nicht? Johnsons Heine-Klausur hat weder eine Gliederung noch eine Ausgangsthese. Sie gleicht vielmehr einer Erzählung, bestenfalls einer literarhistorischen Mindmap. Lernte man bei Hans Mayer nicht, wie eine schriftliche Prüfung abzulegen sei? Oder war der angehende Absolvent über derlei Lappalien schon hinaus? 1061 Heinrich Heine: XLIV, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 1.1: Buch der Lieder, Text, bearb. von Pierre Grappin, Hamburg: Hoffmann und Campe 1975, S. 257–259, hier: S. 259. 1062 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 102. Zum Topos des ›deutschen Michels‹ vgl. Karl Riha: Der deutsche Michel. Zur Ausprägung einer nationalen Allegorie im 19. Jahrhundert, in: Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, hg. von Jürgen Link und Wulf Wülfing, Stuttgart: Klett-Cotta 1991, S. 146–167.
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Die »Gepäckkontrolle als lyrischer Vorwurf« könnte das Sujet auf ein »unwürdiges Niveau« zerren (17r), aber sie tut es nicht: Johnsons Bildlichkeit hat vielmehr Witz, ist originell und hebt vigilant das Niveau »profane[r] Inhalte« auf die Höhe »einer kostbaren Dichtweise« (17r). Johnson hat sich eine Kippfigur erschaffen, eine dauernd kippelnde Figur, die pausenlos Witz und Ernst ineinander umschlagen lässt. Vielleicht hat Hans Mayer diese Ausarbeitung, die keine Textanalyse oder Erörterung darstellt, gar nicht bewerten können – denn wie will man an einem Treppenwitz eine Notifikation anbringen? Johnsons Vexierspiel, das deutsche Mythen mit weißem oder rotem Bart auf die ausgebliebene »deutsche Einheit« (welche?) bezieht (17r), ist wissenschaftlich gar nicht zu beurteilen. Es stellt ein Stück metareflexiver satirischer Prosa dar, das die innerliche Kyffhäuser-Romantik vom »schlafenden Barbarossa« (17r) auf den gestürzten Koloss bezieht, der für seine nationale Hybris Prügel bezogen hat: »In Staub mit allen Feinden Brandenburgs«.1063 Und vielleicht fühlte sich Mayer auch direkt angesprochen, denn nicht nur »Heines Weltgefühl ist geräumiger« (17r), auch seines war es. Oft genug hatte er Vorlesungen und Seminarstunden ausfallen lassen, um dann später seinen Studenten in der ostzonalen Innerlichkeit zu berichten, dass er hier oder dort, sei es im befreundeten oder kapitalistischen Ausland (1956 u. a. in Paris) seine Gedanken habe äußern dürfen. Ob wohl Konterbande darunter war?1064 Wie jung das Junge Deutschland auch immer gewesen sein mag, es »hatte seine Themen« (17r), die Themen der angeblich Freien Deutschen Jugend waren verordnet. An die »Emanzipation der Frau« (17r) war in der Mitte des 19. Jahrhunderts bestenfalls zu denken, in der Mitte des 20. Jahrhunderts war sie vor allem eine Notwendigkeit sozialistischer Planwirtschaft, und auch nur genau so weit gestattet von alten Männern, manche mit weißem Bart. Über eine Emanzipation der Juden schwieg man sich an beiden historischen Orten lieber aus.
1063 Heinrich von Kleist: Prinz Friedrich von Homburg, in: ders., Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. I.8: Prinz Friedrich von Homburg, hg. von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle, Frankfurt am Main: Stroemfeld, Roter Stern 2006, S. 7–146, hier: S. 146. 1064 Vermutlich nicht: Seine in Leipzig verbliebenen Studenten konnten aus dem Sonntag erfahren, dass Mayer am 28. Januar 1956 in Paris über Thomas Manns Faustus sprach und dabei zeigen konnte, »wie, in einer zu Ende gehenden Gesellschaft wie der kapitalistischen, der Formalismus in der Kunst in Barbarei entartet« (Émile Bottigelli: Reges Interesse in Paris, in: Sonntag, 26. 2. 1956, S. 4). Bei einem weiteren Vortrag dort, drei Tage später, bot er noch »einen Einblick in die Methoden der Literaturwissenschaft in der Deutschen Demokratischen Republik« und »entwarf ein breites Bild der Literaturkritik von Gervinus und Heine bis in unsere Tage«, um dann abschließend »die besonderen Verdienste von Marx, Engels, Mehring und Lukács auf diesem Gebiete hervor[zuheben]« (ebd.).
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Zu schweigen war in der DDR auch von der Zensur, dank kruder Logik: Wo es keine Zensur geben konnte, weil es so ja in der Verfassung garantiert war, dort durfte man auch nicht über sie sprechen. Heine und sein Verleger wussten wenigstens ganz offiziell von ihr und legten das Wintermärchen in Hamburg vorab zur Prüfung vor. Der Zensor, der es passieren ließ, musste sich einige unbequeme Fragen seitens der Preußen gefallen lassen, die es umgehend verboten. In der DDR war man keinen Schritt weiter, aber raffinierter. Dort wird »die gringe Zahl | Derjen’gen, die drucken lassen«,1065 von ›Gutachtern‹ umsorgt – Zensoren gab es ja nicht; wer sich nicht helfen lassen wollte (in einem schlimmen Fall sollte bald eine attestierte ›Westkrankheit‹ mit ›Gehirnwäsche‹ kuriert werden), bekam die Papierknappheit zu spüren. Zensur in einem rein ästhetischen Sinne, wie Johnson sie sich wünschte, war weder hier noch da zu denken – das wäre die Aufgabe der Literaturkritik, des Feuilletons, und sie wäre staatlicher Kontrolle enthoben. Mochte ein Hans Mayer, der am System politischer Zensur selbst gelegentlich beteiligt war, an die hundert Jahre alte Klage Heines erinnert werden? Konnte man das aufschreiben, durfte man so etwas sagen, im Deutschen Bund, in der ›demokratischen‹ Republik? Und wenn nun einer kommt und schreibt »vier Zeilen hin und noch vier Zeilen«, mit denen er eben zeigt, »man kann das also machen«, dann ist das »sehr ärgerlich für die schamhafte deutsche Innerlichkeit« (17v). Denn Herr Biedermeier saß lieber in seiner schnörkellosen Stube – »Sein Wahlspruch: Weder kalt noch warm«1066 – und erfreute sich an Clemens Brentanos schöner Abendsonne; dass die stets im Westen untergeht, auch noch bei einem anderen (Heinrich von) Brentano; daran freilich erinnerte man die auf sozialistische Innerlichkeit verpflichteten Genossen lieber nicht. »Wilhelm der Unzählige« (17v) heißt inzwischen Pieck, der hat zwar auch einen ›Staat gemacht‹, aber nichts vereint, wie es dem ersten Wilhelm immerhin nachgesagt wird. Nur zufällig war es ein gewisser Piefke, der seine Gloria vertonen sollte. Beide Wilhelms konnten sich auf eine »regierungstreue Presse« verlassen, bei Johnson ist es nicht mehr die des Kaisers, sondern: »Unsere« (17v). Und diese unsere Presse würdigte auf einmal jenen Heine, den die Preußen noch verboten hatten, wegen seiner Deutschlandkritik. Wie konnte es nur soweit kommen? Wer keine Geschichte oder Tradition hat, der stiftet sich eine, indem er sie behauptet. Das deutsche Dilemma bestand nach 1945 auch darin zu entscheiden, auf welchem geistigen Fundament man eine neue Nation gründen wollte. Die DDR nahm Heine in ihr neues Erbe auf, nicht nur, weil Marx dessen Poesie gelobt 1065 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 149. 1066 Ludwig Pfau: Herr Biedermeier, in: ders., Gedichte, 3. Aufl. und Gesamtausgabe, Stuttgart: Göschen 1874, S. 331f., hier: S. 331.
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hatte, sondern auch, weil man darin die Bundesrepublik ausstechen wollte. Der ›große‹ Friedrich Sieburg lebte lange in Paris, bevor er in die Bundesrepublik ging, um dort seinen Lesern die Wertlosigkeit von Heines Lyrik zu erklären. In Paris konnte er das nach Kriegsende nicht mehr, er hatte dort Schreibverbot. Und so hatte die DDR, neben Goethe und Schiller, die sie mit dem anderen Deutschland teilen musste, ihren Heine für sich als Nationaldichter: Unser Heine ((Ost-)Berlin 1952). Und wie Heine wünschte sich auch ein anderer Dichter der jungen Nation: ›Deutschland, einig Vaterland‹.1067 In dem anderen Staat zögerte man eine Weile und sang dann von »Einigkeit und Recht und Freiheit | Für das deutsche Vaterland!«.1068 Beide Hymnen künden von einem Mangel: »Deutschland braucht eine Einheit, aber es hat keine Einheit« (18r). Wer wollte schon mit seinem Gesellschaftssystem dafür zahlen? Die Proletarier dieser beiden Länder durften sich jedenfalls nicht vereinigen. Worin bestand nun der Affront des Klausurschreibers Johnson? War es wirklich nur die schwer leserliche Handschrift, wie Mayer behauptete? War es das Fehlen einer methodischen Herangehensweise an das Thema, einer Analyse und Interpretation des Wintermärchens? Oder war es vielleicht die Übererfüllung der Aufgabenstellung: das Zeigen einer literarisch wie historisch fundierten Haltung, die nur darauf hinauslaufen konnte, die politische Gegenwart zweier deutscher Staaten mit kritischen Augen zu sehen? Wie ›fortschrittlich‹ konnte ein Staat sein, der auf Zensur und regierungstreue Presse wie zu Heines Zeiten angewiesen war? Johnsons Klausur rüttelt am Selbstverständnis der jungen DDR, seine HeineDeutung stellt dessen kanonische Aneignung durch diesen Staat und seine 1067 Vgl. Johannes R. Becher (Text), Hanns Eisler (Melodie): Nationalhymne der Deutschen Demokratischen Republik, in: Heike Amos: Auferstanden aus Ruinen … Die Nationalhymne der DDR 1949 bis 1990, Berlin: Dietz1997, S. 196f. Die Hymne fand nicht zuletzt wegen ihres verhältnismäßig unpolitischen Charakters, aber auch dank gezielter propagandistischer Verbreitung Anerkennung bei den Menschen in der DDR. Als sich die politische Lage Ende der 1960er Jahre änderte, die DDR-Führung sich endgültig von der Idee einer – wie auch immer – geeinten deutschen Nation verabschiedete, wurde Bechers Text dann nicht mehr gesungen: Seine Hymne, die »unter anderem immer wieder die Bezeichnung ›Deutschland‹ und sogar die Zeile ›Deutschland, einig Vaterland‹ enthielt und sich mit keinem Wort auf die Deutsche Demokratische Republik bezog, [entsprach] nicht mehr den politischen Vorstellungen« (Amos, Auferstanden aus Ruinen (Anm. 1067), S. 135). Diese ›politischen Vorstellungen‹ haben ihren Ursprung übrigens u. a. in einer Nacht, in der Wilhelm Pieck »vor neuralgischen Schmerzen nicht schlafen konnte« und so auf »Gedanken über eine Hymne der Republik gekommen« sei – die schickte er an Becher, der daraufhin in wenigen Wochen mit Eisler die Nationalhymne ausarbeitete (Wilhelm Pieck an Johannes R. Becher, 10. 10. 1949, in: Amos, Auferstanden aus Ruinen (Anm. 1067), S. 178). 1068 Hoffmann von Fallersleben: Das Lied der Deutschen. Melodie nach Joseph Hayden’s »Gott erhalte Franz den Kaiser | Unsern guten Kaiser Franz«. Arrangirt für die Singstimme mit Begleitung des Pianoforte oder der Guitarre, Hamburg: Hoffmann und Campe 1841, S. 6.
Deutschlandkritik mit Heine – Zweite Annäherung
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marxistische Literaturwissenschaft in Frage. Auf eine solche Diskussion, die immer auch politisch sein musste, wollte Hans Mayer sich vermutlich gar nicht erst einlassen.
9.2
Deutschlandkritik mit Heine – Zweite Annäherung
Es ist mir leider nicht möglich, diese Klausur zu lesen, d. h.: zu entziffern. Da Verf., wie seine Klausur über den Schriftstellerkongreß beweist, auch sehr viel deutlicher schreiben kann, muß ich ihn ersuchen, eine neue Klausur zu schreiben. Nicht zensiert.1069
Auch wenn es im ersten Eindruck nicht so scheint, ist diese knappe Stellungnahme Hans Mayers unter Johnsons Heine-Klausur ein Ausdruck der Fürsorge des Lehrers für seinen Studenten. Statt den Kandidaten angesichts des formalen Mangels durchfallen zu lassen, verweigert Mayer die Bewertung der Arbeit. Und er bietet seinem Schüler nicht nur die Gelegenheit zu einem neuen Versuch an, er ›ersucht‹ ihn sogar darum. Johnson wird eine neue Wissensprobe ablegen müssen, will er sein Diplom erlangen. Was mag die Motivation zu diesem bemerkenswerten Schritt gewesen sein? Zwar ist Johnsons Handschrift, Bernd Neumanns Transkriptionen bezeugen es, durchaus nicht einfach »zu entziffern«, doch darf von einem Hochschullehrer erwartet werden, dass er ein breites Spektrum von Handschriften zu dechiffrieren vermag, zumal andere Dozenten Johnsons dazu in der Lage gewesen waren. In Mayers betonter Klarstellung, »zu lesen, d. h.: zu entziffern«, mag sich gerade diese Begründung als eine vorgeschobene entlarven – und es ist nach Gründen zu fragen, weshalb ihm diese Arbeit zu lesen »nicht möglich« war.1070 Mayers Motivation erklärt sich zum Teil aus seinem Hinweis auf die »Klausur über den Schriftstellerkongreß«. Die Heine-Klausur hatte Johnson am 4. Juni 1956 geschrieben, jene über den Schriftstellerkongress eine Woche später, am 11. Juni. Beide Arbeiten kontrollierte Mayer am 18. Juni, die oben zitierte Stellungnahme ist von ihm mit diesem Datum versehen, es findet sich auch unter seiner Ablehnung der anderen Klausur.1071 Offensichtlich hat er zuerst die spätere Klausur gelesen, bevor er an die Heine-Arbeit ging. Die Klausur über den Schriftstellerkongress durfte er keinesfalls benoten, sie sei nicht »mit dem Charakter einer Prüfungsarbeit, worin Kenntnisse literarischer und historischer
1069 Bewertung Hans Mayers von Uwe Johnson, in: Johnson, 2. Klausur im Staatsexamen »Neuere Deutsche Literatur« (Anm. 1060), Bl. 18r. 1070 Schon Thomas Schmidt sah in der Bewertung Mayers ein »doppeldeutiges Urteil« (Schmidt, Auf dem Weg zum Klassiker? (Anm. 66), S. 284). 1071 Vgl. Mayers Klausur-Notiz, 18. 6. 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 15.
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Art gefordert und angeboten werden sollen, vereinbar«, so Mayer; er wolle sich nicht zum »Partner […] eines Spiels« machen, indem er auf Johnsons Text eingeht – dazu später mehr.1072 Mayer konnte schlechterdings nicht zwei Arbeiten desselben Studenten auf einmal mit derselben Begründung ablehnen, etwa dergestalt, dass der Kandidat derart eklatant am jeweils gestellten Thema vorbei gearbeitet habe, dass man von einer fachlichen Beurteilung absehen müsse, ohne den weiteren akademischen Werdegang dieses Studenten dadurch ernsthaft zu gefährden. Die vorgeblich unleserliche Handschrift bot ihm einen vertretbaren Vorwand, zumal Johnson die Klausur zum Schriftstellerkongress in der Tat sorgfältig und gut leserlich in Versalien niedergeschrieben hatte. Es ist also zu fragen, was, abgesehen vom Schriftbild, Mayer von einer bewertenden Auseinandersetzung mit Johnsons Text abgehalten haben mag. Die konkrete Aufgabenstellung zu Johnsons Klausur ist nicht erhalten. Ihre Überschrift, Heines Deutschlandkritik im »Wintermärchen«, legt aber nahe, dass diese Kritik das Thema sein sollte. Bereits zu Beginn von Johnsons Ausführungen wird deutlich, dass das Thema hier nicht im Duktus einer Klausur behandelt werden wird, vielmehr hebt die Arbeit im Ton eines Erzählens an, indem ein Protagonist benannt, ein geographischer Raum umrissen, durch den Namen des Protagonisten auch ein historisch-zeitlicher Rahmen und mit dem Hinweis auf eine Reise auch eine Handlung implizit angedeutet werden: »Herr Heine, aus Paris kommend, reisend nach Hamburg« (16r). Wie das ›lyrische Subjekt‹ im Wintermärchen deutlich auf Person und Biographie des Autors abhebt, so kondensiert auch Johnson den historischen Heine zu einer Figur seiner Erzählung, indem er von ›Herrn Heine‹ spricht, und eben nicht explizit, wie es in einer literaturwissenschaftlichen Klausur zu erwarten wäre, von Heinrich Heine, dem Autor. Bei der Wiedergabe des Sujets überspringt Johnson das erste Caput des Wintermärchens fast vollständig, allein den Reisebeginn hat er daraus entnommen: »Da reist’ ich nach Deutschland hinüber.«1073 Dass dieser Heine aus Paris kam, kann einerseits als Vorgriff gewertet werden, denn dieser Umstand wird erst im 18. Caput deutlich gemacht: »Daß ich zu Hause wäre, | Bey meiner lieben Frau in Paris«.1074 Andererseits kann dieser Auftakt als Rückgriff auf kulturelles Wissen gelten – es wird damit gleich am Anfang die enge Verbindung zwischen erzähltem und tatsächlichem Heine markiert, der seit 1831 im Pariser Exil lebte. Mit seinem zweiten Satz beweist Johnson Textsicherheit, indem er sich eng an Heines Vorlage hält. Aus seiner Schilderung, die »Beamten des preussischen Zolles visitieren angestrengt das Gepäck« (16r), sind deutlich Heines Verse zu 1072 Mayer, Klausur-Notiz (Anm. 1071). 1073 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 91. 1074 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 132.
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erkennen: »Ward von den preußischen Douanièrs | Mein Koffer visitieret.«1075 Und auch die im ersten Eindruck widersprüchliche Aussage über die Schmuggelware ist eine Pointierung der Vorlage. Heißt es bei Heine: »Ihr Thoren, die Ihr im Koffer sucht! | Hier werdet Ihr nichts entdecken! | Die Contrebande, die mit mir reist, | Die hab’ ich im Kopfe stecken.«1076 Aus diesem ›Versteckspiel‹ bei Heine wird bei Johnson die nur scheinbar paradoxe Formulierung: »der Herr führe keine Konterbande mit sich. Allerdings führt Herr Heine Konterbande mit sich aus Paris« (16r). Das vermeintliche Paradoxon ist in Johnsons verkürzender Sprechweise begründet, in der historische und erzählerische Perspektiven egalisiert werden: Die erzählten Beamten finden keine Konterbande, der Leser des Wintermärchens jedoch weiß davon. So kündigt Johnson mit diesem ersten Absatz seiner Klausur nicht nur das zentrale Sujet des Wintermärchens an, eine teils differenzierte, teils polemische Kritik an der politischen Misere des Deutschen Bundes, wozu etwa die Konfliktfelder der Kleinstaaterei, der preußischen Dominanz und der Zensur zählen. Er deutet damit auch seine Perspektive an, die nur zum geringeren Teil die einer literarhistorischen Betrachtung sein wird. Nach dem prosaischen Einstieg kommt Johnson auf den Hintergrund der skizzierten Situation zu sprechen. Dazu verweist er erneut, zum dritten Mal in vier Sätzen, auf Paris, da habe man vor »wenigen Jahrzehnten […] Revolution gemacht« (16r). Stichpunktartig wird die Französische Revolution zusammengefasst (mit »Strassenkämpfen«, »Volksversammlung« und »Hinrichtungen«), die schließlich mit der »Krönung eines Kaisers« (16r) ihren Abschluss gefunden habe. »Das war aber in Deutschland nicht gut angegangen« (16r), resümiert Johnson, womit er die außenpolitischen Folgen dieser Krönung, radikal verkürzt, auf den Punkt bringt. Denn der sich als »Vollender und Überwinder der Revolution […] ausgebende Bonaparte« hat in seiner Amtszeit fundamentale Veränderungen – in sozialer, politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht – auf dem europäischen Kontinent, und darüber hinaus, angestoßen.1077 Für ›Deutschland‹, das es als Nationalstaat noch gar nicht gab, hatte das weitreichende Konsequenzen: Napoleon eroberte die meisten deutschen Länder, das Heilige Römische Reich wurde aufgelöst, das Gros der Kleinstaaten, weltliche wie geistliche Fürstentümer und Reichsstädte, wurde zwangsvereinigt, der Code Civil hielt Einzug, vor allem in jene Staaten des Rheinbunds und blieb teils bis über die deutsche Reichsgründung 1871 hinaus wirksam; und als Reaktion darauf kam es etwa in Preußen zu erheblichen Reformen in den Bereichen Politik, Verwaltung, Militärwesen, Gesellschaft und Bildung, darüber hinaus entwickelte sich in An1075 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 93. 1076 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 93. 1077 Hartmut Scheible: Civis Civitatem Quaerens. Gustav Graf Schlabrendorf und die Sprache der Republik, in: Napoleons langer Schatten über Europa, hg. von Marion George und Andrea Rudolph, Dettelbach: Röll 2008, S. 213–240, hier: S. 232.
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betracht der äußeren Bedrohung ein deutsches Nationalgefühl über die einzelnen Landesgrenzen hinweg. ›Nicht gut angegangen‹ war das in ›Deutschland‹ zum einen seitens der einfachen Bevölkerung, die zwar von ihren neuen bürgerlichen Rechten profitierte, sich aber andererseits durch Kriegsverheerungen, strenge Zensur und die französischen Besatzer gegängelt sah. Auf der anderen Seite verloren etliche Herrscher ihre Ländereien samt Untertanen, und viele dieser einstigen Fürsten sahen der Abschaffung der Feudalordnung äußerst skeptisch entgegen, die Napoleon in Frankreich in Fortsetzung der Revolution festgeschrieben hatte. Diese hier nur angedeutete, extrem komplexe Gemengelage konnte Johnson gewiss nicht in seiner Klausur nachzeichnen, seine hochgradige Verknappung musste sich auf das Wissen seines Lesers Mayer verlassen. Mayers Wissen forderte Johnson sogleich ein weiteres Mal heraus, indem er der stereotypen deutschen »Innerlichkeit« (16r) mit dem »Fräulein von Klettenberg« (16r) einen Namen gibt.1078 Diese religiöse Schriftstellerin des 18. Jahrhunderts war nicht nur als Pietistin bekannt, sondern auch mit Goethe befreundet, beide »lasen gemeinsam religiöse und mystisch-kabbalistische Werke«, und sie soll den Weimarer Dichter zu den Bekenntnissen einer schönen Seele in Wilhelm Meisters Lehrjahren inspiriert haben.1079 Für Johnson mag diese Verbindung naheliegend gewesen sein, kannte er Goethes Bildungsroman doch recht genau, noch an der Universität Rostock war er darüber, mit Fokus auf das Kapitel über die schöne Seele, von der Goethe-Spezialistin Hildegard Emmel mit sehr gutem Ergebnis mündlich geprüft worden.1080 Als Susanna von Klettenberg auf 1078 In Neumanns Lesart wird die Dame noch mit einem »hehren Illyrer« verglichen. Für diese Transkription fehlt meiner Meinung die Grundlage. In Johnsons Manuskript beginnt das erste Wort wahrscheinlich mit einem ›k‹ oder einem ›b‹, gefolgt von einem ›e‹, woraufhin ein ›h‹ folgen mag, das zugleich aber auch ein doppeltes ›l‹ sein könnte, zum Ende läuft das Wort auf ein ›r‹ oder ›s‹ aus – es lässt sich kein sinnvolles Wort ermitteln; deutlich wird aber, dass ›hehren‹ hier mit großer Wahrscheinlichkeit nicht steht. Das zweite Wort dann lautet mit Sicherheit nicht »Illyrer«, sondern entweder ›Mayer‹ oder ›Mager‹. (Uwe Johnson: Heines Deutschlandkritik im »Wintermärchen«, in: ders., »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz« (Anm. 65), S. 67–70, hier: S. 67). 1079 Detlev Lüders: Klettenberg, in: Neue Deutsche Biographie, hg. von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 12: Kleinhans–Kreling, Berlin: Duncker & Humblot 1980, S. 54. Goethe »habe mit den Bekenntnissen einer schönen Seele seiner Jugendfreundin Susanna Katharina von Klettenberg und zugleich seiner eigenen religiösen Bildungsgeschichte ein Denkmal setzen wollen« (Hans-Georg Kemper: Bildung zur Gottähnlichkeit. Transformationen pietistischer und hermetischer Religiosität zur klassischen Kunst-Religion in Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, in: Goethe-Jahrbuch, 130/2013, S. 75–92, hier: S. 77 [Hervorh. im Original]). 1080 Vgl. Mündliche Prüfung am 21. 5. 1954, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 33. In dieser Prüfung hatte Johnson laut Protokoll auch über »Schillers Beurteilung« der schönen Seele zu sprechen. Vgl. dazu Martin Fietze: Über Anmut, Würde und unglückliches Bewusstsein in Ingrid Babendererde, in: Johnson-Jahrbuch, 23/2016, S. 129–151. Fietze weist darauf hin, dass gerade in den frühen Fassungen von Ingrid Babendererde »Goethe
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den deutlich jüngeren Goethe traf, hatte sie ihr Leben schon lange dem Pietismus gewidmet, jener zu dieser Zeit in Europa und gerade in den deutschen Ländern einflussreichen Frömmigkeitsbewegung. Ungeachtet verschiedener Ausprägungen, ging es den Pietisten im Kern um die individuelle innere Glaubensgewissheit des Einzelnen, institutionelle Orthodoxie lehnten sie ab. Zum Pietismus gehörte überdies eine strenge Erziehung zu Fleiß, Gehorsam und Bescheidenheit. Auf diese Eigenschaften zielt Johnson offenbar ab, wenn er ›Gleichheit‹ und ›Innerlichkeit‹, zwei zentrale Anliegen der Pietisten, und den Pietismus selbst zur Ursache erklärt, weshalb dessen Anhänger »gleich gehorsam untertan der Obrigkeit« (16r) gewesen seien. Von solchen Untertanen stand keine Revolution nach französischem Vorbild zu erwarten.1081 Nicht zufällig folgt nun der »Sturm und Drang«, dessen Pathos und Emphase Johnson grundsätzlich zur Diskussion stellt: »welch ein Name« (16r). Hier geht es Johnson keineswegs um einen Kontrast zum Pietismus, sondern um dessen Fortsetzung. Denn dieser ›Name‹ rührt ursprünglich vom Pietismus her, wie zwei Jahre vor Johnsons Klausur der Literaturwissenschaftler August Langen hatte zeigen können. Während der ›Sturm‹ ursprünglich eine »Anfechtung von außen im Sinne einer Anfechtung durch Satan wie auch die Prüfung durch Gott« bedeutet habe,1082 so bezeichne das Wort ›Drang‹ seit dem jungen Goethe »längst nicht mehr das pietistische Von-Gott-Getriebensein, sondern im weiteren Sinn
eine viel gewichtigere Rolle eingenommen« habe, als »Schillers Modell der ›schönen Seele‹«, das erst in den letzten beiden Textfassungen die Charakterisierung der Ingrid-Figur dominiere (ebd., S. 151). 1081 Vgl. dazu die Einschätzung der Historikerin Renate Riemeck des prominenten Halleschen Pietisten Francke: »Mit seiner Erziehung zum Gehorsam, zur gottwohlgefälligen Bescheidenheit, zum Erleben der Sündhaftigkeit des Menschen hat August Hermann Francke, hat der Pietismus dem hohenzollernschen Herrscherhaus gerade den idealen Untertan erzogen. […] Diese Zöglinge [die aus Franckes Lehranstalten; AK] gaben die Grundlage für alles ab, was man später in Liebe oder Hass preußisch nannte. […] Und wenn später der Soldatenkönig, also Friedrich Wilhelm I., auf seine Soldaten einprügelt und ruft: Ihr sollt mich lieben, ihr verfluchten Kerle, dann wollte er etwas haben, was als Erziehungsresultat eigentlich im Pietismus herauskommen sollte, nämlich Gehorsam und Liebe« (Renate Riemeck: August Hermann Francke und Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf, in: dies., Klassiker der Pädagogik von Comenius bis Reichwein. Marburger Sommervorlesungen 1981/1982/1983 mit Quellentexten, hg. von Christoph Berg u. a., Marburg: Tectum 2014, S. 55–64, hier: S. 60f. [Hervorh. im Original]). 1082 Matthias Luserke-Jaqui: Einleitung – Sturm und Drang. Genealogie einer literaturgeschichtlichen Periode, in: Handbuch Sturm und Drang, hg. von Matthias Luserke-Jaqui, Berlin: de Gruyter 2017, S. 1–28, hier: S. 5. Luserke-Jaqui paraphrasiert hier nur wenig Langens Feststellung zum Begriff ›Sturm‹ bzw. ›stürmen‹: »Bedeutet sowohl Anfechtung des Teufels wie auch von Gott gesandte Prüfungen« (August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen: Niemeyer 1954, S. 125).
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die allgemeine Gefühlserregtheit der Zeit.«1083 Dieses »unklare Gefühl seines Herzens« habe »der Mensch der Geniezeit Drang« genannt, »womit wieder ein biblischer und pietistischer Ausdruck […] verweltlicht« worden sei.1084 Zwar wird das »religiös gefärbte Verständnis« der beiden Termini »in der Sturm-undDrang-Literatur zunehmend säkularisiert und mit neuen Bedeutungen psychischer Dispositionen aufgeladen«, doch muss Johnsons mittels Gedankenstrich ausgestellter Hinweis auf diesen Namen an dessen Herkunft erinnern.1085 Dies gilt umso mehr, wenn er darin eine »Bezeichnung für Benehmen und Konduite« (16r) sieht, und weniger die oft betonte »Überwindung der Vernunftherrschaft und Entfesselung des Gefühlsüberschwangs«, die einhergingen mit einer Wendung gegen »Autorität und Tradition sowohl im polit. Leben […] als auch in der geistigen und dichter. Welt«.1086 Damit widerspricht Johnson »der marxistischen Literaturwissenschaft«, in deren Auslegung diese »ästhetisch-literarische Revolution […] mit der Krise des Feudalismus im 18. Jahrhundert gekoppelt und erklärt« wird, wonach damit zwar nicht »die Tat selbst, die politische Revolution« durchgeführt werde, aber doch »ihre ideologische Vorbereitung […] in der Sturm-und-Drang-Literatur« stattgefunden habe.1087 Johnsons Verständnis von Sturm und Drang als »Benehmen und Konduite« steht in deutlicher Opposition zu zeitgenössischen Lesarten, denen zufolge die »eigentliche Wendung zum Plebezismus, der Kampf für die Befreiung des Volkes von allen gesellschaftlichen Fesseln […] durch den Sturm und Drang« erfolgt sei.1088 In Johnsons Klausur steht der Sturm und Drang »nicht für ein Ergebnis, eine Wirksamkeit« (16r–v), sondern gerade für das Gegenteil: Er »nahm Europas Empörung auf und schuf sich einen Selbsthelfer in anarchischer Zeit« (16v). In dieser Lesart kanalisiert sozusagen die Literatur die eigentlich politische ›Empörung‹ – statt tatsächlicher Aktion (etwa in Form öffentlichen Protests) rückt die Gefühlswelt des Subjekts und seine Individualität in den Fokus der Aufmerksamkeit. Und letztlich sei der emphatische Überschwang der jungen Dichter 1083 Langen, Der Wortschatz des deutschen Pietismus (Anm. 1082), S. 462. In der Sammlung seiner Belegstellen führt Langen unter anderen auch das »Fräulein von Klettenberg« an (ebd., S. 27). 1084 August Langen: Der Wortschatz des 18. Jahrhunderts, in: Deutsche Wortgeschichte, Bd. 2, hg. von Friedrich Maurer und Fritz Stroh, Berlin: de Gruyter 1959, S. 23–222, hier: S. 112 [Hervorh. im Original]. Langen fährt hier übrigens fort: »Auf der Schwelle zwischen religiöser und weltlicher Bedeutung steht der Gebrauch des Wortes bei Susanne von Klettenberg« (ebd.). 1085 Luserke-Jaqui, Einleitung – Sturm und Drang (Anm. 1082), S. 5. 1086 [Art.] Sturm und Drang, in: Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur (Anm. 556), S. 794–797, hier: S. 795. Wilpert hält zutreffend und ganz ›im Sinne Johnsons‹ fest, dass den Stürmern und Drängern in politischer Hinsicht »freilich kaum Wirkung beschieden war« (ebd.). 1087 Luserke-Jaqui, Einleitung – Sturm und Drang (Anm. 1082), S. 15. 1088 Kurt Böttcher: Das Bild des deutschen Lehrers in Literatur und Wirklichkeit, in: Neue Deutsche Literatur 3, 1955, H. 9, S. 72–94, hier: S. 73f.
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von der Klassik wieder eingefangen worden, so Johnson weiter, und zwar durch die »griechischen Ermahnungen von gebändigter Form« (16v). Die ›gebändigte Form‹ in der Literatur ist dabei offenbar nur ein Symptom, zu werten als Echo einer Haltung, einer spezifischen sozialen und psychologischen Disposition. Daher erweitert Johnson seinen Blick von der literarhistorischen Ausprägung deutscher ›Innerlichkeit‹ hin zu einer philosophisch-geistesgeschichtlichen Perspektive, indem er auf den kategorischen Imperativ Immanuel Kants zu sprechen kommt. Zunächst zitiert Johnson fast wörtlich eine der Kant’schen Formulierungen dieses Imperativs: »handle so, dass die Maxime deines Wollens jederzeit zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden könnte« (16v).1089 Statt von der philosophischen Kategorie des Imperativs spricht Johnson allerdings wertend von der grammatischen Kategorie des »betrübliche[n] Konjunktiv[s]« (16v), die in diesem Satz vorliege. Statt des von Kant als Forderung formulierten Handlungsprinzips hebt Johnson auf den Modus des zweiten Satzteils ab, auf den Konjunktiv, als Indikator von etwas Irrealem, bestenfalls einer Möglichkeit. Dieser Modus bestimmt seine Lesart des ganzen Satzes, womit er die potenzielle Dimension der Maxime betont, nicht aber ihren Aufforderungscharakter, den Imperativ, die Möglichkeit auch zu ergreifen. Die »allgemeine Gesetzgebung […] vollziehe sich der Zeitumstände halber in den inneren Räumen« (16v), mithin in der Innerlichkeit des Subjekts, weil die »Zeitumstände«, sprich die äußeren Gegebenheiten, es nicht anders zuließen. Mitzudenken sind hier die Gestalter dieser Umstände, die restaurierte und restaurative Aristokratie in den deutschen Ländern, die gerade nicht gemäß Kants Imperativ handelte. In der Atmosphäre des Kasernenhofs hatten die Maximen des individuellen Wollens keinen Entfaltungsspielraum, sie taugen in Johnsons Darstellung bestenfalls zu einer Art Selbstbetäubung oder -täuschung: »das Subjekt brüllt sich selbst an, um das brüllende Double, den Unteroffizier, ertragen zu können« (16v). Für mehr habe Kants Imperativ in den noch abso1089 Bei Kant lautet der Satz: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne« (Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V: Kritik der praktischen Vernunft, Kritik der Urteilskraft, hg. von der Preussischen Akademie der Wissenschaften, Berlin: Reimer 1974 [1913], S. 1–163, hier: S. 30). Über Kants Verhältnis zum Pietismus scheint noch nicht das letzte Wort gesprochen zu sein: Während der Biograph Manfred Kühn es für »unwahrscheinlich« hält, dass »der Pietismus irgendeinen grundlegenden und bleibenden Einfluß auf Kants Philosophie ausgeübt« habe und es »sogar zweifelhaft« sei, »ob der Pietismus seiner Eltern in Kants intellektueller Haltung irgendwelche nennenswerten Spuren hinterließ« (Manfred Kühn: Kant. Eine Biographie, aus dem Englischen von Martin Pfeiffer, München: C. H. Beck 2003, S. 57); so weist Anna Szyrwin´ska dagegen in ihrer Dissertation nach, dass einige Begriffe seiner Philosophie pietistischen Ursprungs sind (vgl. Anna Szyrwin´ska: Wiedergeborene Freiheit. Der Einfluss des Pietismus auf die Ethik Immanuel Kants, Wiesbaden: Springer 2017).
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lutistisch geprägten deutschen Ländern nicht gereicht, als dass der Einzelne die Maximen der Duodezfürsten annehme, das Wollen des Potentaten sich zu eigen machend (und sogar verteidigend), statt einen Gegenentwurf zu entwickeln – »Benehmen und Konduite« fügen sich leichter in Befehl und Gehorsam als in Revolution und Umsturz umzuschlagen. Diese gängige Kant-Kritik ist kein origineller Einfall Johnsons allein, denn sie findet sich in dieser Form bereits 1915 vom US-amerikanischen Philosophen John Dewey formuliert: »the categorical imperative calls up the drill sergeant«.1090 Dewey formuliert in seinem Buch die zweifelhafte These, dass Kants Idealismus und vor allem sein kategorischer Imperativ wesentlich zu blindem Pflichtgehorsam und Obrigkeitshörigkeit im ›Bregen des Volkes‹ beigetragen hätten. Demnach wäre nicht Hegel, sondern Kant der erste deutsche Staatsphilosoph von Rang gewesen. Eine enge Verzahnung solch philosophischer Haltung mit der Politik hätte die kriegerischen Katastrophen in der deutschen Geschichte erheblich befördert. Eine erweiterte Ausgabe seiner politischen Theorie bot Dewey 1942 Gelegenheit, sich mit Blick auf Hitlers Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg bestätigt zu sehen. Durch die dann 1954 erfolgte deutsche Übersetzung wird die Nähe Johnsons zu Dewey deutlich, welcher dergestalt wiedergegeben wird, dass »der kategorische Imperativ das Bild des Kasernenhof-Korporals wachruf[e]«.1091 Deweys eigenwillige Kant-Interpretation fügt sich in das von Johnson gezeichnete Bild deutscher Mentalität nahtlos ein und trifft den Zeitgeist im besiegten und geteilten Deutschland genau. Die Kontrastfolie dazu liefert – wie teils übrigens auch bei Dewey – Frankreich: »die Franzosen machten ihre allgemeine Gesetzgebung« (16v), womit Johnson (vorerst) wieder an den Ausgangspunkt seiner Gegenüberstellung, und Heines Reise, gelangt. Nach den Ausführungen zur deutschen Innerlichkeit liegt in diesem knappen Satz ein Vorwurf, während die Franzosen »machten«, erschöpften sich ›die Deutschen‹ in philosophischem Idealismus und etwas ›stürmischer‹ Literatur, die alsbald wieder ›gebändigt‹ wurde. Johnson scheint sich inzwischen erheblich von seiner Textgrundlage entfernt zu haben. Eine formale Analyse des lyrisch-epischen Referenztextes stand angesichts des Themas ohnehin kaum zu erwarten. Augenscheinlich referiert Johnson überhaupt nicht über Heines Wintermärchen, weder trifft er Aussagen über die Entstehungsgeschichte noch über die dort verhandelten Themen oder deren Rezeption, noch liefert er eine Deutung des Versepos insgesamt – und 1090 John Dewey: German Philosophy and Politics, New York: Henry Holt and Co. 1915, S. 57. 1091 John Dewey: Deutsche Philosophie und Deutsche Politik. Aus dem Amerikanischen ins Deutsche übertragen von Hans Hermann Kogge, bearb. von Berthold Fresow, Meisenheim/ Glan: Westkulturverlag 1954, S. 59.
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selbst sein eigener Erzähleingang ist vorerst suspendiert. Tatsächlich findet hier aber eine Form der Aneignung und Fortschreibung des Wintermärchens mittels intertextueller Praxis statt. So setzt sich Johnson mit einigen von Heine aufgeworfenen Sujets sehr intensiv auseinander, und zwar in essayistischer Form. Hier findet ein ›Wiederschreiben‹ von Heines Deutschlandkritik statt, indem Johnson dieses satirische Versepos als Folie und als Stichwortregister seinem eigenen Deutungsmuster zugrunde legt. Ohne das Wintermärchen wären seine Ausführungen weder möglich noch zu verstehen. Aber auch die Deutungspraxis früher DDR-Philologie, die mittels historischer Textzeugnisse zur Reinterpretation von Geschichtsverläufen greift, wird hier erfahrbar. So verspottet auch Heine den Pietismus, indem er über eine gebratene Gans verkündet, dass sie »Ein stilles, gemüthliches Wesen« sei: sie »Besaß eine schöne Seele gewiß, | Doch war das Fleisch sehr zähe.«1092 Der Kommentar der Düsseldorfer Ausgabe erkennt unter Verweis auf Goethes Wilhelm Meister: »die Übertragung dieses Begriffs [der schönen Seele; AK] aus dem Pietismus […] in die kulinarische Sphäre erzeugt Komik.«1093 Die ›schöne Seele‹ fungiert hier als Tertium Comparationis, das die pietistisch apostrophierte Gans Heines mit Johnsons Fräulein von Klettenberg in Beziehung setzt. Darin wird zugleich das wesentliche Konstruktionsprinzip von Johnsons Klausur deutlich: Sie identifiziert die zentralen Kritikpunkte des Wintermärchens und extrapoliert davon ausgehend dann relativ eigenständig eine (seine) ›Deutschlandkritik‹, die in ihrer Tendenz stets an die Vorlage gebunden bleibt. Innerlichkeit und Untertanengeist, die Johnson auf pietistische Obrigkeitshörigkeit zurückführt, finden sich im Wintermärchen an mehreren Stellen adressiert. Beispielsweise schreibt Heine von den ›steif herumstelzenden‹ Deutschen: »Als hätten sie verschluckt den Stock | Womit man sie einst geprügelt.«1094 Auch die folgenden Verse zielen auf eine solch bereitwillige Internalisierung von Staatstreue: »Ja, ganz verschwand die Fuchtel nie, | Sie tragen sie jetzt im Innern«.1095 Bei Johnson folgt sodann eine Zäsur in Gestalt einer rhetorischen Frage: »Der sterbende Fechter sagt was –?« (16v). Dieser Frage wird Nachdruck und Dezision verliehen, wiewohl eine Antwort ausbleibt, mit der explizierenden Fortsetzung: »Sein eigenes Schicksal gespielet, mit dem Dolch in der eigenen Brust?« (16v). Damit wird die intertextuelle Referenz unzweifelhaft, Johnson verweist auf Heines Buch der Lieder: »Ach Gott! Im Scherz und unbewußt | Sprach ich was ich
1092 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 112. 1093 Erläuterungen [zu Deutschland. Ein Wintermährchen], in: Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 1090–1159, hier: S. 1118. 1094 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 95. 1095 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 96.
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gefühlet; | Ich hab’ mit dem Tod in der eignen Brust | Den sterbenden Fechter gespielet.«1096 Beim Sterbenden Fechter (auch als Sterbender Gallier oder Sterbender Gladiator bekannt) handelt es sich um eine antike Skulptur, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu einem hohen Bekanntheitsgrad gelangt war.1097 Kopien dieser Plastik fanden weithin Verbreitung, so etwa auch als Briefbeschwerer, und als Symbol der Niederlage wurde sie Gegenstand etlicher Gedichte, nicht nur romantischer Dichter (etwa von Fouqué oder Conrad Ferdinand Meyer).1098 Bevor Johnson explizit auf die Romantik zu sprechen kommt, hat er sie für den kundigen Leser mit seiner intertextuellen Anspielung also bereits aufgegriffen. So ist in Heines Referenztext ausdrücklich davon die Rede: »Die prächt’gen Coulissen, sie waren bemalt | Im hochromantischen Style, | Mein Rittermantel hat goldig gestrahlt, | Ich fühlte die feinsten Gefühle.«1099 In dieser Strophe wird schon deutlich, dass Heine der Romantik eher kritisch gegenüberstand, im überzeichneten Bild des ›goldig strahlenden Rittermantels‹ wird offensichtlich die romantische Verklärung des Mittelalters parodiert. Gleiches gilt für die folgenden Verse, in denen mit deutlichem Spott jene »der Vorzeit holde Romantik« adressiert wird, wie sie vom »Freyherrn Fouque, Uhland, Tieck« produziert worden sei.1100 Johnson positioniert sich mit dieser Referenz auf eine weitere Heine-Invektive gegen derartige Ästhetisierungen und deutschtümelnde Idealisierungen, die kaum mehr waren als Selbstzweck der ›prächtigen Kulisse‹ nationaler Selbstfeier. In Heines letzter Strophe, der mit dem sterbenden Fechter, wird »die Uneindeutigkeit und Zwischenstellung eines Autors« deutlich, der an den vormodernen Zuständen Deutschlands leidet und an ihnen hängt, der weiß, dass seine Literatur aus diesen Zuständen hervorgegangen und enger an sie gebunden 1096 Heine, XLIV (Anm. 1061), S. 259. 1097 Es handelt sich »um die marmorne römische Kopie eines wohl bronzenen griechischen Originals, die im ersten Regierungsjahr des Königs Attalos I. von Pergamon (241–197 v. Chr.) in Auftrag gegeben wurde und zu den herausragenden Arbeiten der pergamesischen Kunst zählt« (Bernhard Walcher: Ästhetik und Germanentum. Der sterbende Gallier als moralisches Vorbild und nationaler Held in Bildgedichten von Friedrich de la Motte Fouqué, Conrad Ferdinand Meyer und Ignaz Heinrich von Wessenberg, in: Zwischen Gattungsdisziplin und Gesamtkunstwerk. Literarische Intermedialität 1815–1848, hg. von Stefan Keppler-Tasaki und Wolf Gerhard Schmidt, Berlin: de Gruyter 2015, S. 97–121, hier: S. 102). 1098 Vgl. Walcher, Ästhetik und Germanentum (Anm. 1097). 1099 Heine, XLIV (Anm. 1061), S. 259. 1100 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 96. Ausführlich erörtert Heine seine Kritik in seiner Polemik Die romantische Schule (1836); vgl. Heinrich Heine: Die romantische Schule, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 8.1: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die romantische Schule, bearb. von Manfred Windfuhr, Hamburg: Hoffmann und Campe 1979, S. 121–249.
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ist, als ihm lieb ist. Gleichzeitig aber kritisiert, parodiert und bekämpft er die politische Situation in diesem Land.1101
Diese Einschätzung kann größtenteils auch für den Autor der Ingrid Babendererde gelten. Und gab es gerade in frühen DDR eine Reihe von Autoren, die der neuen Republik etwa mit so genannten Aufbauromanen, gefolgt von ›Ankunftsliteratur‹, eine Identität stiften wollten,1102 so waren es zu Heines Zeiten Autoren wie etwa Friedrich de la Motte Fouqué, die mit ihrer Lyrik durchaus unzweideutig eine »Aufwertung nationaler (Vor-)Geschichte« beabsichtigten, gerade angesichts eines wachsenden Nationalgefühls in Folge der französischen Eroberungen.1103 Heines sterbender Fechter erkennt dagegen im Moment seines Todes die Lügenhaftigkeit seiner romantischen Existenz, in der er nur eine Rolle gespielt hat – er steht »stärker für das Scheitern der Kunst im Zeitenkampf«.1104 Johnson sieht in der Romantik nur eine Fortsetzung der zuvor bereits angeprangerten Haltung, in deren Ästhetik lediglich »die Innerlichkeit nach aussen gekehrt« (16v) worden sei. Denn in der Poesie der politischen Romantik finde sich »das Weltgefühl des Subjekts, bezogen auf das Subjekt«, dargestellt in »vielzeiligen Strophen«, und zwar »sehr auf das Subjekt bezogen, sehr einfühlsam übrigens« (16v). Den Höhepunkt dieser Kritik bildet das folgende Bild, das sich Johnson wiederum bei Heine entliehen hat: wer dächte nicht erschrocken an den Schweine Kopf, der mit Petersilie gezieret war. Das ist nicht die Entwertung einer kostbaren Dichtweise durch profane zu profane Inhalte, ihre Erniedrigung auf ein unwürdiges Niveau: Gepäckkontrolle als lyrischer Vorwurf. (17r)1105
Bei Heine ist es noch der Sieg, Ruhm und Ehre verkündende Lorbeer – mit dem nicht nur Dichter gekrönt wurden, sondern zuweilen auch kaiserliche Häupter –, der den Tierschädel schmückt und damit eine komische Fallhöhe erzeugt.1106 Johnson ersetzt diese Komik durch eine Aktualisierung, indem er das antike 1101 Dirk von Petersdorff: Grenzen des Wissens, gemischte Gefühle. Heinrich Heines Ironie, in: Heine-Jahrbuch, 45/2006, S. 1–19, hier: S. 13. 1102 Vgl. zum Aufbauroman hier: Anm. 904; Beispiele für ›Ankunftsliteratur‹ wären Brigitte Reimanns Ankunft im Alltag (1961) und Karl-Heinz Jakobs’ Beschreibung eines Sommers (1961). 1103 Walcher, Ästhetik und Germanentum (Anm. 1097), S. 113. 1104 Peter Stein: Heinrich Heine im Nachmärz: »Enfant perdü«. Missdeutungen der Begriffe und Widersprüche im Gedicht, in: Heine-Jahrbuch, 49/2010, S. 19–29, hier: S. 27. 1105 Schwer nachvollziehbar ist hier Neumanns Transkription: »war (der) Dichter nicht erschrocken an dem Schweine Kopf, der mit Petersilie geziert war. Dies ist nicht die Entwertung einer kostbaren Dichtweise durch profane zu profaner Melodie, ihre Erniedrigung auf ein unwürdiges Niveau: Gepäckkontrolle als lyrischer Vorwurf.« (Johnson, Heines Deutschlandkritik im »Wintermärchen« (Anm. 1078), S. 68). 1106 So meint der Begriff des Poet Laureate im Wortsinne den lorbeergekrönten Dichter (vgl. hier: S. 215, S. 222 und S. 226).
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Siegessymbol durch das profane Küchenkraut ersetzt. ›Ersetzen‹ ist in diesem Fall wörtlich zu verstehen, denn Johnson hatte zunächst »Lorbeer« geschrieben, und sich damit noch eng an Heines Vorlage orientiert, dann das Wort aber behutsam durchgestrichen und darüber die »Petersilie« gesetzt (17r). Beide Wörter bleiben leserlich, womit Johnson seinem Leser, Mayer, womöglich anzeigt, dass er hier nicht irrt, sondern gezielt überzeichnet: Er steigert Heines Bild, indem bei ihm nur noch die leere Geste der Krönung erhalten bleibt, das Ehrensymbol wird profaniert. Heine zielte mit seinem Schweinskopf auf die »Lohnschreiber der Aristokratie« und »servile Schriftsteller«.1107 Johnsons Kritik geht durch den Heine-Bezug in die grundsätzlich gleiche Richtung, wobei er allerdings jenen Schriftstellern nicht einmal mehr das antike Siegessymbol gönnt: der verliehene Ruhm ist wertlos, es wird nicht geadelt, sondern nur garniert. Und keineswegs werde, so Johnson, durch derart »profane Inhalte« eine ›kostbare Dichtweise‹ erniedrigt – das Gegenteil sei der Fall: Erst diese, nämlich Heines, Dichtweise erlaube es, solche Inhalte ›lyrisch‹ zu verhandeln.1108 Denn »Heines Weltgefühl ist geräumiger«, unterscheidet sich mithin vom subjektiven Weltgefühl der deutschen Romantiker, und vermag so »praktischem Patriotismus« Ausdruck zu verleihen, der nicht an Ländergrenzen und in Gepäckstücken zu kontrollieren ist (17r). Der negative Gegenentwurf dazu ist jener Patriotismus, der »von der Lyrik Körners stinkt« (17r), so Johnson polemisch. Schon im Wintermärchen wird der in den Befreiungskriegen gefallene Dichter Theodor Körner explizit angegriffen: »Es sind die grauen Mäntel noch, | Mit dem hohen, rothen Kragen – | (Das Roth bedeutet Franzosenblut, | Sang Körner in früheren Tagen.)«.1109 Somit stehen auf der einen Seite Johnson und sein Gewährsmann Heine mit einem weiten Weltgefühl, das zwar einem Patriotismus etwas abgewinnen kann, ihn aber ablehnt, sobald er in einen gewaltbereiten, kriegerischen Nationalismus umzuschlagen droht; zumal einen chauvinistischen, wie im Falle des ›Lützower Jägers‹ Körner, dessen Patriotismus und Nationalismus sich vor allem aus der Feindschaft gegen das vergleichsweise moderne Frankreich speiste. Für ein moderneres Deutschland trat angesichts der Restauration und biedermeierlicher Innerlichkeit (programmatisch später in Adalbert Stifters Sanftem Gesetz festgehalten1110) dann eine Reihe von Schriftstellern in den 1830er 1107 Erläuterungen [zu Deutschland. Ein Wintermährchen] (Anm. 1093), S. 1118 [Hervorh. im Original]. 1108 In Neumanns Transkription wird die intendierte Steigerung (»profane zu profane«) einerseits nicht deutlich, wie sie andererseits auch das Gegenteil des Gemeinten (»Melodie« statt »Inhalte«) adressiert (vgl. Johnson, Heines Deutschlandkritik im »Wintermärchen« (Anm. 1078), S. 68). 1109 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 95. 1110 Vgl. Adalbert Stifter: Vorrede, in: ders., Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 2.2: Bunte Steine. Buchfassungen; hg. von Helmut Bergner, Stuttgart: Kohlhammer 1982, S. 9–16.
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Jahren ein. Unter der Sammelbezeichnung eines ›Jungen Deutschlands‹ zählte man neben Heine etwa noch Karl Gutzkow, Heinrich Laube, Ludolf Wienbarg und Theodor Mundt – ›man‹ meint in diesem Fall zunächst die Gesandten des Frankfurter Bundestags, die Literaturgeschichtsschreibung ist ihnen bis heute darin gefolgt.1111 Diese Gesandten verboten die Schriften dieser Autoren per Beschluss vom 10. Dezember 1835. Das Verbot der unter dem Schlagwort vom Jungen Deutschland versammelten Schriftsteller darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, »dass es eine organisierte Bewegung ›Junges Deutschland‹ faktisch nicht gegeben hat«.1112 In dieser Tatsache mag schon ein Teil der Erklärung für Johnsons rätselhaft anmutende Formulierung liegen: »Das Junge Deutschland hatte seine Themen (es war nicht das Junge Deutschland)« (17r). Hinzu kommt, dass diese Themen keine genuin deutschen Problemlagen betrafen, sondern Ausdruck eines europaweit wachsenden, von aufklärerischer Vernunftethik bestimmten Liberalismus waren, der sich in entsprechenden ›jungen‹ nationalen Strömungen (›Giovine Italia‹, ›Jeune France‹) niederschlug; wobei diese nationalen Gruppen durchaus in einem europäischen Rahmen dachten und wirken wollten. Im zeitgenössischen Kontext der Klausur erinnert das Junge Deutschland überdies an das gleichnamige ›Zentralorgan‹ der westdeutschen FDJ, dessen Chefredakteur Gerd Deumlich sich zu eben dieser Zeit vor dem Landgericht Dortmund wegen ›Staatsgefährdung‹ zu verantworten hatte.1113 So eröffnet Johnson mit seiner antithetischen Formulierung einen Bedeutungsraum potenzieller Verweisungen, ohne eine konkrete zu favorisieren: Konnte es ein Junges Deutschland geben, ohne dass es schon ein Deutschland gab? Gab es das Junge Deutschland überhaupt in der Form, in der es in die Geschichte eingegangen ist? Wenn es nicht die Themen des Jungen Deutschlands waren, wessen Themen waren es dann? Und was waren die Themen des Jungen Deutschlands? Immerhin benennt Johnson einige Aspekte der politisch-literarischen Stoßrichtung: »Emanzipation der Frauen, Emanzipation der Juden, Zensur rein als solche, Ästhetik« (17r). Es handelt sich hierbei teils um Forderungen der Aufklärung, wie sie in radikalerer Form auch von den Dichtern des Jungen Deutschland formuliert worden sind. Es sind aber zugleich Themen, die in den 1950er Jahren wieder aktuell wurden. Zu Zeiten der Restauration hingegen war an eine religiöse und sexuelle Emanzipation nicht zu denken, von einer Zen1111 Vgl. [Art.] Junges Deutschland, in: Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur (Anm. 556), S. 390f. 1112 Gerhart Söhn: Wolfgang Menzel. Sein Leben, Teil 2, in: Heine-Jahrbuch, 44/2005, S. 132– 151, hier: S. 139. 1113 Vgl. N. N.: DDR-Journalist verhaftet, in: Berliner Zeitung, 31. 5. 1956, S. 2; E. He.: Statt Freilassung politischer Gefangener – neue Terrorurteile, in: Neues Deutschland, 7. 6. 1956, S. 2; N. N.: Terrorurteil gegen Gerd Deumlich, in: Neues Deutschland, 8. 6. 1956, S. 2.
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surfreiheit ganz zu schweigen. In der jungen DDR war laut Verfassung zwar all das vorhanden, wie es jedoch um die Praxis bestellt war, wusste Johnson zum Teil aus seinen eigenen Erfahrungen mit der Jungen Gemeinde und FDJ recht genau. Inwieweit er über die Zensurpraxis – nicht nur in den Verlagen – der DDR informiert war, lässt sich nicht im Detail rekonstruieren, er wird zu diesem Zeitpunkt aber bereits mehr als eine Ahnung davon gehabt haben.1114 Alle seine hier behandelten Studientexte sind zudem ein Beleg für sein Wissen davon, dass bestimmte Aussagen in bestimmten Kontexten nicht getätigt werden konnten, eine Selbstzensur war für das Bestehen in offiziellen Angelegenheiten immer erforderlich: Als angehender Autor verhandelte Johnson gerade dieses Thema parallel zu seinen letzten universitären Prüfungen im Ingrid-Manuskript. Das »Programm des Liberalismus« (17r), das sich in den genannten Themen widerspiegelt, war allerdings dazu geeignet, dass dem ›Bürgertum‹ davon »schwindlig wurde« (17r). Mit dieser Feststellung schließt Johnson wieder an seine Ausgangsthese von der deutschen ›Innerlichkeit‹ an. Die deutschen Bürger »warteten ein halbes Jahrhundert noch auf die deutsche Einheit« (17r), statt schon konsequent moderne liberale Ideen zu verfolgen, als sie vom Jungen Deutschland propagiert wurden. Sinnbild dieser Passivität (sie »warteten«) ist die Kyffhäusersage um Barbarossa. Von Heine wird sie ausführlich in den Capita XIV bis XVI als Traum des Reisenden persifliert.1115 In einigen Details weicht Johnson von Heines Darstellung allerdings ab. So irritiert schon seine Behauptung: »Barbarossas Bart ist weiss und lang« (17r). Der lange Bart entspricht dabei noch der Sage, wo er als Ausdruck des langanhaltenden Exils im Kyffhäuser vorkommt. Gebrochen wird das Bild von Rotbart Barbarossa, wenn behauptet wird, sein Bart, mithin sein wesentliches Attribut, sei weiß. Ein Versehen Johnsons ist hier auszuschließen, vielmehr liegt darin eine Überblendung zweier historischer Figuren vor: Johnson spricht davon, man habe »ein halbes Jahrhundert noch auf die deutsche Einheit« warten müssen, »und Barbarossas Bart [sei] weiss und lang«. Realisiert wurde eine deutsche Einheit 1871 mit Wilhelm I. (durch Otto von Bismarck wesentlich vorangetrieben), den man angesichts dieser Leistung mit Friedrich I. in eine Traditionslinie stellte und gelegentlich ›Barbablanca‹, Weißbart, nannte.1116 Und während Heines Barbarossa der Bart »bis 1114 In dieser Richtung kann schon Johnsons – ansonsten wenig motivierter – Hinweis auf Miltons Areopagitica verstanden werden, vgl. hier: S. 183. 1115 Vgl. Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 121–129. 1116 Vgl.: »so ist die politische Typologie Barbarossa-Barbablanca erstmals 1875 in Entwürfen für die Berliner Siegessäule nachgewiesen; sie wird prägend für die politische Ikonographie im Kyffhäuser-Denkmal« (Wolfgang Hardtwig: Von Preussens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und Borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: Historische Zeitschrift 231, 1980, H. 2, S. 265– 324, hier: S. 298). Nicht zufällig also steht eines der imposantesten Denkmäler Wilhelms I. auf dem Kyffhäuser. Ein weiterer Bezug zu einem anderen Bartträger, nämlich Walter
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zur Erde wuchs«,1117 so ist er bei Johnson dem Kaiser »durch den Tisch gewachsen« (17r). Das ist nun kein surrealistischer Spaß des Studenten, sondern stellt vielmehr einen Bezug zum Barbarossa-Mythos her, wie er beispielsweise von den Grimms dokumentiert worden ist. In ihrer Sagensammlung wird über Friedrich Rothbart auf dem Kyfhäuser berichtet: »Der Bart ist ihm groß gewachsen, nach einigen durch den steinernen Tisch, nach andern um den Tisch herum«.1118 In seinem Gedicht Barbarossa entscheidet sich Friedrich Rückert für die erste Variante und dichtet: »Sein Bart ist nicht von Flachse, | Er ist von Feuersglut, | Ist durch den Tisch gewachsen, | Worauf sein Kinn ausruht.«1119 Die Kyffhäusersage, dessen »Atmosphäre« Heine in Johnsons Augen »wunderbar dicht« dargestellt habe, ist das ideale Gleichnis sowohl für die Innerlichkeit als auch für die »Innigkeit wahrer Hoffnung« (17r).1120 Als Gleichnis formuliert sie die historisch verklärte Hoffnung auf einen Frieden und Einheit stiftenden Kaiser, der nur auf den rechten Zeitpunkt warte, um das deutsche Volk und sein Reich zu ›retten‹. Diese Hoffnung zeugt von dem im Volk vorhandenen und im frühen 19. Jahrhundert populären Wunsch nach einem Nationalstaat, wie er angeblich schon zu Barbarossas Zeiten existiert habe. In der Lesart Heines und auch Johnsons ist das jedoch nur eine unzeitgemäße Schwärmerei, die als Ausdruck deutscher Innerlichkeit überdies der Realisierung eines tatsächlichen modernen Nationalstaats eher im Wege steht. Keineswegs proklamiert Heine mit seiner Barbarossa-Episode einen plumpen Nationalismus. Denn wiewohl er einerseits eine deutsche Einheit anmahnt, zeigt er zugleich andererseits, dass sie in der Tradition des alten Kaisers nicht zu machen ist. Nachdem Barbarossa dem Reisenden im Wintermärchen sein schlafendes, doch stets bereites Heer gezeigt hat, fordert der ihn auf: »Schlag’ los,
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Ulbricht, erscheint hier dann aber eher unwahrscheinlich. Wenngleich auch dessen Bart durchaus ein Politikum war: »Die Bezeichnung des SED-Chefs als ›Spitzbart‹ erfüllte in den Augen der DDR-Justiz den Straftatbestand der Staatsverleumdung« (Mario Frank: Walter Ulbricht. Eine deutsche Biografie, Berlin: Siedler 2001, S. 329). Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 122. Friedrich Rothbart auf dem Kyfhäuser, in: Deutsche Sagen, hg. von den Brüdern Grimm, Berlin: Nicolaische Buchhandlung 1816, S. 29f., hier: S. 29. Friedrich Rückert: Barbarossa, in: ders., Zeitgedichte und andere Texte der Jahre 1813– 1816, Bd. 1 (Friedrich Rückerts Werke. Historisch-kritische Ausgabe, ›Schweinfurter Edition‹), bearbeitet von Claudia Wiener und Rudolf Kreutner, Göttingen: Wallstein 2009, S. 268f., hier: S. 269. Die Schweinfurter Edition sieht in diesem Gedicht gar einen wesentlichen »Auslöser des Barbarossa-Mythos im 19. Jh.« (Editorischer Bericht, in: Friedrich Rückert: Zeitgedichte und andere Texte der Jahre 1813–1816, Bd. 2 (Friedrich Rückerts Werke. Historisch-kritische Ausgabe, ›Schweinfurter Edition‹), bearbeitet von Claudia Wiener und Rudolf Kreutner, Göttingen: Wallstein 2009, S. 781–1025, hier: S. 897). Wenig spricht hier für Neumanns Transkription von »solcher Hoffnung« statt »wahrer Hoffnung«. Gleiches gilt zuvor für Neumanns »überzeugend ist die Atmosphäre«, wo es doch – grammatikalisch auch passend – beginnt mit »übrigens ist die Atmosphäre« (vgl. Johnson, Heines Deutschlandkritik im »Wintermärchen« (Anm. 1078), S. 68).
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du alter Geselle, | Schlag’ los, und hast du nicht Pferde genug, | Nimm Esel an ihrer Stelle.«1121 Der Kaiser jedoch weicht aus, zögert und speist sein Gegenüber mit Phrasen ab: Der Rothbart erwiederte lächelnd: »Es hat Mit dem Schlagen gar keine Eile, Man baute nicht Rom in einem Tag, Gut Ding will haben Weile. Wer heute nicht kommt, kommt morgen gewiß, Nur langsam wächst die Eiche, Und chi va piano va sano, so heißt Das Sprüchwort im römischen Reiche.«1122
Und so kommt Heines Reisender zu dem Schluss, dass mit diesem – oder einem anderen – Kaiser kein zeitgemäßer Staat zu machen sei: »Das Beste wäre du bliebest zu Haus, | Hier in dem alten Kiffhäuser – | Bedenk’ ich die Sache ganz genau, | So brauchen wir gar keinen Kaiser.«1123 Heines Verdienst bestehe darin, so Johnson, den Deutschen gezeigt zu haben: »man kann das also machen« (17v), nämlich für Bürgerrechte und eine staatliche Einheit öffentlich eintreten. Eine Abfuhr erteile Heine allerdings jener »schamhafte[n] deutsche[n] Innerlichkeit« (17v), die auf einen mythischen Erlöser hofft und in derart passiv-bequemer Hoffnung verharrt. Er habe die Menschen daran erinnert, so Johnson weiter, »dass die innige Andacht am Ende verdächtige Sentimentalität sei« (17v). Heines aus der Zeit gefallener Barbarossa ist dafür das beste Beispiel, er hat keine Ahnung von den Dingen und Verläufen, die sich außerhalb seiner Höhle, politisch oder kulturell, gerade ereignen – er taugt nicht als Erlöser. Fast dialektisch führt Johnson sogleich wieder die Gegenposition deutscher Innerlichkeit vor, schließlich gehe »bei Brentano […] die Abendsonne noch immer sehr schön unter« (17v). Das Beispiel Clemens Brentanos stammt von Johnson, im Wintermärchen wird der prominente Schriftsteller des frühen 19. Jahrhunderts nicht thematisiert. Johnson erweitert mit ihm Heines Romantik-Kritik eigenständig, indem er hier vermutlich auf dessen Gedicht Wenn die
1121 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 125. 1122 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 125f. [Hervorh. im Original]. 1123 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 129. Die beiden letzten Verse werden übrigens von Marx und Engels in einem Artikel zitiert, in dem sie die Diskussion der Kaiserfrage in der Frankfurter Nationalversammlung kommentieren (vgl. Karl Marx, Friedrich Engels: Programme der radikal-demokratischen Partei und der Linken zu Frankfurt, in: dies., Werke, Bd. 5, Berlin: Dietz 1959, S. 39–43, hier besonders: S. 41). Johnson, der kein so guter ›Marx- oder Engels-Kenner‹ war, verweist nicht darauf.
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Sonne weggegangen anspielt.1124 Dabei ist Brentanos Gedicht als konkreter Referenztext hier vielleicht gar nicht das Entscheidende. Es hat nämlich den Anschein, als übe sich Johnson selbst ein wenig in einer ironischen Volte nach dem Vorbild Heines: Es liegt in der Natur der Sache, dass die Abendsonne untergeht, Johnson aber weist mit Nachdruck zweimal auf diesen – im Wortsinne – alltäglichen Vorgang hin: »sie ging sehr schön unter« (17v). Offensichtlich soll damit romantische Naturschwärmerei, selbst für gewöhnliche Ereignisse wie eben einen Sonnenuntergang, aufs Korn genommen werden. Heine war ihm hierzu nicht nur Anstifter, sondern hatte gerade für dieses spezielle Naturereignis eine Vorlage verfasst, auf die Johnsons Spöttelei zwangsläufig zurückverweist, nämlich das kurze Gedicht Das Fräulein stand am Meere: Das Fräulein stand am Meere Und seufzte lang und bang, Es rührte sie so sehre Der Sonnenuntergang. Mein Fräulein! seyn Sie munter, Das ist ein altes Stück; Hier vorne geht sie unter Und kehrt von hinten zurück.1125
Hier wird das Moment der Rührung in der ersten Strophe vom Vernunftargument der zweiten eingefangen, indem auf die Trivialität des Naturschauspiels hingewiesen wird. Und so deutet Johnsons betont untergehende BrentanoAbendsonne noch auf die Lichtmetaphorik der Aufklärung: Bei Brentano wird es dunkel, die Vernunft, das Licht der Aufklärung, erreicht weder ihn noch seine Leser. Heine hat sich dieser Metaphorik vielfach im positiven Sinne bedient, etwa das »helle Sonnenlicht der Preßfreyheit« gelobt,1126 und für Hegel war die Französische Revolution gar ein »herrlicher Sonnenaufgang«.1127 1124 Vgl. Clemens Brentano: Wenn die Sonne weggegangen, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1: Gedichte 1784–1801, hg. von Anne Bohnenkamp u. a., Stuttgart: Kohlhammer 2007, S. 176f. Die erste der vier Strophen lautet dort: »Wenn die Sonne weggegangen, | Kömmt die Dunkelheit heran, | Abendroth hat goldne Wangen, | Und die Nacht hat Trauer an« (ebd., S. 176). In der Romantischen Schule attackiert Heine mit der ihm eigenen Ironie Brentano scharf: Dieser lebe »entfernt von der Welt, eingeschlossen, ja, eingemauert in seinem Catholizismus«, man erinnere sich bestenfalls noch an ihn, »wenn die Rede von den Volksliedern« ist, die er mit Achim von Arnim herausgegeben hat: »wer das deutsche Volk von einer liebenswürdigen Seite kennenlernen will, der lese diese Volkslieder« (Heine, Die romantische Schule (Anm. 1100), S. 200f.). 1125 Heinrich Heine: Das Fräulein stand am Meere, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 2: Neue Gedichte, Hamburg: Hoffmann und Campe 1983, S. 35f. 1126 Heinrich Heine: Einleitung. (Zu »Kahldorf über den Adel«), in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von
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Gegen die unpolitische, volksliedhafte Naturidylle von Brentanos Heidelberger Romantik bringt Johnson ein starkes Autoritätsargument in Stellung: »Einst (sagte Goethe): dass mein Reisekoffer durch alle deutschen Lande ungeöffnet passieren könne« (17v). Es ist aber nicht nur das ›Gewicht‹ des großen Klassikers, der seinerseits schon für eine freie Passage plädierte, um das es hier geht. Das Zitat verweist deutlich auf die Bigotterie in der Literaturrezeption zu Zeiten Heines wie auch in Johnsons Gegenwart. Im Wintermärchen findet sich die Anklage der politisch und vermittels Zensur auch kulturell Mächtigen deutlich formuliert: Der König liebt das Stück. Jedoch Wär’ noch der Autor am Leben, Ich riethe ihm nicht sich in Person Nach Preußen zu begeben. Dem wirklichen Aristophanes, Dem ginge es schlecht, dem Armen; Wir würden ihn bald begleitet sehn Mit Chören von Gensd’armen. Der Pöbel bekäm’ die Erlaubniß bald Zu schimpfen statt zu wedeln; Die Polizey erhielte Befehl Zu fahnden auf den Edeln. O König! Ich meine es gut mit dir, Und will einen Rath dir geben: Die todten Dichter, verehre sie nur, Doch schone die da leben.1128
Der Vorwurf ist eindeutig: Wie ist es zu rechtfertigen, dass man den toten Dichter feiert, der zu seinen Lebzeiten nicht mit Kritik sparte, wenn man gleichzeitig die kritischen Dichter seiner eigenen Zeit zensiert? Über Aristophanes’ Frösche, mit dem antiken zänkischen Dichterpaar Euripides und Aischylos in den Hauptrollen, hat man in Preußen gut lachen – »Der König liebt das Stück.« Über Heinrich Heine und andere rümpft man die Nase und verbietet ihre Schriften. Was für Heine der antike Komödiendichter Aristophanes war, das ist für Johnson Goethe. Vielmehr macht Johnson Goethe mit seinem geschickt geManfred Windfuhr, Bd. 11: Ludwig Börne. Eine Denkschrift und Kleinere politische Schriften, bearbeitet von Helmut Koopmann, Hamburg: Hoffmann und Campe 1978, S. 134–145, hier: S. 137. 1127 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, hg. von Eduard Gans, 3. Auflage von Karl Hegel, Berlin: Duncker und Humblot 1848, S. 535. Bedenkt man Hegels Metapher bei Johnsons Verweis auf Brentanos Sonnenuntergang, so wird Brentano auch damit zum Vertreter der Restauration. 1128 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 156.
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wählten Zitat zu einem solchen ›neuen Aristophanes‹ für seine Zwecke. Wenn der Vergleich auch ein wenig hinken mag – denn Goethe äußerte sich im Gespräch gegenüber einem Vertrauten, Heine (und Aristophanes) hingegen traten an die Öffentlichkeit –, so verfehlt Johnson doch nicht den offenbar erhofften Effekt: Goethe habe nichts Anderes gewollt als Heine, und zwar ungehindert durch die deutschen Lande reisen zu können. Zwar wurde Goethe in der DDR nicht als kritischer Autor rezipiert – als solcher wäre er dort wohl gar nicht gelesen worden –, doch zitiert Johnson nun aber gerade aus einem Gespräch mit Eckermann, das über die Einheit Deutschlands spekuliert. Daraufhin gelesen, vermag dieser Dialog sehr wohl eine Kritik an der für Johnson (wieder) bestehenden deutschen Teilung zu sein. Der optimistische Weimarer Dichter hatte keine Sorge, »daß Deutschland nicht eins werde«, er glaubte und hoffte, es sei immer eins gegen den auswärtigen Feind. Es sei eins, daß der deutsche Taler und Groschen im ganzen Reich gleichen Wert habe; eins, daß mein Reisekoffer durch alle sechs und dreißig Staaten ungeöffnet passieren könne. Es sei eins, daß der städtische Reisepass eines Weimarschen Bürgers von dem Grenzbeamten eines großen Nachbarstaates nicht für unzulänglich gehalten werde, als der Paß eines Ausländers. Es sei von Inland und Ausland unter deutschen Staaten überall keine Rede mehr.1129
Es ist nicht Prophetie, sondern Ironie der Geschichte, dass Goethe damit die wesentlichen Problemfelder der beiden deutschen Teilstaaten nach 1945 umreißt. Denn trotz anderslautender öffentlicher Bekundungen, auch Festschreibungen in Verfassung und Grundgesetz, auch Versen in den jeweiligen Nationalhymnen, zementierte sich die deutsche Zweistaatlichkeit zusehends, forciert durch die beiden Staatsgründungen 1949 mit Einbindung in das jeweilige Bündnis- und Wirtschaftssystem. Johnsons Zitat verweist auf das Eckermann’sche Protokoll als Ganzes, sein kundiger Leser wird es kennen und verstehen. »Und Herr Heine belastete1130 seinen Kopf mit Konterbande« (17v) resümiert Johnson diesen Abschnitt literarhistorischer Verweisungen. Er konnte weder frei reden noch passieren, musste seine Gedanken in seinem Kopf vor Grenzkontrollen verbergen. Mit einer laxen Paraphrase der preußischen Königstitulatur tritt Johnson dann explizit aus dem literarischen in das politische Feld: »Wir, Wilhelm der Unzählige von Gottes Gnaden, König von Preussen« (17v). Diese amtliche Formel findet sich auf Erlässen und Gesetzen aller preußischen Könige. Im Detail wird 1129 Goethe im Gespräch mit Eckermann, 23. 10. 1828, in: Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter u. a., Bd. 19: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Heinz Schlaffer, München: btb 2006, S. 624–635, hier: S. 632f. [Hervorh. im Original]. Die Erstausgabe dieses Gesprächs erfolgte zufällig im ›Revolutionsjahr‹ 1848. 1130 Nicht nur »lastete«, wie Neumann transkribiert (vgl. Johnson, Heines Deutschlandkritik im »Wintermärchen« (Anm. 1078), S. 68).
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deutlich, dass Johnson hier auf die letzten beiden Könige – den 99-Tage-König Friedrich III. hier ausgenommen – abzielt, nur sie hießen Wilhelm, ihre Vorgänger stets Friedrich oder Friedrich Wilhelm. Diese beiden Wilhelms prägten die deutsche Geschichte von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs. Und sie verfügten, wie Johnson klarstellt, über eine »regierungstreue Presse« (17v). Das Freiheitsbestreben von Jungem Deutschland und Vormärz hatte in der Frankfurter Reichsverfassung durchaus seinen Niederschlag gefunden, es wurde eine allgemeine Meinungs- und Pressefreiheit festgeschrieben, doch diese Freiheiten »existierten bald nur noch auf dem Papier.«1131 Zwar wurde in der Folge die Vorzensur größtenteils tatsächlich abgeschafft, ihren Platz nahm aber eine Reihe von Strafgesetzen ein, die mit einer stets drohende Nachzensur vor allem das wirtschaftliche Risiko auf die Produzenten und Distributoren von Literatur in weitesten Sinne (Zeitungen, Verlage, Theater und später auch Filme zählten dazu) abwälzte. Sie sollten so »auf eine Selbstzensur verpflichtet werden.«1132 Johnson verweist mit den ›unzähligen Wilhelms‹ und ihrer regierungstreuen Presse über die Lebzeiten Heines hinaus. Und im zeithistorischen Kontext seiner Klausur kann vermutet werden, dass ein weiterer ›ungezählter Wilhelm‹ mitgemeint sein soll, nämlich Wilhelm Pieck, der erste und einzige Präsident der DDR. Zwar verfügte Pieck de facto kaum über politische Macht, doch konnte auch er sich, wie die einstigen Kaiser, auf eine regierungstreue Presse verlassen. Nur mit einer spöttelnden Variation aristokratischer Herrschaftstitel und dem PresseSchlagwort gelingt Johnson ein Seitenhieb auf seine Gegenwart. Wie Johnson sich später in seiner Mayer-Reverenz erinnert, genoss Pieck durch sein vor allem repräsentatives Amt einige Popularität: »Wir waren nicht gegen Pieck«, wobei aber keine Illusionen genährt werden, denn man glaubte »kaum, daß Übergriffe der Behörden unterblieben wären, ›wenn das Pieck wüßte‹; nach unserer Meinung erfuhr Pieck nichts mehr« – und selbst wenn, hätte das offenbar nichts geändert.1133 Wie beiläufig weist Johnson auf Behördenübergriffe hin, wo es ihm eigentlich um eine ›Ehrenrettung‹ Mayers mit dieser Episode geht: Herr Professor Mayer hatte sich soeben mit einem Symbol des Staates mehr als nötig identifiziert. Im Gegenteil, er hatte sich soeben von diesem Staat und Übergriffen der Behörden distanziert, indem er seine Achtung auf eine Privatperson beschränkte.1134
Das ›Symbol des Staates‹, der Frühstücksdirektor der DDR, war an sich harmlos, wie man sich zu ihm öffentlich verhielt, war dagegen von Bedeutung. Mayer 1131 1132 1133 1134
Bodo Plachta: Zensur, Stuttgart: Reclam: 2006, S. 124. Plachta, Zensur (Anm. 1131), S. 125. Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 119. Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 119.
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gratulierte mit einem kleinen Text zum 80. Geburtstag: »Wer jemals mit Wilhelm Pieck zusammenkam«, berichtet Mayer, der habe die »zur Selbstverständlichkeit gewordene Kultur in diesem Arbeitersohn« wirken sehen können.1135 Den weniger Glücklichen, die bei diesem »Staatsakt« oder jenem »kleinerem Kreise von Kulturschaffenden« mit dem Präsidenten nicht dabei sein konnten, denen berichtet Mayer davon; denn er war selbstredend stets vor Ort.1136 Es bleibt die Frage: Sind Mayers Glückwünsche Identifikation oder Distanznahme? Wichtiger ist hier aber die Beobachtung an Johnsons Würdigung: Seine Darstellungsweise, zwei potenziell gültige, einander jedoch widersprechende Deutungsangebote zu unterbreiten, findet sich schon in seiner Heine-Klausur. Dabei ist dem Leser in gewissem Maße überlassen, sich entweder für eine Lesart zu entscheiden, oder den in der Sache liegenden unauflösbaren Widerspruch wahrzunehmen und als solchen anzuerkennen. Mit dem Thema Presse fährt Johnson fort, indem er darauf verweist, dass Heine »manchmal Prosa nach Deutschland in die Augsburger Allgemeine« (17v) geschickt habe. Er erinnert damit zugleich daran, dass Heine nur aus dem französischen Exil heraus noch in deutschen Zeitungen zu publizieren vermochte. Die Bezeichnung dieser Texte als »Prosa« kann als positive Wertung der journalistischen Arbeiten gelesen werden. Jedoch geht es Johnson augenscheinlich nicht um eine Abhandlung biographischer Daten. Denn er schließt an: »die erstaunten Berliner lasen1137 über ihre Denkmäler von den fürstlichen Hoheiten, wenn sie verglichen wurden: dafür aber ist der Schwanz (des Pferdes) auch nicht so bedeutend dick« (17v). Damit wird erneut ein konkreter Heine-Text aufgerufen, und zwar der erste Brief aus Berlin, den er für den Rheinisch-Westfälischen Anzeiger geschrieben hatte, wo er bereits im Februar 1822 erschienen ist, also gut zehn Jahre vor Heines Auswanderung nach Paris. Es war für diese Zeitung eine Reihe fiktiver Briefe geplant, die vom Kultur- und Gesellschaftsleben, den Sitten und Skandalen der Berliner berichten sollte – eine Kolumne, die von Heine jedoch nach drei Briefen bereits abgebrochen wurde. Im ersten Brief findet sich, worauf Johnson anspielt, nämlich die zu Heines Zeiten auf der Langen Brücke in Berlin aufgestellte Reiterstatue des Kurfürsten Friedrich Wilhelm: »Es hat die meiste Aehnlichkeit mit der Statue des Kurfürsten Johann Wilhelm auf dem Markte zu Düsseldorf; nur daß hier in Berlin der Schwanz des Pferdes nicht so bedeutend dick ist.«1138 Mag Heines Bericht auch nicht für
1135 Hans Mayer: Kleines Ereignis mit tieferer Bedeutung, in: Sonntag, 1. 1. 1956, S. 4. 1136 Mayer, Kleines Ereignis mit tieferer Bedeutung (Anm. 1135). 1137 Wahrscheinlich heißt es hier »lasen« statt »lesen« (vgl. Johnson, Heines Deutschlandkritik im »Wintermärchen« (Anm. 1078), S. 68). 1138 Heinrich Heine: Briefe aus Berlin, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hg. von Manfred Windfuhr, Bd. 6: Briefe
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Berliner, wie Johnson behauptet, und auch nicht, wie er syntaktisch impliziert, für die Augsburger Allgemeine verfasst worden sein, so zeigt er doch, worüber man noch schadlos berichten konnte: Banalitäten der Herrschaftsverehrung, die letztlich nur das eigene Untertanentum ausstellen – in einer solchen, literarisch wie historisch verklausulierten Lesart wird eine Referenz auf die ebenfalls regierungstreue DDR-Presse wahrscheinlich. Der Vergleich der Pferdeschweife ist übrigens zutreffend, das verglichene Düsseldorfer Reiterdenkmal des Kurfürsten Johann Wilhelm von Pfalz-Neuburg (genannt Jan Wellem) ist in seiner Ausführung, nicht erst ab der Schweifrübe, »wesentlich ›barocker‹«.1139 Johnsons historisch sprunghaft und willkürlich wirkende Zusammenschau gewinnt allerdings dadurch Kontur, dass besagter Kurfürst Friedrich Wilhelm während seiner Regierungszeit, etwa durch ein ausgeprägtes Militärwesen wie auch fortschrittliche Wirtschafts- und Religionspolitik, den Grundstein für das spätere Königreich Preußen legte, sein Sohn Friedrich III. krönte sich selbst als Friedrich I. zum ersten preußischen König. Johnson bleibt beim Thema Presse, wenn er nun auf Wolfgang Menzel zu sprechen kommt, der im Wintermärchen zweimal namentlich erwähnt wird, jedoch nicht als »Franzosenfresser« (17v), als den Johnson ihn bezeichnet.1140 Auch hatte sich der Literaturkritiker diesen Beinamen nicht, wie Johnson behauptet, selbst gegeben, er erhielt ihn von Ludwig Börne. Menzel war mit seinen aggressiven Kritiken und direkten publizistischen Angriffen gegen die Autoren des Jungen Deutschland ein wesentlicher Katalysator für deren Publikationsverbot durch den Bundestag: »Menzel brachte das Fass zum Überlaufen.«1141 Karl Gutzkow, dessen Roman Wally, die Zweiflerin (1835) den Ausgangspunkt von Menzels Angriffen markiert, forderte seinen Kritiker sogar zum Duell, während Heine und Börne mit eigenen Polemiken antworteten – die des letzteren trägt den Titel Menzel, der Franzosenfresser (Paris 1837). Die Haltung dieser von beißendem Spott und Sarkasmus geprägten Streitschrift ist eindeutig: »Menzel ist ein Kothsasse [Tagelöhner; AK] der allgemeinen Zeitung, ein Prokuratur der deutschen Bundesregierung. Er hat sich ihr geschenkt, nicht verkauft«.1142 Menzel ist
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aus Berlin, Über Polen, Reisebilder I/II (Prosa), Hamburg: Hoffmann und Campe 1973, S. 7–53, hier: S. 10. Apparat [zu ›Briefe aus Berlin‹], in: Heine, Briefe aus Berlin (Anm. 1138), S. 361–457, hier: S. 390 [Hervorh. im Original]. Vgl. Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 98 und S. 148. Söhn, Wolfgang Menzel, Teil 2 (Anm. 1112), S. 138. Ludwig Börne: Gesammelte Schriften, Bd. 15: Menzel, der Franzosenfresser, Paris: Barrois 1837, S. 3. Gegen Ende seiner Schrift kommt Börne noch einmal auf eben diesen Vorwurf zurück, er möchte nicht missverstanden werden: »Ich will nicht damit sagen, daß sich Herr Menzel verkauft hat, ich sage nicht damit daß Herr Menzel seiner wahren Meinung entsagt, und falsche heuchelt, um der Macht zu schmeicheln; ich sage es nicht, denn ich denke es nicht. Ich klage nur die Eitelkeit seines Herzens, die Schwäche seines Gemüths, und seinen
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für Börne, wie auch für Heine und dann Johnson, der prototypische Vertreter einer sich andienenden, ›regierungstreuen Presse‹. Erschwerend kommt in seinem Fall noch hinzu, dass er den liberalen Ideen seiner Zeitgenossen zunächst abwartend gegenübergestanden hatte, mit seiner Kritik an Gutzkows Roman dann aber entschieden für die Seite der Restauration und der bestehenden Ordnung argumentierte. In einem von politischer Zensur bestimmten Literaturbetrieb muss der einzelne Autor, Kritiker, Verleger oder Herausgeber Stellung beziehen: Was ist er bereit, dem Zensor zu opfern, wofür tritt er ihm entgegen? Eine mögliche Strategie demonstriert Heine mit den Wölfen im zwölften Caput des Wintermärchens. Die Düsseldorfer Ausgabe vermerkt dazu: »Daß mit den Wölfen die deutschen Revolutionäre gemeint sind, gilt als unumstritten. Inwieweit sich der Autor mit ihnen identifiziert und zugleich von ihnen ironisch distanziert, bleibt unsicher.«1143 Diese Ungewissheit, die Unentschiedenheit zwischen Nähe und Distanz zu den Revolutionären, ist von Heine offenbar intendiert. Er verfolgt literarisch wie politisch ein eigenes Programm, das mit den Zielen anderer Autoren zum Teil übereinstimmt, zum Teil aber eben auch nicht. Von den vielen ironisch-selbstironischen Phrasen der Wolfs-Verse haben einige doch Gewicht. Sie lassen sich auf Heine, wie auf viele andere liberale oder von Zensur bedrohte Autoren (nicht nur) seiner Zeit münzen: »Der Schaafpelz, den ich umgehängt | Zuweilen, um mich zu wärmen, | Glaubt mir’s, er brachte mich nie dahin | Für das Glück der Schaafe zu schwärmen.«1144 Es ist fast eine Entschuldigung, wenigstens eine Erklärung, des kritischen oder revolutionären Dichters, der zuweilen nicht so auftreten kann, wie er es gerne möchte. So mag Heine »hier also einräumen, daß er sich aus finanziellen Gründen zeitweilig ein Schafsfell hatte umhängen müssen«.1145 Der Wolf im Schafspelz bleibt aber ein Wolf, der Schafspelz, etwa von der Zensur verordnet oder selbst angelegt, dient seinem Zweck – nur in seinem Schutz gelangt er ans Ziel. Johnson kondensiert die Ambivalenz des ›Wolfscaputs‹ in eine wiederum antithetisch-paradoxe Formulierung: »Herr Heine heult mit den Wölfen, Herr Heine heult nie mit den Wölfen« (17v) – denn beides ist richtig. So kommt Heines Reisender gerade von einem Festmahl (Caput IX), als er die »ausgehungerten Stimmen« der Wölfe vernimmt – der sodann von diesen Wölfen Gefeierte ist
Unverstand in politischen Dingen an« (ebd., S. 133). Statt ihn käuflich zu nennen, nennt er ihn bestenfalls naiv. 1143 Erläuterungen [zu Deutschland. Ein Wintermährchen] (Anm. 1093), S. 1124 [Hervorh. im Original]. 1144 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 117. 1145 Erläuterungen [zu Deutschland. Ein Wintermährchen] (Anm. 1093), S. 1125 [Hervorh. im Original].
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keiner der Ihren.1146 Das Pathos seiner Rede ist größtenteils Selbstzweck, versichert den Wölfen in deutschen Wäldern, dass auch er »ein Wolf geblieben« sei.1147 Einen wirklichen Beitrag zu ihrer Sache aber vermag oder will er nicht leisten: »Ja, zählt auf mich und helft Euch selbst, | Dann wird auch Gott Euch helfen!«1148 Dahinter verbirgt sich auch eine Anklage gegen jenen Typ Schriftsteller, wie Heine ihn an anderer Stelle charakterisiert, der ein bischen liberalen Demagogismus treibt und den Tagesenthusiasmus ausbeutet, um die große Menge zu gewinnen, um seinen schlechten Büchern Absatz zu verschaffen, um sich überhaupt eine Wichtigkeit zu geben. Der ist halb Fuchs halb Hund und hüllt sich in ein Wolfsfell, um mit den Wölfen zu heulen.1149
Die Problematik oppositionellen Sprechens, insbesondere im Sinne eines Protests gegen bestehende politische Verhältnisse, war Johnson zum Zeitpunkt dieser Klausur bereits aus persönlicher Anschauung in Güstrow und eigener Erfahrung in Rostock vertraut. Im Gegensatz jedoch zu jenen, sich trotz ihrer Rede schadlos haltenden ›Wölfen‹, tragen seine Figuren, etwa Elisabeth Rehfelde und Klaus Niebuhr in Ingrid Babendererde, ganz im Sinne Heines, auf je eigene Weise die Konsequenzen ihres Redens und handeln entsprechend. An ihnen markiert Johnson eine Haltung, die er augenscheinlich auch selbst vertritt. In seinem kurzen Text Über eine Haltung des Protestierens (1967) wird er später noch deutlicher werden: »Johnson spricht mit Nachdruck aus, welche Sorte Protest er ablehnt. Ex negativo ist zu erkennen, dass er nach eingreifendem Protest verlangt, verbunden mit einem glaubhaften persönlichen Einsatz.«1150 Sein drastisches Urteil über die nur »mit gerührten Gebehrden«1151 Protestierenden: »Die guten Leute sollen das Maul halten.«1152 Schon bei Heine begegnete Johnson diesem Topos des wohlfeilen Protestlers, der mehr um seiner selbst als um der Sache willen an die Öffentlichkeit tritt.1153
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Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 116. Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 117. Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 118. Heinrich Heine: Ludwig Börne. Eine Denkschrift, in: ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 11 (Anm. 1126), S. 9–132, hier: S. 62. Holger Helbig: Die guten Leute sollen das Maul halten. Uwe Johnson protestiert, in: Johnson-Jahrbuch, 18/2011, S. 125–149, hier: S. 147. Helbig macht darauf aufmerksam, dass »es noch keine Untersuchung zum Thema Uwe Johnson und Protest gibt«, obwohl das Thema immer wieder in seinen Romanen und den Stationen seines Lebens als öffentliche Person von erheblicher Bedeutung ist – es sei »zu viel Material« (ebd., S. 145). Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 117. Uwe Johnson: Über eine Haltung des Protestierens, in: ders., Berliner Sachen. Aufsätze, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1975, S. 95f., hier: S. 96. Und auch den stets die Wahrheit sprechenden Falada der Gänsemagd traf er bereits im Wintermärchen, nicht erst bei Brecht, von dem er die Formel von den ›guten Leuten‹ lieh. Vgl. dazu Helbig, Die guten Leute sollen das Maul halten (Anm. 1150), S. 139–142.
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Johnson hat Heines Kritik an den vermeintlich revolutionären Schreiberlingen erkannt und stellt ihnen dessen autobiographisch gelesenes Ich gegenüber: »Herr Heine heult nie mit den Wölfen, Herr Heine fährt wochenlang nach Hamburg, um seine Mutter zu besuchen. Später wird man ihm das Land verbieten« (17v–18r). Der Autor Heinrich Heine reiste Ende 1843 aus privaten und geschäftlichen Gründen in die norddeutsche Metropole, er wollte seine Familie dort besuchen und mit seinem Verleger Julius Campe verhandeln. ›Nebenher‹ sammelte er Reiseeindrücke, die sich dann im Wintermärchen niederschlagen sollten. Die Entstehungs- und Publikationsgeschichte zeigt, dass Campe zum Teil erhebliche Bedenken hinsichtlich einer möglichen Zensur anmeldete, die Heine seinerseits nicht hören wollte, sich dann aber letztlich doch zu einigen Zugeständnissen, sprich Entschärfungen, bereiterklärte.1154 Ihm dürfte bewusst gewesen sein, dass die Publikation dieser (und anderer) Verse Konsequenzen zeitigen würde. Und in der Tat wurden im April und Juli 1844 Haftbefehle gegen ihn erlassen, die »ihm das Land verbieten« sollten. Zugespitzt ließe sich sagen, er habe sehenden Auges die Verfolgung durch die Behörden des Deutschen Bundes in Kauf genommen – das ist mehr, als die heulenden Wölfe in den deutschen Wäldern zu riskieren bereit waren; diese Haltung mag Mayers HochschulSchüler imponiert haben. Heines Deutschland-Kritik im Wintermärchen zielt auf ein ›besseres‹ Deutschland, eines ohne innere Grenzen und Zollschranken, ohne Kleinstaaterei, ohne preußische Dominanz, ohne mystisch verklärte Reminiszenzen an ein untergegangenes und wieder zu errichtendes Reich und auch auf ein Deutschland ohne Zensur. Aus Johnsons literarhistorischem wie geistesgeschichtlichem Assoziationsgemenge wird deutlich, dass er diese Position weitestgehend teilt. Noch bevor er die nun folgende rhetorische Frage stellt, hat er sie bereits beantwortet: »Was ist Patriotismus?« (18r) – Heines Wintermärchen ist Patriotismus. Ebenso patriotisch ist dann auch Johnsons anschließende Feststellung: »Deutschland braucht eine Einheit, aber es hat keine Einheit« (18r). Das ist ohne Zweifel eine der Kernthesen Heines. Dieser Satz hat für sich aber auch noch am 4. Juni 1956 seine Berechtigung, ist Feststellung und Forderung zugleich. Er ist umso eindrücklicher auf die Gegenwart bezogen, als Johnson ihn ohne jeden Verweis auf seine Vorlage niederschreibt. Johnson leitet mit der rhetorischen Frage den Schluss seines vom Wintermärchen inspirierten Essays ein, was er auch grammatisch markiert. Bislang hatte er konsequent im Präteritum oder Plusquamperfekt von historischen Begebenheiten berichtet. Wenn er über konkrete Texte sprach, verwendete er das Präsens, der anhaltenden Gültigkeit von Literatur entsprechend. Daran lässt sich
1154 Vgl. Erläuterungen [zu Deutschland. Ein Wintermährchen] (Anm. 1093), S. 943–966.
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beispielsweise auch gut ablesen, wann er von der Figur ›Heine‹ des Wintermärchens spricht und wann er über dessen realen Autor redet. Im erzählerischen Eingang seiner Klausur sind die Rollen noch nicht klar getrennt, die preußischen Beamten »visitieren« und »bescheinigen« Unbedenklichkeit, und doch »führte Herr Heine Konterbande mit sich« (16r). Hier sind Autor und lyrisches Subjekt miteinander verschränkt, wie auch Heines tatsächliche Reise den Anlass für sein Versepos geboten hatte. Danach wird die Trennung der Zeitformen gemäß der jeweiligen Darstellungsabsicht aber eingehalten: Vor »Jahrzehnten hatten sie Revolution gemacht« (16r) – die Französische Revolution als Ausgangspunkt des folgenden literatur- und geistesgeschichtlichen Parcours steht im Plusquamperfekt. Aus der Sicht des Sprechers Johnson gehören auch die Folgen dieser Revolution noch in eine ›Vorvergangenheit‹, es »war in Deutschland nicht gut angegangen« (16r). Unterströmungen von großer Dauer grundierten die Ereignisgeschichte: Denn da »war der Pietismus« (16r), und der »Sturm und Drang nahm Europas Empörung auf und schuf sich einen Selbsthelfer […] und die Klassik besann sich«, und auch in »Frankreich ging man gewiss Umwege« (16v). Zwischen diesem berichtenden Präteritum findet sich – nach dem offensichtlichen Kant-Zitat – ein diskret versteckter Bezug auf einen Referenztext, Deweys Deutsche Philosophie und Politik. Am Tempusübergang wird der Verweis kenntlich und erfahrbar: »schon ist der Kasernenhof die Atmosphäre des Subjekts« (16v). Ebenso wird auch Heines Gedicht vom sterbenden Fechter im Präsens aufgerufen: »Der sterbende Fechter sagt was –?« (16v); die literarhistorische Epoche der Romantik dagegen »hatte die Innerlichkeit nach aussen gekehrt« (16v), und »machte eine ganze Welt aus sich allein« (16v). Weitere Beispiele für solche Tempusübergänge ließen sich anführen, es sollen hier nicht alle aufgezählt werden: »Herrn Heines Weltgefühl ist geräumiger« (17r), der Autor Heine hatte es aufgeschrieben, seine »Lyrik ist geweitet« (17r), nämlich immer noch. Das Junge Deutschland dagegen »hatte seine Themen« (17r), es »war ein Programm« (17r), doch »Barbarossas Bart ist weiss und lang« (17r), der Sage nach. Und »bei Brentano ging die Abendsonne noch immer sehr schön unter« (17v); wobei hier Johnsons Tempuskonsekution nicht unterbrochen wird, denn es wird kein konkreter Text aufgerufen, sondern ›Brentano‹ zielt an erster Stelle auf den historischen Autor, erst an zweiter Stelle verweist der Name metonymisch auf sein Œuvre, wenn nicht auf die idealisierende Romantik als literarhistorisches Phänomen überhaupt. »Herr Heine«, der reale Autor, »schickte manchmal Prosa nach Deutschland«, in der die »erstaunten Berliner lasen […], wenn sie verglichen wurden« (17v).1155 1155 Beiläufig sei hier erwähnt, dass der Name Brentano auch für Johnson noch aktuell werden sollte, dass auch für ihn die Frage nach Vaterland und Grenzüberschreitung (und Mau-
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Für die im Präsens gestellte rhetorische Frage nach dem Patriotismus wie auch die darauffolgende Forderung nach der deutschen Einheit ist kein konkreter Referenztext zu benennen. Diese Frage wurde schon vor Heine gestellt und wird auch nach Johnson immer wieder gestellt werden. Schon Goethe fragte: Und was heißt denn: sein Vaterland lieben, und was heißt denn: patriotisch wirken? Wenn ein Dichter lebenslänglich bemüht war, schädliche Vorurteile zu bekämpfen, engherzige Ansichten zu beseitigen, den Geist seines Volkes aufzuklären, dessen Geschmack zu reinigen, und dessen Gesinnungs- und Denkweise zu veredeln, was soll er denn da Besseres tun? und wie soll er denn da patriotischer Wirken?1156
Der Patriotismus des Dichters zeige sich also in seinem Werk, dem er vor allem anderen Vorrang einzuräumen habe. Gegen Vorurteile und Engherzigkeit zu kämpfen und aufzuklären, das können, müssen aber nicht zwangsläufig politische Angelegenheiten sein. Goethe geht es darum, dass sich Patriotismus darin widerspiegele, dass ein jeder in seinem Metier, in seinem Beruf, das ihm Bestmögliche anstrebe. Auch Goethe bemüht dazu ein militärisches Beispiel: »Das Vaterland eines Regiments-Chefs aber ist sein Regiment, und er wird ein ganz vortrefflicher Patriot sein, […] wenn er dagegen seinen ganzen Sinn und seine ganze Sorge auf die ihm untergebenen Bataillons richtet«.1157 Eine konkrete Antwort auf die Frage nach einem deutschen Vaterland hatte man in der frühen DDR gefunden. In der FDJ-Kaderzeitschrift Junge Generation war 1955 gefragt worden, was ein Patriot sei. Die Zeitschrift sollte FDJ-Funktionären unter anderem als Argumentationshilfe für ihre politische Überzeugungsarbeit dienen, entsprechend fiel die Antwort aus: »Unser Vaterland ist die [DDR]. […] Dieses Vaterland ist die Zukunft des ganzen Deutschland, der einigen und unteilbaren deutschen Nation. […] Sein Vaterland lieben, heißt deshalb die [DDR] mit all’ ihren fortschrittlichen Errungenschaften lieben.«1158 Der einstige FDJ-Funktionär Johnson kannte diese Art politischer Phraseologie, sie hat seine mit Heine implizit gegebene Antwort nicht tangiert. Ungeachtet des literarhistorischen Themas seiner Klausur markiert das Präsens seiner offenen Frage ihre Gültigkeit für die Gegenwart. Er geht sogar noch weiter, indem
erbau) virulent werden sollte, wenn auch in einem anderen Zusammenhang und lange nach den hier behandelten Quisquilien. 1156 Goethe im Gespräch mit Eckermann, März 1832, in: Goethe, Sämtliche Werke, Bd. 19 (Anm. 1129), S. 459–462, hier: S. 460. 1157 Goethe im Gespräch mit Eckermann, März 1832 (Anm. 1156), S. 461 [Hervorh. im Original]. 1158 Was ist ein Patriot?, in: Junge Generation, 12/1955, zit. nach: DDR-Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse, hg. von Matthias Judt, Bonn: bpb 1998, S. 512f.
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er eine »soziale Neuordnung, die Frankreich versucht hat und wieder versuchen wird« (18r), auch für Deutschland reklamiert.1159 Wie diese neue Ordnung aussehen soll, formuliert Johnson mit nur wenig veränderten Worten des Wintermärchens: »Verschlemmen soll nicht mehr der faule Bauch, was fleissige Hände erwarben, das Paradies soll auf Erden sein, jetzt, hier, sofort, zu sehen und zu spüren« (18r). Bei Heine lauten die entsprechenden Verse: »Wir wollen hier auf Erden schon | Das Himmelreich errichten«, und weiter: »Verschlemmen soll nicht der faule Bauch | Was fleißige Hände erwarben.«1160 Dass bei Johnson der faule Bauch »nicht mehr« verschlemmen soll, kann als Aktualisierung auf seine Gegenwart gelesen werden, er tut es offenbar immer noch, seit Heines Zeiten. Das Präsens dieses Absatzes hält die Frage nach dem Patriotismus, der Einheit und Neuordnung Deutschlands in gewisser Weise in der Schwebe. Der Leser muss entscheiden, ob er nur von der Zeit Heines handelt, oder aber (auch) von realer Gegenwart.1161 Explizit wird die historische Epoche nämlich erst im folgenden Absatz erwähnt: »Dies im Deutschland des Vormärz« (18r) – als würden die zuvor aufgeworfenen, grundsätzlichen Fragen nun auf diese Zeit übertragen werden. Die besprochenen Themen bedeuteten im Vormärz, »angesichts der Heiligen Allianz, angesichts deutscher Innerlichkeit und deutschen Untertanentums«, so Johnson, »Kritik« – und das »alles heisst Ein Wintermärchen« (18r). Damit spricht Johnson aus, was er zuvor in etlichen Varianten bereits angedeutet hat, Heines Versepos ist Zeitkritik. Mit einer erneuten Antithese schließen dann seine Ausführungen über das Wintermärchen: »Dies ist nicht wahr, oder: Es ist sehr vernünftig, dass das wahr ist« (18r). Damit bringt er die polarisierenden Rezeptionsmöglichkeiten dieses Textes auf den Punkt und bewertet sie. Denn es war möglich, Heines Thesen für falsch zu halten, die preußischen Zensoren taten es und verboten die Publikation. ›Vernünftig‹ aber sei es, und damit bringt Johnson die Vernunft als den Prüfstein 1159 Hier wäre ein Bezug zur Algerienkrise, in der Frankreich sich gerade befand, durchaus denkbar. Im Ergebnis dieses Konflikts wurde die Vierte Französische Republik schließlich 1958 aufgelöst. 1160 Heine, Deutschland. Ein Wintermährchen (Anm. 1059), S. 92. 1161 In Johnsons Gegenwart, genau zwei Jahre vor seiner Klausur, berief sich übrigens Walter Ulbricht auf diese Verse Heines als wegweisend für die Jugend: »Der Traum des jungen Dichters des einstigen ›Jungen Deutschland‹, Heinrich Heine, soll von dem jungen Deutschland unserer Tage zur Wirklichkeit gemacht werden: ›Ein neues Lied, ein besseres Lied, | O Freunde, will ich euch dichten: | Wir wollen hier auf Erden schon | Das Himmelreich errichten.‹ Die Ideale dieses großen deutschen Humanisten, dessen Werk ewig jung bleiben wird, sind auch die Ideale unserer Jugend« (Walter Ulbricht: Für ein glückliches Leben und eine friedliche Zukunft der ganzen deutschen Jugend. Rede des Stellvertreters des Ministerpräsidenten der Deutschen Demokratischen Republik, Walter Ulbricht, auf dem Deutschen Jugendkongreß für Frieden, Einheit und Freiheit in Berlin am 3. und 4. Juni 1954, in: Neues Deutschland, 4. 6. 1956, S. 3f., hier: S. 4).
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der Aufklärung ins Spiel, Heines Thesen für wahr zu halten. Denn die Vernunft, so die aufklärerische Grundannahme, führe stets zur Wahrheit. Damit sind jene, die diese Wahrheit prinzipiell nicht erkennen, als unvernünftig, und damit gleichermaßen unmodern, diskreditiert. Am Ende greift Johnson den Erzähleingang seiner Klausur wieder auf. Herr Heine, dieses Mal ist es explizit der »Autor« (18r), reist wieder nach Paris. Die Rückreise, wiewohl sie Heine noch für das Sammeln von Eindrücken für das Wintermärchen diente, wird in dessen Versen nicht mehr thematisiert. Auch dieser Umstand, dem zufolge die lyrische Reise ausschließlich nach Deutschland hinführt und nicht fort von ihm, mag übrigens schon als ein Ausdruck von Patriotismus verstanden werden. Dieser »Autor mehrerer verbotener Bücher« nun »führt keine Konterbande mit sich« (18r). Eingangs hatte er »aus Paris« (16r) Konterbande mit nach Deutschland gebracht und sie offenbar in Deutschland in ›verbotenen Büchern‹ zurückgelassen. Aus dem Deutschland der Restauration aber war keine Konterbande in das moderne Paris zu schmuggeln. Johnson liefert seinem Professor keine literaturwissenschaftliche Klausur ab. Mit wenigen Strichen skizziert er auf den fünf Seiten seines Elaborats einen Entwurf, ein Gerüst deutscher Literatur-, Geistes- und Gesellschaftsgeschichte der vergangenen 200 Jahre. Heines Wintermärchen ist ihm der Ausgangspunkt für einen eigenwilligen Essay über deutsche Mentalität. Dabei überspringt er die Schritte von Analyse und Interpretation, setzt eine gewisse Vertrautheit mit Heines Werk voraus und bietet eine darauf fußende, jedoch freie Ausdeutung der verhandelten Sujets an. Er zieht eine Linie deutscher Innerlichkeit vom Pietismus, über Kants Idealismus hin zu preußischem Untertanentum und implizit auch sozialistischer Obrigkeitshörigkeit und Parteigängerei. Darin sieht Johnson, mit Heine, eine wesentliche Ursache dafür, dass sich die Deutschen nie selbst einen eigenen Staat errichtet haben. Deutsche Staaten, sei es nun ein Reich oder eine Republik, wurden stets ›von oben‹ oktroyiert. Richtete sich Heine gegen jenseitige Verheißungen, mögen sie ›gutes Handeln‹ auch mit dem Dekalog oder dem kategorischen Imperativ begründen, um diesseitig Willfährigkeit zu erreichen, so verhieß auch der Sozialismus seinen Bürgern eine allumfassende Utopie, für die freilich in der Gegenwart noch viel zu tun war. Heine war ein engagierter Schriftsteller im Sinne Goethes, er wies sein Publikum auf Engstirnigkeiten und Vorurteile hin. Weit weniger war er ein literarischer Agitator oder gar politischer Vordenker, als den ihn die marxistische Literaturwissenschaft oft hinzustellen suchte, aufgrund seiner Bekanntschaft und zeitweiligen Zusammenarbeit mit Marx und Engels. Johnson spricht diese Verbindung mit keinem Wort an, wie-
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wohl sie in der DDR-Germanistik prominent diskutiert wurde,1162 und demonstriert eben dadurch eine Haltung. Johnsons Klausur war eine Gratwanderung, sie zu beurteilen, ist es ebenso. Ihrer Gestalt nach kann sie kaum als universitäre Prüfung durchgehen, gleichwohl zeugt sie von Wissen und analytischen Fähigkeiten. Die Reihe von literaturund geistesgeschichtlichen Andeutungen und Stichwörtern gipfelt in der Forderung nach nationaler Einheit und Neuordnung, gestaltet von einem mündigen Volk. Der Interpretationsspielraum selbst des wohlwollendsten Prüfers einer marxistischen Universität verengt sich im Verlauf dieser Argumentation zusehends. Johnson führt vor, dass Heines Deutschlandkritik in vielen Punkten auch als Kritik am gegenwärtigen Zustand Deutschlands, sprich beider deutscher Staaten, gelesen werden kann. Sortierte Hans Mayer Diderot in den Kanon marxistischer Literatur, »wofern man nur richtig zu lesen versteht«,1163 so wollte Johnson offenbar nicht ›richtig zu lesen verstehen‹, in politisch präjudizierender Weise. Sofern man Mayers Behauptung, Johnsons Handschrift nicht lesen zu können, als Vorwand versteht, so hat sein Student hier offenbar die Grenze seines Wohlwollens und Entgegenkommens, seiner Bereitschaft, einem begabten Kopf manches durchgehen zu lassen, überschritten. Dabei mag auch Fürsorge insofern eine Rolle gespielt haben, als eine ernsthafte Bewertung an erster Stelle den Verfasser der Klausur exponiert haben würde, und erst an zweiter Stelle den Professor, der sie hat gelten lassen. Dieses Spiel aber, in einer universitären Klausur über die politischen Zeitläufte zu räsonieren, spielte Mayer nicht mit. Allerdings hatte Johnson sich schon mit seinem Otway-Referat empfohlen und sich auch mit dieser Klausur zumindest literarhistorisch ausgewiesen. Vermutlich gab ihm Mayer deswegen die Gelegenheit zu einem weiteren Versuch. Außerhalb des offiziellen Universitätsbetriebs konnte man immer noch darüber verhandeln, die Klausur aber war schlicht nicht der Ort dafür. So hat Mayer es auch mit dem Manuskript von Ingrid Babendererde gehandhabt, wie Johnson berichtet: »Nach dem Examen les ich’s. Bis dahin müsse man für den Prüfer ein Prüfling bleiben.«1164 Mit dem verweigerten beziehungsweise aufgeschobenen Urteil Mayers über seine Klausur wird Johnson nicht einverstanden gewesen sein. Möglicherweise hat er sie deshalb in Ingrid Babendererde selbst bewertet, mit dem Zugeständnis, dass seine Handschrift wahrhaftig schwer zu lesen war und somit eine Zumutung für seinen akademischen Lehrer dargestellt habe. Im Roman fällt das Urteil deutlich milder aus: »Unter Niebuhrs Übersetzung schrieb Herr Sedenbohm nur 1162 Vgl. Reese, Zur Geschichte der sozialistischen Heine-Rezeption in Deutschland (Anm. 1048), S. 288–296. 1163 Mayer, Nachwort (Anm. 444), S. 508. 1164 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 123.
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›fast sehr gut‹: wegen der schwierigen Handschrift. Er legte Wert auf ein Mindestmass von Anstand.«1165
1165 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 177.
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Schriftstellerkongresse und Ingrid Babendererde. Teilhabe am literarischen Diskurs
Montag, 11. Juni 1956 »Der Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes hat beschlossen, den IV. Schriftstellerkongreß für den 18. bis 25. Mai nach Berlin einzuberufen.«1166 – »Der Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbandes beschloß auf einer erweiterten Vorstandssitzung, den IV. Schriftstellerkongreß erst im Herbst dieses Jahres durchzuführen und die bereits begonnenen Vorbereitungen fortzusetzen.«1167 – »Im Frühjahr 1955 tagt in Berlin der IV. Deutsche Schriftstellerkongreß.«1168 – »Der IV. Deutsche Schriftstellerkongreß, der im März stattfinden soll, wird durch viele interessante Diskussionen vorbereitet.«1169 – »Das Präsidium des Deutschen Schriftstellerverbandes hat beschlossen, den IV. Deutschen Schriftstellerkongreß vom 20. bis 24. November 1955 in der deutschen Hauptstadt durchzuführen.«1170 – »Der IV. Deutsche Schriftsteller-Kongreß findet nun doch noch statt. Vom Präsidium des Deutschen Schriftstellerverbandes aus nicht immer ganz einleuchtenden Gründen bereits einige Male verschoben, wurde er nun endgültig für die Zeit vom 20. bis 25. November dieses Jahres nach Berlin einberufen.«1171 – »Den IV. Deutschen Schriftstellerkongreß, der im Januar in Berlin tagen und – vor allem anderen – Ausdruck dieser Unteilbarkeit der deutschen Literatur sein wird«.1172
1166 N. N.: Schriftstellerkongreß im Mai, in: Berliner Zeitung, 20. 3. 1954, S. 3. 1167 ADN: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß im Herbst, in: Neues Deutschland, 15. 5. 1954, S. 4. 1168 N. N.: Literatur und Patriotismus. Zur Vorbereitung des IV. Deutschen Schriftstellerkongresses, in: Neues Deutschland, 22. 10. 1954, S. 1. 1169 Karl Reinhold Döderlin: »Er muß schreiben um jeden Preis«. Zu Schaffensproblemen des Schriftstellers, in: Neue Zeit, 26. 1. 1955, S. 3. 1170 N. N.: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß für November einberufen, in: Neues Deutschland, 11. 8. 1955, S. 1. 1171 Karl Reinhold Döderlin: Der Leser meldet sich zu Wort. Gedanken zur literarischen Diskussion, in: Neue Zeit, 22. 10. 1955, S. 3. 1172 Harald Hauser: Die deutsche Literatur ist unteilbar. Rückblick auf ein Zusammensein mit westdeutschen Schriftstellern, in: Neues Deutschland, 16. 11. 1955, S. 6.
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Schriftstellerkongresse und Ingrid Babendererde
10.1 Vom Tanzen der Kongresse »Offenbar kam der IV. Deutsche Schriftstellerkongress trotz der wiederholten Verlegungen immer noch um einiges zu früh.«1173 Angesichts der Tatsache, dass Uwe Johnson bald sein halbes Studium lang auf diesen Schriftstellerkongress hat ›warten müssen‹, ist dieser Satz als Einstieg in seine Klausur erstaunlich. Was veranlasste ihn zu seinem Befund, wofür kam der Kongress noch zu früh? Ähnlich rätselhaft fährt Johnson mit der Feststellung fort: »Die Thesen und Diskussionsthemen des II. Allrussischen Schriftstellerkongresses kamen wohl zur Auswirkung« (19r). Schon mit diesem Folgesatz irritiert er offenbar auch seinen Lehrer Hans Mayer, der den Ausdruck »II. Allrussischen« unterstreicht und mit einem Fragezeichen am Rande sein Aufmerken markiert: Zwar wird Mayer, anders als Neumann, der Terminus ›Allunionskongress‹ wohlvertraut gewesen sein, doch Johnsons nur halb passendes Analogon erregt seine Aufmerksamkeit. Die Minimalmarginalie dokumentiert einen Zweifel an Johnsons Begriffsverwendung, mindestens eine Ungenauigkeit fällt Mayer hier auf, möglicherweise aber auch eine tendenziöse Wortbildung, denn es besteht ein Unterschied zwischen der ›Allunion‹ und dem ›russischen‹ Teil davon.1174 Und was mag es damit auf sich haben, wenn Johnson fortfährt, dass »alle literarischen Anliegen der demokratischen Länder bedeutend überhöht« worden seien, und zwar »durch die Reaktion etwa tschechischer Schriftsteller« (19r)? Ganz offenkundig setzt Johnson detaillierte Kenntnisse des zeitgenössischen Literaturbetriebs und der Kulturpolitik bei seinem Leser voraus, er spricht in Andeutungen, ohne bis hierhin konkret zu werden. Erstmals für das Frühjahr 1954 angekündigt, fand der IV. Schriftstellerkongress des Deutschen Schriftstellerverbands (DSV) dann tatsächlich vom 9. bis 14. Januar 1956 in Berlin statt. Die etlichen Verzögerungen, bis er dann endlich durchgeführt werden konnte, hatten mehrere Ursachen: Schriftsteller und kulturpolitische Funktionäre waren in Anbetracht von Stalins Tod, dem Aufstand vom 17. Juni und dem darauffolgenden ›Neuen Kurs‹ verunsichert, wie die Li1173 Johnson, 3. Klausur im Staatsexamen (Anm. 67) Bl. 19r; Johnsons Klausur wird in diesem Kapitel im Text zitiert mit der Blattangabe in Klammern. 1174 Mit der Sowjetisierung der Teilrepubliken und Satellitenstaaten ging seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch eine ›Russifizierung‹ einher, der russischen Sprache und Kultur kam eine Führungsrolle in einem auf Moskau ausgerichtetem ›Russo-Zentrismus‹ zu; vgl. Theodore R. Weeks: Russifizierung/Sowjetisierung, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010–12–03, URL: www.ieg-ego.eu/weekst-2010-de (Zugriff: 30. 11. 2020). Als Student war Johnson davon unmittelbar betroffen, er hatte obligatorische, prüfungsrelevante Veranstaltungen zur russischen Sprache und Literatur wie auch zur entsprechenden ›Gesellschaftswissenschaft‹ zu besuchen, überdies war die gesamte Studienorganisation nach sowjetischem Vorbild gestaltet.
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teratur der DDR auf diese Ereignisse reagieren und sich fortan entwickeln sollte. Der DSV, mehr ein kulturpolitisches Steuerungsorgan als eine Interessensvertretung der Schriftsteller, konzedierte in der neuen, freieren Atmosphäre durchaus selbstkritisch, dass die Literatur der DDR einem starren ›Schematismus‹ verfallen sei, der in stets ähnlicher Behandlung typischer, positiver Figuren in ihrer sozialistischen Entwicklung kaum künstlerischen Entfaltungsspielraum gezeitigt habe. Die Qualität und Vielfalt der Neuerscheinungen sollte also optimiert werden, freilich ohne dabei am Paradigma des sozialistischen Realismus zu rütteln. Man rief zur öffentlichen Diskussion auf, um diese Probleme in Vorbereitung des Kongresses zu erörtern. Und tatsächlich entstand in der immer wieder verlängerten Planungsphase eine erhebliche Menge von Artikeln in Tages- und Wochenzeitungen wie auch Literaturzeitschriften, die sich explizit als Beitrag zu dieser Grundsatzdebatte verstanden wissen wollte.1175 Der dergestalt offensichtlich werdende Bedarf nach einer ausführlichen Erörterung verursachte die Verzögerungen aber nur zum Teil: »Weitere Gründe waren, dass der DSV-Vorstand mehr oder weniger von der ZK-Kulturabteilung abhängig war, die den Kongress ›generalstabsmäßig‹ zu planen hatte, aber von der komplexen Aufgabe überfordert war.«1176 Überdies waren viele Schriftsteller über die neuen Ausdrucksund Mitwirkungsmöglichkeiten verunsichert, verlangten entweder nach politischer Orientierung oder nach einer liberaleren Kulturpolitik.1177 Es bedurfte einer neuen Positionsbestimmung der DDR-Literatur, nicht nur angesichts der Ereignisse im eigenen Land, sondern auch hinsichtlich neuer Tonlagen und Signale aus der Sowjetunion. Dort hatte im Dezember 1954 der II. Allunionskongress der sowjetischen Schriftsteller ›getanzt‹.1178 Es liegt nahe zu vermuten, dass DSV und ZK-Kulturabteilung erst eine politische Auswertung dieser Zusammenkunft abwarten wollten, bevor sie ihren eigenen Kongress anberaumten, was zu seiner weiteren Verzögerung beigetragen haben dürfte.1179 1175 Carsten Gansel verweist auf eine Bibliographie des DSV zu diesem Kongress, die »18 Seiten umfaßt und 327 Artikel aus den Jahren 1954 und 1955 auflistet« (Carsten Gansel: Parlament des Geistes. Literatur zwischen Hoffnung und Repression 1945–1961, Berlin: Basisdruck 1996, S. 183). 1176 Dietrich, Kulturgeschichte der DDR 3 (Anm. 943), S. 663. 1177 Vgl. Dietrich, Kulturgeschichte der DDR 3 (Anm. 943), S. 663. 1178 Vgl. Karen Laß: Vom Tauwetter zur Perestrojka. Kulturpolitik in der Sowjetunion (1953– 1991), Köln: Böhlau 2002, S. 29–34. Der Kongress tagte vom 15. bis 26. Dezember 1954. 1179 Das meinte auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung: »Erklärten sich die ersten Verschiebungen aus dem Termin des sowjetischen Schriftstellerkongresses im November [sic] vorigen Jahres, dessen Ergebnisse man offenbar in Pankow abwarten wollte«, um dann die weiteren Verzögerungen mit den teils hitzigen Diskussionen im ostdeutschen Literaturbetrieb zu begründen (S. L.: Zum fünftenmal verschoben. Der Schriftstellerkongreß der Sowjetzone findet nicht statt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 11. 1955, S. 10). Dabei wird das Kernproblem auf den Punkt gebracht: »›Schematismus‹ heißt denn auch das
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Bereits die Durchführung des zweiten Allunionskongresses konnte als Zeichen kulturpolitischer Entspannung gewertet werden: Der erste Allunionskongress hatte 1934 zur Gründung des Schriftstellerverbands der UdSSR geführt, der dann jedoch für die nächsten 20 Jahre stalinistischer Herrschaft nicht mehr zusammentreten sollte. Man hatte bei dieser Gelegenheit den sozialistischen Realismus aus der Taufe gehoben und als allein gültige künstlerische ›Methode‹ und ästhetische Doktrin definiert: Der sozialistische Realismus, der die Hauptmethode der sowjetischen schönen Literatur und Literaturkritik darstellt, fordert vom Künstler wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Wahrheitstreue und historische Konkretheit der künstlerischen Darstellung muß mit den Aufgaben der ideologischen Umerziehung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus verbunden werden.1180
Der zweite Allunionskongress signalisierte nun – zwangsläufig auch über die Grenzen der UdSSR hinaus –, »daß den Schriftstellern wieder zugestanden« würde, »sich etwas mehr um ihre Belange zu kümmern«, wobei freilich die neue Moskauer Führung bereits im Vorfeld deutlich machte, »daß die Partei auch weiterhin eine enge Verbindung von Literatur und Politik« wünsche.1181 Bis vor kurzem noch unvorstellbar, erschien es nach Stalins Tod als immerhin denkbar, dass »durchaus verschiedene Meinungen […] dargestellt und diskutiert«, in der Folge auch öffentlich eine »größere Pluralität von Meinungen im literarischen Bereich entstehen« und beispielsweise »neue Zeitschriften gegründet« werden konnten.1182 Diese Entwicklung wurde von Schriftstellern und Funktionären der DDR wie auch der anderen kommunistischen Satellitenstaaten der Sowjetunion genau beobachtet. So beispielsweise von den tschechoslowakischen Schriftstellern auf ihrem Kongress Ende April 1956. Die Situation des dortigen Literaturbetriebs ist mit jenem der DDR insofern vergleichbar, als auch dort die politische Führung grundsätzlich »nach totaler Kontrolle aller Kommunikation im öffentlichen Raum« strebte, wobei »auch literarische Werke als Instrumente des ideologischen Kampfes dienen und so zur Stabilisierung der Parteiherrschaft beitragen«
Kardinalthema der Diskussion. Mit anderen Worten: wie kann ein literarisches Werk ein aktuelles Thema behandeln, ohne ›schematisch‹ zu wirken, das heißt: kann es ideologisch und zugleich künstlerisch einwandfrei sein?« (ebd.). 1180 Organisationskomitee des Verbandes der Sowjetschriftsteller: Statut des Verbandes der Sowjetschriftsteller, in: Sozialistische Realismuskonzeptionen. Dokumente zum 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller, hg. von Hans-Jürgen Schmitt und Godehard Schramm, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974, S. 389–395, hier: S. 390. 1181 Laß, Vom Tauwetter zur Perestrojka (Anm. 1178), S. 30. 1182 Laß, Vom Tauwetter zur Perestrojka (Anm. 1178), S. 33.
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sollten.1183 Trotz strenger Zensur »wagten es manche Autoren nunmehr«, nach Stalins Tod, »den Verlagen und Kulturzeitschriften Manuskripte anzubieten, die sie wenige Jahre zuvor nicht aus der Hand gegeben hätten, und diese wurden zum Teil auch publiziert.«1184 Den Vorsichtsmaßnahmen und Einschüchterungsversuchen seitens Partei und Regierung im Vorfeld des Kongresses zum Trotz, geriet er zu einem Höhepunkt kritischer Auseinandersetzung mit der staatlichen Kulturpolitik. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU waren Teile von Chruschtschows Geheimrede wie auch eine Erklärung des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei Antonín Novotný öffentlich geworden, in der dieser einräumte, dass man dem stalinistischen Personenkult verfallen gewesen sei. In der Bevölkerung »erzeugte dies einen ungeheuren Schock« und es »begann eine Welle der Kritik an allen Verhältnissen in Gesellschaft, Staat, Armee – aber auch an der Parteiführung und namentlich an Mitgliedern des Politbüros.«1185 Auf dem Schriftstellerkongress waren es dann vor allem Frantisˇek Hrubín und Jaroslav Seifert, die als Autoren kritisch Stellung bezogen: »Hrubín warf seinen Schriftstellerkollegen vor, sie kassierten nur ruhig Honorare und täten so, als ob sie nicht wüßten, daß Unrecht geschehen sei.«1186 Sein Kollege Seifert beklagte, »früher hätten sich die Schriftsteller gern als das Gewissen der Nation bezeichnet, und rief aus: Wären sie es doch wirklich! Immer wieder höre man, die Schriftsteller müßten die Wahrheit schreiben, das heiße aber doch, daß sie in den letzten Jahren nicht die Wahrheit geschrieben hätten.«1187 In der Presse der DDR fand diese Auseinandersetzung, wie der gesamte Kongress, so gut wie keine Beachtung. Dennoch scheint Johnson vom tschechoslowakischen Schriftstellerkongress Kenntnis erlangt zu haben: auf dem des DSV drei Monate zuvor hatte nämlich kein »tschechischer Schriftsteller« die »literarischen Anliegen der demokratischen Länder bedeutend überhöht« (19r). Auf dem IV. Kongress des DSV hatte es derartige Auftritte nicht gegeben, und die Grußworte des aus der Tschechoslowakei dorthin entsandten Schriftstellers und linientreuen ›Nationalkünstlers‹ Víteˇzslav Nezval dürften dazu kaum qualifiziert gewesen sein. Von dem, was Hrubín und Seifert einige Wochen später in Prag deutlich aussprechen würden, findet man bei Nezval kaum einen Hauch: 1183 Ivo Bock: »Zur Veröffentlichung nicht geeignet«. Tschechische Literaturzensur 1948–1968, in: Osteuropa 55, 2005, H. 7, S. 123–138, hier: S. 123. 1184 Bock, »Zur Veröffentlichung nicht geeignet« (Anm. 1183), S. 129. 1185 Guntolf Herzberg: Anpassung und Aufbegehren. Die Intelligenz der DDR in den Krisenjahren 1956/58, Berlin: Links 2006, S. 129. 1186 Rudolf Urban: Die literarische Entwicklung in der Tschechoslowakei seit 1945, in: Osteuropa 9, 1959, H. 11, S. 701–712, hier: S. 706. 1187 Urban, Die literarische Entwicklung in der Tschechoslowakei (Anm. 1186), S. 706.
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Auch wir sind uns dessen bewußt, daß die zeitgenössische Literatur weit lebensvollere Aufgaben zu erfüllen hat, als fern vom wirklichen Leben künstliche und kuriose Probleme zu ersinnen, daß diese Literatur weder indifferent noch blind sein darf gegenüber dem, was in der Welt geschieht, gegenüber den Widersprüchen, die auf friedlichem Weg gelöst werden müssen, gegenüber den brennenden Fragen, die die Menschen und die Völker nicht schlafen lassen.1188
Es bedarf schon eines gehörigen Argwohns, um in dieser Proklamation des (sozialistischen) Realismus eine ›bedeutende Überhöhung‹ der »literarischen Anliegen der demokratischen Länder« (19r) zu erkennen. Und auch Johnsons Behauptung, aus den Worten tschechischer Autoren wäre deutlich geworden, dass sie »mit ihrem Schweigen offenbare Unrechtlichkeit befördert« (19r) hätten, ist Nezvals Worten so nicht zu entnehmen. Zwar fabuliert Nezval von »Wahrheit«, doch ist dieser politisch aufgeladene und besonders auch von der kommunistischen Führung häufig strapazierte Begriff kaum in einem selbstkritischen Sinn – wie später von Hrubín und Seifert – in den Grußworten gebraucht: Nezval berichtet von sich und seinen tschechoslowakischen Kollegen, sie wüssten, »daß das kämpferische Eintreten für die Wahrheit in den neuen Literaturwerken nicht ohne eine wahrhaft große Kunst möglich ist, daß gerade die Größe dieser Kunst der Wahrheit, von der ich spreche, die mitreißende Überzeugungskraft und Stärke gibt.«1189 ›Wahrheit‹, slowakisch ›pravda‹, war auch der Name des ›Zentralorgans‹ der Kommunistischen Partei der Slowakei, dem Äquivalent des ›Bruderorgans‹ der Sowjetunion sowie des Neuen Deutschland der SED der DDR. Der Rest von Nezvals Rede erschöpft sich in bei solchen Anlässen üblichen Grußworten und Freundschaftsbekundungen. Als Vorlage oder Referenzpunkt für die Andeutungen in Johnsons Klausureinstieg können sie kaum gedient haben. Die »Reaktion etwa tschechischer Schriftsteller« (19r), auf die Johnson anspielt, betrifft somit wahrscheinlich die Diskussionen auf dem tschechoslowakischen Schriftstellerkongress. Gereichte diese Veranstaltung – womöglich wegen ihrer kritischen Töne – dem Neuen Deutschland bloß zu einer knappen Agenturmeldung,1190 so findet sich im Sonntag, der Wochenzeitung für Kultur, Politik, Kunst und Unterhaltung, ein ausführlicher Bericht, der mit einer emphatischen Losung die kulturpolitische Richtung vorgeben soll: Um was ging es? Der Kongreß hatte sich den großen Plenarsaal des Parlaments zum Tagungsort gewählt, und so prangte über dem Präsidium das alte Hussitenwort »Pravda 1188 Víteˇzslav Nezval: o.T. [Begrüßungsansprache], in: Anhang: Begrüßungsansprachen ausländischer Gäste, in: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß. Januar 1956, Protokoll, 2. Teil, hg. vom Deutschen Schriftstellerverband, Brandenburg: Bahms 1956, S. 11–13, hier: S. 12. 1189 Nezval: o.T. [Begrüßungsansprache], in: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß, 2. Teil (Anm. 1188), S. 12. 1190 Vgl. ADN: Schriftsteller-Kongreß in der CSR, in: Neues Deutschland, 1. 5. 1956, S. 5.
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vite˘zi!« – »Die Wahrheit siegt!«. War auch dieser Kampfruf ein Wort, das sich die Volksvertreter an die Wand des Plenarsaals geheftet hatten, so hatten es sich die vorübergehenden Benutzer des Raumes offensichtlich zu ihrer eigenen Parole gemacht.1191
Zimmerings Artikel beschreibt erstaunlich offen die Kontroversen auf diesem Kongress. Möglich ist ihm das durch die häufig angewandte Rhetorik politischen Sprechens, gerade zu dieser Zeit, von Fehlern nur zu reden, um sie als behoben oder ›überwunden‹ darzustellen. So kann er von Frantisˇek Hrubíns Rede berichten, dass sie »in erster Linie ein Protest gegen die erst seit kurzem überwundene Periode des Sektierertums und Dogmatismus und zugleich ein Appell an die Dichter zur unbedingten Wahrhaftigkeit in ihrem Schaffen« gewesen sei.1192 Neben Hrubín zitiert Zimmering auch eine Wortmeldung aus der Rede von Vasˇek Kánˇa, einem grundsätzlich linientreuen Journalisten und Dramatiker, der angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen unter anderem erklärte: Heute ist der Tag der Selbstkritik da. […] Ich wußte, daß zum Beispiel die Repressalien gegen ehrliche Menschen der Sache des Sozialismus nicht dienen, daß sie im Gegenteil die Gedanken, für die auch vor meinen Augen Menschen ihr Leben hingegeben haben, schädigen und entweihen. Ich habe gesehen, wie Menschen Unrecht getan wird, wie ihre menschliche Würde beleidigt wird, wie ihr Verstand unterschätzt wird, und was habe ich getan? Habe ich dagegen aufbegehrt? Nein, ich habe geschwiegen, manchmal sind mir die Tränen gekommen, aber selten habe ich aufgeschrien, selten war ich das, was ich sein sollte: das Gewissen meines Volkes.1193
Die Bedeutung von Kunst und Kultur für die sozialistischen bzw. kommunistischen Regime zeigte sich etwa auch in der Tatsache, dass häufig hochrangige Vertreter der politischen Elite an solchen Tagungen teilnahmen; oft, um den anwesenden Künstlern Richtlinien ihres weiteren Schaffens zu diktieren. So trat nicht nur Walter Ulbricht auf dem IV. Schriftstellerkongress in Berlin auf, sondern auch der tschechoslowakische Präsident Antonín Zápotocký vor ›seinen‹ Autoren in Prag, zu denen er sich überdies selbst zählte, er schrieb Romane über die Arbeiterbewegung. Zápotocký habe »nicht als Präsident der Tschechoslowakischen Republik, sondern als Schriftsteller« sprechen wollen, berichtet Zimmering, wobei dann Erstaunliches passiert sei: Der Präsident habe »sich einem sehr kritischen Publikum« gegenübergesehen, »das sich, was Beifall oder auch Ablehnung betraf (zum Beispiel als er sich gegen die kritischen Ausführungen Frantisˇek Hrubíns und Jaroslav Seiferts wandte) nicht anders verhielt als bei irgendeinem der vorangegangenen Diskussionsredner.«1194 Ohne Zweifel 1191 Max Zimmering: Pravda vite˘zi! Die Wahrheit siegt. Eindrücke vom Tschechoslowakischen Schriftsteller-Kongreß, in: Sonntag, 20. 5. 1956, S. 8. 1192 Zimmering, Pravda vite˘zi! Die Wahrheit siegt (Anm. 1191). 1193 Zit. nach: Zimmering, Pravda vite˘zi! Die Wahrheit siegt (Anm. 1191). 1194 Zimmering, Pravda vite˘zi! Die Wahrheit siegt (Anm. 1191).
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musste sich der Staatspräsident gegen die Kritik Seiferts und Hrubíns stellen, zugleich aber setzte er sich damit als Autor der offenen Kritik seiner Kollegen aus. Wenn Johnson in seiner Klausur also davon schreibt, dass die Tschechen bekannt hätten, »mit ihrem Schweigen offenbare Unrechtlichkeit befördert« (19r) zu haben, so kann Zimmerings Tagungsbericht ihm dafür die notwendigen Informationen geliefert haben.1195 Zumal Johnson an dieser Stelle explizit auf »die deutsche Wochenschrift ›Sonntag‹« (19r) als seine Quelle hinweist: Hrubín wird darin mit den Worten zitiert, es gebe »im Leben der Nation Zeiten, da sich das Volk bewußt wird, daß es Dichter« habe, und diese Dichter seien seine »erste Stimme«. Aus dem Gros der »[f]ünfundneunzig Diskussionsreden«, so Zimmering weiter, »erklang in verschiedener Formulierung die Forderung an sich selbst und zugleich das Gelöbnis, das Gewissen des Volkes zu sein«. Und Vasˇek Kánˇa sprach schließlich offen davon, »wie Menschen Unrecht getan« wurde, worüber auch er jedoch »geschwiegen« habe.1196 Der zweite tschechoslowakische Schriftstellerkongress wurde Ende April 1956 bereits unter dem Eindruck des XX. Parteitags der KPdSU im vorangegangen Februar durchgeführt; schon seit »Ende März verstärkten sich« in der Tschechoslowakei »die Diskussionen um die ›Geheimrede‹«.1197 Der IV. Schriftstellerkongress des DSV im Januar kam dafür »immer noch um einiges zu früh« (19r), wie Johnson es ausdrückt, und so konnten dort nur die »Thesen und Diskussionsthemen des II. Allrussischen Schriftstellerkongresses […] zur Auswirkung« (19r) kommen. Als Johnson seine Klausur im Juni 1956 schreiben musste, konnte er schon besser informiert sein als die DDR-Schriftsteller im Januar.1198 Die SED-Führung war sehr darum bemüht, die Auswirkungen des XX. Parteitags der KPdSU innenpolitisch kleinzureden, insbesondere von der sogenannten ›Geheimrede‹ Chruschtschows sollte nichts an die Öffentlichkeit dringen. Aufmerksame Leser der Tagespresse, die ausführlich über den Parteitag und dessen Auswertung seitens der SED berichtete, mochten sich aber einen Reim darauf machen, dass in 1195 So vermutete es bereits Carsten Gansel: Uwe Johnsons Frühwerk, der IV. Schriftstellerkongress und die Tradition des deutschen Schulromans, in: Internationales Uwe-JohnsonForum, 2/1992, S. 75–129, hier: S. 124, Anm. 42. 1196 Zimmering, Pravda vite˘zi! Die Wahrheit siegt (Anm. 1191). 1197 Herzberg, Anpassung und Aufbegehren (Anm. 1185), S. 128. 1198 In der zweiten Märzhälfte 1956 »schlug in der DDR eine Nachricht wie eine Bombe ein: Londoner Zeitungen veröffentlichten die Rede Chruschtschows im Wortlaut, und bald war der Inhalt über die westdeutschen Rundfunk- und Fernsehsender einem breiten Publikum in der DDR bekannt« (Frank, Walter Ulbricht (Anm. 1116), S. 251). Überdies hatten zeitgleich »Zeitungen in West-Berlin am 17. März Chruschtschows Ausführungen wiedergegeben« (Gerhard Wettig: Sowjetische Deutschland-Politik 1953 bis 1958. Korrekturen an Stalins Erbe, Chruschtschows Aufstieg und der Weg zum Berlin-Ultimatum, München: Oldenbourg 2011, S. 68).
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dieser Berichterstattung vor allem Lenin als Bezugsgröße in den Fokus gerückt wurde, während von Stalin so gut wie keine Rede mehr war.1199 Ein deutlicher Hinweis auf die Auswirkungen des KPdSU-Parteitags findet sich bereits in Walter Ulbrichts Bericht darüber, den das Neue Deutschland am 4. März 1956 veröffentlichte. Ulbricht erklärte, Stalin habe sich, natürlich neben etlichen Verdiensten beim Aufbau des Sozialismus, »später über die Partei« gestellt und »den Personenkult« gepflegt, um dann zu resümieren: »Zu den Klassikern des Marxismus kann man Stalin nicht rechnen.«1200 Mit diesen ersten Schritten wollte Ulbricht Deutungshoheit gewinnen. In einer ganzen Reihe von bestellten Artikeln, Konferenzen, Reden und Gesprächen bemühten sich seine Parteigänger darum, »eine Art ›Schadensbegrenzung‹ vorzunehmen, und wirklichen Analysen den Platz zu verweigern.«1201 In Polen etwa, wo Chruschtschows Rede von der politischen Führung veröffentlicht wurde, kam es bald zu einer großen öffentlichen Debatte, in der neben personellen Konsequenzen in Partei und Regierung auch Presse- und Meinungsfreiheit gefordert wurden;1202 ähnlich verhielt es sich in der Tschechoslowakei, wie der dortige Schriftstellerkongress zeigte. Solche Debatten wollte Ulbricht nach Möglichkeit verhindern, sie fanden freilich dennoch statt, wenn auch etwas weniger ›laut‹ und öffentlichkeitswirksam. So berichtet das Ministerium für Staatssicherheit im Mai über die Auswirkungen des sowjetischen Parteitags unter den Studenten des Landes beispielsweise: Sehr rege und in großem Umfang wurde an fast allen Universitäten über den XX. Parteitag gesprochen. Allerdings standen nicht die politischen und ökonomischen Perspektiven im Mittelpunkt, sondern die Erklärungen über die Rolle und die Auswirkungen des Personenkultes, besonders in bezug auf Stalin. Zu bemerken war jedoch, daß eine ganze Reihe von Studenten verschiedener Fakultäten (z. B. verschiedener Institute der Philosophischen Fakultät in Leipzig) nicht in erster Linie bestrebt waren, die Schädlichkeit des Personenkultes zu erkennen, sondern es wurden vielmehr alle Veröffentlichungen über die Fehler Stalins wie Sensationen aufgegriffen und diskutiert.1203
Ein Kommilitone Johnsons, der spätere Schriftsteller Gerhard Zwerenz, studierte zu dieser Zeit bei Bloch Philosophie und erinnert sich wie folgt: 1199 Vgl. Herzberg, Anpassung und Aufbegehren (Anm. 1185), S. 147–168. 1200 Walter Ulbricht: Über den XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, in: Neues Deutschland, 4. 3. 1956, S. 3f., hier: S. 4. 1201 Herzberg, Anpassung und Aufbegehren (Anm. 1185), S. 149. 1202 Vgl. Pawel Machcewicz: Der Umbruch 1956 in Polen. Gesellschaftliches Bewußtsein, Massenbewegung, politische Krise, in: Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953– 1956. Vom 17. Juni bis zum ungarischen Volksaufstand. Politische, militärische, soziale und nationale Dimensionen, hg. von Jan Foitzik, Paderborn: Schöningh 2001, S. 139–164. 1203 Informationsbericht vom 18. 5. 1956, in: BStU, Allg. 80/59, Bd. 1a, Bl. 1f., zit. nach: Stefan Wolle: Die DDR zwischen Tauwetter und Kaltem Krieg. »Mutmassungen« über das Jahr 1956, in: Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa (Anm. 1202), S. 293–330, hier: S. 314.
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Bis 1956 war unser Leben an der Universität und in der Partei trist und langweilig. Das änderte sich, als Chruschtschow im Frühjahr 1956 auf dem XX. Parteitag sein Geheimreferat über Stalin hielt. Die Kunde von diesem Vorgang drang in unsere Hörsäle und wurde zuerst als imperialistische Lüge angesehen. Hast du schon gehört?, flüsterten wir einander zu – und wußten nicht recht, was davon zu halten war. Bis auch das »Neue Deutschland« die Entstalinisierung nicht mehr verheimlichen konnte. Da brachen die Dämme.1204
Bei den Leipziger Studenten, unter ihnen Johnson, dürfte dies das bestimmende Thema im Frühjahr und Sommer 1956 gewesen sein. Rückblickend erklärt Johnson zudem, dass er seine Klausur unter den Eindrücken dieser ganz aktuellen Zeitläufte geschrieben habe: Und Abstand, korrekter Abstand zwischen Lehrer und Schüler bewies sich, wenn der Unbedarfte in der Examensklausur eines der Themen zum Anlaß nahm, um, ausgehend von den Ergebnissen des XX. Parteitags der KPdSU und ausgehend von einer Äußerung eines behördlich lizensierten Schriftstellers, einen Realismus des Realismus zu beschreiben, und dann nicht etwa von seinem Lehrer, sondern vom Dekan die Mitteilung erhält: die Philosophische Fakultät weigere sich, diese Arbeit anzunehmen, und erkläre das Examen für abgebrochen.1205
Hier fällt zweierlei auf: Wenn man den »Abstand« zwischen Schüler und Lehrer thematisieren muss, dann ist er augenscheinlich nicht »korrekt«, sondern zu klein oder zu groß geworden. Unterschiedliche Lehrertypen, wie sie etwa in Ingrid Babendererde vor Augen geführt werden, handhaben ihren Macht- und Wirkungsbereich ganz unterschiedlich, und die Schüler reagieren entsprechend: Abstand ist geboten und sollte gewahrt bleiben, will man nicht als übergriffig gelten oder sich etwas herausnehmen. Gleichwohl ist ein solches Verhältnis immer auch ein Probieren, ein tentatives Ausloten von Möglichkeiten, und beide Seiten mögen sich überlegen, wie man zueinander stehen möchte. Wie es scheint, ist Hans Mayer hier auf größere Distanz gegangen, er hat die ›Philosophische Fakultät‹ für sich sprechen lassen und damit seiner Entscheidung vorgeschoben. Das muss einer Kränkung gleichgekommen sein, wenn sich Johnson noch Jahre später daran erinnerte und mit Trotz und Widerstand darauf reagierte. Und obwohl Johnson den XX. Parteitag der KPdSU in seiner Klausur nicht erwähnt, umkreist er ihn aus literaturpolitischer Perspektive. Er zeichnet eine Linie vom II. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller, der eine noch sehr moderate Liberalisierung angedeutet hatte, hin zum IV. Schriftstellerkongress des DSV, der sich in dessen Nachfolge ähnlich moderate und moderierte 1204 Gerhard Zwerenz: Fall 8. Gerhard Zwerenz, in: Das Ende einer Utopie. Hingabe und Selbstbefreiung früherer Kommunisten. Eine Dokumentation im zweigeteilten Deutschland, hg. und eingeleitet von Horst Krüger, Olten: Walter 1963, S. 175–193, hier: 183. 1205 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 123.
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Selbstkritik ins Programm schrieb. Indem Johnson dann aber auf ›die Tschechoslowaken‹ verweist, deren Kongress nach dem XX. Parteitag terminiert war, und indem er diesem eine ›Überhöhung der literarischen Anliegen‹ zuschreibt, markiert er die in der Zeit zwischen diesen beiden letzten Zusammenkünften liegenden Vorgänge in Moskau. Deren Auswirkungen er zudem vermittels des Bredel-Zitats auch für den literaturpolitischen Raum der DDR andeutet. In der Erzähltextanalyse spräche man hier von einer Nullposition.1206 Dabei war es wohl kein Versehen oder keine Ungenauigkeit Johnsons, die Hans Mayer wie vereinzelt auch Johnson-Forscher irritierte, wenn er den II. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller als »II. Allrussischen Schriftstellerkongress[]« (19r) bezeichnete.1207 ›Allunionskongresse‹ waren in der Sowjetunion keine Seltenheit. Der Terminus sollte die Einheit aller in der sowjetischen Union vereinten Republiken ausdrücken, die Kommunistische Partei der Sowjetunion hieß im Russischen bis 1952 noch Kommunistische Allunions-Partei (Wsesojusnaja kommunistitscheskaja partija (bolschewiki)). Und Alfred Kurella hält in seinem Bericht über den »Moskauer Unionskongress«,1208 er meint den II. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller, eine kurz zuvor dort anberaumte »Allunions-Bauberatung« für erwähnenswert.1209 An diese Terminologie mag Johnson wenige Wochen vor seiner Klausur durch die Neue Deutsche Literatur erinnert worden sein, wo zu erfahren war: Michail Scholochow hatte schon auf dem II. Allunionskongreß der sowjetischen Schriftsteller leidenschaftlich Kritik geübt an der Leitung des Schriftstellerverbandes,
1206 Vgl. Lotman, Struktur literarischer Texte (Anm. 848), S. 37. Es handelt sich um eine auffüllbare Leerstelle, deren Inhalt im Prinzip bekannt ist. 1207 Bislang haben sich lediglich zwei Autoren näher mit dieser Klausur Johnsons befasst, Bernd Neumann in seinem Nachwort zur Edition der Studienarbeiten und Carsten Gansel in zeitnaher Reaktion auf deren Publikation. Neumann hält es für einen »erfundene[n] Begriff«, mit dem Johnson »möglicherweise Assoziationen an die »›Allrussischen Sowjetkongresse‹« auslösen wolle, »die der Konstituierung der ›Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik‹ vom 10. Juli 1918 durch Lenin vorhergingen«. Ob dem freilich so war, gesteht Neumann ein, »wissen wir nicht«. Dennoch meint er in dem ›erfundenen Begriff‹ einen Beleg dafür zu sehen, dass Johnson »die russische Revolutionsgeschichte eingehend kannte« (Neumann, Philologie und Biographie (Anm. 65), S. 183). Ob dem so war, ›wissen wir nicht‹ – naheliegender scheint hingegen ein Bezug zum II. Allunionskongress von 1954. Für Carsten Gansel »bleibt im Dunkeln«, was »Johnson mit dem II. Allrussischen Schriftstellerkongreß meint« (Gansel, Uwe Johnsons Frühwerk (Anm. 1195), S. 87). 1208 Alfred Kurella: Bilanz der Sowjetliteratur (II), in: Neue Deutsche Literatur 3, 1955, H. 3, S. 105–121, hier: S. 105. 1209 Kurella, Bilanz der Sowjetliteratur (II) (Anm. 1208), S. 106. Am Ende wird noch aus der »Grußbotschaft des II. Unionskongresses der sowjetischen Schriftsteller« zitiert (ebd., S. 121).
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auch an Kulturinstitutionen in der Sowjetunion, und freimütig über Schwächen in den Werken einiger sowjetischer Autoren gesprochen.1210
An diese Kritik des sowjetischen Erzählers wird hier nach fast zwei Jahren erinnert, um auf den Kongress des DSV hinzuweisen, denn auf »unserem IV. Deutschen Schriftstellerkongreß wurden ähnliche Gedanken geäußert und behandelt, wie Scholochow sie vorgebracht hat«.1211 Hier kommt dann auch schon der XX. Parteitag der KPdSU zur Sprache, der »unerbittlich in seiner Kritik an allen Ursachen und Erscheinungsformen des Dogmatismus« gewesen sei, und dabei auch den »Persönlichkeitskult« als Fehlentwicklung entlarvt habe.1212 Berücksichtigt man Johnsons auch sonst beobachtbare Strategie, besetzte Begriffe zugleich zu verwenden und abzuändern, offenbart sich in der gezielten Betonung des ›Russischen‹ eine kritische Perspektive, die auch in ästhetischen Fragen eine Dominanz des ›Brudervolks‹ konstatiert und ostdeutsche Schriftsteller betrifft, und die ihre politische Analogie in der Hegemonie der ›Russen‹ in der Sowjetunion über andere Volksgruppen und Ethnien dieses Vielvölkerstaates findet. In diesem Fall hat Johnson die feste Fügung des »Allunionskongresses« etwas ins Ungefähre geführt, was in der Rezeption (Gansel, Neumann) zu Rätselraten geführt hat. Es ist aber ein typisches Moment seiner Sprechweise, offensichtlich nicht nur seiner literarischen. Johnsons Methode macht es ihm einfacher, verschiedene Sachverhalte unterschiedlicher Provenienz in dieser Begriffsüberblendung miteinander zu verknüpfen. Er geht damit auch auf Distanz zur wissenschaftlichen Redeweise, die mit subjektiven Begriffsfindungen ihre Probleme hat, aber er tut dies berechnet und im Vorgriff auf die ›verstehende‹ Lektüre Hans Mayers: Mayer versteht vermutlich, dass Johnson mit Bedacht einen nicht eingeführten Terminus wählt, ist sich aber nicht ganz sicher, wie er als Prüfer mit dieser Einschätzung umgehen soll und platziert – vorsichtshalber – ein Fragezeichen am Rand. In der Einleitung seiner Klausur wird der Hochschüler, so scheint es, nur an einer Stelle wirklich konkret. Er schreibt dem prominenten Schriftsteller und Kulturfunktionär Willi Bredel, der einst mit Ulbricht aus Moskau gekommen war, um die KPD in der SBZ wiederaufzubauen, eine spezifische Aussage zu: »Sagte Willi Bredel: er habe oft und nun zu oft geschwiegen« (19r). Im Kontext, der durch Johnsons Vexierspiel der Kongresse zunächst vage bleibt, hat es den Anschein, als habe Bredel dies auf dem Schriftstellerkongress des DSV vorgetragen. Die Positionierung dieses vorgeblichen Zitats, zwischen der ›Überhöhung 1210 Redaktion: Unsere Meinung, in: Neue Deutsche Literatur 4, 1956, H. 4, S. 3–12, hier: S. 3. 1211 Redaktion, Unsere Meinung (Anm. 1210), S. 4. 1212 Redaktion, Unsere Meinung (Anm. 1210), S. 6. Die einleitende Stellungnahme der NDL teilt sich in mehrere Abschnitte, die zwar unter einem gemeinsamen Titel stehen, jedoch Abschnittsweise von verschiedenen Verfasserkürzeln unterfertigt sind.
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literarischer Anliegen‹ einerseits und dem ›Unrecht fördernden Schweigen‹ der Tschechen andererseits, impliziert überdies eine kulturpolitisch kritische Intention Bredels. Aus den Redeprotokollen dieses Kongresses geht eine solche Aussage jedoch nicht hervor. Bredel begann seinen Vortrag mit der Erklärung, er habe »nicht die Absicht« gehabt, »hier auf unserem Kongreß das Wort zu ergreifen«.1213 Er wolle sich jedoch gegen die Äußerungen Stefan Heyms und Wilhelm Girnus’ aussprechen, deren Ansichten und Vorwürfe über mangelnden Mut und geringe Produktivität der Autoren er nicht teile, sowie er sich auch gegen ein technokratisches Ideologieverständnis wehre. Er spricht von Kollegen »wie Eggebrecht und Hausmann und Hans Leip«, die »seit Jahren schweigen, aber nicht schweigen aus Gründen irgendeiner schöpferischen Krise, sondern schweigen, weil sie es immer schwerer haben bei den Verlagen und der offiziellen Öffentlichkeit der Bundesrepublik«.1214 Ein eigenes Schweigen thematisiert Bredel bestenfalls an zwei Stellen: Einmal verteidigt er sich gegen Girnus, indem er auf größere Arbeiten hinweist, die ihm permanentes Publizieren nicht erlaubt hätten; ein zweites Mal bedauert er, sich aufgrund einer Erkrankung nicht an der öffentlichen Diskussion im Vorfeld des Kongresses beteiligt zu haben.1215 Beide Stellungnahmen eignen sich nicht, um in einem kritischen Sinn, das heißt einem Schweigen über begangenes Unrecht, gedeutet zu werden, wie es Johnson impliziert. An anderer Stelle jedoch finden sich sehr offene und der Parteilinie kritisch gegenüberstehende Äußerungen Bredels, die in Wortlaut und Gehalt geeignet erscheinen, der Bezugspunkt für Johnsons Anspielung zu sein. Zwei Monate nach dem IV. Schriftstellerkongress und wenige Wochen nach dem XX. Parteitag rief die SED Ende März 1956 zu ihrer dritten Parteikonferenz. Ulbricht war bei dieser Gelegenheit darum bemüht, sich auf den kommenden Fünfjahrplan zu konzentrieren, die Themen Personenkult oder Dogmatismus sollten möglichst umschifft werden: »Notdürftig wurden einige kritische Bemerkungen zu diesen die ausgesuchten Teilnehmer der Konferenz bewegenden Fragen gemacht«.1216 In seinem Diskussionsbeitrag am Vormittag des vierten Sitzungstags (27. 3. 1956) dieser Parteikonferenz, nun schon unter dem Eindruck des Sowjetparteitags, kritisierte Bredel die stumpfe ideologische Indoktrination. Er zitierte Lenin dahingehend, dass man sich den Kommunismus nur in einem kritischen Studium aneignen könne: »Genossen! Offen und ehrlich erkläre ich hier, daß ich dieses Wort von Lenin nicht vergessen hatte und nur bedauern kann, daß ich solange 1213 Willi Bredel: o.T., in: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß, 2. Teil (Anm. 1188), S. 28–41, hier: S. 28. 1214 Bredel, o.T. (Anm. 1213), S. 32. 1215 Vgl. Bredel, o.T. (Anm. 1213), S. 35f. 1216 Herzberg, Anpassung und Aufbegehren (Anm. 1185), S. 161.
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geschwiegen und in unserer Partei unwidersprochen etwas hingenommen habe, was nicht hätte geduldet werden dürfen«.1217 Und er kritisierte dann ganz offensiv den Dogmatismus und Personenkult, den auch seine eigene Partei betrieben habe: »Wenn unsere jungen Genossen Stalin Seite für Seite und Wort für Wort in sich aufgenommen haben, ist es dann ihre – und zwar ihre alleinige Schuld? Ist es nicht auch und vor allem unsere Schuld, die der älteren Genossen?«1218 Diese Erklärung Bredels fügt sich nahtlos in den von Johnson hergestellten Kontext des tschechoslowakischen Schriftstellerkongresses, bei dem die Regimekritik offener und öffentlich vorgetragen wurde. Nahezu geklärt ist, woher Johnson dieses Zitat gekannt haben dürfte, denn in der die Parteikonferenz begleitenden Presse war es nicht zu finden.1219 Erst im Protokoll dieser Konferenz wurde Bredels Rede publiziert. Das Protokoll wurde noch im selben Jahr veröffentlicht, und zwar augenscheinlich noch vor Johnsons Klausur. Bereits im April war die »in Halbleinen gefaßte Ausgabe des Protokolls der 3. Parteikonferenz« als in Vorbereitung befindlich angekündigt worden.1220 So sehr Johnsons Klausureinstieg auch im Vagen bleibt und nur in Andeutungen spricht, so umfangreich offenbart er bei genauerem Hinsehen eine gründliche Kenntnis der gegenwärtigen Kulturpolitik des Frühjahrs 1956. Dabei sind ihm nicht nur die Debatten der DDR präsent, sondern darüber hinaus offenbar auch jene der weiteren kommunistischen Staaten diesseits des Eisernen Vorhangs. So erweckt dieser Auftakt zunächst den Anschein, als würde der Student die gestellte Aufgabe, über die Themen des IV. Schriftstellerkongress zu berichten, im Rahmen und gemäß den Gepflogenheiten universitärer Wissensabfragen zu beantworten suchen. Einem wohlwollenden Prüfer böte sich in der Art seines Sprechens zudem die Möglichkeit, die Andeutungen auf den 1217 Willi Bredel: o.T. [Diskussionsbeitrag], in: Protokoll der Verhandlungen der 3. Parteikonferenz der sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. 24. März bis 30. März 1956 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, 1. bis 4. Verhandlungstag, Berlin: Dietz 1956, S. 540–546, hier: S. 542. So wird der Eintrag im Lexikon der DDR-Literatur zu korrigieren sein, dass wahrscheinlich nicht die »auf dem IV. Schriftstellerkongress […] gefallene selbstkritische Bemerkung Bredels, er habe bisher und zu lange geschwiegen« von »Johnson in seiner Examensklausur über den Schriftstellerkongress zum zentralen Bezugspunkt« gemacht worden sei (Ulf Aust: Willi Bredel, in: Lexikon DDR-Literatur (Anm. 172), S. 55f., hier: S. 56). 1218 Bredel: o.T. [Diskussionsbeitrag] (Anm. 1217), S. 542. 1219 Vgl. etwa Willi Bredel: Probleme der Kulturarbeit. Aus der Rede des Schriftstellers Willi Bredel auf der Parteikonferenz, in: Berliner Zeitung, 28. 3. 1956, S. 2; ders., Eine Literatur ohne Dogmatik. Willi Bredel vor der 3. Parteikonferenz der SED, in: Neue Zeit, 29. 3. 1956, S. 5; ders., Schöpferischer Aufschwung, in: Sonntag, 8. 4. 1956, S. 3; und kritisch Bredel gegenüber: Kurt Hager: Fragen der Parteipropaganda, in: Neues Deutschland, 3. 5. 1956, S. 4. 1220 N. N.: Broschüren von der 3. Parteikonferenz, in: Neues Deutschland, 28. 4. 1956, S. 4. Die Reden Ulbrichts und Grotewohls sowie die Direktive für den zweiten Fünfjahrplan waren als Ergebnisse der Konferenz zu diesem Zeitpunkt bereits veröffentlicht.
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XX. Parteitag wie auch das Bredel-Zitat im Kontext der aktuellen offiziellen Diskussion um kulturpolitische Korrekturen zu lesen. Deutlich wird auch, dass Johnson seine Klausur auf einer breiteren als von ihm im Nachhinein behaupteten Quellenkenntnis verfasst haben muss. In den Begleitumständen berichtet er davon, wie er über den Schriftstellerkongress aus westlichen Medien erfahren habe. Die Szene erinnert nebenher an den Anfang seiner Heine-Klausur, denn wegen der innerdeutschen Grenzkontrollen musste ein Bürger mit Neugierde auf die allgemeine und öffentliche Sache Republik diese wie andere ihrer Wirklichkeiten beziehen von dem westdeutschen Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL. Genossen vom Zollwesen, an den Grenzen eurer Hauptstadt durchsuchtet ihr das Gepäck der Reisenden. Wer mit zu viel hinein wollte, den führtet ihr ab in der Furcht, er wolle euch sich entziehen. Wer hinaus wollte in die Republik, in dessen Koffer fahndetet ihr nach anderen als euren Nachrichten. Trick 27, Genossen: während ihr jemanden in der Wäsche umhertastet, hat der etwas in der Hand, in dem liest er. So oft war er der Kontrolle unterworfen, kaum noch nimmt er sie wahr; für ihn geht vor, was da geschrieben steht über den Genossen Girnus. Unter euren Augen, Genossen!1221
In der Tat war im Spiegel ein Bericht über den IV. Schriftstellerkongress erschienen, der sich auf die Auseinandersetzung zwischen Wilhelm Girnus und dem sich von ihm bevormundet fühlenden Bredel konzentriert. Für seine Darstellung in der Frankfurter Vorlesung beruft sich Johnson ausschließlich auf diesen Spiegel-Artikel, für seine Klausur knapp 25 Jahre zuvor kann er nicht genügt haben.1222 Im Spiegel wird deutlich, dass da »einer diesem Girnus auf die Finger geklopft« habe,1223 wie Johnson sich weiter erinnert, nämlich Willi Bredel, der sich über Girnus’ »Oberlehrerton«1224 in literarischen Angelegenheiten beschwerte. Johnson war dieser Vorgang »wohl erinnerlich im Juni 1956« und er »schrieb seinen Beifall in Klausur« – doch er tat das in einem weit größeren literaturpolitischen Kontext, als er es in seiner Poetikvorlesung zugibt.1225
1221 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 106. 1222 Vgl. N. N. Aufstand gegen Girnus, in: Der Spiegel, 3/1956, 18. 1. 1956, S. 38f. Girnus sah seinerseits keine »Alternative zwischen ideologischer Klarheit und künstlerischer Meisterschaft«, beides bedinge einander (Wilhelm Girnus: o.T., in: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß, 2. Teil (Anm. 1188), S. 65–73, hier: S. 68. Auch von dem II. Allunionskongress hätte Johnson aus dem Hamburger Wochenblatt erfahren können, vgl.: N. N.: Aufstand der Schreibarbeiter, in: Der Spiegel, 7/1955, 9. 2. 1955, S. 37–40. 1223 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 107. 1224 N. N. Aufstand gegen Girnus (Anm. 1222), S. 39. 1225 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 107.
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10.2 Wirklichkeit wider Realismus. ›Theorie und Praxis‹ realistischen Erzählens Bot Johnsons Klausurauftakt dem kultur- und vor allem literaturpolitisch orientierten Leser einen Überblick der gegenwärtigen Verhältnisse, so wendet er sich im Folgenden seinem konkreten Thema zu. Um die »Frage der Redlichkeit […] anzuwenden«, nimmt er Bezug auf einen Artikel aus der Neuen Deutschen Literatur, dessen Titel er grob erinnert als »die Gestalt des Lehrers in der deutschen Literatur« (19v). Der gemeinte Artikel von Kurt Böttcher erschien bereits im September 1955 unter dem Titel Das Bild des deutschen Lehrers in Literatur und Wirklichkeit.1226 Großzügig ist Johnsons Datierung, »etwa gleichzeitig« (19v) mit jenem aus dem Sonntag sei der Beitrag erschienen. Tatsächlich lag ein Dreivierteljahr zwischen beiden Artikeln. Böttcher vergleiche, so Johnson, Lehrergestalten Berthold Auerbachs, Thomas Manns und der Literatur der Demokratischen Republik (die Aufzählung meint die Gesellschafts-Typen, denen sie zuzuordnen sind). Es sind, so wird gesagt, nach der Fürchterlichkeit des lieben Gottes Wulicke und des Lehrers Dörr, die literarischen Typen der Neulehrer begeistert (und fähig, Begeisterung zu übertragen), verständnisvoll, geduldig und hilfsbereit – das sind sie. (19v)
Tatsächlich behandelt Böttcher in seinem Beitrag noch etliche Lehrergestalten mehr, er gibt einen Überblick von der Aufklärung bis in die Gegenwart. Denn die »Geschichte des Lehrerstandes ist bis zum 18. Jahrhundert nur Vorgeschichte«, und erst »im Rahmen der Aufklärung erhielt der Lehrer eine wichtige gesellschaftliche Funktion.«1227 Um diese Funktion geht es Böttcher und offensichtlich auch Johnson. Verständlicher wird Johnsons Hinweis, seine Aufzählung meine die »Gesellschafts-Typen« (19v), wenn man Böttchers Aufsatz hinzuzieht: Dort wird Berthold Auerbachs Erzählung Der Lauterbacher (1843) exemplarisch dahingehend charakterisiert, dass in ihr »der weltfremde, den Anforderungen des Lebens entrückte Lehrer durch die Bauern von seinem idealistischen Spintisieren kuriert« werde; überdies sei »Auerbachs Dorfpfarrer […] dem Lehrer sowohl an Geisteskraft als auch an schöpferischer Tätigkeit unterlegen«.1228 Dieses Beispiel stehe jedoch »einsam in der deutschen Literatur jener Zeit«, weil es gerade »den Lehrer als positive gesellschaftliche Figur, als Berater und Führer der Bauern, der Gemeinde gestalte[]«.1229
1226 1227 1228 1229
Vgl. Böttcher, Das Bild des deutschen Lehrers (Anm. 1088). Böttcher, Das Bild des deutschen Lehrers (Anm. 1088), S. 73 [Hervorh. im Original]. Böttcher, Das Bild des deutschen Lehrers (Anm. 1088), S. 86. Böttcher, Das Bild des deutschen Lehrers (Anm. 1088), S. 86 und S. 85.
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Es dürfte deutlich sein, für welchen ›Gesellschaftstyp‹ Böttcher Auerbach vereinnahmt und Johnson ihn in der Folge beispielhaft anführt.1230 Das Œuvre Auerbachs, Schriftsteller und Übersetzer, aufgrund seiner zeitweiligen Nähe zu deutschen Burschenschaften kurzzeitig inhaftiert, habe mit seinen »größtenteils gekünstelt-naiven, sentimentalen, für das Bildungsbürgertum ›salonfähig‹ gemachten Bauerngeschichten« insgesamt jedoch, so das Urteil des Deutschen Schriftstellerlexikons, die »wirklichen sozialen Probleme[] der Bauern« verfehlt und sei deshalb »fast völlig der Vergessenheit« anheimgefallen.1231 Ihm gegenüber stellt Johnson einen anderen Typ, von dem bei Böttcher nur mit einem Satz die Rede ist: »Thomas Mann hat […] in der Figur des Direktors Wulike [sic] (›Buddenbrooks‹) einen Träger des ›neuen Geistes in der Schule‹ geschildert, der die Werte der klassischen Bildung gegen Begriffe wie Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Karriere eintauscht.«1232 So dient Thomas Manns Figur Wulicke Böttcher und auch Johnson als Beispiel »preußische[r] Dienststrammheit«,1233 dem Stereotyp des wilhelminisch-militaristischen Lehrertyrannen, als ein »Instrument der herrschenden Klasse im kaiserlichen Deutschland«.1234 In Manns Œuvre kennt Johnson sich augenscheinlich sehr gut aus, seine Rede von der »Fürchterlichkeit des lieben Gottes Wulicke« (19v) korrespondiert der »Schrecklichkeit des alttestamentlichen Gottes«, die dieser Figur zugeschrieben wird, die Hannos aristokratischer Freund Kai »als den ›lieben Gott‹ bezeichnet hatte.«1235 In seiner folgenden Ingrid-Paraphrase, wie auch im späteren Roman insgesamt, figuriert Direktor Siebmann dann als »›sozialistische[r] Wulicke‹, der 1230 Bemerkenswert ist Böttchers Resümee der literarhistorischen »Entwicklungsstadien« der Lehrerfigur, in dem der »demokratische[] Volkslehrer« von ihm zwar »als Ideal« gekennzeichnet wird, für die Gegenwart dann aber doch, »nun endlich«, der »geachtete[], geliebte[] demokratische Volkserzieher« den aktuellen Höhepunkt markiere (Böttcher, Das Bild des deutschen Lehrers (Anm. 1088), S. 94). 1231 [Art.] Auerbach, Berthold, in: Günter Albrecht u. a.: Deutsches Schriftstellerlexikon. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, durchgesehener Nachdruck der 2. Auflage, Weimar: Volksverlag 1962, S. 19f., hier: S. 20. Verantwortlicher Hauptredakteur dieses Lexikons war übrigens Kurt Böttcher. 1232 Böttcher, Das Bild des deutschen Lehrers (Anm. 1088), S. 91. Böttcher zitiert hier teils wörtlich aus Manns Roman, vgl.: »Wo ehemals die klassische Bildung als ein heiterer Selbstzweck gegolten hatte, den man mit Ruhe, Muße und fröhlichem Idealismus verfolgte, da waren nun die Begriffe Autorität, Pflicht, Macht, Dienst, Carrière zu höchster Würde gelangt, und der ›kategorische Imperativ unseres Philosophen Kant‹ war das Banner, das Direktor Wulicke in jeder Festrede bedrohlich entfaltete« (Thomas Mann: Die Buddenbrooks. Verfall einer Familie, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Bd. 1.1, hg. und textkritisch durchgesehen von Eckhard Heftrich unter Mitarbeit von Stephan Stachorski und Herbert Lehnert, Frankfurt am Main: S. Fischer 2002, S. 796). 1233 Mann, Buddenbrooks (Anm. 1232), S. 796. 1234 Böttcher, Das Bild des deutschen Lehrers (Anm. 1088), S. 91. 1235 Mann, Buddenbrooks (Anm. 1232), S. 796 und S. 795.
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mit zwar anderen Methoden, aber derselben vernichtenden Wirkung über die Karriere seiner Schüler befindet.«1236 Vom gleichen Schlag wie Manns Wulicke sind auch die Lehrerfiguren Leonhard Franks, die sich wiederholt in seinen Romanen finden. Auf eine dieser Figuren spielt Johnson wahrscheinlich mit dem Figurennamen »Dörr« (19v) an. Frank war nach seinem US-amerikanischen Exil 1950 in die Bundesrepublik zurückgekehrt, wo er an seine einstigen Erfolge zu Zeiten der Weimarer Republik jedoch weder literarisch noch ökonomisch anknüpfen konnte. Dafür gab es mehrere Ursachen: eine war, dass er sich politisch teils mit dem Sozialismus befreunden konnte. So endet sein autobiographischer Roman Links wo das Herz schlägt (1955) mit dem Bekenntnis des Protagonisten: Er glaube, »daß die Habenhaben-haben-Wirtschaftsordnung auch ohne Atomkrieg im Jahre 2000 abgelöst sein wird durch die sozialistische Wirtschaftsordnung.«1237 In der DDR schätzte man ihn für diese politische Einstellung, so dass Frank und der ostdeutsche Literaturbetrieb sich nach anfänglichem Zögern seitens Frank annäherten: Er gab etliche Lesungen, erhielt 1955 den mit 100.000 Mark dotierten Nationalpreis I. Klasse, und 1957 veröffentlichte der Aufbau-Verlag seine Gesammelten Werke.1238 Dennoch nimmt er in Böttchers Darstellung nur eine Nebenrolle ein, indem auf »den Mord an dem sadistischen Schultyrannen Mager« hingewiesen wird; dieser Typ Lehrer tauge nur als Negativfolie.1239 Hinsichtlich des abweichenden Namens, ›Dörr‹ statt ›Mager‹, ist möglich, wie Neumann vermutet, dass hier entweder »ein Erinnerungsfehler« Johnsons vorliegt, »oder auch eine ironische Invektive gegen die Franksche Technik der Namensgebung«.1240 Wahrscheinlicher ist aber, dass Johnsons Erinnerungsfehler gar nicht so groß war: Denn Franks Lehrerfiguren verweisen sämtlich auf einen autobiographischen 1236 Rainer Benjamin Hoppe: »Mangelhaft!« Uwe Johnsons Darstellung der DDR-Schule in den Romanen Ingrid Babendererde und Jahrestage (4. Band), in: Johnson-Jahrbuch, 1/1994, S. 190–215, hier: S. 199f. Auf diese Figurennähe wie auch die Nähe zwischen Johnsons Erstling und dem ›Hanno-Kapitel‹ der Buddenbrooks hat auch Carsten Gansel bereits hingewiesen, vgl. Gansel, Uwe Johnsons Frühwerk (Anm. 1195), S. 99–106. 1237 Leonhard Frank: Links wo das Herz ist, Berlin: Aufbau-Verlag 1955, S. 342. 1238 Vgl. Frank Leonhard: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Berlin: Aufbau-Verlag 1957. In seinem Redebeitrag auf dem IV. Schriftstellerkongress zitiert Willi Bredel eine Klage Franks, der in der Bundesrepublik nur schwer publizieren könne. Für Bredel war klar, es müsse Franks »humanistisches Geistesgut« dafür verantwortlich sein, dass er dort »boykottiert« wurde (Willi Bredel: o.T., in: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß, 2. Teil (Anm. 1188), S. 33). 1239 Böttcher, Das Bild des deutschen Lehrers (Anm. 1088), S. 92. Begleitend zu Böttchers Artikel waren im gleichen Heft exemplarische literarische Lehrer-Darstellungen versammelt, darunter ein Auszug aus Franks Erzählung Die Ursache (1915) mit der Figur des tyrannischen Lehrers Mager, vgl.: Prügelpädagoge oder Menschenbildner? Die Gestalt des Lehrers in der deutschen Literatur, in: Neue Deutsche Literatur 3, 1955, H. 9, S. 12–71, hier: S. 45–49. 1240 Neumann, Philologie und Biographie (Anm. 65), S. 184.
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Archetyp, nämlich seinen Würzburger Volksschullehrer Georg Dürr, der Franks Schaffen nachhaltig negativ geprägt hat: Lehrer Mager alias Georg Dürr ist […] nicht nur eine literarische Verarbeitung individueller Erlebnisse, er ist auch die repräsentative Personifizierung eines autoritären Erziehungssystems vor dem Ersten Weltkrieg, dessen Ziel es war, junge Menschen zu gehorsamen, entindividualisierten Untertanen zu erziehen, zu »fertige[m] Material für die nächste Autorität, den Feldwebel im Kasernenhof«, so Frank in seiner Autobiographie.1241
Im Roman Links wo das Herz schlägt ist die ›Franksche Technik der Namensgebung‹ noch expliziter und kaschiert die autobiographische Referenz überhaupt nicht: Darin wird der »Volksschullehrer Dürr« vorgestellt, dessen Ziel es war, »die Knaben in Angstbesessene zu verwandeln«, sie zu »Kreaturen mit allen Eigenschaften des Untertanen« zu machen.1242 Diesen Untertanenerziehern stehen in Johnsons Aufzählung »die literarischen Typen der Neulehrer« gegenüber, die sowohl »begeistert« seien als auch »fähig, Begeisterung zu übertragen«, und darüber hinaus »verständnisvoll, geduldig und hilfsbereit« (19v). Wiewohl Johnson sich eingangs von dieser Charakterisierung distanziert, »so wird gesagt« (19v), so resümiert er sie doch bestätigend: »das sind sie« (19v). Dieses mittels pausierendem Gedankenstrich abgesetzte Urteil mag dabei schon eine ironische Fährte andeuten. Vor dem Hintergrund von Böttchers Artikel und Johnsons zugleich denotativ wie konnotativ lesbarem Terminus des ›Neulehrers‹ wird sein ironisches Sprechen deutlich: Bei Böttcher ist es »der neue Lehrer«, der eine »gesellschaftliche Aufgabe in der sozialistischen Gesellschaft« wahrnehme, der dem hiesigen Leser in der DDR aber erst »in der Literatur der Zukunft begegnen« werde; Böttcher kann nur zwei Beispiele anführen, Erwin Strittmatters Tinko und den heute weitgehend vergessenen Ernst Stein (Ein junger Lehrer erzählt, Berlin: Tribüne 1953), die diesen Lehrertyp immerhin ›andeuteten‹.1243 Statt vom ›neuen Lehrer‹ schreibt Johnson jedoch vom ›Neulehrer‹, und wählt damit einen gerade zu dieser Zeit besetzten Begriff: Er bezeichnet die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in kurzen Schulungen und Seminaren angelernten Erzieher, die, aus anderen Berufen kommend – nicht selten ehemalige Soldaten –, nun den Lehrermangel in der SBZ und der jungen DDR kurzfristig beheben sollten.1244 Dabei spielte oft die politische Orientierung eine größere Rolle als die pädagogische Eignung oder didaktische Qualifikation.
1241 Katharina Rudolph: Rebell im Maßanzug. Leonhard Frank. Die Biographie, Berlin: AufbauVerlag 2020, S. 32. 1242 Frank, Links wo das Herz ist (Anm. 1237), S. 10. 1243 Böttcher, Das Bild des deutschen Lehrers (Anm. 1088), S. 94. 1244 Vgl. dazu Brigitte Hohlfeld: Die Neulehrer in der SBZ/DDR 1945–1953. Ihre Rolle bei der Umgestaltung von Gesellschaft und Staat, Weinheim: Deutscher Studien Verlag 1992.
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Waren »etwa 80 % der ehemaligen Lehrer […] dem Entnazifizierungsprozess zum Opfer gefallen«, so sollte als Reaktion »eine an den neuen, sozialistischen Idealen ausgerichtete Pädagogenriege etabliert« werden.1245 Die neuen Lehrer der DDR, so genau man sie sich auch schon vorzustellen vermochte, wurden in den frühen 1950er Jahren gerade noch an den Universitäten des Landes unter schwierigen Bedingungen ausgebildet, es fehlten ja auch Hochschullehrer, und sie waren auch literarisch erst noch zu gestalten. In diesem appellativ-programmatischen Sinne kann Böttchers literarhistorischer Überblick im Vorfeld des Schriftstellerkongresses verstanden werden. Erst im Mai 1956 war der ›erste Lehrerroman‹ der DDR erschienen.1246 Das verbindende Element von ›Neulehrer‹ und ›neuem Lehrer‹ im Sinne Böttchers ist die politische Funktionalisierung der Schule zur staatstragenden Institution – Johnson macht sie kenntlich, indem er der ›Übergangslösung‹ des Neulehrers die Eigenschaften des Ideals des ›neuen Lehrers‹ zuschreibt. Damit hat Johnson nun insgesamt und sozusagen deduktiv die Grundlage geschaffen, von den literaturpolitischen Implikationen der Schriftstellerkongresse hin zum konkret projektierten Musterbild des neuen Lehrers, zu der er sich jetzt verhalten wird: »Und der Direktor irgend einer wirklichen Oberschule in einer wirklichen Stadt –?« (19v). Es geht darum, das angedeutete, bislang vorwiegend nur theoretisierende Konzept einer Ästhetik des Lehrer- oder Schulromans auf den Prüfstein der ›Wirklichkeit‹ zu stellen. Dabei kann schon das Aufwerfen dieser Frage als ein erheblicher Vorwurf verstanden werden, impliziert sie doch, dass sich in den ohnehin wenigen Erzählungen und Romanen dieses Typs mit der Realität bislang nicht auseinandergesetzt wurde, wie es sich der sozialistische Realismus aber doch programmatisch auf die Fahne geschrieben hatte. Im Reflex auf die Grundsatzdebatte der Schriftstellerkongresse verweist dieses Exempel überdies auf die aktuelle Literaturproduktion und -diskussion insgesamt. Und so werde, kündigt Johnson an, bei »einem durchaus harmlosen Vergleich […] unangenehm Anderes bemerklich« (19v–20r). Spätestens ab hier, so hat es zumindest den Anschein, hat sich Johnson von der gestellten Aufgabe, über die Themen des Schriftstellerkongresses zu berichten, endgültig entfernt. Mochte seine Einleitung zunächst noch einen anderen Ein1245 Uta Strewe: Die Stellung der Kinder- und Jugendliteratur im Literaturunterricht der DDR, in: Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR. Von 1945 bis 1990, hg. von Rüdiger Steinlein, Heidi Strobel und Thomas Kramer, Stuttgart: Metzler 2006, Sp. 20–34, hier: Sp. 23. 1246 Vgl. N.H.: Unser erster Lehrerroman, in: Berliner Zeitung, 19. 5. 1956, S. 3. Der Roman handelt vom Neulehrer Werner Gutzeit, der eine Anstellung in ›Hinterbergendorf‹ annimmt und nach einigen Anfangsschwierigkeiten »bald seine wahren Freunde« erkennt, den »Steinbrucharbeiter, den Parteisekretär«, auch eine Ehefrau ›erkennt‹ er und entdeckt ein Komplott, so dass im Ende das »Neue […] den Sieg davongetragen« habe (ebd.).
Wirklichkeit wider Realismus. ›Theorie und Praxis‹ realistischen Erzählens
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druck erwecken können, so wird nun augenfällig, dass er gezielt auf diese Gegenüberstellung hingearbeitet hat. Es geht ihm darum, wie er später erklären wird, »einen Realismus des Realismus zu beschreiben«;1247 hatte sich der sozialistische Realismus doch explizit der Wahrheitstreue verschrieben,1248 wie es die Schriftsteller auf ihren Kongressen gerade einmal mehr festgestellt hatten. Dazu zählte, wie die Verhandlungen von Wahrheiten durch ›die Tschechen‹ oder Bredel, auch die »Frage der Redlichkeit« (19r), die Johnson nun an einem Beispiel klären will, nachdem es offenbar in den »demokratischen Republiken eine ernstliche Problematik des Rechtes gegeben« (19r) habe. Zu beachten ist die Begriffswahl Johnsons: Zielt der Terminus ›Recht‹ auf die allgemeingültigen, in modernen Gesellschaften kodifizierten Verhaltensregeln, Normen, Ge- und Verbote, so impliziert der Terminus der ›Redlichkeit‹, neben etwa der Befolgung des Rechts, auch eine »sittliche eigenschaft des menschen«, mithin eine individuelle Qualität.1249 Sinnverwandt mit Begriffen wie ›Aufrichtigkeit‹, ›Ehrlichkeit‹ und ›Anstand‹, betrifft ›Redlichkeit‹ moralphilosophische Aspekte menschlicher Interaktion: »Wir handeln redlich gegen jemand, wenn wir ihm dasjenige heilig halten, was wir ihm versprochen haben.«1250 Mit dem recht altertümelnd daherkommenden Wort benennt Johnson sehr zielgerichtet und exakt das von ihm in seinem Klausureingang aufgerufene Problemfeld: [S]owohl in den Debatten um die (allgemeine) Redlichkeit als auch in jenen um die spezifische intellektuelle Redlichkeit geht es meist um Aufrichtigkeit sich selbst und anderen Personen (und Gegenständen oder Inhalten) gegenüber sowie um die Frage, wie diese Aufrichtigkeit kommuniziert werden kann und muss.1251
Und so mahnt Johnson dann auch, im fließenden Übergang in den ›literarischen‹ Teil seiner Klausur, »einen Vertrag« (20r) an. Einen solchen gehe ein Schüler mit »Eintritt in die 9. Klasse und womöglich der Annahme eines Stipendiums […] unzweifelhaft« (20r) ein. Mit dieser Erklärung bewegt sich Johnson auf den gesetzlichen Grundlagen der DDR, die eine Schulpflicht bis zur achten Klasse plus anschließender Berufsausbildung festlegten, sie »erlischt im übrigen mit Voll-
1247 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 123. 1248 Vgl. hier: S. 374. 1249 [Art.] redlichkeit, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 16 Bde. in 32 Teilbänden, Bd. 14, Leipzig 1854–1961, Sp. 482–484, hier: Sp. 482, URL: http://www.woerter buchnetz.de/DWB?lemma=redlichkeit (Zugriff: 25. 10. 2020). 1250 Samuel Johann Ernst Stosch: Versuch in richtiger Bestimmung einiger gleichbedeutenden Wörter der deutschen Sprache. Erster Teil, neue vermehrte und verbesserte Auflage, Frankfurt an der Oder: Strauß 1777, S. 368. 1251 Nina Tolksdorf: Performativität und Rhetorik der Redlichkeit. Nietzsche – Kleist – Kafka – Lasker-Schüler, Berlin: de Gruyter 2020, S. 14. Tolksdorf liefert hier einen kompakten wie erhellenden etymologisch-geistesgeschichtlichen Überblick (vgl. ebd., S. 9–16).
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endung des 18. Lebensjahres.«1252 Der DDR war an der Qualifikation ihrer jungen Bürger sehr gelegen, um einen jeden für eine künftige Aufgabe und damit eine Berufswahl zu ertüchtigen: »Verstöße gegen die Berufs-Schulpflicht werden nach den Ordnungsstrafbestimmungen geahndet.«1253 An der »Durchführung« dieses Vertrags, »der mit der Demokratischen Republik geschlossen wurde«, sei der Schüler »durchaus interessiert« (20r). Denn schließlich erhalte er durch die »Vermittlung bestimmter Kenntnisse« nicht nur eben diese Kenntnisse, sondern auch den Ausweis, »nützliches Glied der Demokratischen Republik« zu sein (20r). Diese durchaus sachgerechte Darstellung des weiterführenden Bildungssystems der DDR wird dann durch die Benennung eines konkreten, sozusagen ausführenden Vertragspartners ins Exemplarische geführt: »laut Unterschrift des Herrn Direktor Siebmann« (20r). Nicht nur in der Retrospektive wird der an dieser Stelle situierte Übergang in den ›literarischen‹ Teil augenfällig. Schon dem Erstleser der Klausur Hans Mayer, der Johnsons Romanmanuskript erst ›nach dem Examen‹ lesen wollte, dürfte der hier stattfindende Wechsel von Perspektive und Sprechweise aufgefallen sein.1254 Mit dieser Zäsur, die der Name ›Siebmann‹ in Johnsons Text bedeutet, schwenkt der Blickwinkel von der allgemeinen zeitgenössischen Kulturpolitik nur scheinbar deduktiv hin zu einem besonderen Exempel ihrer Wirkungen, das so sehr seine Wahrhaftigkeit behauptet, dass es nur erdacht sein kann. Johnson verfasst seinen Klausurtext extrem nah an den später in Ingrid Babendererde anzutreffenden Formulierungen, wobei sich der zusammenfassende Charakter seines Klausurbeispiels als Ansammlung von IngridVersatzstücken präsentiert, die er womöglich wortgetreu aus seinem Manuskript parat hatte. In seiner Klausur heißt es: Es wird ihm zugesichert die Vermittlung bestimmter Kenntnisse, die später in dieser und jener Hinsicht benutzt werden können und ihren Träger somit als nützliches Glied der Demokratischen Republik ausweisen: laut Unterschrift des Herrn Direktor Siebmann. (20r)
Diese Aspekte des Vertrags zwischen Staat und Schüler, der daraus folgenden ›Nützlichkeit‹ des Schülers für diesen Staat und auch die Macht des Direktors (die sich in seiner Unterschrift manifestiert) finden sich über den gesamten Roman hin immer wieder aufgegriffen. An den folgenden drei Zitaten wird die Nähe von 1252 Gesetz über die Schulpflicht in der Deutschen Demokratischen Republik (Schulpflichtgesetz) vom 15. Dezember 1950, in: Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik, 1950, Nr. 142, S. 1203f., hier: S. 1203. 1253 [Art.] Schulpflicht, in: DDR-Handbuch, Bd. 2: M–Z, 3., überarbeitete und erweiterte Auflage, hg. vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, wissenschaftliche Leitung: Hartmut Zimmermann unter Mitarbeit von Horst Ulrich und Michael Fehlauer, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik 1985, S. 1139f., hier: S. 1139. 1254 Vgl. Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 123.
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Klausur und Roman bis in die Wortebene deutlich: So hatten es die Schüler etwa »für der Mühe wert befunden sich Pius’ Unterschrift zu beschaffen für die Bescheinigung: hier seien nützliche Kenntnisse und Fähigkeiten in bestimmtem Grade erworben und seien die selben in dieser und jener Hinsicht verwendbar«;1255 denn »der Erwerb von Kenntnissen auf der Oberschule geschehe in verpflichtendem Auftrage und zu späterem Nutzen der Republik«;1256 und Siebmann alias »Pius hatte die Macht mit seinem Worte etwas gut und böse zu machen, und seine Unterschrift würde ihnen bescheinigen: sie seien nützliche Mitglieder der Republik. So gewaltig war Pius.«1257 An dieser Stelle beginnt also der ›literarische‹ Abschnitt Johnsons, und somit die von ihm angekündigte ›Anwendung der Frage der Redlichkeit‹. Er hebt an mit einem Hinweis auf die Risiken individueller Machtkonzentration. Denn auch für »die demokratische Schule« bestehe die »Gefahr, die selbe sinnlose Autorität bürgerlicher Bildungs-Institute zu beanspruchen. Siehe: So gewaltig ist ein Direktor immerhin« (20r).1258 Solch ein Direktor, mit den zeitgenössischen Attributen der Macht, wie Schreibtisch, Telefon, Sekretärin und Sprechanlage versehen, könne nämlich despotisch und zugleich »gesetzgültig« darüber befinden, wer »ein böses Kind« sei und wer »ein gutes« (20r). Der Vertrag, der hier geschlossen wurde, ist ein bedenklicher Pakt, wenn er für behördliche Willkür instrumentalisiert und für andere Zwecke funktionalisiert wird. Es sind dies Zwecke der Aus- und der Eingrenzung, die auf eine Spaltung der Schülerschaft hinauslaufen (können). Diese Metaphorik eines Ausbildungsvertrages, unter den der Schüler gar keine Unterschrift setzen muss – sein Leistungswille, seine schulischen Erfolge in der Vergangenheit und sicherlich auch ein gewisser ›Anpassungswille‹ –, genügen für sein Fortkommen im Bildungssystem der DDR. Wenn es der Schulbehörde gefällt, die jeweilige Schülerpersönlichkeit weiter zu fördern, kann der Bildungsweg fortgesetzt werden. Dieser ›Vertrag‹ hat in der gesetzlich geregelten Schulpflicht der DDR tatsächlich ihren realen Hintergrund: »Soweit weiterführende allgemeinbildende Schulen (Zehnjahresschule, Oberschule) im Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik besucht werden,
1255 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 168. 1256 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 157. 1257 Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 90. Dieser hohe Grad von Textkongruenz deutet darauf hin, dass der Roman schon sehr weit fortgeschritten war. Für die nähere Bestimmung der Textgenese könnte der Rostocker Ausgabe ein Vergleich der Manuskriptfassungen mit dieser Klausur hilfreich sein, der im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden konnte. 1258 Vgl. »Siehe: so ein gewaltiger Mann war Pius« (Johnson, Ingrid Babendererde (Anm. 5), S. 89).
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entfällt für die Zeit des Besuches dieser Schulen die Pflicht zum Besuch der berufsbildenden Schule.«1259 Ein gesetzlicher Anspruch auf eine weiterführende Schule nach Abschluss der achten Klasse besteht allerdings nicht. Bis dahin gilt die Pflicht, eine Schule zu besuchen, danach beginnt mit der neunten Klasse gewissermaßen die Kür. Darauf will Johnson offenbar hinaus, wenn er auf den ›Vertrag‹ zu sprechen kommt, den der weiterzuführende Schüler und der ihn weiterführende Staat symbolisch abschließen. Der Schüler befindet sich dabei in der Position des Abhängigen, er kann die Erfüllung des ›Vertrags‹ nicht einklagen, der Staat ist dergestalt nicht eingerichtet. Und genau das wird hier moniert: »Diese Verantwortung wurde missbraucht« (20v); und zwar auch, weil sie allzu leicht missbraucht werden konnte. Dieser Verantwortungs- und damit Macht-Missbrauch findet auf verschiedenen Ebenen statt, die Johnson nun exemplarisch vorführt. Als Gegenspieler zu Direktor Siebmann tritt dabei vor allem der Schüler Niebuhr auf, der würde nämlich »darauf achten, dass sein Vertrag dies Mal ehrlich eingehalten würde« (20v). Denn Niebuhr hatte bereits seine ganz persönlichen Erfahrungen gemacht, die seinen Umgang mit solchen Autoritäten prägen sollten. Seine Eltern waren »von Amts wegen« (20v) ermordet worden, von den Nationalsozialisten, die ihn über die Umstände dieses Mordes auch noch angelogen hatten. Aus diesem Erleben heraus ist seine von Johnson illustrierte Skepsis den neuen Autoritäten gegenüber beinahe noch verhalten artikuliert, »so würde er darauf achten« (20v). Er ist nun nicht mehr bereit, von den Machthabern der Gegenwart solche Lügen hinzunehmen. Niebuhrs Achtsamkeit auf die Einhaltung des Vertrags kann als Ausdruck seiner Redlichkeit gelesen werden, die sich in der Sorge niederschlägt, »dass keine Erzieherpersönlichkeit ihm dieses für ein anderes erklärte« (20v), denn das wäre unredlich, der Schüler als Vertragspartner betrogen.1260 Damit hat Johnson die Szenerie für seine Überprüfung der Frage der Redlichkeit an der Wirklichkeit geschaffen, mit den Figuren Siebmann und Niebuhr sind die Antagonisten eines Konflikts vorgestellt, der nun verhandelt wird. Als Einleitung setzt Johnson eine nur halb-rhetorische Frage: »Wie war es –?« (20v). Mit dieser als Realitätssignal lesbaren Frage wird einerseits der eingangs formulierte Anspruch nach der Wirklichkeit seines Beispiels wiederholt, andererseits wird damit die Aufmerksamkeit des Lesers auf diese zentrale Frage gelenkt. Es folgen Fälle des Machtmissbrauchs durch die Autorität: Wenn beispielshalber die »Erzieherpersönlichkeit« seine Autorität für eine politische Empfeh1259 Gesetz über die Schulpflicht in der Deutschen Demokratischen Republik (Anm. 1252), S. 1203. 1260 Freilich hätte er in diesem Staat ohne Gewaltenteilung und ohne Verwaltungsgerichtsbarkeit kaum eine Erfüllung auf dem Rechtsweg erzwingen können.
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lung einsetzt, »ich würd es ihnen raten!«, und zwar wesentlich zum eigenen Vorteil, damit nämlich im »Monatsbericht des Klassenlehrers« stehen kann, dass die Klasse »10A2 vollzählig der Freien Deutschen Jugend angehörig« sei, dann ist das ein Missbrauch seiner institutionellen Autorität (20v).1261 Eine andere Variante des Machtmissbrauchs ist es, wenn Niebuhr »bemerklich« wird, »dass er der Schüler Niebuhr war, sobald er in der rechten Fensterecke sass«, und dass er, wenn »er wenigstens das bleiben wollte«, die nur vorgeblich »heitere Aufgabe« hatte, »dem Herrn Direktor den Schüler Niebuhr vorzustellen, den Herr Direktor zu sehen wünschte: obwohl es den nicht gab, sondern nur den 16–18jährigen Klaus Niebuhr« (21r). Es zeugt von einem eklatanten Missverhältnis, wenn der Schüler sich in eine Rolle gedrängt sieht, die er, um überhaupt Schüler bleiben zu können, einnehmen muss. Das Vertragsverhältnis wird erheblich beschädigt, indem nicht mehr die jugendliche Persönlichkeit zum Tragen kommt, sondern nur die an ein bestimmtes Rollenbild gestellten Erwartungen zu erfüllen sind, um sich selbst und seine Ausbildung nicht zu gefährden. Aus dieser Situation heraus, die einen Rückfall in alte Strukturen autoritativer Beschulung bedeutet, entsteht »Ironie in ihren zierlichsten Spielarten« (21r): Neben den versprochenen ›Kenntnissen‹ lernen die Schüler noch etwas Anderes, nämlich »das plumpe widerliche Erlügen einer Haltung zur Demokratischen Republik, die sie nicht hatten« (21r). Spätestens seit dem Entschluss zum planmäßigen Aufbau des Sozialismus auf der zweiten SED-Parteikonferenz 1952 war die ideologische Zwangsentwicklung forciert worden. Einige, wie ein Direktor Siebmann, mochten sich schon für jenen erst verkündeten ›neuen Menschen‹ halten, den man nun erziehen wollte.1262 Dieser übers Knie gebrochene Sozialismus verschreckte aber viele, die in Anbetracht der letzten politisch überaus ereignisreichen Jahre noch im Zweifel waren, wie Johnson es anschaulich darlegt: Die Schüler erkennen die Notwendigkeit einer Maskerade, eine wirkliche Haltung im Sinne der Staatsräson, die mehr als ein Mitläufertum sein würde, haben gerade die »16–18jährigen« (21r) überhaupt noch nicht entwickeln können; man verlangt von ihnen aber diese Haltung, »die sie nicht haben konnten sieben Jahre nach dem Kapitalismus und faschistischem Krieg« (21r). Damit wird keineswegs ausgeschlossen, dass eine solche Haltung zu gewinnen möglich sei, nur die Art und Weise, wie sie erreicht werden soll, wird angeklagt: »Die gutwilligen Anfänge waren verstimmt« (21r). Denn man »liess ihnen nicht Zeit, man hatte kein Verständnis« dafür, dass sich die jungen Menschen von ihrer gerade noch stattfindenden privaten Sozialisation lösen sollten, manche sicherlich auch wollten, von
1261 Im Selbstverständnis der DDR natürlich nicht, denn es sollte ja explizit zum Sozialismus erzogen werden. 1262 Vgl. hier: S. 71.
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ihren »ehemals bürgerlichen Eltern, von der Intelligenz alten Schlages«, um stattdessen umgehend die neue sozialistische Ordnung zu internalisieren (21v). Auch das ist Teil des Vertragsbruchs seitens der Autorität, indem neben den versprochenen Kenntnissen eine obligatorische politische ›Haltung‹ vermittelt und eingefordert wird. Wer sich da entziehen wollte, »Ehrlichkeit wenigstens vor sich selbst hatte« (21r), konnte das nur, indem er »zwei Spalten […] in seinem Bedenken« einrichtete, »die eine: wie man sich nach dem Gutdünken des Herrn Siebmann zu verhalten habe, die andere: wie man in der Tat sich verhalte zur Demokratischen Republik« (21r–v). Die Schüler, die mit der Haltung oder Meinung der Autorität nicht übereinstimmten, hatten Konsequenzen zu befürchten. Es gab in der DDR neben der offiziell diktierten öffentlichen Meinung auch eine nicht weniger, nur indirekter diktierte »quasi-öffentliche Meinung«, auf die hier angespielt wird, die in der Öffentlichkeit mit einer breiten Zustimmung rechnen konnte. Die quasiöffentliche Meinung entsprach den formellen Meinungen, also solchen, die offiziell durch Institutionen autorisiert wurden. […] Gesellschaftliche Akteure waren nur dann in der Öffentlichkeit des politischen Systems geduldet, wenn sie dieser quasi-öffentlichen Meinung nicht widersprachen.1263
Widerspruch konnte dazu führen, dass der Kontrakt zwischen Staat und Individuum einseitig durch den Staat aufgelöst wurde. So konnte die autoritär bis totalitär regierende Staatsmacht ihren Bürgern den Ausweis verweigern, ein nützliches Mitglied ihrer Gesellschaft zu sein. Die Folge waren jene ›zwei Spalten‹ im Denken und Sprechen nicht nur vieler Schüler. Ein solcher äußerer Zwang führt zu Verunsicherungen: Denn dieses Gesellschaftssystem, auf das die Schule ihre Zöglinge vorbereiten sollte, verlangte nach einer Haltung, die sich in Affirmation zu äußern hatte, schon eine »beiläufig geäußerte Meinung« (21v), war sie ›abweichlerisch‹, konnte ihnen gefährlich werden. Die Sprache der Autorität, Siebmanns, ist aber offenbar eine schlechte Orientierung, denn wenn er »dieses« sagte, stand zu befürchten, »er meine jenes« (22r). Dieses autoritär-institutionelle Sprechen ist ein Mittel der Machtausübung, indem dem Lehrer die Deutungshoheit darüber obliegt. Es versetzt die Schüler in einen Zustand höchster Ungewissheit: »indem sie dieses taten, würden sie hoffen, jenes nicht zu meinen« (22r). Sicherheit bietet in einem solchen Verhältnis nur das Wiederholen dessen, was der Lehrer ihnen vor-gesagt hat, mithin das Nachplappern der Parolen. Diese Verunsicherung der Sprache wurde prominent bereits von Friedrich Nietzsche diskutiert, er stellte die grundsätzliche Frage:
1263 Ray Rühle: Entstehung von politischer Öffentlichkeit in der DDR in den 1980er Jahren am Beispiel von Leipzig, Münster: Lit 2003, S. 42.
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Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.1264
In Nietzsches Sprachmodell der ›Wahrheiten als vergessene Illusionen‹ konstituieren sich Bedeutungen und Wahrheiten durch Interdependenzen in einem geschlossenen Netzwerk der Begriffe, das in sich stabil ist. Den Autoritäten in der DDR ging es um ›Diskursherrschaft‹,1265 vom ersten stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats bis hin zu Direktor Siebmann. Vermittels einer neuen Sprache sollten neue Illusionen und damit Wahrheiten gestiftet werden. Indem man diese Sprache definierte und, wenn nötig, nach Belieben variieren konnte, behielt man sprachlich (und letztlich auch literarisch?) die Deutungshoheit – und die dadurch erzeugte Unsicherheit über den Sprachgebrauch bei den übrigen Diskursteilnehmern festigte die Autorität. Sie schlägt sich in der öffentlichen Herrschaftsrhetorik nieder, die maßgeblich in Setzungen und Feststellungen spricht, und nur selten relativiert oder abwägt. Die mit politischer Macht einhergehende Sprachhoheit zeitigt eine eigene Dynamik, die dem Machterhalt dient: Beendete das ZK der SED seine Grußbotschaft an den XX. Parteitag der KPdSU noch mit der Formel: »Es lebe die unbesiegbare Lehre von Marx, Engels,
1264 Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 1: Die Geburt der Tragödie, Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV, Nachgelassene Schriften 1870–1873, München: dtv 1988, S. 873–890, hier: S. 880f. 1265 Die Begriffe ›Herrschaftsdiskurs‹ und ›Diskursherrschaft‹ wurden vom Historiker Martin Sabrow zur Analyse der DDR-Geschichtswissenschaften eingeführt und zielen »auf die mit verbindlichen Denkmustern, Deutungskonzepten und Ausgrenzungen besetzten Verständigungsebenen über die Vergangenheit in der DDR, die vor allem von den ideologischen Normen und politischen Ansprüchen der sozialistischen Diktatur bestimmt war.« In diesem Diskurs »waren neben weltanschaulichen Grundpositionen auch spezifische Denkraster und Wahrnehmungsgewohnheiten kanonisiert und zu einem sich als geschlossen verstehenden Wahrheitskonstrukt verbunden, das den gedanklichen Handlungsrahmen der Akteure und die ›Spielregeln‹ der Vergangenheitsaneignung festlegte. Erst innerhalb dieses Diskurses […] vermochten die legitimatorischen Strategien des SEDRegimes ihre Überzeugungskraft zu entfalten, konnten fremde Traditionen und äußere Einflüsse erfolgreich ausgegrenzt, widerständige Denkweisen ihrer Stimme beraubt und als Übertritt in das Lager ›des Gegners‹ disqualifiziert werden« (Martin Sabrow: Einleitung: Geschichtsdiskurs und Doktringesellschaft, in: Geschichte als Herrschaftsdiskurs. Der Umgang mit der Vergangenheit in der DDR, hg. von Martin Sabrow, Köln: Böhlau 2000, S. 9–35, hier: S. 19). Der von Sabrow – auch für seinen historischen Gegenstand – noch zu eng gefasste Diskursbegriff könnte, entsprechend erweitert, auch zur Analyse des sprachlichen Hoheitsdiskurses fruchtbar gemacht werden.
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Lenin und Stalin!«;1266 so konnte Ulbricht keine drei Wochen später schon in aller Öffentlichkeit Stalin nicht mehr zu den Klassikern dieser Lehre zählen, was ihn im Zusammenspiel mit seiner politischen Macht in seiner Position letztlich festigte.1267 Damit wird die Bedeutung jener ›Spalten im Denken‹ zueinander doppelt evident: Nach außen hin war das eigene Sprechen in der Öffentlichkeit (auch der quasi-Öffentlichkeit einer Schule) »unablässig […] zu prüfen«, und ebenso war nach innen »zu prüfen, ob man zu recht sass in der 12A« (21v). Die innere Prüfung läuft auf eine Gewissensfrage hinaus: Wann wird der Abstand zwischen tatsächlicher individueller Haltung und eingefordertem Bekenntnis groß genug, um eine Kündigung des Vertrags durch den Einzelnen zu begründen? Es ist dies die Grundfrage des Romans, an dem Johnson gerade schreibt und von dem er hier eine ›Probe‹ gibt. Politische Funktionäre und Agitatoren »vom Schlage Pius’« nehmen die ihnen anvertrauten Kinder und Jugendlichen überdies in eine Art Sippenhaft: »für ihn waren sie die reaktionäre bürgerliche Klasse und blieben es« (22r). Siebmann erkennt in der »Skepsis und Nüchternheit« (22r) dieser Schüler nicht die Bereitschaft zu einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den neuen, durch ihn vertretenen Verhältnissen, sondern versteht sie als Angriff darauf. Kritik ist nicht zulässig, selbst wenn sie »ernstlich« (21v) gemeint war, in einem konstruktiven Sinn. Und wenn die »Schülerin Babendererde […] unehrfürchtig von Pius’ Herrlichkeit« spricht, dann ist sie »ein böses Kind« (22r). Als Folge solcher ›Herrschaftskritik‹ wird der Weg dieser Schülerin zum Kommunismus den »Umweg über Stuttgart und Hamburg machen« (22r) müssen, was nichts anderes bedeutet, als dass ihr Vertrag aufgekündigt und sie aus dieser Gesellschaft verstoßen wird. Im Ergebnis seiner Darstellung konstatiert Johnson, dass er hier eine »in vielen Einzelheiten unseres Schultages immer noch nachschwingende Atmosphäre« (22v) gezeigt habe. Der Lehrertyrann und seine Methoden sind in der von ihm geschilderten Wirklichkeit immer noch präsent. Sie seien überdies exemplarisch für das bestehende Gesellschaftssystem, man könne sie »in der selben Weise übertragen auf andere Seiten unseres öffentlichen Lebens« (22v). War Johnson deduktiv von den Schriftstellerkongressen zu seinem Beispiel ›hinabgestiegen‹, so geht er von ihm aus nun induktiv ins Allgemeine und formuliert eine Kritik am Zustand der DDR-Gesellschaft. Diese Kritik ist zwar fundamental, aber nicht total: Denn trotz »Unruhe und Arroganz und Unwahrhaftigkeit in zu grosser Menge«, gebe es daneben noch einen »zuverlässige[n] Boden« (22v). So spricht keiner, der die Hoffnung auf diesen Staat aufge1266 N. N.: Beginn des XX. Parteitages der KPdSU, in: Neues Deutschland, 14. 2. 1956, S. 1. 1267 Vgl. hier: S. 379.
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geben hat, vielmehr wird der Appell als Konsequenz aus Johnsons Beobachtungen der Wirklichkeit deutlich formuliert: Dem Problem der »Ehrlichkeit, ihrer Unterdrückung und ihrer Behauptung« müsse endlich »die gleiche Notwendigkeit« zuerkannt werden, wie dem »Aufbau der Schwerindustrie« (22v). Damit erweitert Johnson seinen Bezugsrahmen von der aktuellen kulturpolitischen Debatte auf die gleichermaßen aktuelle Wirtschaftspolitik. Stand schon im ersten Fünfjahrplan der DDR der Aufbau der Schwerindustrie im Mittelpunkt, so hatte Walter Ulbricht für den kommenden Fünfjahrplan gerade die Parole ausgegeben, es gelte, »auf der Basis der vordringlichen Entwicklung der Schwerindustrie […] den ununterbrochenen technischen Fortschritt zu gewährleisten mit dem Ziel, das Weltniveau zu erreichen«.1268 Indirekt konstatiert Johnson hier also noch ein gesamtpolitisches Missverhältnis, in dem der Wirtschaft Vorrang vor kulturellen und sozialen Debatten eingeräumt werde. Stattdessen »sollte«, so seine Forderung, »der Mut vorhanden sein zu bisher nur beredeter Redlichkeit« (22v). Diese ›nur beredete Redlichkeit‹ adressiert offensichtlich die Beteuerungen Bredels und anderer Schriftsteller, nun aber wirklich über ›die Wahrheit‹ schreiben zu wollen. Diese Versprechen sucht Johnson mit seinem Beispiel der Wirklichkeit als Lippenbekenntnisse zu entlarven. Das mag insofern forsch sein, als der Schriftstellerkongress erst wenige Monate zurücklag, und somit kaum Zeit gewesen war, die dortigen Überlegungen in Literatur zu überführen. Diese zugleich als Anklage lesbare Forderung zeugt somit auch davon, dass er den Beteuerungen der Schriftsteller insgesamt wenig Vertrauen entgegenbringt. Das gilt – zum Teil wenigstens – auch für Johnsons ironische Schlussinvektive: »Der IV. Deutsche Schriftstellerkongress befand: Die Literatur der Demokratischen Republik habe einzustehen für die Einheit Deutschlands. Wie anders denn, wenn nicht auf solche Weise« (22v), einer Weise der Redlichkeit. Der hehre Wunsch nach nationaler Einheit war auch 1956 noch gängige Münze und populär, wiewohl politisch längst dagegen gearbeitet wurde. Die unverbindliche Absichtserklärung muss wirkungslos bleiben, so kann Johnson hier verstanden werden, solange dieser ›beredeten Redlichkeit‹ nicht Taten folgten. Zum anderen Teil muss aber festgestellt werden, dass von der ›Einheit Deutschlands‹ auf dem IV. Schriftstellerkongress des DSV nicht mehr viel gesprochen wurde. Zwar hat DDR-Kulturminister Becher in seinem Eröffnungsreferat seine Hoffnung bekundet, dass »eine neue deutsche Nationalliteratur sich zu bilden vermag«,1269 doch wurde dort spätestens durch Walter Ulbricht klargestellt, dass diese »neue 1268 Walter Ulbricht: Die Hauptaufgaben des zweiten Fünfjahrplans 1956 bis 1960 in der Deutschen Demokratischen Republik, in: Protokoll der Verhandlungen der 3. Parteikonferenz (Anm. 1217), S. 60–63, hier: S. 60. 1269 Becher, Von der Größe unserer Literatur (Anm. 237), S. 37.
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deutsche Nationalliteratur […] im Keim bereits nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution« entstanden sei und folglich »ihre Hauptbasis in der Deutschen Demokratischen Republik« haben müsse.1270 Und so findet sich ein entsprechend differenzierendes Ergebnis in der abschließenden Entschließung der Schriftsteller formuliert, man habe die »Gemeinschaft mit allen humanistischen Schriftstellern Westdeutschlands bekräftigt.«1271 – Eine solche Formulierung gibt genügend Spielraum, um die ›bösen‹ von den ›guten Kindern‹ des Westens zu scheiden. Indem Johnson im Ende wieder zum Schriftstellerkongress zurückkehrt, bildet dieser formal eine Klammer um das eigentliche Thema seiner Ausführungen: die Schulsituation im sozialistischen Staat. Das Gemeinsame seiner Schulerzählung und der sie umrahmenden (Kongress-)Klammer ist dabei das Aufbegehren gegen »offenbare Unrechtlichkeit« (19r) in Vergangenheit und Gegenwart. Während die Schriftsteller in Berlin in einer Phase politischen Tauwetters zögerlich versuchen, (literarische) Souveränität zurückzugewinnen und als Autoren ihre Stimme gegen totalitäre Gesinnungspolitik im Ostblock zu erheben, während sie sich dann angesichts von Chruschtschows Geheimrede erst zaghaft mangelnde Zivilcourage und fehlende (auch literarische) ›Redlichkeit‹ vorwerfen, müssen die Schüler der höheren Lehranstalten der DDR erfahren, wie auch im Schulsystem exponierte Persönlichkeiten »sinnlose Autorität« (20r) in Gesinnungsfragen beanspruchen. Diese diffizile und zugleich offenbare Problematik erörtert Johnson in seiner Fachklausur. Er exemplifiziert sie mithilfe seines Romanpersonals. Die Namen der Schüler gewinnen dabei das Format realer Personen, da Johnson die entsprechenden Fiktivitätssignale unterdrückt und dagegen mehrfach die ›Wirklichkeit‹ seines Beispiels behauptet. Er spricht vom »Direktor irgend einer wirklichen Oberschule in einer wirklichen Stadt« (19v) – und spricht doch realiter von einem fiktiven einer fiktiven in einer fiktiven. In dieser Negierung des Fiktiven, im Insistieren auf Wirklichkeit aber rückt der (fiktive) Direktor Siebmann neben den (authentischen) Willi Bredel, rückt der (fiktive) Schüler Niebuhr neben den (authentischen) Thomas Mann. Zugleich treffen hier Lehrer1270 Walter Ulbricht: Fragen der neuen deutschen Nationalliteratur, in: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß, 2. Teil (Anm. 1188), S. 156–164, hier: S. 157f. Ulbricht war in dieser Frage zu keinen Zugeständnissen bereit: »Die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands kann nicht durch prinzipielle Konzessionen unsererseits erreicht werden. […] Die Wiedervereinigung ist nur auf dem Wege der schrittweisen Annäherung der beiden deutschen Staaten und der Lossagung der westdeutschen Bundesrepublik von der NATO möglich« (ebd., S. 158). 1271 Entschließung des IV. Deutschen Schriftstellerkongresses, in: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß, 2. Teil (Anm. 1188), S. 177–180, hier: S. 180.
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und Schülerpersönlichkeiten aus unterschiedlichen Fiktionen (Dörr, Wulicke; Pius, Babendererde) mit Repräsentanten des wirklichen Lebens (Berthold Auerbach, Leonhard Frank und wohl sein autobiographischer Lehrer Dürr, ›die Tschechen‹) im Medium der Deutschklausur aufeinander, als könnten sie unterschiedslos diskutiert werden. Spätere Leser Uwe Johnsons werden mit Verwunderung, vielleicht auch Bewunderung, erfahren, dass dieser Autor bereits hier keinen Unterschied mehr zwischen der Wirklichkeit seines Romanpersonals und seiner eigenen Realität macht: die Aufhebung der Grenze zwischen textinterner und textexterner Welt gehört zu seinem erzählerischen Programm – beispielsweise auch, wenn er sich öffentlich zu seinem Werk äußert: In den poetologischen Erläuterungen der Begleitumstände verweist er auf die ›Souveränität‹ der »Person Gesine Cresspahl«,1272 im Interview mit Manfred Durzak unterbricht er die Frage nach seinen Figuren: »Personen, Entschuldigung«, um so den hohen Realitätsstatus zu unterstreichen, den seine Figuren für ihn einnehmen.1273 Dem späteren Leser dieser Klausur erschließt sich überdies noch eine weitere Eigenheit, wenn nicht ein Prinzip, seiner Poetologie: Die Gleichsetzung realer und fiktiver Figuren ist Teil seiner Strategie, mittels des selbst verfassten literarisch-fiktiven Beispiels, für das er gleichermaßen ›Wirklichkeit‹ beansprucht, der Realität einen Gegenentwurf zu präsentieren. Beide haben in seinen Augen einen gleichberechtigten Anspruch darauf, als eine reale Welt wahrgenommen zu werden. Als Autor wird er dieses Verständnis von Literatur, befragt danach, wozu ein Roman taugen könne, dergestalt aufschlüsseln: »Es ist nicht eine Gesellschaft in der Miniatur, und es ist kein maßstäbliches Modell. Es ist auch nicht ein Spiegel der Welt und weiterhin nicht ihre Widerspiegelung; es ist eine Welt, gegen die Welt zu halten.«1274 – Und eben das geschieht in seiner Klausur über den Schriftstellerkongress, er stellt der Welt seine Wahrnehmung als eine andere Welt gegenüber und markiert in diesem Fall dadurch ein Missverhältnis, das sich erst im Vergleich dieser beiden Welten erschließen lässt. Gleichwohl gehört auch diese Klausur nicht zum Werk des Schriftstellers Uwe Johnson. Es ist zuallererst eine Klausur des Studenten, die mit der darin angewandten, ganz deutlich auf das literarische Schreiben des späteren Autors verweisenden Darstellungsmethode, zum Werkhof, zum engeren Werkzusammenhang zu rechnen ist. Und dies sicherlich in einem noch höheren Grad, als es die Verarbeitung der Realien englischer Geschichte aus dem Otway-Referat ist.
1272 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 441. 1273 Durzak, Dieser langsame Weg zu einer größeren Genauigkeit (Anm. 755), S. 437. 1274 Uwe Johnson: Wenn Sie mich fragen … (Ein Vortrag) [1975], in: Fahlke, »Ich überlege mir die Geschichte« (Anm. 266), S. 51–64, hier: S. 62.
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Als Student begeht Johnson mit dieser Klausur, indem er sich über die Gepflogenheiten des universitären Lehrbetriebs hinwegsetzt, einen Affront gegen seinen akademischen Lehrer Hans Mayer: »er wusste, dass sie eine Provokation war und als Prüfung nicht gut gehen konnte.«1275 Doch offensichtlich ist Johnson bereit sein Studium zu gefährden, um mit Mayer eine Diskussion als potenzieller Autor anzustoßen, mindestens aber, sich über den Zustand des Literatur- und Kulturbetriebs mit ihm zu verständigen. Doch schon sein etwas weniger offensive Versuch in dieser Richtung sollte bei dem Professor scheitern, was Johnson beim Schreiben dieser Klausur noch nicht wissen konnte. Mayers Entgegenkommen, seinen Roman nach den Prüfungen zu lesen, genügte ihm nicht und es scheint so, als wolle er auf diesem Wege mit Mayer ins Gespräch über sein Manuskript eintreten, indem er es auf ›offiziellem‹ Wege zu erzwingen suchte. Daran wird überdies der Wunsch deutlich, am literarischen Diskurs teilzunehmen, indem er ganz aktiv den Dialog mit einem etablierten Akteur sucht. Dabei muss ihm klar gewesen sein, dass diese gezielte ›Provokation‹ nur misslingen konnte. Denn Mayer durfte sich nicht in diesem Ausmaß exponieren und hielt außerdem, wie auch seine Bewertung der Heine-Klausur nahelegt, diesen Weg ohnehin für den falschen: Da Verf. es ablehnt, das selbstgewählte Thema unter den vorgeschlagenen Möglichkeiten in einer Weise zu behandeln, die mit dem Charakter einer Prüfungsarbeit, worin Kenntnisse literarischer und historischer Art gefordert und angeboten werden sollen, vereinbar ist, muß ich es ablehnen, seine Aufsichtsarbeit fachlich zu beurteilen, da ein solches Urteil nicht möglich ist. Verf. benutzt – journalistisch gesprochen – das gestellte und gewählte Thema bloß als »Aufhänger«, um Gedanken zu äussern, deren subjektive – oder teilweise sogar objektive – Berechtigung gar nicht bestritten werden mag, die aber mit dem Thema und dem Charakter einer Prüfungsarbeit nichts zu tun haben. Es hiesse, sich zum Partner – sagen wir: eines Spiels! zu machen, wolle man diesen Aufsatz lesen und »zensieren«, »als ob« es sich um eine gültige Prüfungsarbeit handle! Nicht zensiert!1276
In seiner Rolle als Universitätsprofessor musste er diese Klausur ablehnen. Bemerkenswert ist allerdings Mayers Zugeständnis, dass den darin geäußerten Gedanken eine »subjektive – oder teilweise sogar objektive – Berechtigung gar nicht bestritten werden mag«. An dem, was Johnson da geschrieben hatte, konnte er offenbar einiges für richtig befinden, lediglich die Art und Weise der Darstellung dieser Gedanken im gegebenen Kontext ist unpassend. Damit bringt Mayer zum zweiten Mal ein ›formales‹ Argument gegen Johnson vor: War es bei der Heine-Klausur die unleserliche Handschrift, so es ist hier die recht diffus
1275 Bierwisch, Begleitumstände (Anm. 92), S. 23. 1276 Mayer, Klausur-Notiz (Anm. 1071).
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umschriebene Vorgehensweise seines Schülers – über die Inhalte, so scheint es, könne man sich einigen. Es lässt sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen, ob Johnson diese Bewertung Mayers zu lesen bekommen hat. In den Begleitumständen berichtet er davon, dass die »Prüfungskommission der philosophischen Fakultät« ihm »sowohl die Anerkennung wie auch eine Zensur« verweigert und »eine Wiederholung zur Bedingung für die Fortsetzung des Examens« gemacht habe.1277 Mayers Beurteilung ist derart geschrieben, dass sie Johnson durchaus ein gewisses Einverständnis hätte andeuten können. Als »der Schriftstellerkongreß von den Schreibenden Ehrlichkeit und größere Nähe zur Wirklichkeit forderte«, hat Uwe Johnson eben dieser Forderung auf seine Weise zu entsprechen versucht.1278 In ihrer Entschließung proklamierten die Teilnehmer des IV. Schriftstellerkongresses das Ideal eines Schriftstellers: »Liebe zum Menschen und leidenschaftliche Parteinahme vereinen sich in einem solchen Künstler mit der Fähigkeit der bildhaften Erfassungen und Gestaltung der Wirklichkeit, die das Besondere des Künstlerischen ausmachen.«1279 Mit seiner Klausur ergreift Johnson Partei, und zwar für seine Auffassung von Literatur, indem er sie demonstriert. Als Student hatte er kaum eine Möglichkeit, im literarischen Betrieb Gehör zu finden, Hans Mayer war der ihm nächste und vertrauteste Zugang dazu. Sein Beispiel ist dabei dazu geeignet, seinem Leser zu zeigen, dass er die Details der gegenwärtigen Literaturdebatte sehr genau zur Kenntnis genommen hat, und dass er etwas dazu zu sagen hat. So kann Johnsons Klausur in Teilen als Reaktion auf die von Georg Lukács auf dem Schriftstellerkongress vorgetragene Kritik am aktuellen Zustand der Literatur des sozialistischen Realismus gelesen werden: »gerade zu der Zeit, als Johnson in Leipzig sein Studium der Germanistik zu Ende brachte, war Lukács dabei, sich von vergangener Dogmatik zu distanzieren, den vereinfachenden sozialistischen Realismus zu kritisieren«.1280 Lukács erläuterte unter dem Titel Das Problem der Perspektive die »Schwierigkeiten unserer Literatur«, die sich »gerade in der Frage der Perspektive« gründeten.1281 Zur nun ›richtigen‹ Perspektive im Sinne des sozialistischen 1277 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 107. 1278 Arnhelm Neusüß: Über die Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit. Gespräch mit Uwe Johnson (1961), in: Uwe Johnson, hg. von Rainer Gerlach und Matthias Richter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984, S. 39–48, hier: S. 40. 1279 Entschließung des IV. Deutschen Schriftstellerkongresses (Anm. 1271), S. 179. 1280 Greg Bond: Die Klassengesellschaft und die Dialektik der Gerechtigkeit. Uwe Johnsons DDR-Erfahrung und seine Lukács-Lektüre, in: »Wo ich her bin …«. Uwe Johnson in der D.D.R., hg. von Roland Berbig und Erdmut Wizisla, Berlin: Kontext 1993, S. 217–239, hier: S. 221. 1281 Georg Lukács: Das Problem der Perspektive, in: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß, 1. Teil (Anm. 237), S. 75–82, hier: S. 76.
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Realismus gehöre, dass sie sich nicht nur als »eine bloße Utopie, nicht bloß [als] subjektiver Traum« darstellen dürfe, sondern als »die notwendige Konsequenz einer objektiven gesellschaftlichen Entwicklung, die sich dichterisch in der Entfaltung einer Reihe von Charakteren in bestimmten Situationen objektiv äußert«.1282 Eine solche kleine ›Reihe von Charakteren in einer bestimmten Situation‹ skizziert Johnson mit seinem Beispiel einer vorgeblichen wie betont ›wirklichen‹ Schule und ihrer ›wirklichen‹ Akteure. Lukács warnte davor, allzu schnell und allzu umfassend die Fiktion der neuen Gesellschaftsordnung als Realität hinzustellen. Denn »in Wirklichkeit« sei es so, »daß die Menschen langsam, nach sehr schweren Widerständen die wirkliche Zielsetzung, die zum Sozialismus führt, begreifen können, langsam diesen Weg einschlagen, sehr oft große Umwege brauchen, um diesen Weg richtig zu verstehen. Das ist die Wirklichkeit.«1283 Johnsons Figur Siebmann, Repräsentant der Staatsmacht und ihrer Ideologie, fehlt dafür das Einfühlungsvermögen, sie gibt den Schülern dafür keine Zeit (vgl. 21v), und die Schülerin Babendererde wird einen »Umweg« zum Kommunismus nehmen müssen (22r): »man hatte kein Verständnis für die, die wirklich ihrer Lebensstimmung nach oder nur wegen Abkunft von ehemals bürgerlichen Eltern, von der Intelligenz alten Schlages« nun unter ihm zu leiden hatten (21v). Davor hatte Lukács gewarnt: man dürfe »die Schwierigkeiten, die Hemmungen, die Überreste des Alten, vor allem in den Menschen selbst, in der Seele der gestalteten Menschen selbst« nicht unterschätzen.1284 Die Konsequenz aus solchen übereilten Erwartungen sieht Johnson in der Einrichtung jener ›zwei Spalten im Denken‹. Das kann als Folge davon gelesen werden, wenn »eine objektive soziale Wahrheit«, wie Lukács es aus seiner sozialistischen Haltung heraus formuliert, »bestimmten Menschen, die damit nur lose persönlich zusammenhängen, angehängt wird.«1285 Für Lukács war es ein schlechtes Beispiel parteilicher Literatur, wenn sie sich nicht an der Lebenswirklichkeit der Menschen orientiere. Man dürfe eben nicht, so Lukács weiter, schon »die Perspektive als Realität« darstellen, denn so laufe man Gefahr, rasch zu »veralten« und wenig zu überzeugen.1286 Allerdings argumentiert Lukács hier als Ideologe, nicht als empirischer Sozialforscher: Was ›die Menschen‹ tatsächlich tangierte oder nicht, wußte er am wenigsten. Es geht hier um Realitätsbehauptungen, deren Wahrheitsgehalt dahingestellt sei. Mit seiner Rede über die Perspektive zielt er offenbar auf ein realitätsnahes Erzählen, das in einer Art Momentaufnahme bestehen solle, nicht aber noch zu 1282 1283 1284 1285 1286
Lukács, Das Problem der Perspektive (Anm. 1281), S. 76. Lukács, Das Problem der Perspektive (Anm. 1281), S. 78. Lukács, Das Problem der Perspektive (Anm. 1281), S. 78. Lukács, Das Problem der Perspektive (Anm. 1281), S. 77. Lukács, Das Problem der Perspektive (Anm. 1281), S. 81.
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gehende Schritte auf dem Weg zum Sozialismus vorwegnehme, sondern sie als Perspektive andeute. Denn diese Perspektive, die der Schriftsteller einzunehmen habe, definiere sich gerade dadurch, »daß sie noch nicht Realität« sei, aber gleichwohl als »Tendenz in der Wirklichkeit zur Verwirklichung dieser Realität« vorhanden sei, im Einzelnen wie in der Gesellschaft.1287 Johnson liefert mit seinem Ingrid-Beispiel eine solche Momentaufnahme der Wirklichkeit, wie er sie wahrnimmt. Darin prallen Erwartungen an ›die Realität‹ und ›die Realität‹ konfliktreich aufeinander. Dabei bietet Johnson keine Lösung dieses Konflikts an, er fordert aber eine Auseinandersetzung mit diesem Thema der Adäquatheit in der Wahrnehmung des Politischen. Offenbar ist er mit den Ergebnissen des Schriftstellerkongresses nicht einverstanden, in dessen Entschließung hinsichtlich der Wahrheitstreue Besserung gelobt wurde. Sein ›snapshot‹ der Wirklichkeit korrespondiert mit Lukács Feststellung, »daß wir unsere Literatur aus dem richtigen Optimismus sehr oft in einen banalen, verniedlichenden happy-end-Optimismus hinüberführen.«1288 Gerade davor hütet sich Johnson, indem er sich auf eine Schilderung des Ist-Zustandes beschränkt, die in seiner Wahrnehmung schon zu einer Kritik gereicht, es werde »unangenehm Anderes bemerklich« (19v–20r). In einer erweiterten Lesart formuliert Johnson in seinem Beispiel dann noch die wesentlich auch von Lukács betriebene Grundsatzdebatte des Schriftstellerkongresses. Dabei ging es darum, dass man die ›Wahrheit‹, die ›Wirklichkeit‹ selbst darstellen solle, anstatt wie bisher Idealtypen eines schon verwirklichten Sozialismus zu entwerfen. Dabei stünde Siebmann stellvertretend für diese letztere Form der Wirklichkeitsanmaßung, wohingegen seine Schüler für die angemahnte ›Wahrheit der Realität‹ eintreten würden. Die Autorität Siebmann kann in ihrem Machtbereich diesen Konflikt hinsichtlich der Schülerin Babendererde für sich entscheiden, für den Schüler Niebuhr steht eine Entscheidung noch aus. Es hat hier den Anschein, als habe Johnson Lukács’ Kritik zum Anlass genommen, sie produktiv fortzuschreiben und am Beispiel zu verdeutlichen. Man kann diese Gegenüberstellung des ungarischen Literaturwissenschaftlers mit dem Leipziger Hochschüler ein wenig strapazieren und die Vermutung aufstellen, dass Lukács’ Problem der Perspektive als eine (nicht die) potenzielle Ursache für Johnsons poetologische Metapher von einer gegen die Welt zu haltenden Welt gelesen werden könne. Man müsste wenigstens Lukács’ politische Scheuklappen davon abziehen und genau differenzieren, worin die Unterschiede der Welten bei Johnson und bei Lukács bestehen – wodurch sich wahrscheinlich die Aussagekraft einer solchen vergleichenden Gegenüberstellung wiederum relativieren 1287 Lukács, Das Problem der Perspektive (Anm. 1281), S. 76. 1288 Lukács, Das Problem der Perspektive (Anm. 1281), S. 80.
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würde. Zumindest bestätigt sich Greg Bonds These, dass Johnson »durchaus in der Lage war, einen Nutzen aus den Arbeiten des marxistischen Literaturwissenschaftlers zu ziehen.«1289 Ebenso aber ließe sich argumentieren, dass er dessen gar nicht bedurfte, dass Lukács eher ein Hinderungsgrund war, zur ›Realität selbst‹ vorzudringen, soweit dies überhaupt möglich ist. Jedenfalls: Mit dieser Klausur demonstriert Johnson eine Haltung, und zwar noch in größerem Maß, als er es mit der Heine-Arbeit getan hat. Ging es bei Heine noch mehr um literarhistorische Ausdeutungen, so versucht Johnson hier in die tagesaktuelle kulturpolitische Debatte einzugreifen, wenigstens aber, daran teilzuhaben. Wissentlich geht er damit ein Risiko ein, indem er mit seiner Stellungnahme Hans Mayer seinerseits zu einer solchen herausfordert. Mag es sich hier auch nicht um Protest handeln, Kritik ist es allemal, »verbunden mit einem glaubhaften persönlichen Einsatz«, sein bevorstehendes Examen und damit seinen weiteren Berufsweg zu gefährden.1290 Wie ernst Johnsons persönlicher Einsatz für seine Haltung gemeint war, zeigt sich an seiner Reaktion auf Mayers Ablehnung, die Klausur zu bewerten. Johnson zitiert sie rund 25 Jahre später – auch dieser Umstand zeigt, wie wichtig ihm die Angelegenheit gewesen sein muss – in seiner Poetikvorlesung: »Indem ich meine: schrieb ihr Verfasser: sowohl den Bedingungen einer Klausur als auch dem behandelten Thema ehrlich entsprochen zu haben, lehne ich ab diese Klausur zu wiederholen.«1291 Hier zitiert Johnson wörtlich aus einem von ihm am 20. Juni 1956 – zwei Tage nach Mayers Korrektur – verfassten Brief an die Prüfungskommission der philosophischen Fakultät der Leipziger Karl-Marx-Universität. Der Brief ist in seinem Archiv erhalten; ob er diesen Brief tatsächlich abgeschickt hat, oder er nur Ausdruck spontaner Empörung ist, lässt sich nicht mehr zweifelsfrei feststellen.1292 Noch am 30. Juni schreibt er an Jochen Ziem: Aber eine Klausur sollte ich wiederholen, denn sie war über den Kongress der Schriftsteller, und sie handelte von der Ehrlichkeit. Es war ein nettes Angebot ›die eben einfach zu wiederholen‹, aber es war auch die Bedingung für die weitere Durchführung meines Examens. Ich habe sie nicht wiederholt.«1293
1289 1290 1291 1292
Bond, Die Klassengesellschaft und die Dialektik der Gerechtigkeit (Anm. 1280), S. 232. Helbig, Die guten Leute sollen das Maul halten (Anm. 1150), S. 147. Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 107f. Vgl. Uwe Johnson an die Prüfungskommission der philosophischen Fakultät der KarlMarx-Universität, 20. 6. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150872. Der maschinenschriftliche Brief ist von Johnson handschriftlich unterfertigt, es scheint sich nicht um einen Entwurf oder Durchschlag zu handeln. 1293 Uwe Johnson an Jochen Ziem, 30. 6. 1956, in: Johnson, »Leaving Leipsic next week« (Anm. 386), S. 86f., hier: S. 86.
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Fest steht, dass an dieser Stelle dann aber sein Leipziger Freundeskreis »mit Erfolg auf ihn eingeredet« haben muss: Diese Gefährdung seines Studiums habe man »ihm ausgeredet«, erinnert sich Manfred Bierwisch, denn für sein »Berufsleben« brauche Johnson »auf jeden Fall einen Abschluss von der Uni.«1294 Weder Johnson noch seine Freunde konnten zu diesem Zeitpunkt absehen, dass es anders kommen würde. Und so folgt Johnson dem Drängen: »Hier gab er klein bei vor dem, was ihm angeraten wurde als ›Vernunft‹. Er schrieb noch einmal eine Arbeit in Klausur; die Prüfung wurde fortgesetzt«.1295
1294 Bierwisch, Begleitumstände (Anm. 92), S. 23f. 1295 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 108.
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Montag, 9. Juli 1956 Ab 9.00 Uhr hatte Johnson an diesem Montagmorgen Gelegenheit zu einem zweiten Versuch, um die nicht bewertete Heine-Klausur mit einer erneuten Arbeit unter Aufsicht auszugleichen. Dieses Mal hatte das erste Blatt einen Musterstempel, worin die Namen von Kandidat und Prüfer sowie Datum und Uhrzeit einzutragen waren. Die Rahmenbedingungen erscheinen damit ein wenig strenger, als es in den vorangegangenen Prüfungen der Fall gewesen sein mag. Gleichwohl ist es offenbar zu einer Verwechslung gekommen, denn auf Johnsons Titelblatt findet sich noch der durchgestrichene Stempel eines anderen Kandidaten eines anderen Prüfers, Datum und Zeit stimmen überein.1296 Papier war Mangelware und kostbar – und geduldig, das wusste man auch und gerade in der jungen DDR, wo der Zugriff auf knappe Ressourcen oft mit dem Terminus ›Gewalt‹ bedacht wurde. Freilich weiß man nicht, wie hier die Dinge lagen: War der andere Prüfling womöglich nicht angetreten? Dafür spricht, dass sich der Stempel bei Johnsons Klausur nur auf dem ersten Blatt findet. Für die Wiederholungsprüfung hatte sich Hans Mayer drei Tage zuvor drei recht disparate Themen überlegt. Zur Auswahl für die Klausur im Bereich der ›Neueren deutschen Literatur‹ standen: 1.) Der Streit um die »Epistolae obscurorum virorum«; 2.) »Maria Magdalena«: Theorie und Praxis der Hebbel-Dramatik; 3.) Hugo von Hofmannsthals geistige Entwicklung.1297 1296 Offenbar sollte ein gewisser Gerhard Maiwald bei Walter Baetke, zu dieser Zeit Professor auf dem Lehrstuhl für Nordische Philologie, geprüft werden; vgl. den Eintrag von Walter Hugo Hermann Baetke, in: Professorenkatalog der Universität Leipzig / Catalogus Professorum Lipsiensium, hg. vom Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Historisches Seminar der Universität Leipzig, URL: https://research.uni-leipzig.de/catalogus-professo rum-lipsiensium/leipzig/Baetke_562 (Zugriff: 24. 11. 2020). 1297 Hans Mayer: Als Klausurthemen zur neueren deutschen Literatur stehen zur Wahl [Incipit], 6. 7. 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 28.
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Johnson entschied sich gegen die ›Dunkelmännerbriefe‹ aus dem 16. Jahrhundert und auch gegen – den mit Blick auf das Otway-Referat vielleicht naheliegenden – Hofmannsthal. Er wählte stattdessen Friedrich Hebbels Trauerspiel aus dem Jahre 1844; ein Bleistiftkreuz auf Mayers Aufgabenzettel markiert seine Entscheidung. Johnson gliedert seine Klausur klar in drei Teile: Im ersten, noch unnummerierten Part werden ›theoretische‹ oder ›ästhetische‹ Themen angerissen, im zweiten Teil folgt eine Inhaltsparaphrase des behandelten Dramas, im dritten werden die vorangegangenen Feststellungen und Beobachtungen in ein Verhältnis gesetzt. Auf den ersten Blick mag Johnsons Einstieg in seine Klausur wie eine Themaverfehlung wirken. Denn er befasst sich zunächst mit Friedrich Schillers berühmter Kritik an den Gedichten Gottfried August Bürgers, um daran anschließend über Georg Büchners Dramatik zu sprechen – von Hebbel ist hier noch gar nicht die Rede. Das hat seinen Grund: Diese Einleitung soll zur theoretischen Grundierung der später nachfolgenden Ausführungen dienen. Als der wohl bedeutendste Theoretiker der Goethe-Zeit formulierte Schiller in seiner Bürger-Kritik zentrale Forderungen seiner idealistischen Ästhetik, die er später etwa in seinen poetologischen Überlegungen Über naive und sentimentalische Dichtung und den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen weiter ausgearbeitet hat. Johnson referiert ausdrücklich auf diese Kritik, wenn er von dem spricht, »was Schiller verstand unter der ›unerlasslichen‹ Idealisierkunst des Dichters«.1298 Indem Johnson nur das eine Adjektiv als Zitat markiert, freilich ohne Quellenangabe, verweist er auf eine konkrete und entscheidende Stelle seines Referenztextes, denn nur dort kommt es bei Schiller vor: »daß zur Vollkommenheit eines Gedichts die erste unerlaßliche [sic] Bedingung ist, einen von der verschiednen Fassungskraft seiner Leser durchaus unabhängigen absoluten, innern Wert zu besitzen.«1299 Wie diese ›Idealisierkunst‹ gemäß Schiller auszusehen habe, erläutert Johnson im Anschluss: 1298 Uwe Johnson: Klausur: Neuere Deutsche Literatur. Thema: »Maria Magdalena«: Theorie und Praxis der Hebbel-Dramatik, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 29r–33v, hier: Bl. 29r; in diesem Kapitel im Text zitiert mit der Blattangabe in Klammern. Wiewohl Johnson sehr leserlich in Versalien schreibt, ›korrigiert‹ Neumanns Transkription an dieser, mit Blick auf Schillers Text entscheidenden Stelle zu »unerlässlichen« (Uwe Johnson: Thema: »Maria Magdalena«: Theorie und Praxis der Hebbel-Dramatik, in: ders., »Entwöhnung von einem Arbeitsplatz« (Anm. 65), S. 76–78, hier: S. 76). 1299 Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte, in: ders., Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. V: Erzählungen. Theoretische Schriften, hg. von Wolfgang Riedel, 2., durchgesehene Auflage, München: Hanser 2008, S. 970–985, hier: S. 975. Schillers Rezension findet sich auch in Mayers Textsammlung, vgl. Friedrich Schiller: Über Bürgers Gedichte, in: Meisterwerke deutscher Literaturkritik, hg. und eingeleitet von Hans Mayer, Bd. 1: Aufklärung, Klassik, Romantik, Berlin: Rütten & Loening 1954, S. 443–459.
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Sie habe den Stoff zu reinigen von allen groben wie von allen individuellen Elementen, solle seine Strahlungen vereinigen und erheben zu einer bedeutenden und »populären« Aussage. Auch seien die Gestalten zu befreien von allen trivialmenschlichen Umständen und den Gegenständen und Formen niederer Leidenschaft; ihr Handeln und Verhalten möchte darstellen die ihnen innewohnende Idee. (29r–v)
Damit sind die zentralen Punkte Schillers zusammengefasst: Schiller verlangte nicht nur von Bürger, sondern von einem jeden Dichter, er habe »das Vortreffliche seines Gegenstandes (mag dieser nun Gestalt, Empfindung oder Handlung sein, in ihm oder außer ihm wohnen) von gröbern, wenigstens fremdartigen Beimischungen zu befreien« und »die in mehrern Gegenständen zerstreuten Strahlen von Vollkommenheit in einem einzigen zu sammeln«.1300 Damit ein Dichter dazu in der Lage sei, müsse er »erhöht empfinden« und bestrebt sein, seine »Individualität so sehr als möglich zu veredeln«; womit das Individuum des Dichters letztlich hinter sein Kunstprodukt tritt.1301 Das Gelingen einer solchen Produktion könne man an deren ›Popularität‹ ablesen, womit zugleich, so Bürgers Standpunkt, dessen Vollkommenheit sichtbar würde. Schiller lässt Bürgers Kriterium der Popularität als Maß der Vollkommenheit allerdings nur bedingt gelten, er hält es für eine enorme Herausforderung, indem er wirkliche Popularität erst dann für realisiert betrachtet, wenn ein Dichter dem »Geschmack des Kenners Genüge zu leisten« vermöge, »ohne dadurch dem großen Haufen ungenießbar zu sein«.1302 Und das könne, so Schiller weiter, nur dann erreicht werden, wenn Gedichte eben einen »unabhängigen absoluten, innern Wert […] besitzen.«1303 Der einstige Stürmer und Dränger proklamierte, dass »Idealisierung« und »Veredlung« die »ersten Erfordernisse des Dichters« seien, um »seinen Namen zu verdienen«.1304 Dazu zähle neben den behandelten Themen auch eine angemessene Sprache, beides kritisiert er bei Bürger: »Schinderknochen – Schurken – Fuselbrenner – Galgenschwengel« – »solche Crudidäten« dürfe man sich dabei nicht erlauben.1305 Zu einem Volksdichter, wie Bürger einer zu sein wünschte, gehöre denn auch, so Schiller, eine »glückliche Wahl des Stoffes«, denn letztlich müssten alle diese ›Stoffe‹ auf das zurückzuführen sein, »was im Menschen bloß menschlich« sei.1306 Nur dadurch könne ein solcher Volksdichter auch komplexe 1300 1301 1302 1303 1304 1305 1306
Schiller, Über Bürgers Gedichte (Anm. 1299), S. 979. Schiller, Über Bürgers Gedichte (Anm. 1299), S. 972. Schiller, Über Bürgers Gedichte (Anm. 1299), S. 974. Schiller, Über Bürgers Gedichte (Anm. 1299), S. 975. Schiller, Über Bürgers Gedichte (Anm. 1299), S. 979. Schiller, Über Bürgers Gedichte (Anm. 1299), S. 979. Schiller, Über Bürgers Gedichte (Anm. 1299), S. 974 [Hervorh. im Original]. Bürger wehrt sich gegen diese Rezension mit einer ›Antikritik‹, wogegen sich Schiller seinerseits verteidigt. In dieser Verteidigung des Rezensenten erläutert er seinen Begriff des ›Menschlichen‹ dergestalt: »Menschlich heißt uns die Schilderung eines Affekts, nicht weil sie dar-
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und anspruchsvolle Themen einem breiten Publikum verständlich nahebringen, und zwar auf eine Weise, die der Qualität seiner Dichtung nicht schade. Obwohl Schiller Bürgers Gedichte durchaus lobt, fällt er schließlich das Urteil, sie hätten »noch sehr viel zu wünschen übrig gelassen«.1307 Wenngleich hier bislang noch nicht von Dramatik die Rede war, wie die Themenstellung in der Überschrift der Klausur eigentlich verheißt, so lässt sich aus Johnsons Argumentation doch zumindest ein Terminus herauslesen, der jeden Kenner historischer Dramentheorie elektrisieren muss: der Begriff »reinigen«. Die »Idealisierkunst des Dichters«, so Johnson mit Schiller, »habe den Stoff zu reinigen von allen groben wie von allen individuellen Elementen« (29r). Und noch ein zweiter Terminus lässt aufhorchen, betreffend die Klärung der Substanz durch Verklärung, dergestalt, dass das »Grobe« und das »Individuelle« aus dem »Menschlichen« ausgesondert werden. Prominent ist seit der aristotelischen Poetik der Fachbegriff der »Reinigung« (Katharsis), der sich dort, in der Poetik, freilich nicht auf den »Stoff«, sondern auf die Affekte (Phobos, Eleos) bezieht, die mittels des Stoffes gereinigt werden sollen. Die Auslegungsgeschichte dieser berühmtesten aller Dramentheorien kennt dabei zwei Hauptlinien: durch den dramatischen Konflikt wird erstens eine Reinigung der Affekte erzielt (sie sind anschließend sauberer voneinander gesondert, geschieden), oder es wird zweitens eine Reinigung von den Affekten angestrebt (der Zuschauer geht dann quasi geläutert aus der Aufführung hervor, weil auch die Dramatis personae eine Läuterung erfahren haben und er sich mit ihnen identifizierte). Die zweite Lesart ist in den meisten Aristoteles-Kommentaren die bevorzugte.1308 Als Gegenposition zu dieser idealistischen Ästhetik führt Johnson dann Georg Büchner ins Feld, namentlich dessen »Bemerkung über das Erröten vor der Geschichte« (29v). Büchner hatte Johnson offenbar schon vor seinem Wechsel an die Universität Leipzig und zum Büchner-Exegeten Hans Mayer interessiert. Als er 1971 den Büchner-Preis erhält, berichtet er von seinem »Exemplar der Werke Georg Büchners, am 14. August 1953 erworben für drei Mark in der Buch-
stellt, was ein einzelner Mensch wirklich so empfunden, sondern was alle Menschen ohne Unterschied mitempfinden müssen« (Friedrich Schiller: Verteidigung des Rezensenten gegen obige Antikritik, in: ders., Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. V (Anm. 1299), S. 985–991, hier: S. 987 [Hervorh. im Original]). 1307 Schiller, Über Bürgers Gedichte (Anm. 1299), S. 976. 1308 Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 2012. Die (griech.) ›kátharsis‹ (›Reinigung‹) bezeichnet die Befreiung von bestimmten Affekten. Durch das Durchleben von Jammer (Rührung) und Schauder (Schrecken), von (griech.) ›éleos‹ und ›phóbos‹, erfährt der Zuschauer eine Läuterung seiner Seele von diesen Erregungszuständen (vgl. ebd., S. 19). Vgl. dazu Elmar Treptow: Zur Aktualität des Aristoteles. Ein kurzer Leitfaden, München: Uni-Druck 1979, S. 19–22.
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handlung ›Unterhaltung und Wissen‹ zu Rheinsberg in Brandenburg«.1309 Schon die Klausur zeugt, wie auch noch die spätere Preisrede, von einer gründlichen Kenntnis des Büchner’schen Werks.1310 So schlägt Johnson mit jenem ›Erröten vor der Geschichte‹ zunächst einen Haken, bevor er zu seinem eigentlichen Referenztext kommt: Als Büchner das gerade hastig heruntergeschriebene Drama über Dantons Tod mit der Bitte um Veröffentlichung an den ihm persönlich unbekannten Karl Gutzkow sandte, rückte er sich und sein Stück bei seinem Gegenüber mit einer nur vermeintlichen Bescheidenheitsgeste ins rechte Licht: Was ich daraus machen soll, weiß ich selbst nicht, nur das weiß ich, daß ich alle Ursache habe, der Geschichte gegenüber roth zu werden; doch tröste ich mich mit dem Gedanken, daß, Shakespeare ausgenommen, alle Dichter vor ihr und der Natur wie Schulknaben dastehen.1311
Büchners Terminus der ›Geschichte‹ kann hier im ganzen Bedeutungsspektrum seiner verschiedenen Denotate gelesen werden, indem einerseits die historischen Zeitläufte selbst, andererseits das Sujet seines Dramas und schließlich die unterschiedlichen Formen sowohl von Geschichtsschreibung als auch dem Schreiben von Geschichten mitgemeint sein können. In einem späteren Brief, jenem, auf den Johnson in seiner Klausur nun ohne Zweifel anspielt, erläutert Büchner diesen Sachverhalt. Dabei hat Johnson sich in der Datierung vertan, der Brief stammt von Ende Juli und nicht »vom August 1835« (29v). Um zu erfahren, inwiefern dieser Brief laut Johnson nun »auf Schiller anzuwenden« (29v) sei, ist es erforderlich, die wesentlichen und vor allem für eine Ästhetik oder Poetologie relevanten Aussagen zu erfassen. Angesichts erster Kritiken zu Dantons Tod sah Büchner sich zu einigen Erläuterungen über die angebliche »Unsittlichkeit [s]eines Buchs« veranlasst und erklärte, »der dramatische Dichter« sei »in [s]einen Augen nichts, als ein Geschichtsschreiber«, stehe »aber über Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockne Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt« und »statt Cha-
1309 Uwe Johnson: [Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises] 1971, in: Büchner-PreisReden 1951–1971, Stuttgart: Reclam 1972, S. 217–240, hier: S. 231. Vermutlich handelt es sich um Georg Büchners Werke und Briefe, hg. von Fritz Bergemann, 4., abermals durchgesehene Auflage, Leipzig: Insel 1949 – diese Ausgabe findet sich im Uwe JohnsonArchiv (UJA BP 00480). 1310 Zur Preisrede vgl. Holger Helbig: Die Leute in allen Verhältnissen sehen. Uwe Johnsons Büchner-Preis-Rede, in: Johnson-Jahrbuch, 11/2004, S. 89–116; und Markus May: Kanonlektüren als Diskursmodelle. Johnsons Preisreden, in: Johnson-Jahrbuch, 21/2014, S. 114–130, hier besonders: S. 119–125. 1311 Georg Büchner an Karl Gutzkow, 21. 2. 1835, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zwei Bänden, Bd. 2, hg. von Henri Poschmann unter Mitarbeit von Rosemarie Poschmann, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 2003, S. 392f., hier: S. 393.
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rakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt.«1312Der Dramendichter müsse die Geschichte – hier ist in Anbetracht seines Dramas zweifelsohne die tatsächliche Historie gemeint – so darstellen, »wie sie sich wirklich begeben« habe, er dürfe »weder sittlicher noch unsittlicher sein, als die Geschichte selbst«.1313 Da nun »aber die Geschichte […] vom lieben Herrgott nicht zu einer Lectüre für junge Frauenzimmer geschaffen worden« sei, könne man ihm nicht vorwerfen, »wenn [s]ein Drama ebensowenig dazu geeignet ist.«1314 Die hier skizzierte Ästhetik richtet sich explizit gegen »die sogenannten Idealdichter«, indem Büchner ein literarisches Programm entwirft, das sich an der Realität zu orientieren habe, und zwar ohne jede ›Veredlung‹ oder ›Erhöhung‹, weder der Themen noch der Sprache.1315 Er resümiert mit einem schalkhaft-ironisch vorgebrachten Theodizee-Argument: »Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll.«1316 Und als ob seine Position damit noch nicht deutlich genug geworden wäre, konstatiert er: »Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe und Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller.«1317 Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, wie eng sich Johnsons Kondensat von Büchners Ästhetik an die Ausführungen dieses Briefes anlehnt: Die Aufgabe des Dramatikers sei inständige Achtung vor den Fakten der Geschichte; bezeichnender Weise ist diese Feststellung herausgefordert von dem Anstoss, den ein behütetes bürgerliches Gemüt erfahren könnte von der Redeweise eines Danton. (29v)
Johnson bleibt aber nicht bei dem Danton-Brief stehen, sondern führt als weiteren Beleg Büchners Lenz an, worin der Verfasser den »wahnsinnigen Lenz den Ausspruch […] über die idealischen Holzpuppen mit den himmelblauen Nasen« (30r) machen lasse. Zu dieser Stelle sind zwei Dinge anzumerken; zum einen: Wenngleich sich die enge Verbindung zwischen Lenz und Büchners ästhetischem Programm einer Idealismus-Kritik offenkundig aus der Erzählung ergibt, so mag Johnson von dieser Verbindung auch von Hans Mayer erfahren haben. In dessen Büchner-Biographie wird eben dieser Zusammenhang hergestellt. Mayer referiert Büchners »Verachtung« des Idealismus mit ausführlichen Zitaten aus dem Danton-Brief, um dann festzustellen: »Das gleiche meint Lenz: ›Da wolle man idealistische Gestalten, aber alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen.‹«1318 1312 Georg Büchner an die Familie, 28. 7. 1835, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 2 (Anm. 1311), S. 409–411, hier: S. 410 [Hervorh. im Original]. 1313 Georg Büchner an die Familie, 28. 7. 1835 (Anm. 1312), S. 410 [Hervorh. im Original]. 1314 Georg Büchner an die Familie, 28. 7. 1835 (Anm. 1312), S. 410. 1315 Georg Büchner an die Familie, 28. 7. 1835 (Anm. 1312), S. 411. 1316 Georg Büchner an die Familie, 28. 7. 1835 (Anm. 1312), S. 411. 1317 Georg Büchner an die Familie, 28. 7. 1835 (Anm. 1312), S. 411. 1318 Mayer, Georg Büchner und seine Zeit (Anm. 733), S. 286.
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Zum anderen: Lenz’ Holzpuppen haben keine »himmelblauen Nasen«, mit denen Johnson sein Beispiel illustriert. Solch farbige Gesichtsmerkmale werden von Büchner hingegen den »sogenannten Idealdichter[n]« zugeschrieben, die mit ihren Figuren »nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben« hätten.1319 In geschickter, auch humor- und effektvoller Weise verschränkt Johnson hier Selbstaussage des Autors mit dessen literarischem Text; er hat augenscheinlich erkannt, dass Büchners Lenz-Figur das ästhetische Programm ihres Autors referiert. Eine weitere Lesart freilich lässt Johnson sich entgehen: Die Anspielung auf Kleists poetologischen Essay Über das Marionettentheater (1810). Zentraler Aspekt dieser ästhetischen Überlegung ist die Störung von ›Anmut‹ und ›Grazie‹ durch das reflektierende Bewusstsein. Die Marionette, an Fäden geführt, steht für die Mechanik der Mensch-Maschine, die von einem höheren Prinzip geleitet wird, deren Gliedmaßen allein dem Gesetz der Schwerkraft gehorchen und deren Leiblichkeit über keine Seelenkräfte verfügt. Während beim Menschen die Zweipoligkeit konstitutiv ist (der mentale Pol dominiert den leiblichen), liegt bei der Gliederpuppe die ›vis motrix‹ (als die Kraft oder Seele der Bewegung) außerhalb (oberhalb) der Gestalt: der Gliedermann wird von einem göttlichen Maschinisten geführt und erlangt selber keine moralische Autorität über seine Handlungen. Der Moment der Bewusstwerdung seiner selbst bringt daher eine große Verunsicherung hervor, die ihn stolpern lässt: Anmut und Würde sind dahin. Tertium Comparationis von Büchner und Kleist ist wiederum Schiller, der mit seiner Schrift Über Anmut und Würde (1793) das moralische Sittengesetz als natürliche ›Bewegung‹ des Einzelnen bestimmt und damit die Erkenntnis des Selbst als ›Sündenfall‹ deklariert.1320 Kleist ziele auf die »innere menschliche Wahrheit«, meint Klaus Müller-Salget, und nicht auf die »äußere Faktizität«, wohingegen sich Büchner und die Naturalisten »auf die Realität« selbst berufen würden, und zwar »in bewußtem Gegensatz zu den idealisierenden Tendenzen der Weimarer Klassik«.1321 Dies dürfte Opinio communis gewesen sein – bei Hans Mayer wie auch bei Georg Lukács. Johnson leistet hier aber noch mehr als nur eine launige Mayer-Paraphrase. So ist zwar auch bei dem Lehrer das Zitat über »›die feinsten Zuckungen, das Mienenspiel‹ des Lebens« (30r) zu finden, wenn auch nicht derart verkürzt wie 1319 Georg Büchner an die Familie, 28. 7. 1835 (Anm. 1312), S. 411. 1320 Vgl. zur Argumentation Klaus Müller-Salgets Edition der kunsttheoretischen Schriften. Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater, in: ders., Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften, hg. von Klaus Müller-Salget, Frankfurt am Main: Deutscher Klassiker Verlag 1990, S. 555–563, Kommentar S. 1137–1147. 1321 Vgl. Müller-Salgets Kommentar zu Kleists Gedicht Verwahrung, in: Kleist, Erzählungen, Anekdoten, Gedichte, Schriften (Anm. 1320), S. 980.
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bei Johnson.1322 Beiden geht es um die Realismusforderung Büchners, die vor allem das Leben ›einfacher Leute‹, der niederen Stände, zum ungeschönten Gegenstand seiner Dichtung erklärt, oder, wie Mayer es mit einigem Pathos ausdrückt: »Das Dasein, von dem gekündet wurde, war kaum idyllisch: es ging um furchtbare, letzte Auflösung und Zersetzung einer Seele – allein es gab wirklich, der Lehre getreu, Leben ›in seinen Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel‹.«1323 Ein Spiel, das innerseelische Vorgänge voraussetzt. Doch dass Lenz »vor der Madonna von Raffael […] sich richtig tot« (30r) gefühlt habe, kann Johnson dann nicht mehr aus Mayers Büchner-Biographie erfahren haben. In Büchners Erzählung dagegen liegt die Idealismuskritik offen zutage: Die innerlich zerrissene und äußerlich abgerissene Figur Lenz wehrt sich in einem Gespräch gegen das idealistische Argument, dass »er in der Wirklichkeit doch keine Typen für einen Apoll von Belvedere oder eine Raphaelische Madonna finden würde.«1324 Das Gegenargument besteht darin, dass dieser Vorwurf unerheblich sei, »ich fühle mich dabei sehr todt«, und zwar gerade weil in solcher Kunst keine ›Wirklichkeit‹ zu finden sei.1325 Wenngleich Büchner keine geschlossene Darstellung seines literarischen Programms hinterlassen hat, so hat Johnson mit dem zitierten Danton-Brief und Lenz zwei zentrale Quellen für die ›realistische‹ Programmatik seiner Literatur aufgerufen. Er bringt die »Formel solcher Dramatik«, ihre grundsätzliche Intention, auf den Punkt der Demonstratio ad oculos – nämlich zu zeigen: »so, so ist es« (30r). In aller Kürze stellt Johnson somit zwei grundlegend verschiedene ästhetische Konzepte einander gegenüber, wobei der spätere ›Realismus‹ Büchners sich zu einem erheblichen Teil in gezielter Abgrenzung zum vorangegangenen Idealismus Schiller’scher Provenienz definiert. So ist Büchners Danton-Brief »vermittelt auf Schiller anzuwenden« (29v), als dessen Kontrapunkt. Die hier von Johnson eröffnete Opposition zwischen idealistischer und realistischer Literatur bietet sich geradezu dafür an, in ein Verhältnis zu den – einen Monat zuvor von ihm verhandelten – Konfliktlinien des IV. Schriftstellerkongresses gesetzt zu werden. Auch dort war das zentrale Thema die Differenz zwischen der ›idealisierenden‹ Wirklichkeit der gegenwärtigen Literaturproduktion und der neu formulierten Forderung nach mehr und tatsächlichem (sozialistischen) Realismus, der die Wirklichkeit des gegenwärtigen Ist-Zustan-
1322 Vgl. Mayer, Georg Büchner und seine Zeit (Anm. 733), S. 288 und S. 364. 1323 Mayer, Georg Büchner und seine Zeit (Anm. 733), S. 296. 1324 Georg Büchner: Sämtliche Werke und Schriften. Historisch-kritische Ausgabe mit Quellendokumentation und Kommentar (Marburger Ausgabe), Bd. 5: »Lenz«, hg. von Burghard Dedner und Hubert Gersch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001, S. 61. 1325 Büchner, Lenz (Anm. 1324), S. 61.
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des darstellen solle statt der ›Utopie‹ oder dem ›Ideal‹ eines realisierten Sozialismus das Wort zu reden. Auf die Konfrontation der beiden angedeuteten ästhetischen Entwürfe lässt Johnson seine Inhaltsparaphrase von Hebbels Maria Magdalena folgen, die in mehrfacher Hinsicht problematisch ist. Den Handlungsbogen dieses Dramas »von der unschuldigen Selbstmörderin« umreißt er ungefähr zutreffend: »Die Tochter eines Tischlers wird von einem rücksichtlosen Karrieristen verführt und verlassen, worauf sie sich in den Brunnen stürzt« (30r). Aber schon hier kündigt sich an, dass Johnsons Perspektive um die Ursache des dramatischen Konflikts kreisen wird, ohne sie je explizit zu benennen. Klara, die Tochter des Tischlermeisters Anton, wird von Leonhard zum vorehelichen Konkubitus gedrängt. Zwar steht eine Hochzeit der beiden zunächst ernsthaft zur Diskussion, doch sieht Leonhard sich sowohl durch seine soziale Stellung, er bemüht sich gerade um eine Anstellung als »Kassierer«1326 im Bürgermeisteramt, als auch durch die Rückkehr eines nun studierten Jugendfreunds Klaras in die Heimatstadt in seiner aussichtsreichen Position gefährdet. Der forcierte Beischlaf zeitigt eine Schwangerschaft, die als zentrale Ursache der weiteren ›dramatischen‹ Entwicklungen gelten kann. Bei Johnson fehlt dieses entscheidende Detail der folgenreichen Defloration: Neben der erwähnten ›Verführung‹ spricht er nur noch davon, dass Leonhard »sich ihrer versichert« (31r) habe, was aber mehr auf das von ihm erlangte Vertrauen Klaras und ihres Vaters gemünzt ist, wozu eben auch die ungewollte Gravitas zählt. Problematisch ist in Johnsons Darstellung die Gleichsetzung von Klara mit Maria Magdalena (vgl. 31r), denn sie wird auf der Textebene des Dramas nicht hergestellt. Es macht einen erheblichen Unterschied, ob eine Figur auf der Ebene der Sprechsituation (und damit im Text) als Maria Magdalena firmiert, oder ob – außerhalb des Textes, im Paratext – eine ins Allgemeine abhebende Lesart für Sündenfälle bürgerlicher Lebenspraxis angeboten wird, für die Klara als Exempel dient. Johnsons Metalepse überträgt und überhöht die Ereignisfolge ins Zeichenhafte und provoziert damit eine symbolische Lesart, die auf der Textebene so nicht gegeben ist. So verhält sich der ex post vergebene Titel Hebbels wie ein Metatext zum Text, wie ein Kommentar zu einem ganzen Register bürgerlichen Fehlverhaltens. Indem »Hebbels Trauerspiel keine typische Verarbeitung des Magdalenenstoffs darstellt«,1327 wird die traditionelle biblische Symbolik überdies gefährdet, wenigstens reduziert, da der Fokus im Stück auf »die Assoziation von Sexualität und Sünde hier ›nur noch die gefallene Sünderin‹ repräsentiert«, 1326 Friedrich Hebbel: Maria Magdalena. Ein bürgerliches Trauerspiel in drei Akten, hg. von Wolfgang Keul, Stuttgart: Reclam 2015, S. 44. 1327 Andrea Verena Glang-Tossing: Maria Magdalena in der Literatur um 1900. Weiblichkeitskonstruktion und literarische Lebensreform, Berlin: Akademie Verlag 2013, S. 68.
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während sich weder »das Buß- noch das Liebesmotiv« traditioneller Lesarten darin findet.1328 Der Titel ist folglich nicht als Aliasname für eine Figur der dargestellten Welt zu werten, sondern er stellt eine Extrapolation sittlichen Fehlverhaltens dar, die durch den Bezug auf eine prominente Gestalt des Neuen Testamentes eine Überhöhung erfährt. Wiewohl in Hebbels Drama der private und der soziale Konflikt kausal miteinander verbunden sind, richtet Johnson seine ganze Aufmerksamkeit auf die gesellschaftliche Dimension des Konflikts. Das mag in Berücksichtigung der Schreibsituation ein Indiz dafür sein, dass er den interpretatorischen Prämissen marxistischer Literaturwissenschaft Rechnung zu tragen weiß, um seine Erfolgsaussichten bei der Wiederholungsprüfung nicht zu gefährden. Ob er darüber hinaus in der Prüfungssituation bei Hans Mayer ob des ›delikaten‹ Themas befangen gewesen sein mag, lässt sich nicht mehr ergründen. In der Retrospektive kann für sein Werk aber festgestellt werden, dass Sexualität darin nie explizit vorkommt, sondern mit einer Form camouflierender Diskretion behandelt wird, die eher jener der Schriftsteller des 19. Jahrhunderts gleicht als der (vieler) seiner Zeitgenossen.1329 Johnson rückt Leonhard als »Hauptgestalt« in den Fokus, »die Auswirkung seiner Aktionen ergibt die Veränderung« (31v). Allerdings bezeichnet er ihn als »Sekretär« (30v) – was dieser zwar faktisch ist (als Aspirant auf die vakante Kassierer-Stelle, die er bekommt, nachdem er einen Mitbewerber auf »abgefeimte« (31r) Weise ausgestochen hat), jedoch nicht in der Nomenklatur des Dramas. Dort bleibt der Terminus »Sekretär« eindeutig Klaras Jugendfreund Friedrich vorbehalten, der nach Jahren »auf der Akademie«1330 plötzlich als Heiratskandidat und Rivale Leonhards um Klaras Gunst auftritt, der sich am Ende mit Leonhard duellieren und ihn töten wird. Von ihm ist bei Johnson keine Rede, sodass sein ›Sekretär‹ stets Hebbels Kassierer meint. Das ist nicht nur eine Ungenauigkeit, denn mit dem Übergehen dieser Figur übergeht Johnson auch die Möglichkeit eines potenziell ›guten Ausgangs‹ des Grundkonflikts, indem Friedrich anbietet, sich Klaras und notfalls sogar ihres Kindes anzunehmen, nachdem sich Leonhard von ihr losgesagt hat, um sie so innerhalb der geltenden bürgerlichen Ordnung von einem ›gefallenen Mädchen‹ zu einer ›ehrbaren Frau‹ 1328 Glang-Tossing, Maria Magdalena (Anm. 1327), S. 67. 1329 So kann Matthias Attigs Befund durchaus für Johnsons gesamtes Œuvre gelten, wenn er feststellt, dass »der Bereich des Sexuellen in den Jahrestagen größtenteils ausgespart und nur dort, wo es unabdingbar scheint, in diskreten Anspielungen berührt« werde (Matthias Attig: Brüchige Monumente. Eine literatur- und zeichentheoretische Betrachtung der Erzählkunst von Uwe Johnson und Péter Nádas, in: Johnson-Jahrbuch, 21/2014, S. 155–175, hier: S. 157). Man denke auch an den deutlich derberen Günter Grass, der schon im Erzähleingang seiner Blechtrommel demonstrierte, worauf es ihm ankam. 1330 Hebbel, Maria Magdalena (Anm. 1326), S. 42.
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zu machen. Johnsons Perspektive, die sich auf »das Gegenüber von bourgeoiser Gewinnsucht und altväterisch konservativer Redlichkeit« (30v) konzentriert, berücksichtigt diese im Trauerspiel notwendig zum Scheitern verurteilte Möglichkeit jedoch überhaupt nicht. Die Anstellung als Kassierer erlangt Leonhard nur, indem er dem eigentlich schon gesetzten Kandidaten übel mitspielt. Er sorgt dafür, dass sein Konkurrent betrunken zum Bewerbungsgespräch erscheint und entsprechend durchfällt.1331 Mit seiner Anstellung erreiche Leonhard zwar »[g]esellschaftliche Achtbarkeit«, so Johnson, allerdings mit »gesellschaftlich verächtlichen Mitteln« (31v). Die Figur dieses rücksichtslosen Karrieristen, der darüber hinaus noch der »buckligten Nichte des Bürgermeisters […] den Hof zu machen« sich nicht zu schade ist – und dies seiner Verlobten Klara ohne Bedenken mitteilt, schließlich geschah »es doch in der besten Absicht« –, offenbart in Johnsons Lesart die Schwächen bürgerlichen Konformitätsdrucks, der zu solchem Fehlverhalten offenbar ermuntert.1332 In privater Hinsicht »bekümmert« sich Leonhard, so Johnson altväterlich weiter, »um die Höhe der Mitgift«, über die er dank des »wahrhaftige[n] Vertrauen[s]« seines designierten Schwiegervaters erfahren muss, dass sie nicht üppig ausfallen wird, der alte Tischlermeister hat sie seinem einstigen Lehrmeister ins Grab gelegt (31r).1333 Schon hier fällt offenbar Leonhards Entschluss, sich von dieser Familie lösen zu wollen, und zwei Szenen später bietet sich ihm dazu Gelegenheit: Gerichtsdiener betreten das Haus des Tischlermeisters und klagen dessen Sohn Karl – fälschlich, wie sich später herausstellt – als Juwelendieb an. Karls ehrbare Mutter, die vor Schreck unvermittelt stirbt, wird als Kollateralschaden hingenommen, denn Leonhard, die Szene verlassend, erkennt: »Schrecklich! Aber gut für mich!«1334 Umgehend kündigt er sein Verlöbnis mit der Schwester eines vermeintlichen Diebs auf, er macht, wie Johnson es ausdrückt, »aus der irrtümlichen Verdächtigung Karls ein Argument für seine Trennung von der vorgeblich Geliebten« (31v). Spätestens hier – wenn nicht schon mit der Schwängerung Klaras – »beginnt die Katastrophe«, und nicht erst, wie Johnson insinuiert, »als der Sekretär [sprich Kassierer; AK] sich der Tochter des Bürgermeisters zuwendet« (31r). Hierin liegt eine weitere Ungenauigkeit Johnsons, denn wiewohl es in Hebbels Stück nicht explizit gesagt wird, so ist doch naheliegend, dass Leonhard sich weiter um die Nichte, nicht um die – nie erwähnte – Tochter des Bürgermeisters bemüht hat, die bald schon »in gleichem Fall«, also gleichfalls schwanger ist.1335 1331 1332 1333 1334 1335
Vgl. Hebbel, Maria Magdalena (Anm. 1326), S. 44. Hebbel, Maria Magdalena (Anm. 1326), S. 45. Vgl. Hebbel, Maria Magdalena (Anm. 1326), S. 54. Hebbel, Maria Magdalena (Anm. 1326), S. 58. Hebbel, Maria Magdalena (Anm. 1326), S. 82.
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Überdies bleibt unklar, worauf sich Johnsons Behauptung stützen kann, Karl würde »nach Amerika gehen wollen« (33r). Zwar drängt es Karl aus der bürgerlichen Enge seiner Heimat hinaus in die Welt, er hat überdies erhebliche Schulden angesammelt, doch nennt er kein konkretes Ziel – »als Matrose« will er sein Glück suchen.1336 So erscheint Johnsons Inhaltsparaphrase in der Gesamtschau als hier und da irreführende Zusammenfassung, er geht kaum auf konkrete Ereignisse ein, von einzelnen Textstellen ganz zu schweigen. Stattdessen abstrahiert er in seiner Klausur die Ereignisfolge auf ihre gesellschaftlichen und auch moralischen Implikationen und Konsequenzen hin. Damit beweist er zwar keine gründliche Textkenntnis en détail, kann aber zeigen, dass er Hebbels Stück ›allgemein‹ im Sinne eines ›sozialen Dramas‹ rezipiert hat. In diesem Stück sei nun »nichts idealisiert« (32r), beginnt Johnson den dritten Teil seiner Klausur. Damit schlägt er den Bogen zurück zu seiner Einleitung und macht deutlich, dass Hebbel nicht in der Tradition Schiller’scher Ästhetik steht, er sei »fern […] von den hohen idealischen Naturen Don Carlos’, Max Piccolominis« (32r). Den naheliegenden Vergleich zu Kabale und Liebe, zu dem Hebbels Trauerspiel als Negativfolie gelesen werden kann, indem dort Schillers Figurenkonstellationen und Konfliktstrukturen unter umgekehrten Vorzeichen reziprok gespiegelt werden, zieht er allerdings nicht.1337 Freilich vermag es Johnson auch nicht, Hebbels Stück der ästhetischen Ordnung seines zweiten Gewährsmanns zuzuschlagen: »Fern aber auch ist die besessene Wirklichkeits-Andacht Büchners, dessen ›grässlicher Fatalismus der Geschichte‹ allerdings das Mitleid in seiner aggressivsten: anklägerischen Form als ästhetischen Vorsatz nur zuliess« (32r–v). Dank des Zitats ist zunächst der offensichtliche Bezug zu Büchners sogenanntem Fatalismusbrief evident, in dem der Autor seiner Geliebten vom Studium der »Geschichte der Revolution« berichtet, angesichts dessen er sich »wie zernichtet« gefühlt habe »unter dem gräßlichen Fatalismus der Geschichte.«1338 Die von ihm studierten Begebenheiten der Französischen Revolution hatten ihm »die Annahme einer quasi naturgesetzlichen, vom Willen der Handelnden nicht beeinflußbaren Zwangsläufigkeit in der Verkettung der Ereignisse« plausibel erscheinen lassen, die sich als Ket1336 Hebbel, Maria Magdalena (Anm. 1326), S. 92. Johnson steht mit seiner Ausdeutung nicht allein, auch sehr viel später noch findet sich diese vom Text nicht begründete These: »Der rehabilitierte Karl geht nach Amerika« (Volker Meid: Friedrich Hebbel. Maria Magdalene, in: ders., Metzler Literatur Chronik. Werke deutschsprachiger Autoren, 3., erweiterte Auflage, Stuttgart: Metzler 2006, S. 417f., hier: S. 418). 1337 Vgl. dazu Mingchao Mao: Friedrich Hebbels Arbeit an Schiller. Die Schiller-Rezeption in Hebbels Ästhetik und Dramatik, Berlin: de Gruyter 2019, S. 193–219. 1338 Georg Büchner an Wilhelmine Jaeglé, Mitte/Ende Januar 1834, in: ders. Sämtliche Werke, Bd. 2 (Anm. 1311), S. 377f., hier: S. 377.
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tenreaktion gerade in der Julirevolution von 1830 wiederholt zu haben schien.1339 Im Drama Dantons Tod, das Büchner mit seinen Studien vorbereitete, scheint sich, vordergründig, dieser Fatalismus programmatisch zu bestätigen, der Protagonist wird vom Gestalter zum Opfer der Revolution. Nun impliziert Büchners geschichtsphilosophischer Fatalismusbegriff jedoch keineswegs »einen blind ergebenen Glauben an prinzipiell unerforschliche Mächte«.1340 Vielmehr sei es »das Höchste«, dieses »eherne[] Gesetz […] zu erkennen«1341 – und eben das ist das wesentliche Prinzip seiner Ästhetik: »Die Darstellung des notwendigen Leides des Individuums in seiner körperlichen Fragilität und existentiellen Ausgesetztheit«, und zwar als »Ausdruck einer mitleidenden, das heißt sympathetischen Teilnahme am Schmerz der Welt, die das Skandalon des Leidens des Einzelnen […] nicht verdecken will, sondern ihn vielmehr offen und anklagend zur Schau stellt.«1342 Von der erheblichen Bedeutung des ›Mitleids‹ für Büchners Œuvre hat Johnson (auch) von Hans Mayer erfahren können, der als Resümee seiner Woyzeck-Analyse feststellt: »Auf die dreimal gestellte Frage nach der Möglichkeit, ihn [den ›grässlichen Fatalismus der Geschichte‹; AK] zu überwinden, hat Georg Büchner auch im ›Woyzeck‹ keine andere Antwort gefunden als das Mitleiden des Dichters mit seinem Geschöpf.«1343 Neben dieser offenkundigen Büchner- und wohlverdeckten Mayer-Referenz darf nicht Johnsons ›Einleitung‹ dazu übersehen werden. Seine Formulierung der »besessene[n] Wirklichkeits-Andacht« (32r–v) kommt zwar oberflächlich als kreativ-emphatische Contradictio in adjecto daher. Dahinter verbirgt sich aber womöglich ein Verweis auf den prominenten Leitinterpreten Georg Lukács. Dieser hatte einige Jahre zuvor Thomas Mann folgenreich als »Realist von seltener Wirklichkeitstreue, ja Wirklichkeitsandacht« bezeichnet, und zwar unter dem programmatischen Titel Auf der Suche nach dem Bürger.1344 Ähnlich wie 1339 Kommentar, in: Büchner, Sämtliche Werke, Bd. 2 (Anm. 1311), S. 695–1275, hier: S. 1101. 1340 Kommentar, in: Büchner, Sämtliche Werke, Bd. 2 (Anm. 1311), S. 695–1275, hier: S. 1105. 1341 Büchner an Jaeglé, Mitte/Ende Januar 1834, in: ders. Sämtliche Werke, Bd. 2 (Anm. 1311) S. 377. 1342 Alessandro Costazza: Der »gräßliche Fatalismus der Geschichte« und die Funktion des Theodizee-Diskurses in Georg Büchners Dantons Tod, in: Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose, hg. von Daniel Fulda und Thorsten Valk, Berlin: de Gruyter 2010, S. 107–126, hier: S. 126. 1343 Mayer, Georg Büchner und seine Zeit (Anm. 733), S. 337. An anderer Stelle nennt Mayer Büchner den »Dichter des Leidens und des Mitleidens« (ebd., S. 393). 1344 Georg Lukács: Auf der Suche nach dem Bürger, in: ders., Thomas Mann, Berlin: AufbauVerlag 1949, S. 9–48, hier: S. 9. Lukács’ Text (mehrfach neu aufgelegt, etwa 1953 und 1957) war enorm folgenreich in der Thomas-Mann-Rezeption der DDR, er galt lange Zeit als »Paradigma« der »sozialistischen Forschung« (Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, 3., erneut überarbeitete Auflage, München: C. H. Beck 1997, S. 61). Gerade der hier zitierte Passus von ›Wirklichkeitstreue‹ bzw. ›Wirklichkeitsandacht‹ wird häufig in der Realismusdebatte der ostdeutschen Literaturwissenschaft aufgegriffen; um
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Lukács darin das ›Bürgertum‹ Manns auszuloten versucht, bemüht Johnson sich in seiner Klausur, das ›Bürgerliche‹ im Trauerspiel Hebbels dingfest zu machen. Einen radikalen, ›anklagenden‹ Realismus kann er in Hebbels Stück nicht vorfinden, es steht irgendwo zwischen den ›Ästhetiken‹ Schillers und Büchners: »Dies ist ein bürgerliches Trauerspiel« (32v). Es folgt die Erläuterung, inwiefern dies der Fall ist. Dabei scheint Johnson ein Stück weit von Büchners Position auszugehen, wenn er im »bürgerlichen Gemeinwesen« ebenfalls ein ›ehernes Gesetz‹ wirken sieht, gemäß dem »soziologische Übergänge« stattfänden, »die in irgend einer Richtung nachdrücklich aufzuhalten oder zu befördern nicht möglich« sei (32v). Doch einer solchen ›teleologischen‹ oder gar ›metaphysischen‹ Deutungen folgt er nicht, er sieht weniger eine ›Gesetzmäßigkeit‹ im Sinne »eines anklagenden ungerechten Schicksals« (32v) wirken, vielmehr adressiert seine Formulierung eine strukturelle, systemimmanente Eigenschaft des bürgerlichen Milieus. Johnson markiert die Distanz zwischen Hebbels Trauerspiel und Büchners Drama mit einer knappen Zusammenfassung von Dantons Tod: »Das ist keine Tragik eines Helden, der seiner Zeit voraus ist, der eine bürgerliche Monarchie einrichten will mit Gedankenfreiheit in ausserordentlichen absolutistischen Zuständen« (32v). Mit dieser Feststellung wird insbesondere vermittels des Signalworts »Gedankenfreiheit« auch die Distanz zu Schiller deutlich gemacht, denn sie lässt sich gleichermaßen als Paraphrase eines zentralen Sujets des Don Karlos lesen, nämlich der Rolle des Marquis von Posa. Im zentralen Dialog mit dem spanischen König gibt sich diese Figur als Keimzelle künftiger – nicht nur politischer – Idealisten zu erkennen, »Bürger derer, welche kommen werden«, und fordert vom absolutistischen Monarchen: »Geben Sie Gedankenfreiheit.«1345 Bei Hebbel hingegen geht »eine (klein)bürgerliche Familie zugrunde mit Notwendigkeit« (32v–33r). Diese ›Notwendigkeit‹ sei insofern strukturell begründet, als sie sich auf »unveränderlicher Orthodoxie moralischer Urteilsvorschriften« gründe, in »gewissenlosem, scheinheiligem Streben nach ebenso ›moralischer‹ Achtsamkeit«, letztlich also in der »deutschen Situation von 1840« (33r). Dieser Situation, diesen bürgerlichen Verhältnissen, könne man, »wie Karl« (33r), versuchen zu entfliehen – »aber Empörung«, sprich Protest oder gar Veränderung, »ist nicht möglich« (33r). diese Debatte zusammenzufassen, greift noch das Buddenbrooks-Handbuch eben diese Charakterisierung von Manns Œuvre auf, spart allerdings den kontemplativ-religiösen Terminus der ›Wirklichkeitsandacht‹ aus (vgl. Andreas Blödorn: Literarhistorische Einordnung, in: Buddenbrooks-Handbuch, hg. von Nicole Mattern und Stefan Neuhaus, Stuttgart: Metzler 2018, S. 74–79, hier: S. 75). 1345 Friedrich Schiller: Don Karlos. Infant von Spanien. Ein dramatisches Gedicht, in: ders., Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. II: Dramen 2, hg. von Peter-André Alt, 2. Auflage, München: Hanser 2006, S. 7–267, hier: S. 121 und S. 126 (Verse 3078 und 3214f.).
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Johnson bekräftigt seine Argumentation, indem er (erneut) Georg Lukács heranzieht und diesen sowohl implizit zu Schiller als auch explizit zu Büchners Dantons Tod in Beziehung setzt: Aus anderen Gründen als aus denen des Naturalismus […] ist der Horizont des Dichters nicht gerichtet auf die Erscheinungen eines gesellschaftlich verbesserten Zustandes, der in erschütterndem Fall seiner Vorkämpfer sichtbar wird: Der Gesichtskreis des Dichters ist in seinen Grenzen angegeben mit dem seiner Gestalten. (33r–v)
In seiner Betrachtung zur Deutschen Literatur im Zeitalter des Imperialismus vertritt Lukács die Auffassung, dass die bloße Unmittelbarkeit der naturalistischen Ausdrucksweise […] nur überwunden werden kann, wenn jenen objektiven, gesellschaftlich-geschichtlichen Mächten des Lebens, die die Charaktere, die Entwicklungen, die Geschichte der Menschen, ohne daß sie dessen sich bewußt werden, bestimmen, die ihnen sachlich zukommende Stelle in der Gestaltung gegeben wird. […] Um eine vollendete Echtheit zu erlangen, geht der naturalistische Schriftsteller weder inhaltlich noch formell über den Horizont seiner Gestalten hinaus; ihr Horizont ist zugleich der des Werks.1346
Bei Schiller nimmt der Dichter noch eine ›erhöhte‹ Stellung ein, ist ein »männliche[r] Geist […], der, eingeweiht in die Mysterien des Schönen, Edeln und Wahren, zu dem Volke bildend herniedersteigt«, dabei aber »nie seine himmlische Abkunft verleugnet.«1347 Gegen eine solche Funktion des Dichters spricht sich Büchner explizit aus, für ihn ist der Dichter an erster Stelle ein »Geschichtsschreiber«, der nur insofern »über« dem Historiker steht, als »er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar […] in das Leben einer Zeit hinein versetzt«.1348 Im Falle Büchners, so ist Johnson mit Blick auf Lukács zu verstehen, ist »der Horizont des Dichters« durch seine ›anklägerische Form‹ »auf die Erscheinungen eines gesellschaftlich verbesserten Zustandes« gerichtet, sein ›Fatalismus‹ ergibt sich aus der historischen Perspektive auf die (gesellschaftlich bedingten) Zeitläufte. Bei Hebbel nun sei dies gerade nicht der Fall, womit Johnson ihn in die Nähe von Lukács’ »naturalistische[n] Schriftsteller[n]« rückt, die »weder inhaltlich noch formell über den Horizont [ihrer] Gestalten hinaus[gehen]; ihr Horizont ist zugleich der des Werks.«1349 1346 Georg Lukács: Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus. Eine Übersicht ihrer Hauptströmungen, Berlin: Aufbau-Verlag 1950, S. 25. Erstmals wurde der Text bereits 1945 publiziert. 1347 Schiller, Über Bürgers Gedichte (Anm. 1299), S. 976. 1348 Georg Büchner an die Familie, 28. 7. 1835 (Anm. 1312), S. 410 [Hervorh. im Original]. 1349 Lukács, Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus (Anm. 1346), S. 25. Als gelungenes Gegenbeispiel führt Lukács übrigens Fontane an, der »im tragischen Liebesabenteuer Schach von Wuthenows die gesellschaftlich-menschlichen Voraussetzungen der Jenaer Katastrophe« durchaus ›gestalte‹: »Obwohl selbst die Ahnung solcher Zusammenhänge weit über die Denkfähigkeit des Helden hinausgeht« (ebd.).
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Das betrifft auch Johnsons Kritik an diesem Trauerspiel: Hebbel vermag es nicht, die Ursachen für die bürgerliche Misere, die zu Klaras Selbstmord führte, darzustellen oder gar zu erhellen: »Psychologie wie gesellschaftliche Bedingung der Gestalten sind behandelt mit gleichmütigem Realismus« (32r). So zeige Hebbel zwar die »Anlässe und gesellschaftlichen Bedingungen« des bürgerlichen Milieus, sie gereichten ihm aber »nur für die Erkenntnis: die Welt sei nicht mehr verständlich« (33v). Aber es hätte gerade die Aufgabe Hebbels sein müssen, sie verständlich zu machen – so lässt sich hier ex negativo mit Lukács’ Hilfe schließen. In seiner Naturalismus-Kritik geht es dem philologischen ›Wissenschaftspapst‹ des Ostblocks in einem »geistig-weltanschaulichen Sinne« darum, dass »der objektive Horizont des Werkes nicht dem der von ihm widergespiegelten gesellschaftlichen Wirklichkeit gemäß ist, wenn er nicht den subjektiven Horizont der einzelnen Gestalten überwölbt«.1350 So aber steht der Leser oder Zuschauer am Ende mit der gleichen Ratlosigkeit wie Meister Anton da: »Ich verstehe die Welt nicht mehr!«1351 Offenbar liefert Johnson damit eine Dramenanalyse ganz im Sinne marxistischer Literaturwissenschaft ab, er beruft sich indirekt auf deren führenden Interpreten, wie auch vermittels Büchner auf seinen Lehrer Hans Mayer.1352 Es bleibt jedoch fraglich, inwieweit Johnson der gestellten Aufgabe, über die »Theorie und Praxis der Hebbel-Dramatik« Auskunft zu geben, tatsächlich gerecht geworden ist. Denn eine ›Autorentheorie‹ lässt sich bestenfalls implizit, durch die Verortung zwischen Schiller, Bürger und auch Lukács’ Naturalismusbegriff gewinnen, von einer performativen (Aufführungs-)Praxis ist keine Rede, und auch die Lebenspraxis, auf die Kleist abzielen mochte, steht nicht zur Debatte. Mayer scheint ihm das nachgesehen zu haben, wie auch die Schnitzer in den Details der Inhaltswiedergabe, hat Johnson doch insgesamt eine Arbeit abgeliefert, an der aus seiner Sicht offenbar wenig zu beanstanden war; Johnson besteht mit gutem Ergebnis.1353 Johnson mochte mit seiner Klausur auch deshalb passieren, weil er trotz aller literarhistorischen Weitläufigkeit und demonstrierter Kennerschaft keine ›Experimente‹ wagte – er lag ganz auf der Linie der Literaturwissenschaft der DDR. Ihr galt Hebbel, »mit seiner kleinbürgerlich-verkrampften, psychologistisch-in1350 Lukács, Deutsche Literatur im Zeitalter des Imperialismus (Anm. 1346), S. 26. 1351 Hebbel, Maria Magdalena (Anm. 1326), S. 95. 1352 Der hatte übrigens gerade zwei Jahre zuvor eine dreibändige Ausgabe von Meisterwerken deutscher Literaturkritik herausgegeben und mit einem Vorwort eingeleitet, und damit auch die Bedeutung literaturkritischer Debatten für die Kulturpolitik der DDR demonstriert (vgl. Meisterwerke deutscher Literaturkritik, hg. und eingeleitet von Hans Mayer, 3 Bde., Berlin: Rütten & Loening 1954). 1353 Vgl. Hans Mayer: Beurteilung […] im Fach Deutsch (Neuere deutsche Literatur), 22. 7. 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 8.
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dividualistisch bestimmten Welt- und Kunstauffassung«, als ein Autor, dem es nicht gelungen sei, »die welthistorischen Auseinandersetzungen in den dramatisch zugespitzten Schicksalen seiner Helden realistisch zu erfassen.«1354 Und wiewohl Maria Magdalena eine besondere Stellung zukomme, fehle auch diesem Stück die ›Stellungnahme‹, sodass für das Œuvre insgesamt ein »Mangel an humanistisch-zukunftsweisendem Gehalt« festzustellen sei.1355
1354 Hebbel, Christian Friedrich, in: Deutsches Schriftstellerlexikon (Anm. 1231), S. 231f., hier: S. 231. 1355 Hebbel, Christian Friedrich, in: Deutsches Schriftstellerlexikon (Anm. 1231), S. 231f., hier: S. 232.
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Der gute Mensch von Sezuan. Theorie und Praxis der Brecht-Dramatik
Dienstag, 10. 7. 1956 Die zweite Wiederholungsprüfung, als Ersatz für die von Hans Mayer nicht bewertete Klausur über den IV. Deutschen Schriftstellerkongress, fand offenbar unter ähnlichen Bedingungen statt wie die erste. Auch auf dieser Klausur findet sich auf der ersten Seite der Stempel des wissenschaftlichen Prüfungsamts, der Datum und Uhrzeit sowie Prüfer- und Prüflingsnamen festhält. Zwischen 9.00 und 11.50 Uhr beschrieb Johnson neun Seiten mit gut leserlichen Versalien. Mayer hatte auch dieses Mal eine Themenauswahl zur Prüfung im »Bereich neuester deutscher und ausserdeutscher Literatur« vorbereitet: 1) Die Analyse eines Romans von Balzac oder Leo Tolstoi; 2) Die Analyse eines dramatischen Werkes der neueren englischen oder französischen Literatur 3) Analyse eines Schauspiels von Bertolt Brecht.1356
Am Tag nach der Klausur über Maria Magdalena entscheidet sich Johnson – ein Bleistiftkreuz markiert erneut die Wahl – für Der gute Mensch von Sezuan von Bertolt Brecht, der von sich einst selbstbewusst behauptet hatte: »Schreiben kann ich, ich kann Theaterstücke schreiben, bessere als Hebbel«.1357 Das konkrete Stück hat sich Johnson offenbar selbst ausgewählt, aus guten Gründen, wie sich zeigen wird, indem er Mayers Themenstellung auf dem ersten Blatt seiner Klausur um den entsprechenden Titel ergänzt: »Der gute Mensch von Sezuan«.1358 1356 Hans Mayer: Als Themen aus dem Bereich neuester deutscher und ausserdeutscher Literatur stehen zur Auswahl [Incipit], 6. 7. 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 9. 1357 Bertolt Brecht: Tagebuchnotiz vom Oktober 1916. Überliefert durch H. O. Münsterer, zitiert nach: Hans Mayer: Brecht, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 118. 1358 Uwe Johnson: Klausur: Neueste Deutsche und National-Literatur. Thema: Analyse eines Schauspiels von Bertolt Brecht. »Der Gute Mensch von Sezuan«, in: Universitätsarchiv
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Johnsons ›Analyse‹ beginnt nun freilich nicht mit dem Schauspiel, sondern allem Anschein nach mit der ›Weltlage‹ – es klingt, als rekapituliere er die Nachrichten des Tages: Was hat die Standard Oil in China zu suchen. Was soll das: In London Downingstreet herrscht grosse Unruhe über die und wegen der Ereignisse vom siebenten Juni; Hammarskjöld erklärte: Niemand könne dafür verantwortlich gemacht werden. Generalstreik in København, Krise in Südost, Dividendenberichte (23r)
Seine einleitende Frage, rhetorisch eher eine Feststellung, endet mit einem Punkt und deutet dabei schon das zu verhandelnde Konfliktfeld an. Die rhetorische Figur richtet sich an seinen ersten Leser Hans Mayer. Der dürfte gewusst haben, dass hier auf John D. Rockefellers Weltkonzern angespielt wird, der im späten 19. Jahrhundert auf den chinesischen Markt expandierte, wo er unter dem Markennamen Mei Foo Öllampen und das dazu passende Petroleum verkaufte. Zu einem Teil, so impliziert Johnsons anschließende Syntax, sei man deswegen nun in der »London Downingstreet«, also seitens der britischen Regierung, zum anderen Teil wegen der »Ereignisse vom siebenten Juni« in »grosse Unruhe« versetzt worden (23r). Johnson schlägt hier einen weiten historischen Bogen in seine Gegenwart, bei dem der US-amerikanische Konzern offenbar Pars pro Toto für die westlich-kapitalistische Machtpolitik weltumfassenden Anspruchs stehen soll. Über diese Politik war man in London am 7. Juni 1956 nicht grundsätzlich besorgt. Allerdings stand die Frage nach dem China-Handel seit einiger Zeit zur Debatte. Die Briten wollten unter Umgehung eines bestehenden Embargos den Handel mit China wiederaufnehmen: es hatte bereits seit Monaten Gespräche darüber mit den USA, Frankreich, Italien und auch der Bundesrepublik gegeben.1359 Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 23r–27r, hier: Bl. 23r; in diesem Kapitel im Text zitiert mit der Blattangabe in Klammern. 1359 Neben den von den USA initiierten Handelsbeschränkungen gegen die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten war infolge der Ausrufung der kommunistischen Volksrepublik China 1949 und deren Intervention im Koreakrieg (1950–1953) ein deutlich schärferes Embargo gegen China verhängt worden (sog. ›China differential‹). Die USA, ihre Alliierten und die von ihnen abhängigen Staaten sollten China auf dem Weltmarkt weitestgehend isolieren, um »den wirtschaftlichen Aufbau und die industrielle Entwicklung der Volksrepublik zu blockieren und damit eine militärische Aufrüstung zu verhindern« (Ursula Lehmkuhl: Pax Anglo-Americana. Machtstrukturelle Grundlagen anglo-amerikanischer Asien- und Fernostpolitik in den 1950er Jahren, München: Oldenbourg 1999, S. 186). Während die US-amerikanische Wirtschaft von diesem Embargo kaum betroffen war, fürchteten andere Staaten, deren Außenhandel stärker mit China verflochten war, allen voran Großbritannien, die ökonomischen Konsequenzen dieses Embargos. Ab 1954 versuchte die Regierung in der Downing Street aktiv gegen das Embargo vorzugehen, einerseits mittels bilateraler Gespräche mit China, andererseits mit der Suche nach Verbündeten (Frankreich, Italien) gegen die strikte US-Außenpolitik in Südostasien (vgl. ebd., S. 186– 194). Nicht zufällig, sondern zur »Sicherung des Zugangs zum chinesischen Markt[,] hatte
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Diese Entwicklungen wurden auch in der DDR verfolgt, denn schließlich ging es darum, wie sich ›der Westen‹ gegenüber China als einem ideologischen Partner und Konkurrenten im Geiste der Genossen verhielt. Und in diesem speziellen Fall ließ sich beobachten, wie selbst der Druck der mächtigen USA die wirtschaftlichen Interessen ihrer Alliierten nicht dauerhaft im Zaum zu halten vermochte. So berichtete etwa das Neue Deutschland am 8. Juni aus »Wirtschaftskreisen in London«, dass man dort die Entscheidung von Indonesien und Thailand, gegen das US-Embargo den Kautschukhandel mit China wiederzubeleben, »positiv aufgenommen« habe. Der Konflikt zwischen wirtschaftlichen und politisch-ideologischen Interessen, so schien es, trieb einen Keil zwischen die kapitalistischen Staaten des so genannten Westens: »Im USA-Kongreß wurde der britische Schritt zur Lockerung des Embargos ›gerügt‹ und erklärt, Großbritannien hätte zuvor mit den USA darüber sprechen müssen.«1360 Aus der Downingstreet selbst war vom 7. Juni in der DDR noch die Ankündigung zu vernehmen, im kommenden Jahr Wasserstoffbomben im Pazifik erproben zu wollen. Wenn man die nötigen Tests abgeschlossen habe, könne man auch weiter über Abrüstung verhandeln.1361 In ganz anderer Hinsicht, so scheint es, hatte sich an diesem Tag der UNGeneralsekretär Dag Hammarskjöld geäußert. Er erklärte hinsichtlich der angespannten Lage zwischen Israel und Ägypten, dass eine Lösung der PalästinaFrage nicht erreicht werden könne, »unless it is accepted by the parties to whom it is to apply.«1362 Wiewohl Johnson ›Westpresse‹ zur Kenntnis nahm, ja aufmerkdie britische Regierung bereits im Januar 1950 die Regierung in Peking als rechtmäßige Vertretung des chinesischen Volkes anerkannt« (ebd., S. 188). Zur Position der Bundesrepublik in der Frage des ›Ost-Handels‹ vgl. Peter E. Fäßler: Bonn und das strategische Embargo gegen die Sowjetunion und ihre Verbündeten 1949–1958, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54, 2006, H. 4, S. 673–700. 1360 N. N.: Auch Indonesien und Thailand lockern Embargo. Entscheidung Malayas und Singapurs gegen USA-Verbot für Kautschukhandel macht Schule, in: Neues Deutschland, 8. 6. 1956, S. 5. 1361 Vgl. N. N.: Eden kündigt H-Bombenversuch an, in: Neues Deutschland, 8. 6. 1956, S. 5; hö: Die britische H-Bombe. Eden kündigt Versuche im Pazifik an, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. 6. 1956, S. 4. Diese Versuche fanden in den beiden folgenden Jahren unter dem Codenamen ›Operation Grapple‹ im Zentralpazifik statt und waren ein Thema für Johnson. Manfred Bierwisch berichtet ihm davon: »Zwecks Verteidigung der Freiheit hat Großbritannien eine neue Versuchsserie mit Wasserstoffbomben begonnen« (Manfred Bierwisch an Uwe Johnson, 9. 11. 1957, Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/110111). 1362 Thomas J. Hamilton: U.N. CHIEF CITES PEACE CRITERION, in: New York Times, 8. 6. 1956, S. 11. Hammarskjölds Haltung in der Nahost-Frage drang auch bis in die DDR. So war Anfang Juli – wenige Tage vor Johnsons Klausur – zu erfahren, dass seiner Meinung nach »die Probleme im Nahen Osten vor allem durch die unmittelbar beteiligten Regierungen gelöst werden müßten« (N. N.: Hammarskjoeld gab Pressekonferenz. Gegen fremde Einmischung im Nahost-Konflikt – Aus Moskau abgereist, in: Neue Zeit, 7. 7. 1956, S. 2).
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sam verfolgte, muss im Detail unklar bleiben, was er davon in der relativen respektive selektiven Informationslage der isolierten DDR tatsächlich erfahren konnte. So lässt sich in der offenbar gezielt unbestimmten Skizze der politischen Brandherde nur ein historisches Ereignis mit Sicherheit identifizieren, nämlich der »Generalstreik in København« (23r). Im Frühjahr 1956 führten Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebervertretern zu keinem Ergebnis. Den Forderungen der Arbeitnehmer, vor allem nach einer Arbeitszeitverkürzung (von 48 auf 44 Wochenstunden) bei vollem Lohnausgleich sowie einer allgemeinen Lohnerhöhung, standen unnachgiebige Arbeitgeber gegenüber, die nicht nur diese Forderungen ablehnten, sondern ihrerseits zum Teil Mehrarbeit und Lohnverzicht (etwa durch Aufhebung des bestehenden Inflationsausgleichs) verlangten. Die Tarifverhandlungen scheiterten und erste Streiks wurden begonnen. Ausgehend vom Transportgewerbe und der Ölindustrie weitete sich der Arbeitskampf im März schnell auf andere Industriebereiche aus. Da es auch angesichts von anhaltenden Streiks und Arbeitnehmerprotesten zu keiner Einigung kam, sah die dänische Regierung die Versorgung der Bevölkerung allmählich bedroht und griff ein: Der von Arbeitnehmerseite abgelehnte Kompromissvorschlag wurde für gültig erklärt, weitere Streiks gesetzlich verboten. Daraufhin kam es mit »mehr als 200.000 Teilnehmenden« zur »bis dahin größte[n] Demonstration der dänischen Geschichte« in Kopenhagen.1363 Die DDR-Presse sprach angesichts dieser Ereignisse von einem »Generalstreik« in »Kopenhagen und einer ganzen Reihe von Provinzstädten«.1364 Die dänischen Arbeitskämpfe wurden in der DDR mit Spannung verfolgt, etliche Zeitungsmeldungen dokumentieren das große Interesse, das in der gesteuerten Presse freilich opportun kanalisiert wurde.1365 Kurz nach dem dritten Jahrestag des 17. Juni, der das östliche Staatswesen erheblich erschüttert und destabilisiert hatte, erinnert Johnson daran, dass kürzlich erst Arbeiter in einem westlichen Staat ›massenweise‹ mit vergleichbaren Forderungen auf die Straße 1363 Peter Birke: Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt am Main: Campus 2007, S. 87. 1364 Jörgen Christensen: Gewaltige Streiks in ganz Dänemark. Größte Massenkundgebung in der Geschichte Kopenhagens / Arbeiterschaft wehrt sich entschlossen gegen Zwangsverfügung des Parlaments, in: Neues Deutschland, 14. 4. 1956, S. 5. 1365 Vgl. N. N.: 40 000 dänische Arbeiter im Ausstand, in: Neues Deutschland, 18. 3. 1956, S. 5; N. N.: 55 000 dänische Arbeiter streiken, in: Neue Zeit, 20. 3. 1956, S. 2; N. N.: Dänische Streikfront steht fest, in: Neues Deutschland, 22. 3. 1956, S. 5; N. N.: Zwingt Unternehmer in die Knie!, in: Berliner Zeitung, 22. 3. 1956, S. 1; N. N.: Streik soll abgewürgt werden, in: Berliner Zeitung, 23. 3. 1956, S. 1; N. N.: Größter Streik in Dänemark seit 20 Jahren, in: Berliner Zeitung, 27. 3. 1956, S. 1; N. N.: Dänemarks Arbeiter streiken weiter, in: Neues Deutschland, 28. 3. 1956, S. 2; N. N.: Gesetz gegen Streik, in: Neues Deutschland, 7. 4. 1956, S. 5; N. N.: Generalstreik in Dänemark, in: Neues Deutschland, 15. 4. 1956, S. 1; N. N.: Dänische Seeleute setzen Streik fort, in: Berliner Zeitung, 21. 4. 1956, S. 1.
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gegangen waren. Und auch dort griff letztendlich der Staat entschieden und mit Härte gegen die Interessen der Arbeitnehmer ein. Hier ist zu sehen, dass sich der soziale Konflikt nicht auf ein Gesellschaftssystem beschränkt, gegen Ausbeutung und Ungerechtigkeit wehrt sich der Mensch in einem sozialistischen Staat ebenso wie in einem kapitalistischen. In einer vordergründigen, ideologisch präfigurierten Lesart illustriert Johnson mit seiner konkreten Referenz die Folgen des Kapitalismus. Das aktuellen Geschehen in Dänemark wird einen Leser in der DDR aber auch an die ›Ereignisse vom 17. Juni‹ 1953 im eigenen Land erinnert haben. Und so entwirft Johnson allem Anschein nach ein Panorama des Zeitgeschehens als halb-fiktiven Pressespiegel, der als Gemenge von Faktizität und Fiktion angelegt ist und so unweigerlich zu einem gewissen Grad im Vagen verbleibt, dabei aber zugleich die Gegenwart apostrophiert. Denn es lässt sich, trotz der anscheinend auf Konkretes deutenden Hinweise Johnsons, kein singuläres Ereignis vom 7. Juni 1956 ausmachen, auf das in seiner Klausur angespielt werden soll. Über den UN-Generalsekretär war regelmäßig auch in der DDRPresse zu lesen: So wurde etwa dessen Ankündigung vom 5. Juni, eine mehrwöchige Reise durch die Staaten des Ostblocks antreten zu wollen, aufmerksam verfolgt.1366 Mit der Standard Oil Company (und China) verweist Johnson aber nicht nur auf einen globalen wirtschaftlichen Akteur, sondern ruft damit in seiner ›Analyse eines Stücks von Bertolt Brecht‹ auch die Haltung des kapitalismuskritischen Dramatikers auf den Plan. Zumindest für einen Kenner Brechts, den er in Gestalt seines Prüfers Hans Mayer voraussetzen durfte. Mayer prahlte nachgerade mit seinen freundschaftlichen Begegnungen mit Brecht,1367 dessen politischen 1366 Vgl. N. N.: Hammarskjoeld besucht die UdSSR, in: Neues Deutschland, 5. 6. 1956, S. 1; N. N.: Hammarskjoeld in Europa, in: Neues Deutschland, 29. 6. 1956, S. 1; N. N.: Hammarskjoeld optimistisch. Pressekonferenz in Moskau / Erklärung zur Abrüstungsfrage, in: Neues Deutschland, 7. 7. 1956, S. 5; N. N.: Besuche der Freundschaft. Kim Ir Sen und Prinz Sihanouk in Moskau / Hammarskjoeld und Kronprinz El-Badr in Prag, in: Neues Deutschland, 8. 7. 1956, S. 5. 1367 So beginnt Mayer sein Brecht-Buch mit seiner persönlichen, schwärmerischen Erinnerung an Brecht: einer Begegnung mit dem Autor in Amsterdam, wo er ihn »heiter und daseinswillig erleben« konnte, »in jenen Frühlingstagen des Jahres 1954« (Mayer, Brecht (Anm. 1357), S. 11). Mayer spickt sein Buch mit weiteren ähnlichen Anekdoten, freut sich etwa darüber, wenn Brecht einen seiner Vorträge würdigt, indem er die »Argumente von Hans Mayer […] als schlüssig« gewertet habe (ebd., S. 83). Gleich zweimal berichtet Mayer die Episode, dass sein Sinn und Form-Beitrag Bertolt Brecht und die plebejische Tradition (1949) »im Hotel Adlon, und zwar Satz für Satz, zwischen Brecht und mir durchgesprochen« worden sei (vgl. ebd., S. 57 und S. 420f., Zitat: S. 57). Hingegen »ärgert ihn«, so Jost Hermand, dass »der antibürgerlich eingestellte Brecht über Mayers Vorliebe für Goethe, Wagner und Thomas Mann manchmal recht mißmutig die Nase rümpfte« (Jost Hermand: Vorbilder. Partisanenprofessoren im geteilten Deutschland, Köln: Böhlau 2014, S. 153).
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Standpunkt er teilte: Für Brecht stellte Rockefellers Konzern den Inbegriff des globalen Monopolkapitalismus dar, dessen Geschäftsgebaren rücksichtslos ›unmenschlich‹ sei. Um die in seinen Augen strukturellen Defizite des zeitgenössischen Theaters zu illustrieren, das an althergebrachten dramatischen Methoden hafte, bemühte er bereits 1928 einen markanten Vergleich: Es steht nicht im Belieben der Herren Rockefeller und Ford, die Verheerungen aller geistigen Gebiete durch den Kapitalismus abzuwenden. Es ist fraglich, ob sie sich selber ändern können. Aber es ist sicher, daß sie den Kapitalismus nicht ändern können. Die Standard Oil konnte durch Herrn Rockefeller aufgebaut werden, aber sie kann durch ihn nicht zu einem gemeinnützigen Unternehmen umgebaut werden, ohne daß sie ruiniert wird, das heißt also: sie kann nicht umgebaut werden. Der Schrei nach einem neuen Theater ist der Schrei nach einer neuen Gesellschaftsordnung.1368
In dieser Feststellung sind ein zentrales Thema des Autors Brecht und der Kernkonflikt des Guten Menschen von Sezuan vorbereitet: In einem seiner Grundstruktur nach – in marxistischer Lesart – ausbeuterischem System ist eine Gemeinnützigkeit weder vorgesehen noch möglich, ohne dadurch das System selbst zu gefährden. Shen Te, Brechts Protagonistin, vermag kein ›gutes Leben‹ unter den Bedingungen einer ›schlechten Gesellschaft‹ zu leben. Mit seinem durchaus kreativ und intelligent zu nennenden Einstieg in die Beantwortung einer wissenschaftlichen Prüfungsaufgabe, die eine Textanalyse zum Ziel haben soll, demonstriert Johnson seinem akademischen Lehrer eine Kennerschaft von Brechts Werk, die deutlich über das konkrete Stück hinausgeht: Schüler und Lehrer teilen sich in die Begeisterung für Brechts Theater. Und Johnson stellt damit zugleich diese Kennerschaft auf die Probe. Denn es ist wahrscheinlich, dass die Idee zu dieser Einleitung ein Vorbild hatte, nämlich die Rostocker Inszenierung des Stücks im Januar und Februar 1956. Damit kann in Johnsons historisch, ökonomisch und geopolitisch motiviertem Klausureinstieg noch eine weitere, auf sehr Konkretes verweisende Ebene mitgelesen werden: Zum einen aktualisieren seine tatsächlichen oder vermeintlichen tagespolitischen Andeutungen Brechts Stück für seine Gegenwart und demonstrieren damit die Parabelhaftigkeit des Schauspiels. Zum anderen greift die Brecht-Klausur höchstwahrscheinlich spezifische Details der Rostocker Inszenierung auf, nämlich Elemente des Bühnenbilds, die Johnson andeutungsweise in seine Ausführungen einarbeitet. Das Rostocker Volkstheater feierte am 6. Januar 1956 die DDR-Premiere von Der gute Mensch von Sezuan, inszeniert wurde das Lehrstück von Benno Besson, 1368 Bertolt Brecht: Über eine neue Dramatik, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21: Schriften 1, Schriften 1914–1933, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin, Weimar/Frankfurt am Main: Aufbau-Verlag/Suhrkamp 1992, S. 234–239, hier: S. 237f. [Hervorh. im Original].
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Brechts Schweizer Freund, der ihm Gefolgsmann und Mitarbeiter geworden war. Brecht selbst war zu den abschließenden Proben in Rostock anwesend.1369 Ob er dabei »der Aufführung zu Deutlichkeit und Leichtigkeit« verhalf, wie er es für die deutsche Erstaufführung in Frankfurt am Main 1952 für sich beansprucht hatte, ist nicht mehr zu ermitteln.1370 Doch kann davon ausgegangen werden, dass Brecht, als ›Verkörperung des Regietheaters‹ (lange bevor dieser Begriff Einzug in die Theaterkritik hielt), das »den Regisseur nicht nur theoretisch dem Autor gleichsetzt«,1371 dieser Inszenierung seinen Segen gegeben haben wird. Im Volkstheater Rostock war, »angeregt von der Zeitungs-Fassung, die Brecht der Fabel des Stückes gegeben hatte, die Rückfront der Bühne einheitlich mit Zeitungsschrift bedeckt gewesen.«1372 Noch während Brecht am Sezuan-Stück laborierte, hatte er dessen zentralen Konflikt in Form eines fiktiven Zeitungsberichts mit dem Resümee zusammengefasst: »Die Schlechtigkeit war eine Kehrseite der Güte, gute Taten waren nur zu ermöglichen durch schlechte Taten – ein erschütterndes Zeugnis für den unglücklichen Zustand dieser Welt.«1373 Die ›Einheitlichkeit‹ der reproduzierten Zeitungsspalten im Bühnenhintergrund wurde durch einzelne übergroße Schlagzeilen in breiten Lettern durchbrochen. Der Theaterkritiker und spätere Dramatiker Claus Hammel urteilte über die Rostocker Aufführung: »Das Bühnenbild Willi Schröders war dem Stück angemessen. Verwirrend allerdings der Horizont mit den Zeitungsschlagzeilen.«1374 1369 Vgl. Werner Hecht: Brecht Chronik. 1898–1956, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 1198f. Der Kommentar der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe datiert die Premiere fälschlich auf den 1. Januar 1956, einen Sonntag und auch in der DDR als Neujahr ein Feiertag (vgl. Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 6: Stücke 6, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin, Weimar/Frankfurt am Main: Aufbau-Verlag/Suhrkamp 1989, S. 445). 1370 Bertolt Brecht: Journal Berlin, 16. 11. 1952, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 27: Journale 2, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin/Frankfurt am Main: Aufbau-Verlag/Suhrkamp 1995, S. 335. 1371 Peter W. Marx: Theater als literarische Institution, in: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Literarische Institutionen, hg. von Norbert Otto Eke und Stefan Elit, Berlin: de Gruyter 2019, S. 421–437, hier: S. 433. 1372 Friedrich Dieckmann: Karl von Appens Bühnenbilder am Berliner Ensemble. Szenenbilder, Figurinen, Entwürfe und Szenenphotos zu achtzehn Aufführungen, 2., durchgesehene Auflage, Berlin: Henschelverlag Kunst und Gesellschaft 1973, S. 114. 1373 Bertolt Brecht: »Der gute Mensch von Sezuan«. Zeitungsbericht, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 24: Schriften 4, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin/Frankfurt am Main: Aufbau-Verlag/Suhrkamp 1991, S. 283–287, hier: S. 286. 1374 Claus Hammel: Der gute Mensch von Sezuan. Zur DDR-Erstaufführung eines BrechtStückes in Rostock, in: Neues Deutschland, 24. 1. 1956, S. 4. Auch den prominenten Theaterkritiker Herbert Ihering irritierte die Rostocker Bühnengestaltung: »Es heißt aber, vom Wort abzulenken, wenn man die Bühne rechts, links und hinten mit politischen Zeitungsausschnitten umstellt« (Herbert Ihering: Episches und dramatisches Theater, in: Sonntag, 15. 1. 1956, S. 11). Dieser ›verwirrende Horizont‹ wurde später vom Berliner Ensemble im Theater am Schiffbauerdamm für die eigene Sezuan-Inszenierung aufgegriffen.
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Nicht als ›verwirrend‹, sondern als ›orientierend‹ scheint Uwe Johnson dasselbe Bühnenbild wahrgenommen und verstanden zu haben. So kleidet er seine rhetorische Eingangsfrage (»Was hat die Standard Oil in China zu suchen.«) in einen Aussagesatz: Es ist offenkundig, was sie dort zu suchen hat, was sie dort bereits gefunden hat (nämlichen einen monopolistisch beherrschbaren Absatzmarkt für ihre Produkte) und welche Konflikte sie damit vor Ort wie auch im westlichen Wirtschafts- und Bündnissystem auslöste und in Kauf nahm. Konflikte, die offen und öffentlich ausgetragen wurden und die Headlines der internationalen Presse und noch das Bühnenbild der Rostocker Sezuan-Inszenierung bestimmten. Besson inszenierte auch die spätere Aufführung des Stücks durch das Berliner Ensemble im Oktober 1957 und konnte den Berliner Bühnenbildner Karl von Appen offenbar von der in Rostock erprobten ›Horizont‹-Gestaltung überzeugen, sodass auch in Berlin auf Zeitungsschlagzeilen gesetzt wurde. Wie dicht sich der Kompromiss aus Appens eigenen gestalterischen Vorstellungen und jenen Bessons am Rostocker Vorbild orientierte, ist nicht mehr vollständig zu rekonstruieren. Wenigstens eine Schlagzeile wurde zumindest im Text, nicht aber in der graphischen Ausgestaltung nachweislich übernommen: »Dämme brachen. Überschwemmung in Indien!«1375 Es kann also vermutet werden, dass weitere Textelemente ihren Weg von der Rostocker zur Berliner Inszenierung fanden. Sind die Rostocker Schlagzeilen auch nicht mehr zu ermitteln, so sind die Berliner mit ihrer Intention für die Inszenierung zum Teil dokumentiert. Der Hintergrund zeigte eine aus Zeitungsausschnitten montierte Stadtsilhouette, in welche Schlagzeilen wie »Klassenkampf überwunden«, »Kultur des Abendlandes ist bedroht«, »Moralische Aufrüstung«, »Entdeckt Asien« eingelassen waren. Den szenischen Vorgängen stand das aktuelle Schlagwortvokabular der westlichen Presse gegenüber und wurde von jenen überführt.1376
Karl von Appen, der das Bühnenbild gestaltete, hatte eigentlich anderes im Sinn, sein »ursprünglicher Entwurf hatte eine Rückwand aus weißen Ziegeln vorgesehen, vor der auf Gazeschleiern schwarze Silhouetten hatten hängen sollen, die der Lokalität der einzelnen Szenen folgten« (Dieckmann, Karl von Appens Bühnenbilder (Anm. 1372), S. 113). Und so war der Berliner Bühnenhintergrund »eine Art Kompromiß aus Appens Silhouettenidee und einem Hintergrund, den Benno Besson in der vorangegangenen Rostocker Aufführung des Stückes erprobt hatte« (ebd., S. 114). 1375 Vgl. dazu das Szenenfoto aus der Rostocker Aufführung in: Renate Meyer-Braun: Löcher im Eisernen Vorhang. Theateraustausch zwischen Bremen und Rostock während des Kalten Krieges (1956–1961). Ein Stück deutsch-deutscher Nachkriegsgeschichte, Berlin: trafo 2007, S. 52; und den endgültigen Berliner Entwurf Appens in: Dieckmann, Karl von Appens Bühnenbilder (Anm. 1372), S. 254. 1376 Dieckmann, Karl von Appens Bühnenbilder (Anm. 1372), S. 113.
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Wenn Johnson seine Klausur mit der »London Downingstreet«, irgendwelchen Ereignissen »vom siebenten Juni«, dem UN-Generalsekretär »Hammarskjöld«, einem »Generalstreik in København, Krise in Südost, Dividendenberichte[n]« (23r) einleitet, so alludiert er Willi Schröders eindrückliches Rostocker Bühnenbild und liefert »das aktuelle Schlagwortvokabular der westlichen Presse« – in Ermangelung eines Aktienhandels gab es in der DDR schließlich keine Dividendenberichte. Das intendierte Kontrastverhältnis zwischen globalem Kapitalismus und der Armut in der chinesischen Provinz wird damit augenfällig, Johnson konstatiert: »Dies hat gar nichts zu suchen in Sezuan sondern es ist eben da« (23r). Womit einerseits das scheinbare Missverhältnis zwischen Bühnenbild und dargebotenem Schauspiel gemeint ist, andererseits die mit dieser Diskrepanz aufgerufene ›Weltlage‹. Noch ein weiteres Detail verweist wahrscheinlich auf die Rostocker Aufführungspraxis und die dortigen Inszenierungsideen. Johnson illustriert die ungleiche Weltlage: »wer die United States nicht besucht hat, erhält zureichende Auskunft durch das Autowrack, das eben auch da ist, als Wohnung nämlich und im schattigen Vordergrund aber eben auch da« (23r–v). Man muss die USA nicht mit eigenen Augen gesehen haben, um sich eine Meinung über sie zu bilden, es genügt offenbar, die Auswirkungen und Folgen ihres globalen Handelns in der Welt zu betrachten: Das »Schlagwortvokabular der westlichen Presse« zeitigt den Leichnam eines Automobils im Vordergrund – die Folgen des Kapitalismus sind überall absehbar. In Brechts Drama ist zwar keine Rede von einem Autowrack, allerdings wurde ein solches als Wohnung des Wasserverkäufers Wang in der Berliner Aufführung als Requisit verwendet. Da Der gute Mensch von Sezuan aber erst mehr als ein Jahr nach Johnsons Leipziger Klausur in Berlin Premiere hatte, liegt es nahe anzunehmen, dass ein solches Wrack bereits in Rostock zum Einsatz gekommen war, »im schattigen Vordergrund« der dortigen Bühne.1377 Es ist eine bittere Clownerie, die Besson hier in Szene setzt; das Automobil als Zeichen moderner Befindlichkeit: Beim Radwechsel erst überfällt jähe Plötzlichkeit das Subjekt mit Sinnfragen, die der Kapitalismus nicht beantworten und der Sozialismus nicht bewältigen kann.1378 Die Inszenierungsmotivik wird hier zur großen 1377 In Brechts Text haust Wang in einem »Kanalrohr« (Bertolt Brecht: Der gute Mensch von Sezuan, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 6: Stücke 6, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin/Frankfurt am Main: Aufbau-Verlag/Suhrkamp 1989, S. 175–279, hier: S. 183), das man in Berlin »nach einigen Bühnenversuchen gegen das ausdrucksvollere Autowrack auswechselte« (Dieckmann, Karl von Appens Bühnenbilder (Anm. 1372), S. 255 – dort findet sich auch ein Szenenfoto mit dem Wrack). 1378 Vgl. Brechts Gedicht Der Radwechsel: »Ich sitze am Straßenhang. | Der Fahrer wechselt das Rad. | Ich bin nicht gern, wo ich herkomme. | Ich bin nicht gern, wo ich hinfahre. | Warum sehe ich den Radwechsel | Mit Ungeduld?« (Bertolt Brecht: Der Radwechsel, in: ders., Werke, Bd. 12 (Anm. 149), S. 310). Dieses Gedicht, entstanden »im Sommer 1953 nach den Ereignissen des 17. Juni und als Reaktion auf ihn« führt mit seinem lyrischen Ich, »erhoben
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Sinnfrage, die sich in allen Gesellschaftssystemen stellt: Wie kann man gut sein, wenn man einen Tabakladen hat? Wenn fremde Mächte Einfluss nehmen, wenn auf Wohlstand und Neuerung Bankrott und Zerstörung folgen – im Autowrack erfährt noch Albert Camus den (seinen) absurden Existenzialismus. Johnsons Adaption des Bühnenbilds als Klausureinstieg leuchtet ein: Selbst das ›vordergründig‹ lokale Geschehen in der chinesischen Provinz wird von den Zeitläuften im Hintergrund beeinflusst, wenn nicht gar determiniert – und dieser Zustand ist zu hinterfragen. Dabei ist die chinesische Provinz in Brechts Drama ›nur‹ Stellvertreter, der exotische Schauplatz kaschiert die Parabel kaum. Brechts ›Exotismus‹ ist Mittel zum Zweck, eine Fassade als Bauteil des Verfremdungseffekts, die chinesische Larve einer Zeitdiagnose und -kritik, die für sich Allgemeingültigkeit beansprucht. Die ausführliche Betonung und Interpretation der Bühnengestaltung motiviert sich wahrscheinlich aus einer gründlichen Kenntnis des Brecht’schen Theaterkonzepts. In der Entwicklung der Bühnentechnik sah Brecht einen wesentlichen Faktor für ein modernes, episches Theater, in dem sie mehr als bloßes Requisit oder Dekoration war: »Die Bühne begann zu erzählen.«1379 Mit dieser kreativ-assoziativen Einleitung hat Johnson zwar noch keine Analyse vorgelegt, aber durchaus auf das Thema Brechts hingeführt. Mit einem etwas ungenau erinnerten Zitat steigt er nun in den Dramentext ein: »Es müssen jetzt endlich Leute namhaft gemacht werden« (23v). Bei Brecht lautet der entsprechende Passus aus dem Munde des ersten Gottes: »Wir müssen jetzt endlich Leute namhaft machen, die in der Lage sind, unsere Gebote zu halten.«1380 Damit folgt Johnson zwar nicht ganz dem Wortlaut, wohl aber paraphrasiert er den bestimmend-appellativen Duktus seiner literarischen Vorlage. Denn es hat Klagen gegeben: »Seit zweitausend Jahren geht dieses Geschrei, es gehe nicht weiter mit der Welt, so wie sie ist. Niemand auf ihr könne gut bleiben.«1381 Mit der sitzend« und ein Geschehen kommentierend, die Position eines »unabhängige[n] Beobachter[s]« vor Augen, der »mit elegischem Blick auf die gegenwärtigen Verhältnisse« schaut (Jan Knopf: Visualisierung und Interpretation von Gedichten am Beispiel von Brechts Der Radwechsel, in: Dreigroschenheft, 3/2010, S. 29–31, hier: S. 29f.). Eine solche Beobachterposition soll der Zuschauer von Brechts Stücken nach dem Willen des Autors einnehmen, einen solchen Standpunkt nimmt Johnson in seiner Klausur in Bezug auf Brechts Dramatik ein. 1379 Bertolt Brecht: Vergnügungstheater oder Lehrtheater?, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 22.1: Schriften 2, Teil 1, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin/Frankfurt am Main: Aufbau-Verlag/Suhrkamp 1993, S. 106–116, hier: S. 108. 1380 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 180. 1381 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 180. Nicht zufällig wird hier von ›zweitausend Jahren‹ gesprochen: Die chinesische Mythologie und ihre Götter sind deutlich älter, 2000 Jahre ›jung‹ hingegen ist das Christentum mitsamt seinem Sündenfall (begründet in der Abkehr des Menschen vom göttlichen Willen) und seinem Heilsversprechen, das auf diese Weise adressiert wird.
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Welt stimmt offenbar etwas Grundlegendes nicht: Seit Leibniz als TheodizeeProblem bekannt, wurde es in der Geistes- und Kulturgeschichte immer wieder verhandelt, vom Buch Hiob ebenso wie im Faust, und es erreicht im kommunistischen Laizismus und Agnostizismus sogar die Schnittstelle zwischen Basis und Überbau, wo die Verhältnisse auf die Ideenwelt treffen. Den drei Göttern auf Erden geht es darum, »genügend gute Menschen« zu finden, »die ein menschenwürdiges Dasein leben können« – ›menschenwürdig‹ meint offenbar, gemäß ihren Geboten.1382 Ohne von dieser göttlichen Mission explizit zu sprechen, spitzt Johnson dieses Anliegen zu, und behält dabei das Konfliktpotenzial im Blick: »Es werden Namen benötigt, Beispiele, statistisch verwertbare Beweise menschlicher Güte, angesichts der Standard Oil« (23v). Einmal mehr bedient sich Johnson des US-amerikanischen Konzerns in symbolisch konzentrierender Weise als Indiz für den Zustand der Welt beziehungsweise als Indikator für dessen Ursache. Diese Ursache des Zustandes der Welt liegt offenbar in der Unmöglichkeit begründet, gut zu sein. Da die »eigentlich berufeneren Institute[]« offenbar versagt haben, die göttlichen Gebote umzusetzen, findet sich ein Beispiel eines guten Menschen »an berufener und nötiger Stelle: Zwischen den Reiseberichten des Generalsekretärs der United Nations und dem Wasserträger vor einer Prostituierten« (23v). In dieser rätselhaften Lokalisierung verbirgt sich vermutlich einmal mehr eine Referenz auf das Rostocker Bühnenbild. Der ›gute Mensch‹ Shen Te steht vor der Zeitungskulisse und womöglich hinter dem Wasserverkäufer Wang, der zuvor die Bühne abgelaufen ist, um nach einem Quartier für die Götter zu suchen, das er schließlich bei Shen Te findet. Sie, die Prostituierte, ist die einzige, die den Göttern Unterkunft gewährt. Rätselhaft vage bleibt, wer die ›berufeneren Institute‹ sein sollen. Johnsons Wortwahl lässt allerdings Assoziationen zu, die auf eine institutionelle Religionspraxis verweisen, etwa die ›Institution Kirche‹. Im Sozialismus ist es dann der Fürsorgestaat, der die Kirchen von ihrer sozialen Funktion entbindet. Ob er hier schon mitgemeint ist, weil es ihm augenscheinlich nachhaltig nicht gelingt, die Bedürfnisse seiner Bürger zu befriedigen, sei dahingestellt. Ohne es zu markieren, offenbar einmal mehr im Vertrauen auf seinen Leser Hans Mayer, ruft Johnson nun einen Referenztext auf, indem er ihn zitiert: »Das war auch Mahadeva schon geschehn, bist du müd, ich will dich laben, lindern deiner Füsse Schmerz« (23v). Der Name ›Mahadeva‹ mag bei Mayer ein Stirnrunzeln provoziert haben, lautet er im Original doch ›Mahadöh‹; der ursprüngliche Verfasser, Goethe, hatte ihn lautlich seiner französischen Quelle nach-
1382 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 179.
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empfunden, wo er ›Mahadeu‹ genannt wird.1383 Und es fällt auf, dass Johnson bereits einleitend eine Elision einsetzt (»geschehn«), und so einen gleitenden Übergang von seiner sachlich-berichtenden Rede zum lyrischen Zitat schafft, das im Metrum der Vorlage an dieser Stelle vorliegt (»müd«).1384 In seiner Ballade Der Gott und die Bajadere behandelt Goethe das Motiv der ›gefallenen Frau‹; sie ist in Teilen der Handlung von Brechts Drama dem Urbild nach vergleichbar: Auch dort nimmt sich eine Prostituierte (Bajadere, eigentlich eine Tempeltänzerin) eines Gottes an, gewährt ihm Unterkunft, Dienst und Liebe, und wird schließlich von ihm auf die Probe gestellt, um sich für ihn zu opfern und so ihre Liebe oder Güte zu erweisen – zum ›Lohn‹ steigt er mit ihr in den Himmel auf. Die Ähnlichkeit beider Sujets mag Johnson zu diesem Zitat veranlasst haben, um damit eine Motivgeschichte anzudeuten und den semantischen Raum seiner Klausur zu erweitern: Sie soll weniger ein Testat als ein ›Gespräch unter Gebildeten‹ sein. Darüber hinaus hat Brecht selbst ein Sonett Über Goethes Gedicht »Der Gott und die Bajadere« verfasst,1385 womit sich Johnsons Zitat als doppelt markiert und zweifach motiviert zeigt, indem es nicht nur auf das tradierte Motiv verweist, sondern auch konkret auf die Auseinandersetzung Brechts mit dieser Diskurstradition des Sozialen im Göttlichen: Ging es »bei Goethe darum, daß die Bajadere […] über das sexuelle Erlebnis mit dem Gott zu ihrer ›Menschlichkeit‹ gebracht wird, und zwar in Anerkennung der sexuellen Natur des Menschen, so 1383 Goethe wurde durch die asiatischen Reiseberichte Pierre Sonnerats auf das Motiv der Bajadere aufmerksam, und so kam es bei ihm zum »Gott Mahadö [aus frz. Mahadieu = Mahadeva = Shiva]« (Volker Mertens: »Weltliteratur« – Indisches bei Goethe, in: Transkulturalität und Translation. Deutsche Literatur des Mittelalters im europäischen Kontext, hg. von Ingrid Kasten und Laura Auteri, Berlin: de Gruyter 2017, S. 317–330, hier: S. 319). Zwar schreibt Mertens ›Mahadieu‹, Sonnerat als Goethes Quelle schreibt allerdings ›Mahadeu‹, sowohl im französischen Original als auch in der deutschen Übersetzung (vgl. Pierre Sonnerat: Voyage aux Indes orientales et à la Chine. Fait par ordre du Roi, depuis 1774 jusqu’en 1781, Bd. 1, Paris 1782, S. 174 sowie ders., Reise nach Ostindien und China, auf Befehl des Königs unternommen vom Jahr 1774 bis 1781, Bd. 1, Zürich: Orell, Geßner, Füßli und Kompagnie 1783, S. 147). Schon Fritz Mauthner kritisierte diese Namensschreibung und leitet sein Totengespräch über Goethe mit einer Korrektur ein: »im Reiche Mahadöhs, des Herrn der Erde, der eigentlich Mahadewa heißt« (Fritz Mauthner: Goethe’s Apotheose, in: ders., Totengespräche, 2. Auflage, Berlin: Karl Schnabel 1906, S. 55–63, hier: S. 56). 1384 Johnson hat wortgetreu zitiert, bei Goethe lautet der Passus: »Bist du müd’, ich will dich laben, | Lindern deiner Füße Schmerz« (Johann Wolfgang von Goethe: Der Gott und die Bajadere. Indische Legende, in: ders., Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter u. a., Bd. 4.1: Wirkungen der Französischen Revolution 1791–1797, I, hg. von Reiner Wild, München: btb 2006, S. 872–874, hier: S. 872). 1385 Bertolt Brecht: Über Goethes Gedicht »Der Gott und die Bajadere«, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 11: Gedichte I. Sammlungen 1918– 1938, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin/Frankfurt am Main: Aufbau-Verlag/Suhrkamp 1988, S. 272f.
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holt Brecht den Vorgang in den banalen Alltag zurück.«1386 Goethes idealisierter ›Mahadöh‹ »ist bei Brecht nur mehr ein mieser Freier, der von Huren nichts anderes erwartet, als daß sie die Ware Liebe abliefern«.1387 Brecht selbst sah sein Sonett als ein »Beispiel« dafür, wie die Dichter verschiedener Epochen einander beerben. Mit Zorn sieht der Dichter einer späteren Epoche den Käufer der Liebe als Gott hingestellt. Sein Wunsch, geliebt zu werden, scheint ihm verurteilenswert und zum Lachen. Aber dem guten Leser wird das frühere Gedicht durch das spätere nicht verleidet.1388
Aber weder stiftet Brecht ein banales Wirklichkeitsdrama, noch ist seine Beobachtung zur Tradierung und Erweiterung literarischer Sujets im lyrischen Kanon trivial. Johnson führt dazu nichts weiter aus, nutzt aber, ganz im Sinne Brechts, die ›Realpräsenz‹ des älteren Gedichts im jüngeren zur Resonanzverstärkung: Das lyrische Intermezzo soll offenbar für und durch sich selbst sprechen und zugleich die ›Klassizität‹ Brechts erweisen.1389 Er deutet Mayer damit eine Kenntnis an, ohne sie, wie es sein Auftrag gewesen wäre, analytisch darzulegen. Das kann als – weiterer – Versuch gelten, seinem akademischen Lehrer auf Augenhöhe zu begegnen. Johnson spricht hier in einer Weise, die Mayer rückblickend als Gestus »einer Verbindung von Understatement, von Zitaten und Ehscho-Wissen« charakterisiert, »wo man sich in Andeutungen verständigen kann und weiss, der andere versteht es auch.«1390 Mit einem Gedankenstrich beendet Johnson das kurze wie sprechende Zwischenspiel und wechselt wieder auf die sachliche Ebene, indem er erneut »Beweise« menschlicher Güte verlangt, und zwar »glaubwürdige Beweise« für »vorhandene[] also glaubwürdige[] Umstände« (23v–24r). Brecht stellt als Ausgangspunkt der Konfliktentwicklung Shen Tes ›gutes Handeln‹ an den Anfang seines Stücks, Johnson fasst es zusammen: »Güte ist das Beispiel einer Prostituierten, die auf ihren Verdienst verzichtet um drei Fremden ein Nachtlager bieten zu können« (24r). Die Forderung der Brecht’schen Götter ist damit fürs Erste erfüllt, sie ziehen weiter, wollen Shen Tes Entwicklung aber im Auge behalten. Statt von Göttern spricht Johnson von ihnen nun als den 1386 Jan Knopf: Kritiker und Konstrukteur der erlesenen Kunstgebilde. Zur Goethe-Rezeption im Werk Bertolt Brechts am Beispiels von Der Gott und die Bajadere, in: Spuren, Signaturen, Spiegelungen. Zur Goethe-Rezeption in Europa, hg. von Bernhard Beutler und Anke Bosse, Köln: Böhlau 2000, S. 367–379, hier: S. 373. 1387 Knopf, Kritiker und Konstrukteur der erlesenen Kunstgebilde (Anm. 1386), S. 377. 1388 Bertolt Brecht Nachlass, zit. nach: ders., Werke, Bd. 11 (Anm. 1385), S. 392f. 1389 Vgl. zur »Realpräsenz« eines Faust-Zitats in einem Goethe-Gedicht Lutz Hagestedt: »Anschauliches Denken mit starker Hirnstammkomponente«. Gottfried Benns poetische Artistik und assoziative Poetik, in: Selbstreferenz in der Kunst. Formen und Funktionen einer ästhetischen Konstante. Festschrift für Claus-Michael Ort, hg. von Nikolas Buck und Jill Thielsen, Baden-Baden: Ergon 2020, S. 291–313. 1390 Mayer, Unerwartete Begebenheit (Anm. 88), S. 42.
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»Sachverständigen« (24r) – sie erlauben sich ein Urteil, ohne einzugreifen. Ihr einziger tatsächlicher Eingriff, das Geld, das sie Shen Te als Miete und wohl auch als Lohn ihrer Güte zahlen, führt die Protagonistin erst auf ihren krisenreichen Pfad als Kleinstunternehmerin, maskierter Kapitalist, Haushaltsvorstand, Verliebte und Verlobte. Johnson pointiert ihr Dilemma mit einer entsprechenden Paradoxie: »Wie kann man gut sein, wenn man nicht mindestens einen Tabakladen hat? Aber wie kann man gut sein, wenn man sogar einen Tabakladen hat?« (24r). In der von Brecht gezeichneten Welt, in der der Mensch ausschließlich nach seinem ökonomischen Erfolg gesellschaftlich taxiert wird, ist die Antwort auf Johnsons Fragen abhängig vom wirtschaftlichen Standpunkt des Einzelnen – These und Antithese erfahren hier keine Synthese. Kaum hat Shen Te ihren Tabakladen, stehen auch schon alte Bekannte in ihrer Tür und verlangen nach Unterkunft und Güte, wohlwissend, dass sie unter umgekehrten Vorzeichen in der gleichen Situation anders gehandelt haben und wieder handeln würden; Shen Te berichtet dem Publikum: »Als mein bißchen Geld ausging, hatten sie mich auf die Straße gesetzt.«1391 Die ungebetenen Gäste raten ihr sogar zum Betrug, sprich zur Erfindung des vorgeblichen Vetters Shui Ta, um den eigenen Vorteil zu wahren. In dieser Szene erkennt Johnson eine Qualität des Stücks, die es herauszustellen gilt; die »unverschämte Anmassung der Eindringlinge« fordere »Wut heraus, und zwar »alle Zeit« (24r). Um dies zu betonen, bedient er sich unvermittelt der englischen Floskel »believe it or not it’s true« (24r). Sie steht zwar in keinem Zusammenhang mit Brecht oder dessen Stück, lässt aber den Klausurleser aufmerken, indem die Pointierung nicht nur durch die Wiederholung von ›alle Zeit‹ erreicht wird, sondern auch durch die Unterbrechung des Leseflusses mittels der ›Weltsprache‹ des erklärten Klassenfeinds. Wenn die »unverschämte Anmassung« nun »alle Zeit« für schlecht empfunden wird, muss ein ›alle Zeit‹ gültiger moralischer Konsens bestehen, der zwischen schlecht und gut zu unterscheiden erlaubt. Der Leser bzw. Zuschauer respektiert Shen Tes Bemühen, gut zu sein und folgt so ihrer Verwandlung in den Vetter, die als notwendig präsentiert wird, damit ›das Gute‹ gegenüber ›dem Schlechten‹ bestehen könne. Denn das sei »so sehr das einzig Hilfreiche, dass man gar nicht dazu kommt, Shen Te Unredlichkeit vorzuwerfen« (24r). Umständlich verklausuliert verpackt Johnson hier seine Beobachtung einer Variante der durch den Zweck geheiligten Mittel. Darin vermischen sich analytische Ansätze mit einer im weiteren Sinne literaturkritischen Wertung. Johnson attestiert Brechts Drama die glaubwürdige Konstruktion eines überzeitlichen menschlich-allgemeingültigen Konflikts 1391 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 186.
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– gemeinhin ein literarisches Qualitätsmerkmal –, und daraus folgend eine zeitlose Wirkung auf das Publikum. Shen Te vermag sich nur durch die Verwandlung in Shui Ta vor ihren Bittstellern zu bewahren, und diese Notwendigkeit leuchtet dem Publikum ein. Stellvertretend für das Publikum und sich selbst spricht Johnson allgemein von »man«. Zugleich kann diese Beobachtung als Kotau des angehenden Schriftstellers vor Brecht gelesen werden, dem es in seinem Drama gelingt, die Wendung seiner Protagonistin ›zum Schlechten‹ derart folgerichtig und stimmig zu gestalten, dass sie vom Publikum nicht verurteilt, sondern bedauernd, vielleicht bekräftigend mitvollzogen werden kann. Das moralische Dilemma zeigt sich auch sprachlich: So wie ›man‹ eine unspezifische Allgemeinheit adressiert, so auch dessen Negation ›niemand‹1392 – in beiden Fällen ist nicht eindeutig, wer damit gemeint ist, auf welcher Ebene hier überhaupt gesprochen wird: »Niemand sagt sie sei ein guter Mensch oder sie sei das nicht, das ist ganz und gar uninteressant, sie hat einen Tabakladen, das ist es« (24r). Durch seine Feststellung ›sagt‹ zumindest Johnson etwas, er wiederholt das Dilemma Shen Tes. Letztere wird im Drama sehr wohl von verschiedenen Figuren unterschiedlich bewertet: Mi Tzü, die Hausbesitzerin und Vermieterin Shen Tes, gibt sich über ihren »Lebenswandel« besorgt und verlangt daher »die Halbjahresmiete von 200 Silberdollar im voraus«.1393 Die ungebetenen Gäste im Tabakladen hielten sie »für einen guten Menschen«, zumindest solange Shen Te ihnen Obdach gewährte.1394 Die Frage, ob eine Prostituierte in wechselnden Rollen ein guter Mensch sein kann oder nicht, ist eine zentrale Frage des Stücks. Da es Brecht mit seinem epischen Theater aber nicht um das Aufzeigen von Lösungen oder Antworten oder gar um einen kathartischen Effekt geht, liefert er dafür kein Patentrezept. Stattdessen wird eine konkrete Situation geschaffen, in der diese Frage verhandelt wird: »sie hat einen Tabakladen, das ist es« (24r). Es obliegt dem Publikum, selbst über das Gezeigte zu reflektieren und sich über die wechselnden Konstellationen ein Urteil zu bilden. Johnsons ›Niemand‹ meint das Stück als Ganzes, das sich einer Bewertung seiner Figuren entzieht, es ist ein »Schau-Spiel, ist Beispielsfaktum« (25r), wie er es nennt, das zur Prüfung und Beurteilung dem Zuschauer vorgeführt wird, aber selbst keine explizite Wertung vornimmt. Wollte man Johnsons Klausur gliedern, so wären bis hierin die Exposition und der Beginn der dramatischen Handlung abgehandelt. Er hat in das Thema teils 1392 Indem er sich ›Niemand‹ (›Outis‹) nannte, konnte sich schon Odysseus vor dem Kyklopen Polyphem retten, Jules Vernes Weltmeerfahrer ist mit gleicher Bedeutung nach der lat. Form ›Nemo‹ benannt. Stellvertretend für viele weitere, sollen diese beiden prominenten Beispiele andeuten, dass mit diesem Terminus, seiner Eigenschaft verallgemeinernder Unbestimmtheit, oft ein Vexierspiel ermöglicht und intendiert wird, nicht nur, um etwa Wahrheiten oder Absichten zu verschleiern, sondern auch, um gezielt herauszufordern. 1393 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 200f. 1394 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 196.
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assoziativ, teils – sehr vermittelt – konkret eingeleitet und den dramatischen Konflikt angedeutet. Dieser entfaltet sich weiter durch »die Zwischenfälle von Liebe« (24r), wie Johnson es nennt, die er neben den Göttern als notwendige Bedingung, als »conditio sine qua non« (24r) des Dramas einschätzt. Knapp zeichnet er die entsprechende Szenerie nach: »da ist ein Park, da ist eine Bank unter überhängendem Strauch« (24r–v). Auch hier wird wahrscheinlich Brechts Text mit der von Johnson besuchten Rostocker Interpretation vermischt. Im Nebentext ist die dritte Szene als »Abend im Stadtpark« betitelt, dem »überhängendem Strauch« (24v) bei Johnson entspricht wohl die »große Weide« bei Brecht, in dessen Paratext von einer Bank allerdings keine Rede ist, der stellungslose Flieger Sun und Shen Te setzen sich schlicht unter den Weidenbaum.1395 Wie kaum ein anderes Thema ist die Liebe, in all ihren Varianten und Verwicklungen, wohl eine der wesentlichen Konstanten, eine ›conditio sine qua non‹ der Literatur. Johnson zieht ein vergleichbar altes ästhetisches Kriterium heran, um Brechts Variation dieses Sujets zu beurteilen. Für die ›Liebesszene‹ im Park stellt er fest, »dass hier irgend etwas nicht stimmt«, ja sogar, dass es »so unstimmig […] selten gewesen« sei und »immer unstimmiger« werde (24v). Schon Dichter der Antike verlangten in ihren Regelpoetiken als »Prinzip guter Dichtung« danach, dass die Darstellung der Figuren und der mit ihnen verbundenen Handlung »in jedem Fall in sich stimmig sein« sollen: »Ausdrucksweise und Lebensstand müssen ebenso zusammenpassen wie es eine innere Stimmigkeit, und das heißt eine Wahrscheinlichkeit der Abfolge der Ereignisse in der Handlungsstruktur geben müsse.«1396 Bereits Aristoteles forderte:
1395 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 204 [Hervorh. im Original]; vgl. ebd., S. 205. Im Bühnenentwurf für die spätere Berliner Inszenierung war unter dem dann kahlen Baum eine Bank für das Paar vorgesehen. Und auch wenn Dieckmann behauptet, sie »fiel zuletzt fort« (Dieckmann, Karl von Appens Bühnenbilder (Anm. 1372), S. 114), existieren doch mehrere Fotos aus Berlin, die ihr Vorhandensein dokumentieren (vgl. Abraham Pisarek: Szenenbilder aus »Der gute Mensch von Sezuan« von Bertolt Brecht unter der Mitarbeit von Ruth Berlau und Margarete Steffin. Berliner Ensemble 1957, URL: http:// www.deutschefotothek.de/documents/obj/71417128, Aufn.-Nr.: df_pk_0004438_c_029, df_pk_0004438_c_030 und df_pk_000 4438_c_030a (Zugriff: 15. 7. 2021)). Zu vermuten steht, dass in Rostock ebenfalls eine Bank verwendet wurde. 1396 Gyburg Uhlmann: Poetik in der Antike, in: Grundthemen der Literaturwissenschaft: Poetik und Poetizität, hg. von Ralf Simon, Berlin: de Gruyter 2018, S. 61–85, hier: S. 78. Uhlmanns Feststellung bezieht sich konkret auf Horaz, gilt aber über ihn hinaus. Horaz’ Forderung entspricht durchaus der aristotelischen: »Falls du Unbekanntes auf die Bühne bringst und es wagst, eine neue Person zu gestalten, so bleibe sie bis zum Ende, wie sie anfangs auftrat, und stimme mit sich selbst überein« (Horaz [Quintus Horatius Flaccus]: Ars Poetica. Die Dichtkunst. Lateinisch/ Deutsch, übersetzt und mit einem Nachwort hg. von Eckart Schäfer, Stuttgart: Reclam 2017, S. 15).
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Man muß auch bei den Charakteren – wie bei der Zusammenfügung der Geschehnisse – stets auf die Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit bedacht sein, d. h. darauf, daß es notwendig oder wahrscheinlich ist, daß eine derartige Person derartiges sagt oder tut, und daß das eine mit Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit auf das andere folgt. Es ist offenkundig, daß auch die Lösung der Handlung aus der Handlung selbst hervorgehen muß.1397
Die von Johnson Brecht mit bemerkenswerter Klimax vorgeworfene Unstimmigkeit zielt aber offenbar nicht auf die dramatische Komposition des Autors, sondern vielmehr auf das von ihm durchaus ›stimmig‹ entworfene Missverhältnis zwischen Shen Te und Sun. Die »immanente Stimmigkeit« des Stücks wird nämlich nicht tangiert, im Gegenteil: »Daß Kunst im Begriff des Schönen nicht aufgeht sondern, um ihn zu erfüllen, des Häßlichen als seiner Negation bedurfte, ist ein Gemeinplatz.«1398 Dieses kunsthistorische Resümee Adornos hilft, die von Johnson adressierte Unstimmigkeit zu bestimmen. Mit ihr verhält es sich analog, denn was »nur und durchaus stimmt, stimmt nicht.«1399 So ist die von Johnson festgestellte Unstimmigkeit Teil jener »Stimmigkeit, durch welche die Kunstwerke an Wahrheit partizipieren«.1400 In der von Brecht entworfenen Welt han1397 Aristoteles, Poetik (Anm. 1308), S. 49. 1398 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 7, 5. Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 74. 1399 Adorno, Ästhetische Theorie (Anm. 1398), S. 281. Es ist hier nicht der Ort für eine ausführliche Begriffsgeschichte. In aller Kürze lässt sich sagen, dass Horaz’ Stimmigkeit eng mit Aristoteles’ Wahrscheinlichkeit verwandt ist. Beider Poetiken galten bis in die Frühe Neuzeit als Maßstäbe ›guter Literatur‹ (vgl. Barbara Bauer: Aptum, Decorum, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. I: A–G, hg. von Klaus Weimar, Berlin: de Gruyter 2007, S. 115–119). Seit dem 17. Jahrhundert rückte vor allem die Wahrscheinlichkeit in den Fokus literarischer – und dann auch literaturwissenschaftlicher – Diskussionen, sowohl hinsichtlich des Verhältnisses eines Werkes zur Wirklichkeit als auch im Hinblick auf Sujets und Figuren, sodass schließlich »die unstimmige Behandlung der Realität sogar zu einklagbaren Verbotsforderungen führen« konnte (Bernd W. Seiler: Wahrscheinlichkeit, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Bd. III: P–Z, hg. von Jan-Dirk Müller, Berlin: de Gruyter 2007, S. 813–815, hier: S. 814). Kommt auch Seiler nicht ganz um die Stimmigkeit herum, so führt sie doch, wenigstens aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, heute ein Nischendasein. Adorno widmet ihr zumindest am Rande Aufmerksamkeit, freilich ohne eingehendere Begriffsbestimmung. 1400 Adorno, Ästhetische Theorie (Anm. 1398), S. 252. In seiner späteren autobiographischpoetologischen Selbsterklärung wird Johnson auf den Begriff der Stimmigkeit zurückkommen. So berichtet er von frühen kindlichen Leseerlebnissen in dem »wahnwitzigen Wissen, dass die dort geschilderten Personen unwahrscheinlich waren«, und er »nur notdürftig beruhigt von der mechanischen Stimmigkeit« gewesen sei, »in der die Erzählung jeweils sich zusammenfasste« (Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 34). Und in einer Reihe mit den Regelpoetiken steht er an anderer Stelle, wenn er hinsichtlich seiner Figuren fordert: »Sie müssen freiwillig auftreten, in sich stimmig aus eigenem, in ihrem eigenen Recht« (ebd., S. 127).
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deln seine Figuren gemäß ihrer vorgestellten Charaktere plausibel, stimmig: Shen Te ist auf dem Weg, um sich notgedrungen mit einem Heiratskandidaten zu treffen, der ihre wirtschaftliche Existenz langfristig absichern soll. Die von ihr so sehr gewünschte ›wahre Liebe‹ erwartet sie nicht. Sun hingegen ist im Begriff sich zu erhängen, da ihm Geld fehlt, um sich in eine Anstellung einzukaufen. In Shen Tes Liebe zu ihm sieht er die Möglichkeit, an das benötigte Geld zu kommen. Hierin liegt das Moment der Unstimmigkeit, indem die Hoffnung auf Liebe von der Gier nach Geld enttäuscht wird. ›Locus amoenus‹ und ›locus terribilis‹ fallen hier in eins. Weitere Hilfestellung bei der näheren Bestimmung der Unstimmigkeit können die von Johnson aufgerufenen Autoren geben, auf die er sich an dieser Stelle beruft: »welcher Mansfield und welchem G. B. Shaw wäre nicht aufgefallen, dass hier irgend etwas nicht stimmt« (24v). Die Auswahl seiner Gewährsleute ist beachtenswert und klärungsbedürftig. Durchaus naheliegend und verhältnismäßig konventionell gibt sich die Nennung des Literaturnobelpreisträgers (1925) George Bernard Shaw. Den modernen englischen Dramatiker stellte man schon zu Johnsons Schulzeit in den Lehrbüchern der jungen Republik als »Advokaten des Sozialismus« heraus.1401 Shaw zeige »mit geistvollem Witz und schonungsloser Offenheit die Schwächen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung im Zeitalter des Imperialismus«.1402 Umstandslos ließe sich diese Charakterisierung des Weimarer Lexikons der Weltliteratur auch auf Brecht und sein Sezuan-Stück münzen. Während Shaw seine Intentionen oft in Vorreden oder vermittelt durch Raisonneur-Figuren explizit darlegte, nutzte Brecht die gestalterischen Mittel seines epischen Theaters, um sein Publikum auf einer Metaebene zu erreichen und zu unterrichten; beide Autoren betrieben auf ihre Art eine Littérature engagée. Und im Falle von Der gute Mensch von Sezuan lassen sich noch konkretere Verbindungslinien zu Shaw ziehen: So erklärt die erfolgreiche Bordellbetreiberin Kitty Warren in Mrs. Warren’s Profession (1893) ihrer Tochter, dass die Prostitution die »einzige erfolgversprechende Karriere für hübsche, aber arme Mädchen« sei, »da die moderne kapitalistische Industriegesellschaft der Frau nur niedere und schlechtbezahlte Arbeit zugestehe«; darüber hinaus sei auch die Ehe nur die »bürgerliche Form ›käuflicher Liebe‹«.1403 Neben diesen motivisch-thematischen Verbindungen mag es noch einen ganz pragmatischen Grund für die Nennung 1401 Patrick Wagner: Englischunterricht in der DDR im Spiegel der Lehrwerke, Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2016, S. 100. 1402 [Art.] Shaw, George Bernard, in: Lexikon der Weltliteratur. Fremdsprachige Schriftsteller und anonyme Werke von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von Gerhard Steiner, Weimar: Volksverlag 1963, S. 626f., hier: S. 626. 1403 Walter Kluge: Mrs. Warren’s Profession, in: Kindlers Neues Literaturlexikon, hg. von Walter Jens, Bd. 15: Scho–St, München: Kindler 1991, S. 380f., hier: S. 381.
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Shaws gegeben haben: Im Aufbau-Verlag sollte 1956 eine vierbändige Ausgabe seiner Dramatischen Werke erscheinen, und zwar mit einem Vorwort von Hans Mayer. Darin hebt Mayer die »episch-musikalisch-leitmotivischen Bestandteile der Shaw-Dramatik« hervor, in der überdies Figuren auftreten, die in »gewissem Maße als Sprachrohr des Verfassers […] dienen« – ohne es auszusprechen, erklärt Mayer hier die Nähe zwischen Shaw und Brecht.1404 Womöglich, vermutlich sogar: wahrscheinlich hat der Dozent mit seinen Studenten darüber gesprochen, zumal es einige Verzögerungen bei der Publikation gab.1405 Weniger augenfällig gestaltet sich die von Johnson implizierte Verbindung zwischen Brecht und Katherine Mansfield. Die neuseeländisch-britische Autorin war zur Zeit der Klausur kein prominentes Thema, weder in der (literarischen) Öffentlichkeit noch im literaturwissenschaftlichen Diskurs der DDR oder im Curriculum der Karl-Marx-Universität. Erst 1977 erschien in der DDR eine Auswahl ihrer Kurzgeschichten, »die 1981 in eine zweibändige Werkausgabe mündete«, als »erster bedeutsamer Versuch des Insel-Verlags, den Leser mit modernen künstlerischen Anschauungen und Formen britischer Schreibkunst bekannt zu machen.«1406 So konnte der Name Mansfield in der Klausur von 1956 ein Wink an den Weltliteraten Mayer sein, dass sein Kandidat über den Tellerrand des sozialistischen Kulturerbes hinauszublicken vermochte. Diese Autorin hat in ihren Kurzgeschichten Charakter- und Milieustudien versammelt, die 1404 Hans Mayer: Der Dramatiker Bernard Shaw, in: Bernard Shaw: Dramatische Werke, Bd. I, autorisierte Übersetzung von Siegfried Trebitsch, Berlin: Aufbau-Verlag 1956, S. 7–24, hier: S. 19f. Knapp 20 Jahre später wird Mayer in seinem Aussenseiter-Buch (1975) deutlicher: »Bertolt Brecht hat viel von Shaw gehalten« (Hans Mayer: Aussenseiter, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 54 [Hervorh. im Original]). Wenngleich er diese Einschätzung dann an anderer Stelle wiederum relativiert, indem sich Brecht etwa über Shaws »Fabier-Sozialismus« amüsiert habe (vgl. Mayer, Brecht (Anm. 1357), S. 141f.). 1405 Das Titelblatt der Shaw-Ausgabe trägt das Jahr 1956. Allerdings hat es offenbar Schwierigkeiten mit der erforderlichen Druckgenehmigung und der damit verbundenen Papierzuteilung gegeben. Das entsprechende Formular trägt den handschriftlichen Vermerk: »DG [Druckgenehmigung; AK] gilt nicht für Einleitung!« (Antrag des Aufbau-Verlags Berlin vom 12. 3. 1956 auf Erteilung einer Druckgenehmigung für Bernard Shaw: Dramatische Werke Band I–IV, in: BArch, DR 1/5076a, Bl. 327–330, hier: Bl. 327). Die Genehmigung wurde erst zum Jahresende 1956 erteilt (vgl. ebd., Bl. 329). Für das verspätete Erscheinen spricht außerdem, dass die Publikation erst 1957 in der Presse thematisiert (vgl. Ro.: Ein tiefer Atemzug Weltliteratur. Messebummel durch das Hansa-Haus, in: Neue Zeit, 13. 3. 1957, S. 4) bzw. eingehend besprochen wird (vgl. Claus Hammel: Dramatische Werke von G.B.S., in: Neues Deutschland, 20. 7. 1957, S. 8 – hier wird 1957 als Erscheinungsjahr genannt). Überdies nahm Mayer sein Vorwort zu dieser Ausgabe in seine Sammlung Deutsche Literatur und Weltliteratur von 1957 auf und vermerkt im Anhang: »Der Aufsatz ist bisher nicht veröffentlicht« (Mayer, Deutsche Literatur und Weltliteratur. Reden und Aufsätze (Anm. 370), S. 721). 1406 Günter Gentsch: Britische Literatur in den DDR-Verlagen. Insel, Kiepenheuer, List und Dietrich’sche Verlagsbuchhandlung – Vielfalt und Grenzen der Programmgestaltung, in: Körte, Schaur, Welz, Britische Literatur in der DDR (Anm. 643), S. 23–31, hier: S. 28.
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subtil gesellschaftliche und individuell menschliche Verhaltensweisen, Regungen und Motivationen offenlegen und so den anfänglichen Schein vermeintlich heiler Idyllen als Illusion entlarven; oft in Kontexten eines sozialen Gefälles. Zweifelsohne ist der von Johnson geschlagene Bogen von Mansfield zu Brecht weit und gewagt: »Das geheime Thema aller Geschichten« Mansfields »ist die Enthüllung des Charakters oder des Grades der Reife eines Menschen anläßlich einer bestimmten Situation«.1407 Wie in Brechts Parkszene, so gibt es auch in Mansfields Erzählungen zumeist keinen »dramatischen äußeren Wendepunkt, sondern höchstens eine plötzliche Erhellung von Charakteren oder menschlichen Situationen«.1408 Und so wie Brecht Szenen oder Situationen auf die Bühne bringt, um sie dem Urteil des Publikums zu überlassen, so kommt auch bei Mansfield weder eine »auktoriale Kommentierung« noch eine »moralische Einordnung« zum Zug.1409 Nicht zuletzt ist dieser Autorentrias eigen, dass sie bevorzugt weibliche Figuren in den Fokus rückt. Johnson betreibt hier also kein ›Namedropping‹, sondern verortet Brecht im Wissen um einen kompetenten Leser in einer literarhistorischen und ästhetischen Tradition. Die attestierte Unstimmigkeit ist Mittel der ›Erzählung‹, sie hat ihre Ursachen sowohl in der individuellen Figurenkonstellation wie auch in der gegebenen gesellschaftlichen Situation; und schließlich in einer nachweisbar dezidierten Intention ihres Verfassers. Wie Shaw tritt Brecht mit einem politisierten Programm auf die Bühne, wie Mansfield enthebt er sich dessen Wertung. Die von Johnson ebenso knapp wie konkret behandelte ›Liebesszene‹ ist richtungsweisend für sein weiteres Vorgehen. Die ihm aufgetragene Analyse wird von ihm als ein Gemenge von Schlaglichtern ausgeführt, in dem er auf konkrete Szenen und Situationen nur anspielt, dabei die dramatische Methode in Andeutungen herausstellt und den von Brecht adressierten wirtschaftspolitischen Systemkonflikt als durchgängig vorhandenen Hintergrund mitträgt. 1407 Jörg Drews: The Garden Party and other stories, in: Kindlers Neues Literaturlexikon, hg. von Walter Jens, Bd. 11: Ma–Mo, München: Kindler 1991, S. 101f., hier: S. 101. 1408 Drews, The Garden Party and other stories (Anm. 1407), S. 101. 1409 Hans Ulrich Seeber: Vormoderne und Moderne, in: Englische Literaturgeschichte, hg. von Hans Ulrich Seeber, 3., erweiterte Auflage, Stuttgart: Metzler 1999, S. 306–351, hier: S. 347. Spekulation muss an dieser Stelle bleiben, ob Johnson von Brechts Dramen-Fragment Dan Drew wusste und so noch einen Nebensinn transportieren wollte. Das Stück sollte den Ausbau der nordamerikanischen Eisenbahn und die damit verbundenen Aktiengeschäfte zum Thema haben. Darin gibt es die Figur der Josy Mansfield, die als Prostituierte die Geliebte eines Spekulanten wird und am Ende offenbar alles verliert (vgl. Bertolt Brecht: Dan Drew, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 10.1: Stückfragmente und Stückprojekte Teil I, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin/ Frankfurt am Main: Aufbau-Verlag/Suhrkamp 1997, S. 334–385). Brecht hat diese Figur offenbar an die Biographie von Helen Josephine Mansfield (1847–1931) angelehnt, die sich gern mit reichen Geliebten umgab.
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Was in dem Stück gezeigt wird, ist durch die Art und Weise des Zeigens in Johnsons Augen »eine wissenschaftliche Demonstration« von (angeblich) »gesetzmässigen Notwendigkeiten« (24v). Johnson referiert mit diesen Termini offenbar auf die marxistisch-leninistische Geschichtsphilosophie, die gesellschaftliche Gegebenheiten und Prozesse mit quasi ›naturgesetzmäßig‹ wirkenden Faktoren begründen zu können behauptet. Brechts Schauspiel kann in diesem Sinne als ›wissenschaftliche Demonstration‹ verstanden werden, indem es genau diese teleologischen Prozesse vor Augen führt, durch die »ein guter Mensch in Sezuan zum Räuber und Dieb« (24v) werden muss. Johnsons negative Dialektik und eigentümlich paradox wirkende Rhetorik ist überdies dazu geeignet, das sich daraus ergebende Dilemma zu unterstreichen. Denn die von ihm aufgeworfene und nachvollziehbare Frage, »wie hat das kommen können«, erklärt er sogleich für ungültig: »es hat gar nicht kommen können«; stattdessen bleibt nur die Feststellung: »es ist so gekommen« (24v). Im Verlauf des Dramas wird Shen Tes Entwicklung zu Shui Ta für das Publikum nachvollziehbar gezeigt, das gesamte Setting einer offensichtlich zutiefst kapitalistischen Gesellschaft bildet dafür den Rahmen; und in diesem war, so offenbar Johnsons Lesart, gar kein anderer Ausgang der Ereignisfolge möglich. Shen Tes Verzweiflung ist mehr als deutlich, zweimal wiederholt Johnson die implizit in Brechts Drama permanent anwesende Frage: »was soll sie tun« (25r). Anschließend kommt er auf die ›Leistungsfähigkeit‹ und die Besonderheiten des epischen Theaters zu sprechen. Denn das Drama komme nun zu einem Punkt »in seiner äusseren Form«, ab dem es »dem Publikum Naivität« nicht mehr »gestattete« (25r). Damit referiert Johnson auf einen Kerngedanken des epischen Theaters. Es geht Brecht darum, die Illusion des Schauspiels zu durchbrechen und dem Zuschauer bewusst zu machen, dass er eine beobachtende Rolle einnimmt, nicht mitfühlen soll mit den gezeigten Figuren und ihren Handlungen, sondern als außenstehender Betrachter sich eine eigene Meinung auf dieser Grundlage zu bilden hat. »Die Menschen gehen ins Theater«, so Brecht über die traditionelle Form, »um mitgerissen, gebannt, beeindruckt« etc. zu werden, um »aus ihrer eigenen Zeit entführt, mit Illusionen versehen zu werden.«1410 Ein neues Theater solle nun versuchen, »anstelle der Einfühlung die Verfremdung herbeizuführen«, damit der Zuschauer dem Gezeigten mit »Staunen und Neugierde« begegnen kann, statt mit einer Figur oder Szene mitzufühlen und den Regungen auf der Bühne emotional zu folgen.1411 Damit nehme der Zuschauer eine neue Haltung gegenüber dem jeweiligen Stück ein: »Er sieht: dieser Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Er ist aber nicht nur so 1410 Bertolt Brecht: Über experimentelles Theater, in: ders., Werke, Bd. 22.1 (Anm. 1379), S. 540–557, hier: S. 553. 1411 Brecht, Über experimentelles Theater (Anm. 1410), S. 554 [Hervorh. im Original].
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vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders, so wie er sein könnte, und auch die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind.«1412 Dieses Theater ist, so Johnson, »reine Demonstration« (25r). Dabei hat er trotz aller Neuerungen sehr wohl die Tradition im Blick, aus der heraus Brecht sein Theater entwickelte: »nach klassischem Vorbild, der Chor steht in der linken vorderen Bühnenecke und erzählt den Hergang« (25r). Ähnlich wie bei Goethes Bajadere behauptet Johnson hier die Realpräsenz des klassischen Theaters im ›epischen‹ Nachfolgemodell. Daran ist richtig, dass bereits im antiken Drama ein Chor immer dann auftrat, wenn es galt, vor allem nicht darstellbare Ereignisse zu kommentieren. Dieser Chor wandte sich aber noch nicht explizit an das Publikum in einer Weise, in der er auf einer Metaebene über das Schauspiel hinaustritt. Genau das geschieht hingegen in Brechts Theatermodell, in dem zwar auch ein Chor im traditionellen Sinne auftritt, der aber funktional erweitert wird. Durch den Verweis auf eine konkrete Szene verdeutlicht Johnson, wie sich der klassische Chor bei Brecht zu einem aus seiner Rolle tretenden und über das Gezeigte und auch nicht Gezeigte referierenden und reflektierenden Figurenensemble wandelt. Am Ende der achten Szene singen die Arbeiter von Shui Tas Tabakfabrik das Lied vom achten Elefanten.1413 Als von den Lohnabhängigen gesungenes Protestlied gegen ihren Aufseher gehört es zur vorführenden Schauspielebene des Stücks. Wenngleich Brecht damit freilich ihr bedauernswertes Schicksal illustrieren wollte, indem Aufseher Sun – der einstige Flieger und Heiratskandidat – mitsingt und mit dem Liedtakt auch den Arbeitstakt erhöht: »Die Szene zeigt eher die Schwäche des Widerstandes als seine Stärke und sollte dadurch tragisch wirken« – so Brecht.1414 Im Anschluss an das Lied wendet sich Suns Mutter in einem kurzen Monolog direkt an das Publikum und »erzählt den Hergang, in dem der Flieger erzogen wurde, nicht zur Güte aber zu einer hier und jetzt anständigen Verwertbarkeit« (25r).1415 So gibt es bei Brecht also durchaus einen Chor im ›klassischen Sinne‹, er erfährt aber eine Erweiterung durch die anschließende Rede der funktional über die antike Chorfigur hinausgehenden Mutter. Ob der ›Chor der Arbeiter‹ in Rostock ›in der linken vorderen Bühnenecke‹ gestanden hat, ist nicht mehr zu ermitteln. In Anbetracht von Johnsons sonstiger Genauigkeit, kann es aber unterstellt werden. Diese Genauigkeit zeigt sich an dieser Stelle noch in anderer Form, nämlich in Johnsons gezielt gesetzten Formulierungen. Denn die scheinbar positive Wertung, Sun sei nun zu ›anständiger 1412 Brecht, Über experimentelles Theater (Anm. 1410), S. 555. 1413 Vgl. Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 257f. 1414 Bertolt Brecht an Horst Gnekow, 18. 4. 1955, in: Bertolt Brecht: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 30: Briefe 3, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin/ Frankfurt am Main: Aufbau-Verlag/Suhrkamp 1998, S. 331 [Hervorh. im Original]. 1415 Vgl. Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 258.
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Verwertbarkeit‹ erzogen worden, verschleiert Johnsons tatsächliche Aussage, dass diese Verwertbarkeit nur ›hier und jetzt‹ gelte, also unter den kritikwürdigen Bedingungen der Tabakfabrik in Sezuan; von der funktional-technokratischen Konnotation des Terminus in Bezug zu einem Menschen einmal abgesehen. Tatsächlich kommt Sun nur durch Denunziation seines Vorgängers an seinen Posten und treibt die Arbeiter zu mehr Arbeit an, um sich zu profilieren. All dies ist laut Johnson »Schau-Spiel, ist Beispielsfaktum zu wissenschaftlicher Vorschrift« (25r), womit die marxistische Gesellschaftstheorie und ihr historischer Materialismus gemeint sein dürften, die den ideologischen Hintergrund bilden. In Johnsons Lesart führt Brechts Drama die unvermeidlichen Konsequenzen einer kapitalistischen Gesellschaftsordnung vor Augen. Und in noch ganz anderer Hinsicht ist Der Gute Mensch von Sezuan in seinen Augen ein »Schulbeispiel«, es stelle das »Wesen epischen Theaters eindringlicher dar als das Beispiel vom Verkehrsunfall« (25r). Das ›Beispiel vom Verkehrsunfall‹ hatte Brecht in seinem Essay Die Strassenszene (1940) dazu verwendet, die Prinzipien des epischen Theaters zu erläutern: Der Zeuge eines Verkehrsunfalls berichte von dem Unfall mit einer Mischung aus Erzählen und Nachspielen, die den »Charakter der Wiederholung« habe; niemand würde diesen Bericht für das ursprüngliche Ereignis halten.1416 In gleicher Weise solle das epische Theater agieren und nicht verbergen, »daß es Theater ist, so wie die Demonstration an der Straßenecke nicht verbirgt, daß sie Demonstration« ist; beide verbinde, dass ihnen »die Bereitung der Illusion« fehle.1417 Um das zu erreichen, müsse das epische Theater geeignete Maßnahmen ergreifen, zu denen vor allem der Verfremdungseffekt gehöre, eine »Technik, mit der darzustellenden Vorgängen zwischen Menschen der Stempel des Auffallenden, des der Erklärung Bedürftigen, nicht Selbstverständlichen, nicht einfach Natürlichen verliehen werden kann.«1418 Und wie der Straßenszene müsse der epischen Theaterszene eigen sein, dass sie »gesellschaftlich praktische Bedeutung« habe.1419 Seinen »komplizierten Inhalten und weite[n] soziale[n] Zielsetzung« entsprechend,1420 habe das epische 1416 Bertolt Brecht: Die Strassenszene. Grundmodell einer Szene des epischen Theaters, in: ders., Werke, Bd. 22.1 (Anm. 1379), S. 370–381, hier: S. 372. Brecht hatte da bereits Erfahrung mit der ›Demonstration‹ eines Autounfalls: Am 20. Mai 1929 erlitt er in der Nähe von Fulda mit seinem Auto der Marke Steyr einen Unfall, den er kurz darauf für die Zeitschrift UHU mit Fotografien rekonstruierte. Für diese Werbung erhielt er von Steyr ein neues Fahrzeug (vgl. Hecht, Brecht Chronik (Anm. 1369), S. 267f.; Stephen Parker: Bertolt Brecht. Eine Biographie. Aus dem Englischen von Ulrich Fries und Irmgard Müller, Berlin: Suhrkamp 2018, S. 407; N. N.: Ein lehrreicher Auto-Unfall, in: UHU. Das Monats-Magazin 6, 1929, H. 2, S. 62–65). 1417 Brecht, Die Strassenszene (Anm. 1416), S. 372 [Hervorh. im Original]. 1418 Brecht, Die Strassenszene (Anm. 1416), S. 377. 1419 Brecht, Die Strassenszene (Anm. 1416), S. 373. 1420 Brecht, Die Strassenszene (Anm. 1416), S. 381.
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Theater »weit vollständigere Bilder« zu bieten als die Straßenszene, »gemäß ihres weiter gesteckten Interessenkreises«.1421 Johnsons Gegenüberstellung ›hinkt‹ hier ein wenig, wenn er das nach dem Modell des epischen Theaters konzipierte und inszenierte Stück mit der Straßenszene vergleicht, die Brecht explizit als ein »Beispiel epischen Theaters primitivster Art« vorstellt.1422 Von dem Brecht-Drama, das in Rostock von seinem Regie-Schüler Besson auf die Bühne gebracht wurde, darf erwartet werden, dass es das epische Theater in einer Weise realisiert, die über das ›primitive‹ Beispiel des Essays hinausgeht. Dennoch signalisiert er mit dem knappen Hinweis auf das ›Schulbeispiel des Verkehrsunfalls‹ eine gründliche Kenntnis der Dramatik Brechts, die sein Gegenüber Hans Mayer erkannt und geschätzt haben dürfte. Zurück auf der inhaltlichen Ebene des Guten Menschen von Sezuan formuliert Johnson die Konsequenzen der kapitalistischen Gesellschaft als die »unbestreitbare Unabdingbarkeit der Folgen von Standard Oil« (25v) und wiederholt damit implizit deren ›Gesetzmäßigkeit‹. Statt deren ›Unabdingbarkeit‹ zu analysieren, reiht er zunächst in einem langen, zwischen Sachlichkeit und Sarkasmus changierendem Klammereinschub andeutungsweise Beispiele dafür aus dem Stück aneinander: Auf die »fragwürdige Liebe« (25v) zwischen Shen Te und Sun hat er bereits hingewiesen; von »hohen starken Verwandtschaftsbanden« (25v) ist nicht viel zu erfahren, sei es von dem vorgetäuschten Vetter Shui Ta oder dem Jungen, der von seiner Familie zum Diebstahl geschickt wird und die ihm, als er gefasst wird, die alleinige Schuld zuzuschieben versucht;1423 die »ganz und gar unbestechliche Justiz« (25v) tritt in Gestalt des korrupten Polizisten vermittels ihrer Exekutive auf die Bühne, und wird durch Shui Tas Bestechungsversuch vor der abschließenden Gerichtsszene mindestens angedeutet; die »überraschende Hilfsbereitschaft der Nachbarn« (25v) ist in Gestalt des Teppichhändlers, der Shen Te Geld leiht, tatsächlich vorhanden, wird aber von ihr missbraucht; Brechts Regieanweisung: »Hinter Gittern hocken, entsetzlich zusammengepfercht, einige Familien, besonders Frauen und Kinder«,1424 verzerrt Johnson sarkastisch, indem er von »hygienischen lichten Fabrikräumen« (25v) spricht; »die Moral des Friseurs« (25v) Shu Fu ist eine doppelte, er gefällt sich darin, seinen Reichtum einzusetzen, um eine Verlobung mit Shen Te zu erreichen und überdies mit Hilfe ihres Geschäfts selbst expandieren zu können, »wie finden sie mich, meine Damen und Herren« (25v), zitiert Johnson ihn wortgetreu,1425 um die Haltung dieser Figur zu illustrieren; und auch »die Moral eines verzweifelt um Menschlichkeit bemühten Menschen« (25v), womit Shen Te gemeint sein dürfte, leidet in 1421 1422 1423 1424 1425
Brecht, Die Strassenszene (Anm. 1416), S. 373. Brecht, Die Strassenszene (Anm. 1416), S. 371. Vgl. Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 196–199. Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 253 [Hervorh. im Original]. Vgl. Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 229.
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diesem Drama erheblich. Eine Analyse ist diese Aufzählung freilich nicht. Es bedarf einer detaillierten Kenntnis des Guten Menschen von Sezuan, um einerseits die Anspielungen überhaupt identifizieren und sie andererseits dann auch noch als mindestens ironisierend erkennen zu können. Es entsteht hier der Eindruck, als wolle sich Johnson des Brecht’schen Verfremdungseffekts bedienen und Distanz zu den Ereignissen und Handlungen des Dramas schaffen – als ein Beobachter ›am Straßenhang‹. Er hat in seiner Beispielreihe selbst effektvoll Ironie eingesetzt, um in Aufmerksamkeit erzeugender Weise über Der gute Mensch von Sezuan zu sprechen, und verweist kurz danach darauf, dass »das Gefühl ›dies ist ein Vorspielen‹« Brechts Publikum »aus der kostbaren szenischen Ironie« des Stücks entstehe (26r–v). Am Ende des beispielgebenden Klammereinschubs wiederholt Johnson die eingangs dazu adressierte Kapitalismus-Symbolik, die »Folgen von Standard Oil«, sie hätten »Atmosphäre« (25v). Diese Atmosphäre konstituiere sich einerseits »aus dem Bewusstsein ›es muss so sein‹« (25v), wie andererseits aus Beispielen wie »der verunglückten Hochzeitsfeier« (25v) und der »Rattenplage habgieriger Verwandtschaft« (25v–26r). Dieses Bewusstsein referiert auf Brechts Kritik am traditionellen Theater, derzufolge der Zuschauer »die Menschen auf der Bühne«, so Brecht, »als ganz unveränderbare, unbeeinflußbare, ihrem Schicksal hilflos ausgelieferte dargestellt sieht.«1426 Innerhalb der von Brecht entworfenen Sezuan-Welt hat dieses Bewusstsein Gültigkeit, die Figuren ziehen die geltenden Normen nicht in Zweifel, wiewohl sie wenigstens zum Teil das Unglück erkennen, das ihnen daraus erwächst. Erst durch das epische Theatermodell werden diese Normen zur Diskussion gestellt, und zwar nur für den Zuschauer. Laut Johnson geschieht das durch Szenen, die »hervorragend gebaut sind, mit genau eingepassten Dialogen zwischen den richtigen Gestalten« (26r). Mit dieser Wertung gibt sich Johnson spätestens hier als Bewunderer des Brecht’schen Theaters zu erkennen. Seiner Wertschätzung verleiht er sogleich noch deutlicheren Ausdruck, indem er bekundet, es brauche »nicht von ›proletarischem Charme‹ geredet zu werden angesichts einer Shen-Te, die ihren [noch ungeborenen, nur imaginierten; AK] Sohn führt unter Bäumen und Vögeln« (26r). Dies habe »weniger mit dem Proletariat zu tun […] als mit möglichem und erwünschtem menschlichen Leben, dessen Erfüllung der unproletarische Charme eben leider vorderhand verhindert« (26r). Die zunächst politische Botschaft wird Johnson zu einer menschlichen; wenngleich er die ideologisch erwünschte Lesart nicht ausklammert, denn es sei eben der »unproletarische Charme«, der diese Menschlichkeit »vorderhand«, also zunächst und vorläufig noch verhindere. In einer marxistisch motivierten Lesart ließe sich hier verstehen, dass der Kapitalismus als Vorstufe 1426 Brecht, Über experimentelles Theater (Anm. 1410), S. 555.
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des Sozialismus in Sezuan eben noch nicht ›überwunden‹ sei, was gewiss aber noch geschehe. Auch wenn Johnson seiner Klausur nur eine sehr grob und sprunghaft an den Ereignissen des Stücks orientierte Ordnung gibt, so kommt er gegen Ende seines Elaborats auf die abschließende Gerichtsszene zu sprechen. Dass hier »drei frierende Götter« den Gerichtssaal betreten, mag eine Erfindung Johnsons oder Bessons für die Rostocker Inszenierung sein; in jedem Fall illustriert sie, wie wenig ›göttlich‹ diese Figuren bei Brecht dargestellt werden. In gleicher Weise wird die ›Göttlichkeit‹ infrage gestellt, von Johnson als »geringfügige Bosheit« (26v) wohl Brechts gedeutet, wenn die Götter »Besorgnis wegen fehlender Legitimation« (26v) äußern, denn ihre »Zertifikate sind sehr schlecht gefälscht«.1427 Möglicherweise handelt es aber auch um eine Interpretation Johnsons, die auf das Ende der vorangehenden Szene referiert, wo der dritte Gott feststellt, dass »die Welt zu kalt ist«, womit vor allem die vorherrschende ›soziale Kälte‹ gemeint ist – das göttliche Frieren wäre so ein metaphorisches.1428 Wertet Johnson die erlogene Zuständigkeit der ›göttlichen Richter‹ nur als »geringfügige Bosheit« Brechts, so schätzt er »das göttliche Verhalten während der Gerichtsszene« als einen »nachhaltige[n] Angriff« (26v) auf diese Götter ein. Johnson deutet hier den in seinen Augen intendierten Effekt, der durch das wenig ›göttliche‹ Gebaren der Götter provoziert werden soll und der eben einen Angriff auf diese Götter bedeutet: Sie erschleichen sich ihr Richteramt und missbrauchen es für ihre Interessen. In der Tat sind diese Götter kaum an den – letztlich durch sie ausgelösten – Begebenheiten interessiert. Für sie geht es nur darum, dass sie in Shen Te das Beispiel eines guten Menschen gefunden zu haben glauben. Die weiteren Umstände erklären sie für irrelevant: »Sollen wir eingestehen, daß unsere Gebote tödlich sind? Sollen wir verzichten auf unsere Gebote? […] Niemals! Soll die Welt geändert werden? Wie? Von wem? Nein, es ist alles in Ordnung.«1429 Stattdessen lassen sie sich sogar darauf ein, mit Shen Te darüber zu verhandeln, wie oft sie ihren Vetter ›nutzen‹ darf, wie häufig sie den ›schlechten Menschen‹ geben darf, um in der Welt zu bestehen – »Jeden Monat, das genügt!«1430 Diese Götter haben nur gesehen, was sie sehen wollten, feilschen noch mit ›ihrem‹ guten Menschen über das Maß zulässiger, zur Schau gestellter Schlechtigkeit und kehren in ihren Himmel zurück, ohne Verantwortung tragen
1427 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 270. 1428 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 269. »Das Motiv der Kälte als Hinweis auf die Unbewohnbarkeit der Welt«, erklärt der Kommentar der Großen kommentierten Berliner und Frankfurter Ausgabe, »ist in Brechts Werk seit der Frühzeit bestimmend« (ebd., S. 452). 1429 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 276. 1430 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 277.
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zu wollen – das ist der ›nachhaltige Angriff auf die Götter‹, den Brecht in Johnsons Lesart seinem Publikum vorführt. Von ihren Göttern verlassen und einer ungewissen Zukunft eingedenk steht Shen Te am Ende auf der Bühne, ihr letztes Wort lautet: »Hilfe!«1431 Brecht lässt das Ende offen, im Epilog wendet sich ein ›Spieler‹ »entschuldigend an das Publikum« und fordert es auf: »such dir selbst den Schluß!«1432 Johnson hingegen lässt auf die Himmelfahrt der Götter ein Zitat aus Goethes Der Gott und die Bajadere folgen: »Und der Götterjüngling hebet | aus den Flammen sich hervor | und in seinen Armen schwebet | die Geliebte mit hervor« (27r).1433 Durch diesen literarischen Rekurs stellt Johnson einerseits den Traditionsbruch aus, den Brecht gegenüber Goethes Gedichtausgang schafft: Die alten Normen, nach denen die Selbstaufopferung aus Liebe mit anschließender Himmelfahrt belohnt wird, und dieses Geschehen positiv gewertet wurde, gelten nicht mehr. Brecht macht das sowohl in seinem Sonett Über Goethes Gedicht »Der Gott und die Bajadere« wie auch im Guten Menschen von Sezuan deutlich. Letzteres aktualisiert Goethes Thema in einer egoistisch-kapitalistischen Welt, in der die Götter die Menschen sich selbst überlassen, unwillig oder unfähig, in die Zeitläufte einzugreifen. Andererseits kann dieses Zitat an dieser Stelle als Interpretation Johnsons gelesen werden, als seine Antwort auf Brechts Aufforderung, sich selbst einen Schluss zu überlegen. Die Goethe-Passage markiert den Tod der Bajadere, woraufhin sie ›erlöst‹ wird. Shen Te hingegen, die wie die Bajadere die göttliche Prüfung bestanden hat, stirbt nicht und wird von den Göttern zurückgelassen. Sie ereilt hier ein metaphorischer Tod, da sie nicht weiß, wie sie weiterleben soll angesichts der Verpflichtung gegenüber dem ungeborenen Kind, ihres korrumpierten Geschäfts, ihrer unerfüllten Liebe, und angesichts dessen, dass Erlösung ihr versagt wird. Von der göttlichen Forderung »[g]ut zu sein und doch zu leben« fühlt sich Shen Te »in zwei Hälften« zerrissen.1434 Diese Unmöglichkeit formuliert Johnson sarkastisch als »Rat der Götter« wie folgt: »Vor den Wänden von Standard Oil muss man Shui-Ta sein und Shen-Te in einem, und wenn man da etwas subtrahiert, bleibt der gute Mensch von Sezuan übrig« (27r). Das ist gleichermaßen eine knappe Zusammenfassung der Grundidee von Brechts Drama, wie es ein bitterböses Resümee ist. Die eine kann ohne den anderen nicht sein, und umge1431 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 278. 1432 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 278f. [Hervorh. im Original]. 1433 Johnson zitiert fast wörtlich, vgl.: »Doch der Götter-Jüngling hebet | Aus der Flamme sich empor, | Und in seinen Armen schwebet | Die Geliebte mit hervor« (Goethe, Der Gott und die Bajadere (Anm. 1384), S. 874). 1434 Brecht, Der gute Mensch von Sezuan (Anm. 1377), S. 275. Dieser Passus kann als »Anspielung auf das faustische Motiv der zwei Seelen in der Brust« (ebd., S. 453) gelesen und somit als weitere Goethe-Referenz Brechts gedeutet werden.
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kehrt, ›subtrahieren‹ kann man hier nicht viel. Shen Te ist ohne ihren Vetter nicht überlebensfähig, Shui Ta existierte ohne sie nicht. Nebenher führt dieses Resümee auch noch einmal Brechts Theaterkonzeption vor Augen: Die ›Wände von Standard Oil‹ sind der sprechende und bedingende Hintergrund, vor dem sich das Geschehen abspielt und von dem es abhängt. Es ließe sich daraus auch die marxistische Interpretation ableiten, dass ein Leben vor dem Hintergrund des Kapitalismus schlicht nicht möglich, mindestens aber unmenschlich sei. Johnsons Schlusssatz greift dann erneut das epische Theater auf. Als Ergebnis seiner punktuellen Betrachtungen und Beispiele – die geforderte Analyse ist es bis zum Ende nicht geworden –, an dem konkreten Drama und der daran abgelesenen Technik des epischen Theaters hält er fest: »Ein Befund, der einigem Publikum die Folgerung eingibt: wenn man das so machen kann, dann kann man das vielleicht auch anders« (27r). Damit pointiert er präzise die Intention von Brechts Theaterkonzept des Verfremdungseffekts. Laut Brecht ist der Zuschauer durch diese Methode in die Lage versetzt zu sehen: »dieser Mensch ist so und so, weil die Verhältnisse so und so sind. Er ist aber nicht nur so vorstellbar, wie er ist, sondern auch anders, so wie er sein könnte, und auch die Verhältnisse sind anders vorstellbar, als sie sind.«1435 Obwohl Johnson diese letzte Klausur seines Studiums mit sehr gutem Ergebnis besteht,1436 hat er die gestellte Aufgabe kaum erfüllt. Statt seinem Prüfer Hans Mayer eine Analyse vorzulegen, erzählt er ihm von einem Theatererlebnis und davon, wie es dazu gekommen ist. Denn dieses verschriftlichte, ursprünglich audiovisuelle Erlebnis basiert auf Brechts Modell des epischen Theaters, auf das permanent in Johnsons literaturkritisch erweitertem Bericht eines Theaterbesuchs verwiesen wird. Er zeigt sich seinem Lehrer als idealer Zuschauer und Leser im Sinne Wolfgang Isers, der versteht, warum das Stück auf diese Weise aufgeführt wurde und was damit erreicht werden sollte, und er erwartet in seinem Lehrer einen idealen Leser, der versteht, warum er das Thema auf diese Weise angegangen ist und was er damit erreichen will. Denn um eine studentische Dramenanalyse handelt es sich ganz offensichtlich nicht. Johnson spricht in Andeutungen und meist unmarkierten Zitaten, die sein Gegenüber deuten und verstehen muss. Diese Redeweise hat insofern Methode, als der baldige Absolvent seinem Professor auf Augenhöhe zu begegnen versucht. Dazu gehört das Sprechen in Andeutungen in der Erwartung, verstanden zu werden, und auch der eher unsystematische und nur grob an der Ereignis-Chronologie des behandelten Stücks orientierte Aufbau seiner Klausur, bei der schon der extravagante Einstieg
1435 Brecht, Über experimentelles Theater (Anm. 1410), S. 555. 1436 Vgl. Hans Mayer: Beurteilung […] im Fach Deutsch (Neueste deutsche Literatur), 22. 7. 1956, in: PrüfA 000323, Bl. 7.
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über die Zeitungsschlagzeilen deutlich macht, dass sie die Gepflogenheiten universitärer Leistungsabfragen unterminieren wird. Im Vergleich mit der tags zuvor geschriebenen Hebbel-Arbeit, kann die Brecht-Klausur in Teilen als deren Fortsetzung gelesen werden. Die Aufgabenstellung, über die ›Theorie und Praxis der Dramatik‹ Auskunft zu geben, wird mit dem Brecht-Elaborat deutlich treffender beantwortet, als es jenem über Hebbel gelingt. Zwar kennt Johnson Maria Magdalena und kann einiges darüber sagen, in den Details werden aber Unsicherheit und Lücken erkennbar; zumal er es höchstwahrscheinlich ›nur‹ gelesen haben wird. Der gute Mensch von Sezuan hat er mit einiger Sicherheit auf der Bühne des Rostocker Volkstheaters inszeniert gesehen, er kann wortgetreu daraus zitieren. Und so mag die straffere formale Gliederung der Hebbel-Arbeit ein Ausdruck von Unsicherheit sein, die ihr Halt und Struktur geben soll, wohingegen Johnson über das Brecht-Stück in markant freierer Form schreibt. In ästhetisch-programmatischer Perspektive kann die Brecht-Arbeit als Fortsetzung der Hebbel-Klausur gelesen werden. An Schillers idealistische Ästhetik der Vervollkommnung, Büchners ›fatalistischer Geschichtsschreibung‹ und Hebbels Befangenheit im Horizont seiner Figuren reiht sich hier nun Brechts episches Theater. In der Hebbel-Klausur zeigt Johnson, was er bei Brecht nur andeutet, nämlich dass er mit der Tradition des ›klassischen Theaters‹ vertraut ist, aus der Brecht heraus sein Model entwickelt hat. Statt wie Schiller zu erhöhen, wie Büchner zu ›berichten‹ oder wie Hebbel verständnislos zu zeigen, führt Brecht laut Johnsons Ausführungen ein Schauspiel auf eine Weise vor, die es erlaubt, sowohl zu verstehen als auch zu hinterfragen. Seine impliziten und expliziten Wertungen lassen erkennen, welchem ästhetischen Programm er den Vorzug gibt.
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»noch lange nicht zu einer Anerkennung des Verfassers entschlossen«. Zum Diplom mit Ernst Barlach
November 1955 – Juli 1956 Um das Studium erfolgreich zu beenden, war die Anfertigung einer entsprechenden Studienabschlussarbeit erforderlich. Uwe Johnson meldete sich dafür bereits im Herbst 1955 mit dem Thema »Ernst Barlach: Der gestohlene Mond« an.1437 Zu den dafür notwendigen Unterlagen gehörte ein knapper, einseitiger Personalbogen für Kandidaten und noch ein umfangreicherer, vierseitiger Personalbogen.1438 Diese beiden Dokumente unterfertigte Johnson am 14. November 1955, einem Montag, an dem er auch seine Bitte an den Dekan der Philosophischen Fakultät formulierte, »eine sogenannte ›nicht Lehrer-Prüfung[‹] […] ablegen zu dürfen«;1439 womit er einmal mehr seinem seit Studienbeginn gehegten Wunsch Ausdruck verlieh, nicht in den Schuldienst eintreten zu müssen. Auf seinem Zeugnis ist die Meldung »zur Universitäts-Abschlußprüfung« dann auf den folgenden Tag datiert.1440 Das Thema der Examensarbeit stammt offenbar von Johnson, so stellt er es zumindest in seiner Erinnerung an Hans Mayer dar – und so ist es auch anzu1437 So dokumentiert es Johnsons Abschlusszeugnis (vgl. Anm. 94, Bl. 1r). 1438 Vgl. Personalbogen für Kandidaten, 14. 11. 1955, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 10 und Personalbogen, 14. 11. 1955, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 11f. Dieses Formular gewährt nebenher einen Einblick in die Bürokratie der DDR. Johnson hatte bei einem Bootsunfall im August 1955 seinen Studentenausweis und vermutlich auch seinen Personalausweis verloren. Im Personalbogen gibt er statt der geforderten Nummer seines Personalausweises die Nummer einer entsprechenden Bescheinigung des Volkspolizeikreisamtes Leipzig an (vgl. ebd., Bl. 11r). Vermutlich fand hier die Begegnung zwischen ihm und Hans Mayer statt, von der er in Einer meiner Lehrer berichtet (vgl. hier: S. 129). 1439 Johnson an den Dekan der Karl-Marx-Universität Leipzig, 14. 11. 1955 (Anm. 25). Vgl. Personalbogen für Kandidaten, 14. 11. 1955 (Anm. 1438), Bl. 10 und Personalbogen, 14. 11. 1955, (Anm. 1438), Bl. 11f. sowie hier: S. 21. Vermutlich gehört zu diesen Unterlagen noch ein undatierter handschriftlicher Lebenslauf (ebd., Bl. 14), der mit Johnsons Wechsel an die Leipziger Universität endet. 1440 Karl-Marx-Universität Leipzig, Zeugnis Uwe Johnson (Anm. 1437), Bl. 1r.
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»noch lange nicht zu einer Anerkennung des Verfassers entschlossen«
nehmen: biographische und pragmatische Gründe sprechen dafür. Die Themenstellung ist mit der bloßen Autor- und Titelnennung derart allgemein gehalten – eine bis heute gängige Strategie bei Prüfungsthemen –, dass sie ihn bei seiner Bearbeitung in keiner Weise einschränkt, verrät so leider aber auch wenig darüber, was er vorgehabt haben mochte: Augenscheinlich ging es ihm um eine monographische Arbeit zu einem Autor und einem Werk, wobei auffällt, dass weder der Autor noch das Werk in irgendeiner Weise kanonisch sind. Zwar ist Barlach als bedeutender bildender Künstler der Moderne bekannt, im ›Dritten Reich‹ verfemt, jedoch nicht als exponierter Schriftsteller, dessen Werk Unterrichts- und Prüfungsgegenstand an Universitäten sein könnte. Keine Spur führt auch in Mayers Universum an Vorlieben und Forschungsvorhaben. Mit Mayer wird sich Johnson gründlicher verständigt haben, so dass dieser schließlich das Angebot einer Arbeit über einen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts an[nahm], er kennt den Titel, die Behörden haben sich noch lange nicht zu einer Anerkennung des Verfassers entschlossen, Professor Mayer will keine Verteidigung des Verfassers hören, er will eine Arbeit über ihn.1441
Da keine andere »Arbeit über einen Roman des zwanzigsten Jahrhunderts« von Johnson bei Hans Mayer belegt ist, muss davon ausgegangen werden, dass hier die Barlach-Arbeit und nichts anderes gemeint ist. Auch der Hinweis, dass »die Behörden […] sich noch lange nicht zu einer Anerkennung des Verfassers entschlossen« hätten, deutet auf den Güstrower Künstler. Zwar wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der SBZ und dann in der DDR mit einer Rehabilitierung des von den Nationalsozialisten als ›entartet‹ diffamierten Œuvre Barlachs begonnen, galt es doch als »hinreichend klassisch wie ebenso unverdächtig modern«.1442 Anfang der 1950er Jahre geriet Barlachs Werk dann aber in die Schusslinie des vor allem »von Seiten der stalinistischen Nomenklatura« geführten Kampfes gegen jeglichen ›Formalismus‹ »unter der leitformelhaften Fahne ›Realismus‹«; und drohte so, zwar aus anderen, gleichwohl wiederum politischen Gründen, kritisiert, angegriffen und aus dem Kulturbetrieb aussortiert zu werden.1443 Zu gering erschienen die kulturpolitischen Anknüpfungspunkte, um Barlachs Werk »im sozialistischen Kampf mobilisierend einzusetzen« – wie es die agitatorische Zweckbestimmung sozialistischer Kultur erwar-
1441 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 120. 1442 Jens Brachmann: Der Engel mit der Nase. Anmerkungen zu einem Barlach-Zitat in Ulrich Hachullas Gemälde »Das Fest« (1980/81), in: Ernst Barlach: »… was wird Übermorgen gelten?« Eine Retrospektive, hg. von der Staatlichen Kunstsammlung Dresden, Dresden: Sandstein 2020, S. 367–370, hier: S. 368. 1443 Brachmann, Der Engel mit der Nase (Anm. 1442), S. 368.
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tete.1444 Vor allem durch die gleichermaßen diplomatisch wie wohlwollend formulierten Notizen zur Barlach-Ausstellung (1952), in denen Brecht Barlachs Plastiken (nicht allen), »das Merkmal des Realismus« bescheinigte, indem ihnen »viel Wesentliches und nichts Überflüssiges« eigen sei, blieb der kulturpolitische Diskurs darüber offen für weitere Verhandlungen.1445 Im Güstrow des jungen Uwe Johnson hingegen – den Namenszusatz ›Barlachstadt‹ trägt der Ort offiziell erst seit 2006 –, war man um den Bildhauer und Schriftsteller bemüht. So erinnert sich Johnsons Englischlehrer Hans-Jürgen Klug an die »Barlach-Ausstellung und den Lichtbildervortrag« als kulturelle Initiativen, »die 1948 anläßlich Barlachs zehntem Todestag im Haus der Kultur« ergriffen wurden, und auch an eine Aufführung des Dramas Die Sündflut im gleichen Jahr; ob der damals 14jährige Schüler Johnson diese Veranstaltungen besucht hat, ist jedoch ungewiss.1446 Wahrscheinlich nicht entgangen sein dürfte Johnson die Eröffnung der Güstrower Gertrudenkapelle als Ausstellungs- und Gedenkstätte für Barlach im Herbst 1953.1447 Gleichwohl ist die Wahl dieses sonderbaren Themas nicht unwillkürlich, nicht ›aus heiterem Himmel‹ gefallen, denn die Vorgabe von »Professor Mayer«, der »keine Verteidigung des Verfassers hören« wollte, sondern »eine Arbeit über ihn« erwartete, demonstriert, dass es zwischen Prüfer und Kandidat ein Einvernehmen gegeben haben muss, die strittige kulturpolitische Debatte außen vor zu lassen und das literarische Werk vor allem als solches zu behandeln. Das ist bemerkenswert angesichts der ideologischen Prägung aller Wissenschaften in der DDR. Es unterstreicht das spätere Bild Mayers als Literaturwissenschaftler in der DDR, der sich auch unter den dortigen Bedingungen seine Unabhängigkeit bewahrt habe, der bemüht gewesen sei, »keine Zeile« dort zu verfassen, die er nicht auch »in Hamburg oder Frankfurt« hätte vorzeigen können.1448 Mit seiner
1444 Teresa Ende: Auf verlorenem Posten? Zur Rezeption Ernst Barlachs durch Ausstellungen, Kunstkritik und -wissenschaft in beiden deutschen Staaten, in: Barlach, »… was wird Übermorgen gelten?« (Anm. 1442), S. 375–401, hier: S. 382. 1445 Bertolt Brecht: Notizen zur Barlach-Ausstellung, in: ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 23: Schriften 3, hg. von Werner Hecht u. a., Berlin/ Frankfurt am Main: Aufbau-Verlag/Suhrkamp 1993, S. 198–202, hier: S. 202 (Erstdruck in: Sinn und Form 4, 1952, H. 1, S. 182–186). 1446 Hans-Jürgen Klug: Uwe Johnson. Ein Güstrower auf Zeit, in: Johnson-Jahrbuch, 2/1995, S. 67–77, hier: S. 72. 1447 Vgl. Klug, Uwe Johnson. Ein Güstrower auf Zeit (Anm. 1446), S. 74. 1448 Jens, Introitus amicus (Anm. 370), S. 7. Johnson schrieb Einer meiner Lehrer anlässlich Mayers 60. Geburtstag 1967, da waren beide, Johnson und Mayer, schon länger Bürger der Bundesrepublik. Es muss Spekulation bleiben, ob Johnson von diesem Einverständnis auch berichtet hätte, wäre Mayer nicht 1963 nach Tübingen und später nach Hannover gegangen – es hätte seinem einstigen Lehrer andernfalls womöglich schaden können. Im Nachhinein muss freilich konstatiert werden, dass Walter Jens nicht so ganz recht hat mit seiner
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strikten Vorgabe ließ Mayer Vorsicht walten, er zwang Johnson aber auch zur Sache selbst vorzudringen und damit eine seiner Stärken auszuspielen. Tatsächliche Belege für eine Auseinandersetzung Johnsons mit Ernst Barlach vor dem Ende seines Studiums sind kaum zu finden, anderseits ist sie naheliegend. Hans-Jürgen Klugs Berichte werden von Johnsons Schulkameraden und zeitweiligem Rostocker Kommilitonen Axel Walter flankiert: »Friedrich Schult, der Freund von Barlach, war in der ersten Zeit unser Zeichenlehrer. Der hat natürlich auf ihn hingewiesen.« Insgesamt herrschten zu dieser Zeit bezüglich Barlach aber »noch ungeklärte Verhältnisse«, denn er »war ja nun kein Vertreter des sozialistischen Realismus«, und für »Barlach in der Schule war man noch viel zu vorsichtig.«1449 Bald nach Johnsons akademischem Abschluss lassen sich dann vermehrt Hinweise finden, die auf eine intensivierte Beschäftigung mit Barlachs Werk schließen lassen. So lud er seinen Leipziger Studienfreund Manfred Bierwisch zwei Jahre später in seine einstige Heimatstadt ein: »Das war im nächsten Sommer, also 1958, da habe ich ihn in Güstrow besucht, er hat mich ins BarlachHaus zu Lütten Schult [d. i. Friedrich Schult, der Ältere] geführt, mit dem er auf seine Weise befreundet war«.1450 Und ein anderes Mitglied des studentischen Freundeskreises, Joachim Menzhausen, späterer Direktor des Grünen Gewölbes, berichtet von seinem Kommilitonen: »Er war als Mecklenburger ein eisenfester Verehrer seines Landsmannes Ernst Barlach.«1451 Als Johnson dann als Autor reüssierte, glaubten einige Rezensenten, bereits in den Mutmassungen über Jakob auch einen Barlach-Einfluss mitlesen zu können. Für Marcel Reich-Ranicki schien die »Stimmung mancher Szenen […] an Barlach zu erinnern.«1452 Noch konkreter wurde Hans Magnus Enzensberger, indem er Beispiele aus Johnsons Roman zitiert: »in solchen Sätzen spukt mit karger Grübelei, schwerfälligem Eigensinn und vertracktem Pathos Ernst Barlachs Gestohlener Mond.«1453 Und der Mitbegründer der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
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Einschätzung des Kollegen Mayer: Letzterer hat durchaus Dinge in der DDR publiziert, die er im Westen nicht wiederholt hätte. Walter, Aus dem wird einmal ein Schriftsteller (Anm. 1), S. 27. Manfred Bierwisch: Fünfundzwanzig Jahre mit Ossian. Dr. Jürgen Grambow und Teilnehmer eines Jenaer Seminars sprachen mit Prof. Manfred Bierwisch über Uwe Johnson und seine Freunde, in: Johnson-Jahrbuch, 1/1994, S. 17–44, hier: S. 25. Bierwisch, Begleitumstände – Ansichten von Uwe Johnson (Anm. 92), S. 35. Marcel Reich-Ranicki: Ein Eisenbahner aus der DDR. Zu Uwe Johnsons Roman »Mutmassungen über Jakob«, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 22. 11. 1959, S. 20, zit. nach: Johnson-Jahre. Zeugnisse aus sechs Jahrzehnten, hg. von Uwe Neumann, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 22f., hier: S. 23. Hans Magnus Enzensberger: Die große Ausnahme, in: Frankfurter Hefte 14, 1959, H. 12, S. 910–912, zit. nach: Fellinger, Über Uwe Johnson (Anm. 134), S. 55–60, hier: S. 59. Von der anderen, Barlachs, Seite aus scheint Jürgen Grambow Enzensberger zu bestätigen: »Sätze wie die folgenden könnte auch Uwe Johnson ersonnen haben in verquerer Genauigkeits-
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Karl Korn bescheinigt ein paar Jahre später beim Vergleich mit Barlach, der »nie über die norddeutsche Provinzialität« hinausgekommen sei, dass mit Johnson »ein in Stimmung und Substanz verwandter Provinzialist aus der Provinzialität herausfindet«.1454 Unabhängig von derartigen Ausdeutungen ›schwerfälligen Eigensinns‹ oder ›norddeutscher Provinzialität‹ sollte es bis zum zweiten Band der Jahrestage (1971) dauern, bis Barlach tatsächlich in Johnsons Werk Erwähnung findet. Die Güstrower erhalten dort ein betrübliches Zeugnis über ihren Umgang mit dem bedeutendsten Bürger ihrer Stadt: »Weil er für einen Juden gehalten wurde, war er in Güstrow auf der Straße angespuckt worden. Den hatten sie mit Verboten von Arbeit und Ausstellungen gehetzt, bis er sich hinlegte und starb.«1455 In seinem Fragment Heute Neunzig Jahr, dem unvollendeten Romanprojekt nach Jahrestage, liefert Johnson dann noch das historische Menetekel: »Werke Barlachs waren im vorigen Jahr als ›entartete Kunst‹ ausgestellt worden.«1456 So tritt Barlach in Johnsons literarischem Werk zumindest sporadisch in Erscheinung. Ähnlichkeiten und Verbindungslinien verdanken sich im Wesentlichen dem spekulativen Deutungshorizont von Literaturkritikern und komparatistischen Interpreten.1457 Abgesehen von der gemeinsamen Lebens-
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sucht«, spekuliert er, um dann einige Sätze Barlachs zu zitieren (Jürgen Grambow: Garantiert durch Wirklichkeit, in: Uwe Johnson: Eine Reise wegwohin und andere kurze Prosa. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Jürgen Grambow, Berlin: Aufbau-Verlag 1989, S. 479–503, hier: S. 488). Karl Korn: Eigensinn. Aus Johnsons Werkstatt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. 4. 1964, S. BuZ 5. Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. 2, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1971, S. 712. Diese Passage anlässlich Barlachs Todestags kann, glaubt man Günter Grass, als Niederschlag von Johnsons persönlicher Meinung über das Verhalten der Güstrower gelesen werden; Grass zitiert Johnson: »Die Mißachtung des Bildhauers Ernst Barlach hat den Güstrowern bleibende Schande bereitet« (Günter Grass: Ein weites Feld, Göttingen: Steidl 1995, S. 605). Im vierten Band der Jahrestage wird Barlach dann mehrfach erwähnt und beispielsweise auf die seinerzeit umstrittene Ausstellung in der (Ost-)Berliner Akademie der Künste 1951 verwiesen (vgl. Uwe Johnson: Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl, Bd. 4, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983, S. 1820; und hier: S. 61f.). Uwe Johnson: Heute Neunzig Jahr, aus dem Nachlaß hg. von Norbert Mecklenburg, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996, S. 96. Vgl. etwa Colin Riordan: »… was ich im Gedächtnis ertrage«. Die Metaphorik der Jahrestage, in: Johnson-Jahrbuch, 2/1995, S. 155–175, hier besonders: S. 158f.; Irmgard Müller: Eine Uwe Johnson Festwoche auf dem Darß. »Das Fischland ist das schönste Land in der Welt«, in: Johnson-Jahrbuch, 11/2004, S. 263–271, hier: S. 268 (Müller berichtet von einem Vortrag Elmar Jansens, in dem er Parallelen zwischen Johnson und Barlach auslotete und »Barlach als direkten Vorläufer Johnsons« identifizierte). Für Greg Bond ist der »abstrakte und verschlungene Stil, den Johnson zu dieser Zeit pflegte«, die Rede ist von Johnsons Exposé über die Werke Peter Altenbergs aus dem Jahr 1958, und der »auch streckenweise in seinem Roman Mutmassungen über Jakob« beobachtet werden könne, »eindeutig Ernst Barlachs Roman Der Gestohlene Mond entlehnt« (Greg Bond: Uwe Johnson und der Aufbau-Verlag, in: Johnson-Jahrbuch, 17/2010, S. 159–174, hier: S. 165, Anm. 21). Ange-
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und Wirkungsstätte und der Examensarbeit gibt es so gut wie kein belastbares Material, das eine Nähe oder gar literarische Beziehung zwischen beiden begründen könnte; im Gegenteil: Johnson wehrt sich wiederholt gegen die Vermutung oder Insinuation, er würde sich gezielt oder auch unbeabsichtigt in eine bestimmte literarische Tradition stellen. In seiner späteren Rolle als Autor erklärt Johnson, er »habe keine persönlichen Vorbilder, und literarische Vorbilder gibt es für mich nicht. Jeder Schriftsteller muß sich seinen Stoff selber beschaffen, er muß sich seine Form selbst erarbeiten.«1458 Er sei überdies davon »überzeugt, ein jüngerer Schriftsteller könne einen Alten nur als ein moralisches Vorbild nehmen«.1459 Dem kann auch kaum Johnsons Auskunft entgegengehalten werden, seine Figuren Heinrich und Gesine Cresspahl auf ähnliche Weise durch Zufall gefunden zu haben, nämlich bei einer Zugfahrt, wie Barlach es über seine Spaziergänger-Figur berichtet:1460 »Ja, das war ein Landmann, der zwischen Güstrow und Rostock zustieg«, zitiert Johnson Barlach, er »sass mir mit seinem mächtigen Leibe so unentwegt gegenüber […]. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihn so lange aufs Korn zu nehmen, bis ich ihn schliesslich auswendig konnte.«1461 Bei Johnson sei es dann »ein Forstarbeiter« gewesen, »der eine Station hinter Schwaan einstieg. Er sah einem Heinrich Cresspahl so ähnlich und so unähnlich wie das vorkommen kann unter Brüdern.«1462 In einem anderen Schienenfahrzeug wiederum ›fand‹ Johnson dessen »Tochter« Gesine: »in einer Strassenbahn von Leipzig liess sich vorstellen, und erkennen, wie sie in Düsseldorf von der Arbeit kommend emporstieg zu ihrem Zimmer«.1463 Und um über die ›unergründlichen Wege‹ schriftstellerischer Inspiration zu sprechen, zieht Johnson ein weiteres Mal Barlach heran: »Man lernt immer mehr, sich als ein blosses Mittel zu betrachten. Bei den dümmsten Verrichtungen, beim Händewaschen oder beim Zähneputzen, ist es plötzlich da.«1464 Johnson münzt diese Erfahrung, dass sich Lösungen für künstlerische Probleme ›unbewusst‹ entwickeln, sich jedenfalls nicht erzwingen lassen, auf das Eigenleben, das er seinen Figuren zuschreibt.
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sichts sowohl der biographischen als auch literarischen Parallelen stelle sich, so Erwin Kischel, »die Frage nach einem denkbaren Einfluss Barlachs auf Johnsons Schaffen mit einer gewissen Folgerichtigkeit« (Kischel, Zwei ungleiche Gleiche (Anm. 898), S. 132). Uwe Johnson: »… habe aber nie die Absicht gehabt, durch Partheischriften den Tageslärm zu vermehren.«, in: Fahlke, »Ich überlege mir die Geschichte« (Anm. 266), S. 72–75, hier: S. 72. Johnson, »… habe aber nie die Absicht gehabt, durch Partheischriften den Tageslärm zu vermehren.« (Anm. 1458), S. 72. Vgl. Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 123f. Zu Barlachs Spaziergänger vgl. Elisabeth Laur: Ernst Barlach. Werkverzeichnis II: Das plastische Werk, Güstrow: Ernst-BarlachStiftung 2006, S. 129 (Nr. 188–190). Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 124. Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 124. Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 124. Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 133.
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Genau so wie Barlach ergehe es ihm mit seinen ›Personen‹ nämlich auch: »Bei einer von solchen nichtigsten Verrichtungen war das Bewusstsein des Verfassers plötzlich fertig mit der gestellten Aufgabe, ohne seine Aufsicht hatte es die Lösung gefunden und warf sie ihm in die Gedanken: Er hörte seine Leute reden.«1465 Ohne Zweifel schätzte Johnson den Bildhauer und Autor, auch wenn es für die Wahl seines Examensthemas noch andere Gründe gegeben hat. Und auch das ›antifaschistische Erbe‹ der DDR mochte ihm bei seiner Wahl in die Hände spielen, war es im Zuge dieser Abschlussarbeit doch möglich, einen im ›Dritten Reich‹ entrechteten und kujonierten Künstler und Dichter zu rehabilitieren. Zumal über die Stellung seines Werks in der DDR noch verhandelt wurde und längst nicht entschieden war, ob Barlachs ›Antifaschismus‹ schwerer wog als sein vermeintlicher Formalismus. So kann schon diese Themenwahl als kulturpolitische Stellungnahme verstanden werden. In den wenigen öffentlichen wie nichtöffentlichen Selbstaussagen zu diesem Thema bestätigt sich die persönliche Wertschätzung. Beispielsweise gesteht Johnson gegenüber Christine Jansen, der Ehefrau des auf Barlach spezialisierten Kunsthistorikers Elmar Jansen, »dass ich seit Kindesbeinen befasst bin mit den Sachen Ernst Barlachs.«1466 Viele Jahre lang besaß Johnson einen Abguss der Barlach-Plastik Schlafendes Bauernpaar (auch betitelt als Schlafende Vagabunden),1467 das »zu den Kunstwerken gehörte, die er sowohl in New York als auch in Sheerness-on-Sea in seiner Wohnung hatte«.1468 Überdies kreist der freundschaftliche Briefwechsel mit Barlachs Nachlassverwalter Friedrich Schult fortwährend um das Barlach-Haus in Güstrow und das Weiterleben des Barlach’schen Werks.1469 Über die durchaus subjektiven und 1465 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 133. 1466 Uwe Johnson an Christine Jansen, 18. 7. 1979, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/200369, Bl. 1. 1467 Vgl. Siegfried Unseld: Uwe Johnson: »Für wenn ich tot bin«, in: Siegfried Unseld, Eberhard Fahlke: Uwe Johnson: »Für wenn ich tot bin«, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1991, S. 9–71, hier: S. 69. 1468 Klug, Uwe Johnson. Ein Güstrower auf Zeit (Anm. 1446), S. 74. Klug erklärt hier weiter, »wann und wo er diese Plastik zum ersten Mal gesehen, wie er sie erworben hat, [sei] wohl nicht bekannt« (ebd.). Unterstellt man Manfred Bierwisch eine etwas ungenaue Erinnerung hinsichtlich des Titels, so mag es sich dabei um jene Plastik handeln, die er einst für den Freund in den Westen geschmuggelt hatte: »ich habe dann sogar einen Abguß der BarlachSkulptur Die Ruhenden, den er einmal in Leipzig hatte kaufen können, in eine Decke gewickelt und mit der S-Bahn nach Westberlin gebracht, allerdings mit etwas flauem Gefühl, denn die Erklärung, daß ich Westberlin nur durchqueren und eigentlich nach Potsdam will, wäre der Grenzpolizei nicht sehr glaubhaft erschienen« (Bierwisch, Fünfundzwanzig Jahre mit Ossian (Anm. 1450), S. 38.) Eine Barlach-Plastik Die Ruhenden existiert nicht, der Titel passte allerdings gut auf das Schlafende Bauernpaar (vgl. Laur, Ernst Barlach Werkverzeichnis II (Anm. 1460), S. 129). 1469 Vgl. den Briefwechsel zwischen Friedrich und Erika Schult und Uwe Johnson, der zwischen 1956 und 1977 bestand, im Uwe Johnson-Archiv unter den fortlaufenden Signaturen von UJA/H/252124 bis UJA/H/252167. Auch mit dem Sohn, Friedrich Ernst Schult, bestand ein
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pragmatischen Beweggründe für seine Themenwahl bei der Abschlussarbeit gibt Johnson selbst nachträglich Auskunft: Bei dem »Gestohlenen Mond« von Barlach handelte es sich ganz gewiß um die Überlegung: Wenn ich mich schon mit einem Buch ein halbes Jahr beschäftigen muß und ich darf mir aussuchen, was für ein Buch es ist, dann nehme ich eben das, mit dem ich am liebsten – wenn es überhaupt sein muß – das nächste halbe Jahr verbringe. Damals war’s so, man konnte sich das Thema aussuchen, d. h. es mußte genehmigt werden, es wurde genehmigt. Das war das, das hatte – sagen wir mal – zum Teil sogar private Gründe.1470
Aus persönlicher Neigung und diskreten Motiven also hat Johnson den Gegenstand seines Examens gewählt. Mit Hans Mayer hatte er zudem einen Prüfer, der ihm diese seinerzeit nicht unproblematische Wahl ermöglichte: »Die Arbeit wurde nur akzeptiert«, schätzt Johnson die Lage rückblickend ein, »weil Mayer dort war. Von anderen Professoren wäre sie sicher nicht angenommen worden, weil die damaligen Literaturtheorien in der DDR keinerlei Beziehung hatten zu Barlach.«1471 Der Plural der ›Literaturtheorien‹ muss dabei irritieren, angesichts des universellen Anspruchs des sozialistischen Realismus, die allgemeingültige Kunstdoktrin der historischen Stunde zu sein. Hermann August Korff, der wichtigste Vertreter der geistesgeschichtlichen Richtung der deutschen Germanistik, war 1954 bereits emeritiert worden: alle Theorie musste seither marxistisch-leninistisch sein. Die intrinsische Motivation zum Barlach-Thema findet sich an anderer Stelle bestätigt. Im März 1958 bewarb sich Johnson um eine Anstellung am Institut für Deutsche Sprache und Literatur an der Deutschen Akademie der Wissenschaften, namentlich bei Ernst Grumach, dem Leiter der dortigen Goethe-Edition. Dessen Assistent Klaus Baumgärtner gehörte zum engsten Kreis von Johnsons Leipziger Studienfreunden und beriet seinen einstigen Kommilitonen im Zuge der Bewerbung. So sind insgesamt drei Fassungen eines Lebenslaufs erhalten,1472 die zur Anstellung verhelfen sollten. In der vermutlich letzten Fassung vom März 1958 erläutert Johnson zu seinem Studienabschluss: Das Thema der Hausarbeit war: »Ernst Barlach: Der gestohlene Mond«. Zu der Analyse dieses Romans war ich veranlasst worden durch den Einfluss des in Güstrow vorhananhaltender Kontakt, im Uwe Johnson-Archiv erhalten unter den fortlaufenden Signaturen von UJA/H/252089 bis UJA/H/252123. 1470 Durzak, Dieser langsame Weg zu einer größeren Genauigkeit (Anm. 755), S. 449. 1471 Wilhelm J. Schwarz: Gespräche mit Uwe Johnson (Am 10. 7. 1969 in West-Berlin), in: Fahlke, »Ich überlege mir die Geschichte« (Anm. 266), S. 234–247, hier: S. 244. 1472 Vgl. Uwe Johnson: Lebenslauf, 18. 3. 1958, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150963 (unter dieser Signatur sind zwei Lebensläufe im Uwe Johnsons-Archiv zusammengefasst); ders., Lebenslauf [März 1958], in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/256334.
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denen plastischen Werkes von Barlach, dessen Anlässe ich im literarischen Ausdruck zu erhellen hoffte. Die Arbeit wurde von Prof. Hans Mayer mit »gut« bewertet.1473
Die physisch erfahrbare Präsenz von Barlachs Werk am Genius loci seiner Jugend sei es also gewesen, die ihn zu seinem Thema veranlasst habe. Offenbar wollte Johnson aus Barlachs Prosa den ›genialen Funken‹ ermitteln, der zum plastischen Werk geführt habe. Augenscheinlich las er das schriftstellerische Werk Barlachs als Schlüssel des gesamten bildnerischen Œuvres. Inwieweit und ob überhaupt er dieser gewagten wie spannenden These nachgegangen ist, wird bis auf weiteres offen bleiben müssen. Deutlich wird aber, dass der biographische Ort zum zentralen Moment seiner Themenwahl wurde, gleichviel, wie er die Aufgabe letztendlich bewältigt haben mag. Johnson hatte nun sechs Monate Zeit, sich neben seinen sonstigen Prüfungen seiner Abschlussarbeit zu widmen. In diesen Zeitraum fällt der erste erhaltene Brief von Friedrich Schult an Johnson, datiert auf den 13. April 1956. Er enthält zwei knappe Auskünfte: »das Ehepaar Böhmer kam 1925 nach Güstrow; Fräulein Viereck – Fräulein Döge«.1474 Es handelt sich augenscheinlich um die Antworten auf Erkundigungen, die Johnson eingezogen hatte. Die kaum zwei Zeilen Schults enthalten zwei bedeutsame Informationen: Zum einen geht es um das historische Datum der folgenschweren Begegnung Barlachs mit den Eheleuten Bernhard und Margarethe (›Marga‹) Böhmer, die zu dieser Zeit nach Güstrow zogen. ›Marga‹ wurde Barlachs Gefährtin, ließ sich 1927 von ihrem Mann scheiden und sorgte sich nach Barlachs Tod um das Nachleben seines Œuvres.1475 Bernhard Böhmer stieg unter den Nationalsozialisten zum erfolgreichen Kunsthändler auf, der mit dem Verkauf ›entarteter‹ Kunst reich wurde und der es sich erlauben konnte, seine schützende Hand über Barlachs Werk zu halten.1476 Die zweite, noch lakonischer gelieferte Information deutet eine reale Vorlage für die Haushälterfigur in Barlachs Gestohlenem Mond an, nämlich für »Waus Wirtschafterin […]
1473 Johnson, Lebenslauf [März 1958] (Anm. 1472), Bl. 48r. 1474 Friedrich Schult an Uwe Johnson, 13. 4. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/252124. 1475 Man hatte sich bereits 1924 kennengelernt, die Böhmers lebten noch im benachbarten Schwaan, von wo aus sie dann nach Güstrow zogen (vgl. Ernst Barlach, Marga Böhmer: Briefe. Bearbeitet und hg. von Inge Tessenow, Güstrow: Ernst Barlach Stiftung 2012, S. 143f. und S. 162; Tom Crepon: Leben und Leiden des Ernst Barlach, Rostock: Hinstorff 1988, S. 166). 1476 Vgl. Volker Probst: »Mein guter wie mein böser Engel«. Ernst Barlach und Bernhard A. Böhmer, in: Ein Händler »entarteter« Kunst. Bernhard A. Böhmer und sein Nachlass, hg. von Meike Hoffmann, Berlin: Akademie Verlag 2010, S. 17–51. Probst kommt hier zu dem Schluss, Barlach habe dem »inneren Konflikt zwischen ihm, Böhmer und der erdrückenden Zeit des Nationalsozialismus eine fiktionale Form gegeben und ihr literarische Gestalt in seinem unvollendet gebliebenen Roman Der gestohlene Mond verliehen« (ebd., S. 46).
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Fräulein Viereck«.1477 Mit dem Gedankenstrich wird hier eine autobiographische Lesart dieser Figur angezeigt, die demgemäß auf Barlachs damalige Haushälterin Luise Doege zurückgeht, die von 1921 bis 1933 für den Künstler tätig war. Diese Motivation genügt aber anscheinend nicht, um ein Gleichheitszeichen zu setzen und so eine direkte Identifikation vorzunehmen.1478 Johnson muss sehr konkret und detailliert gefragt haben, um eine derart kurze Antwort zu erhalten, andernfalls wird sie ihm kaum hilfreich gewesen sein. Sein Interesse am Roman erstreckte sich offenbar auf werkgenetische und auch biographische Fragestellungen, die ihn nach den Böhmers und der Vorlage für eine Nebenfigur zu forschen veranlassten. In Friedrich Schult hatte er einen Zeitzeugen und Experten als Informationsquelle, der seit 1914 mit Barlach freundschaftlich verbunden war, sich der Werkpflege verpflichtet fühlte und sich für die Anerkennung des Künstlers in der DDR einsetzte, ohne das Werk dem Zugriff der offiziellen Kulturpolitik preiszugeben.1479 Bereits zwei Jahre vor seinem Examen hatte sich Johnson um einen Kontakt zu ihm bemüht. Darauf lässt eine Postkarte seines Güstrower Englischlehrers Wilhelm Müller schließen, auf der mitgeteilt wird: »Herr Schult stellt sich Ihnen gern zu Verfügung.«1480 Johnson solle aber vorher zu Müller kommen, damit sie zunächst gemeinsam bei Schult anrufen, vermutlich um Johnson konkret anzukündigen. Schults Auskunft lässt – neben dem späteren Briefwechsel – darauf schließen, dass sich in den beiden folgenden Jahren bis 1956 1477 Barlach, Der gestohlene Mond (Anm. 77), S. 19. 1478 Eine solch mittelbare Beziehung zwischen Person und Figur stellt auch Friedrich Droß her, womöglich hatte er die Information aus derselben Quelle, Friedrich Schult. In der von ihm herausgegebenen Barlach-Briefedition stellt Droß in einem Kommentar zu Luise Doege fest: »Züge von ihr finden sich in Waus Wirtschafterin, Fräulein Viereck, im ›Gestohlenen Mond‹« (Ernst Barlach: Die Briefe I, 1888–1924, hg. von Friedrich Droß, München: Piper 1968, S. 815). 1479 Schult erarbeitete beispielsweise ein (lückenhaftes) dreibändiges Werkregister und gab mehrere Bücher mit Literatur von und über Barlach heraus. Vgl. Friedrich Schult: Ernst Barlach Werkverzeichnis, 3 Bde., hg. mit Unterstützung der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin, Hamburg: Hauswedell 1958–1971; Ernst Barlach: Seespeck, hg. von Friedrich Schult, Rostock: Hinstorff 1962. Bereits im Herbst 1945 leitete Schult eine Barlach-Ausstellung in Rostock, vgl. Ausstellung Ernst Barlach. Museum der Stadt Rostock, 28. Oktober bis 18. November 1945, Rostock: Hinstorff 1945. Zur Freundschaft mit Barlach vgl. Reinhard Rösler: »Anfangs Gefühl der Lästigkeit. Zwei Fremde.« Die Freundschaft zwischen Ernst Barlach und Friedrich Schult, in: Güstrow – eine Stadt der Dichter, hg. im Auftrag der Fritz Reuter Gesellschaft von Christian Brunners, Ulf Bichel und Jürgen Grote, Rostock: Hinstorff 2012, S. 76–85. 1480 Wilhelm Müller an Uwe Johnson, 12. 1. 1954, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/200522. Zum besonderen Verhältnis zwischen Müller und Johnson, in dem der eine dem anderen Vorlage für einen fiktiven Lehrer Kliefoth wurde, vgl. Barbara Scheuermann: »Murrjahn« Dr. Julius Kliefoth – Zu Uwe Johnsons Literarisierung seines Güstrower Lehrers Wilhelm Müller, in: Güstrow – eine Stadt der Dichter (Anm. 1479), S. 86–113.
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zwischen ihm und Johnson eine Verständigung etablierte, die Nachfragen für seine Abschlussarbeit erlaubte. Wie aus den Korrespondenzdaten des Uwe Johnson-Archivs hervorgeht, befand sich Johnson im August 1955 und noch einmal im Januar 1956 in Güstrow, zu den Semesterferien beziehungsweise zur ›Vorlesungspause‹, wie man es seinerzeit nannte, und dürfte hier Gelegenheit gehabt haben, seine Arbeit mit Schult persönlich zu erörtern.1481 Neben diesem wertvollen und offensichtlich hilfsbereiten Zeitzeugen wird sich Johnson in seiner Arbeit, ob ihres wissenschaftlichen Anspruchs, auch mit entsprechender Literatur auseinandergesetzt haben. Und zu vermuten steht, dass er dabei gründlicher vorzugehen hatte, als es in den bislang hier betrachteten Klausuren und Referaten der Fall gewesen ist, die ihrer jeweiligen Form nach – zugegeben – offenbar weniger streng nach bibliographischen Referenzen verlangten (wenn vielleicht auch strenger, als Johnson sie beispielsweise im OtwayReferat geliefert hatte). Doch eine Barlach-Forschung, die sich dem Schriftsteller zugewandt hätte, gab es praktisch nicht. In der kritischen und wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Barlachs Schaffen wurde – und wird – sein literarisches Werk stiefmütterlich behandelt. Das gilt um so mehr für die erst postum veröffentlichte Prosa, wohingegen seine Dramen bereits in der Weimarer Republik mit einigem Erfolg aufgeführt wurden und insofern Resonanz und Rezeption im darstellenden Spiel erfuhren. Dieser besondere Aspekt seiner Werkgeschichte hatte – und zeitigt noch immer – Folgen für die Publikation und Diskussion seines Werks. Als Johnson sein Examen zu bestreiten hatte, lag Der gestohlene Mond lediglich in der Erstausgabe des Suhrkamp Verlags von 1948 vor; im gleichen Jahr war dort auch Barlachs zweiter Roman Seespeck veröffentlicht worden. Die Dramen waren bereits zwischen 1912 und 1928 im Berliner Paul Cassirer Verlag erschienen, 1951 folgte dann postum Der Graf von Ratzeburg in der Hamburger Grillen-Presse.1482 Texte von und über Barlach sowie Auskünfte über die aktuelle Beschäftigung mit seinem Werk mochte Johnson womöglich der seit 1948 herausgegebenen Jahresgabe der Ernst-Barlach-Gesellschaft entnommen haben. Vereinzelte und verstreut publizierte Aufsätze und Kritiken zum ›Dichter Barlach‹ konnten in 1481 Vgl. die an Johnsons Güstrower Adresse in der Ulrichstraße adressierten Briefe: Manfred Bierwisch an Uwe Johnson, 18. 8. 1955, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/ 060010; Manfred Bierwisch an Uwe Johnson, 18. 1. 1956, in: ebd., UJA/H/060024. 1482 Vgl. Ernst Barlach: Der tote Tag. Drama in 5 Akten, Berlin: Cassirer 1912; ders., Der arme Vetter. Drama, Berlin: Paul Cassirer 1918; ders., Die echten Sedemunds. Drama, Berlin: Paul Cassirer 1920; ders., Die Sündflut. Drama in 5 Teilen, Berlin: Paul Cassirer 1924; ders., Der blaue Boll. Drama, Berlin: Paul Cassirer 1926; ders., Der Graf von Ratzeburg. Schauspiel, hg. von Friedrich Schult, Hamburg: Grillen-Presse 1951. Eine gesammelte Ausgabe der Dramen und Prosa begann der Piper Verlag im Herbst 1956 herauszugeben, deren dritter und letzter Band erst 1959 erschien und somit zu spät für Johnsons Examen.
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Leipzig dank der Deutschen Bibliothek vermutlich wenigstens zum Teil beschafft werden.1483 Obwohl sich Kandidat und Prüfer auf eine unpolitische Behandlung des Themas verständigt hatten, mag Johnson angesichts der Formalismusdebatte die umstrittene Berliner Ausstellung 1951/52 wenigstens im Hinterkopf gehabt haben, zu der Brecht prominent wirksam Stellung für Barlach bezogen hatte; der Ausstellungskatalog dazu findet sich jedenfalls in seinem Nachlass.1484 Für Selbstauskünfte lag das Güstrower Tagebuch im Auszug 1914–1917 seit ca. 1943 vor, die 1928 publizierte Autobiographie Ein selbsterzähltes Leben wurde 1948 als sog. ›Erweiterte Neuausgabe‹ neu aufgelegt, und Friedrich Schult dokumentierte im gleichen Jahr Barlach im Gespräch.1485 Friedrich Droß legte 1947 eine erste Briefsammlung vor, gefolgt von Barlachs Leben und Werk in seinen Briefen.1486 Und aus der übersichtlichen Reihe der 1956 vorhandenen Monographien und Dissertationen, die sich mit Barlach in seiner Rolle als Autor befassen, bleibt nur eine kleine Zahl übrig, die für Johnsons Themenstellung Relevanz gehabt haben mochten, so etwa die Arbeiten von Carl Dietrich Carls, Willi Flemming, Klaus Lazarowicz, Gerhard Lietz, Paul Schurek, Egon Vietta und Horst Wagner.1487 Nur 1483 Vgl. die Barlach-Bibliographie von Claude Hill und Ralph Ley, die Literatur zu Barlachs Dramen wie auch seiner Prosa von 1917 bis 1957 verzeichnet: Claude Hill, Ralph Ley: The Drama of German Expressionism. A German-English Bibliography, Chapel Hill: University of North Carolina Press 1960, S. 41–56. Die Bibliographen sehen sich zu der Eingangsbemerkung veranlasst: »Although this bibliography is concerned with Barlach as a dramatist, literature dealing with the sculptor Barlach has been included because articles will often take into account both sides of his development« (ebd., S. 41). Eine umfangreichere und aktuellere Bibliographie wurde inzwischen zusammengetragen von Kent W. Hooper: Ernst Barlach: Bibliographical Listing of Secondary Literature, URL: www.barlach-biblio.org (Zugriff am 2. 8. 2021). 1484 Vgl. hier: S. 62, Anm. 169; und Brecht, Notizen zur Barlach-Ausstellung (Anm. 1445). Anlässlich dieser Ausstellung erklärte übrigens Max Schroeder, Barlachs Werk gehöre »zum künstlerischen Erbe unserer Nation« und den Künstler zu einem »tragischen Helden, typisch für die deutsche Misere«, dessen »ganze Hingebung« dem gegolten habe, »was er Proletariat nannte«. Der »späte Kapitalismus« habe jedoch dazu geführt, dass der »Humanist« Barlach »die Leiden der Unterdrückten fatalistisch betrachtete und dadurch verklärte« (Max Schroeder: Erhebung trotz allen Leides, in: Sonntag, 23. 12. 1951, S. 6). Die ›Tragik‹ Ingrid Babendererdes wie auch ihres jungen Autors veranlasste ihn einige Jahre später zu einem anderen Urteil, wiewohl eine Tendenz schon hier zu erkennen ist (vgl. hier das Kapitel 15 »für die Republik reicht es erwiesener Massen nicht« – Ausblick). 1485 Vgl. Ernst Barlach: Ein selbsterzähltes Leben, Berlin: Paul Cassirer 1928; ders., dass., erweiterte Neuausgabe, München: Piper 1948; Ernst Barlach im Gespräch. Aufgezeichnet von Friedrich Schult, Wiesbaden: Insel 1948. 1486 Vgl. Ernst Barlach: Aus seinen Briefen, hg. von Friedrich Droß, München: Piper 1947; Ernst Barlach: Leben und Werk in seinen Briefen, hg. von Friedrich Droß, München: Piper 1952. 1487 Vgl. Carl Dietrich Carls: Ernst Barlach. Das plastische, graphische und dichterische Werk, Berlin: Rembrandt-Verlag 1931 (es folgten mehrere Auflagen); Willi Flemming: Barlach der Dichter, Berlin: Bühnenvolksbundverlag 1933 (Flemming war bis 1945 übrigens Professor für Neuere deutsche Literaturgeschichte sowie Systematische Literatur- und Theaterwis-
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Lazarowicz, Vietta und Wagner konnten die bei Suhrkamp verlegte Edition des Romans kennen. Schurek berichtet in der erweiterten Neuauflage (1954) seines ›Erlebsnisberichts‹ von seinem persönlichen Leseeindruck der Manuskriptfassung: »Ein lockeres Stück Prosa«.1488 Carls geht in der fünften Auflage (1950) seiner Werk- und Lebensschau auf den Roman ein, verweist auf Barlachs Aussage, es sei sein »Schlüsselroman aus Güstrow«, in dem »Barlach an Selbsterlebtes« rühre, »an die Kehrseite seiner eigenen Abneigung gegen Geschäfte, seine Abhängigkeit von der Geschäftigkeit anderer«.1489 Freilich ist damit noch nicht gesagt, dass Johnson auf diese Arbeiten, insbesondere die Dissertationen, auch tatsächlich zugreifen konnte. Uwe Johnsons Examensarbeit ist weder im Archiv der Universität Leipzig noch im Uwe Johnson-Archiv an der Universität Rostock erhalten. Über ihren Verbleib wurde viel spekuliert. Hans Mayer vermutete 1988, »dass ein Fan und Sachkenner in der Universität« Leipzig sich ihrer angenommen haben könnte.1490 Im ersten Johnson-Jahrbuch aus dem Jahr 1994 ist zu lesen von »Johnsons bisher verschollener, nun aber von Elmar Jansen zum Druck vorbereiteter Diplomarbeit über Barlachs Der gestohlene Mond«.1491 Auch im zweiten Johnson-Jahrbuch wurde noch auf die Publikation der Arbeit gehofft: »Sie wartet noch immer darauf, veröffentlicht zu werden.«1492 Ein Vierteljahrhundert lang blieb es bei dieser Ankündigung, Jansen ist darüber verstorben. Tatsächlich scheint er die
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senschaften an der Universität Rostock); Klaus Lazarowicz: Die Symbolik in Ernst Barlachs »Graf von Ratzeburg« im Zusammenhang mit dem dichterischen Gesamtwerk, Diss. Göttingen 1954; Gerhard Lietz: Das Symbolische in der Dichtung Barlachs, Lengerich i. W.: Lengericher Handelsdruckerei 1937 (Diss. Marburg 1934); Paul Schurek: Begegnungen mit Barlach, Heidelberg 1946 (mit dem Untertitel »Ein Erlebnisbericht« in einer erheblich erweiterten Neuauflage in Gütersloh vom Rufer Verlag 1954 neu herausgegeben); Egon Vietta: Ernst Barlach. Dramatiker, Bildhauer, Zeichner, Darmstadt: Stichnote 1951; Horst Wagner: Ernst Barlach und das Problem der Form, Diss. Münster 1955. Ob die Dissertation von Gerhard Schmidt-Henkel rechtzeitig zu Johnsons Examen fertig wurde und ihm verfügbar war, konnte nicht ermittelt werden; vgl. Gerhard Schmidt-Henkel: Ernst Barlachs posthume Prosafragmente »Seespeck« und »Der gestohlene Mond«. Ein Beitrag zur Erkenntnis der existentiellen Autobiographie in Romanform, Diss. Berlin-West 1956. Paul Schurek: Begegnungen mit Barlach. Ein Erlebnisbericht, Gütersloh: Rufer 1954, S. 232. Vgl. Carl Dietrich Carls: Ernst Barlach. Das plastische, graphische und dichterische Werk, fünfte Auflage, Berlin: Lemmer 1950, S. 131–133, hier: S. 131. Diese Passage über den Gestohlenen Mond findet sich unverändert auch in der sechsten Auflage, vgl.: Carl Dietrich Carls: Ernst Barlach. Das plastische, graphische und dichterische Werk, sechste Auflage, Berlin: Rembrandt 1954, S. 136f. Hans Mayer an Gerhard Schmidt-Henkel, 4. 7. 1988, zit. nach: Gerhard Schmidt-Henkel: Verboten und vergraben. Ernst Barlachs posthumer Roman Der gestohlene Mond, in: Dennoch leben sie. Verfemte Bücher, verfolgte Autorinnen und Autoren. Zu den Auswirkungen nationalsozialistischer Literaturpolitik, hg. von Rainer Wild, München: edition text + kritik 2003, S. 39–46, hier: S. 44. Schmidt, Auf dem Weg zum Klassiker? (Anm. 329), S. 283. Klug, Uwe Johnson. Ein Güstrower auf Zeit (Anm. 1446), S. 74.
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Arbeit besessen zu haben. Kurz vor Johnsons überraschendem Tod schreibt er ihm: Übrigens besitze ich ein Exemplar Ihrer Arbeit als persönliches Vermächtnis von Schult. All rights reserved by the author (and the University?). Ich wollte bei einer (würdigen!) Gelegenheit gern daraus Passagen zitieren und erbitte dazu ( jetzt oder später einmal) die Erlaubnis.1493
Demzufolge hatte Johnson eine Kopie seiner Arbeit Friedrich Schult überlassen, die dann an Jansen gekommen sein muss. Johnson hatte jedenfalls keine Einwände gegen seinen Wunsch, gelegentlich daraus zitieren zu wollen. Zu der ›würdigen Gelegenheit‹ ist es aber offenbar nicht gekommen, in Jansens folgenden Veröffentlichungen finden sich keine expliziten Zitate Johnsons; ob unmarkierte Johnson-Zitate von Jansen in einem seiner Barlach-Beiträge versteckt wurden, ist derzeit freilich nicht zu ermitteln, es fehlt die Vorlage. Es wäre müßig darüber zu spekulieren, was Johnson in seiner Examensarbeit über Barlachs Romanfragment geschrieben haben mag. Zumindest kann etwas über die Wirkung der Arbeit auf ihren ersten Leser gesagt werden. Sie ist in der Bewertung Hans Mayers knapp dargelegt. Dieses Dokument wurde von dem Leipziger Professor auf den 18. Juni 1954 datiert, wobei es sich aus mehreren Gründen um einen Irrtum handeln muss. Mayer beurteilt darin die Diplomarbeit Uwe Johnsons über Barlachs Gestohlenen Mond. Da Johnson im Juni 1954 allerdings noch an der Universität Rostock immatrikuliert war, sein Gesuch um Hochschulwechsel stammt vom 28. Mai 1954, genehmigt wurde es am 12. August 1954, kann er zu diesem Zeitpunkt kaum Diplomand bei Mayer gewesen sein.1494 Mayers Urteil lautet: Wenn man von mancher stilistischen Schrulle des Verf. absieht, so handelt es sich um eine eindringliche, ungewöhnlich gut geschriebene Studie, der es in der Tat gelingt, den Barlachtext weitgehend zu ›dechiffrieren‹. Leider verzichtet J. vollständig auf einen Vergleich mit anderen Dichtungen (vor allem mit den frühen Dramen) Barlachs. Nur der »Graf von Ratzeburg« und der Roman »Seespeck« dienen gelegentlich als Hilfsmittel bei der Deutung.* Die Arbeit widerspricht zwar der Durchschnittsanlage einer Diplomarbeit, allein Materialbehandlung, Stilkunde, literarisches Urteil benutzt* Verf. genau so wie der übliche Durchschnitt der Diplomanden. Gut (II)1495
Wenngleich keine vergleichbaren Beurteilungen Mayers über andere Arbeiten Johnsons erhalten sind, mögen sonderbare Formulierungen, die Mayer als ›sti1493 Elmar Jansen an Uwe Johnson, 12. 12. 1983, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/200391, Bl. 37r. 1494 Vgl. hier: S. 31f.; und: Jänsch an das Prorektorat für Studentenangelegenheiten der Universität Rostock, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 20r. 1495 Mayer: Beurteilung […] im Fach Deutsch (Anm. 1353), Bl. 6. Der Asterisk markiert eine unsichere Lesart des vorangehenden Wortes.
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listische Schrullen‹ wertet, wahrscheinlich wohl vorgekommen sein. Klagte bereits der Rostocker Dozent Hans Düwel bei einer früheren Klausur über den ›stellenweise preziösen‹ Ausdruck seines Studenten,1496 so ist der chronologischen Sukzession der Klausuren und Referate eine rhetorische Entwicklung abzulesen, die zu einer zunehmend eigenständigen und bisweilen eigenwilligen Art von Formulierungen und Verwendung stilistischer Mittel führte; seien es rhetorische Fragen, parataktische Reihungen oder eingebettete Zitate. Der mild bis deutlich pejorative Terminus ›Schrulle‹ markiert, dass Mayer diese sprachliche Devianz eher wohlwollend als lässlich betrachtete, zumal es sich ansonsten ja um »eine eindringliche, ungewöhnlich gut geschriebene Studie« handle – eine Formulierung, die dem obigen Befund widerspricht. Worauf allerdings Mayer mit dem Urteil zielt, Johnson habe den Roman »weitgehend zu ›dechiffrieren‹« vermocht, muss im Vagen bleiben. Hat er das Sujet des Romans um die Fragen vom Schuldigwerden und Leiden des Menschen erhellend ausgedeutet? Hat er womöglich sein – nachträglich dokumentiertes – Ziel erreicht, Verbindungen zwischen plastischem und literarischem Werk aufzuzeigen? Oder hat er, wie es das spätere Arno-Schmidt-Dechiffrier-Syndikat lange versuchte, intertextuelle, historische oder (auto-)biographische Quellen offengelegt? Ist er autobiographischen Motiven und Motivationen für Barlachs Werk nachgegangen? Da Mayer sein kursorisches Kurzgutachten nicht fachlich und sachlich begründet hat, muss die Beantwortung dieser Fragen der Zukunft vorbehalten bleiben. Schults Auskunft über das Ehepaar Böhmer und die Figur Viereck könnte Letzteres nahelegen. Die anschließende Kritik erscheint insofern nachvollziehbar, als sie offenbar eine Einordnung des Romans in Barlachs Gesamtwerk vermisst. Wobei jedoch vor allem der Vergleich mit dem anderen Roman hinsichtlich der Gattung naheliegend wäre – den Johnson offenbar auch geliefert hat –, wohingegen sich textsortenübergreifende Betrachtungen auf bestimmte Aspekte beschränken müssen. So wären zwar durchaus Sujets oder auch Figurenkonstellationen zu diskutieren, erzählte Zeiten, Figureninventar und Darstellungsformen hingegen nur bedingt vergleichbar. Ob damit aber schon die Aussage gerechtfertigt ist, dass diese Examensarbeit »der Durchschnittsanlage einer Diplomarbeit« widerspricht, muss Ermessensfrage bleiben. Sie dokumentiert jedenfalls zum zweiten Mal – nach »ungewöhnlich gut geschriebene Studie« – innerhalb von vier Sätzen, Mayers Einschätzung einer in mehrfacher Hinsicht exzeptionellen Arbeit. Und so kann die Beobachtung, dass »Materialbehandlung, Stilkunde, literarisches Urteil« wie beim üblichen »Durchschnitt der Diplomanden« vorkommen, weniger zum Nachteil Johnsons gereichen, als vielmehr anzeigen, dass er sich in einem gewissen Maße an die (erforderlichen) Gepflogenheiten einer solchen Ab1496 Vgl. hier: S. 112.
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schlussarbeit gehalten hat, um so sein Examen zu bestehen. Damit erweckt Mayers Beurteilung insgesamt den Eindruck, als sei Johnson hier die Synthese aus Kür (›Schrulle‹) und Pflicht (›Durchschnitt‹) gelungen; über stilistische Eigenheiten konnte der Prüfer hinwegsehen, solange sie sich in Grenzen hielten und der Kandidat das wissenschaftlich Notwendige oder zumindest Übliche lieferte. Es lohnt an dieser Stelle, noch einmal das fehlerhafte Datum des 18. 6. 1954 zu erörtern: Hatte sich Mayer hier nur in der Jahreszahl vertan, statt 1956 1954 geschrieben, so handelt es sich um den gleichen Tag, an dem er sowohl die HeineKlausur als auch das Elaborat über den Schriftsteller-Kongress für nicht bestanden erklärt hatte. Konnte unter diesen Umständen die noch erforderliche mündliche Abschlussprüfung angegangen werden? Das entsprechende Prüfungsprotokoll dokumentiert folgende Situation: Als »Gegenstände der mündlichen Prüfung« werden festgehalten: »Romantik: Ablauf der dt. Romantik. Wackenroder, Tieck: Leben. Nachgelassene Schriften Wackenroders. Friedrich Schlegel: literarhist. Stellung.« Hierauf folgt ein Gedankenstrich mit dem unterstrichenen Vermerk: »Prüfung am 23.7.56:«, wonach weitere Themen aufgeführt werden.1497 Eine Erklärung findet sich in der danebenliegenden Spalte des Formulars, in der das »Urteil über den Prüfungsverlauf« festzuhalten war. Hier wird vom Beisitzer Werner Schubert1498 notiert und durch Mayers Unterschrift bestätigt: »Prüfung am 20.6. wegen Unpässlichkeit des Kand. abgebrochen.«1499 Ohne möglichen Spekulationen Raum geben zu wollen, bleibt an belegten Tatsachen, dass die Prüfung an diesem Tag nicht bis zum Ende durchgeführt, sondern am 23. Juli fortgesetzt wurde, nachdem die zu wiederholenden Klausuren über Hebbel und Brecht bestanden waren. Wann Johnson genau das Ergebnis seiner Barlach-Hausarbeit erfuhr, lässt sich nicht mehr ermitteln. Am 30. Juni teilt er Jochen Ziem mit: »Auch die strafrechtliche Auslassung über Diebstahl des Mondes ist für gut befunden.«1500 Zu diesem Zeitpunkt weiß er auch schon, dass er noch eine Klausur wiederholen musste, »denn sie war über den Kongress der Schriftsteller, und sie handelte von der Ehrlichkeit.«1501 In der mündlichen Abschlussprüfung war Barlach augenscheinlich dann kein Thema, musste also nicht verteidigt oder diskutiert werden. Die Fortsetzung des Prüfungsgesprächs behandelte laut Protokoll diese Themen: 1497 Niederschrift über die Prüfung des cand. phil. Uwe Johnson, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 2r–3r, hier: Bl. 2v. 1498 Werner Schubert wurde 1959 bei Mayer promoviert, blieb der Leipziger Universität treu, wo er 1970 die Facultas Docendi erwarb und von 1971 bis 1982 als ordentlicher Professor für Deutsche Literatur lehrte. 1499 Niederschrift über die Prüfung (Anm. 1497), Bl. 3r. 1500 Johnson an Ziem, 30. 6. 1956 (Anm. 1293), S. 86. 1501 Johnson an Ziem, 30. 6. 1956 (Anm. 1293), S. 86.
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Goethe: Werthers Leiden (Interpretation), Wilhelm Meister (Vergleich mit Werther; Schluß der Wanderjahre); dt. Bildungsromane im 19. Jh.; Gottfried Keller: Der grüne Heinrich; Wilh. Raabe: Abu Telfan (Inhalt, Problematik). Georg Büchner: Leonce und Lena (Entstehung, Vorbilder, Inhalt, Problematik, Verhältnis zur Romantik).1502
Während dieses Protokoll offensichtlich von Mayers Assistenten Schubert geschrieben wurde, stammt das knappe Urteil über den Verlauf der mündlichen Prüfung von Mayers Hand: »Kand. zeigte sich gut vorbereitet und – wie auch in seinen schriftlichen Arbeiten – als klarer* selbständiger Kenner der deutschen Literaturentwicklung.«1503 Die protokollierten Namen deuten in der Tat auf ein beachtliches Lektürepensum, zu dem Johnson hier befragt werden sollte. Vom Stürmer und Dränger Goethe mit seinem Werther, dem jung verstorbenen Wackenroder und dessen Freund Ludwig Tieck, die am Anfang der deutschen Romantik standen, über den ›jungdeutschen‹ Büchner bis hin zu den verschiedenen Spielarten des Realismus, die mit den Namen Keller und Raabe verbunden sind, war hier über hundert Jahre deutscher Literaturgeschichte zu referieren. Für die, das Protokoll zeigt es, insbesondere der Bildungsroman als Gattungsbesonderheit prägend und wirkungsmächtig gewesen ist. Johnson erhält die Note »gut«, wie auch für die Barlach-Arbeit und schließt so sein Studium im Fach ›Deutsch‹ mit eben dieser Note ab. Leider sind weder die Uhrzeit noch die Dauer dieser mündlichen Prüfung dokumentiert. Beides wäre insofern interessant, als Johnson am selben Tag beim selben Prüfer (und selben Assistenten) auch die mündliche Kontrolle in der Sowjetliteratur abzuleisten hatte. Womöglich hat man sich pragmatisch zu einer langen Sitzung verabredet, bei der dann sowohl die deutsche als auch die sowjetische Literatur abgehandelt wurden. Für den Kandidaten Johnson mochte das eine erhebliche Belastung bedeutet haben. Er sollte hier nun über das LeninDrama Das Glockenspiel des Kreml von Nikolaj F. Pogodin sprechen; über Leonid N. Rachmanows Drama Stürmischer Lebensabend um einen alternden Professor, der sich als Intellektueller auf die Seite der Oktoberrevolutionäre stellt; über Michail A. Scholochows ›Kollektivierungsroman‹ Neuland unterm Pflug um die bolschewistische Revolution in einem Dorf, worin der Protagonist laut Lexikon der Weltliteratur »in sich die besten Züge eines positiven Helden der Literatur des sozialistischen Realismus« vereine,1504 über Wassili N. Aschajews dreibändigen Roman Fern von Moskau um den ›heldenhaften‹ Bau einer Erdölpipeline; und schließlich sollte sich Johnson noch zu Gorkis Dramen äußern.1505 Im Rückblick 1502 Niederschrift über die Prüfung (Anm. 1497), Bl. 2v. 1503 Niederschrift über die Prüfung (Anm. 1497), Bl. 3r. Der Asterisk markiert eine unsichere Lesart. 1504 [Art.] Scholochow, Michail Alexandrowitsch, in: Steiner, Lexikon der Weltliteratur (Anm. 1402), S. 613f., hier: S. 614. 1505 Vgl. Niederschrift über die Prüfung (Anm. 1497), Bl. 2v.
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des einstigen Prüflings ist von einer herausfordernden oder aufreibenden Prüfungssituation allerdings keine Rede: Es habe sich vielmehr um »eine Unterhaltung« gehandelt, zu der es »hätte Cognac geben dürfen, wäre da nicht der Beisitzer gewesen.«1506 Inwiefern diese Unterhaltung »ein reichlich skeptisches Gespräch aus Vergleichen zwischen einer vorhandenen Theorie der Literatur und der Theorie des sozialistischen Realismus« gewesen ist, wie Johnson sich erinnert, muss Spekulation bleiben.1507 Das Prüfungsprotokoll lässt sich partiell in diese Richtung deuten: Die Autoren und Themen der auf die Literaturgeschichte ausgerichteten ›deutschen‹ Prüfung haben mit dem sozialistischen Realismus wenig gemein, konnten – und mussten in der DDR – aber gleichwohl aus dieser Perspektive betrachtet werden. Ihnen sozusagen gegenüber stehen die Beispiele der zeitgenössischen Sowjetliteratur, die dieser Form des Realismus und der gängigen so genannten ›Aufbauliteratur‹ zuzurechnen sind, an der sich auch deutsche Schriftsteller der SBZ und frühen DDR beteiligten.1508 Vielleicht zielt Johnson, auch in Anbetracht der ›Doppelprüfung‹ am gleichen Tag, auf diese Gegenüberstellung von deutschsprachiger Literatur der Romantik und des Realismus auf der einen Seite und der sowjetischen Literatur des sogenannten sozialistischen Realismus auf der anderen. Schließlich gehörte zu seinem Studienabschluss noch eine Mittelhochdeutschklausur, die Johnson mit »befriedigend« absolvierte, in der mündlichen Prüfung, die bereits am 14. Juni stattgefunden hatte, aber mit einem »gut« aufwerten konnte.1509 Hier musste er im Gespräch einige Zeilen aus Hartmanns von Aue Erec übersetzen, über mittel- und neuhochdeutsche Zeitformen und die mittelalterliche Literatur Auskunft geben, und sich auch über höfische Werte, die Bedeutung der Wörter ›Ehre‹ und ›truiwe‹ sowie die Minne-Kultur befragen lassen.1510 »Trotz einiger Lücken« im Sprachlichen, konnte Johnson seinen Prüfer, Oberassistent Walter Flämig, anscheinend durch seine »gute[n] lit. Kenntnisse« sowie »die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen« überzeugen.1511 Über den tatsächlichen Inhalt seiner Barlach-Arbeit aber ist im Ergebnis momentan leider nicht mehr zu sagen, als bereits ausgeführt wurde. Spekulationen in einer Weise, dass sie »ein Versuch gewesen sein« könnte, »die Spielwelt des Barlach-Romans […] sich anzueignen«, verbieten sich angesichts dieser 1506 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 124. 1507 Johnson, Einer meiner Lehrer (Anm. 76), S. 124. 1508 Darunter wären prominent zu nennen Erwin Strittmatter mit Tinko (1954) und Ole Bienkopp (1963) sowie Erik Neutsch mit Spur der Steine (1964). 1509 Niederschrift über die Prüfung (Anm. 1497), Bl. 3r. 1510 Vgl. Niederschrift über die Prüfung (Anm. 1497), Bl. 2v. 1511 Niederschrift über die Prüfung (Anm. 1497), Bl. 3r.
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Faktenlage, sie helfen in der Sache auch nicht weiter.1512 Selbst der Erinnerung desjenigen, der mehr wissen müsste, ist ob des zeitlichen Abstands und der sonstigen Qualität seines Gedächtnisses mit Vorsicht zu begegnen: Fast 30 Jahre später berichtet Mayer an Gerhard Schmidt-Henkel, dass es sich »um eine echte Arbeit von Uwe Johnson« gehandelt habe – daran gibt es auch bislang keine Zweifel. Ob es aber auch eine »poetische Paraphrase aus Anlass von Barlach« gewesen ist, womit Neumanns These gestützt würde, lässt sich weder bestätigen noch verneinen.1513 Und so gilt bis auf weiteres: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.«1514 Dieses Schweigen wird hoffentlich bald ein Ende haben: Johnsons Diplomarbeit wurde von Ulrich Fries aus privatem Besitz privat erworben. Fries hat im Kaufvertrag zugesichert, die Arbeit dem Uwe Johnson-Archiv zur Verfügung zu stellen. Mit der Peter Suhrkamp Stiftung, dem Suhrkamp Verlag und der Rostocker Arbeitsstelle der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, an der die Uwe Johnson-Werkausgabe entsteht, ist er einig darüber, dass die Arbeit in der Werkausgabe erstveröffentlicht werden soll – in der Abteilung »Schriften«. Sobald diese Erstveröffentlichung vorliegt, werden fundierte Aussagen darüber möglich sein. Ein kleines Nachspiel ist noch erwähnenswert: In Johnsons Prüfungsakte findet sich ein Dokument, das die Fürsorge Mayers für seinen ambitionierten Studenten bezeugt. Mit einem Aktenvermerk wird der Prodekan der Philosophischen Fakultät Johannes Jahn informiert, dass am 17. September 1956 »Herr Assistent Schubert tel. mit[geteilt habe], daß Herr Prof. Dr. Hans Mayer damit einverstanden ist, daß die Wiederholung der Klausur in ›neuester deutscher Literatur‹ nicht im Prüfungszeugnis vermerkt wird.« – Jahn vermerkt darunter: »Kenntnis genommen und einverstanden« und unterschreibt.1515 Zwei Tage später wurde Johnson sein Zeugnis zugesandt,1516 datiert ist es auf den 23. Juli 1956, den Tag seiner mündlichen Prüfungen bei Hans Mayer.
1512 Neumann, Philologie und Biographie (Anm. 65), S. 171. 1513 Mayer an Schmidt-Henkel, 4. 7. 1988 (Anm. 1490), S. 44. 1514 Ludwig Wittgenstein: Logisch-philosophische Abhandlung. Tractatus logico-philosophicus, in: ders., Werkausgabe, Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus, Tagebücher 1914–1916, Philosophische Untersuchungen, 7., neu durchgesehene Auflage, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 7–85, hier: S. 85. 1515 Am 17. Sept. 1956 [Incipit], in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 5 [Hervorh. im Original]. Die Blattangabe bezieht sich auf die ursprüngliche Foliierung der Akte, das Originaldokument ist verloren gegangen und in der Prüfungsakte als Kopie erhalten. 1516 Vgl. Barsch an Uwe Johnson, 19. 9. 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 4.
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»mit gründlichen gedankenreichen Studien so etwas wie Unernst zu verstehen gegeben«1517 – Resümee
War hier vom Schriftsteller Uwe Johnson die Rede? Welche Auskünfte geben die Schüler- und Studentenarbeiten? In welchem Verhältnis stehen sie zum Werk des Schriftstellers? Der Blick auf die behandelten Pflichtarbeiten Uwe Johnsons zeigt einen ambitionierten und überdurchschnittlich literaturaffinen Studenten, der so sehr ›in Literatur lebte‹, dass die Selbstaussage in seiner Universitätsbewerbung, er würde »sich eben gerne mit Literatur allgemein« befassen, als eine Untertreibung wirken muss.1518 Fachlich haben ihn die vor allem literarhistorischen und textanalytischen Themen kaum vor Schwierigkeiten gestellt. Gleichwohl ist eine Neigung erkennbar, die jeweiligen Aufgabenstellungen nach eigenen Schwerpunkten zu interpretieren, teils gar gezielt von ihnen abzuweichen. Eine solche Herangehensweise konnte Probleme im Studienverlauf zeitigen. Gravierender für die Umstände des Studenten ist noch, dass dieser ›Eigensinn‹ nicht auf Prüfungsaufgaben begrenzt war. Vielmehr ist er als Symptom einer Haltung zu verstehen, die sich in anderen Bereichen wiederfindet, etwa in der Verteidigungsrede für die Junge Gemeinde oder im Versuch, seinem Dozenten die Anfänge des eigenen literarischen Werks angelegentlich werden zu lassen. Ist heute die Individualität eines Menschen, ihre Förderung gerade bei studentischer Klientel, ein hochgeschätztes Gut, so bedeutete sie zu Zeiten von Johnsons Studium ein Risiko. DDRUniversitäten hatten den Auftrag, neue ›Geistesschaffende‹ im Sinne des Marxismus-Leninismus auszubilden und zu ›formen‹. Das Individuum sollte in der ›Volksmasse‹ aufgehen, eine individuelle Haltung, sei sie auch affirmativ-konstruktiv gemeint, stellte eine Bedrohung dar und konnte dem Einzelnen zum Verhängnis werden. Im Bewusstsein solcher Umstände lotete Johnson mit jeder Arbeit das noch ›zulässige‹, sanktionsfreie Maß eines eigenen Standpunkts immer wieder neu aus. Und es ist an der Chronologie seiner Arbeiten zu beob-
1517 Johnson, Mutmassungen über Jakob (Anm. 446), S. 86. 1518 Johnson, Begründung (Anm. 3).
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achten, dass daran ein sukzessiv wachsendes Selbstbewusstsein abgelesen werden kann. Schon Johnsons Bewerbungsaufsatz war insofern ›strategisch‹ ausgerichtet, als er sich mit Arnold Zweig und seinem Romanzyklus einen prominenten literaturpolitischen Repräsentanten zum Gegenstand wählte. Beide Aspekte, Literatur und Politik, spielten in diese Entscheidung hinein, womit angezeigt ist, dass dem designierten Studiosus die enge Verflechtung beider Sphären bereits in der frühen DDR gewärtig gewesen sein dürfte – und dass beide, Politik wie Literatur, gleichermaßen zu berücksichtigen waren. Er war dafür bereits in seiner Güstrower Schulzeit sensibilisiert worden, als Schüler und FDJ-Funktionär hatte er die dortigen Schauprozesse gegen Schulkameraden aus nächster Nähe miterlebt. Überdies erscheint seine karge Figurenanalyse von Zweigs Romanwerk zum Teil dem Zeitgeist verpflichtet, indem er höchst vereinfachend zwischen ›guten‹ und ›bösen‹ Figuren unterscheidet, ›Freund‹ und ›Feind‹ unter ihnen nach ihrer gesellschaftspolitischen ›Fortschrittlichkeit‹ im sozialistischen Sinne ausmacht. Sein Gegenstandsbereich war jedoch nicht nur ein bedeutender zeitgenössischer Schriftsteller, wie spätestens dann deutlich wird, wenn er mit subtiler Ironie politische Parolen überzeichnet, nuanciert-hyperbolisch im propagandistischen Pathos vom Kampf gegen die ›Feinde der Menschheit‹ spricht. So deutet sich bereits im Bewerbungsaufsatz eine Methode an, die Johnson auch in anderen Arbeiten anwenden wird: Zwar war offene Kritik an der Staatspolitik und -ideologie nicht gut möglich, gleichwohl unterbreitete er entsprechende Angebote, indem er seine Texte auf Vieldeutigkeit und Mehrfachbezüglichkeit hin anlegte: Er schrieb ihnen einen Subtext ein, den nur der (noch) verstehen kann, der sich die Kontexte dieser teilschmallippigen Texte vor Augen führt. Mitunter entsteht der Eindruck, dass es dafür nur einen idealen Leser geben konnte – nämlich Professor Hans Mayer, den Aufgabensteller und ewigen Reibungspunkt. Mayer war der akademische Lehrer, an dem Johnson sich aufrichtete und abarbeitete, den er umwarb und brüskierte. Erst allmählich erschließt sich, dass Johnsons Referate, Hausarbeiten und Klausuren zuallererst Zumutungen waren, denen sich Hans Mayer teils wacker, teils abweisend, teils resigniert und teils spielerisch stellte. Aus diesem Grunde, und weil sich Johnsons Winkelzüge ansonsten nicht verstehen ließen, musste Hans Mayer in dieser Untersuchung aus dem Windschatten der Reflexion geholt und immer wieder eigens betrachtet werden. Denn Johnson war zwar studienwillig, begabt und auch ›besonders‹, er war aber auch besonders eigenwillig, sogar widerborstig, bis hin zur (indirekten) Leistungsverweigerung, sodass die eine oder andere Klausur auch als nicht bewertbar erschien. Gleichwohl sind auch diese Arbeiten von einem originellen Funken beseelt, und wenn man sie in ihrer (teils abweisenden) Opakheit verstehen will, muss man ihre Entstehungsbedingungen mitreflektieren. Daraus ergibt sich der bisweilen etwas umständliche Duktus dieser Aus-
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führungen darüber: sie versuchen zu ermessen, was eigentlich nur die (damals) Beteiligten ermessen konnten, ohne spekulativ zu werden oder den Bezugsrahmen der Zeit- und Studienumstände zu weit auszustecken. Das gilt auch für die politisch heiklen ›Gesellschaftswissenschaften‹: Johnson wiederholte in der Klausur über die Grundlagen des Marxismus-Leninismus die zuvor eingetrichterte Staatslehre zur Zufriedenheit des Dozenten. Zugleich unterlief er mit geringen Variationen, etwa durch gezielte Wortwahl und Schwerpunktsetzungen, diese Prüfung und deutete ideologische Widersprüche an. Er bewegte sich hier, wie in seinem gesamten Studium, auf einem schmalen Grat. Einerseits wollte er diese Ausbildung absolvieren, und war damit dem Staat, der sie ihm ermöglichte, zu einem gewissen Grad verpflichtet, andererseits bemerkte er als aufmerksamer Zeitgenosse die offenkundigen Probleme im Land, die Differenz zwischen dem politischen Willen und der Wirklichkeit, zwischen öffentlicher und privater Haltung und Handlungsweise. Zu offener Opposition war er nicht bereit, gleichwohl hielt er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg, wie sein Auftritt vor der FDJ-Versammlung zugunsten der Jungen Gemeinde demonstriert. Dabei richtete er sich nicht grundsätzlich gegen den ostdeutschen Staat, sondern bestand darauf, die Ideale und Versprechen, die dieser Staat seinen Bürgern gegeben hatte, auch umzusetzen. In seinem Roman Ingrid Babendererde fasst er diese Forderung in den Konflikt von Verfassung und Verfassungswirklichkeit der jungen DDR, als noch alles möglich schien, sogar das hehre Ziel, das ›bessere‹ Deutschland auf deutschem Boden zu werden. Mit dieser Verfassungswirklichkeit, die so gar nicht den verbrieften Rechten der ersten Verfassung der DDR entsprach, hatte schon der Rostocker Student seine bitteren Erfahrungen gemacht: Es sollte konstruktive Kritik eines Wohlmeinenden sein, die er vor der Fakultätsversammlung vortrug, es wurde aber als fundamentaler Angriff verstanden. Die in die Marxismus-Leninismus-Klausur sehr behutsam eingeflochtene kritische Haltung kann so auch als Ergebnis seiner vorangegangenen Enttäuschung mit der angedrohten Relegation gelesen werden: Mehr war nicht möglich, wollte er sein Studium nicht weiter gefährden. Praktisch ohne den Aspekt des Politischen kommt in den hier behandelten Studienarbeiten nur eine Klausur aus. Gleichwohl kann Johnson es auch bei der Grammatikprüfung nicht unterlassen, sie doppelt zu besetzen. In diesem Fall wird er aber nicht subtil politisch, sondern explizit literarisch. Augenscheinlich hatte er weniger Interesse an der Pflichtübung, Satzglieder von Gottfried Kellers Erzählung zu bestimmen, als vielmehr an den Gründen, warum ein Autor eine Szene genau auf die Weise erzählt, die Keller gewählt hatte. Dieses offene Interesse am Erzählen hatte eine Rüge des sprachwissenschaftlichen Prüfers zur Folge: denn darum sei es in der Aufgabenstellung nicht gegangen. Anders als Hans Düwel damals, ist heute bekannt, dass Johnson zur Zeit dieser Klausur bereits an seinem ersten Roman arbeitete, und dass seine Neugierde an kon-
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kreten Erzählsituationen (und nicht nur Syntagmen) vor diesem Hintergrund verstanden werden kann. So ist dies ein erster impliziter Hinweis auf Johnsons eigene literarische Ambitionen. Von hier aus ist eine erste Spur ausgelegt in den »Hof virtueller Fortsetzbarkeiten«,1519 der rezeptionsgeschichtlich erst sehr viel später mit der Publikation von Ingrid Babendererde eröffnet wurde, und der in Anbetracht dieser Klausur nun deutlicher erkennbar wird. Bald nach dieser Klausur verlässt Johnson Rostock gen Leipzig. Seine studentischen Arbeiten verändern sich mit diesem Wechsel; nur zum Teil dürfte dieser Eindruck auf die Überlieferungslage zurückzuführen sein, weil mehr Arbeiten aus der Leipziger als aus der Rostocker Zeit erhalten sind. Neben vielen anderen Faktoren, etwa der Begegnung mit dem Leipziger Freundeskreis, der ihm einen ungleich größeren und insgesamt vielfältigeren kulturellen Resonanzraum eröffnete, als er zuvor für Güstrow oder Rostock dokumentiert ist, hat vor allem Hans Mayer eine zentrale Rolle für Johnsons weitere – nicht nur studentische – Laufbahn gespielt: Alle weiteren hier behandelten Klausuren und Referate erbrachte Johnson bei ihm. Das Otway-Referat zeugt von einem intensiven Lektürestudium, das die Grundlage für zielgerichtete Kontextualisierungen umfangreich recherchierten und angelesenen Wissens bildete. Dagegen sprechen auch die vielen quellennahen Übernahmen und Übersetzungen nicht; vielmehr zeigen sie, dass Johnson es verstand, die für sein Darstellungsziel erforderlichen Bausteine auszuwählen und zu einem Ganzen zusammenzufügen. Mag dieses Vorgehen zum (geringeren) Teil einem studentischen Verständnis vom ›wissenschaftlichen Arbeiten‹ unterliegen, so verweist es in der Retrospektive auf den Schriftsteller Johnson und auf ein Grundprinzip seiner Autorschaft: den beständigen Rückbezug auf Realien, Fakten, auf die ›wirkliche Welt‹; oder wie er seinem Kollegen Walter Kempowski empfahl: »die Benutzung anderer Zeugenberichte könnte nicht schaden.«1520 Die umfangreich recherchierten Sachkommentare der bislang in der Rostocker Ausgabe vorliegenden Romane Johnsons bestätigen diese Arbeitsweise, indem sie vielfach zuvor unbekannte Quellen für die Realien seiner erzählten Welten offenlegen; etwa die Verarbeitung einschlägiger Fachliteratur zur versierten Konturierung des Radrennfahrers Achim.1521 Wie mit seinen 1519 Stierle, Ästhetische Rationalität (Anm. 112), S. 15. 1520 Uwe Johnson an Walter Kempowski, 22. 4. 1972, in: Johnson, Kempowski, »Kaum beweisbare Ähnlichkeiten« (Anm. 154), S. 62f., hier: S. 62. Johnson bespricht hier Kempowskis Roman Uns geht’s ja noch gold (1972) und kritisiert dessen Erzählhaltung, nur aus eigener Zeugenschaft zu berichten: »Sie haben nicht gesehen, dass in der ›Reichskristallnacht‹ der Kreisleiter von Rostock auf den Stufen der Synagoge stand, Thora-Rollen zeriss und die Fetzen an Passanten weiterreichte […], aber es ist ein wirkliches Ereignis. Warum nicht dies benutzen?« (ebd.). 1521 Vgl. das Nachwort der Rostocker Ausgabe zum Dritten Buch über Achim: »Das skizzierte Prinzip der Verschmelzung recherchierter Fakten zieht sich durch den gesamten Roman:
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späteren literarischen Übertragungen aus Artikeln der New York Times für die Jahrestage, so verstand es schon der Student, aus (fachlich fundierten) Versatzstücken eine geschlossene ›Erzählung‹ zu konstruieren, die in einen eindrücklichen Seminarvortrag mündete. In diesem speziellen Fall ist es überdies nicht nur das methodische Vorgehen, sondern auch ein ganz konkreter Sachverhalt, mit dem eine Verbindung zum Werk gestiftet wird. Kann in dem Otway-Referat schon eine auf Johnsons Gegenwart zielende doppelte Konnotation des puritanischen Theaterstreits im frühneuzeitlichen England mitgelesen werden, so wird diese ›Doppelbödigkeit‹ in der entsprechenden Englischstunde von Ingrid Babendererde augenfällig, indem sich die historische Konstellation leicht auf die darin erzählte Gegenwart münzen lässt, sich für einen derartigen Vergleich geradezu aufdrängt. Als arrivierter Autor formuliert Johnson den für seine Poetologie bedeutsamen Grundsatz: in einem Roman »soll die jeweils erzählte Vergangenheit«, ganz gleich, wie nah oder fern sie auch sein mag, »uns unsere gegenwärtigen Verhältnisse erklären.«1522 Mag die Keller-Klausur nur implizit und somit interpretativ auf die keimende Autorschaft hinweisen, so liegen in diesem Fall zwischen beiden Texten, Referat wie Roman, nachweisbare intertextuelle Beziehungen vor.1523 Der auf Max Brods Biographie gestützte Lebensabriss Franz Kafkas ist dann bereits auf die ›conditio auctoris‹ fokussiert. Hier geht es offensichtlich nicht um ein Werk, sondern um die Lebensumstände eines Werkstifters, die eindringlich in all ihren Widrigkeiten dargestellt werden. Johnson präsentierte den Prager Autor als einen zum Schreiben Getriebenen, der sein ganzes Streben seinem Werk unterordnete, der sich vermittels Büroarbeit Gelegenheit zur Autorschaft verschaffte, der alles andere und zuletzt das Leben selbst zu opfern war. Die in dem Referat mitzulesende Attraktivität und Dämonie eines solchen Lebensentwurfs bestätigt sich – nicht nur – in den ersten Jahren nach Johnsons Studium, in denen er mit Brotarbeiten darum bemüht war, »ab und zu kein Geld verdienen« zu müssen, um sein eigenes Werk zu stiften.1524 Auch wer sich die späten Jahre
Details von Friedensfahrten verschiedener Jahre sind in das erzählte Radrennen, Elemente verschiedener Großveranstaltungen für die Jugend in die Ost-Berliner Veranstaltung eingeflossen […]. Bis in die Beschreibung einzelner Erlebnisse hinein lässt sich nachvollziehen, wie Johnson sein Material einschmolz und daraus fiktive Wirklichkeiten erfand« (Johnson, Das dritte Buch über Achim (Anm. 262), S. 290). 1522 Johnson, Vorschläge zur Prüfung eines Romans (Anm. 260), S. 400. 1523 Erst die historisch-kritische Edition von Ingrid Babendererde wird hoffentlich das hier noch offene Henne-Ei-Problem lösen können, ob das Referat in den Roman, oder umgekehrt, die Arbeit am Roman in das Referat eingeflossen ist. 1524 Horst Bienek: Werkstattgespräch mit Uwe Johnson. (Am 3.–5. 1. 1962 in West-Berlin), in: Fahlke, »Ich überlege mir die Geschichte« (Anm. 266), S. 194–207, hier: S. 194.
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Uwe Johnsons vor Augen führt, kann die Tragik dieser unbedingten Art und Weise, ganz für ein Œuvre da zu sein, spüren und ermessen. Einem gänzlich anderen, in Teilen aber doch mit Kafka vergleichbaren Lebensentwurf begegnet Johnson in Heinrich Heine: Heine ging ins Exil, um seine Autorschaft zu sichern, arrangierte seine Umstände dergestalt, dass er weiterwirken konnte. Im Gegensatz zu Kafka ›engagierte‹ sich Heine aber sehr viel deutlicher, prangerte die kulturpolitischen Zustände infolge der Restauration des Alten Europas an, die seine Autorschaft unmittelbar beeinträchtigten. Am Ende der von belesener Kennerschaft deutscher Geistesgeschichte zeugenden Ausführungen wiederholte Johnson Heines Forderung nach nationaler Einheit Deutschlands. Damit überschritt er eine Grenze, über die ihm sein Lehrer Hans Mayer (noch) nicht folgen mochte, denn Mayer glaubte noch lange an das sozialistische Experiment; als Leistungsnachweis eines marxistisch-leninistisch geprägten Literaturstudiums fiel Johnson mit seiner Klausur unter fadenscheiniger Begründung durch. Das Wintermärchen hält der deutschen Kleinstaaterei keinen Spiegel vor, sondern zeigt die Perspektive eines Exilanten auf seine einstige Heimat. Erst im Abgleich mit den realen Zeitläuften entbirgt sich das ganze zeitkritische Potenzial dieser Verse, die als »eine Welt, gegen die Welt« gehalten, den Leser etwas erkennen lassen.1525 Und wie Heine nach Paris, so ging Johnson in die Bundesrepublik, um seine Werkstiftung zu gewährleisten. Die Rolle des Exilanten suchte er dabei stets zu vermeiden, wiewohl er von Kritik und Interpreten immer wieder in sie gedrängt wurde. Womöglich ist Johnsons steter Rückgriff auf (historische) Fakten und Ereignisse so auch Teil einer – früh angeeigneten – Strategie, sich vor Vereinnahmungen in die eine oder andere Richtung zu schützen: »Ein Roman ist keine revolutionäre Waffe«, sondern ›nur‹ »eine Version der Wirklichkeit.«1526 Auf Konfrontation mit der Wirklichkeit sind die vermeintlichen Ausführungen zum IV. Schriftstellerkongress ausgerichtet. Johnson trägt hier erstmals seine bislang privat gehaltenen literarischen Ambitionen in den wenigstens halböffentlichen und so auch nur halb-geschützten Raum der Universität und fordert Hans Mayer damit zur Stellungnahme auf. Das Beispiel seines Lehrers, Zeitläufte und Literatur politisch opportun zu interpretieren, verfing bei Johnson nicht. Er unterbreitete nicht nur die eigene ›Literatur‹, sondern positionierte sich damit auch im aktuellen literaturpolitischen Diskurs – und er erwartete eine Antwort, von der er wissen konnte, dass Mayer sie ihm nicht geben durfte. Noch vor den Ablehnungen seines Romans durch DDR-Verlage gerät Johnson hier mit seinem ›literarischen Schreiben‹ in den ersten Konflikt mit den Zeitumständen, denn seine »Gedanken«, so Mayer, hätten zwar durchaus »subjektive 1525 Johnson, Wenn Sie mich fragen (Anm. 1274), S. 62. 1526 Johnson, Vorschläge zur Prüfung eines Romans (Anm. 260), S. 402.
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– oder teilweise sogar objektive – Berechtigung«; sie verfehlten jedoch »Thema und […] Charakter einer Prüfungsarbeit«.1527 Mochte die Universität vielleicht noch mit einer gewissen Berechtigung nicht der Ort für literarische Gehversuche sein, so konnte ihm die DDR schlicht aus politischer – keineswegs literarischer – Willkür diesen Ort auch nicht bieten. Der Noch-nicht-Autor forderte hier erstmals Wahrnehmung und Zuwendung und auch qualifiziertes Urteil ein; es hat den Anschein, als wollte er ›das Urteil‹ erzwingen, indem und soweit sich der Prüfer zur Klausur verhalten musste – und er scheiterte mit diesem ersten Versuch. Eingedenk seiner anfänglichen Weigerung, die nicht bestandenen Prüfungen zu wiederholen, scheint insbesondere Johnsons Hebbel-Klausur zu bestätigen, dass er dazu überredet werden musste, um sein Studium erfolgreich beenden zu dürfen.1528 Denn es handelt sich, gerade in Anbetracht der anderen Arbeiten, um eine erstaunlich sachorientierte Untersuchung, die an keiner Stelle Gefahr läuft, in politischer oder anderer Weise von der Aufgabenstellung abzuweichen. Insofern ist er diese Pflichtübung geschickt angegangen, hat Hebbels Drama fundiert im Koordinatensystem ästhetischer Programmatiken von Schiller, Büchner und auch Lukács eingemessen. Womit er, durch die ablesbare Präferenz für Büchners Ästhetik, letztendlich auch eine kulturpolitische Aussage getroffen hat. Gleichermaßen als Pflicht, ungleich enthusiastischer und kreativer hat sich Johnson mit der zweiten Wiederholungsklausur auseinandergesetzt. Offensichtlich lag ihm Brecht sehr viel näher als Hebbel. Doch auch hier unterlief er streng genommen die eigentliche Aufgabenstellung und nahm seinen Theaterbesuch zum Anlass, um über Brechts episches Theater zu referieren, und so, quasi im Anschluss an Hebbel, Entwicklungslinien deutschsprachiger Dramatik bis in die Gegenwart nachzuzeichnen. Dabei kommt es, angesichts des Themas zwangsläufig, auch zu einer kritischen Perspektivierung der Zeitläufte. Inwiefern sich die Diplomarbeit über Barlachs Der gestohlene Mond mit Johnsons Gegenwart auseinandersetzt, und womit sonst noch, wird erst noch zu eruieren sein. Die bekannten Umstände dieser Arbeit machen aber schon jetzt deutlich, dass Johnson eine große persönliche Affinität und Motivation besessen hat, sich gerade mit Barlach intensiver auseinanderzusetzen. Dieses Interesse am Künstler seiner Güstrower Heimat reichte so weit, dass Johnson gar – freilich vergeblich – versucht hat, Mayer zu einer Begegnung mit Barlachs Freund Friedrich Schult dorthin einzuladen.1529 Konnte Mayer wegen seiner vielfältigen Verpflichtungen dieser Einladung auch nicht folgen, so ermöglichte er Johnson 1527 Mayer, Klausur-Notiz (Anm. 1071). 1528 Vgl. Bierwisch, Begleitumstände (Anm. 92), S. 23f. 1529 Vgl. Uwe Johnson an Hans Mayer, 1. 3. 1957, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/250867.
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Resümee
immerhin die inhaltliche Perspektivierung seiner Abschlussarbeit, die ihm ansonsten thematisch fremd gewesen sein dürfte. Mayer hatte zu diesem Zeitpunkt längst erkannt, dass er es mit einem außergewöhnlichen Studenten zu tun hat. Er gefiel sich, besonders im Nachhinein, in der Rolle des Talentscouts und Patrons: was Johnson seinerseits früh erkennt und teils auf die Probe stellt, ihn aber zum anderen Teil auch mit Mayer verbindet, und zwar weit über das Studium hinaus. Weniger noch als Mayer, so zeigen seine sukzessiv freier, essayistischer werdenden Arbeiten im Verlauf des Studiums, ist Johnson im Raum der Wissenschaft heimisch. Der ›Wille zum Werk‹ setzt ihn in Konflikt mit diesem System, aus dem ihm Mayer den Weg weist. Mayer ist der erste Zöllner im Brecht’schen Sinne, der Johnson einerseits Arbeiten abverlangt, ihm andererseits die Tür in den Raum der Literatur aufstößt, indem er Empfehlungen sowohl beim Aufbau-Verlag als auch bei Suhrkamp ausspricht. Bei Peter Suhrkamp entrichtet Johnson erneut Wegzoll, nämlich seinen zweiten Roman Mutmassungen über Jakob, mit dem Johnson dann als Autor reüssiert. Zum Werk der Schriftstellers Uwe Johnson in einem engeren Sinne gehören all diese Schüler- und Studienarbeiten freilich nicht (wobei auch darüber sich weiter trefflich streiten ließe). Partiell geben sie jedoch sehr wohl Auskunft über Aspekte der beginnenden und späteren Werkstiftung. Das gilt zum Teil, im Hinblick auf Ingrid Babendererde, in einem engen werkgenetischen Sinn. Zum anderen und größeren Teil gilt es in Hinsicht auf die literarische Sozialisation Johnsons, die sich an diesen Dokumenten einer wichtigen Lebensstation ablesen lässt. Neben anderen Lebensdokumenten, Briefen und erhaltenen Manuskripten, bieten Johnsons Studienarbeiten eine einzigartige Perspektive. An ihnen ist einerseits eine Haltung des Studenten zu seinem Studium und damit eine Haltung zu jenem autoritären Staat, in dem es absolviert werden muss, abzulesen; andererseits ist an ihnen auf ganz besondere Weise auch der Autor sozusagen in statu nascendi zu erkennen. Sie zählen somit, gewiss in graduell unterschiedlichem Maße, zum Werkzusammenhang. Sind es zum einen die Methoden der Recherche, Quellenverwertung, Wissensaneignung und -kontextualisierung, so sind es zum anderen literarische und historische Sujets, und nicht zuletzt auch die Bekanntschaft mit verschiedenen Entwürfen von Autorschaft, die sozusagen den Pfad in den ›Werkhof‹ des späteren Autors auslegen. Die Wechselwirkungen zwischen Johnson, seinen Studieninhalten sowie Studien- und Lebensumständen, haben – sowohl inhaltlich als auch methodisch – auf Werkstiftung und Autorschaft eingewirkt. Und so ist es auch nur folgerichtig, seine Schüler- und Studienarbeiten im Rahmen einer Gesamtausgabe zu edieren, und zwar gleichberechtigt neben Werken, Schriften und Briefen, und sie mittels Kommentaren und digitalen Methoden in den Werkzusammenhang einzuflechten, um so das Gesamtbild einer Autorschaft zu präsentieren.
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»für die Republik reicht es erwiesener Massen nicht«1530 – Ausblick
Einen Tag nach seinem 22. Geburtstag und zwei Tage vor seiner mündlichen Abschlussprüfung bietet Johnson dem Aufbau-Verlag sein Romanmanuskript »Ingrid« an. Im Anschreiben vom 21. Juli 1956 betont er, dass ihm daran gelegen sei, dass aus seinem Manuskript »ein Buch wird in der Demokratischen Republik«.1531 Außerdem hebt er hervor, dass er eine Antwort bis zum 10. August benötige. Für den unbekannten Verfasser eines unverlangt eingesandten Manuskripts, beim wohl renommiertesten Verlag der DDR, ist das eine herausfordernde Bitte. In nur drei Wochen erwartet er Antwort, implizit wohl Entscheidung. Johnsons Wunsch, dass ein Buch daraus wird, liest sich gleichermaßen lakonisch wie emphatisch; gerade angesichts der erheblichen Arbeit, die zwischen einem Manuskript und einem fertigen Buch noch liegen kann. Tatsächliche Einblicke in diese Arbeitsprozesse wird er selbst erst später haben. Hier, im Sommer 1956, zeigt er sich damit »besessen von dem Wahn, aus einem abgeschlossenen Typoskript müsse zwangsläufig ein gedrucktes und erhältliches Buch werden.«1532 Dass dies keineswegs »zwangsläufig« so sein müsse, würde er noch begreifen lernen. Es soll hier ein Ausblick auf jene Erfahrungen skizziert werden, die der diplomierte Germanist Johnson im Anschluss an sein Studium in der DDR bei dem Versuch machen wird, im sozialistischen Literaturbetrieb auf die eine oder andere Weise Fuß zu fassen. Die Arbeitssuche auf einem gesteuerten Arbeitsmarkt, der kaum mehr ein ›Markt‹ war, gestaltete sich kompliziert und war am Ende häufig von persönlichen Bekanntschaften und Beziehungen abhängig. Die staatliche Absolventenlenkung war Johnson keine Hilfe. So bemühte er sich 1530 Uwe Johnson an Rudolf Brock, 11. 1. 1958, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150957. Brock, Lektor beim Mitteldeutschen Verlag, hatte Johnson nach der Ablehnung von Ingrid Babendererde nach seinen weiteren literarischen Plänen gefragt, woraufhin Johnson ihm in diesem Brief mitteilte, er sei »das literarische Engagement leid inzwischen« (ebd.). 1531 Uwe Johnson an den Aufbau-Verlag, 21. 7. 1956, in: … leiser Jubel (Anm. 95), S. 184. 1532 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 88.
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neben den eigenen Publikationsversuchen selbst um Arbeit bei verschiedenen literarischen Verlagen in der DDR, die im Spannungsfeld zwischen ideologisch präfigurierter Kulturpolitik und Papierknappheit ein ansprechendes Programm zu gestalten suchten. Exemplarisch steht im Folgenden der Aufbau-Verlag im Blickpunkt, ihm hat Johnson sein Romanmanuskript als erstes angeboten, von ihm wird er umfangreiche Arbeitsaufträge erhalten. Diese dreijährige Phase der Ungewissheit über den eigenen Lebensweg, zumindest hinsichtlich der beruflichen Laufbahn, endet mit der Publikation der Mutmassungen über Jakob und Johnsons Übersiedlung nach West-Berlin. Die Ergebnisse seiner Gelegenheitsarbeiten zwischen Studienabschluss und Romandebüt sind zum Teil, wie auch die hier verhandelten Studienarbeiten, von Bernd Neumann ediert worden; sie haben bis dato nur sporadisch Beachtung gefunden.1533 Eine erste, beinahe euphorische Reaktion auf sein Manuskript erreicht Johnson schon nach zwei Wochen. Aufbau-Lektor Herbert Nachbar zeigt sich in einem Brief vom 7. August 1956 begeistert von Johnsons Roman. Er habe das Buch »in zwei Tagen und einer Nacht« nicht nur »gelesen«, sondern sogleich auch »begutachtet«. Zwar werde Johnson damit »noch einige Arbeit haben«, gleichwohl enthalte es »so viel Wahrheit und […] so viel Talent, daß sich jede Arbeit lohnen wird«. Nachbar betont in seinem Schreiben, dies sei ein »privater Brief«, ein »Ausdruck [s]einer Freude«, dennoch glaube er, dass Johnsons »Buch im Lektorat des Aufbau-Verlages in den richtigen Händen« sei.1534 Für den angehenden Schriftsteller Johnson muss das ein vielversprechender Auftakt gewesen sein. In seinem Gutachten, das nicht für Johnsons Augen gedacht ist, dämpft Nachbar dann seine bloß an den Autor adressierte Ermunterung ins Sachliche: »Bei allen Schwächen, die der Arbeit noch anhaften und die ich hier zum großen Teil schon aufgezeigt habe, halte ich es für erforderlich, daß gerade der Aufbau-
1533 Vgl. Johnson, »Wo ist der Erzähler auffindbar?« (Anm. 13). Als Gradmesser kann das Johnson-Jahrbuch dienen: In den letzten zehn Jahrgängen (2010–2020) finden sich drei Beiträge, die sich explizit mit diesen Gutachten befassen (vgl. Roland Berbig: In fremden Texten. Uwe Johnsons Lektorate, in: Johnson-Jahrbuch, 17/2010, S. 141–158; Bond, Uwe Johnson und der Aufbau-Verlag (Anm. 1457); André Kischel: »dann könnte der Leser was sehen«. Uwe Johnson und ein verhindertes Debüt, in: Johnson-Jahrbuch, 20/2013, S. 193– 208). Thematisch müssen solche Betrachtungen von Untersuchungen der Lektorentätigkeit Johnsons für den Suhrkamp Verlag ergänzt werden; die entsprechenden Quellen befinden sich zum großen Teil im Deutschen Literaturarchiv Marbach (vgl. dort die Bestandssignaturen: SUA:Suhrkamp/01 Verlagsleitung/Autorenkonvolute/Johnson, Uwe; SUA:Suhrkamp/03 Lektorate). Überdies wären noch die Freundschaftsdienste an Büchern und Manuskripten für Autoren anderer Verlage zu berücksichtigen (vgl. dahingehend etwa Uwe Neumann: Kanzlerdämmerung. Uwe Johnson lektoriert ein Gedicht von Günter Grass, in: Johnson-Jahrbuch, 27/2020, S. 93–114). 1534 Herbert Nachbar an Uwe Johnson, 7. 8. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150875.
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Verlag das Buch ›Ingrid‹ herausbringt. Wie gesagt: Ich halte Uwe Johnson für ein Talent, mit dem sich auch weitere Zusammenarbeit lohnen wird.«1535 Herbert Nachbar ist da nur vier Jahre älter als Johnson, hatte nach seinem Abitur in Rostock kurzzeitig ein Medizinstudium aufgenommen, dann aber über Mitarbeit bei verschiedenen Berliner Zeitungen seinen Weg in das Lektorat des Aufbau-Verlags gefunden, wo er von 1953 bis 1957 tätig war. Er selbst galt zu dieser Zeit als eine literarische Hoffnung der DDR. Sein erster Roman, Der Mond hat einen Hof, erscheint 1956 im Aufbau-Verlag, im Jahr darauf erhält er den Heinrich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR. Kenntnisreich und authentisch vermag der in Greifswald als Sohn eines Fischers geborene Autor vom Leben ›einfacher Menschen‹ an der mecklenburgischen Küste zu erzählen. In den Eckdaten ihrer Biographien und in ihrer Themenwahl zeigen sich bei Nachbar und Johnson durchaus Vergleichbarkeiten. Nachbar allerdings hat es 1956 auch ohne Studium zum Lektor und gefeierten Debütanten gebracht. Wiewohl sein Erstling keineswegs vor Kritik gefeit ist. Die Berliner Tageszeitung Neue Zeit bemängelt in ihrer Rezension nicht nur, dass in der Handlungsführung »manches nach einem […] längst als falsch erkannten Rezept gemacht« sei. Darüber hinaus wird moniert: Auch mit der sprachlichen Bewältigung des Themas hapert es. Der Autor sucht im Stil einfach und eindringlich zu sein, dabei unterlaufen ihm aber beträchtliche Fehler syntaktischer und begrifflicher Art. Die Redeweise der handelnden Personen hätte verdient, aus der naturalistischen Kopierung des Lokaljargons in ein allgemein akzeptables Deutsch gehoben zu werden; womit nichts gegen den plattdeutschen Ausdruck, alles aber gegen eine volkstümelnde Primitivierung der Umgangssprache gesagt ein soll.1536
Der Lektor als Autor hätte hier offenbar eines Lektors bedurft. Die Kritikpunkte an seinem Debüt ähneln augenfällig jenen, denen auch Johnsons »Ingrid«-Manuskript ausgesetzt ist. Und zwar letzteres in Ost wie West. Neben den erheblichen Monita seitens des ostdeutschen Aufbau-Verlags durch Günter Caspar und Max Schroeder, werden Einwände bald auch im westdeutschen Suhrkamp Verlag laut werden. Und zwar wird sich der Verlagszögling Siegfried Unseld gegenüber seinem Patriarchen Peter Suhrkamp gegen Johnsons Roman und dessen Erzählweise aussprechen. Unselds Einwände beziehen sich dabei auf den ihm »schal scheinenden Optimismus dieser Jugend«, auf »ganze Dialogpartien in Mecklenburger Platt«, und »überhaupt das Norddeutsche«, denn »das Platt, wer
1535 Zit. nach: Bond, Uwe Johnson und der Aufbau-Verlag (Anm. 1457), S. 162. 1536 K. R. D.: Ein Fischerdorf an der Ostseeküste, in: Neue Zeit, 24. 8. 1956, S. 3.
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verstünde das schon«; der Text insgesamt »zeichnete sich natürlich auch nicht durch übertriebene Lesbarkeit aus«.1537 Die Konstellation ist hier jedoch eine andere: Denn während es den Verlagseigner »juckt«, aus dem Manuskript »ein Buch zu machen«, versucht der Nachwuchslektor, das Projekt zu verhindern.1538 Doch tut er es in der sachlich gebotenen Form und Gesittung sowie mit Argumenten, die sich hören lassen. Hier ist nicht von »Gehirnwäsche« die Rede, sondern von einem Unbehagen, das sich Unseld selbst kaum zu erklären vermag, von »Gründen, die zuvörderst mit der Qualität des Manuskripts nichts zu tun hatten«, die er jedoch festmacht an einzelnen Beobachtungen, von denen er selber weiß, dass sie als Kritik im Grunde nicht tragfähig genug sind, um eine grundsätzliche Zusage des Verlegers rückgängig zu machen.1539 Zurück zu Johnson und Nachbar: Es lassen sich hier Ähnlichkeiten der Lebensläufe und der frühen Werkbiographien konstatieren, wenigstens an diesem spezifischen historischen Ort. Nachbars überschwängliche erste Reaktion ist vor diesem Hintergrund besser zu verstehen. Er ist auf einen jungen, talentierten Kollegen gestoßen, dessen Literatur und Herkunft ihm vertraut sind. Die folgenden Ereignisse illustrieren dann, neben dem Umgang mit dem angehenden Schriftsteller Johnson durch den Aufbau-Verlag, auch Nachbars Stellung im Aufbau-Lektorat, wie überhaupt ein – gewiss schmaler – Einblick darin möglich wird. Einige Jahre später, als Johnson als Schriftsteller in der Bundesrepublik etabliert ist, verhält sich Nachbar öffentlich dann anders, indem er die Position seiner ehemaligen Vorgesetzten vertritt. Er habe Johnsons Manuskript im Aufbau-Verlag durchaus befürwortet, allerdings: »Es sollte erscheinen, Johnson lehnte jedoch weitere Arbeit an dem unfertigen Manuskript ab und verließ gekränkt die DDR.«1540 Mit Datum des 10. August bittet Aufbau-Lektor Günter Caspar Johnson um eine Kopie des »Ingrid«-Manuskripts und um einen Besuch. Der Wunsch nach einer weiteren Kopie ist bemerkenswert. Das Herstellen einer solchen Kopie war 1956, zumal in der DDR, kein einfacher Vorgang, in der Regel erfolgte das über Durchschläge. Hatte der Autor also nicht gleich bei einer maschinellen Reinschrift daran gedacht, Durchschläge anzufertigen, so musste das Manuskript 1537 Siegfried Unseld: Es war kein Zufall, in: Die Begegnung. Autor – Verleger – Buchhändler – Leser, Jahresgruss 1965/66 der Buchhandlung Elwert und Meurer, 1. Folge, 1965, S. 65–67, hier: S. 66. 1538 Uwe Johnson: »Schicksalhaft« war es nicht, in: Die Begegnung (Anm. 1537), S. 60–62, hier: S. 60. Im Wortlaut leicht abweichend zitiert Johnson diesen Brief auch in Begleitumstände (Anm. 20), S. 96. 1539 Siegfried Unseld an Hans Wollschläger, 5. 12. 1963, zit. nach: Hagestedt, Reifeprüfung für Leser (Anm. 868), S. 103. 1540 N. N.: Schriftsteller, Partei und Staat, in: Neues Deutschland, 27. 5. 1961, S. 2.
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erneut abgetippt werden, sei es für weitere Durchschläge oder eine – erheblich aufwendigere – hektographische Vervielfältigung. Zudem muss offen bleiben, weshalb Caspar das Manuskript nicht von Herbert Nachbar bekam, oder war es da schon bei Max Schroeder?1541 In jedem Fall konnte eine solche Bitte einen enormen Aufwand bedeuten. Wahrscheinlich am 14. August treffen sich Caspar und Johnson, der Autor will mit einer Kopie nach Berlin kommen.1542 Bei dieser Begegnung muss Caspar erhebliche Einwände gegen den Roman vorgebracht haben. Johnson selbst berichtet davon, ihm sei bei der Unterredung »aufgegeben« worden, »etwas zu versuchen, was geheissen haben kann ›Vertiefung des gesellschaftlichen Hintergrundes‹«.1543 Wenngleich der ›gesellschaftliche Hintergrund‹ in der DDR etwas anderes meinte, so ähnelt diese Kritik in ihrem Tenor durchaus jenem »Mangel an Welt«, den Peter Suhrkamp dem Text bescheinigt als einen wesentlichen Grund seiner Ablehnung.1544 Caspar teilt Johnson im Nachgang mit, dass auch der Cheflektor, dessen Urteil er erst nach ihrem Gespräch erhalten habe, »praktisch zu derselben Meinung« gelangt sei. Es kann wohl davon ausgegangen werden, dass Caspar Johnson im Gespräch zwar keine ›Gehirnwäsche‹ empfohlen hat, gleichwohl aber Kritik in ästhetischer und vor allem ideologischer Hinsicht vorbrachte. Neben dem Hinweis Caspars, dass Schroeder mit ihm übereinstimme, liefert Johnson rückblickend seine Sichtweise dieses Treffens, die diese Annahme bestätigt. Der Verlag, in diesem Falle also Caspar, hätten »Fragen nach der Vergangenheit einiger Personen sowie nach historischer Kritik und deren Standort« vorgebracht.1545 Die Fragen nach den Personen waren dabei vermutlich die weniger gravierenden. Hingegen verweisen Fragen nach der ›historischen Kritik und deren Standort‹ auf eine politische Dimension. Denn es konnte für eine solche Kritik in der DDR nur einen Standpunkt geben, den des historischen Materialismus, von ihm aus waren die Zeitläufte zu besehen und zu bewerten – auch und gerade in Kunst und Literatur. Wenn schon Vorzeigeautor Arnold Zweig darüber von einem Lektor belehrt werden musste,1546 so erst recht ein unbekannter, noch nicht publizierter ›Autor‹. Johnson solle sich überlegen, ob er
1541 Jürgen Grambow spekuliert, »Caspar sollte vermutlich parallel zu Cheflektor Max Schroeder lesen« (Jürgen Grambow: Uwe Johnson bei Aufbau. Notizen zu einer Vorgeschichte, in: Weimarer Beiträge 36, 1990, Nr. 9, S. 1523–1528, hier: S. 1525). 1542 Mit einem Telegramm vom Samstag, 11. 8. 1956, kündigt Johnson seinen Besuch für »Dienstagvormittag« an, das war der 14. 8. 1956; vgl. Uwe Johnson an [Günter Caspar], 11. 8. 1956, in: … leiser Jubel (Anm. 95), S. 185. 1543 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 89. 1544 Johnson, »Schicksalhaft« war es nicht (Anm. 1538), S. 61. 1545 Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 89. 1546 Vgl. Die Ablehnung von Zweigs Dialektik der Alpen als eine »durch und durch ›bürgerliche‹ Deutung der Geschichte« (Sternburg, Arnold Zweig (Anm. 178), S. 211).
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das Manuskript »im Sinne unserer Debatte« überarbeiten könne.1547 Dieser glaubt zu diesem Zeitpunkt offenbar noch an die Chance, sein Buch im AufbauVerlag publizieren zu können – ein Trugschluss. Denn Caspar schickt ihm das Manuskript zurück, unterstreicht seine ablehnende Haltung mit der Autorität des Cheflektors, und der junge Autor solle einmal sehen, ob er eine Überarbeitung »für möglich erachten« könne. Das ist eine, besieht man die verlagsinterne Kommunikation am Beispiel von Schroeders »Ingrid«-Gutachten, erstaunlich diplomatische Abfuhr – eine, die ihr Ziel verfehlte. Schon knapp zwei Wochen später schickt Johnson eine überarbeitete und ergänzte Fassung. In seinem Begleitbrief listet er auf, wo er zu welchen Personen Ergänzungen vorgenommen hat. Darüber hinaus hat er einige Passagen hinzugefügt, sie werden später unter dem Titel Eine Abiturklasse in der Auswahl Aus aufgegebenen Werken separat veröffentlicht,1548 lange bevor Ingrid Babendererde 1985 schließlich bei Suhrkamp erscheint. »Um Antwort auf […] Fragen nach der Vergangenheit einiger Personen sowie nach historischer Kritik und deren Standort habe« er sich »bemüht«. Johnson erläutert dazu weiter: (Die parteiliche Rüge übrigens ist verwandelt in eine Ermahnung, die »behördliche Verschärfung des Klassenkampfes« aus verschiedenen Gründen entfallen). Die spärliche Interpunktion ist im allgemeinen korrigiert. Ich hoffe aufrichtig, daß es Ihnen so eher recht ist.1549
Damit zeigt Johnson zumindest die Bereitschaft, seinen Text in die gewünschte, auch politische Richtung hin zu ändern. Wenngleich diese Bereitschaft offensichtliche Grenzen hat. Seine Hoffnung, dass es Caspar nun »eher recht« sei, verdeutlicht dabei seine Position. Er ist einen Schritt auf den Verlag zugegangen, zeigt sich kompromissbereit. Deutlich wird zugleich aber auch, dass es Grenzen gibt, die er nicht überschreiten wird. Eine Passage hat er gestrichen, eine andere abgeschwächt; sogar die »spärliche Interpunktion«, die er später noch oft verteidigt und durchsetzt, »korrigiert« er etwas. Doch auch diese zügigen und teils umfangreichen Überarbeitungen waren in Caspars Augen lediglich »interessant«, aber »nicht geeignet den Einwänden zu begegnen«. Caspar wird nun etwas deutlicher. Angesichts der Überarbeitungen hält er eine »Verständigung« nunmehr für »schlecht möglich«. Damit ist das Gespräch über das »Ingrid«-Manuskript seitens des Aufbau-Verlags beendet, auch das überarbeitete Manuskript geht an den Autor zurück. Caspar verweist auf den zweiten Absatz seines vorangegangenen Briefes, in dem er Johnson eine grundsätzliche Überarbeitung empfahl. Die Wiederholung dieser Kritik unter1547 Günter Caspar an Uwe Johnson, 21. 8. 1956, in: … leiser Jubel (Anm. 95), S. 185. 1548 Vgl. Uwe Johnson: Eine Abiturklasse. Aus einem aufgegebenen Roman, in: Aus aufgegebenen Werken, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 107–123. 1549 Uwe Johnson an Günter Caspar, 27. 8. 1956, in: … leiser Jubel (Anm. 95), S. 186.
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streicht die neuerliche Ablehnung sowie die Grundsätzlichkeit der Bedenken des Verlags. Johnson hat aus dessen Sicht nur »Details« im gewünschten Sinne geändert.1550 Abgesehen vom unangemessenen Tonfall der internen Kommunikation geht der Aufbau-Verlag ansonsten im Fall Johnson nach ›Lehrbuch‹ vor. In seinem Beitrag zum sozialistischen Verlagswesen und Verlagsrecht in der DDR geht Dieter Raab knapp auf den Ablauf der Begutachtung und Manuskriptannahme bzw. -ablehnung ein: Lehnen sie [die Gutachten; A.K.] ab oder machen sie erhebliche Mängel geltend, so wird sich der Verantwortliche oder der Cheflektor selber zunächst ein eigenes Urteil bilden. Stimmt auch dieses mit den Gutachten überein, so wird eine grundsätzliche Aussprache mit dem Autor herbeigeführt. Wenn sich dieser einsichtig zeigt und zur Beseitigung der Mängel, also zur Umarbeitung bereitfindet (und der Verlag glaubt, er werde dazu imstande sein), dann wird ein neuer Ablieferungstermin vereinbart und das verbesserte Manuskript einem neuen Begutachtungsprozeß unterzogen. Ist das Manuskript ohne Verbesserungsmöglichkeit schlecht oder weigert sich der Autor, die (objektiv!) nötige Umarbeitung vorzunehmen, dann hat der Verlag das Recht zum Rücktritt vom Vertrag.1551
Johnsons Manuskript durchläuft alle hier aufgezählten Stationen, es könnte so als Exempel dienen für den Umgang mit einem zwar talentierten, aber nur bedingt einsichtigen Autor. Cheflektor Max Schroeder vertrat die unzweideutige Meinung, wie seinem Gutachten zu entnehmen ist, dass der Roman »dünn und verlogen« sei. Johnson gelinge es beispielsweise nicht, »die sturen Parteifunktionäre in ihren Motiven zu erfassen«. Formal sieht er in dem Text einen »Avantgardismus à la Weyrauch« wirksam werden. Einzig als »[t]ypischer Fall von ›Westkrankheit‹« sei der Text »interessant«. Darunter darf man Dekadenz, Ästhetizismus und Beliebigkeit verstehen, die ›Lues‹ der Literatur. Schroeders Resümee lautet: »Autor braucht Gehirnwäsche. Als Talentprobe nicht von besonderem Belang.«1552 Es sei dahingestellt, ob sich Schroeder mit seinem Urteil selbst als ›sturer Parteigänger‹ der offiziellen Literaturdoktrin der DDR erweist, oder ob es sich hier »um das ganz normale Versagen [handelt], das im geistigen Bereich fast einen jeden einmal irgendwann ereilt«; wie Jürgen Grambow, der die einzige Ausgabe von 1550 Günter Caspar an Uwe Johnson, 12. 9. 1956, in: … leiser Jubel (Anm. 95), S. 188. 1551 Dieter Raab: Autor und Lektor. Ein Beitrag zum sozialistischen Verlagswesen und Verlagsrecht in der DDR, Berlin: Deutscher Zentralverlag 1959, S. 39f. 1552 Schroeder, Gutachten (Anm. 906), S. 63. Bemerkenswerterweise datiert Schroeders Gutachten auf den 18. 7. 1956, also drei Tage vor Johnsons erstem Brief an den Aufbau-Verlag. Vermutlich handelt es sich schlicht um einen Tippfehler, es wird der 18. 8. 1956 gemeint sein. Dafür spricht auch, dass Caspar dieses Gutachten am 14. 8. 1956 noch nicht für sein Gespräch mit Johnson parat hatte.
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Johnson-Texten in der DDR 1989 realisiert, es in einer Schroeder-Apologie deutet.1553 Anderen, und vor allem auch Grambow selbst, galt der AufbauCheflektor durchaus als ein »Entdecker neuer Autoren und […] Förderer des schriftstellerischen Nachwuchses«; wiewohl Grambow aber auch feststellt, dass Schroeder »bei Johnson […] offenkundig an Grenzen gelangt« war, »die zu überschreiten ihm nicht möglich« gewesen ist.1554 Schroeder war es beispielsweise, der sich »als erster um« Herbert Nachbar »kümmerte«, als dieser in den Verlag eintrat, ihn sowohl bei der Verlagsarbeit als auch bei seinem eigenen Schreiben unterstützte.1555 Der Aufbau-Verlag widmet ihm anlässlich seines ersten Todestags einen Nekrolog, Max Schroeder zum Gedenken.1556 Mitarbeiter und Autoren des Verlags würdigen darin auf die eine oder andere Weise den einstigen Cheflektor, darunter auch sein Nachfolger und Stellvertreter Caspar. Schroeder habe stets »den Autor, vor allem den noch unbekannten, unsicheren, […] zu höherer Einsicht bringen«, und dem »Neuen, Zukunftsträchtigen zum Durchbruch […] verhelfen« wollen.1557 Sich der Folgen von Nationalsozialismus und Krieg für die deutsche Literatur bewusst, habe Schroeders »besonders liebevolle Aufmerksamkeit, besonders intensive Förderung der Jungen« gegolten, d. h. der nachwachsenden Schriftstellergeneration.1558 Und wenngleich Caspars Würdigung in den höchsten Tönen von Schroeder spricht, wie man von den Toten ja auch nur Gutes sagen soll, so lassen einige Stellen doch aufhorchen: Während seine »Ruhe und Besonnenheit […] sprichwörtlich« gewesen seien, habe er sich durchaus »erregen« können, und zwar »über die Dummheit« etwa – präziser wird Caspar hier nicht –, oder über die »Unzulänglichkeiten des Alltags«.1559 Caspars Loblied stellt sodann ein Erfordernis des sozialistischen Lektors fest: »Kenntnis stützte den Geschmack und das musische Empfinden die politische Einschätzung.« Letzteres bedeutet schlicht, dass Schroeder die Kunst nicht ohne politischen Maßstab bewerten konnte, dass sein ästhetisches Urteil nur ein Zwischenschritt war zu einem politischen. Schroeders Leistungen als Lektor resümiert Caspar schließlich mit dem Satz: »Max Schroeder irrte sich selten in seinem Urteil.«1560 1553 Jürgen Grambow: Westkrankheit à la Weyrauch. Uwe Johnson in der DDR: eine Episode, in: Johnson-Jahrbuch, 6/1999, S. 25–37, hier: S. 37. 1554 Grambow, Westkrankheit (Anm. 1553), S. 28 und S. 37. 1555 Herbert Nachbar: Geliebte Dulline, in: Zu Nachbar. Ein Almanach, hg. von Günter Caspar und Sigrid Töpelmann unter Mitarbeit von Margit Stragies, Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1982, S. 28–33, hier: S. 32. 1556 Vgl. Max Schroeder zum Gedenken, Berlin: Aufbau-Verlag 1958. 1557 Günter Caspar: Gedenkblätter für Max, in: Schroeder zum Gedenken (Anm. 1556), S. 46–61, hier: S. 49. 1558 Caspar, Gedenkblätter (Anm. 1557), S. 54. 1559 Caspar, Gedenkblätter (Anm. 1557), S. 52. 1560 Caspar, Gedenkblätter (Anm. 1557), S. 53.
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Der Fall Johnson lässt Schroeder allerdings in einem anderen, eher zweifelhaften Licht erscheinen. Das harsch formulierte Urteil dieses Cheflektors, das die Grenzen eines zulässigen Umgangstons – insbesondere in einem beruflichen, professionellen Umfeld – überschreitet, lässt Rückschlüsse auf die bedenkliche Konstitution des Aufbau-Lektorats zu. Wie sollte unter den Bedingungen derartiger kommunikativer Gepflogenheiten eine sachliche Auseinandersetzung über Literatur möglich sein? Selbst wenn man mildernd berücksichtigen wollte, dass ein Lektorat in der DDR einen politischen Auftrag hatte, ist damit nicht der ausfallend-unsachliche Ton dieses Gutachtens gerechtfertigt. Im Machtgefüge des Verlags hatte Schroeder zweifelsohne das letzte Wort. Wenn Nachbar als Befürworter und Caspar als zumindest zu einer konstruktiven Zusammenarbeit bereiter Lektor auftreten, so schneidet schon die Art und Weise von Schroeders Gebaren jede weitere Diskussion über das Manuskript ab. Ein harsches Durchregieren von oben nach unten, wie es die Staatsführung der DDR vormacht, zeichnet sich hier auch in den Hierarchien des Aufbau-Verlags bereits an den verlagsinternen Umgangsformen ab. Aus Schroeders Gutachten selbst werden sowohl ästhetische wie auch politische Maßstäbe ersichtlich, die bei der Ablehnung entscheidend sind. Beide Kategorien waren zu diesem Zeitpunkt im Literaturbetrieb der DDR ohnehin nicht mehr zu trennen. In der Kulturpolitik herrschte der Primat der politischen Interessen und Ziele, dem sich alles andere zu fügen hatte. Der Vergleich mit Weyrauch ist dabei sprechend – und ehrenvoll. Nach dem Zweiten Weltkrieg galt Weyrauch »als einer der ersten Autoren der neuen Avantgarde«, die einen radikalen Neuanfang in der Literatur forderte, womit ganz explizit auch die Form gemeint war.1561 Er prägte den Begriff des ›Kahlschlags‹ (1949), der gerade in den unmittelbaren Nachkriegsjahren nicht nur eine schonungslose Darstellung der Realität einforderte, sondern auch eine kathartische Wirkung auf die Sprache als notwendig reklamierte, um sie von den Phrasen der Nationalsozialisten zu befreien.1562 In der DDR galt er als »profilierter bürgerlich-oppositioneller Schriftsteller«, der »durch vielfältige Stilexperimente […] zu poetischer Wirkung gelangen« wolle.1563 Weyrauch konnte 1947
1561 Dieter Lattmann: Stationen einer literarischen Republik, in: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Autoren, Werke, Themen, Tendenzen seit 1945. Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland I, hg. von Dieter Lattmann, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1980, S. 1–166, hier: S. 23. 1562 Vgl. dazu Karl Krolow: Die Lyrik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart. Autoren, Werke, Themen, Tendenzen seit 1945. Die Literatur der Bundesrepublik Deutschland II, hg. von Dieter Lattmann, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1980, S. 1–218, hier: S. 179–181. 1563 [Art.] Weyrauch, Wolfgang, in: Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. 2: L–Z, hg. von einem Autorenkollektiv unter der Leitung von Kurt
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seine Anthologie Die Pflugschar. Sammlung neuer deutscher Dichtung im Aufbau-Verlag erfolgreich in zwei Auflagen publizieren. Im Nachwort skizzierte der Dichter schon die Grundlagen seines Kahlschlag-Begriffs, eines Realismus, der »den Alltag bis in die Ritzen und bis unter die letzten Zwiebelhäute ergreift«, Schriftsteller sollten nicht nur »die Ruinen schildern«, sondern auch, »wer die Ruinen verursacht und also verschuldet hat«.1564 Danach folgte bei Volk und Welt 1956 noch ein Gedichtband (Nie trifft die Finsternis), und 1957 im gleichen Haus eine Lizenzausgabe des berichts an die regierung (die Erstausgabe war 1953 in der Frankfurter Verlagsanstalt erschienen), zu dem Johnson eine Kritik verfasst, die aber nicht veröffentlicht wird.1565 Nach 1957 erfolgen keine weiteren selbständigen Publikationen Weyrauchs in der DDR, gelegentlich werden noch einige Gedichte oder auch kleinere Prosastücke in Sammelbände aufgenommen.1566 Seine öffentliche Auseinandersetzung mit Johannes R. Becher über sein Verhalten als Schriftsteller im ›Dritten Reich‹, der Weyrauch vorgeworfen hatte, angesichts der nationalsozialistischen Diktatur weder emigriert noch verstummt zu sein, mag seinen Teil dazu beigetragen haben. Auch Weyrauch steht hier an einer Wegscheide, wie man Schroeders »Ingrid«-Gutachten entnehmen kann: Er repräsentiert mehr und mehr eine Spielart minimalistischer Avantgarde, die in der DDR unter das Verdikt des Formalismus zu fallen droht. Wer sich an Weyrauch künftig orientiert, kann – Schroeder zufolge – in der DDR nicht mehr reüssieren. In Westdeutschland hingegen wird er nach 1945 als Vertreter und Förderer einer modernen Literatur gehandelt, die mit ihrem Neuanfang einen Gegenkanon stiften wollte. Böttcher, 2., überarbeitete Auflage, Leipzig: Bibliographisches Institut 1974, S. 457f., hier: S. 457. 1564 Wolfgang Weyrauch: Bemerkungen des Herausgebers, in: Die Pflugschar. Sammlung neuer deutscher Dichtung, hg. von Wolfgang Weyrauch, Berlin: Aufbau-Verlag 1947, S. 395–402, hier: S. 396f. 1565 Vgl. Uwe Johnson: Laufendes Band mit Knoten, in: ders., »Wo ist der Erzähler auffindbar?« (Anm. 13), S. 151–154. Johnson bietet seine Besprechung der Neuen Deutschen Literatur an. Da das Buch aber »schon vor längerer Zeit in Westdeutschland erschienen ist«, so die Antwort des Redakteurs Günther Cwojdrak, wolle man »jetzt nicht mehr darauf zurückkommen«, zumal Johnsons Kritik »zu sehr am Text des Buches« klebe und ihr »die kritische Einordnung in einen größeren Zusammenhang« fehle (Günther Cwojdrak an Uwe Johnson, 12. 7. 1957, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150930). 1566 Vgl. Wolfgang Weyrauch: In den Tälern des Hunsrücks, in: Kong am Strande. Erzählungen und Gedichte, hg. von Karl-Heinz Berger, Berlin: Kinderbuch-Verlag 1961, S. 79–88; ders., Mit dem Kopf durch die Wand, in: Erkundungen. 19 westdeutsche Erzähler, hg. von Werner Liersch, Berlin: Volk und Welt 1964, S. 220–228. Neben diesen Prosatexten finden sich Gedichte beispielsweise in diesen DDR-Anthologien: Die ihr geboren werdet heute, hg. von Marianne Dreifuß, Berlin: Verlag Volk und Welt 1959, S. 57–58 (Gesang, um nicht zu sterben); Es rauscht in unserem Lied das Meer. Eine Auswahl alter und neuer Meereslyrik, hg. von Horst Görsch, Berlin: Verlag der Nation 1961, S. 320–322 (Die japanischen Fischer).
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Und wenngleich Weyrauch sich »leidenschaftlich für junge Schriftsteller und eine in jeder Hinsicht kompromißlose neue Dichtung« eingesetzt haben soll, so hatte sein ›Avantgardismus‹ doch wohl auch Grenzen.1567 Von 1950 bis 1958 lektorierte der Schriftsteller für den Rowohlt Verlag. Dort war der Avantgardist Weyrauch, als solcher dem allgemeinen Verständnis nach ein »Vorkämpfer, Neuerer (besonders auf dem Gebiet der Kunst u. Literatur)«,1568 augenscheinlich nicht avantgardistisch genug. So hat er beispielsweise Arno Schmidts Brand’s Haide und Schwarze Spiegel abgelehnt. Alice Schmidt vermerkt in ihrem Tagebuch 1950: »Rechts oben in der Ecke: abgelehnt. 3 engbeschriebne Bogen. Urteil von Weyrauch. Ständig Lob und Tadel gemischt (wir konnten zu lesen nicht widerstehn)«.1569 In der Tat handelte es sich um ein verlagsinternes Gutachten Weyrauchs, auf das Alice und Arno Schmidt hier in einem unbeobachteten Moment im Büro von Heinrich Maria Ledig-Rowohlt einen Blick werfen konnten. Dass es gute Gründe gibt, einen Autor nicht in den internen Schriftverkehr eines Verlages blicken zu lassen, wurde bereits angedeutet. Im Falle Schmidts, der zu dieser Zeit als literarischer Debütant um Anstellung und Anerkennung rang, hat sich der Blick hinter die Kulissen eingeprägt, während seiner Frau diese zweifelhafte Erfahrung einen Tagebucheintrag wert gewesen ist. Im Ergebnis ist ein Einvernehmen mit Weyrauch nicht mehr möglich gewesen: Noch drei Jahre später schimpft Schmidt in einem Brief an Martin Walser, er sei Weyrauch »gar nicht grün!« Denn dieser sei schließlich »Einer von Denen, die Brands Haide, Schwarze Spiegel, und diese Umsiedler überlegen ablehnten; habs mit eigenen Augen gesehen!«1570 Hätte Johnson eine entsprechende Erfahrung mit dem Aufbau-Verlag gemacht, indem er etwa Schroeders Meinung im Wortlaut erfahren hätte, es wäre sicherlich nicht zu einer Zusammenarbeit gekommen. Übrigens erschienen Die Umsiedler nicht bei Rowohlt, Verleger Ledig-Rowohlt hatte seine Ablehnung dem Autor gegenüber jedoch behutsam formuliert: »Es will uns scheinen, als hätten Sie hier in anderer Form, sicherlich auch mit anderen Details, das in ›Brand’s Haide‹ ge-
1567 Michael Bauer: Wolfgang Weyrauch, in: Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 17: Vb–Zz, hg. von Walter Jens, München: Kindler 1988, S. 578–580, hier: S. 579. 1568 [Art.] Avantgardist, in: Duden. Deutsches Universalwörterbuch, hg. von der Dudenredaktion, 7., überarbeitete und erweiterte Auflage, Mannheim, Zürich: Dudenverlag 2011, S. 244. 1569 Alice Schmidt: Tagebucheintrag vom 24. 10. 1950, zit. nach: Arno Schmidt. Eine Bildbiographie, hg. von Fanny Esterházy, mit einführenden Texten von Bernd Rauschenbach, Berlin: Suhrkamp 2016, S. 178. 1570 Arno Schmidt an Martin Walser, 18. 5. 1953, in: »Und nun auf, zum Postauto!« Briefe von Arno Schmidt, hg. von Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 39–41, hier: S. 39.
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staltete Thema noch einmal aufgegriffen.«1571 Um es kurz zu sagen: Weyrauchs poetisches Programm, sein so genannter ›Avantgardismus‹, ging für die DDRLiteratur zu weit, für Arno Schmidt in der Bundesrepublik vielleicht nicht weit genug.1572 Gegen das entschiedene Urteil seines Cheflektors vermochte Herbert Nachbar – wie auch Caspar, selbst wenn er gewollt hätte – sich offensichtlich nicht durchzusetzen. Der noch junge Lektor und Schriftsteller, der seine definitive Rolle noch nicht gefunden hatte, sollte nicht lange Lektor bei Aufbau bleiben. Und »Ingrid« würde nicht in diesem Verlag erscheinen. Diese Erkenntnis mag Johnson zu einem weiteren Brief an Nachbar bewogen haben. Zwar blieb dieser Brief selbst nicht erhalten, aber wenigstens Nachbars Antwort. Anlässlich eines nicht näher bestimmbaren Zeitungsartikels habe Johnson ihm »Rätsel« aufgegeben, die vermutlich dazu dienen sollten, »hypochondrische Zustände zu verschleiern«.1573 Es liegt die Vermutung nahe, dass Johnson bei dieser Gelegenheit seiner Enttäuschung deutlicher als geboten Ausdruck verliehen hat, denn auch Nachbars Formulierung deutet jetzt auf eine Pathogenese des Autors. Vergleicht man sie mit der zunächst positiven, ja zugewandten, ermunternden ersten Zuschrift Nachbars, dann fällt dieser andere Tonfall umso stärker ins Gewicht. Als junger Schriftsteller wird Nachbar um die Verletzlichkeit des anderen wissen. Er ist in jener Rolle schon, in der Johnson sich gern gesehen hätte – Autor und Lektor beim renommiertesten Verlag der ›Demokratischen Republik‹. Vieles muss hier Mutmaßung bleiben, aber Johnson hat sich mit seinem Brief an Nachbar sicherlich keinen Gefallen getan, er ähnelt jetzt dem Zerrbild, das Schroeder von ihm gezeichnet und mit dem er sich letztlich durchgesetzt hat,
1571 Heinrich-Maria Ledig-Rowohlt an Arno Schmidt, 26. 6. 1952, zit. nach: Susanne Fischer: Im Rotbereich. Einige Textbeobachtungen zu den Umsiedlern, in: »Umgängliche Nachbarn erwarten euch«. Zu Arno Schmidts »Die Umsiedler«, hg. von Susanne Fischer, Bargfeld: Arno Schmidt Stiftung 1995, S. 109–122, hier: S. 109. Und mitnichten trifft die Behauptung von Fritz J. Raddatz über Weyrauch zu: »Als erster wies der Rowohlt-Lektor [Weyrauch; AK] auf Arno Schmidt hin« (Fritz J. Raddatz: Wolfgang Weyrauch. Schönheit, aber nicht ohne Wahrheit, in: Die Zeit, Nr. 48, 21. 11. 1980, S. 42). Bereits zwei Jahre vor Weyrauchs Eintritt in den Verlag beschließt Rowohlt-Lektorin Gerda Berger ihr ausführliches Gutachten zu Enthymesis und Leviathan mit der Empfehlung: »Ich stimme vorbehaltlos für eine Veröffentlichung der beiden Erzählungen in einem Bande« (Gerda Berger: Arno Schmidt: Enthymesis. Lektoratsgutachten [18. 3. 1948], in: Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur, Nr. 12, 1985, S. 164–169, hier: S. 168). Daraufhin erscheint der Erzählband Leviathan 1949 im Rowohlt Verlag. 1572 Vgl. auch: Michael Töteberg: »Das ist ein genialischer Mann mit tausend Unarten«. Ein Blick in Verlagsinterna: Gutachten, Aktennotizen und Briefdurchschläge im Rowohlt-Archiv, in: Bargfelder Bote, Lfg. 354–356, S. 3–41. 1573 Herbert Nachbar an Uwe Johnson, 12. 10. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150884.
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damit den Standpunkt des Verlages repräsentierend. Und es ist vielleicht gut, dass Johnson in diese Interna keinen näheren Einblick gewinnt. Dieser erste, gescheiterte Versuch, das eigene Manuskript als Buch erscheinen zu sehen, dürfte für Johnson eine Lehrstunde im Umgang mit Verlagen, speziell denen der DDR, gewesen sein. Er hat erfahren müssen, dass eine positive Einzelmeinung wenig auszurichten vermag und eine frühe Hoffnung herb enttäuscht werden kann. So wiederholen sich hier Erfahrungen, die Johnson an anderen Stellen in anderen Kontexten bereits machen konnte, etwa bei dem Schauprozess in Güstrow, oder der Verfolgung der Jungen Gemeinde während seines Studiums. Die Meinung und Haltung des Einzelnen, so richtig sie auch sein mögen, haben keine Geltung vor den Meinungen und Haltungen der Mächtigen, so falsch sie auch sein mögen. Der Aufbau-Verlag hat es sogar zur persönlichen Begegnung mit dem Stellvertreter des Cheflektors kommen lassen, aber selbst die hat nicht geholfen. Und auch Hans Mayer als mutmaßlicher Patron im Hintergrund hat in Richtung dieses Verlags letztlich nicht viel ausrichten können, weiter hat er Johnson als jungem Autor die Tür nicht öffnen können. Immerhin kannte man sich jetzt schon, und es mag sein, dass dieser erste Kontakt hilfreich war, als Johnson bald darauf bei Aufbau um Brotarbeit nachsuchte. Doch Johnson wollte nicht nur auf dieses eine Pferd setzen. Als die endgültige Ablehnung seines Manuskripts durch den Aufbau-Verlag nicht mehr zu verhandeln ist, sieht er sich nach anderen Optionen um: Es mag aus heutiger Sicht wie ein Spaß des ›verkannten Humoristen‹ Johnson anmuten,1574 seinerzeit wird es aber gewiss eine ernste Angelegenheit gewesen sein. In einem Schreiben an das Staatssekretariat für Hochschulwesen beantragt Johnson die »Einrichtung einer Aspirantur für das Fach Weltliteratur«, und zwar bei Hildegard Emmel, die da schon in Greifswald lehrte.1575 Er habe sich bereits an der Rostocker, dann aber vor allem an der Leipziger Universität mit diesem Thema befasst, habe »hauptsächlich für ein weltliterarisches Seminar von Herrn Prof. Dr. Mayer« gearbeitet, wozu er sich erlaube, »die Beurteilung eines dort gehaltenen Referates« beizulegen.1576 Ebenfalls im September 1956 verhandelt Johnson mit dem Rostocker Hinstorff Verlag über ein Exposé für eine Neuausgabe von Felix Hollaenders
1574 In einem Interview erklärt Johnson, er sei »ein verkannter Humorist« (»Ein verkannter Humorist«. Gespräch mit A. Leslie Willson (am 20. April 1982 in Sheerness-on-Sea), in: Fahlke, »Ich überlege mir die Geschichte« (Anm. 266), S. 281–299, hier: S. 294). 1575 Uwe Johnson an das Staatssekretariat für Hochschulwesen, Philosophische und Theologische Fakultäten, Sachgebiet Aspiranturen, 21. 9. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150881, Bl. 18r. 1576 Johnson an das Staatssekretariat für Hochschulwesen, 21. 9. 1956, (Anm. 1575), Bl. 18r. Die erwähnte Beurteilung war womöglich zum Otway-Referat, sie ist nicht erhalten.
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Roman Der Weg des Thomas Truck. Man bittet ihn: »Sagen Sie uns Ihre ungeschminkte Meinung«, und bietet dafür 200 Mark (abzüglich Steuern).1577 Und auch die Publikation »Ingrids« hatte Johnson noch keineswegs ad acta gelegt. So meldete sich im Oktober 1956 die Redaktion des Sonntag bei ihm: Man habe von Herbert Nachbar von seinem Manuskript gehört und wolle es einmal lesen und vielleicht, wenigstens auszugsweise veröffentlichen.1578 Johnson antwortet, er »missbillige sehr die Indiskretionen, die das Lektorat des Aufbau Verlages« damit an den Tag gelegt habe, schickt aber dennoch sein Manuskript, nicht ohne auf die »Selbstverständlichkeit« hinzuweisen, dass das Manuskript in »der Redaktion Händen« verbleiben müsse.1579 Johnson wusste um die politische ›Sprengkraft‹ seines Manuskripts, die Reaktionen des Aufbau-Verlags haben sie ihm bestätigt. So musste er es mit Sorge betrachten, wenn ihm die Kontrolle darüber abhanden kam, wenn Lektoren in verschiedenen Verlagen darüber redeten, es könnte dem falschen zu Ohren kommen. Dennoch hat er parallel mit dem Leipziger Paul List Verlag Kontakt gehabt, wobei sich die Erfahrungen mit dem Aufbau-Verlag wiederholt zu haben scheinen: Am 22. November gab es ein persönliches Treffen, vier Tage später wird ihm sein Manuskript zurückgeschickt.1580 Immerhin kann er infolge dieses Kontakts als Brotarbeit ein Auftragsgutachten verfertigen, das ihm 80 Mark (vor Steuern) einbringt.1581 Entgegen seiner Bitte um Diskretion, trägt der Sonntag-Redakteur Georg Piltz die Kunde von »Ingrid« an den Mitteldeutschen Verlag weiter. Piltz’ Meinung, der das Manuskript »gelesen und positiv beurteilt« habe, gilt dort offenbar etwas, man wolle sehen, ob der Text sich für eine neue experimentelle Reihe eigne, was letztendlich nicht der Fall war.1582 Wie schon zuvor, ist das abgelehnte Manuskript auch in diesem Fall die Eintrittskarte für gelegentliche Zuarbeiten.1583 1577 Peter E. Erichson an Uwe Johnson, 24. 9. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150882. Vgl. dazu Uwe Johnson: Lektorat. Betreffend eine Neuherausgabe des Romans »Der Weg des Thomas Truck« von Felix Hollaender, erschienen bei Hinstorff in Rostock o. J., in: ders., »Wo ist der Erzähler auffindbar?« (Anm. 13), S. 121–127. 1578 Vgl. Georg Piltz an Uwe Johnson, 19. 10. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150885. 1579 Uwe Johnson an Georg Piltz, 1. 11. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150886. 1580 Vgl. Paul-List-Verlag an Uwe Johnson, 26. 11. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150889. 1581 Vgl. Paul List Verlag an Uwe Johnson, 5. 2. 1957, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150895; Uwe Johnson: Lektorat. Über den Roman Come in Spinner by Dymphna Cusack and Florence James, William Heinemann Melbourne/London/Toronto (1951f.), in: ders., »Wo ist der Erzähler auffindbar?« (Anm. 13), S. 134–136. 1582 Rudolf Brock an Uwe Johnson, 25. 2. 1957, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150897. Womöglich hatte sich Piltz mit
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Trotz der endgültigen Ablehnung des »Ingrid«-Manuskripts im September 1956 treffen sich Aufbau-Lektor Caspar und Johnson bereits im Februar 1957 wieder in Berlin. Der Germanistikabsolvent ist neben seinen schriftstellerischen Versuchen auf der Suche nach einer Anstellung. Von dem Vorhaben, in der DDR selbst mit der eigenen Literatur in Erscheinung treten zu können, hatte Johnson sich zu diesem Zeitpunkt wohl schon weitestgehend verabschiedet. Zwar trifft er sich in Ost-Berlin mit Caspar, derweil »lag eine Kopie der ›Reifeprüfung‹ seit Ende Februar 1957 beim Suhrkamp Verlag«.1584 Mit Caspar spricht Johnson offensichtlich über die Möglichkeit gelegentlicher Honorararbeiten. Seine Überlegung, in der DDR zu leben und in der Bundesrepublik zu publizieren, ist hieran abzulesen, er hält sich noch alle Optionen offen. Das sondierende Treffen mit dem Vertreter des Aufbau-Verlags ist allerdings erstaunlich, ist doch seine ›Talentprobe‹ in den Augen des Cheflektors dort ein halbes Jahr zuvor noch krachend durchgefallen. Im Mai 1957 meldet sich Johnson wieder mit der Bitte um gelegentliche Honorararbeiten. Er habe von Hans Mayer von einer solchen Möglichkeit gehört. Mayer hat sich augenscheinlich also für seinen ehemaligen Schüler mit Nachdruck eingesetzt. Vermutlich liegt die Erklärung, warum der Aufbau-Verlag einen in seinen Augen gescheiterten und der ›Gehirnwäsche‹ bedürftigen Berufseinsteiger mit Verlagsarbeit betrauen will, in der Person Hans Mayers begründet. Weitere Belege dafür, über Johnsons Brief hinaus, lassen sich allerdings nicht finden. Der Name seines Professors diente ihm offenbar als Eintrittskarte in die Verlagsarbeit.1585 Mayer war als einer der vielleicht emsigsten Akteure des Literaturbetriebs der DDR da schon lange mit Cheflektor Schroeder per Du, man konnte recht offen miteinander reden. Mayer schreibt Gutachten, Vor- und Nachworte für den Aufbau-Verlag, empfiehlt auch mal ein Buch oder einen Autor.1586 Wie offen zwischen beiden gesprochen wurde, zeigt sich, als Mayer gelegentlich eines Gutachtens schriftlich nachfragt, »ob die Begutachtung zunächst nur prüfen soll,
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Johnson abgesprochen, Johnson bedankt sich jedenfalls später für die Vermittlung (vgl. Uwe Johnson an Georg Piltz, 30. 6. 1957, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150927). Für den Mitteldeutschen Verlag fertigt Johnson Gutachten über Rudolf Bartschs Die Lüge geht mitten durchs Herz und Werner Gnüchtels Romanmanuskript Flucht vor dem eigenen Ich an (vgl. Uwe Johnson: Gutachten über Rudolf Bartsch: Die Lüge geht mitten durchs Herz. Roman, nicht beendet, in: Johnson, »Wo ist der Erzähler auffindbar?« (Anm. 13), S. 143–150; ders., Lektorat betreffend Werner Gnüchtel: Flucht vor dem eigenen Ich (Arbeitstitel). Roman im Manuskript Seite 1–360 nicht beendet, in: Johnson, »Wo ist der Erzähler auffindbar?« (Anm. 13), S. 137–142). Johnson, Begleitumstände (Anm. 20), S. 96. Vgl. Uwe Johnson an Günter Caspar, 11. 5. 1957, in: … leiser Jubel (Anm. 95), S. 189. Vgl. etwa Mayer, Der Dramatiker Bernard Shaw (Anm. 1404); ders., Gerhart Hauptmann und die Mitte, in: Gerhart Hauptmann: Ausgewählte Werke in acht Bänden, hg. von Hans Mayer, Bd. 1, Berlin: Aufbau-Verlag 1956, S. 5–21.
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ob es sich um eine ideologisch einwandfreie Arbeit handelt, oder […] ob es sich empfiehlt, die Studie zu übersetzen und zu publizieren.«1587 Eine ideologische Prüfung war in Mayers Augen wohl angeraten, handelte es sich bei der Studie doch um eine Betrachtung von George Bernhard Shaws Literatur im Kontext seiner Mitgliedschaft in der britischen sozialistischen ›Fabianischen Gesellschaft‹.1588 Da Shaw es schon in den frühen 1950er Jahren in den Englisch-Unterricht der DDR geschafft hatte, musste wohl gut geprüft sein, was man sonst so über ihn veröffentlichte. Doch ist das geschäftliche Verhältnis nicht frei von Störungen: Als Mayer eines seiner Manuskripte vom Verlag zurückbekommt, »das von S. 1 bis S. 43 übersät ist mit Unterstreichungen, vierfachen Fragezeichen, vierfachen Ausrufungszeichen, einfachen bis dreifachen Frage- und Ausrufungszeichen, mit roten und blauen Notierungen«, die dann auch noch plötzlich aufhören, als habe der »wütende Kritiker […] den Fall als hoffnungslos erkannt und aufgegeben«, platzt ihm der Kragen. Er beschwert sich direkt bei Erich Wendt, der neben seinen vielen parteipolitischen Funktionen bis 1954 auch offizieller Leiter des Aufbau-Verlags war, und kündigt umgehend jede Zusammenarbeit mit dem Verlag auf. Mit »einem Verlag weiterzuarbeiten«, der seine Texte »in dieser Weise ›lektorierte‹«, wäre ihm schlicht nicht möglich. Zugleich ist Mayer aber auch daran gelegen, dass seine »persönlichen Beziehungen« zu den ihm vertrauten Verlagsmitarbeitern durch seine Entscheidung »nicht getrübt werden sollen«.1589 Pikant an diesem Vorgang ist, dass für die monierten Anstreichungen, Ausrufe- und Fragezeichen kein geringerer als Wolfgang Harich verantwortlich zeichnete. In einer internen Hausmitteilung muss sich dann Schroeder gegenüber Wendt rechtfertigen, er habe »Harich gebeten, keine Randbemerkungen auf dem Manuskript zu machen, sondern fragliche Stellen nur anzustreichen. Er hat dies allerdings in einer recht ausführlichen und drastischen Form getan.«1590 Durch das Engagement von Schroeder und Walter Janka, eigentlich stellvertretender, tatsächlich seit 1952 De-facto-Leiter des Verlags, konnte Mayer in den folgenden Monaten wieder zu einer Zusammenarbeit bewogen werden. Ähnlich pikiert zeigte sich Mayer einige Jahre später, als er erfuhr, dass der Verlag ein Außengutachten zum Nachwort seines BüchnerBuches eingeholt habe. Mayer fühlte sich in seiner ›wissenschaftlichen Ehre‹ angegriffen, schließlich handele es sich doch um eine gut fundierte »Polemik gegen die gesamte westliche Büchner-Literatur«. Ein solches Vorgehen könne er 1587 Hans Mayer an Max Schroeder, 13. 11. 1952, in: Mayer, Briefe (Anm. 568), S. 140–142, hier: S. 141. 1588 Vgl. Alick West: A good man fallen among Fabians, London: Lawrence & Wishart 1950. Das Buch wurde nicht für den Aufbau-Verlag übersetzt. 1589 Hans Mayer an Erich Wendt, 12. 6. 1953, in: Mayer, Briefe (Anm. 568), S. 162–167, hier: S. 164. 1590 Max Schroeder an Erich Wendt, 15. 6. 1953, zit. nach: Mayer, Briefe (Anm. 568), S. 167.
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nicht verstehen; wiewohl er über genügend Erfahrung im Verlagsbetrieb verfügte, um es besser zu wissen, fragte er: »Was soll denn da noch begutachtet werden?«1591 Der Zeitraum, in dem Johnson vom abgelehnten Autor zum Mitarbeiter auf Honorarbasis wird, ist zugleich die Zeit einer schweren Krise des Verlags. Im Dezember 1956 wird die so genannte Harich-Gruppe verhaftet. Aufbau-Lektor Wolfgang Harich, der als Rädelsführer angesehen wird, weil er die Ansichten und Forderungen der Gruppe schriftlich fixierte, wird zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die gesamte Angelegenheit wird in einem Schauprozess öffentlich groß inszeniert. Neben ihm wird auch Walter Janka verhaftet und zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Den Mitgliedern dieser Gruppe werden konterrevolutionäre Aktionen und ›Boykotthetze‹ vorgeworfen, ein gängiger Kunstgriff, wenn man in der DDR kritische Geister aus dem Weg räumen wollte. Hier hatte eine Gruppe Intellektueller, aus dem Aufbau-Verlag und der Redaktion des Sonntag, das Sakrileg begangen, bei gemeinsamen Treffen über Optionen einer Annäherung der Bundesrepublik an die DDR unter sozialistischem Vorzeichen zu diskutieren. Die Quintessenz ihrer Debatten versammelte Harich in der Streitschrift Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus.1592 Gefordert wurde darin u. a. die Souveränität der DDR, die Absetzung Walter Ulbrichts und schließlich eine Wiedervereinigung beider deutscher Staaten. Eine zweifelhafte Hoffnung auf solche Veränderungen stützte sich auf die von Chruschtschow mit seiner Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU begonnene Entstalinisierung, worauf Demonstrationen und Aufstände in den Ostblock-Staaten folgten; einige der ostdeutschen Wortführer bezahlten ihr Engagement mit langjährigen Haftstrafen. In der Folge verlor der Aufbau-Verlag auch einen Teil seines Sonderstatus, den er bis dato unter den Verlagen der DDR genossen hatte. Er wurde nun kürzer an die politische Leine genommen, an eine Publikation von Kafka beispielsweise oder Proust, wie Mayer sie zusammen mit den Verantwortlichen im Verlag zu eben dieser Zeit erwogen hatte, war erst einmal nicht mehr zu denken.1593 Es ließe sich nun vermuten, dass die Aufnahme von Johnsons Verlagstätigkeit mit dem Wegbrechen erheblicher Teile des Aufbau-Lektorats im Zusammenhang stünde. Gleichwohl ist unwahrscheinlich, dass der in diesen Dingen unerfahrene Johnson einen Harich oder gar Janka hätte ersetzen können. Die Aufträge, die 1591 Hans Mayer an Günter Caspar, 17. 10. 1958, in: Mayer, Briefe (Anm. 568), S. 379–381, hier: S. 379. 1592 Vgl. Wolfgang Harich: Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismus. Entwurf (1956), in: ders., Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in der DDR, Berlin: Dietz 1993, S. 111–160. 1593 Vgl. Hans Mayer an Günter Caspar, 10. 9. 1956, in: Mayer, Briefe (Anm. 568), S. 299; sowie Hans Mayer an Günter Caspar, 6. 6. 1957, in: Mayer, Briefe (Anm. 568), S. 327f.
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ihm gegeben werden, sagen auch etwas über die ihm zugedachte Stellung im Verlag. Johnson kündigte seinen Besuch im Verlag für den 16. Mai 1957 an, bei einem Treffen im Februar des gleichen Jahres hatten er und Caspar schon einmal die Möglichkeiten einer Zuarbeit angesprochen. Das neuerliche Treffen zwischen Johnson und Caspar ist erfolgreich. Offenbar konnte man sich schnell verständigen, dieses Mal unter gänzlich anderen Vorzeichen. Johnson ist nun freier Mitarbeiter des Verlags, ein Außengutachter, auf den bei Bedarf zurückgegriffen werden kann. Bereits am 3. Juni übersendet er sein Wedekind-Exposé, eine Woche später lässt er eine Ergänzung dazu folgen, denn er habe Zweifel bekommen, »wegen der apodiktischen Knappheit der Begründung für die DramenAuswahl«; überdies habe er mit Hans Mayer darüber gesprochen, wodurch weitere Ergänzungen am Exposé nötig geworden seien.1594 Als Honorar erhält er dafür 500 Mark brutto, abzüglich Steuern somit 430 Mark. Das war ein guter Monatslohn zu dieser Zeit, vorausgesetzt, man konnte eine solche Arbeit in einem Monat leisten. Das durchschnittliche monatliche Bruttoarbeitseinkommen betrug 1957 in der DDR 460 Mark.1595 Mit seinen Ergänzungen zum Wedekind-Text kündigt Johnson auch sogleich an, dass er das Werfel-Exposé gegen Monatsende fertig haben werde. Diese selbstgesetzte Frist überschreitet er um wenige Tage, als er seinen Text am 5. Juli an den Verlag schickt und bald darauf 645 Mark dafür erhält. Diese Art der Zusammenarbeit scheint sich nun eingespielt zu haben: Als Johnson bei der Rückkehr aus dem Urlaub ein »wortloses Päckchen ›Stern der Ungeborenen«‹ vom Aufbau-Verlag vorfindet, weiß er, was zu tun ist: »Ich sende Ihnen das Buch mit einem Gutachten in der Anlage zurück.«1596 – »Wortlos war in diesem Fall Zeichen dafür, daß wir an Ihrem Exposé nichts auszusetzen fanden«, lautet die Rückmeldung aus dem Verlag.1597 Ende März des folgenden Jahres sendet Johnson dann seine letzte Arbeit für den Aufbau-Verlag an Caspar, es ist das Exposé zu einer Auswahl aus dem Werk von Peter Altenberg.1598 Eine Rückmeldung seitens des Verlags ist dazu nicht überliefert, ein Buchungsbeleg dokumentiert immerhin, dass er dafür 645 Mark erhält, jeder weitere Kontakt scheint danach abzubrechen.1599 Als Johnson ein halbes Jahr später nach neuer Arbeit fragt, wird mit einem Telegramm abge-
1594 Uwe Johnson an Günter Caspar, 10. 6. 1957, in: … leiser Jubel (Anm. 95), S. 190. 1595 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Deutschen Demokratischen Republik. Jg. 35, 1990, hg. vom Statistischen Amt der DDR, Berlin: Rudolf Haufe 1990, S. 52. 1596 Uwe Johnson an Günter Caspar, 28. 8. 1957, in: … leiser Jubel (Anm. 95), S. 192f., hier: S. 192f. 1597 Günter Caspar an Uwe Johnson, 2. 10. 1957, in: … leiser Jubel (Anm. 95), S. 193. 1598 Vgl. Uwe Johnson: Exposé zu einer Auswahl aus dem Werk von Peter Altenberg, in: ders., »Wo ist der Erzähler auffindbar?« (Anm. 13), S. 81–116. 1599 Vgl. Dokument von Aufbau-Verlag, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/000455.
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wiegelt: »neuer Auftrag nicht in Aussicht.«1600 Damit endet diese Zusammenarbeit mit jenem Verlag, von dem Johnson zwei Jahre zuvor gehofft hatte, er würde ein Buch aus seinem Manuskript machen. Neben diesen Lektoratsarbeiten ist Johnson noch mit einer Reihe weiterer Brotarbeiten zwischen 1956 und 1959 beschäftigt, etwa mit einer Übertragung des Nibelungenlieds in neuhochdeutsche Prosa zusammen mit Manfred Bierwisch und der Übersetzung von Herman Melvilles im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg angesiedelten Roman Israel Potter.1601 Ohne feste Anstellung war er auf solche Arbeiten angewiesen. Rückblickend hat es den Anschein, als habe ihn die ökonomische Misere, die Arbeitslosigkeit im selbsternannten ›Arbeiter- und Bauernstaat‹ persönlich weniger getroffen, als man es vielleicht annehmen könnte: »Ich fuhr drei Jahre lang umher und herum, es kam mir eigentlich nur darauf an, Geld zu verdienen: so viel Geld, daß ich ab und zu kein Geld verdienen mußte.«1602 Kein Geld verdienen zu müssen, sprich keine Brotarbeiten abzuleisten, bedeutete für Johnson wahrscheinlich Gelegenheit, sich den eigenen Projekten widmen zu können. Hatte er doch von Peter Suhrkamp den ›Auftrag‹ zu einem neuen Buch erhalten, dem er sich verpflichtet fühlte. Dieses Buch war nun zu schreiben: »Erste Vorarbeiten zum Roman sind bereits auf die Handlungszeit, also den Herbst 1956 datierbar, für 1957 und 1958 finden sich recht kontinuierlich Arbeitsspuren.«1603 Ab hier sind Biographie, Schaffen und Wirkung des Schriftstellers Johnson umfangreich, keineswegs erschöpfend, dokumentiert und untersucht. Die Lücke der Jahre von 1956 bis 1959 bedarf aber noch einiger Aufmerksamkeit, die ihr mittels der Uwe Johnson-Werkausgabe, in Gestalt der erhaltenen und gleichberechtigt neben anderen Zeugnissen von ›Leben und 1600 Aufbau-Verlag an Uwe Johnson, 28. 10. 1958, in: … leiser Jubel (Anm. 95), S. 195. 1601 Johnson erhielt zwar das Honorar für die Übertragung, wurde aber zunächst nicht als Übersetzer des Romans genannt (in späteren Auflagen dann sehr wohl). Günter Grass empörte sich an Stelle Johnsons darüber bei Hermann Kant und den ostdeutschen Kollegen auf dem V. Schriftstellerkongress in Berlin (25.–27. 5. 1961), nicht wissend, dass Johnson der Nicht-Nennung zugestimmt hatte (vgl. Kai Schlüter: Günter Grass im Visier. Die Stasi-Akte. Eine Dokumentation mit Kommentaren von Günter Grass und Zeitzeugen, 2., durchgesehene Auflage, Berlin: Ch. Links 2010, S. 38; vgl. Uwe Johnson: Erklärung, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/ H/151007). Zum Nibelungenlied vgl.: Das Nibelungenlied. In Prosa übertragen von Manfred Bierwisch und Uwe Johnson. Mit einem Nachwort von Uwe Johnson und einem Essay von Manfred Bierwisch, 3. Auflage, Berlin: Insel 2014 (In seinem Essay berichtet Bierwisch ausführlich über die Entstehungsgeschichte dieser Übertragung, vgl. ebd., S. 247–263); vgl. dazu Florian Kragl: Das Nibelungenlied im Zeitraffer. Zur Übersetzung von Uwe Johnson und Manfred Bierwisch, in: Johnson-Jahrbuch, 22/2015, S. 75–108. Eine vergleichbare Untersuchung der Übersetzungsleistung Johnsons bei Melvilles Roman steht noch aus. 1602 Bienek, Werkstattgespräch mit Uwe Johnson (Anm. 1524), S. 194. 1603 Nachwort, in: Johnson, Mutmassungen über Jakob (Anm. 446), S. 259–305, hier: S. 259.
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Werk‹ edierten Gutachten und sonstigen Arbeiten, hoffentlich zuteil werden wird. Abgesehen von den persönlichen Umständen, der wirtschaftlichen Notlage eines Arbeitslosen, bestenfalls eines Gelegenheitsarbeiters in der DDR, verdienen seine Zuarbeiten für die verschiedenen Verlage eingehendere Betrachtungen. Und zwar nicht nur dahingehend, über welche Texte er zu urteilen hatte, sondern vor allem, in welcher Weise und nach welchen Maßstäben er das unter welchen Umständen getan hat.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
16.1 Verzeichnis archivalischer Dokumente Am 17. Sept. 1956 [Incipit], in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 5. Antrag des Aufbau-Verlags Berlin vom 12. 3. 1956 auf Erteilung einer Druckgenehmigung für Bernard Shaw: Dramatische Werke Band I–IV, in: BArch, DR 1/5076a, Bl. 327–330. Beurteilung für den Studenten Uwe Johnson – IV/4, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/001876. Dokument von Aufbau-Verlag, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/000455. Hans Mayer: Als Klausurthemen zur neueren deutschen Literatur stehen zur Wahl [Incipit], 6. 7. 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 28. Hans Mayer: Als Themen aus dem Bereich neuester deutscher und ausserdeutscher Literatur stehen zur Auswahl [Incipit], 6. 7. 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 9. Hans Mayer: Beurteilung […] im Fach Deutsch (Neuere deutsche Literatur), 22. 7. 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 8. Hans Mayer: Bewertung von Uwe Johnson, in: Johnson, Uwe: 2. Klausur im Staatsexamen »Neuere Deutsche Literatur«. Heines Deutschlandkritik im »Wintermärchen«, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 16–18. Hans Mayer: Seminarschein, 17. 5. 1955, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/001874. Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Weimarer Theaterzettel, Signatur: ZC 120, Verfilmungsnummer: 000780 und 000818. Karl-Marx-Universität Leipzig. Philosophische Fakultät: Zeugnis über die UniversitätsAbschlußprüfung für die Fachrichtung Deutsch. Herr Uwe Klaus Dieter Johnson, 23. 7. 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 1–3. Lothar Grünewald: Lektorat an das Ministerium für Kultur, Hauptverwaltung Verlagswesen, Karl May »In Abrahim Mamurs Gewalt«, in: BArch, DR 1/5035, S. 383f. Mündliche Prüfung am 21. 5. 1954, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 33. Mündliche Prüfung am 25. 5. 1954, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 32. N. N.: Referat auf der Sitzung der Parteileitung der Universität Rostock am 20. 5. 1953, in: Universitätsarchiv Rostock, Informations- und Arbeitsberichte 1950–58, FDJ 30, S. 1– 15.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
Niederschrift über die Prüfung des cand. phil. Uwe Johnson, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 2–3. Personalbogen für Kandidaten, 14. 11. 1955, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 10. Personalbogen, 14. 11. 1955, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 11f. Protokoll der Mitgliederversammlung der Genossen Studenten der phil. Fak. und der landw. Fak. 26. 6. 1953, in: Universitätsarchiv Rostock, Mitgliederversammlungen der SED-Grundorganisation der Phil. Fakultät 1951–1966, UPL 191, S. 1–4. Protokoll Nr. 5/53 der Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees am 27. Januar 1953, in: BArch, DY 30/J IV 2/2/259. Uwe Johnson: [Eidesstattliche Versicherung], in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 52. Uwe Johnson: [ohne Titel; Ingrid Babendererde], 3. Fassung, o. D., in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/000231. Uwe Johnson: 3. Klausur im Staatsexamen. Thema 3: Welche literarischen Fragen wurden auf dem IV. Deutschen Schriftstellerkongress im Januar 1956 behandelt?, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 19–22. Uwe Johnson: Antrag auf Hochschulwechsel, 28. 5. 1954, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 23. Uwe Johnson: Arnold Zweig: »Der große Krieg der weißen Männer«, ein Romanzyklus, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 38f. Uwe Johnson: Aufnahmeantrag für die Universität Rostock, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 2–4. Uwe Johnson: Das Leben Franz Kafkas, Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/000462. Uwe Johnson: Deutsche Klausur, 18. 5. 1954, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 44–46. Uwe Johnson: Erklärung, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/151007. Uwe Johnson: Franz Kafkas Leben, Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150871. Uwe Johnson: Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, Typoskript, o. D., in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/ 000240. Uwe Johnson: Ingrid, 2. Fassung, Typoskript, o. D., in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/000224. Uwe Johnson: Ingrid, 2. Fassung, Typoskript, o. D., in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/000226. Uwe Johnson: Klausur im Rahmen der Zwischenprüfung über die Grundlagen des Marxismus-Leninismus. Thema B: Wesen und Funktionen des Staates in der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 40–43. Uwe Johnson: Klausur: Neuere Deutsche Literatur. Thema: »Maria Magdalena«: Theorie und Praxis der Hebbel-Dramatik, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 29– 33.
Verzeichnis nicht publizierter Briefe
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Uwe Johnson: Klausur: Neueste Deutsche und National-Literatur. Thema: Analyse eines Schauspiels von Bertolt Brecht. »Der Gute Mensch von Sezuan«, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 23–27. Uwe Johnson: Lebenslauf [März 1958], in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/256334. Uwe Johnson: Lebenslauf, 18. 3. 1958, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150963. Uwe Johnson: Mittelhochdeutsche Klausur, 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 34–39. Uwe Johnson: Mittelhochdeutsch-Klausur, 19. 5. 1953, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 37. Uwe Johnson: Studienbuch für Uwe Johnson, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/001873. Uwe Johnson: Thomas Otway: »Venice Preserved« & Literatur im englischen XVII, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/ 000458. Windisch: FDJ-Hochschulgruppe der Universität Rostock, 23. 7. 1953, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 53.
16.2 Verzeichnis nicht publizierter Briefe Barsch an Uwe Johnson, 19. 9. 1956, in: Universitätsarchiv Leipzig, PrüfA 000323, Bl. 4. Elmar Jansen an Uwe Johnson, 12. 12. 1983, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/200391. Friedrich Schult an Uwe Johnson, 13. 4. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/252124. Georg Piltz an Uwe Johnson, 19. 10. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150885. Günther Cwojdrak an Uwe Johnson, 12. 7. 1957, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150930. Herbert Nachbar an Uwe Johnson, 12. 10. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150884. Herbert Nachbar an Uwe Johnson, 7. 8. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/150875. Jänsch an das Prorektorat für Studentenangelegenheiten der Universität Rostock, in: Universitätsarchiv Leipzig, StuA 001656, Bl. 20. Klaus Baumgärtner an Uwe Johnson, 4. 2. 1958, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/100105. Manfred Bierwisch an Uwe Johnson, 18. 1. 1956, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/060024. Manfred Bierwisch an Uwe Johnson, 18. 8. 1955, in: Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/060010. Manfred Bierwisch an Uwe Johnson, 9. 11. 1957, Uwe Johnson-Archiv Rostock (Depositum der Johannes und Annitta Fries Stiftung), UJA/H/110111.
508
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Verzeichnis zeitgenössischer Presse
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16.3 Verzeichnis zeitgenössischer Presse 1913 N. N.: Ihr Kind erwürgt. Das Motiv: Hunger, in: Prager Tagblatt. Abend-Ausgabe, 2. 7. 1913, S. 3. 1918 N. N.: Eichhorn Hit While Driving. Missile Thrown at Him by Russian Youth in Passing Cap, in: The New York Times, 1. 8. 1918, S. 1 und S. 5. N. N.: Sühne für den Kiewer Mord, in: Vossische Zeitung, Berlin, 12. 8. 1918, S. 1. 1929 N. N.: Ein lehrreicher Auto-Unfall, in: UHU. Das Monats-Magazin 6, 1929, H. 2, S. 62– 65. 1945 Hörnle, Edwin: Die Bodenreform. Ein Wendepunkt in der Geschichte Deutschlands, in: Berliner Zeitung, 13. 9. 1945, S. 1. 1947 Victor, Walther: Heine, der unser war …, in: Neues Deutschland, 13. 12. 1947, S. 3. Schi., F.: Die sozialistische Literatur. Der Dietz Verlag im Jahre 1948, in: Neues Deutschland, 25. 12. 1947, S. 4. 1949 Georg Lukács: Der höchste Grad des Realismus. Die Aufgaben der marxistischen Schriftsteller und Kritiker, in: Neues Deutschland, 8. 7. 1949, S. 3. Cwojdrak, Hans Günther: Epische Früchte vom Baum des Lebens. Zu Arnold Zweigs Romanzyklus über den ersten Weltkrieg, in: Neues Deutschland, 26. 10. 1949, S. 3. 1951 rt.: Das echte Kulturerbe muß erhalten bleiben. Prof. Mayer sprach – Klassische Meisterwerke geben Wertmaßstäbe, in: Neue Zeit, 24. 2. 1951, S. 3f. Lauter, Hans: Der Kampf gegen den Formalismus in Kunst und Literatur für eine fortschrittliche deutsche Kultur. Auszüge aus dem Referat des Genossen Hans Lauter auf der 5. Tagung des ZK, in: Neues Deutschland, 23. 3. 1951, S. 5f. Havemann, Robert: Berlin sagt JA zum Frieden! Prof. Havemann, 1. Vorsitzender des Groß-Berliner Friedenskomitees, zur Volksbefragung, in: Berliner Zeitung, 26. 5. 1951, S. 3f. Cwojdrak, Günther: Geht es nur um die Form? Formalismus mit Mißverständnissen, in: Berliner Zeitung, 6. 6. 1951, S. 3. N. N.: Für eine neue Blüte der deutschen bildenden Kunst, in: Neues Deutschland, 7. 6. 1952, S. 1. Kegel, Gerhard: Vom Ruhrstatut zum »Schuman-Plan« – Weg in Krieg und Vernichtung. Der Kampf gegen den »Schuman-Plan« ein notwendiger Bestandteil des Kampfes um die Erhaltung und Sicherung des Friedens, in: Neues Deutschland, 12. 6. 1951, S. 4. Grotewohl, Otto: Die Kunst im Kampf für Deutschlands Zukunft. Aus der Rede des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl zur Berufung der Staatlichen Kommission für Kunstangelegenheiten am 31. August 1951 in der Staatsoper Berlin, in: Neues Deutschland, 2. 9. 1951, S. 3. N. N.: Würdige Ehrung für Ernst Barlach, in: Neue Zeit, 15. 12. 1951, S. 2. Schroeder, Max: Erhebung trotz allen Leides, in: Sonntag, 23. 12. 1951, S. 6.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
1952 Girnus, Wilhelm: Ernst-Barlach-Ausstellung. In der Deutschen Akademie der Künste, in: Neues Deutschland, 4. 1. 1952, S. 4. Kuczynski, Jürgen: Über die Tradition der deutsch-polnischen Freundschaft in der deutschen Literatur, in: Neues Deutschland, 16. 1. 1952, S. 6. Grünberg, Karl: Kinder als Literaturkritiker. Erlebnisse eines Schriftstellers in einem Pionierlager, in: Berliner Zeitung, 21. 3. 1952, S. 3. Winzer, Otto: Die deutsche Ausgabe des 5. Bandes der Werke J.W. Stalins. Stalins Reden und Aufsätze aus den Jahren 1921 bis 1923 – Die ersten Jahre des sozialistischen Aufbaus, in: Neues Deutschland, 3. 4. 1952, S. 3f. N. N.: Kampf dem Generalkriegsvertrag, in: Neue Zeit, 3. 5. 1952, S. 1. Ypsi [d.i. Hans-Werner Gyßling]: »Grundsätzliche Feinde« auf der Bühne, in: Neue Zeit, 3. 5. 1952, S. 4. N. N.: Generalkriegspakt bedeutet wirtschaftliche Versklavung, in: Neues Deutschland, 6. 5. 1952, S. 3. Grotewohl, Otto: Tag der Befreiung. Tag der nationalen Verantwortung, in: Neues Deutschland, 8. 5. 1952, S. 1f. W. S.: Für die volle Souveränität der deutschen Nation!, in: Neues Deutschland, 8. 5. 1952, S. 4. Becher, Lilly: Der Weg zum Wissen ist offen. Zur Woche des Buches, in: Berliner Zeitung, 11. 5. 1952, S. 2. N. N.: Widerstand gegen Adenauers Verrat, in: Berliner Zeitung, 20. 5. 1952, S. 1. N. N.: Das deutsche Volk im Massenkampf gegen den Generalkriegsvertrag, in: Neues Deutschland, 25. 5. 1952, S. 1. N. N.: Die Geistesschaffenden und die nationalen Streitkräfte, in: Neues Deutschland, 26. 6. 1952, S. 6. Wagner, Siegfried: Lernt und kämpft zum Ruhme unserer jungen Republik. Zum Beginn des Schuljahres 1952/53, in: Neues Deutschland, 31. 8. 1952, S. 6. Eckert, Horst: Arnold Zweig 65 Jahre alt, in: Neues Deutschland, 9. 11. 1952, S. 6. 1953 N. N.: Kriegshetzerische Tätigkeit unter kirchlichem Deckmantel, in: Neues Deutschland, 15. 3. 1953, S. 3. N. N.: Die »Junge Gemeinde« – ein verlängerter Arm der amerikanischen Agentenund Spionagezentralen, in: Neues Deutschland, 24. 4. 1953, S. 3. N. N.: Wir brauchen eine Geschichte der deutschen Literatur!, in: Neues Deutschland, 28. 4. 1953, S. 1. N. N.: Feierliche Umbenennung der Leipziger Universität in Karl-Marx-Universität, in: Neues Deutschland, 6. 5. 1953, S. 1. N. N.: Neuerscheinungen des Dietz Verlages, in: Neues Deutschland, 21. 5. 1953, S. 5. N. N.: Aussprache des Ministerpräsidenten mit evangelischen Pfarrern, in: Neues Deutschland, 28. 5. 1953, S. 1. Weltmann, Lutz: Im Schatten Shakespeares. Londoner Bühnen zur Krönungszeit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 6. 1953, S. 4.
Verzeichnis zeitgenössischer Presse
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N. N.: Kommuniqué über die Besprechungen Vertretern des Ministerrates und Vertretern der evangelischen Kirche, in: Neues Deutschland, 11. 6. 1953, S. 2. Kommuniqué über die Sitzung des Ministerrats der DDR vom 11. Juni 1953, in: Neues Deutschland, 12. 6. 1953, S. 1. Grün, Siegfried; Stern, Käthe: Es wird Zeit, den Holzhammer beiseite zu legen, in: Neues Deutschland, 14. 6. 1953, S. 6. Dibrowa, Pjotr A.: Befehl des Militärkommandanten des sowjetischen Sektors von Berlin. Betrifft: Erklärung des Ausnahmezustandes im sowjetischen Sektor von Berlin, in: Neues Deutschland, 18. 6. 1953, S. 1. Grotewohl, Otto: Die nächsten Aufgaben, in: Neues Deutschland, 20. 6. 1953, S. 1f. E. K.: Horst Klehr erfüllte eine patriotische Pflicht, in: Neues Deutschland, 30. 6. 1953, S. 6. 1954 N. N.: Schriftstellerkongreß im Mai, in: Berliner Zeitung, 20. 3. 1954, S. 3. Molotow, Wjatscheslaw M.: Abzug der Besatzungstruppen noch vor den Wahlen. Neuer Vorschlag der Sowjetunion zu gesamtdeutschen freien Wahlen, Donnerstagsitzung der vier Außenminister, in: Berliner Zeitung, 5. 2. 1954, S. 1. ADN: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß im Herbst, in: Neues Deutschland, 15. 5. 1954, S. 4. Rülicke, Käthe: Das Berliner Ensemble in Paris. Rückblick auf ein Gastspiel in der französischen Hauptstadt, in: Neues Deutschland, 7. 9. 1954, S. 4. N. N.: Literatur und Patriotismus. Zur Vorbereitung des IV. Deutschen Schriftstellerkongresses, in: Neues Deutschland, 22. 10. 1954, S. 1. Hottenrott, Adolf: Warum geht es bei uns aufwärts? Die neuen Produktionsverhältnisse fördern die Entfaltung der Produktivkräfte, in: Neues Deutschland, 30. 10. 1954, S. 4. Burchett, Wilfred: Helden vom Süden kehren heim, in: Berliner Zeitung, 12. 11. 1954, S. 2. 1955 Döderlin, Karl Reinhold: »Er muß schreiben um jeden Preis«. Zu Schaffensproblemen des Schriftstellers, in: Neue Zeit, 26. 1. 1955, S. 3. N. N.: Aufstand der Schreibarbeiter, in: Der Spiegel, 7/1955, 9. 2. 1955, S. 37–40. Ro.: Um die Klärung der geistigen Positionen. Kulturgespräche mit Johannes R. Becher in Westberlin und Leipzig, in: Neue Zeit, 10. 3. 1955, S. 4. N. N.: Aus der Herbstproduktion der deutschen Verlage, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 7. 1955, S. 10. N. N.: IV. Deutscher Schriftstellerkongreß für November einberufen, in: Neues Deutschland, 11. 8. 1955, S. 1. Döderlin, Karl Reinhold: Der Leser meldet sich zu Wort. Gedanken zur literarischen Diskussion, in: Neue Zeit, 22. 10. 1955, S. 3. Hauser, Harald: Die deutsche Literatur ist unteilbar. Rückblick auf ein Zusammensein mit westdeutschen Schriftstellern, in: Neues Deutschland, 16. 11. 1955, S. 6. S. L.: Zum fünftenmal verschoben. Der Schriftstellerkongreß der Sowjetzone findet nicht statt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 11. 1955, S. 10.
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Dank
Eine solche Studie schreibt man nicht allein, und so sehr ich es vielleicht auch anfangs wollte, ist es gut so. An ihrem Gelingen waren viele Menschen beteiligt, denen mein aufrichtiger Dank gilt: Für seine hartnäckige Geduld, die mich, wichtiger noch als die fachliche Expertise, schon lange vor und dann auf dem teils holprigen Pfad zum Abschluss dieser Arbeit begleitet hat, danke ich meinem Lehrer Lutz Hagestedt von Herzen. In anderer Hinsicht, gleichermaßen herzlich, danke ich Holger Helbig für das anhaltende Vertrauen in das Gelingen dieser Studie. Beide Herren haben sie, auf je ihre Art, überhaupt erst ermöglicht und zu einem guten Ende geleitet. Neben ihnen stehen die Kollegen und Mitarbeiter der Johnson-Werkausgabe sowie der Johnson-Forschungsstelle, die ihren Anteil an der Arbeit haben; sei es durch vielfältige Hinweise, Korrekturen oder das nachsichtige Ertragen langer Erörterungen über meine Arbeit. Zu nennen sind hier mindestens Christian Riedel, Antje Pautzke, Denise Naue und Henni Busch – herzlichen Dank, auch allen Ungenannten. Für ihre aufschlussreichen Gutachten danke ich überdies Astrid Köhler und Michael Hofmann. Für die Gewährung von Publikationsrechten danke ich der Peter Suhrkamp Stiftung sowie dem Suhrkamp Verlag, dem Aufbau-Verlag, dem Hinstorff Verlag, Manfred Bierwisch, Christine Jansen, August-Dietrich Schult, Kurt Groenewold und der Johannes und Annitta Fries Stiftung; letzterer auch für die großzügige Unterstützung der Publikation. Geduld und Ausdauer zeigten auch meine Eltern, waren einerseits interessiert am Gegenstand, andererseits verwundert, dass es da so viel aufzuschreiben gebe – vielleicht hätte es weniger sein können. Danke, dass Ihr so lange, so unterstützend und so aufmerksam dabeigeblieben seid. Vor allen anderen gilt mein besonderer Dank meiner Frau und meiner Tochter. Ich kann mir keine bessere Unterstützung denken, als jene, die ich durch sie erfahren habe. Sie waren für mich da, auch wenn ich tatsächlich oder im Geiste bei meiner Arbeit war, holten mich immer wieder zurück in das wirkliche Leben, abseits des Schreibtisches. Dafür bin ich zutiefst dankbar, weit über diese eine Arbeit hinaus.
Personenregister
Abraham, Marie 316 Adorno, Theodor W. 36, 44, 275, 443 Allen, Woody 52 Altenberg, Peter 94, 461, 502 Appen, Karl von 434 Aquin, Thomas von 137f., 141, 143 Aristophanes 356f. Aristoteles 86, 271, 412, 442f. Arnim, Achim von 355 Arnim, Bettina von 69 Aschajew, Wassili N. 473 Attalos I. 348 Attig, Matthias 418 Auerbach, Berthold 386f., 401 Bachmann, Ingeborg 54 Bacon, Francis 136–144, 147–149, 154–157 Baetke, Walter 409 Balzac, Honoré de 230, 427 Barlach, Ernst 11, 14, 33, 36, 44, 61–63, 457–475, 483 Barry, Elizabeth 189, 208–210, 216f. Barthes, Roland 40 Bartsch, Rudolf 499 Bauer, Felice 318 Baumgärtner, Klaus 34, 94, 464 Becher, Johannes R. 13, 67, 84, 301, 338, 399, 494 Becher, Lilly 67 Beckett, Samuel 119 Bendt, Jutta 47 Bengtson, Hermann 225 Benjamin, Walter 299, 308 Benn, Gottfried 48
Berger, Gerda 496 Bernhardi, Wilhelm 187 Besson, Benno 432, 434f., 450, 452 Bierwisch, Manfred 407, 429, 460, 463, 503 Bismarck, Otto von 335, 352 Bloch, Ernst 243, 379 Bloom, Harald 165 Blumenbach, Johann F. 65 Böhmer, Bernhard A. 465f., 471 Böhmer, Margarethe 465f., 471 Bond, Greg 406, 461 Booth, Wayne C. 53 Börne, Ludwig 360f. Bossuet, Jacques Bénigne 167 Böttcher, Kurt 386–390 Braun, Volker 118 Brecht, Bertolt 17, 36, 49, 55, 128, 132, 362, 427, 431–433, 435f., 438–455, 459, 468, 472, 483f. Bredel, Willi 381–385, 388, 391, 399f. Brentano, Clemens 337, 354–356, 364 Brentano, Heinrich von 337 Breˇzan, Jurij 288 Brock, Rudolf 485 Brod, Max 46, 297–300, 306, 308–311, 313– 324, 381 Bruno, Giordano 323 Büchner, Georg 32, 224, 230, 410, 412–416, 420–424, 455, 473, 483, 500 Bunyan, John 163 Bürger, Gottfried August 410–412, 424 Byron, George Gordon 218
552 Calvin, Johannes 169 Campe, Julius 363 Camus, Albert 436 Carls, Carl D. 468f. Caspar, Günter 487–493, 496, 499, 502 Celan, Paul 40 Chruschtschow, Nikita S. 278, 375, 378– 380, 400, 501 Churchill, Winston 128 Clark, Katerina 70 Claudius, Eduard 119, 288 Collier, Jeremy 212 Cooper, Anthony Ashley (Earl of Shaftesbury) 123, 238, 250, 252 Corneille, Pierre 207f. Cornforth, Maurice 136–150, 152–161, 179, 270 Cowley, Abraham 177 Cresswell, Elizabeth 238 Cromwell, Oliver 96, 168, 173, 185, 189, 220, 257 Cromwell, Richard 189 Cwojdrak, Günter 494 Czollek, Walter 120 D’Avenant, William 189, 220–222, 225f., 233 Danskio/Donskij, Boris 81 Darwin, Charles 76 Descartes, René 150 Deumlich, Gerd 351 Dewey, John 346, 364 Dibrowa, Pjotr. A. 283 Diderot, Denis 150–152, 211, 294, 332, 368 Dieckmann, Friedrich 442 Dilthey, Wilhelm 232 Doege, Luise 466 Drake, Francis 140 Droß, Friedrich 466, 468 Dryden, John 220–229 Dühring, Eugen 99 Dürr, Georg 389, 401 Durzak, Manfred 232, 401 Düwel, Hans 109–113, 471, 479 Dymant, Dora 318, 322
Personenregister
Eckermann, Johann P. 357 Eco, Umberto 52 Eggebrecht, Axel 383 Ehrenburg, Ilja G. 128 Eichhorn, Hermann von 80f. Eisler, Hanns 338 Eisner, Pavel 299, 308, 316 Elisabeth I. 101, 226, 257, 265–267, 270– 275, 283, 286 Elisabeth II. 126 Eliot, T.S. 119, 128 Elster, Ernst 327 Éluard, Paul 128 Emmel, Hildegard 14f., 22f., 35, 244, 342, 497 Engels, Friedrich 40, 57, 84, 86, 91, 99, 101, 103f., 106, 136f., 142f., 146, 150, 156, 196, 261, 332, 336, 354, 367, 397 Enzensberger, Hans Magnus 13, 47, 460 Epping, Walter 14, 22f., 111 Fahlke, Eberhard 50 Fallada, Hans 323 Faulkner, William 34, 128 Feilchenfeldt, Konrad 44 Fellinger, Raimund 51 Fénelon, François 167 Fietze, Martin 342 FitzCharles, Charles (Earl of Plymouth) 205f. Flämig, Walter 474 Flemming, Willi 468 Fontane, Theodor 140, 294, 423 Ford, Henry 432 Foucault, Michel 40, 52 Fouqué, Friedrich de la Motte 348f. Francke, August H. 343 Frank, Anne 54 Frank, Leonhard 388f., 401 Freud, Sigmund 65 Friedrich I. (Barbarossa) 336, 352–354, 364 Friedrich III./I. 360 Friedrich Wilhelm (Brandenburg) 359f. Friedrich Wilhelm I. 343 Fries, Ulrich 46
553
Personenregister
Frings, Theodor 14, 24, 31–33, 127 Frisch, Max 119 Fröhlich, Paul 37f. Galilei, Galileo 49, 180 Gansel, Carsten 373, 381f., 388 Gätschenberger, Stephan 124 George II. 215 Gerstenberg, Rudolf 88–90, 99, 102f. Gervinus, Georg G. 336 Gill, Alexander d.Ä. 176 Gillett, Robert 45f., 121, 312 Girnus, Wilhelm 61, 383, 385 Gladkov, Feodor 70 Gnüchtel, Werner 499 Goethe, Johann Wolfgang 41, 46, 94, 122, 151, 297, 300, 323–325, 327, 338, 342f., 347, 356f., 365, 367, 410, 414, 431, 437– 439, 448, 453, 464, 473 Gorki, Maxim 82, 473 Grambow, Jürgen 460, 489, 491f. Grass, Günter 151, 418, 461, 503 Grillparzer, Franz 123 Grimm, Jacob und Wilhelm 33, 309, 353 Grotewohl, Otto 21f., 69, 268, 279, 384 Grotius, Hugo 179f. Grumach, Ernst 86, 94, 464 Grünberg, Karl 68 Grünewald, Lothar 68 Gutzkow, Karl 351, 360f., 413 Gyßling, Hans-Werner 82 Hagen, Paul 124 Hagestedt, Lutz 277 Hallstein, Walter 333 Hammarskjöld, Dag 428f., 435 Hammel, Claus 433 Harich, Wolfgang 291, 327f., 330, 500f. Harkness, Margaret 84 Hartmann von Aue 474 Hausmann, Manfred 383 Hebbel, Friedrich 36, 409f., 417–420, 422– 424, 427, 455, 472, 483 Hegel, Georg W. F. 65, 346, 355f. Heine, Heinrich 35, 44, 128, 301, 327–341, 346–368, 385, 402, 406, 409, 472, 482
Helbig, Holger 362 Henke, Enno 24 Hermand, Jost 431 Hermlin, Stephan 119, 303, 308 Hermsdorf, Klaus 305 Heym, Stefan 383 Hild, August 288 Hill, Claude 468 Hilpert, Heinz 126 Hirth, Friedrich E. 328 Hitler, Adolf 66f., 105f., 346 Hobbes, Thomas 143–149, 156f., 162, 185 Hoffmann, Max 83f. Hofmannsthal, Hugo von 34, 121, 124– 126, 128, 132, 243f., 297–300, 409f. Holbach, Paul Henri Thiry de 150 Hollaender, Felix 497 Honecker, Margot 268 Horaz 442f. Howard, Robert 223f. Hrubín, Frantisˇek 375–378 Ihering, Herbert 433 Iser, Wolfgang 454 Jahn, Friedrich L. 309 Jahn, Johannes 475 Jakobs, Karl-Heinz 349 James II. (Jakob II./Duke of York) 233, 239 Janka, Walter 500f. Jansen, Christine 463 Jansen, Elmar 461, 463, 469f. Jens, Walter 126, 128, 131, 459 Johann Wilhelm 359f. Johnson, Samuel 203 Joyce, James 119, 302 Jünger, Ernst 40f., 56
222,
Kafka, Franz 45f., 126, 129, 297–325, 481f., 501 Kaiser, Bruno 119, 328 Kaiser, Georg 79 Kaiser, Joachim 50 Kánˇa, Vasˇek 377f. Kant, Hermann 503
554 Kant, Immanuel 65, 334, 345f., 364, 367, 387 Kantorowicz, Alfred 305 Kapr, Albert 47 Karl I./Charles I. 184 Karl II./Charles II. 173, 189, 213, 216, 222, 234, 239 Kaufmann, Hans 328 Kautsky, Karl 97–100, 102–104 Keats, John 218 Keller, Gottfried 109–115, 473, 479, 481 Kempowski, Walter 47, 56, 480 Kérouaille, Louise de 234 Kesting, Hanjo 230 Kischel, Erwin 462 Kleist, Heinrich von 415, 424 Klemm, Eberhardt 130 Klemm, Erika 130 Klettenberg, Susanne von 342, 344, 347 Klingler, Helmut 117, 254 Klug, Hans-Jürgen 459f., 463 Kolb, Alois 119 Korff, Hermann A. 24, 32f., 127, 464 Korn, Karl 461 Körner, Theodor 350 Krappmann, Tamara 269 Kruse, Joseph A. 331 Kuczynski, Jürgen 70 Kühn, Manfred 345 Kurella, Alfred 381 La Mettrie, Julien Offray de 150 Langen, August 343f. Langland, William 164 Langner, Maria 288 Laube, Heinrich 351 Lauter, Hans 63, 87, 301 Lazarowicz, Klaus 468f. Ledig-Rowohlt, Heinrich M. 495 Lee, Nathaniel 227, 229 Lehmstedt, Mark 34 Leibniz, Gottfried W. 437 Leip, Hans 383 Lejeune, Philippe 52
Personenregister
Lenin, Wladimir I. 72, 76, 85f., 96–99, 101–104, 106f., 109, 261, 332, 379, 381, 383, 398, 473 Leuchtenberger, Katja 287 Ley, Ralph 468 Lietz, Gerhard 468 Locke, John 147–149, 152, 154, 157f. Lorbeer, Hans 288 Ludendorff, Erich 83 Luhmann, Niklas 274, 291 Lukács, Georg 59f., 85, 120, 254, 256, 258, 301, 330, 336, 403–406, 415, 421–424, 483 Luserke-Jaqui, Matthias 343 Magon, Leopold 305 Maiwald, Gerhard 409 Maizière, Lothar de 268 Mann, Heinrich 128 Mann, Thomas 93, 110, 132, 323–325, 336, 386–388, 400, 421f., 431 Mansfield, Helen J. 446 Mansfield, Katherine 444–446 Manso, Giovanni Battista 180 Martens, Gunter 42f., 45, 50 Marvell, Andrew 189 Marx, Karl 27, 40, 76, 86, 97, 100–104, 106, 136f., 142–144, 150, 153, 155f., 261, 267, 311, 331f., 336f., 354, 367, 397 Mauthner, Fritz 438 May, Karl 64–68, 70, 92, 94, 301 Mayer, Hans 15, 17, 24, 30, 32–38, 44, 57, 96, 117–121, 125–133, 140, 150–152, 174, 183, 191, 202, 211, 218f., 224, 229–232, 243–245, 251, 255, 264, 272, 277, 289f., 292–295, 297f., 301–305, 307, 313, 331f., 335–340, 342, 350, 358f., 363, 368, 372, 380–382, 392, 402f., 406, 409f., 412, 414– 416, 418, 421, 424, 427f., 431, 437, 439, 445, 450, 454, 457–460, 464f., 469–473, 475, 478, 480, 482–484, 497, 499–502 Mecklenburg, Norbert 42, 45, 56, 94 Mehring, Franz 330, 332, 336 Melville, Herman 503 Meno Valett, Johann Jakob 122 Menzel, Wolfgang 360 Menzhausen, Joachim 460
555
Personenregister
Merker, Paul 314 Metternich, Klemens W. L. von 334f. Meyer, Conrad F. 348 Meyer, Hans 328 Meyer, Jochen 41 Meyrink, Gustav 297, 300 Milton, John 121, 135, 167, 172–204, 220f., 231, 250, 257–259, 263f., 294, 352 Milton, John d.Ä. 175 Milton, Richard 174 Minshull, Elizabeth 186 Moeller, Peter 24 Molière 207 Morus, Alexander 184 Müller, Irmgard 461 Müller, Wilhelm 466 Müller-Salget, Klaus 415 Mundstock, Karl 288 Mundt, Theodor 351 Nachbar, Herbert 13, 289f., 486–489, 492f., 496, 498 Napoleon I. 334f., 341f. Neumann, Bernd 15f., 31, 39, 45f., 51, 56, 71, 78f., 81, 85, 102, 106, 120, 137, 141, 149, 156, 163, 182–184, 189f., 192, 196, 203, 206, 214, 218, 223, 225, 235, 240, 247, 264, 295, 299, 301, 308f., 312f., 316–318, 320–322, 339, 342, 349, 350, 353, 357, 372, 381f., 388, 410, 475, 486 Neumann, Uwe 45f., 120, 298f. Neutsch, Erik 474 Nezval, Víteˇzslav 375f. Nicoll, Allardyce 223 Nietzsche, Friedrich 396f. Noack, Hermann 62 Noel, Roden 202–219, 221–224, 226f., 233–235, 252 Novotný, Antonín 375 Oates, Titus 239 Oelze, Friedrich W. 48 Onasch, Paul 28, 42, 45f., 50, 121, 194, 264, 283 Osgood, Charles E. 114 Otway, Humphrey 203f.
Otway, Thomas 34, 44f., 117f., 120–126, 128f., 131–133, 140, 173, 189, 201–204, 206–222, 224, 227, 229, 232–235, 237– 248, 250–254, 257–259, 264, 272, 277, 282, 289, 291–295, 300–304, 368, 401, 410, 467, 480f., 497 Penn, William 163 Pepys, Samuel 54, 134 Pieck, Wilhelm 268, 337f., 358f. Piefke, Johann G. 337 Piltz, Georg 498 Pleven, René 88 Poe, Edgar Allan 302 Pogodin, Nikolaj F. 473 Pollak, Oskar 309, 318–320 Pope, Alexander 177 Probst, Volker 465 Protagoras 184 Proust, Marcel 300, 302, 501 Prynne, William 172 Raabe, Wilhelm 473 Rachmanow, Leonid N. 473 Racine, Jean 207f. Raddatz, Fritz J. 120, 126f., 130f., 496 Ranke, Leopold von 238f. Reich-Ranicki, Marcel 460 Reimann, Brigitte 349 Reinowski, Werner 288 Richter, Helmut 305 Riemeck, Renate 343 Rilke, Rainer Maria 209 Riordan, Colin 275 Rockefeller, John D. 428, 432 Rohleder, Hermann 310 Rousseau, Jean-Jacques 211 Rückert, Friedrich 353 Sabrow, Martin 397 Saint-Réal, César Vichard de (Abbé St. Réal) 206, 233f., 238 Saumaise, Claude de 184 Scheibe, Siegfried 54–56 Scheithauer, Heinz 102–104, 107 Scheithauer, Lothar 230
556 Schiller, Friedrich 122, 206, 234, 244, 327, 338, 342f., 410–416, 420, 422–424, 455, 483 Schirdewan, Karl 38 Schlaffer, Heinz 225 Schlegel, Friedrich 472 Schmidt, Alice 495 Schmidt, Arno 54, 471, 495f. Schmidt, Elisabeth 34, 93 Schmidt, Thomas 31, 120, 305, 339 Schmidt-Henkel, Gerhard 469, 475 Scholochow, Michail A. 381, 382, 473 Schirmer, Walter F. 159–172, 179, 193, 223–229, 231, 233, 270–272, 277f., 280– 283, 285, 287, 289, 295 Schröder, Willi 433, 435 Schroeder, Max 289f., 468, 487, 489–496, 499f. Schubert, Werner 472f., 475 Schult, Erika 463 Schult, Friedrich 460, 463, 465–468, 470f., 483 Schult, Friedrich Ernst 463 Schurek, Paul 468f. Sebeok, Thomas 114 Seghers, Anna 128, 132, 304 Seifert, Jaroslav 375–78 Seiler, Bernd W. 443 Settle, Elkanah 227 Shakespeare, William 38, 121, 123, 125, 135, 227, 229, 244f., 265, 295, 413f. Shaw, George B. 444–446, 500 Sieburg, Friedrich 338 Sonnerat, Pierre 438 Spencer, Alice (Countess of Derby) 179 Stachanow, Alexei G. 71 Stalin, Josef W. 28, 71f., 104–106, 267, 273, 278, 291, 332, 372, 374f., 379f., 384, 398 Stein, Ernst 389 Sternberger, Dolf 96 Stierle, Karlheinz 43, 49 Stifter, Adalbert 350 Strich, Fritz 328 Strittmatter, Erwin 288, 389, 474 Suhrkamp, Peter 130, 484, 487, 489 Szyrwin´ska, Anna 345
Personenregister
Tasso, Torquato 180 Taylor, Aline M. 126 Thornton, Thomas 210 Thürk, Harry 288 Tieck, Ludwig 54, 123, 348, 472f. Tolksdorf, Nina 391 Tolstoi, Lew N. 427 Tonson, Jacob 215f. Trotzki, Leo 81, 104–106 Tschesno-Hell, Michael 119 Uhland, Ludwig 348 Uhlmann, Gyburg 442 Ulbricht, Lotte 268 Ulbricht, Walter 119, 268, 352f., 366, 377, 379, 382f., 398–400, 501 Unseld, Joachim 323 Unseld, Siegfried 13, 48f., 55, 130, 151, 323, 487f. Verne, Jules 441 Victor, Walther 330 Vietta, Egon 468f. Voelkner, Benno 288 Voltaire 210–212 Wackenroder, Wilhelm H. 472f. Wagenbach, Klaus 302 Wagner, Horst 468f. Wagner, Richard 431 Wagner, Siegfried 67 Walser, Martin 13, 495 Walter, Axel 29, 460 Walter, Käte 24, 29, 108 Walzel, Oskar 327 Wandel, Paul 31 Wander, Karl F.W. 285 Wedekind, Frank 94, 502 Wehler, Hans-Ulrich 107 Weiss, Peter 55 Wellershoff, Dieter 13 Weltmann, Lutz 126 Wendt, Erich 500 Werfel, Franz 318f., 502 Werwath, Winfried 25 Westphalen, Josef von 44
557
Personenregister
Weyrauch, Wolfgang 13, 491, 493–496 Whitehead, William 215 Wienbarg, Ludolf 351 Wiese, Benno von 329 Wilhelm I. 352 Wilmot, John (Earl of Rochester) 208–210 Windfuhr, Manfred 328 Wolf, Christa 118 Woodcock, Katherine 181, 186 Wotton, Henry 233
Young, Thomas
176
Zápotocký, Antonín 377 Zetkin, Clara 331 Ziem, Jochen 132f., 249, 302, 406, 472 Zimmering, Max 377f. Zweig, Arnold 13f., 59–61, 64–74, 76–78, 80–85, 87, 90–94, 99, 128, 231, 256, 478, 489 Zwerenz, Gerhard 379f.