Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: das letzte Jahrhundert [1 ed.] 9783428545971, 9783428145973

Der Sammelband behandelt zentrale Aspekte der Stellung des Rheinkreises / Regierungsbezirks Pfalz im Königreich Bayern z

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Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: das letzte Jahrhundert [1 ed.]
 9783428545971, 9783428145973

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Historische Forschungen Band 115

Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: das letzte Jahrhundert Herausgegeben von Karsten Ruppert

Duncker & Humblot · Berlin

Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: das letzte Jahrhundert

Historische Forschungen Band 115

Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: das letzte Jahrhundert

Herausgegeben von Karsten Ruppert

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 978-3-428-14597-3 (Print) ISBN 978-3-428-54597-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-84597-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort In diesem Sammelband werden Aufsätze vorgelegt, die aus Referaten der Tagung „Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: Das letzte Jahrhundert“ hervorgegangen sind, die am 28. und 29. März 2014 in der Villa Ludwigshöhe stattgefunden hat. Das von König Ludwig I. ab 1846 oberhalb von Edenkoben erbaute Schloss sollte als Sommerresidenz der bayerischen Monarchen die Verbindung zwischen der eine Generation zuvor erworbenen Pfalz einerseits und der Dynastie wie dem Königreich andererseits festigen. Daher war es der gegebene Ort für eine wissenschaftliche Bestandsaufnahme der über hundertjährigen Geschichte des pfälzischen Landesteils im Königreich Bayern. Dafür gab es im Frühjahr 2014 mehrere Gründe. Die Übertragung der Pfalzgrafschaft bei Rhein an die Familie der Wittelsbacher durch den Stauferkaiser Friedrich II. im Jahre 1214 begründete die Tradition von deren 600jährigen Herrschaft beiderseits des mittleren und oberen Rheins. Das war Anlass, dieses Ereignisses der deutschen und europäischen Geschichte zu gedenken. Die Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim, das Kurpfälzische Museum Heidelberg und Schloss Erbach im Odenwald widmeten der wittelsbachischen Macht und Kultur bis zum Ende des Alten Reiches Ausstellungen. Die Präsentationen im Historischen Museum der Pfalz in Speyer und auf der Villa Ludwigshöhe in Edenkoben dokumentierten, dass diese Tradition in der neu geschaffenen Pfalz, die nur mittelbar in der Nachfolge der Kurpfalz stand, nochmals gut 100 Jahre länger dauerte. Diese pfälzischen Gedenkfeiern fanden mit der geschichtswissenschaftlichen Veranstaltung des März 2014, auf der ausgewiesene Kenner ihren Kollegen und der geschichtsinteressierten Öffentlichkeit ihre Erkenntnisse vorstellten, ihren Abschluss. Denn mit historischen Jubiläen machen Historiker meist ambivalente Erfahrungen. Einerseits eine erfreuliche öffentliche Resonanz in den Medien und durch Ausstellungen, andererseits ist der Ertrag für die Wissenschaft meist bescheiden, wenn er denn überhaupt angestrebt wird. Damit sich im Rahmen der wittelsbachischen Gedenkfeiern diesmal auch die Geschichtswissenschaft zu Wort meldete, deswegen wurde die Tagung veranstaltet und wird jetzt der Sammelband vorgelegt. Der Anlass war es jedenfalls wert. Denn durch diese Belehnung wurde eine Schicksalsgemeinschaft begründet, welche die Entwicklung Deutschlands und Europas nachhaltig prägte; für die Geschichte Bayerns und der Pfalz wurde sie konstitutiv. Um ein solch komplexes historisches Ereignis in einem Symposium von zwei Tagen wissenschaftlich angemessen zu behandeln, ist Konzentration nötig. Die Entscheidung für die letzten hundert Jahre war eine für die Zeit der größten Gemeinsamkeiten. Denn bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts wurden die wittelsbachischen

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Vorwort

Lande am Rhein und die in Bayern fast durchgehend von zwei Linien eines Haues beherrscht; diese waren zudem zeitweise auch noch erbitterte Rivalen. Erst nach der Wiedererrichtung der wittelsbachischen Herrschaft am Rhein nach deren Zusammenbruch in der Französischen Revolution konnte sie sich so intensiv wie nie zuvor entfalten. Denn zum ersten Mal erstreckte sie sich über ein geschlossenes Gebiet, das zudem Teil eines Staates und nicht mehr eines frühneuzeitlichen Territoriums war. Die neue Qualität der Beziehung kam am sichtbarsten dadurch zum Ausdruck, dass die Neuerwerbung von 1816 eine der acht obersten Verwaltungseinheiten des bayerischen Staates wurde. Die Prägung dieses „Rheinkreises“, der ab 1838 „Pfalz“ hieß, durch die Zugehörigkeit zum Königreich Bayern war nachhaltig. Das belegen die bis heute fortbestehenden Bezeichnungen, Institutionen, Organisationen und Denkmäler. Am schlagendsten aber ist doch wohl, dass der historische Begriff „Pfalz“ damals erst entstanden ist. Im geschichtlichen Bewusstsein der Pfälzer wird heute mit „Pfalz“ fast nur noch das Gebiet der bayerischen Herrschaft und das 19. und 20. Jahrhundert assoziiert. Diese Vorstellung hat die Erinnerung an die Kurpfalz fast völlig überlagert. Auf dieser Tagung sollte aber nicht nur nach den bayerischen Prägungen der Pfalz gefragt werden, sondern auch danach, welche Herausforderung für Bayern darin lag, ein Gebiet zu integrieren, das einst aus annähernd 40 verschiedenen Territorien bestanden hatte, die hinsichtlich Verfassung, Konfession, Kultur und Wirtschaftskraft unterschiedlicher kaum sein konnten. Hinzu kam, dass als Folge der Modernisierung während ihrer Zugehörigkeit zu Frankreich die Kluft zu Altbayern für Jahrzehnte nur schwer zu überbrücken war. Doch sollte sich das Kolloquium nicht nur wissenschaftlich dem Thema widmen, sondern auch den Dialog zwischen der bayerischen und pfälzischen Geschichtswissenschaft beleben. Denn wer die Forschung zu den dort behandelten Fragen betrachtet, stößt auf ein merkwürdiges Phänomen. Während pfälzische Historiker die Geschichte ihrer Region meist so beschreiben, als ob sie damals nicht zu Bayern gehört hätte, werfen bayerische Historiker kaum einen Blick auf die Pfalz, wenn sie die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts untersuchen. Zu welchen Verwerfungen das führt, macht neben zahlreichen Monografien und Sammelbänden die neue Auflage des Handbuchs der bayerischen Geschichte anschaulich. Von den ehemaligen Landesteilen des Kurfürstentums und Königreichs Bayern wird allein die Geschichte der Pfalz nicht eigens behandelt. Selbst in den Überblicksartikeln zu Politik, Wirtschaft, Kultur u. ä. in Bayern wird sie eher zufällig erwähnt. Das gilt selbst da, wo sie einen markanten Sonderstatus hatte oder pfälzische Ereignisse von überregionaler Bedeutung waren. Obwohl durch gezielte Werbung im Vorfeld nachdrücklich auch auf diesen Zweck der Tagung abgestellt wurde, ist das Angebot zum bayerisch-pfälzischen Dialog nicht im erwarteten Umfang angenommen worden. Umso mehr ist zu hoffen, dass ihn wenigstens der Tagungsband in Gang bringt. Auf der Tagung wurden zentrale Aspekte der Stellung des Rheinkreises / Regierungsbezirks Pfalz im Königreich Bayern zwischen der Angliederung im Jahre 1816

Vorwort

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und dem Ende der wittelsbachischen Herrschaft 1918 behandelt. Das geschah durch ausgewählte thematische Längsschnitte, in denen die jeweilige Lage der Pfalz dadurch herausgearbeitet wurde, dass sie aus der gesamtbayerischen Situation heraus gedeutet wurde. Durch diesen vergleichenden Ansatz sollten die jeweiligen Besonderheiten und Gemeinsamkeiten sichtbar werden. Indem die Gesamtheit der Beiträge verdeutlicht, wann, wie und in welchen Bereichen der Landesteil klar erkennbare Konturen innerhalb des Königreiches zeigte, wurde dessen spezielles Profil augenfällig. Solange eine überzeugende Gesamtdarstellung des letzten Jahrhunderts der wittelsbachischen Herrschaft in der Pfalz fehlt, kann der in dem Tagungsband gegebene systematische Überblick diese Lücke schließen. Die Tagung wollte sich durch diesen Ansatz von den bisherigen Forschungen zur Pfalz im 19. Jahrhundert absetzen. Deswegen blieben erstens die ereignisgeschichtlichen Weichenstellungen, die teils schon gut erforscht sind, wie der Übergang der Pfalz an Bayern, Revolution und Aufstand von 1848/49, die Reichseinigung und der Erste Weltkrieg, ausgeblendet und zweitens sollte es diesmal nicht in erster Linie um die Vorgänge in der Region oder die bayerisch-pfälzischen Beziehungen in bestimmten Zeitabschnitten gehen. Verantwortlich für das wissenschaftliche Konzept des zweitägigen Symposiums war der Herausgeber als emeritierter Inhaber des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Um die organisatorische Vorbereitung und den reibungslosen Ablauf kümmerten sich Dr. Angela Kaiser-Lahme und Katja Mikolajczac von der mitveranstaltenden Generaldirektion Kulturelles Erbe des Landes Rheinland-Pfalz. Ihnen und vor allem den Referenten gebührt Dank dafür, dass nun die Ergebnisse der ertragreichen Tagung vorgelegt werden können. Dazu haben aber nicht weniger auch die Geldgeber von Tagung wie Tagungsband beigetragen: die Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, die Generaldirektion Kulturelles Erbe des Landes Rheinland-Pfalz und die Bayern-Pfalz Stiftung des Landesverbands der Pfälzer in Bayern. Römerberg, im August 2016

Karsten Ruppert

Inhaltsverzeichnis Karsten Ruppert Wittelsbach, Bayern und die Pfalz. Grundlinien der Herrschaft eines Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans Fenske Die pfälzische Sonderkultur in der politischen Entwicklung Bayerns bis zur Revolution von 1848/49 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wilhelm Kreutz Die Pfalz und Bayern zwischen den Revolutionen von 1849 und 1919 . . . . . . .

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Franz Maier Die Entwicklung der Verwaltung und Kommunalverfassung in der Pfalz und im rechtsrheinischen Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Reinhard Heydenreuter Rechtsordnung und Justizverfassung der Pfalz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Alois Seidl † Die pfälzische Landwirtschaft des 19. Jahrhunderts im Spiegel des bayerischen Stammlandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Dirk Götschmann Grundlinien der Entwicklung von Gewerbe und Industrie der Pfalz im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Markus Raasch Vom Adel. Bayern und die Pfalz aus gesellschaftshistorischer Perspektive . . . . 145 Werner K. Blessing Pfälzer ,Eigen-Sinn‘ – Der Unionsprotestantismus im Königreich Bayern . . . . . 185 Klaus Unterburger Zwischen bayerischem Staatskirchentum und Milieubildung. Strukturelle Rahmenbedingungen und spezifische Eigenheiten des Pfälzer Katholizismus . . . . . 251 Lenelotte Möller Das Schulwesen der Pfalz 1816 – 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

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Inhaltsverzeichnis

Jürgen Vorderstemann Pfälzische Kulturlandschaft oder pfälzische Provinz? Die kulturelle Entwicklung der bayerischen Pfalz 1816 bis 1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

Wittelsbach, Bayern und die Pfalz. Grundlinien der Herrschaft eines Jahrhunderts Von Karsten Ruppert, Eichstätt / Römerberg Das Verhältnis der Pfalz zu dem Königreich der Wittelsbacher, von dem sie ein Teil war, gestaltete sich spannungsreicher als das jedes anderen Regierungsbezirks.1 In der ersten Hälfte der Epoche war es sogar überwiegend von Streit geprägt, der in dem gescheiterten Versuch einer gewaltsamen Lostrennung mündete. Dabei deutete zunächst nichts auf eine solche Eskalation schon eine Generation nach der Angliederung hin. Unter der Zweibrücker Linie der Wittelsbacher hatte sich das Kurfürstentum Bayern in diplomatischen Turbulenzen und ruinösen Kriegen über die Revolutionszeit und das Empire hinweg gerettet. Obwohl zeitweise in seiner Existenz gefährdet, war es am Ende der Epoche, wohl von niemand erwartet, zur dritten Macht des Deutschen Bundes aufgestiegen. Dass es seit 1806 als Königreich firmierte, brachte nicht nur diesen Machtgewinn zum Ausdruck, sondern auch die Tatsache, dass in Umfang und innerem Aufbau ein ganz neuer Staat entstanden war. Er fand seine endgültige Gestalt durch die Übernahme der am Rhein erworbenen Gebiete im April 1816.2 Gewünscht hatte man diese nicht. Blieben sie doch vom Stammland getrennt, hatten aufgrund ihrer Zugehörigkeit von fast zwei Jahrzehnten zu Frankreich eine von jenem fundamental abweichende politische, gesellschaftliche, rechtliche und kulturelle Prägung und sie waren von den Großmächten Frankreich und Preußen umgeben.

1 Die folgende Einführung in das Thema des Sammelbandes ist eine überarbeitete Zusammenfassung der Ergebnisse einer Geschichte der Pfalz im Königreich Bayern von Karsten Ruppert, die demnächst erscheinen wird. Auf Einzelnachweise wird daher verzichtet. Zusammenfassung der Tagungsergebnisse, die unter anderem in diese Einleitung eingeflossen sind: Meyer, Markus, Bericht zur Tagung „Wittelsbach, Bayern und die Pfalz. das letzte Jahrhundert“, in: Jahrbuch der Hambach Gesellschaft 2014, S. 115 – 124. Darüber hinaus die Tagungsberichte von Meyer, Markus, „Wittelsbach, Bayern und die Pfalz: das letzte Jahrhundert, 28. 03. 2014 – 29. 03. 2014 Edenkoben“, in: H-Soz-Kult, 19. 05. 2014, http://www.hsoz kult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5378. und in Bayernspiegel. Zeitschrift der Bayerischen Einigung und der Bayerischen Volksstiftung (3, 2014), S. 15 – 17. 2 Fenske betont in seinem Beitrag zu diesem Sammelband, dass die Angliederung an das Empire bei der linksrheinischen Bevölkerung nicht populär gewesen sei, sie überhaupt manchen Erscheinungen der Besatzungsherrschaft ausgesprochen ablehnend gegenübergestanden habe und es zumindest gegen Ende starke nationale Bestrebungen zur Rückkehr nach Deutschland gegeben habe.

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Karsten Ruppert

Trotz dieser widrigen Ausgangslage wurde die Angliederung der Pfalz an das Königreich Bayern ein Erfolg, da sie sich in einer für diese einmalig günstigen Konstellation vollzog. Sie bestand darin, dass drei triftige Gründe dafür sprachen, nicht das Naheliegende zu tun, nämlich die Neuerwerbung dem Stammland so weit wie möglich anzupassen. Beide Teile hatten sich so weit auseinanderentwickelt, dass die Schwierigkeiten dieses Konzepts als hoch eingeschätzt wurden und zudem mit dem Risiko eines langen und heftigen Widerstands der Neubürger verbunden sein würde. Zweitens strebte Bayern in Rivalität mit Preußen und Österreich eine Führungsrolle im konstitutionellen Deutschland an, mit der es sich nicht vereinbaren ließ, Rechts-, Gesellschafts- und Wirtschaftsverhältnisse zu beseitigen, die den Liberalen im Deutschen Bund als Vorbild galten. Und schließlich machte es für den Leiter der Politik, den Grafen Montgelas, und sein aufgeklärtes Beamtentum keinen Sinn, in der Neuerwerbung Zustände zu beseitigen, die man im Stammland selbst verwirklichen wollte.3 Daher behielt die Pfalz ihre „rheinischen“ oder „französischen Institutionen“4 und war wohl deswegen zu Beginn des 19. Jahrhunderts die „modernste“ Region des Deutschen Bundes – ein Faktum, das vollkommen in Vergessenheit geraten ist. Doch hat nicht nur die unerwartet einfühlsame Angliederungspolitik bei den Neubürgern Begeisterung und Zustimmung ausgelöst, sondern auch die zwei Jahre später erlassene Verfassung.5 Dafür war umso mehr Anlass, als alle Bestimmungen, die nicht auf die Pfalz übertragbar waren und dort retardierend gewirkt hätten, in diesem Landesteil nicht gelten sollten.6 Diese konstitutionelle Verfassung wurde als das zeitgemäße Instrument angesehen, um die alten mit den neuen Landesteilen zu einem einheitlichen Staatsgebilde zu verschmelzen. Sie wurde aber auch die Grundlage, auf der sich die weitere Modernisierung des Königreiches vollzog. Vor allem die in ihr garantierte „Ständeversammlung“, durch die der dem Staat gegenüberstehenden Ständegesellschaft ein erhebliches Maß an Mitgestaltung eingeräumt wurde, wirkte in diese Richtung. 3

Zur Rolle Zwackhs dabei ausführlicher: Beitrag Fenske in diesem Band. Heydenreuter stellt in seinem Aufsatz für diesen Band für die Reformbestrebungen Zwackhs und Montgelas’ stark deren freimaurerische Motivation heraus. 4 Dazu auch den Beitrag Fenske in diesem Band mit besonders positiver Bewertung des Departementsrats. Definition der Institutionen nach dem Staatslexikons von Rotteck-Welcker von 1846 im Beitrag Heydenreuters in diesem Band. Zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der „Institutionen“ der Beitrag Götschmanns in diesem Band. 5 So auch der Beitrag Fenskes mit einigen Ausführungen zur Bedeutung der Verfassung für das gesamte Königreich. Kritischer zur Verfassungsgebung von 1818 ist der Beitrag Heydenreuters in diesem Band. 6 In seiner Pionierstudie zu diesem Band tritt Raasch mit guten Argumenten der Ansicht entgegen, dass es in der Pfalz deswegen keinen Adel mehr gegeben habe. Wenn es auch zu keiner Adelsrestauration gekommen sei, so hätten doch wenige Vertreter des alten Adels die Franzosenzeit überlebt, seien zahlreiche bayerische Adlige als Staatsbeamte in die Pfalz gekommen, habe es Nobilitierungen gegeben und habe sich schließlich auch hier eine adligindustrielle Notablenschicht gebildet.

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Die Pfälzer Vertreter in der Zweiten Kammer der Ständevertretung nutzten das Forum vor allem bis zur Revolution mit ambivalenten Erfahrungen, um dem gesamten Königreich die Benachteiligung und Fortschrittlichkeit der von ihnen vertretenen Provinz kund zu tun.7 Während dieser Tätigkeit formte sich die Schicht der pfälzischen Liberalen auf der Grundlage der sich im Parlament wie in den Wahlen formenden Institutionen wie aber auch durch verwandtschaftliche, gesinnungsmäßige und freundschaftliche Verbindungen. Sie hatte materiell von der Enteignung von Kirche und Adel profitiert, ihre Entfaltung war durch die „französischen Institutionen“ begünstigt worden und geistig wurzelten sie in der westeuropäischen Aufklärung, wenn sie auch schon an vergleichbare Bestrebungen in Deutschland vor 1789 anknüpfen konnten.8 In einer bemerkenswerten Kontinuität, wie sie in Deutschland sonst kaum noch zu finden ist, dominierten die Liberalen bis zum Aufkommen der Massenparteien am Ende des Jahrhunderts die Politik in der Pfalz nahezu konkurrenzlos: Sie saßen auch im Landrat und den Gemeindevertretungen, sie stellten die Vorstände in den Vereinen wie den Wirtschaftsverbänden. Die Aufgabe, die sich seit 1816 stellte, war also, eine Region mit freien und rechtsgleichen Individuen, die vom aufklärerischen Rationalismus geprägt waren und die seit langem bürgerliche Freiheiten9 wie freie wirtschaftliche Entfaltung kannten, allmählich in eine aufgeklärte absolutistische Monarchie mit einer ständischen Gesellschaft zu integrieren, deren Mitglieder sich noch ganz überwiegend in Glauben und Alltag fraglos an den Normen ihrer Kirchen orientierten. In diesem interdependenten Prozess hat sich das Kernland besonders stark in der Justizverfassung und dem Rechtswesen auf das pfälzische Modell zubewegt.10 Diese Sonderstellung war ein politisch wie staatlich starkes Band, um eine historisch, konfessionell wie kulturell stark zersplitterte Region zu vereinheitlichen, die auf keinerlei Tradition zurückgreifen konnte, sondern sich aus über drei Dutzend einst selbständigen Gebilden zusammensetzte. Ebenso vereinheitlichend wie identitätsstiftend wirkte die verwaltungsmäßige Zusammenfassung des Gebiets mit den Regierungspräsidenten an der Spitze, die rasch zu Repräsentanten der Region wurden. Diese Entwicklung wurde nachhaltig befördert durch die Vereinigung der Lutheraner mit ihren kalvinistischen Glaubensbrüdern unter einem für die Pfalz zuständigem Konsistorium und der Zusammenfassung der Katholiken, die bisher fünf verschiedenen Diözesen unterstanden hatten, in einem Bistum, das in die bayerische Kirchenorganisation eingegliedert wurde. Die Zerrüttung des pfälzisch-bayerischen Verhältnisses in einer Generation von der enthusiastisch begrüßten Angliederung bis zum gewaltsamen Aufstand hatte zu7

Zum Einsatz der pfälzischen Abgeordneten für die Einführung der Trennung von Verwaltung und Justiz in ganz Bayern vgl. den Beitrag Heydenreuters in diesem Band. 8 So besonders der Beitrag Fenskes in diesem Band. 9 Zu deren konkreten Auswirkungen vgl. auch den Beitrag Heydenreuters in diesem Band. 10 So die Kernthese des Beitrags von Heydenreuter, der auch noch auf die Bedeutung einiger Pfälzer Juristen für die bayerische Rechtsentwicklung eingeht.

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nächst wirtschaftliche und fiskalische Ursachen.11 Die königliche Regierung sah hilflos zu, wie in ihrem dichtbesiedeltsten Kreis als Folge der rasanten Zunahme der Bevölkerung die Unterschichten verarmten und die Kleinbauern in ihrer Existenz bedroht waren. Vor diesem Hintergrund gab das Steuersystem des Rheinkreises zu besonderem Missmut Anlass. Er hatte erhebliche Kosten für Aufgaben des Staates zu tragen, ohne von diesem bei seinen Verpflichtungen entsprechend unterstützt zu werden. Die Gemeinden waren stark verschuldet, da sie noch für Zinsen und Tilgung von Besatzungs- und Kriegskosten aus der französischen Zeit aufzukommen hatten.12 Die Steuerbelastung in der Pfalz war teilweise höher als in den anderen Landesteilen, da für einige Abgaben die höheren französischen Sätze beibehalten wurden. Als besonders empörend wurde empfunden, dass die Pfalz zur Abtragung gesamtbayerischer Schulden beitragen musste, die angefallen waren, als sie noch nicht vom Hause Wittelsbach regiert wurde. Man versperrte sich dabei aber auch der Einsicht, dass die Zugehörigkeit zu Bayern eben auch ihren Preis hatte. Das im Streit von den politischen Repräsentanten immer wieder angeführte Argument, dass die zollpolitische Abschnürung des Kreises es verhindere, die Wirtschaft so in Schwung zu bringen, dass eine solche Schulden- und Steuerlast überhaupt tragbar sei, war in der Sache richtig, doch war es der bayerischen Regierung nur bedingt möglich, diesen Missstand zu beheben. Erst als die zollpolitische Zersplitterung im Deutschen Bund bis 1834/35 beseitigt war, beruhigten sich die Gemüter in dieser Hinsicht. Das Gefühl der Zurücksetzung und Ungleichbehandlung nährte auch die Beamtenpolitik. Auf dem linken Rheinufer besetzten die Beamten aus dem rechtsrheinischen Bayern die höheren Posten in der Verwaltung, hingegen machten wenige Pfälzer in der höheren Beamtenschaft wie auch im Militär Bayerns Karriere. Dafür war das Misstrauen gegenüber deren politischer Einstellung ebenso ein Grund wie die Unterschiede in der Rechts- und Verwaltungskultur in den Landesteilen und ein unzureichendes höheres Bildungswesen in der Pfalz. Ebenfalls objektive Gründe wie politisches Kalkül waren dafür ausschlaggebend, dass die Pfalz innerhalb der Ständeversammlung in der Kammer der Reichsräte keine Rolle spielte und bis zur Revolution in der nach ständischem Proporz gewählten Kammer der Abgeordneten unterrepräsentiert blieb. All das waren zwar ärgerliche, doch politisch lösbare Probleme, wenn die bayerische Politik insgesamt nicht auf einen neuen Kurs eingeschwenkt wäre. Er begann, als Montgelas und mit ihm ein Teil der aufgeklärten politischen Elite durch den Kronprinzen und eine Adelsfronde zu Beginn der zwanziger Jahre entmachtet wurde. Das von Ludwig dann als König verfolgte Konzept des zwar reformgeneigten, doch autokratischen Regierens ließ sich mit dem Selbstbewusstsein seiner Stände nur schwer vereinbaren. Es erhielt seinen Todesstoß durch den reaktionären Schwenk des Kö11

Im Einzelnen dazu die Beiträge von Fenske und Götschmann in diesem Band. Zu den unterschiedlichen historischen Voraussetzungen der Entwicklung der Gemeinden im späteren Rheinkreis und im Königreich Bayern wie zur Kommunalverwaltung im linksrheinischen Deutschland unter französischer Besatzung und deren Auswirkungen vgl. den Beitrag Maier in diesem Band. 12

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nigs angesichts der revolutionären Welle, die Europa seit dem Beginn der dreißiger Jahre erfasste. Nun wurde die Pfalz aus Münchener Perspektive endgültig vom Modellfall zum Problemfall. Denn die autokratische Politik des Königs kollidierte mit der politischen Kultur der Pfalz und sein Konzept der Rekatholisierung mit deren rationalistischer Mentalität und Kultur wie dem Religionsverständnis der Pfälzer. Daraufhin formierte sich der Pfälzer Liberalismus neu. Anknüpfend an die Griechen- und Polenvereine der zwanziger Jahre und an den im Januar 1832 gegründeten „Press- und Vaterlandsverein“ zur Unterstützung der freien Presse und verfolgter Journalisten, dem wohl ersten Massenverein in Deutschland, erweiterte er sich sozial durch den Zuzug von Gewerbetreibenden, Kaufleuten und Handwerkern und publizistisch durch die Gründung oppositioneller Blätter und die Verbreitung von Flugschriften. Bei dem nun anstehenden neuen Austarieren der Gewichte zwischen den fürstlichen Regierungen und den liberalen Kräften übernahm der pfälzische Frühliberalismus an der Jahreswende 1830/31 auf dieser Basis in Bayern und Deutschland eine Führungsrolle. Deren Höhe- und Wendepunkt war das Hambacher Fest vom Mai 1832.13 Einerseits ein beeindruckendes Zeugnis der Schlagkraft des Liberalismus, andererseits aber auch Beleg dafür, dass ihm jenseits von sozialrevolutionärer Rhetorik und politischer Polemik Mittel und Konzepte zum Handeln fehlten. Die vom Deutschen Bund gestützte anschließende Besetzung der Pfalz und die Entlassung wie Disziplinierung politisch verdächtiger Beamter, Advokaten und evangelischer Pfarrer, dazu das verstärkte Schikanieren der Volksvertreter löste nichts, verbitterte nur. Deutschland und die Pfalz traten in die Phase der Repression, die mit Stagnation einherging. Zusätzlich verlor der bayerische Staat dadurch an Autorität, dass die Strafverfolgung der Aufrührer in einem juristischen Fiasko endete. Als ambivalent erwies sich für ihn auch, dass ein Teil der politisch führenden Köpfe ins Ausland floh. Da dies vor allem solche mit demokratischer wie republikanischer Gesinnung waren, sah er sich in der Pfalz einer ideologisch geschlossenen Opposition der verbliebenen Liberalen gegenüber, als in Europa 1848 die Völker erneut in Bewegung gerieten. Die Gründung des Volksvereins für die Pfalz Anfang April 1848 war das für den Verlauf der Revolution entscheidende Ereignis.14 Ihm gelang es bis zum Ausbruch des Aufstandes ein Jahr später, Demokraten und Konstitutionelle auf dem gemeinsamen Kurs der rückhaltlosen Unterstützung der Nationalversammlung zusammenzuhalten. Mit der Gründung von fast 200 Ortsvereinen machte er den Kreis zu einem der am stärksten politisierten Gebiete Deutschlands. An seiner dominierenden Stellung änderten die wenigen Vereine der Demokraten und Arbeiter, die später ins Leben traten, nichts; erst mit den katholischen Piusvereinen kam an der Jahreswende

13 Beitrag Fenske in diesem Band: „tiefste Zäsur im pfälzischen Vormärz“; dort auch eingehender zu den Strafmaßnahmen der bayerischen Regierung. 14 Zu den revolutionären Vorgängen der Beitrag Fenskes in diesem Band.

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1848/49 eine ideologisch neue Formation mit Massenanhang auf, die aber außerhalb ihres Lagers keinen Einfluss hatte. Die bis zum Frühjahr 1849 auffallend ruhige Provinz ging zum Aufstand über, weil sie sich durch die Zurückweisung der Reichsverfassung durch die bayerische Regierung hintergangen fühlte und der seit Jahrzehnten angestrebte demokratische Nationalstaat mit einem Schlag zunichte gemacht wurde. In dieser Atmosphäre von Wut und Enttäuschung gelang es einer Gruppe Entschiedener, einen Teil der Bevölkerung zur Loslösung von Bayern und Unterstellung unter die Reichsgewalt zu gewinnen. Von dem aussichtslosen Unterfangen hielt sich der größte Teil der bisherigen politischen Elite fern; es wurde getragen von den meist jüngeren Radikalen, die bisher in der zweiten Reihe agiert hatten. Die zwielichtige Haltung der bayerischen Regierung in der Reichsverfassungsfrage und die Absicht, das bayerisch-pfälzische Verhältnis in der Zukunft nicht über Gebühr zu belasten, bestimmte dann auch die juristische und politische Aufarbeitung des Aufstandes. Auf die offiziöse Devise, dass die Masse der Gutgläubigen von Radikalen und Kriminellen, meist von auswärts, verführt worden seien, konnten sich Ankläger und Angeklagte rasch einigen. So sehr die Provinz auch unter der folgenden Reaktionspolitik ächzte und so sehr Einzelne die Maßnahmen hart trafen, so sollte sich diese Strategie für eine konstruktive politische Entwicklung in der Zukunft als richtig erweisen. Revolution und Aufstand waren tiefe Einschnitte in der über hundertjährigen Geschichte der wittelsbachischen Pfalz.15 Flucht, Strafmaßnahmen, Resignation und Alter lösten die Generation, die sich bisher als Avantgarde der Modernisierung verstanden hatte, auf.16 Die Einsicht, dass in Zukunft nur noch mit und innerhalb Bayerns größere oder kleinere Schritte der Reform gemacht werden könnten, wurde Allgemeingut. Andererseits hatte sich dieses Bayern schon während der Revolution durch Verbreiterung und Entfeudalisierung des Wahlrechts, politischen und rechtsstaatlichen Umbau auf die politische Kultur der Pfalz zubewegt und sollte in den kommenden Jahren auf diesem Kurs bleiben. So wurde die Sonderstellung der Pfalz immer obsoleter. Was dann noch an Besonderheiten blieb, wurde durch die Industrialisierung, die Reichseinigung und das Zusammenwachsen von Parteien, Verbänden und Organisationen abgeschliffen.17 Erkennbare Unterschiede gab es nur noch in der Kommunalverfassung beider Landesteile, während die Vereinheitlichung der staatlichen Verwaltung bis 1862 vollzogen worden war. Das pfälzische Erbe, die Trennung von Justiz und Verwaltung wie die Vertretungen der Bürger auf der unteren und mittleren Ebene, wurde in ganz Bayern eingeführt. Deren Kompetenzen wurden aber erst durch die Gemeindeord15

So auch der Beitrag von Kreutz in diesem Band. Ausführlich der Beitrag von Kreutz in diesem Band. Dort auch eingehender zu den bayerischen und europäischen Hintergründen der Reaktionspolitik und der sie begleitenden Reformen in Bayern. 17 So auch Kreutz in seinem Beitrag zu diesem Band. 16

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nung von 1869 gestärkt, so dass sie nun als echte Organe der Selbstverwaltung gelten konnten. Die Pfalz übernahm nicht die rechtliche Trennung zwischen Stadt- und Landgemeinden. Sie behielt ihre einheitliche Kommunalverfassung mit Gemeinderäten unter dem Vorsitz von Bürgermeister und Adjunkt bei, die von den Gemeinderäten und nicht wie im übrigen Bayern von den Bürgern direkt gewählt wurden. Dass die pfälzische Kommunalverfassung nur ehrenamtliche Bürgermeister kannte, wurde mit dem Anwachsen der Städte zu einem Problem.18 Trotz des Bemühens der Kreisregierung, in der Pfalz eine starke konservative Bewegung zu fördern, blieb der Liberalismus auch in der Epoche von Reaktion und Reichseinigung die vorherrschende politische Kraft. Er hatte sich jetzt aber programmatisch und sozial zum protestantischen Wirtschaftsbürgertum der Städte und den Großbauern bzw. -winzern hin geöffnet. Zunächst hielt er sich in der Zweiten Kammer noch von den ihm nahestehenden gleichgesinnten Fortschrittlern fern, da man großdeutsch und, durch den Verfassungskonflikt bestärkt, antipreußisch war. Bismarcks Siege und die Furcht vor dem französischen Griff nach der Pfalz führten aber bei den Pfälzer Liberalen zu einem Gesinnungswechsel. Nun als Nationalliberale firmierend, unterstützten sie sowohl Bayerns Weg ins Reich als auch die Verwaltungs-, Justiz- und Rechtsreformen der liberalen Ministerien. Sie hatten sich inzwischen ihren bayerischen Gesinnungsgenossen angeschlossen, um sich in der Kammer gegen die dort jetzt dominierenden konservativ-klerikalen Patrioten behaupten zu können. Im Zuge der Reichseinigung und schon im Jahrzehnt davor war durch die Reformgesetzgebung der liberalen Ministerien im Straf- und Handelsrecht, der Strafprozessordnung und der Gemeindeordnung eine Angleichung zwischen Bayern und der Pfalz erfolgt. Diese wurde auf dem Gebiet der Justiz durch die Errichtung oberster Reichsgerichte, die Verabschiedung vereinheitlichter Prozessordnungen und schließlich durch ein einheitliches Straf- und Zivilrecht nach der Reichsgründung weitergetrieben.19 Mit der Mark wurde eine einheitliche nationale Währung eingeführt. Die Nation wurde für die Pfälzer neben Bayern nicht nur ein zusätzlicher Handels- und Wirtschaftsraum, sondern auch kultureller und politisch-emotionaler Bezugspunkt. Zunächst blieb der Liberalismus bis fast zur Jahrhundertwende führend, da ihn bei den Landtagswahlen das indirekte Verfahren und der Zuschnitt der Wahlkreise und bei den Reichstagswahlen das Stichwahlverfahren begünstigten.20 Diese Position wurde unterminiert durch die Gründung des Bunds der Landwirte 1893 in Berlin. Denn er machte ihm so erfolgreich die protestantischen Bauern der Nord- und Westpfalz, die kleineren Winzer an der Haardt und die bedrängten Tabakbauern in der Rheinebene abspenstig, dass der Bund schon nach der Jahrhundertwende zu einer 18

Vgl. den Beitrag Maier in diesem Band. Vgl. auch Beitrag Heydenreuter in diesem Band. 20 Zu einzelnen Persönlichkeiten der neuen Generation von Politikern vgl. den Beitrag Kreutz in diesem Band. 19

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unübersehbaren Potenz im pfälzischen Parteiensystem geworden war. Des Weiteren politisierten sich allmählich die Katholiken und die Arbeiterschaft.21 Wenn sich die katholische Zentrumspartei auch in der rationalistischen Pfalz bei den Wahlen ebenso schwer tat wie beim Aufbau ihrer Organisation, so konnte sie sich doch bis zum Ende des Jahrhunderts etablieren. Dazu trug nicht zuletzt ein für die damalige Zeit wohl einmaliges Wahlabkommen mit der Sozialdemokratie bei. Dieses sicherte beiden Parteien nicht nur manches Mandat auf Kosten der Liberalen bei Landtags- und Reichstagswahlen, sondern war auch die Voraussetzung für die demokratische Wahlrechtsreform in Bayern von 1905. Letztlich hatte wohl die Sozialdemokratie am meisten von dieser ungewöhnlichen Koalition profitiert. Bis zum Ausbruch des Krieges war sie die stärkste Partei der Pfalz geworden. Im Landtag schlossen sich beide Parteien aber unterschiedlichen Lagern an. Dort wuchs der Einfluss der Kammer der Abgeordneten kontinuierlich. Ihr stand aber eine Regierung und Ministerialverwaltung gegenüber, die ihre Stärke gewann aus ihrer alleinigen Abhängigkeit vom König, ihrem Sachverstand22 und ihrer Unterstützung durch die liberale Minderheit gegen die Kammermehrheit von Patrioten (Zentrum) und SPD. Die schwerste Bürde, die Handel, Gewerbe und Industrie der Pfalz zunächst zu tragen hatten, war die zollpolitische Isolierung nach dem Anschluss an Bayern. Die Provinz war von hohen Zollmauern umgeben, den Einfuhren aber schutzlos preisgegeben. Bezeichnend war, dass die Industrialisierung erst mit dem Beitritt Bayerns zum Deutschen Zollverein einsetzte,23 die jetzt auch durch den Ausbau der Verkehrswege und durch die Erschließung mit der Eisenbahn gefördert wurde. Zögerlich erfolgte zunächst auch die Einführung von Maschinen, wofür sicherlich auch Kapitalmangel aufgrund des nur lokalen Geld- und Kreditwesens verantwortlich war. Mit dem etwa zur Zeit der Reichsgründung anhebenden Übergang zum Großbetrieb konnte die Pfalz einen Vorteil ausspielen: das Reservoir von arbeitswilligen und lernfähigen Arbeitskräften. Sie waren die Folge einer fast ungebremsten Bevölkerungsvermehrung in dem flächenmäßig kleinsten, doch am dichtesten besiedelten Kreis Bayerns von 450.000 Einwohnern auf fast eine Million am Ende der Epoche. Eine Ursache dafür waren die französischen Institutionen der Realteilung,24 Gewerbefreiheit25 und unbegrenzten Niederlassungsfreiheit. Die Kehrseite war, dass eine relativ wohlhabende Provinz überdurchschnittlich viele Arme zählte. Nicht zuletzt deswegen war sie ein klassisches Auswanderungsland, wobei vor allem in der ersten 21

Im Einzelnen dazu der Beitrag von Kreutz in diesem Band. Zum wirtschaftlichen Hintergrund dieser Entwicklung vgl. auch den Beitrag Götschmanns in diesem Band. 23 Dazu auch noch den Beitrag Götschmanns. 24 Zur Entstehung vgl. den Beitrag Seidls in diesem Band. 25 Zur rechtlichen Seite der Gewerbefreiheit vgl. auch noch den Beitrag Heydenreuters in diesem Band. 22

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Hälfte des Jahrhunderts auch die politischen Motive zu Buche schlugen. Die Auswanderung, die in der Zeit der Reaktion besonders hoch gewesen ist, weil politische und wirtschaftliche Motive kumulierten, wurde danach durch die Binnenwanderung zu den Industriestandorten inner- und außerhalb der Pfalz abgelöst. Dies trug deutlich zum beschleunigten Wachstum der Städte bei, von denen sich keine zu einer wirklichen Metropole entwickeln konnte.26 Ein gut ausgebautes Eisenbahnwesen aufgrund privater Investitionen und die in Hinsicht auf die Einfuhr von Rohstoffen als auch auf den Zugang zum nationalen wie internationalen Markt günstige Lage am Rhein waren die verkehrsmäßigen Standortvorteile, denen die Pfalz zu einem guten Teil verdankte, dass sie sich nach der Reichseinigung weitaus dynamischer entwickelte als das rechtsrheinische Bayern. Dazu verfügte sie über die Energieträger Holzkohle, Steinkohle und natürliche Wasserkraft und später auch über eine hinreichende Stromversorgung. Die Gewinnung von Strom und sein Transfer über weite Strecken eröffneten dem rohstoffarmen Standort Bayern seit 1880 langfristig neue Perspektiven. Künftig konnten Wasserkraftwerke Strom erzeugen, der sich andernorts einsetzen ließ. Der elektrische Strom wurde anfangs für die öffentliche Beleuchtung und den Betrieb der ersten Straßenbahnen verwendet, ehe private Unternehmer in Elektromotoren für ihre Fabriken investierten. Folgenreich und erfolgreich war die bayerische Wirtschaftsförderung bei der Abwerbung zukunftsträchtiger Unternehmen aus Baden durch Investitionshilfen mit der BASF wie den Firmen Giulini und Benckiser. Auch bei den Initiativen zu Infrastrukturmaßnahmen war die gescheiterte Revolution 1849 ein erkennbarer Einschnitt. Seitdem war die bayerische Zentrale sowohl davon überzeugt, dass in der Pfalz mehr getan werden müsse als auch verlor die Region innerhalb der bayerischen Politik den Status des Vorbehalts. D. h. man ging nun nicht mehr davon aus, dass sie im Tausch mit einem deutschen Bundesstaat oder durch französische Eroberung verloren gehen würde. Es wurde nun auch vom Staat tatkräftiger in Eisenbahnen, Straßen und Bergwerke investiert. Die Pfalz gehört zu den spät industrialisierten Gegenden Deutschlands. Die wichtigsten Industriezweige waren zunächst die Papierherstellung, die Tabakverarbeitung und eine noch schwach entwickelte Textilbranche. Charakteristisch für das Gewerbe und die Industrie vor der Jahrhundertmitte waren Kleinbetriebe, die auf der Grundlage örtlicher und regionaler Rohstoffe und Ressourcen für den inländischen Absatzmarkt produzierten. Damit aber waren dem wirtschaftlichen Wachstum zunächst die Grenzen gesetzt. Den Aufschwung nach 1870 verdankte die Pfalz sowohl der Überwindung ihrer wirtschaftlichen Randlage durch die Reichseinigung als auch einer damit parallellaufenden wirtschaftsfreundlichen Sozial- und Gewerbegesetzgebung der liberalen Ministerien in Bayern zwischen 1869 und 1876. Jetzt erhielt die Industrie auch einen zusätzlichen Schub durch technische Innovationen sowohl bei den Antriebs- wie Produktionsmaschinen. Noch bedeutender waren wohl Erfindungen 26

Vgl. auch noch den Beitrag von Kreutz in diesem Band.

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und Patente, die vor allem in der chemischen Industrie wie dem Maschinenbau die Entwicklung beschleunigten. In dieser vielfältig gemischten Regionalwirtschaft27 mit einem noch vorherrschenden Agrarsektor28 waren um die Jahrhundertwende mit dem Maschinenbau und der chemischen Produktion die kommenden Wachstumsindustrien bereits vorhanden. Nimmt man die Eisenhütten dazu und zählt den Maschinenbau zur Metallverarbeitung, dann war dies die wichtigste Branche vor dem Krieg. Insgesamt arbeiteten bis dahin 100.000 Menschen in der Industrie. Mit jeweils annähernd 350.000 Menschen lebten ungefähr ebenso viele der etwa 1.000 000 Einwohner von der Industrie wie der Landwirtschaft.29 Mit einer Zunahme der Beschäftigten in der Industrie von über 10 % im Jahr in den beiden letzten Jahrzehnten verschob sich die Relation aber rasant. Der späte, doch rasche Aufschwung machte die Pfalz zu einer Region mit mehreren industriellen Zentren und einer auffallend diversifizierten Produktion. Traditionelle Gewerbe und Industrien banden in meist nicht allzu großen Betrieben viel Personal. Welt- oder Großunternehmen in Chemie wie Maschinenbau waren ein ansehnlicher Beweis für eine erfolgreiche Industrialisierung, die sich auch die bayerische Wirtschaftspolitik zugutehalten durfte. Dazu kamen Zuckerraffinerien und eine im Heimgewerbe in zurückgebliebenen Gegenden betriebene Schuhproduktion von nationaler Ausstrahlung. Eine solche Wirtschaft war Grundlage eines Massenwohlstands, von dem auch die immer noch starke Landwirtschaft profitierte. Er war aber auch Grundlage einer Grundstimmung der Zufriedenheit mit den Verhältnissen, welche die Prinzregentenzeit trug und welche die Zugehörigkeit der Pfalz zu Bayern zu einer Selbstverständlichkeit werden ließ. Die Rahmenbedingungen für die pfälzische Landwirtschaft wurden durch die Verschiedenheit der geologischen und landschaftlichen Formationen und die große Bevölkerungsdichte vorgegeben. Die natürliche Beschaffenheit des Landes brachte den Anbau einer Vielfalt von Produkten hervor,30 darunter die markanten Sonderkulturen des Tabaks und des Weines.31 Die hohe Bevölkerungsdichte zwang zur intensiven Nutzung des Landes, so dass es bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kaum noch Brachen und wenig Weiden gab. Das Vieh wurde fast ausschließlich in Ställen gehalten, demgemäß waren große Bestände selten; reine Viehzucht gab es 27

Statistischer Überblick im Beitrag Götschmanns in diesem Band. Zur Wechselwirkung von vorherrschender Agrarstruktur und wirtschaftlicher Produktion vgl. Beitrag Götschmann in diesem Band. 29 Die wenig beachtete Bedeutung des großen und lernwilligen Arbeitskräftepotentials der Pfalz für deren industriellen Aufschwung stellt Götschmann in seinem Aufsatz heraus. 30 Überblick über die angebauten Produkte und deren Vermarktung im Beitrag Seidls in diesem Band. 31 Seidl betont, dass der handarbeitsintensive Weinbau, den er eher zum Garten- als zum Ackerbau zählen möchte, auch von dem freien Arbeitskräftepotential, das sowohl aufgrund des Bevölkerungswachstums als auch der Parzellierung der Ackerflächen vorhanden war, profitierte. 28

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wohl nicht.32 Kennzeichnend war viel mehr die gemischte Wirtschaft von Ackerbau und Viehzucht, da natürliche Düngung das Übliche war. Wenn trotz solcher Bedingungen der Viehbestand in der Pfalz hoch war, dann auch deswegen, weil die Haltung von Kleintieren bis hin zu Schweinen, Ziegen und weniger Schafen weit verbreitet war. Oft ergänzend zum Acker- und Gartenbau oder im Nebenerwerb betrieben, besserte sie das Haushaltseinkommens auf. Eine weitere Folge der dichten Besiedlung war, dass hier das Getreide nicht die Bedeutung wie in anderen Teilen Deutschlands hatte. Wenn auch der Anbau des klassischen Brotgetreides Roggen auf der nordpfälzischen Hochebene die größte Ackerfläche einnahm, so war doch die Kartoffel die unverzichtbare Ergänzung für die Ernährung der Massen. Sie ließ sich in großem Umfang kleinflächig und disloziert anbauen und bot den kleineren Bauern, auch durch Weiterverarbeitung, noch am ehesten die Chance, Kapital zu erwirtschaften. Denn in der Pfalz gab es so viele klein- und mittelbäuerliche Betriebe wie sonst nirgends mehr im Deutschen Reich.33 Mehr als die Hälfte der Flächen unter 2 ha wurden hier bestellt. Das lag sowohl an der aus der Franzosenzeit überkommenen Realteilung als auch daran, dass weder Abgaben noch Vorschriften landwirtschaftliche Betätigung einschränkten. Da mit Parzellen dieser Größe schon im 19. Jahrhundert nicht mehr wirtschaftlich zu arbeiten war, waren die meisten wohl solche von Nebenerwerbslandwirten. Der Anteil der Großbauern lag unter einem Prozent. Diese Betriebsstruktur hatte zur Folge, dass die pfälzische Landwirtschaft, abgesehen vom Wein und in deutlich geringerem Umfang von Getreide und Kartoffeln, überwiegend nicht für den Markt, sondern den Eigenbedarf produzierte; die Subsistenzwirtschaft herrschte also vor. Der Strukturwandel hatte dann einen kontinuierlichen Rückgang der in der Landwirtschaft Beschäftigten zur Folge. Lag er zu Beginn der wittelsbachischen Herrschaft noch bei fast 90 Prozent, so an deren Ende unter einem Drittel. Mit einem Zwanzigstel des landwirtschaftlich genutzten Bodens war die Pfalz das relativ stärkste Weinanbaugebiet Deutschlands; hier lag ein Siebentel der deutschen Weinbaufläche. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde in fast 300 Gemeinden von 30.000 Winzern Wein angebaut, die je nach Ernte bis zu einem Fünftel zum Gesamtertrag der pfälzischen Landwirtschaft beitrugen. Doch die Masse der Kleinwinzer konnte von dem Erwirtschafteten nicht leben. Sie produzierten daher meist nicht für den Markt, sondern lieferten den Most an die Großwinzer ab, arbeiteten auf deren Gütern und bestellten nebenbei Felder oder hielten Vieh. Die Großwinzer an der Haardt hatten schon vor der Jahrhundertmitte auf die Produktion von Qualitätswein umgestellt, mit dem einige sogar weltweit erfolgreich waren. Sie waren ein markantes Element des liberalen Bürgertums, das in Politik und Wirtschaft führend war. Wein war für die Pfalz aber nicht nur ein landwirtschaftliches Produkt, sondern auch Element der Identität. Das waren zum einen die charakteristischen Weindörfer 32 33

Eingehender dazu der Beitrag Seidls in diesem Band. Dazu ausführlicher der Beitrag von Seidl in diesem Band.

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an der Haardt mit ihren repräsentativen Gütern und Villen der Winzer. Zum anderen wurde mit keinem Wirtschaftsgut die Region außerhalb so verbunden und keines wurde in Folklore und Kunst, vor allem Musik und Malerei, so gepflegt wie dieses. Das Waldgebiet in der Mitte der Pfalz war das größte zusammenhängende des Reiches mit einem ausgesprochen mannigfaltigen Bestand fast aller Nadel- und Laubbäume Nordeuropas. Wirtschaftlich wurde es genutzt zur Herstellung von Holzkohle, deren Bedeutung als Energiespender kontinuierlich sank. Umso wichtiger wurden das Schlagen von Bau- und Brennholz wie Holz als Rohstoff für die Produktion von Gebrauchsgegenständen und Werkzeug, meist in Heimarbeit. Die wirtschaftliche Ausbeutung des Waldes, in dem auch mancher rentable Steinbruch lag, blieb hinter den Möglichkeiten zurück. Denn er gehörte zum größten Teil dem Staat und den Gemeinden, für die der unmittelbare wirtschaftliche Nutzen nicht im Vordergrund stand. So lange die Pfalz zum Königreich Bayern gehörte, war sie trotz erfolgreicher Industrialisierung ein von der Land- und Forstwirtschaft wie dem Weinbau geprägter Wirtschaftsraum. Dass diese im Laufe des Jahrhunderts in allen Branchen die Produktion erheblich steigern konnten, war unter anderem auch der Politik des Staates zu verdanken. Nämlich zum einen den von ihm errichteten Forschungsanstalten, in denen vor allem die Steigerung der Produktion wie die Bekämpfung von Pflanzenkrankheiten untersucht wurden; zum anderen den Schulen, in denen sachkundige Landwirte für betriebswirtschaftlich geführte Höfe ausgebildet wurden. Das deutlich verkleinerte Bistum Speyer, das 1818 neu gegründet wurde, war mit dem Rheinkreis identisch.34 Das hat sowohl dessen Identität stabilisiert als auch den Katholiken erleichtert, sich mit der neuen Herrschaft zu arrangieren. In der Diözese gab es allerdings nur wenige geschlossene katholische Gebiete; kennzeichnend war die konfessionelle Mischung. Bedenkt man, dass die Katholiken nun in einem mehrheitlich katholischen Staat unter einer katholischen Monarchie lebten, ist es erstaunlich, wie konfliktreich das Verhältnis war. Die materiellen, geistigen und personellen Verwüstungen der Franzosenzeit waren ein schweres Erbe für eine Kirche, die sich in einer rationalistischen Kultur und einer teils antiklerikalen Öffentlichkeit behaupten musste. Die Bischöfe reagierten darauf, unterstützt von der ultramontanen Zeitströmung,35 durch den Aufbau einer eigenen Priesterausbildung, der Initiierung einer Volksmission und dem Ausbau des konfessionellen Bildungswesens. Zeitweise kam ihnen dabei der politische Schwenk Ludwigs I. zur Religion als antirevolutionärem Sedativ entgegen. Diesem verdankt die Diözese die Wiederbelebung einiger Klöster, die Neu- und Wiedererrichtung katholischer Schulen wie die Neugründung eines katholischen Volksschullehrerseminars. 34 Zur Entwicklung hin zum neuen Bistum Speyer und den historischen Belastungen vgl. den Beitrag Unterburgers in diesem Band. 35 Dazu auch noch der Beitrag Unterburgers in diesem Band.

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Mit diesem Staat lag die katholische Kirche aber andererseits ständig über Kreuz, da er, durch das Konkordat noch gestützt, ein ausgeprägtes Staatskirchentum praktizierte.36 Fortgesetzt gab es Streit über die Besetzung von Pfarrstellen, Leitungspositionen kirchlicher Bildungseinrichtungen und Schulen, Art und Umfang kirchlicher Verlautbarungen, ja selbst über Fragen von Kultus und Ritus. Die ärgsten Eingriffe in die inneren Angelegenheiten wurden als Belohnung für die königstreue Haltung der Katholiken in der Revolution von 1848/49 abgestellt. Die damals begründete gemeinsame Front gegen die Kräfte des Umsturzes hielt nicht lange. Die Verurteilung von zeitgenössischen Ideologien und der Anspruch des Papstes auf einen geistig-moralischen Primat brachten auch die pfälzische Kirche in einen erneuten Gegensatz zu den dezidiert liberalen königlichen Regierungen und den sie stützenden Kräften inner- wie außerhalb des Parlaments.37 Der Kampf tobte um den Erhalt der Konfessionsschulen, die geistliche Schulaufsicht wie die Stellung der Altkatholiken; zeitweise auch um die Besetzung des Speyerer Bischofstuhls. Erst angesichts der zunehmenden Stärke der atheistischen Sozialdemokratie kam es zu einem für die Kirche recht günstigen Arrangement. Dies verdankte sie nicht zuletzt dem Rückhalt, den sie beim pfälzischen Zentrum bzw. den bayerischen Patrioten inzwischen gefunden hatte. Die katholische Kirche war durch den Schock der Revolution politischer geworden und hatte aus dieser Erfahrung die Lehre gezogen, dass sie sich auf die moderne Gesellschaft zubewegen müsse. Sie tat dies im Bistum Speyer wie außerhalb vor allem durch ein überwiegend von Laien initiiertes und getragenes Vereinswesen, dessen Bedeutung für den Zusammenhalt des Katholizismus wie dessen Öffnung zu den Realitäten des Jahrhunderts kaum überschätzt werden kann. In den Vereinen sammelten sich Gleichgesinnte, kamen Menschen ähnlicher Lebenslagen zusammen, doch wirkten Laien und Geistliche durch sie auch karitativ, gewerkschaftlich und politisch in die Gesellschaft hinein.38 Nach der Angliederung an Bayern wurden die Pfälzer Lutheraner und Kalvinisten 1817 unter einem Konsistorium mit Sitz in Speyer zusammengefasst, das dem Münchener Oberkonsistorium unterstand. Seitdem konnte über keine Personalie gegen den Willen der königlichen Regierung entschieden werden, die darüber hinaus bei Vermögen und Kultus ein Mitspracherecht hatte. Diese organisatorische Vorentscheidung und längerfristige innerkirchliche Strömungen führten dann im Oktober 1818 dazu, dass sich die beiden Konfessionen in einer Kirche zusammenschlossen. Sie brachten aus der französischen Aufklärung nicht nur einen rationalistischen und individuelleren Glauben mit, sondern auch aus der französischen Besatzungszeit ein 36 Ausführlich und systematisch zu den Hauptstreitpunkten Mischehe, Konfessionsschule und Theologenausbildung wie auch zu anderen Konflikten vgl. Beitrag Unterburger in diesem Band. 37 Vgl. dazu auch noch Beitrag Kreutz in diesem Band. 38 Eingehender zu den besonderen Schwierigkeiten der Laienbewegung im Bistum Speyer der Beitrag Unterburgers in diesem Band.

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politischeres Selbstverständnis und eine auf gemeindlicher Selbstbestimmung beruhende Kirchenorganisation. Die neue Kirche hatte eine erkennbar kalvinistische Handschrift und war innerhalb des deutschen Protestantismus eine Hochburg des theologischen Rationalismus wie der presbyterial-synodalen Kirchenverfassung. Das waren entscheidende Wesenszüge, die sie von ihren bayerischen Glaubensbrüdern trennte. Wie das katholische Bistum war auch die Unierte Kirche der Pfalz mit dem Rheinkreis identisch und wirkte dadurch wie aufgrund ihrer Besonderheiten unter dessen Protestanten integrierend und identitätsstiftend; andererseits trug sie dadurch eben auch zur Vertiefung des pfälzisch-bayerischen Gegensatzes bei.39 Dieser Zuschnitt war die entscheidende Triebkraft für die kirchenpolitische Dauerfehde zwischen der pfälzischen Generalsynode und dem Speyerer Konsistorium einerseits und der königlichen Regierung wie dem Münchener Oberkonsistorium andererseits. Der Streit tobte um die Unabhängigkeit des Speyerer Konsistoriums, die Kompetenzen der Synoden, aber auch um die Beibehaltung oder Erneuerung des Unionskatechismus wie um Grundlagen des Glaubens und deren Vereinbarkeit mit individuellen Überzeugungen. Er weitete sich zu einem Politikum, da die Aktivisten in der Unierten Kirche eng mit dem politischen Liberalismus zusammenarbeiteten, mit dem sie auch personell verknüpft waren. Deren Kampf für Unabhängigkeit vom Münchener Oberkonsistorium, für mehr individuelle Glaubensüberzeugung und mehr Mitbestimmung der Laien korrespondierte mit dem für mehr Autonomie der Pfalz, mehr Freiheit und mehr politischem Einfluss der Bürger auf Kosten des monarchischen Prinzips und des Adels. So wurden die Anliegen des liberalen Bürgertums durch die Autorität der Unierten Kirche zusätzlich beglaubigt. Diese fand hingegen politischen Rückhalt an jenem. So stärkten sich die egalitären, libertären und rationalistischen Tendenzen in Kirche und Öffentlichkeit gegenseitig und festigten das Bild von der fortschrittlichen Pfalz und der mentalen Beweglichkeit ihrer Bevölkerung.40 Das wurde zum ersten Mal nachdrücklich für alle sichtbar auf dem Hambacher Fest von 1832, auf dem protestantische Pfarrer die Regierung und ihre Beamten attackierten, Freiheitsrechte proklamierten und sozialrevolutionäre Reden schwangen. Die anschließenden Disziplinierungsmaßnahmen bewirkten wenig. Im Vorfeld der Revolution von 1848, während dieser und im Aufstand von 1849 erneuerte sich die Konstellation. Liberale, Radikale und die Rationalisten der Unierten Kirche sahen darin die Chance, ihre gemeinsamen wie je eigene Ziele zu verwirklichen. Folglich hatte das Scheitern der Revolution gravierende Rückwirkungen auf die Unierte Kirche. Der Einfluss der Regierung und des Konsistoriums wie seiner Beamten wurde gestärkt, der kalvinistische Rationalismus zugunsten des Luthertums zurückgedrängt, nur die inzwischen erreichte Trennung des Speyerer Konsistoriums vom Münchener blieb. 39 Ausführlich dazu Blessing in diesem Band, der auch auf die Entwicklung im bayerischen Protestantismus eingeht. 40 Vgl. auch noch den Beitrag Blessings.

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Doch waren die im Kalvinismus wurzelnden Rationalisten nicht so schwach, wie es während der Reaktionsperiode den Anschein hatte. Sie nutzten den die Pfalz jahrelang bewegenden Streit, um erneut ihre Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Er ging darum, welche Lieder im Gottesdienst gesungen werden sollten, wie dieser gestaltet werden solle, an was der Christ glauben und wie er leben solle und wie schließlich seine Kirche zu verfassen sei. Um die brüchige Beruhigung nach der Revolution nicht zu gefährden, drängte die Regierung die Orthodoxen, ihren Gegnern entgegenzukommen. In den Synoden wurde die Parität von Pfarrern und Laien durchgesetzt, bis 1869 einigte man sich wenigstens auf ein verbindliches Lehrbuch für den Religionsunterricht und den Gemeinden wurde es überlassen, sich zwischen dem neuen und dem alten Gesangbuch, das die meisten bevorzugten, zu entscheiden. Die Vereinigte Protestantische-Evangelisch-Christliche Kirche verdient in der Geschichte der Pfalz während des 19. Jahrhunderts eine größere Aufmerksamkeit, als man sie gemeinhin einer Kirche schenken muss, da sie ein wesentliches Element des pfälzischen Selbstbewusstseins war. Das war sie aufgrund ihrer engen Verbindung mit dem Liberalismus, das war sie, weil sie jahrzehntelang eine Speerspitze im Kampf gegen Bayern gewesen ist und weil sie der Hort des (Vulgär)rationalismus war, einem Kennzeichen pfälzischer Mentalität. Daher haben scheinbar rein innerkirchliche Auseinandersetzungen wie beispielsweise die um das Gesangbuch auch die pfälzische Öffentlichkeit stets lange und intensiv bewegt. Es ging dabei eben immer auch um die gesamte geistige und mentale Verfassung der Provinz.41 Die Geschichte der Unierten Kirche der Pfalz im Königreich Bayern zeigt zweierlei. Zum einen, dass sie eine stark zur Welt hin offene Kirche war; vielleicht die politischste, die es im damaligen Deutschland gegeben hat. Zum anderen aber auch, dass es fast die ganze Zeit der wittelsbachischen Herrschaft dauerte, bis in der so problemlos und mit einer solch überwiegenden Mehrheit gebildeten Union die Gräben zwischen rationalistischem Kalvinismus und orthodoxem Luthertum überwunden wurden. Dazu trug auch bei, dass diese Kirche, die als eine Union mit einem solchen vulgärrationalistischen Erbe ein Sonderfall im deutschen Protestantismus gewesen ist, in den bayerischen und deutschen hineinwuchs. An der Spitze des Bildungswesens der Pfalz standen die beiden traditionsreichen Gymnasien in Zweibrücken und Speyer. Eine akademische Ausbildung konnten die Pfälzer daher nur außerhalb, ganz überwiegend im rechtsrheinischen Bayern, erhalten. Trotz des Ausbaus des höheren Schulwesens in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts hat der Anteil der Bevölkerung, der ein Gymnasium oder eine Universität besuchte, nie zwei Prozent erreicht.42 Die Reichsgründung zwang zur Angleichung an das preußische Vorbild. Um den jetzt geforderten neunjährigen Gymnasialkurs zu41 Blessing arbeitet in seinem Beitrag zu diesem Band auch noch den Unterschied zwischen bayerischem und pfälzischem Protestantismus heraus und begründet, warum dieser im rechtsrheinischen Bayern nie Einfluss gewinnen konnte. 42 Möller gibt in ihrem Beitrag zu diesem Band den Anteil der Pfälzer, die 1851/52 Gymnasien und Universitäten besuchten noch mit weniger als 1 % (1871 1,2 %) an.

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stande zu bringen, wurde die bisherige vierjährige Gymnasialausbildung mit den diese vorbereitenden Lateinschulen zusammengelegt und deren Kurse um ein Jahr auf fünf erhöht. Im Fächerkanon wurden alte Sprachen und Literatur zugunsten von Naturwissenschaften, Fremdsprachen und musischen Fächern zurückgedrängt. Im Zeitalter des Nationalismus nahmen aber vor allem deutsche Sprache und Literatur einen beeindruckenden Aufschwung.43 Die Basis des Schulwesens und die Schule für die Masse der Jugend war die Volksschule. Sie hieß seit 1838 „deutsche Schule“ und war als Konfessionsschule organisiert. Wegen der konfessionellen Gemengelage gab es auch eine Anzahl von Gemeinschaftsschulen, von denen die säkularen Pfälzer gerne mehr gehabt hätten. Sie scheiterten dabei meist an ihren katholischen Landsleuten und dem rechtsrheinischen Bayern. Die Juden unterhielten eigene Schulen.44 Denn seit 1802 galt die Schulpflicht, zunächst nur vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr für beide Geschlechter, ganzjährig, außer in der Erntezeit. Die Anstrengungen des Staates, der Kreisregierung und vor allem der Gemeinden, welche die Schulen zu unterhalten und die Lehrer zu besolden hatten, waren anerkennenswert. Bis zum Ende des ersten Drittels des Jahrhunderts war der Analphabetismus, der unter der weiblichen Jugend hoch gewesen war, besiegt. Bis zur Revolution sind 500 Schulhäuser, oft mit Lehrerwohnungen, gebaut worden.45 Sie waren mit den meist ebenfalls in bayerischer Zeit errichteten Rathäusern Schmuckstücke der Dörfer. Unterrichtet wurden die Grundfertigkeiten des Lesens, Schreibens und Rechnens wie Religion. Ein den gesamten Zeitraum umfassendes Kennzeichen des bayerischen Schulwesens, ja selbst der Ausbildung der Volksschullehrer, waren die fast magischen Wirkungen, die dem Religionsunterricht unterstellt wurden. Unabhängig von der Schulform hatte er in der Erziehung der Jugend eine überragende Stellung. Die Religion sollte die sittliche Persönlichkeit formen, zur Ehrfurcht vor Gott und zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit erziehen und die Liebe zu Monarchie und Vaterland verbreiten. Mit der Verlängerung der Schulzeit im letzten Drittel des Jahrhunderts ging eine Erweiterung des Lehrplans um Allgemeinbildung und Naturwissenschaften einher. Die Ausbildung der Lehrer erfolgte in Seminaren, von denen das in Kaiserslautern bis zur Revolution in der Fachwelt besondere Anerkennung genoss, und das in Speyer katholisch ausgerichtet war. Dauer und Voraussetzung der Ausbildung wurden mehrmals verändert. Noch vor der Jahrhundertwende hielten Pädagogik, Psychologie, Allgemeinbildung und Naturwissenschaften Einzug in den Lehrplan.

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Vgl. auch noch Möller in diesem Band. Die Zahlen von 1870/71 für Bayern nach dem Beitrag Möller in diesem Band: 4893 katholische, 1938 evangelische, 124 israelitische und 61 gemischte; von den letzten beiden Gruppen gab es die meisten in der Pfalz. 45 Den Einsatz des Königreichs Bayern für qualitätvolle Schulbauten stellt Möller in diesem Band heraus. 44

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Die Bezahlung der von den Gemeinden angestellten Lehrer entsprach weder ihren beruflichen Anforderungen noch ihrer Ausbildung. Dennoch hatte der Beruf für Söhne von Lehrern, Bauern und Handwerkern eine gewisse Attraktivität, da die Dauer der Ausbildung überschaubar war und im Land absolviert werden konnte. Es war die Mischung von sozialer Lage und intellektueller Regsamkeit, welche die Volksschullehrer in spannungsreichen Zeiten immer wieder politisch aktiv werden ließ. Nicht solchen Aktivitäten, sondern der zunehmenden Wichtigkeit einer breiten Volksbildung in der technisch-industrialisierten Welt, war es wohl zu verdanken, dass noch vor der Jahrhundertwende Bezahlung und soziale Absicherung verbessert wurden. Ein öfters umgebautes und nicht allzu weit verbreitetes mittleres Schulwesen von Latein-, Real- und Mittelschulen wie Progymnasien stellte die Verbindung zwischen den Volksschulen und den Gymnasien her; hier fanden auch Mädchen die Möglichkeit zur Weiterbildung.46 Eine zusätzliche Bereicherung des Bildungswesens waren die Gewerbeschulen. Sie öffneten bisher fernstehenden Schichten den Zugang zu höherer Bildung. Wegen ihrer praktischen Ausrichtung auf eine Tätigkeit in Gewerbe, Handel oder Büro waren sie geschätzt. Die Zentral-Landwirtschafts- und Gewerbeschule in Kaiserslautern, die 1864 in Kreisgewerbeschule umbenannt wurde, hatte einen überregionalen Ruf und Einzugsbereich.47 Ein aufschlussreiches Indiz für die gewachsene gesellschaftliche Bedeutung der Schule und ein anschaulicher Beleg für die Verschiebung der politischen Gewichte ist es, dass die Schulpolitik bis zur Revolution allein in die Zuständigkeit der königlichen Regierung fiel, danach der Landtag aber immer mehr seine gesetzliche Mitwirkung durchsetzte.48 Die Voraussetzungen für die kulturelle Entwicklung der Pfalz waren nicht günstig. Die einst geistigen Mittelpunkte der Kurpfalz lagen nun außerhalb des Landes, Einrichtungen von Orden und Kirchen, Residenzen und Höfe, an die hätte angeknüpft werden können, waren in den Revolutionskriegen untergegangen. So blieben nur einige ältere Bücherbestände und die neu gegründeten Archive des Kreises wie des Bistums, auf denen man aufbauen konnte. Trotz andauernder Intervention von Öffentlichkeit und Landrat, konnte sich München nicht zur Errichtung eines Konservatoriums oder einer wissenschaftlichen Kreisbibliothek entschließen. Die Bibliotheken der Archive und Museen und später die öffentlichen Büchereien waren nur unzureichender Ersatz.49

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Dazu eingehender auch Möller in diesem Band. Ausführlich zum landwirtschaftlichen Bildungswesen der Pfalz vgl. auch noch Beitrag Seidl in diesem Band. 48 Darauf weist Möller in ihrem Beitrag zu diesem Band hin. 49 Vorderstemann weist in seinem Beitrag zu diesem Band darauf hin, dass die Pfalz innerhalb Bayerns, das einen vorbildlichen Bibliotheksverbund besessen habe, vernachlässigt worden sei. Das habe vor allem die geisteswissenschaftliche Forschung behindert. 47

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Dafür konnten sich der Historische Verein und der Plan zum Bau eines Historischen Museums der Pfalz des besonderen Wohlwollens der staatlichen Stellen erfreuen. Hier konvergierten das politische Interesse, die Einheit von Monarch und Volk zu festigen, indem der Landespatriotismus durch die Hinwendung zur Vergangenheit von Heimat und Nation gefördert wurde, mit der Förderung der Wissenschaft und dem Wunsch, die Identität einer traditionslosen Region in der Geschichte zu verankern. So wurde im Historischen Museum, der Burg pfälzischer Identität, eine Kontinuität von den Römern über die wittelsbachische Herrschaft in der Kurpfalz bis zum gegenwärtigen Rheinkreis konstruiert.50 Dass selbst die naturwissenschaftliche Forschung als Hinwendung zur Heimat erfolgen konnte, beweist die Gründung der naturforschenden Gesellschaft „Pollichia“ im Oktober 1840. Sie wollte ausdrücklich Geologie, Tier- und Pflanzenwelt der Pfalz untersuchen und trug deswegen den Namen eines kurpfälzischen Botanikers. Es war dann eher der Zufall, welcher der Pfalz schließlich auch ein Kunstmuseum im Reigen der identitätsstiftenden Einrichtungen bescherte. Nennenswerte private oder öffentliche Initiativen dazu hatte es jedenfalls nicht gegeben. Zur Hebung des Niveaus des Handwerks war an der Kaiserslauterer Gewerbeschule eine Sammlung von vorbildlichem Kunsthandwerk eingerichtet worden. Durch die Schenkung eines Mäzens wurde sie unerwartet um den Grundstock einer Gemäldesammlung erweitert. Wenn in ihr zunächst auch die Maler der Münchner Schule dominierten, so wurde sie später vor allem um pfälzische Maler ergänzt. So beteiligte sich das Kunstmuseum an der Definition von dem, was ein „Pfälzischer Maler“ sei. Bis heute wird der nicht ganz unproblematische Begriff auf alle angewandt, die hier geboren wurden, tätig waren oder die wegen ihres südlichen Charakters und Lichts beliebte Landschaft zum Thema machten. Wie keine andere Kunst hat die Malerei das Selbst- und Fremdbild der Pfalz geprägt. Die Genrebilder des Dorflebens, der Weinlese, des lieblichen Haardtrands und der Burgenlandschaft wurden zu weitverbreiteten Klischees. Das Niveau von dem, was unter „Pfälzer Malerei“ verstanden wurde, war, vor allem im Vergleich mit den anderen hier gepflegten Künsten, hoch. Malerei war auch mit einem unmittelbaren, naiven Verständnis zugänglich, es gab für sie einen regionalen Markt im Bürgertum, die Kunstschulen des weiteren Umfelds und vor allem der Austausch mit der Kunstmetropole München strahlten aus. Dagegen hatte es die Literatur schon deutlich schwerer. Es fehlten höhere Kulturund Bildungseinrichtungen und entsprechend auch ein größeres Publikum für Anspruchsvolles und Modernes. Die Poeten, die damals das literarische Leben des Landes mit ihren schlichten Erzählungen und gereimten Gelegenheitsgedichten in Mundart prägten, sind zu Recht überwiegend vergessen. Bei denen, die in Erinnerung geblieben sind, stellt sich wie bei den Malern das Problem, wie weit sie als „Pfälzer“ 50 Zum Historischen Verein und dessen Bemühungen um die Errichtung eines Museums ausführlicher Vorderstemann in seinem Beitrag zu diesem Band, der vor allem den privaten Einsatz für und in beiden Einrichtungen würdigt.

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gelten können. Exemplarisch ist das Schicksal August Beckers, des wohl bekanntesten unter ihnen. Obwohl er aus der Pfalz stammte und sie öfters in seinen Erzählungen und Romanen thematisierte, war seine Resonanz in der Heimat mäßig. Den Versuch, deren literarischen Betrieb durch die Gründung eines Literatur-Magazins nachhaltig zu beleben, gab er schon im Vorfeld auf. Der Literarische Verein, der ähnliche Bestrebungen verfolgte, führte ein Schattendasein.51 Das lässt sich auch von der pfälzischen Theaterlandschaft sagen. Öffentliche Theater gab es keine; die Kommunen konnten sich höchstens zu gelegentlichen Zuschüssen durchringen. Rühmliche Ausnahme war Kaiserslautern, das am Jahrhundertende ein in den sechziger Jahren von einem privaten Mäzen großzügig gestiftetes und unterhaltenes Theater samt Orchester übernahm. Versuche, die Kosten durch einen Verbund mit den umliegenden Städten zu senken, waren ernüchternd. Zunächst boten die umherziehenden Truppen vor allem leichte Unterhaltung, doch standen im letzten Drittel des Jahrhunderts auch die Klassiker des Repertoiretheaters auf dem Programm und manchmal sogar Zeitgenössisches. Vielleicht doch auch ein Beleg des gestiegenen Bildungsniveaus. Aufbauend auf der bürgerlichen Hausmusik und der Schulmusik wurde ein reges Musikleben in Laienorchestern, Kirchenchören und Männergesangsvereinen gepflegt. Die zentralen Musikfeste des „Rheinbayerischen Musikvereins“ waren jährliche Manifestationen des pfälzischen Musiklebens. Aufführungen des „Pfälzischen Musikvereins“ hoben das Niveau über den Durchschnitt und die Wandermusikanten der West- und Nordpfalz hatten in der Welt erstaunliche Erfolge.52 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die Pfälzer als ein Stamm im Deutschen Reich etabliert, der mit den traditionellen Stämmen vergleichbar war. Das ist erstaunlich, da es das Volk der „Pfälzer“ bis zum Beginn des Jahrhunderts noch gar nicht gegeben hatte und Geografie, Kultur und Tradition eine solche Entwicklung in keinerlei Weise begünstigten. Vorgearbeitet hatten dem Volks- und Landschaftserkundungen, die, ausgehend vom romantischen Konstrukt des Volkes als einer nach Herkunft, Mentalität, Brauchtum und Kultur klar identifizierbaren Einheit, beanspruchten, dieses mit Herz und Verstand zu erforschen. Sie verbanden sich mit der Heimatbewegung, die den Lebensraum dieses Volkes als ein bewahrenswertes Gut proklamierte. Es galt, sowohl dessen Natur kennen zu lernen wie zu schützen als auch ihn als authentisches Gegengewicht gegen die Verwerfungen der Moderne zu begreifen. Das darüber hinaus Überraschende an der Herausbildung und Festigung der Pfälzer Identität war, dass sie die gleichzeitig immer enger werdende Einbindung in das bayerische Königreich mehr förderte als gefährdete. Die Pfälzer hatten so einen weiten Weg zurückgelegt von der auf den französischen Institutionen 51 Auch Vorderstemann vertritt in seinem Beitrag die These, dass die Pfalz in der Epoche des wittelsbachischen Königreichs keine Schriftsteller von Rang hervorgebracht habe. Er lässt aber das Verdikt August Beckers gelten, dass „ich der einzige Pfälzer bin, der sich in Deutschland literarischen Ruhm errungen“. 52 Vgl. zu Musik und Theater auch noch den Beitrag Vorderstemanns in diesem Band.

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beruhenden politisch-gesellschaftlichen Sonderkultur als Identitätsmerkmal hin zu einem volkskundlichen und kulturgeschichtlichen Verständnis von sich selbst.53 Bis zur Prinzregentenzeit hatten sich Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft der Pfalz nicht zuletzt auch durch deren Eingliederung in Bayern und das Reich so gut entwickelt, dass auf ihrer Grundlage ein erster Massenwohlstand gedieh. Zusammen mit dem geistig-kulturellen Austausch wie der Integration von Politik und Verwaltung schuf dies eine Atmosphäre, in der die Zugehörigkeit zum Königreich Bayern inzwischen als eine Selbstverständlichkeit angesehen wurde.54 Und doch bahnte sich gerade in dieser Epoche der Anfang vom Ende an. Dafür lagen die Ursachen weder in Bayern noch der Pfalz. Vielmehr war es der durch die europäische Mächterivalität im Zeitalter des Imperialismus ausgelöste Weltkrieg, der die Entwicklung dahin in Gang setzte. Während dieses Krieges hatte die Pfalz als Standort der Rüstungsindustrie, als Aufmarsch- und Rückzugsgebiet der Westfront mehr zu schultern als andere Teile des Königreiches. Das pfälzisch-bayerische Verhältnis belastete das nicht. Daher war die Pfalz auch in keiner Weise am Sturz der Monarchie beteiligt, der das Ende des Königreichs der Wittelsbacher bedeutete. Wenn hier nun dennoch über das Verhältnis zu Bayern nachgedacht wurde, dann mit Blick auf die bevorstehende französische Besatzung. Jetzt schloss sich der Kreis. Nach über einem Jahrhundert kamen die Franzosen zurück. Diesmal nicht als die Boten einer neuen Welt, sondern als chauvinistische Nation eines von Deutschen verwüsteten Landes in einem bestialischen Krieg. Was das bedeuten würde und wie es mit dem geschlagenen Vaterland weitergehen würde, das war mehr als ungewiss. Die Zukunft der Pfalz war nach dem Ende der Monarchie der Wittelsbacher so trübe, wie sie in den über 100 Jahren zuvor niemals gewesen war. Das mittlere Maß, im guten wie im weniger guten Sinne, ist die Elle, mit der die Geschichte der Pfalz in ihrer wittelsbachischen Epoche überwiegend zu vermessen ist – trotz der Eruptionen des Hambacher Festes und des Aufstands. Eine solche Richtschnur erscheint angemessen für eine Region, deren auffallendstes Kennzeichen die Vielfalt ohne Dominanz auf engem Raum ist. Das gilt von den geologischen und natürlichen Formationen der Landschaft, den Strukturen von Landwirtschaft, Gewerbe wie Industrie, einem dezentralisierten Verkehrswesen in einem Siedlungsraum ohne Metropole bis hin zur Vielgestaltigkeit der Kultur wie des Bildungswesens und der geistig religiösen Pluralität. Die Geschichte der Pfalz im Königreich Bayern ist in zweierlei Hinsicht exemplarisch, also über den konkreten Fall hinausweisend. Zum einen ist sie ein Beispiel dafür, wie eine willkürlich, noch nach den Grundsätzen der Großmachtpolitik des 18. Jahrhunderts zusammengewürfelte Region zu einer politischen und kulturellen Einheit zusammenwächst. Zum anderen ist sie ein historisches Beispiel für die Zu53 Dazu auch noch den Beitrag von Kreutz in diesem Band; zu den volkskundlichen Bestrebungen auch Vorderstemann. 54 Vgl. auch noch den Beitrag von Kreutz in diesem Band.

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sammenführung von sehr unterschiedlichen politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Systemen. Insofern ist die Entwicklung mit der Schaffung der deutschen Einheit nach dem Untergang der DDR vergleichbar. Während aber ab 1989 der kleinere Teil sich dem größeren außerordentlich rasch anpasste oder angepasst wurde, weil dieser sich mit dem Gang der Geschichte in Einklang wusste, verhielt es sich mit Bayern und der Pfalz in dieser Hinsicht anders. Nach 1816 hatten die Bewohner des kleineren Teils diese geschichtsphilosophische Überzeugung. Bayern passte sich nun nicht der Pfalz an, doch war sie Vorbild. Man übernahm manches, hat aber nicht Weniges im Geiste des Modells geschaffen, das dann für beide Teile verpflichtend wurde. Im 19. Jahrhundert gab es also mehr Angleichung durch Interdependenz als durch Übernahme. Ein Prozess, der beschleunigt wurde, indem „Haupt- und Nebenstaat“ Teile eines umfassenderen Gebildes, des Deutschen Reiches, wurden. Von diesem wurden sie nun so geformt wie das wiedervereinigte Deutschland von den Anordnungen und Tendenzen, die von den europäischen Einrichtungen ausgehen. Den Pfälzern hätte in historischer Perspektive betrachtet, nichts Besseres passieren können als die Angliederung an Bayern – doch hat es fast zwei Generationen gedauert, bis sie es gemerkt haben. Denn was für Alternativen hat es denn gegeben? Bei Frankreich wollte man nicht bleiben und diese Option stand nach 1815 nie ernsthaft zur Debatte. Um allein zu überleben, dafür war die Pfalz zu schwach. Ein Anschluss an das Großherzogtum Baden hätte nie die Möglichkeiten geboten, wie der an das mächtigere Königreich Bayern. Eine Vereinigung mit dem benachbarten Preußen hätte vielleicht manche zusätzliche Perspektive eröffnet, doch gewiss auch die entscheidenden verschüttet. Denn die moderne Justiz-, Wirtschafts- und Sozialverfassung wäre, wenn überhaupt, sicherlich nicht in dem Umfang erhalten geblieben, wie bei den in dieser Hinsicht sich erstaunlich verständnisvoll zeigenden Bayern. Zu einem Vorreiter der demokratischen Entwicklung in Deutschland wäre die Pfalz dann nie geworden. Dazu trug auch noch die für das 19. Jahrhundert liberale politische Verfassung des Königreichs Bayern mit ihren beachtlichen Möglichkeiten der Mitgestaltung durch das Volk bei. Dem hatte Preußen nichts Vergleichbares an die Seite zu stellen.

Die pfälzische Sonderkultur in der politischen Entwicklung Bayerns bis zur Revolution von 1848/49 Von Hans Fenske, Freiburg / Speyer Bis zum späten 18. Jahrhundert war die heutige Pfalz ein bunter Länderkomplex. Über rund ein Viertel der Region gebot der Kurfürst von der Pfalz, über etwa ein Fünftel der Herzog von Pfalz-Zweibrücken. Daneben hatten vierzig andere Herren hier Besitz. Zudem gab es die Reichsstadt Speyer. In etlichen Territorien waren schwere Mißstände zu beklagen, andernorts bemühten sich die Landesherren im Geist des aufgeklärten Absolutismus um eine Verbesserung der Verhältnisse, so auch in der Kurpfalz. Die Revolution im benachbarten Frankreich 1789 wurde hierzulande wie in ganz Deutschland mit Aufmerksamkeit und vielfach auch mit Sympathie betrachtet, zu Unruhen kam es nur in sehr geringem Umfang. Am 20. April 1792 erklärte der französische König dem designierten Kaiser Franz II. auf Verlangen der Nationalversammlung den Krieg. In deren Beschluß hieß es, die französische Nation ergreife die Waffen nur zur Verteidigung ihrer Freiheit und Unabhängigkeit und wolle keine Eroberungen machen. Die Franzosen würden nichts unversucht lassen, die Geißel des Krieges zu lindern. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Vom September 1792 bis zum Oktober 1796 war die Pfalz mehrfach Kriegsschauplatz, die Kämpfe waren sehr heftig, und die Franzosen bedienten sich mit großer Rücksichtslosigkeit der Ressourcen des Landes. Das führte naturgemäß zu einer feindseligen Stimmung der Bevölkerung. Nach dem Ende dieser Kämpfe blieb die Pfalz französisch besetzt, der Krieg ging auf anderen Schauplätzen weiter. Bald wurde sie faktisch in die französische Republik eingegliedert. Das entscheidende Datum dafür war der 31. Januar 1798, als das von Frankreich besetzte linksrheinische Deutschland in vier Departements eingeteilt und die Verwaltung nach französischem Muster organisiert wurde. Die spätere Pfalz kam dabei zu rund drei Vierteln zum Departement Donnersberg mit der Zentrale in Mainz. Eine Proklamation rief der Bevölkerung am 23. Februar zu, sie sei „auf immer mit der großen Nation“ vereinigt, die Bürger seien jetzt Franken, nicht mehr Pfälzer oder Mainzer, und auf immer vom Joche ihrer tausenderlei Tyrannei befreit. Die Zehnten, Fronden und andere Lasten seien gänzlich abgeschafft.1 Im März wurde das Eigentum der vormaligen Herrschaften und der geistliche Besitz konfisziert und zum Nationaleigentum erklärt. Gewiß wurde die Aufhebung des Feudalismus weithin begrüßt, aber die Ansicht geht doch in die Irre, der Übergang nach Frank1

Abgedruckt bei Schneider, S. 203 – 207, Zitat S. 203 f.

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reich, der 1801 auch völkerrechtlich vollzogen wurde, sei in der Bevölkerung durchaus populär gewesen. In die in diesen Wochen aufgelegten Listen für eine Reunionsadresse trug sich nur jeder vierte Stimmberechtigte ein. Die Stimmung gegenüber Frankreich, wo sich Napoleon am 9. November 1799 durch einen Staatsstreich zum Machthaber und viereinhalb Jahre später zum Kaiser machte, war keineswegs günstig. Dafür gibt es viele Zeugnisse aufmerksamer Beobachter. Friedrich Joseph Emerich, in Wetzlar geboren, trat 1796 als Freiwilliger in die französische Armee ein, wechselte aber bald in die Verwaltung in Mainz. Ab 1798 war er publizistisch tätig. Er brachte die Stimmung 1801 in den einen Satz: „Das cisrhenanische Volk ist höchst unzufrieden und wünscht von Herzen, daß man es Germanien wiedergebe.“2 Das bestätigte im selben Jahr der junge Freiburger Professor Carl von Rotteck bei einer Reise in die Pfalz. Er sah in großen Teilen der Bevölkerung Mißmut über die Vereinigung mit Frankreich. „Die Einwohner hoffen und wünschen die Rückkehr ihrer alten Herren und Verfassung“, schrieb er in sein Tagebuch.3 Gründe für die Unzufriedenheit waren die gegenüber früher spürbar erhöhten finanziellen Lasten und deren ungleiche Verteilung, die Strenge bei der Abgabeneintreibung, der Verfall der Preise für landwirtschaftliche Produkte und der Rückgang des Handels durch die Zollgrenze am Rhein, die Verschlechterung des Schulwesens, das Verbot religiöser Zeremonien außerhalb des Gottesdienstes, die Verarmung der Geistlichkeit, die Verdrängung der deutschen Sprache aus Verwaltung und Justiz, der straffe administrative Zentralismus, die Besetzung aller wichtigen Stellen mit Franzosen, die weitverbreitete Korruption und der starke Bedarf der Armee nach Mannschaftsersatz. Da zur Behebung der Mißstände wenig geschah, wandelte sich die Stimmung nicht. Auch die gründliche Modernisierung der Rechtsverhältnisse bewirkte keine Meinungsänderung. Zu nennen ist vor allem der Code Civil vom März 1804, der auf dem Grundsatz der Gleichheit aller vor dem Gesetz und der Freiheit des Individuums und des Eigentums beruhte und damit das einer wirtschaftsliberalen Eigentümergesellschaft angemessene Gesetzbuch war. Es folgten die Zivilprizeßordnung von 1806, das Handelsgesetzbuch von 1807 und die Strafprozeßordnung von 1808, die Schwurgerichte und die öffentliche und mündliche Verhandlung in den Verfahren brachte, sowie 1810 das Strafgesetzbuch. Das alles waren wichtige Schritte in Richtung einer liberalen Gesellschaftsordnung. Politische Mitwirkungsmöglichkeiten hatte die Bevölkerung indessen nur in einem ganz geringen Ausmaß. Schon die Verfassung von 1799 hatte Napoleon fast diktatorische Vollmachten gegeben. Die weitere Entwicklung bis zu Verfassung des Kaiserreichs von 1804 machte Frankreich „zu einem diktatorischen Militärregime…, das in der Praxis absoluter war als je das monarchische Regime“ der früheren Zeiten.4 Das verfassungsmäßig gegebene allgemeine Wahlrecht war ein bloßes Nominationsrecht, die Legislative nur mehr ein Phantom, ebenso die lokale 2

Emerich, S. 159. Rotteck, S. 72 f. 4 Hartmann, S. 73. 3

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Selbstverwaltung. Die Generalräte der Departements waren faktisch nur Hilfsorgane des Fiskus. So war das Interesse der aus einer Vorschlagsliste berufenen Deputierten an der Arbeit dieser Gremien recht gering. Die Rückeroberung des von Frankreich annektierten linksrheinischen Deutschland durch die Truppen der gegen Napoleon stehenden Verbündeten im Januar 1814 löste überall Freude aus. Sehr lebhaft äußerte sie sich auch nach der Einnahme von Paris Ende März und dem damit besiegelten Kriegsende. Philipp Casimir Heintz, Pfarrer in Zweibrücken, notierte, daß es auf die Nachricht vom Fall der französischen Hauptstadt hin „ein allgemeines Hurrageschrei“ gegeben habe und dabei auch „Vivat Germania“ zu hören gewesen sei. „Ein neues Leben, eine Aussicht auf bessere Zukunft nach so zahllosen Leiden und Trübsalen erfreute ein jedes Herz.“5 Die linksrheinische Bevölkerung kehrte gern nach Deutschland zurück, „mit Jubelklang und Wonne, mit bewegtem Gemüte“, wie der Schriftsteller Philipp August Pauli 1817 festhielt.6 Das zeigten die Feiern im Oktober 1814 zum Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig ein Jahr zuvor eindringlich. Nicht wenige Bewohner des linksrheinischen Deutschland hätten es begrüßt, wenn die territoriale Einheit dieses großen Raumes erhalten geblieben wäre, aber derartige Wünsche erfüllten sich nicht. Im Juni 1814 erhielt Preußen die Gebiete nördlich der Mosel zur Verwaltung übertragen. Daraus wurde 1815 ein dauernder Besitz, wobei dies große Territorium kräftig nach Süden erweitert wurde. Die südlichen Rheinlande verwalteten Österreich und Bayern zunächst gemeinsam. Bis zur endgültigen Entscheidung über die künftige Stellung dieser Region dauerte es fast zwei Jahre. Sowohl in Wien wie in München wollten die maßgeblichen Persönlichkeiten eine territoriale Abrundung im unmittelbaren Anschluß an das Staatsgebiet, keine abseits gelegene Außenbesitzung, zumal nicht am Rhein, wo mit steter Gefährdung durch Frankreich zu rechnen war. Es bedurfte zuletzt starken österreichischen Drucks, bis Bayern sich entschloß, den ihm zugedachten Teil des südlichen Rheinlandes zu übernehmen. Erst im Münchener Vertrag vom 14. April 1816 fand es sich dazu bereit. Am 1. Mai ergriff der Hofkommissar Franz Xaver von Zwackh namens des Königs Maximilian I. Joseph förmlich Besitz von dieser rund 5 900 km2 umfassenden Region mit 430 000 zu 55 % evangelischen Einwohnern. Die Neuerwerbung hieß zunächst amtlich ,Das königlich-bayerische Gebiet auf dem linken Rheinufer‘, ab Februar 1817 Rheinkreis und seit dem 1. Januar 1838 Pfalz. Die Einwohner des Kreises waren mit dem Übergang an Bayern in der großen Mehrheit zufrieden. Schnell bürgerte sich die Selbstbezeichnung als Rheinbayern ein. Sie fanden also zu einer gemeinsamen Identität. Nach der Namensänderung des Kreises 1838 nannten sie sich Pfälzer. Zwackh kannte die Verhältnisse des Rheinlandes aus seiner beruflichen Tätigkeit sehr gut. Seit Juni 1814 war er Präsident der Gemeinschaftlichen ÖsterreichBayerischen Landesadministrationskommission mit dem Sitz zunächst in Kreuz5 6

Zit. bei Bonkhoff, S. 21 f. Pauli, S. 134.

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nach, dann in Worms. Dem von den Franzosen eingeführten Rechts- und Verwaltungssystem stand er mit viel Sympathie gegenüber und setzte sich in München für dessen Erhaltung ein. Auch Minister Montgelas sah die Verhältnisse des Rheinlandes als so wesentlich verschieden von denen der übrigen Monarchie an, daß es „mit derselben… nicht zu einem Ganzen verschmolzen werden“ könnte.7 So wurde Zwackh ermächtigt, gleich nach der Inbesitznahme zu erklären, die Sorge sei unbegründet, daß der Kirche der Zehnten, dem Adel die Feudalrechte zurückgegeben würden. Die Gesetze in Religions- und Kirchensachen blieben in Geltung, die Verwaltung werde in der bisherigen Form fortgesetzt. Auch hieß es, der König wolle das Eigentum an den rechtlich erworbenen Gütern schützen – das bezog sich auf die Ankäufe aus den Nationalgütern. Die entsprechende Erklärung gab Zwackh am 1. Mai offiziell ab. Eine königliche Entschließung vom 16. Juni sagte: „Wir wollen an der bisherigen Verfassung, den Einrichtungen und den Gesetzen dieser Provinz durchaus keine Abänderung verfügen. Auch wollen Wir die Verwaltung der überrheinischen Lande nach den dortigen Normen fortbestehen lassen.“8 Damit war dem Rheinkreis eine Sonderstellung verbürgt. sie kam auch darin zum Ausdruck, daß die gesamte pfälzische Verwaltung zunächst dem bayerischen Außenministerium unterstellt wurde. Von dieser Regelung blieb nur das Justizwesen ausgenommen. Der Rheinkreis war mithin, wie Heiner Haan treffend gesagt hat, ein Nebenstaat. Das hier geltende Recht war moderner als das im rechtsrheinischen Bayern gültige. Die eben genannten Zusagen entsprachen ganz den Wünschen der Bevölkerung. Eine von 50 Notabeln aus der Stadt und dem Kanton Speyer für die Verbündeten Regierungen erarbeitete Denkschrift hatte bald nach der Befreiung von den Franzosen die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß die heiligsten Grundsätze des gesellschaftlichen Vertrags, die der bisherigen Verfassung des Landes zugrunde gelegen hätten, auch künftig die Verhältnisse bestimmen würden: Nationalrepräsentation, gleiches Recht für alle, gleiches Maß der Besteuerung, Gewissens- und Pressefreiheit, Unabhängigkeit der richterlichen Gewalt, öffentliches Verfahren im Zivil- und Strafprozeß, Geschworenengerichte, persönliche Sicherheit. Die Petenten werden sich bewußt gewesen sein, daß sie nicht nur Tatsachen beschrieben. Die Hinweise auf die Staatsverfassung hatten mit der Wirklichkeit angesichts der napoleonischen Autokratie nichts zu tun, die Meinungs- und Pressefreiheit war nicht gewährleistet, und auch die persönliche Sicherheit war nicht unantastbar. So enthielt die Eingabe auch eine Wunschliste aus liberalem Geist. Nüchterner äußerte sich ein anonymer Autor 1817 in der Zeitschrift für Bayern und die angrenzenden Länder, als er sagte, „das freie Eigentum, die unbestrittene Gleichheit vor dem Gesetz, die Achtung des Bürgers in seinen Rechten, vor allem aber die öffentliche Rechtspflege“ seien es, um die das Denken der Rheinbayern bei der Rückkehr nach

7 8

Montgelas, S. 22. Haan, Hauptstaat – Nebenstaat, S. 245.

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Deutschland kreiste.9 Der Verfasser dieses Textes war vielleicht Andreas Georg Friedrich Rebmann, der 1796 aus demokratischer Überzeugung nach Frankreich gegangen war, in der Justiz Karriere gemacht hatte und nun Präsident des Appellationsgerichts in Zweibrücken war. In der Abhandlung zitierte er auch eine Redewendung, die damals in der Pfalz zu hören war: „Das Land möchte wohl französisch sein, wenn es nur ohne Franzosen so sein könnte.“10 Das französische Recht, für dessen Erhalt sich die Wortführer der Bevölkerung einsetzten, wurde bald unter der Bezeichnung ,Rheinische Institutionen‘ zusammengefasst. Eine neuerliche Garantie der Verhältnisse im Rheinkreis erging nach dem Erlaß der bayerischen Verfassung vom 26. Mai 1818. Mitte Juni wurde eine königliche Entschließung verkündet, derzufolge die Verfassung im Rheinkreis nur mit Modifikationen angewandt werden sollte. Im Oktober wurde nach Beratungen mit dem Generalkommissar in Speyer dekretiert, daß die Verfassung im Rheinkreis nur unter Berücksichtigung der 1816 gegebenen Garantien gelte. Die von Zwackh vorgeschlagene Organisation der Kreisverwaltung wurde durch königliche Verordnung im August 1816 genehmigt. Danach hatte die Kreisregierung alle den Bezirk als Ganzes betreffenden Entscheidungen entweder selbständig oder im Einvernehmen mit dem jeweiligen Fachministerium zu treffen, aber auch die Wünsche und Vorstellungen des Landes in München geltend zu machen. Durch die Verordnung über die Kreise vom Februar 1817 wurde diese Struktur auf ganz Bayern übertragen. Der in französischer Zeit bestehende Departementsrat wurde im September1816 als Landrat erneuert. Er leistete in der Folgezeit eine sehr konstruktive Arbeit, insbesondere mit der Übermittlung pfälzischer Wünsche nach München. Bei seiner Sitzung im Jahre 1817 forderte er eine gesamtstaatliche Verfassung und benannte in diesem Zusammenhang auch eine Reihe zu garantierender Grundrechte. Die Personalpolitik war sehr umsichtig. Die Angehörigen des öffentlichen Dienstes waren größtenteils schon in französischer Zeit im Amt gewesen, und diejenigen, die aus dem rechtsrheinischen Bayern hinzukamen, waren reformorientiert. Als Generalkommissar Zwackh im März 1817 verabschiedet wurde, folgte ihm mit Joseph von Stichaner ein Mann an der Spitze der Kreisregierung, der nicht nur ganz im Geiste Zwackhs tätig war, sondern ihn an Liberalismus noch übertraf. Er wirkte bis 1832 in Speyer. In der Rückschau bescheinigte der Speyerer Verleger Georg Friedrich Kolb, ein Mann der bürgerlichen Linken, Stichaner 1849, er habe eine ungemein verständige Tätigkeit entfaltet. Das Regierungskollegium zur Zeit Stichaners nannte er das „wohl … tüchtigste, selbständigste und freisinnigste, welches je in einem bayerischen Kreis zu finden war.“11 Die Art und Weise, in der der Rheinkreis in das Königreich Bayern eingegliedert wurde, fand in der Bevölkerung freudige Anerkennung. Im Februar 1818 schrieb die von Kreisschulrat Butenschoen, einem vormaligen Jakobiner, in liberalem Geist 9

Züge zu einer Cultur- und Sittenschilderung, S. 35. Ebd., S. 36. 11 Kolb, S. 41 f. 10

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redigierte Neue Speyerer Zeitung, die Jakob Christian Kolb, dem Vater Georg Friedrichs, gehörte, die Regierung des Rheinkreises handle mit hoher Achtung vor der Volksmeinung und den bestehenden Rechtsverhältnissen. Repräsentanten der Einwohnerschaft würden mit ihrem Rat gehört, und es würden vielfältige Verbesserungen vorgenommen. Nach dem Erlaß der Verfassung druckte das Blatt sie vollständig ab und beurteilte sie sehr günstig. Damit sei den Forderungen der Zeit weise und kräftig Rechnung getragen, in ganz Bayern könne es nur eine Stimme geben, die der Freude und Dankbarkeit. Das Dekret über die Anwendung der Verfassung nannte die NSZ eine magna charta, eine Rechtebill, mir der „das Land gegen verderbliche Reaktionen, gegen Umtriebe der Ultra und gegen Versuche … zu Rückschritten“ gesichert werde.12 Daß Bayern unter Kurfürst Maximilian IV. Joseph, der am 1. Januar 1806 als Maximilian I. Joseph den Königstitel annahm, und seinem Minister Maximilian Graf von Montgelas auf klaren Reformkurs gebracht wurde, sei nur kurz erwähnt. Die staatlichen Strukturen wurden durch die Einführung des Berufsbeamtentums, die Neuordnung des Geschäftsgangs, der Rechtspflege und der Kommunalverwaltung sowie des Bildungswesens verbessert; 1802 wurde die allgemeine Schulpflicht eingeführt. Die Bauernbefreiung wurde in Angriff genommen, die Stellung der Kirchen nach staatskirchlichen Prinzipien geordnet. 1808 erhielt Bayern eine Verfassung, in der die Rechte und die Pflichten des Staates und der Bürger klar bestimmt wurden. Zusammen mit den sie begleitenden Organischen Edikten war das der Höhepunkt des Modernisierungsprozesses. Ausgesprochen wurde die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, die Abschaffung der Adelsprivilegien, der gleiche Zugang zu allen öffentlichen Ämtern bei Vorliegen der entsprechenden Qualifikation, die Pressefreiheit, die Unabhängigkeit der Justiz, und es wurde die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Diese Verheißungen mußten allerdings legislativ umgesetzt werden, und das geschah zu einem beträchtlichen Teil nicht. Die nach dem Vorbild der französischen Departementsräte vorgesehenen Kreisversammlungen, aus denen eine Nationalrepräsentation hervorgehen sollte, blieben auf dem Papier. Auf Vorschlag von Montgelas berief der König im September 1814 eine Kommission zur Revision der Verfassung von 1808. Deren Beratungen kamen allerdings wegen erheblicher Meinungsverschiedenheiten nicht voran. Der Sturz von Montgelas im Februar 1817 änderte an der Stagnation in der Verfassungsfrage nichts. Im Februar 1818 ordnete der König die Wiederaufnahme der Beratung an, denn es war nicht auszuschließen, daß der Bundestag den Artikel 13 der Bundesakte, demzufolge alle deutschen Staaten eine landständische Verfassung haben sollten, sehr eng auslegen würde. Auch sollte das Finanzwesen auf eine solide Basis gestellt werden. Das war dringend erforderlich. Die finanzielle Lage des Königreichs war infolge der Belastungen durch die lange Kriegszeit desolat. Innerhalb ganz kurzer Zeit stellte eine Ministerialkommission unter maßgeblicher Beteiligung des Generaldirektors im Innenministerium Georg Friedrich von 12

Neue Speyrer Zeitung, Nr. 143, 28. 11. 1818.

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Zentner die Verfassung fertig. Der Vorspruch enthielt wichtige Zusagen des Monarchen: Gewissensfreiheit, saubere Scheidung und Schutz dessen, was des Staates und der Kirche ist, Meinungsfreiheit, aber mit gesetzlichen Beschränkungen gegen den Mißbrauch, gleiche Zulassung der Einwohner zu öffentlichen Ämtern, gleiche Berufung zur Pflicht und Ehre der Waffen, Gleichheit vor dem Gesetz, Unparteilichkeit und Unaufhaltsamkeit der Rechtspflege, angemessene Heranziehung zu den Staatslasten, geordneter Staatshaushalt, Absicherung der Kredite, Wiederherstellung der Selbstverwaltung, eine Repräsentation, hervorgegangen aus allen Klassen der Staatsbürger, Schutz der Verfassung gegen willkürlichen Wandel ohne das Fortschreiten zum Besseren zu behindern. Diese Verheißungen mußten zum guten Teil noch gesetzlich geregelt werden. Die Ständeversammlung bestand aus der Kammer der Reichsräte, die ihr Mandat von Geburt, kraft Amtes oder durch königliche Berufung hatten, und aus der Kammer der Abgeordneten. Hier stand je ein Viertel der Sitze den adligen Grundbesitzern mit grundherrlicher Gerichtsbarkeit und den Geistlichen der katholischen und protestantischen Konfession zu, ein Viertel den Vertretern der Städte und Märkte, die Hälfte den übrigen Landeigentümern. Gewählt wurde indirekt, das passive Wahlrecht war an einen sehr hohen Zensus gebunden. Die Kammern hatten das Recht, um ein Gesetz zu bitten, konnten dieses Recht aber nur gemeinsam ausüben. Die Gesetzesinitiative besaßen sie nicht. Ohne ihre Zustimmung konnte nach Titel VII § 2 kein allgemeines neues Gesetz, das die Freiheit der Person oder das Eigentum der Bürger betraf, erlassen, authentisch erläutert oder aufgehoben werden. Für Steuern, Abgaben und Kredite war die Zustimmung der Stände erforderlich. Die Haushaltsperiode betrug sechs Jahre, alle drei Jahre mußte ein Landtag stattfinden. Die Zusammensetzung der Kammer der Reichsräte, die Gleichberechtigung der beiden Häuser, die Überrepräsentation von Adel und Geistlichkeit und das fehlende Recht der Gesetzesinitiative waren gute Garantien für einen eher konservativen Kurs im konstitutionellen Bayern. In der Ständeversammlung war der Rheinkreis unterrepräsentiert. Bei der Berufung der Reichsräte hielt sich sowohl Maximilian I. Joseph wie Ludwig I. gegenüber der Pfalz sehr zurück. So saß jeweils nur ein Pfälzer in dieser Kammer. In der Kammer der Abgeordneten war die Pfalz dadurch benachteiligt, daß es hier adlige Grundbesitzer mit Gerichtsbarkeit nicht gab. Aber auch beim Berechnungsverfahren für die auf die einzelnen Klassen entfallenden Sitze wurde der Kreis nicht ganz angemessen berücksichtigt. Die im linksrheinischen Bayern gewählten Abgeordneten standen – mit Ausnahme der Geistlichen – fast alle politisch links. Sie traten entschieden für die Interessen des Rheinkreises ein und warben für die rheinischen Institutionen, die sie gern in der gesamten Monarchie verwirklicht gesehen hätten. Ihr Verhalten sorgte gelegentlich für Verärgerung auch bei politisch ähnlich orientierten rechtsrheinischen Abgeordneten. Deren Zahl war indessen gering. Daß fortschrittliches Denken im Rheinkreis stärker vertreten war als im übrigen Bayern, läßt sich mit den Jahren der Zugehörigkeit zu Frankreich nur zum Teil erklären. Die rheinischen Institutionen spielten gewiß eine Rolle, und von der frühen liberalen Phase der Französischen Revolution bis 1792 gingen Impulse auch auf

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Deutschland und besonders auf seinen Westen aus. Es ist aber festzuhalten, daß liberales Gedankengut schon vor 1789 in Deutschland eine beachtliche Resonanz hatte, in evangelischen Regionen mehr als in katholischen. Das blieb auch in der Folge so. Die Verschiedenheit der Konfessionsverhältnisse im Rheinkreis und in großen Teilen des rechtsrheinischen Bayern hatte sicher Bedeutung dafür, daß die politische Stimmungslage hier wie dort nicht übereinstimmte. Im Rheinkreis dürfte die konfessionelle Gemengelage mit den daraus sich zuweilen ergebenden Reibungen für eine größere Distanz zu kirchlichen Autoritäten geführt und damit die Aufgeschlossenheit für fortschrittliches Denken gefördert haben. Es ist noch ein weiterer Faktor in Erwägung zu ziehen. Das französische Vorgehen links des Rheins seit 1792 war weithin als empörend empfunden worden und die napoleonische Herrschaft mit Recht als Autokratie. Das könnte der Bereitschaft zum Widerspruch gegen staatliche Autorität Nahrung gegeben haben. Ein Autor, der vorsichtshalber anonym publizierte, wohl der Historiker Johann Gottlob Schulz, beobachtete bei einer längeren Reise ins linksrheinische Deutschland in den Jahren 1803 und 1804 bei der dortigen Bevölkerung eine Beeinträchtigung des Rechtsbewußtseins. Sie betrachte die Franzosen immer noch als Usurpatoren, „daher verachtet der große Haufe die Gesetze, die man ihm nach seiner Meinung widerrechtlicher Weise aufgedrungen“ habe.13 Daß das rechtsrheinische Bayern vornehmlich konservative Abgeordnete stellte, machte es König Ludwig I., der seinem Vater im Oktober 1825 auf dem Thron gefolgt war, unmöglich, sein gemeinsam mit Innenminister Graf Armansperg erarbeitetes Modernisierungsprogramm durchzuführen. Er wollte eine Neuordnung der Rechtspflege, die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens, die Trennung von Justiz und Verwaltung, die Einführung des Landrates in allen Kreisen und die Ablösung der Grundlasten. In keiner der beiden Kammern fand sein Gesetzgebungspaket in der Session 1827/28 eine Mehrheit, nur das Landratsgesetz ging durch. Bereits im ersten Landtag 1819 zeigte sich, daß die rechtsrheinischen Abgeordneten kaum geneigt waren, auf Wünsche aus dem Rheinkreis einzugehen. Streitpunkte waren die Höhe der Abgaben und die Frage der Schuldentilgung. Die Vertreter der Pfalz empfanden mit guten Gründen ihren Kreis als über Gebühr belastet. Sie wünschten Hilfe bei der Entlastung der hochverschuldeten Kommunen und verwiesen darauf, daß diese Schulden kriegsbedingt seien, der Sache nach also eine Staatsschuld. Des weiteren klagten sie darüber, daß vieles aus der Kreiskasse bezahlt werden mußte, was im übrigen Bayern zu Lasten der Staatskasse ging. Ein stetes Ärgernis war auch die Zollpolitik. Der Rheinkreis war nicht von einer Mautlinie umgeben. Einfuhren kamen also abgabenfrei ins Land. Das wirkte sich in manchen Branchen entwicklungshemmend aus. Andererseits wurden Waren aus dem Rheinkreis bei der Einfuhr in andere deutsche Staaten und selbst ins rechtsrheinische Bayern mit Zöllen belegt. Eine Besserung wurde in langen Jahren nicht 13

Briefe eines Reisenden an den Ufern des Rheins, S. 243.

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erreicht, die Ziehung einer Mautlinie 1829 brachte sogar eine Verschlechterung. Erst mit Bildung des Deutschen Zollvereins am 1. Januar 1834 entfiel das Problem. Ärgerlich war auch die rigorose Forstpolitik, die zu Holzmangel und durch die Einschränkung der landwirtschaftlichen Nebennutzungen der Wälder zur Verknappung von Futter- und Düngemitteln führte. Im Juli 1830 kam es in Frankreich zu einer neuen Revolution, eine kurze heftige Bewegung, durch die Louis Philippe aus dem Hause Orléans an die Staatsspitze kam. Das Geschehen wurde in Deutschland einerseits mit Sorge wegen eines neuen Krieges betrachtet, andererseits mit Sympathie, weil man jetzt eine Liberalisierung Frankreichs erwartete. Die fortschrittlich Denkenden wurden selbstbewußter und brachten das offen zum Ausdruck. Die anfängliche liberale Haltung Ludwigs I. bekam dadurch aber einen Dämpfer. Er hielt es nun für falsch, daß er zu Anfang seiner Regierungszeit die Zensur gelockert hatte, und korrigierte das Anfang 1831, mußte diese Entscheidung aber Mitte des Jahres revidieren. Im März 1831 wurde der Landtag eröffnet, die Kammer der Abgeordneten hatte eine knappe oppositionelle Mehrheit, und sie wäre größer gewesen, wenn nicht fünf Gewählten durch Urlaubsverweigerung die Teilnahme an den Sitzungen unmöglich gemacht worden wäre, ein Schritt, der in fortschrittlichen Kreisen für starke Verärgerung sorgte. Der geringe legislative Ertrag der im Dezember geschlossenen Sitzungsperiode steigerte den Mißmut. Im Rheinkreis bewirkte zudem die Auseinandersetzung um die publizistische Tätigkeit Philipp Jakob Siebenpfeiffers und Johann Georg August Wirths ein Anwachsen der Unzufriedenheit mit München. Stichaner bat angesichts der sich stark verschlechternden Stimmung um seine Versetzung ins rechtsrheinische Bayern und bekam das bewilligt. Da öffentlich nicht bekannt wurde, daß er selbst die Ablösung beantragt hatte, sah man seinen Weggang als Signal für einen politischen Kurswechsel an. In der Kontroverse mit Siebenpfeiffer ging es um dessen entschiedene Wendung gegen die seines Erachtens volksfremde Konstitution. Wirth äußerte sich ähnlich dezidiert. Das Hambacher Fest Pfingsten 1832, von den Initiatoren als Konstitutionsfest zur Erinnerung an die Verfassunggebung vierzehn Jahre zuvor gedacht, wurde von Siebenpfeiffer zu einer Protestkundgebung gegen die Verfassungsverhältnisse in Deutschland umfunktioniert. Er und andere Redner hielten sich dabei mit Revolutionsdrohungen nicht zurück. Ohne Beseitigung der deutschen Fürstenhäuser gebe es „kein Heil für unser Vaterland“, rief etwa Wirth aus.14 Wenige Tage nach dem Fest kündigte die bayerische Regierung am 2. Juni in einem Erlaß an, sie werde jedem Angriff auf die bestehende Staatsordnung entgegentreten. Zugleich stellte sie fest, die große Mehrheit des „rechtlich denkenden Publikums“ habe die „mit einem an Wahnsinn grenzenden Fanatismus“ vorgetragenen Forderungen nach dem Umsturz der Staats- und der Bundesverfassung „laut verurteilt“.15 So war es. Mit dem, was die Hambacher Redner sagten, hatten sie nur einen sehr kleinen Teil der Be14 15

Zit. bei Riedner, Sp. 24. Amts- und Intelligenzblatt des K. B. Rheinkreises vom Jahre 1832, Nr. 37, S. 359.

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völkerung hinter sich. Als Ausdruck einer pfälzischen Sonderkultur kann man ihr Verhalten keineswegs werten. Die Ankündigung der Regierung, gegebenenfalls entschieden einzugreifen, wurde von den betont fortschrittlich Denkenden in der Pfalz als Absicht gelesen, die Sonderstellung des Rheinkreises aufzuheben. Tatsächlich erwog Ludwig I. für den Fall weiterer Exzesse, ob er nicht zurücknehmen sollte, was 1816 gewährt worden war und seines Erachtens nicht hätte gewährt werden dürfen. Das Hambacher Fest war die tiefste Zäsur im pfälzischen Vormärz. Kurzfristig wurde der Rheinkreis militärisch besetzt, gegen die Hauptbeteiligten wurden Strafverfahren eingeleitet und bis 1835 durchgeführt. Sie endeten zum Teil mit Haftstrafen. Manche entzogen sich dem durch die Emigration. Gegen etliche Beamte wurde disziplinarisch vorgegangen. Bundesweit hatte das Fest fatale Folgen, da der Bundestag die seit 1819/20 bestehenden gegen die freisinnige Bewegung gerichteten Vorschriften verschärfte. Für eine Reihe von Jahren kam der erst vor kurzem begonnene Prozeß der Liberalisierung ins Stocken. Erst die Rheinkrise des Jahres 1840 bewirkte wieder eine Lockerung. Kurz nach dem Fest erhielt der Rheinkreis mit dem Freiherrn von Stengel einen neuen Generalkommissar. Er hatte bis zum Februar 1832 hier Dienst getan und war mit Stichaner abgegangen. Die Rheinbayern hielten ihn mit Recht für liberal. Wenige Monate nach seiner Ernennung wurde ihm mit Carl Theodor Fürst von Wrede ein strenger Konservativer als Direktor der Kammer des Innern beigegeben. Im Rheinkreis blieb es viele Monate lang unruhig. am ersten Jahrestag des Festes kam es beim Schloß, in Hambach und in Neustadt zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Militär. Dabei fanden zwei Menschen den Tod, und Hunderte erlitten Verletzungen. Im Herbst 1833 bereiste Innenminister Ludwig von Oettingen-Wallerstein den Kreis, um den Gründen für die dortige Unzufriedenheit nachzugehen. Sein Bericht für den König benannte die Ursachen für die Mißstimmung ziemlich vollständig, räumte ein, daß die Politik gegenüber dem Kreis nicht von Fehlern frei gewesen sei, und zeigte, was gebessert werden müßte. Dem Justizund dem Finanzministerium hielt er vor, nicht die Gesetze vor die Stände gebracht zu haben, die die Verwaltungs- und Justizstellen dieser „isolierten und gleichsam als überseeische Kolonie behandelten Provinz“ so oft und eindringlich gefordert hatten. So schloß sein Bericht mit der Feststellung, daß man nicht wegen der im Rheinkreis vorgebrachten Klagen erstaunt sein müsse, „sondern ob der Geduld in Erduldung des Übels“.16 Angesichts dieses Befundes hätte es sich empfohlen, wieder zum liberaleren Kurs der Ära Stichaner zurückzukehren, bei einer verbesserten Kommunalaufsicht. Das geschah nicht. Im Herbst 1837 wurde Stengel abgelöst. An die Spitze der Kreisregierung trat jetzt Wrede. Er behielt das Amt bis April 1841, dann folgte ihm sein jüngerer Bruder in dieser Funktion, die Amtsbezeichnung war nun Regierungspräsident. Mit dem Abgang Eugen von Wredes im Februar 1845 endete die 16

Becker, S. 73, der Bericht insgesamt S. 67 – 87.

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betont konservative Phase in der Verwaltung der Pfalz. Der nun berufene Regierungspräsident Karl Frhr. von Schrenck und Notzing war gemäßigt konservativ. Franz Alwens, der im Mai 1846 an die Spitze des Kreises trat, dachte liberal. Er war der erste gebürtige Pfälzer in dieser Position. Ein Jurastudium hatte er nicht absolviert, sondern sich in der Finanzverwaltung, in die er noch in französischer Zeit eingetreten war, hochgedient; seit 1838 war er Direktor der Kammer der Finanzen. Natürlich dauerte die politische Diskussion in der Pfalz in den Jahren nach 1832 kontinuierlich an, und die Meinungsführer waren gegenüber München weiterhin überwiegend kritisch. Aber ausgeprägte Spannungen gab es nur mehr im religiösen Bereich, in der Auseinandersetzung zwischen den Anhängern des Theologischen Rationalismus und den Verfechtern des positiven Christentums. Sie erreichte 1846 ihren Höhepunkt. Wortführer der Rationalisten war der Pfarrer Frantz in Ingenheim. Das Oberkonsistorium in München nannte dessen Anhängerschaft 1847 in einem Bericht an das Ministerium die „Pfarrer-Frantzische Partei“.17 Viele derer, die sich ihr zurechneten, waren nach ihrer politischen Haltung entschiedene Liberale. Ein engagierter Verteidiger des in der Pfalz geltenden französischen Rechts war Karl Friedrich Heintz, seit 1838 Erster Staatsprokurator am Appellationsgericht. Er war ein Liberaler. 1845 wurde er in die Kammer der Abgeordneten gewählt. Im Frühjahr 1846 sagte er in einem Privatgespräch in München, die Verärgerung in der Pfalz sei sehr ausgeprägt, schon der geringste Anlaß könne zum Verlust des ganzen Kreises führen. Diese Bemerkung machte in den politischen Kreisen der Hauptstadt schnell die Runde. Eine amtliche Nachfrage bei der Kreisregierung in Speyer brachte keine Bestätigung der von Heintz geäußerten Befürchtung, aber es wurde doch mitgeteilt, daß die Bevölkerung stark politisiert sei und daß weithin Unzufriedenheit herrsche. Heintz hatte seine Äußerung vermutlich bewußt zugespitzt, um die Notwendigkeit von Konzessionen an die Pfalz zu verdeutlichen. Es ist nicht auszuschließen, daß die Warnung vor dem Verlust der Provinz dazu beitrug, daß Alwens einige Wochen später Regierungspräsident wurde. Im ersten Halbjahr 1847 mußte die Bevölkerung infolge von Mißernten in den Jahren 1845 und 1846 eine schwere Teuerung verkraften. Im benachbarten Baden trug das dazu bei, daß sich der politische Radikalismus sehr deutlich artikulierte. In der Pfalz kam es dazu nicht, hier verlief das Jahr ohne Störungen. Das belegt, daß Heintz sehr übertrieben hatte. Das Verbot eines für den 22. Februar 1848 angesetzten Banketts zugunsten einer Ausweitung des Wahlrechts führte in Paris zu Demonstrationen, bei deren Auflösung durch die Nationalgarde es Tote gab. Das steigerte die Erregung sehr. Bereits am 24. Februar dankte König Louis Philippe ab, die Einsetzung einer Regentschaft wurde von in die Kammer eingedrungenen Demonstranten verhindert, die Republik proklamiert. Dieser plötzliche und überraschende Umsturz weckte in Deutschland abermals die Sorge vor einem von Frankreich ausgehenden Krieg. Daraus wurde 17

Scherer, Kirchengeschichte, S. 154.

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der Schluß gezogen, daß ein sofortiger fester Zusammenschluß der deutschen Staaten unabdingbar sei. Damit verband sich die Hoffnung, daß die bedrohliche Situation die Regierungen dazu bringen werde, die von den Liberalen seit langem erhobenen Forderungen zu erfüllen. Kolbs Neue Speyerer Zeitung kommentierte den Sturz der Monarchie in Frankreich dahin, daß jetzt nirgends mehr in der alten Weise fortregiert werden könne. In späteren Ausgaben seines Blattes trug Kolb präzise Forderungen vor. Seine Parole war: „Keine Republik, aber eine wahrhafte Repräsentativ-Verfassung.“18 Das entsprach der im Kreis vorherrschenden Ansicht. Es gab überall in Deutschland Volksversammlungen, bei denen die Märzforderungen vorgetragen wurden. Ludwig I. reagierte auf die Bewegung am 6. März mit der Einberufung des Landtags für den 16. März und kündigte Reformen an, insbesondere Gesetze über die Ministerverantwortlichkeit, die vollständige Pressefreiheit, die Verbesserung des Wahlrechts zur Abgeordnetenkammer, die Bildung von Schwurgerichten und die Einführung der Öffentlichkeit und Mündlichkeit in der Rechtspflege. Auch bekannte er sich zur deutschen Einheit. Eine Volksversammlung in Neustadt formulierte am 12. März 29 Forderungen, die dem König durch eine Delegation überbracht werden sollten und auf eine gründliche Revision der Verfassung hinausliefen. Die pfälzischen Abgeordneten wünschten überdies eine Amnestie für politische Vergehen und die Trennung der unierten Kirche der Pfalz vom Oberkonsistorium im München. Ludwig I. dankte am 20. März ab, er wollte nicht zum bloßen Unterschreibekönig werden, eine Rolle, die er nach dem Ausbau der Verfassung auf sich zukommen sah. Seinem Sohn und Nachfolger Maximilian II. war es selbstverständlich, daß gründliche Reformen nötig seien. Er stärkte deshalb das liberale Element im Ministerium und machte Heintz zum Justizminister. Im Laufe des Sommers verabschiedete der Landtag die Gesetze, die Ludwig I. Anfang März angekündigt hatte. Der vormalige Minister Carl August von Abel, der früher liberalen Ansichten aufgeschlossen war und nun ganz konservativ dachte, kommentierte den Ertrag dieser legislativen Arbeit im Juni bitter. Er sei für eine bayerische Pfalz gewesen, „aber jetzt wird Bayern pfälzisch“, Pfälzergeist regiere das Land.19 Natürlich war es kein ,Pfälzergeist‘, der sich in der bayerischen Gesetzgebung während der Revolutionszeit durchsetzte, vielmehr wurden weitere Schritte zur Realisierung des liberalen Konzepts getan. Das geschah allerdings nicht in dem Ausmaß, wie es sich die fortschrittlich Denkenden wünschten. So kam es zu einer neuerlichen Verschärfung des bayerisch-pfälzischen Gegensatzes. Die demokratischen Kräfte in der Pfalz ließen es dabei im Mai 1849 zu „dem rasch scheiternden Abenteuer der bewaffneten Revolution“ kommen.20 In dieser sogenannten Reichsverfassungskampagne waren die Absichten vieler Beteiligter auf weit mehr gerichtet als auf die Durchsetzung der von der Frankfurter Nationalversammlung erarbeiteten liberalen 18

Neue Speyerer Zeitung, Nr. 83, 8. 4. 1848, S. 401. Zit. bei Gollwitzer, S. 655. 20 Kreutz, S. 124. 19

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Reichsverfassung. Wie nach 1832, so reagierte die bayerische Regierung auch jetzt mit harter Hand. So dauerten die Spannungen zwischen dem Haupt- und dem Nebenstaat auch im nachrevolutionären Jahrzehnt an. Erst mit der Gesetzgebung der Neuen Ära ab 1859 hörten sie auf. Die Unterschiede zwischen dem links- und dem rechtsrheinischen Bayern wurden jetzt weitgehend eingeebnet. Literatur Amts- und Intelligenzblatt des K. B. Rheinkreises vom Jahre 1832. Becker, Albert: Die Pfalz vor 100 Jahren. Zur Geschichte des Hambacher Fests, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 1929, S. 65 – 88. Bonkhoff, Bernhard H.: Geschichte der Vereinigten Protestantisch-evangelischen Christlichen Kirche der Pfalz 1818 – 1861, München 1986. Briefe eines Reisenden an den Ufern des Rheins in den Jahren1803 und 1804 mit Episoden, Altenburg 1805. Busley, Hermann Joseph: Das pfälzisch-bayerische Verhältnis in der Revolutionszeit 1848/49, in: Fenske, Hans (Hrsg.), Die Pfalz und Bayern 1816 – 1956, Speyer 1998, S. 67 – 101. Emerich, Friedrich Joseph: Cisrhenanien unter den Franken, besonders in Hinsicht auf die Pfalz bis auf Bonaparte, o.O. 1801, Neuauflage 1804. Faber, Karl Georg: Die Rheinischen Institutionen, in: Hambacher Gespräche 1962 (Geschichtliche Landeskunde Band 1), Wiesbaden 1964, S. 20 – 40. Fenske, Hans: Frühliberalismus in Deutschland, in: Fischer, Michael u. a. (Hrsg.), Aufklärung, Freimaurerei und Demokratie im Diskurs der Moderne. Festschrift zum 60. Geburtstag von Helmut Reinalter, Frankfurt/Main 2003, S. 345 – 365. Fenske, Hans: Rheinbayern 1816 – 1832. Die schwierige Provinz am Rhein, in: Kermann, Joachim, Nestler, Gerhard, Schiffmann Dieter (Hrsg.), Freiheit, Einheit und Europa. Das Hambacher Fest von 1832. Ursachen, Ziele, Wirkungen, Ludwigshafen 2006, S. 47 – 84. Fenske, Hans: Das Hambacher Fest im Wandel der Wertung, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz, 107, 2009, S. 243 – 299. Fenske, Hans: Von der territorialen Vielfalt zum Rheinkreis. Zur pfälzischen Geschichte 1789 – 1832, in: Pfälzer Heimat, Jg. 63, 2012, S. 5 – 23. Gollwitzer, Heinz: Ludwig I. von Bayern. Königtum im Vormärz. Eine politische Biographie, München 2. Aufl. 1987. Gölz, Wilhelmine: Der bayerische Landtag 1831. Ein Wendepunkt in der Regierung Ludwigs I., Phil. Diss. München 1926. Götschmann, Dirk: Der bayerische Landtag und die Pfalz 1819 – 1848, in: Fenske, Hans (Hrsg.), Die Pfalz und Bayern 1816 – 1956, Speyer 1998, S. 41 – 65. Haan, Heiner (Bearb.): Hauptstaat – Nebenstaat. Briefe und Akten zum Anschluß der Pfalz an Bayern 1815/17. Koblenz 1977.

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Haan, Heiner: Kontinuität und Diskontinuität in der pfälzischen Beamtenschaft im Übergang von der französischen zur bayerischen Herrschaft (1814 – 1818), in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte, 2, 1976, S. 285 – 309. Hartmann, Peter Claus: Französische Verfassungsgeschichte der Neuzeit (1450 – 1980). Ein Überblick, Darmstadt 1985. Kolb, Georg Friedrich: Lebenserinnerungen eines liberalen Demokraten 1808 – 1884. Hrsg. von Ludwig Merckle. Vorwort, Lebensbild Kolbs und Nachlaßbearbeitung von Elmar Krautkrämer, Freiburg 1976. Kreutz, Wilhelm: Wie pfälzisch war das Königreich Bayern – wie bayerisch war die Pfalz? Pfälzisch-bayerische Beziehungen im Zeitalter der Monarchie 1806/16 – 1918, in: Jahrbuch der Hambach-Gesellschaft 2009, S. 119 – 130. Leeb, Josef: Wahlrecht und Wahlen zur Zweiten Kammer der bayerischen Ständeversammlung im Vormärz (1818 – 1845), Göttingen 1996. Möckl, Karl: Der moderne bayerische Staat. Eine Verfassungsgeschichte vom aufgeklärten Absolutismus bis zum Ende der Reformepoche, München 1979. Montgelas, Ludwig Graf von (Hrsg.): Denkwürdigkeiten des bayerischen Staatsministers Maximilian Graf von Montgelas (1799 – 1817), Stuttgart 1887. Nestler, Gerhard: Die frühliberale Bewegung in der Pfalz. Bemerkungen zu ihrer Verbreitung, organisatorischen Entwicklung und Sozialstruktur, in: Kermann, Joachim, Nestler, Gerhard, Schiffmann, Dieter (Hrsg.), Freiheit, Einheit und Europa. Das Hambacher Fest 1832. Ursachen, Ziele, Wirkungen. Ludwigshafen 2006, S. 185 – 210. Pauli, Philipp August: Gemälde von Rheinbaiern, Frankenthal 1817. Riedner, Otto: König Ludwig I. von Bayern und die Pfalz. In: Korrespondenzblatt der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, 76, 1928, Nr. 1 – 3, Sp. 12 – 25. Rotteck, Hermann v. (Hrsg.): Carl von Rottecks gesammelte und nachgelassene Schriften mit Biographie und Schriftwechsel, Bd. 4: Das Leben Carl von Rottecks, Pforzheim 1843. Scherer, Karl: Zur pfälzischen Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts. Theologischer Rationalismus im pfälzischen Vormärz, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte, 32, 1965, S. 146 – 174. Scherer, Karl: Zum Verhältnis Pfalz – Bayern in den Jahren 1816 – 1848, in: Fenske, Hans (Hrsg.), Die Pfalz und Bayern 1816 – 1956, Speyer, 1998, S. 9 – 40. Schneider, Erich (Hrsg.): „Triumph, die Freiheitsfahne weht…“. Die Pfalz im Banne der Französischen Revolution (1789 – 1814), Landau 1988. Tulard, Jean: Frankreich im Zeitalter der Revolutionen 1789 – 1851, Stuttgart 1989. Züge zu einer Cultur- und Sittenschilderung der Königlich-baierischen Rheinprovinz in der neuesten Zeit, in Zeitschrift für Baiern und die angränzenden Länder, Bd. 2, München 1917, S. 30 – 48.

Die Pfalz und Bayern zwischen den Revolutionen von 1849 und 1919 Von Wilhelm Kreutz, Mannheim Der pfälzische Aufstand und die Proklamation einer provisorischen Republik markierten im Mai 1849 den Tiefpunkt des Verhältnisses von linksrheinischem Regierungskreis und der monarchischen Regierung Bayerns,1 umso mehr als die Folgen des Scheiterns der „Reichsverfassungskampagne“ für die Pfälzer noch gravierender waren als jene des „Hambacher Fests“ von 1832.2 Auch wenn den führenden Politikern erneut die Flucht ins Ausland gelang und die pfalz-bayerische Polizei trotz immenser Anstrengungen im Wesentlichen nur der Mitläufer des Maiaufstands habhaft werden konnte, läuteten Emigration und politische Reaktion das Ende des pfälzischen Liberalismus der Vormärzjahre ein, der durch seine soziale, konfessionelle und familiäre Homogenität sein spezifisches Profil erhalten hatte.3 Zum einen hatten – auch dies ein Erbe der napoleonischen Notablengesellschaft – die Rechtsanwälte dominiert, zum anderen waren bis 1848 nur vereinzelt pfälzische Katholiken in die Zweite Kammer gelangt. Nicht zuletzt hatten liberal-protestantische Abgeordnetendynastien die pfälzische Fraktion in der Zweiten Kammer bestimmt. Vor allem die enge familiäre Verflechtung von protestantischen Pfarrern und liberalen Advokaten hatte bis in die 1850er Jahre hinein für eine in Bayern wie dem Reich einzigartige personelle Kontinuität der Parlamentarier gesorgt. All dies hatte ebenso wie die nach dem „Hambacher Fest“ verstärkte Reaktionspolitik und die in den 1840er Jahren aufbrechenden, vor allem vom „Kniebeugeerlass“ Karl von Abels ausgelösten, Konfessionsstreitigkeiten dazu geführt, dass die pfälzischen Liberalen bis 1848/49 als regionale Fraktion auftraten und – in der Verteidigung ihrer „Institutionen“ – als regionale Opposition stritten.4 Dass die geschlossene Phalanx der pfälzischen Opposition sich binnen kurzem auflöste, war das Resultat der mit dem Einmarsch des Thurn-und-Taxis’schen Interventionskorps einsetzenden Reaktionspolitik. Zum einen entzogen sich die führenden pfälzischen Demokraten ihrer drohenden Verurteilung durch die Flucht und viele 1 Zur Revolution von 1848/49 und zum pfälzischen Maiaufstand von 1849 vgl. zuletzt die Sammelbände von Schneider und Keddigkeit sowie Fenske, Kermann und Scherer. 2 Vgl. Ziegler, Reaktion, S. 43 ff., Ziegler, pfälzisch-bayerisches Verhältnis, S. 113 – 130 und Kreutz, Regierungspolitik, S. 3 ff. 3 Vgl. hierzu und im folgenden Kreutz, Liberalismus, S. 97 – 114, Götschmann, S. 41 – 65 und Scherer, Verhältnis, S. 9 – 40. 4 Vgl. Gollwitzer, Abel, S. 451 – 456.

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der gemäßigteren Liberalen wie Georg Jakob Stockinger oder Friedrich Justus Willich zogen sich enttäuscht über die politische Entwicklung ins Privatleben zurück. Bemerkenswert ist jedoch, dass den im Sommer ins Rollen kommenden polizeilichen Ermittlungen zum Leidwesen König Maximilians II., der auf rasche und abschreckende Urteile drängte, nur äußerst begrenzte Erfolge beschieden waren.5 Aber die Fülle der Ermittlungen – im August zählte der neue Staatsprokurator Simon Joseph Schmitt, der den vermeintlich zu skrupulösen Peter Eberhard Korbach im Sommer 1849 abgelöst hatte, bereits 1.348 Beschuldigte – überforderten die Behörden.6 Hinzu kam, dass sich Hunderte von Ermittlungsverfahren durch eine Teilamnestie erledigten, zahlreiche andere an Zuchtpolizeigerichte überstellt oder aus Mangel an Beweisen eingestellt werden mussten. Überdies untersagte der pfälzische Kassationshof die Prozessführung gegen „Martin Reichard und seine 322 Consorten“, von denen die Polizei freilich nur 77 Minderbelastete hatte dingfest machen können, vor einem Spezialgericht. Vor dieses konnten nur die 26 Teilnehmer des sog. „Steinfelder Mordbrennerzugs“ gestellt werden, von denen immerhin 12 freigesprochen wurden. Die Urteile des Schwurgerichts fielen höchst unterschiedlich, in den Augen von Regierung und König indes viel zu milde, aus. Wie groß das Missverhältnis von polizeilichen Ermittlungen und Verurteilungen durch die Schwurgerichte war, lässt sich anhand der im Hebst 1852 erneut aufflammenden Amnestiediskussion präzise fassen.7 Neben 65 Soldaten, die von gesonderten Militärgerichten verurteilt worden waren, saßen zwei Jahre nach Ende der „Reichsverfassungskampagne“ in pfälzischen Gefängnissen nur noch 35 „politische“ Strafgefangene ein, darunter die vierzehn Aufrührer von Steinfeld und 21 der ursprünglich 37 von Schwurgerichten Verurteilten, sechzehn waren mittlerweile aus den Gefängnissen geflohen. Dennoch lehnte Maximilian, der im Vorfeld seiner Pfalzreise allen inhaftierten Soldaten und allen von Schwurgerichten Verurteilten ihre Reststrafe erließ, eine generelle Amnestie, die besonders den Exilanten zu Gute gekommen wäre, zeitlebens ab. Sie wurde erst nach dem Regierungsantritt Ludwigs II. durch Justizminister Eduard von Bomhard in die Tat umgesetzt und trug ihren Teil zu der in den 1860er Jahren zu beobachtenden Entkrampfung des pfälzisch-bayerischen Verhältnisses bei.8 Tiefgreifendere Folgen als die direkte Strafverfolgung zeitigten die disziplinarischen Maßnahmen gegen Lehrer und Schulverweser, gegen Pfarrer, Pfarrverweser und Vikare oder gegen Finanz- und Staatsbeamte. Vier der sechs Linksrheiner in den obersten Staatsbehörden wurden auf weniger attraktive Posten abgeschoben. Im Amt blieben nur der in Kusel geborene Kriegsminister Ludwig von Lüder sowie der Vorstand der Eisenbahnkommission Friedrich August Pauli. Bis 1860 wurden – wie Heiner Haan schon vor Jahren gezeigt hat – keine weiteren Pfälzer mit hö5

Vgl. Kreutz, Regierungspolitik, S. 222 ff. Vgl. Kreutz, Regierungspolitik, S. 249 f. 7 Vgl. Kreutz, Regierungspolitik, S. 253 f. 8 Vgl. Holzbauer, S. 723 – 758.

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heren Stellen bedacht.9 Rechnet man die zahlreichen Beamtenanwärter hinzu, die nach ihrer Staatsprüfung jahrelang auf eine Anstellung warten mussten, so gewinnt die Zurückdrängung der pfälzischen Beamten noch deutlichere Kontur. Diese Benachteiligung der Pfälzer zählte zusammen mit der Vertreibung der politischen Elite ins Exil zu den nachhaltigsten Folgen der Revolution. Doch auch mit Zwangsmaßnahmen war der Oppositionsgeist der Pfälzer nur begrenzt einzudämmen. Bei den manipulierten Wahlen vom Sommer 1849 dominierten noch einmal die Demokraten, die jedoch ihre Mandate zum großen Teil nicht mehr annehmen konnten, da sie – wie etwa Georg Friedrich Kolb – eine Haftstrafe verbüßten oder ihre Immunität aufgehoben worden war.10 Zum ersten Mal konnten sich konservativ-liberale und konservative Kandidaten, allen voran der Redakteur der „Pfälzer Zeitung“ und spätere Mitbegründer der pfälzischen Zentrumspartei, Dr. Eugen Jäger, durchsetzen, freilich manche erst in den notwendig gewordenen oder vom Regierungspräsidenten Georg Gustav von Hohe erzwungenen Nachwahlen. Zwar verzichtete die Regierung 1849 und bei den folgenden Wahlen bis zur Wahlrechtsreform von 1905/06 auf die im rechtsrheinischen Bayern bis zu diesem Zeitpunkt übliche, ebenso berüchtigte wie weitgehend erfolglose, „Wahlkreisgeometrie“,11 d. h. die Regierung versuchte, durch den wechselnden Zuschnitt der Wahlkreise oppositionelle Wahlmänner zu majorisieren oder zu isolieren, um eine sie stützende Mehrheit von Landtagsabgeordneten zu erreichen, aber Regierungspräsident von Hohe griff massiv in die Kandidatenauswahl ein. So überrascht es nicht, dass in den 1850er Jahren aus der Pfalz etwa nur noch ein einziger Rechtsanwalt, der gemäßigte Liberale Ferdinand Norbert Mahla aus Landau, nach München entsandt werden konnte, ansonsten aber die königlichen Staatsbeamten dominierten. Allein im Wahlkreis Kaiserslautern-Kirchheimbolanden blieben alle Pressionen vergebens: Hier hielten die Wähler den Abgeordneten der Linken, dem Gutsbesitzer Friedrich Brunk, den 1859 der Kaiserslauterer Bürgermeister Philipp Hack ersetzte, dem Frankenthaler Richter Adolph Boyé und dem vormaligen katholischen Pfarrer Franz Tafel, die Treue. Aber ihre Führungsrolle hatte die pfälzische Linke, die den Revolutionslandtag 1848/49 dominiert hatte, eingebüßt. Zum Sprecher der Fraktion avancierte nun der vormalige Standesherr, Vertraute König Ludwigs I. und königliche Minister Ludwig von OettingenWallerstein, der nun sogenannte Fürst-Proletarier.12 Doch die Hoffnungen der Regierung, mit gemäßigten oder konservativen Kandidaten leichteres Spiel zu haben, trogen. Der Zweibrücker Advokat Ludwig Weis, der als parlamentarischer Neuling überraschenderweise zum Zweiten Kammerpräsidenten aufstieg, machte deutlich, dass er und seine gemäßigt konservativen Fraktionskollegen in den entscheidenden Fragen der Amnestie, der Subvention für die Wiederherstellung Ludwigshafens oder der Steuererleichterung der Pfalz keine andere 9

Vgl. Haan, S. 271 – 280. Vgl. Kreutz, Regierungspolitik, S. 272 – 288. 11 Vgl. Kreutz, Regierungspolitik, S. 279 – 283. 12 Vgl. Zuber, S. 279 – 312. 10

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Meinung hatten als die pfälzischen Abgeordneten der Linken.13 Noch war der regionale Zusammenhalt der Pfälzer Abgeordneten erkennbar, zumal die ,harte Hand‘ von Regierungspräsident Hohe die Abgeordneten ebenso zusammenschweißte wie die nach 1852 respektive 1854 – und dem Rücktritt von Innenminister Joseph von Aschenbrenner und Justizminister Carl Theodor Freiherr von Kleinschrod – verschärfte Reaktionspolitik der neuen Regierung Ludwig Freiherr von der Pfordtens und August Lothar Graf von Reigersbergs.14 Auf der einen Seite entlud sich der Unmut über den politischen Stillstand, der nach dem endgültigen Verzicht auf einen königlichen Verfassungsoktroi während des Landtags 1855/56 offen zutage trat, – nachdem auch der „Operationsplan Pfordten“ 1854 wegen des Krimkriegs und der Konfliktschwäche des Königs in der Schublade liegen geblieben war – in regionalen Stellvertreterkonflikten wie dem 1857/58 die pfälzischen Protestanten spaltenden „Gesangbuchstreit“,15 in dem es vordergründig um die Zurückweisung eines neuen der lutherischen Orthodoxie verpflichteten Gesangbuchs ging, oder dem die altbayerischen Bezirke erregenden „Nordlichterstreit“, dem Kampf der altbayerischen klerikal-konservativen Kräfte gegen den zu großen Einfluss norddeutsch-protestantischer und ,unverantwortlicher‘ Berater des Königs, der anlässlich der Beerdigung der Königinmutter Therese einen ersten Höhepunkt erreichte.16 Auf der anderen Seite aber steuerte der lange schwelende Konflikt zwischen Kammermajorität, Regierung und König auf eine Machtprobe zu, die – obgleich von König und Ministerium 1858 vom Zaun gebrochen – wenige Monate später gerade auch unter dem Eindruck des zweiten italienischen Einigungskriegs, der den König zum „Frieden mit seinem Volk“ zwang, wie Pfordten es formulierte, zum Rücktritt des verhassten Reaktionsduumvirats von der Pfordten-Reigersberg führte.17 Dass der Konflikt sich an der Person des in Zweibrücken gewählten, mittlerweile an der Universität Würzburg lehrenden Juristen Dr. Ludwig Weis entzündete, – der König forderte ultimativ dessen Ablösung vom Amt des Zweiten Kammerpräsidenten – war aber kein Zeichen für die Fortdauer pfälzisch-bayerischer Animositäten, sondern das Resultat der seit Jahren verschleppten Justizreform für das rechtsrheinische Bayern. Dem sog. Einführungsgesetz von 1848, das die Trennung von Justiz und Verwaltung sowie die Mündlichkeit und Öffentlichkeit aller Prozesse im Grundsatz festgeschrieben hatte, und den im Juli 1850 sowie im Mai 1852 folgenden Gesetzen über die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren, waren nur wenige Taten gefolgt. Selbst die Umwandlung der Landgerichte, für die der Landtag bereits die Gelder bewilligt hatte, war unterblieben, da Max das Gesetz zwar unterschrieben, aber seine Ausführung untersagt hatte, weil er sich weder mit der Auflösung der Landgerichte noch mit der Einführung von Notariaten abfinden wollte. Auch dem 13

Vgl. Kreutz, Regierungspolitik, S. 367 ff. Vgl. Ziegler, Reaktion, S. 109 ff. 15 Vgl. Kuby, S. 183 ff. 16 Vgl. Sing, S. 354. 17 Vgl. hierzu und im Folgenden Kreutz, Konfrontation, S. 230 ff.

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Kompromiss einer Vermittlungskommission aus Mitgliedern des Ministeriums und beider Kammern hatte der König die Sanktion verwehrt. So überrascht es nicht, wenn die Neuwahlen zu einem Erstarken der Opposition führten, allen voran der liberalkonservativen Mittelpartei und der Ultramontanen, die wohlgemerkt beide zur Opposition zählten. Nur die pfälzischen Wähler hatten mit großer Mehrheit an den bisherigen Abgeordneten festgehalten, selbst die Vertreter der Linken, die im Rechtsrheinischen noch mehr an Boden verloren als in den Vorjahren, kehrten in den Landtag zurück. Auch wenn die gemäßigten pfälzischen Liberalen sich nicht – oder noch nicht – der sich um die fränkischen Abgeordneten Karl Brater, Joseph Völk, Marquard Barth und Karl Crämer konstituierenden kleindeutschen Partei anschlossen,18 konnte von einer Sonderstellung der Abgeordneten oder gar einer regionalen Fraktion nicht mehr die Rede sein. Das – um es mit einem Wort Wilhelm Heinrich Riehls auszudrücken – „Sondertum“ der politischen Elite der Pfalz, das deren Charakter als „politischer Landschaft“ geprägt hatte, wie Heinz Gollwitzer es genannt hat, verschwand mehr und mehr.19 Nicht vergessen werden dürfen in diesem Zusammenhang die positiven Impulse, die von der Vollendung des Schlosses auf der Ludwigshöhe bei Edenkoben ausgingen, dem ersten und einzigen dynastischen Mittelpunkt der Wittelsbacher in der Pfalz. Gerade im Vergleich mit den badischen Großherzögen, die in ihrem um ein Vielfaches angewachsenen Territorien versuchten, die alten Residenzen aller neubadischen Gebiete zu erhalten und für ihre eigenen politischen Interessen zu nutzen,20 fällt die einige Jahrzehnte währende geographische „Ferne“ und geringe Präsenz der bayerischen Herrscher aus pfalz-zweibrückischem Haus im „überrheinischen Kreis“ auf. Auch wenn Ludwig I. nicht müde wurde, den Verlust der rechtsrheinischen Pfalz zu beklagen und deren Wiedergewinn den roten Faden seiner Außenpolitik bildete, unternahm er zunächst wenig, um die räumliche Distanz zwischen dem Hof und der exterritorialen Provinz „aufzuheben“.21 Das Vorhaben des gerade auf den Thron Gelangten, in der Pfalz eine „Villa italienischer Art“ als Sommerresidenz zu bauen, kam 1826 und 1838 über erste vage Pläne nicht hinaus.22 Erst nachdem die Pfälzer dem bayerischen Thronfolger Maximilian zu dessen Eheschließung im Jahr 1842 das nun programmatisch in „Maxburg“ umbenannte Schloss zu Hambach geschenkt hatten, um die Schmach von 1832 zu tilgen,23 kam Bewegung in diese Angelegenheit. Anlässlich ihrer Pfalzreise entdeckten 1843 König Ludwig, Maximilian und dessen Ehefrau, die preußische Prinzessin Marie, die Höhe über Edenkoben, die man in der Folge dem Hambacher Schlossberg vorzog. Der dort begonnene „Umbau“ im venezianischen Stil wurde gestoppt und 18

Vgl. Schieder, S. 5 ff. Vgl. Gollwitzer, Politische Landschaft, S. 523 – 552. 20 Vgl. Wiese, 201 – 219. 21 Zum Zusammenhang vgl. Gollwitzer, Ludwig I., S. 287 – 298. 22 Roland, S. 18 f. 23 Vgl. Thon/Ulrich, S. 3 – 22.

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von 1846 an entstand nach den Plänen des Architekten Friedrich von Gärtner das „Lustschloss“ auf der Ludwigshöhe.24 Vollendet wurde es nach dem Tod Gärtners durch Leo von Klenze im Jahr 1851 und 1852 verbrachte Ludwig zusammen mit seiner Ehefrau Therese die ersten Sommerwochen in der Pfalz und kehrte bis 1868, seinem Todesjahr, regelmäßig alle zwei Jahre wieder, sehr gelegentlich begleitet von seinem Sohn und Nachfolger Max.25 Rechnet man die durch Ludwig initiierte Restaurierung des Speyerer Doms hinzu – zwischen 1846 und 1853 malten Johann Schraudolph und Josef Schwarzmann das Innere im nazarenischen Stil aus und in den Jahren 1854 bis 1858 errichtete Heinrich Hübsch das neuromanische Westwerk – so verwundert es nicht, dass sich die Beziehungen der Pfälzer zum angestammten Herrscherhaus – wenn auch nur äußerst zögerlich zum regierenden Monarchen – verbesserten.26 Hierzu trugen der Rücktritt des verhassten „Reaktionsministeriums“ und der Amtsantritt der gemäßigten Regierung von Karl Freiherr Schrenck von Notzing und Max von Neumayr ebenso bei wie die in der Pfalz bejubelte Versetzung von Hohes nach Niederbayern und die in der „Neuen Ära“ vollendeten „Märzreformen“, die die Sonderstellung der Pfalz zu einem Großteil beseitigten.27 Selbst die andauernde Differenz auf dem Gebiet der Rechtsprechung – der „Code Napoléon“ verlor in der Pfalz erst mit der Einführung des „Bürgerlichen Gesetzbuchs“ zur Jahrhundertwende seine Geltung – eignete sich immer weniger zur politischen Instrumentalisierung, weil die bayerische Rechtsprechung seit Abschluss der Justizreform fortschrittlicher war als die französischen Gesetze, die nur in der Pfalz, nicht jedoch in ihrem Mutterland, unverändert fortdauerten. Da die pfälzischen Abgeordneten fürchteten, die Änderung auch nur einzelner Artikel könne der Abschaffung des gesamten Gesetzbuches den Weg ebnen, verweigerten sie jeden Eingriff und die einst lautstarken Verteidiger des Fortschritts mutierten so zu Nachlassverwaltern ihrer wenigen, immer obsoleter werdenden „Institutionen“. Darüber hinaus gewann bei den Landtagswahlen von 1863 ein grundlegender personeller Umbruch der politischen Elite Kontur, der sowohl den von oben erzwungenen personellen Wandel des Reaktionsjahrzehnts zur Episode degradierte als auch allen nostalgischen Reminiszenzen pfälzischer Napoleoniden eine Absage erteilte.28 An die Stelle der seit 1849 dominierenden Staatsbeamten traten nun – gemäß der 1863 rechts wie links des Rheins ausgegebenen Losung „Nur keine Beamten“ – die Guts-, vor allem Weingutsbesitzer, und die Freiberufler. Neben dem unvermeidlichen Franz Tafel sowie den parlamentarischen Rückkehrern Georg Friedrich Kolb (der wie Tafel im Wahlkreis Kaiserslautern gewählt wurde), Philipp Umbscheiden, dem im Wahlkreis Landau-Neustadt gewählten Demokraten, Karl Golsen, dem vor24

Roland, S. 20. Roland, S. 46 – 65. 26 Vgl. Zink, S. 11 – 156. 27 Kreutz, Konfrontation, S. 230 – 241. 28 Vgl. hierzu und im Folgenden Wünschel, S. 131 – 161. 25

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maligen Verteidiger Philipp Jakob Siebenpfeiffers, oder dem protestantischen Pfarrer und vormaligen Mitglied der Pfarrer Frantzischen Partei, Johann Peter Gelbert, bestimmten in den folgenden drei Jahrzehnten die Flaschenbarone der Haardt die politische Leitlinie der pfälzischen Abgeordneten, allen voran der Altliberale Ludwig Andreas Jordan und Philipp Tillmann aus Deidesheim, Karl Heinrich Wolf aus Wachenheim, Rudolf Christmann aus Dürkheim oder einige Jahre später Dr. Andreas Deinhardt aus Deidesheim. Hinzu traten der Dosenfabrikant Franz Adt aus Ensheim oder der Landstuhler Kaufmann Josef Benzino, um nur die wichtigsten Abgeordneten zu nennen. Und dass sie nach dem deutsch-deutschen „Bruderkrieg“ von 1866 „quasi über Nacht“ fast alle ins preußisch-kleindeutsche Lager übertraten und sich im bayerischen Landtag den fränkischen Liberalen anschlossen, markiert – sieht man von gelegentlichen landsmannschaftlich motivierten Reminiszenzen ab – das Ende einer regionalen pfälzischen Fraktion, wenngleich die neue nationalliberale Gruppe den pfälzischen Abgeordneten der Vormärzjahre weder in konfessioneller und berufssoziologischer Geschlossenheit noch in ihrer personellen Kontinuität nachstand. Der fortan bis in die 1890er Jahre dominierende pfälzische Ableger der „kleindeutschen Fortschrittspartei“ um den bereits genannten Ludwig Andreas Jordan und die politischen Erben Franz Peter Buhls, Franz Armand Buhl und dessen Bruder Dr. Heinrich Buhl, brach mit dem französischen Erbe und scharte sich mit wehenden Fahnen um Otto von Bismarck. 1869 trat Georg Friedrich Kolb, der letzte Repräsentant der Hambacher Ära, tief enttäuscht über diesen politischen Schwenk von der politischen Bühne ab und machte augenfällig, dass mehr als ein Generationswechsel stattgefunden hatte.29 Am 19. Juli 1870 riss Simon Levi aus Landau, der erste jüdische Deputierte der Pfalz, in der erregten Debatte um den bevorstehenden deutschfranzösischen Waffengang so viele seiner schwankenden Kollegen mit, dass der bayerische Landtag die Kriegskredite bewilligte und gegen die Stimmen der „Patriotenpartei“ die Neutralität Bayerns verwarf.30 Nach der Schlacht bei Sedan beschlossen die pfälzischen Abgeordneten einstimmig, sich für den Eintritt in den „Norddeutschen Bund“ einzusetzen, den die bayerischen Vertreter am 23. November 1870 vertraglich besiegelten. Die im Januar 1871 folgende Kaiserproklamation erfüllte den langjährigen Traum der pfälzischen Liberalen, die im Hochgefühl des „ruhmvoll errungenen Siegs“ den Vorkämpfern von Hambach und der Reichsverfassungskampagne gedachten.31 Zwar war die – auch in der Pfalz enthusiastisch gefeierte – Einigung „von oben“ erfolgt, hatten die Fürsten zahlreiche Separatrechte behalten, und das Prinzip der Volkssouveränität stand noch immer in weiter Ferne, aber dies störte nur eine Minderheit großdeutscher oder demokratischer Veteranen. Es verwundert daher nicht, dass der nationale Überschwang die Vorherrschaft der Liberalen bis in die 1890er Jahre festigte. 29

Kreutz, Liberalismus, S. 107. Vgl. Eckstein, S.34 f. 31 Vgl. Bräunche, S. 53 ff. 30

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Sie behaupteten ihre politische Vormachtstellung, da sich in der Pfalz National- und Linksliberale nicht spalteten. Gleichwohl tendierten in den Folgejahren Abgeordnete wie die Gutsbesitzer Jakob und Friedrich Exter aus Neustadt oder der Arzt Dr. Ludwig Groß aus Ludwigshafen, mit den Sezessionisten, deren Mitbegründer Franz August Freiherr Schenk von Stauffenberg sich von 1877 bis 1887 im Wahlkreis Kaiserlautern durchsetzen konnte, aber zur Spaltung der Fraktion kam es im Bayerischen Landtag nicht.32 Die Honoratiorenpartei profitierte von der durch die verstärkte Industrialisierung gesundenden Wirtschaft und vom andauernden gesellschaftlichen Vorrang des protestantischen Wirtschaftsbürgertums, das neben den bereits genannten ab den 1880 Jahren etwa durch den Tabakfabrikanten Philipp Lichtenberger, den Ölfabrikanten Johann Schloßstein sowie schließlich durch Dr. August Ritter von Clemm, einen der Teilhaber der BASF, repräsentiert wurde. Nach der Revolution und bis Mitte der 1850er Jahre hatten die grassierende Kartoffelfäule gepaart mit wiederkehrenden Getreidemissernten den Strom nicht allein der pfälzischen Auswanderer nach Amerika anschwellen lassen – 1849 kehrten knapp 14.000, 1852 19.000 und 1855 gar rund 22.000 pfälzische „Wirtschaftsflüchtlinge“ ihrer Heimat den Rücken, demgegenüber spielten die politischen Exilanten, die weitaus mehr beachteten „forty-eighters“ freilich nur eine marginale Rolle.33 Aber seit den 1860er Jahren trat an die Stelle der Aus- die Binnenwanderung, die befördert wurde durch den Aufschwung des Weinbaus und Weinhandels, die aufblühende Zuckerrüben- und Tabakfabrikation, die Anfänge der westpfälzischen Schuhindustrie, die Gründung von Maschinenbaufirmen in Frankenthal, Zweibrücken und Kaiserlautern sowie – last but not least – den Aufschwung der chemischen Industrie in Ludwigshafen. Der Anschluss Elsass-Lothringens sowie der beschleunigte Ausbau des Eisenbahnnetzes befreiten die Pfalz überdies aus ihrer Randlage und erschlossen der Wirtschaft neue Märkte.34 Dass all dies dazu beitrug, das pfälzisch-bayerische Verhältnis zu entspannen, liegt auf der Hand. Ebenso entscheidend aber war, dass – nach dem mit der Niederlage von 1866 endenden Zwischenspiel der neuerlichen Regierung Ludwig Freiherr von der Pfordtens – die liberal-konservativen Kräfte bis 1912 als Regierungspartei fungierten, obwohl sie im Münchner Landtag zu keinem Zeitpunkt über die Mehrheit verfügten.35 Ihre Vormachtstellung behaupteten sie nur, weil sowohl König Ludwig II. und Prinzregent Luitpold als auch die Regierung und die Ministerialbürokratie jene gouvernementalen Instrumente, mit denen die Liberalen zuvor unterdrückt worden war, nun zu deren Gunsten einsetzten. Wichtigstes Instrument war das von Ludwig I. eingerichtete Kabinettssekretariat, das unter Max II. zur entscheiden-

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Vgl. hierzu und im Folgenden Bräunche, S. 113 ff. Vgl. Ziegler, Reaktion, S. 387 und Paul, besonders S. 62 ff. 34 Vgl. Bräunche, S. 27 – 40. 35 Vgl. hierzu und im Folgenden Möckl, vor allem die Ausführungen über die Bedeutung des Kabinettsekretariats S. 33 ff., S. 87 ff. und S. 223 ff. 33

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den Schaltstelle zwischen Monarch und Regierung avanciert war.36 Da der König – selbst wenn er in München war – seine Minister oft wochenlang nicht empfing, avancierten Kabinettssekretäre wie Franz von Pfistermeister oder Johann Lutz nicht nur zu grauen Eminenzen, sondern zur entscheidenden Mittlerinstanz zwischen den Ministern, deren Anträge sie für den mündlichen Vortrag beim Monarchen vorbereiteten, und dem Monarchen, dessen Bescheide sie wiederum in schriftlicher Form an die Minister zurücksandten. Die Bedeutung des Kabinettssekretariats wuchs in den letzten Jahren der Herrschaft Maximilians durch dessen häufige Abwesenheit weiter an, weil er seine körperlichen Leiden während oft monatelanger Aufenthalte nicht nur in Italien zu kurieren suchte. Auf diese Weise konnten sowohl der überraschende Thronwechsel und die Probleme des unerfahrenen Monarchen ebenso bruchlos überwunden werden wie dessen nach 1871 schnell zunehmende Abwesenheit von München. Kabinettssekretariat, Ministerialbürokratie und Ministerium funktionierten reibungslos, und dass Johann Lutz vom Kabinettssekretär zum nobilitierten leitenden Minister Johann Freiherr von Lutz aufsteigen konnte,37 unterstreicht die Schlüsselstellung, die ihm in der bayerischen Regierungspraxis zwischen der Revolution von 1848/49 und dem Ersten Weltkrieg zukam. Nicht übersehen werden dürfen zudem das Vereinsgesetz aus dem Reaktionsjahr 1850, das bis 1898 galt, und das erst 1906 modernisierte Wahlgesetz, das Zentrum und Sozialdemokratie benachteiligte bzw. die Liberalen bevorteilte. Dass überdies die fortschreitende Integration ganz Bayerns ins Reich die tradierte Sonderstellung des Rheinkreises endgültig aufhob, bedarf keiner besonderen Begründung. Am entscheidendsten freilich war, dass die bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs andauernde Herrschaft liberaler, aber staatskonservativer, reichsfreundlicher und staatskirchlich orientierter Ministerien in den fundamentalen, die Politik Bayerns wie die des jungen Kaiserreichs in Atem haltenden Politikfragen weitgehend übereinstimmten.38 Weder in der Frage des deutschen Zollvereins, des Eintritts in den deutsch-französischen Krieg oder des Anschlusses an das Reich noch in der Frage der Trennung von Staat und Kirche gab es – bei allen Unterschieden im Detail – einen grundlegenden Dissens zwischen dem Programm der protestantischen pfälzischen Liberalen und der Politik des katholischen, aber aus einem konfessionell gemischten Elternhaus stammenden, Mittelfranken Chlodwig Fürst von HohenloheSchillingsfürst,39 und seiner Nachfolger, dem katholischen Unterfranken Johann Freiherr von Lutz und dem protestantischen Mittelfranken Friedrich Krafft Graf von Crailsheim.40 Gerade in den große Bevölkerungskreise mobilisierenden konfessionellen Auseinandersetzungen um die Gültigkeit des bayerischen Konkordats von 36

Vgl. Kreutz, Regierungspolitik, S. 113 – 130 sowie Krauss, S. 63 – 123. Vgl. Grasser, S. 24 – 141. 38 Vgl. Kreutz, politische Entwicklung, S. 71 f. 39 Vgl. Stalmann, S. 82 – 122. 40 Vgl. Schaper, S. 85 – 285. 37

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1817 bzw. des Religionsedikts von 1818, um das Unfehlbarkeitsdogma des Papstes und die Spaltung der katholischen Kirche, um den Jesuiten- und Redemptoristenorden sowie nicht zuletzt um die Simultanschule stimmten Regent, Regierung und liberale Minorität des Landtags überein.41 Dies erklärt, warum zwischen 1871 und 1918 mehr Linksrheiner in die hohe Bürokratie aufstiegen als zwischen 1818 und 1848 (23 gegenüber 15),42 wenngleich mit dem in der pfälzischen Festungsstadt Germersheim zur Welt gekommenen, aber aus einer alten Nürnberger Patrizierfamilie stammenden Otto Freiherr Kreß von Kressenstein nur ein in der Pfalz Geborener (Kriegs-)Ministerwürden erlangte und allein der aus Frankenthal stammende Julius Ritter von Blaul, der Förderer der Technischen Hochschulen und Begründer des Oberrealschulwesens in Bayern, zum Regierungspräsidenten von Mittelfranken avancierte.43 Immerhin wurde der 1849 ebenso wie seine Märzministerkollegen gescheiterte pfälzische Justizminister Dr. Karl Friedrich inzwischen Ritter von Heintz zum Präsidenten des Appellationsgerichts Zweibrücken berufen. In hohe kirchliche Ämter stiegen außerdem der in Landstuhl geborene Erzbischof von München und Freising Franziskus von Bettinger oder der Speyerer Bischof Dr. Ludwig Sebastian auf. Dass neben dem Speyerer Bischof Joseph Georg Ritter von Ehrler nur noch wenige Pfälzer in die Reichsrätekammer gelangten, erregte die politische Öffentlichkeit der Region kaum noch, auch nicht, dass ihre Deputierten in München nur eine eher untergeordnete Rolle spielten.44 Die politische Bedeutung Franz Armand Buhls, des Vorsitzenden der nationalliberalen Reichstagsfraktion und Vizepräsidenten des Reichstags,45 den Ludwig II. 1895 – wenige Monate vor seinem Tod – zum lebenslänglichen Reichsrat ernannte, oder des späteren Vorsitzenden der nationalliberalen Partei, Ernst Bassermann, konnten die pfälzischen Liberalen im bayerischen Landtag nicht erreichen. Zwischen 1893 und 1914 meldeten sich die pfälzischen Abgeordneten, wie Siegfried Brewka errechnet hat,46 mit insgesamt 2978 Beiträgen (das sind 12 Prozent) zu Wort und lagen dabei nicht nur klar hinter den Deputierten Oberbayerns (5850 Redebeiträge = 23,6 Prozent), sondern auch der Mittelfrankens (3850 = 15,6 Prozent) und Schwabens (2984 = 12.1 Prozent), wenngleich letztere über weniger Landtagsmandate verfügten als die Pfalz. Dies gilt nicht für die nach der politischen Wende von 1899 in den Landtag einziehenden pfälzischen Abgeordneten des Zentrums und der Sozialdemokratie, die durch Absprachen in den Wahlkreisen Speyer(-Ludwigshafen) und Zweibrücken (-Pirmasens) erstmals in die Phalanx der Liberalen eine Bresche schlagen konnten. Von den zwanzig Mandaten des Regierungskreises konnten 1899 die Zentrumspartei 41

Vgl. Bischof, S. 125 – 128. Kreutz, politische Entwicklung, S. 72. 43 Vgl. Schärl, S. 48 ff. 44 Vgl. Wünschel, S. 138 – 145. 45 Vgl. Kreutz, politische Entwicklung, S. 73. 46 Brewka. S. 474 ff.

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vier und die Sozialdemokraten drei Mandate gewinnen, und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs konnten beide Parteien die Zahl ihrer Landtagsmandate noch weiter erhöhen.47 Neben Dr. Eugen Jäger, der zuvor bereits im Rechtsrheinischen ebenso einen sicheren Landtagssitz inne gehabt hatte wie der „rote Pfalzgraf“ Franz Joseph Ehrhardt, den die Partei 1893 im sicheren Wahlkreis Nürnberg nominiert hatte, gehörten der Zentrumsfraktion nun der Weingutsbesitzer und Deidesheimer Bürgermeister Dr. Julius Siben, der Speyerer Domkapitular Dr. Joseph Sigmund Zimmern und der Zweibrücker Gymnasialprofessor Jakob Reeb an; für die SPD zogen neben dem Ludwigshafener Tapeziermeister und Stadtrat Ehrhardt der Buchdrucker Joseph Huber aus Ludwigshafen und der Schuhmacher Ludwig Keidel aus Pirmasens als erste pfälzische Sozialdemokraten in den Landtag ein. Bis zu ihrem Ausscheiden zählten dabei Jäger auf der einen und Ehrhardt auf der anderen zu den häufigsten Rednern; sie wurden nur übertroffen von dem in Neustadt gewählten Gymnasialkonrektor Dr. Karl Hammerschmidt, dem Fraktionsvorsitzenden der Liberalen Vereinigung (seit 1899) und von 1907 bis 1912 2. Vizepräsidenten des Landtags. Zumindest als Ausschussreferenten ergriffen aber auch Franz Schenk Freiherr von Stauffenberg und Dr. Eugen Buhl häufig das Wort. Nicht zuletzt trug Prinzregent Luitpold bzw. dessen öffentliches Bild, das den für das Kaiserreich so charakteristischen Spagat von rückwärtsgewandten und modernen Tendenzen widerspiegelte, zur Entspannung des pfälzisch-bayerischen Verhältnisses bei.48 Seine joviale bajuwarische Erscheinung, häufig unterstrichen durch die seit Max II. im Königshaus populäre Tracht der oberbayerischen Schützen, seine Leutseligkeit und seine öffentliche Präsenz, die die bayerischen Untertanen bei seinen beiden Vorgängern so schmerzlich vermisst hatten, ließen die Kritik an der Entmündigung Ludwigs und der zweifelhaften Legitimität der Regentschaft bald verstummen, zumal Luitpold die Politik der protestantisch-kleindeutschen und nach 1871 reichstreuen Führungsschicht nicht infrage stellte, die ihre Vorherrschaft in der „Staatsideologie Max von Seydels“ öffentlich rechtfertigte, wie Karl Möckl in seiner grundlegenden Studie zur Prinzregentenzeit ausgeführt hat: „Das monarchische Prinzip war zwar erschüttert, aber das staatskonservative System blieb unversehrt“.49 Und in diesem System konnte sich die nationalliberale Führungsschicht der Pfalz glänzend einrichten, zumal politisch-programmatische Entscheidungen immer weniger im Parlament getroffen wurden, in dem man ja ohnehin in der Minderheit war. Luitpolds Aktivitäten beschränkten sich mehr und mehr auf die reine Repräsentation; gleichwohl gewann er wachsende Bedeutung als Integrationsfaktor für eine gesellschaftliche Oberschicht, die durch den Interessenausgleich von hohem Beamtentum, Großkapital und Großgrundbesitz in Adel und Großbürgertum sowie hohem Klerus eine so weitgehende Vereinheitlichung und Stabilität erlangte, dass die Expo47

Brewka, S. 476 ff. Vgl. hierzu und im Folgenden die (Sammel-)Bände von Götz, Bauer, Leutheusser und Rumschöttel sowie Weigand, Zedler und Schuller. 49 Möckl, S. 550. 48

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nenten in Regierung, Reichsrat, Parteien und Interessenverbänden weitgehend die politische Gewalt in Händen hielten.50 Und mit diesen inneren Machtzirkeln waren die einflussreichsten pfälzischen Familien – wie man es heute ausdrückt – gut vernetzt.51 So war der zum engsten Freundeskreis des Prinzregenten zählende von 1905 bis 1912 amtierende bayerische Kriegsminister Carl Graf von Horn seit 1874 mit einer Tochter des Hüttenwerksbesitzers Carl Freiherr von Gienanth verheiratet und der bayerische Oberstleutnant Otto Freiherr Wolfskeel von Reichenberg war seit 1909 Schwiegersohn des Eisenwerk- und Gutsbesitzers Eugen Freiherr von Gienanth und seiner Frau Elise, einer geborenen Engelhorn aus der gleichnamigen pfälzischen Chemieindustriellenfamilie. Der in Langenkandel geborene Carl Jacob von Lavale, von 1884 bis 1909 leitender Direktor der Pfälzischen Eisenbahnen, wurde von Luitpold als lebenslängliches Mitglied in die Reichsrätekammer berufen und gehörte als Mitglied mehrerer Aufsichtsräte von Banken und großen Unternehmen zu den führenden Köpfen der bayerischen Wirtschaft. Engen Kontakt zum einflussreichen Hofsekretär, Vorstand der Vermögensverwaltung und engen Berater Luitpolds, Ludwig Ritter von Klug, pflegte u. a. der Ludwigshafener Chemieindustrielle August Ritter von Clemm (BASF), zum Kreis um den äußerst geselligen Staatsminister Krafft Graf von Crailsheim zählten die Weingutsbesitzer Buhl, der Chemieunternehmer Heinrich von Brunck, August von Clemm und Karl Glaser (alle BASF). Rechnet man hinzu, dass sich ehemalige Minister, Ministerialbeamte, Abgeordnete und Unternehmer in zahlreichen Aufsichtsräten der bayerischen wie pfälzischen Großbanken und Unternehmen trafen, wird deutlich, wie eng gerade die nationalliberale Führungsschicht mit der des rechtsrheinischen Bayern zusammenarbeitete und durch Heiratsverbindungen, die hier nur angedeutet werden können, verschmolz. Da Luitpold im Gegensatz zu Ludwig II., der die Pfalz nie besuchte, hin und wieder auf der Ludwigshöhe logierte oder bei den „Flaschenbaronen“ in Deidesheim zu Gast war, verwundert es nicht, dass ihm die Pfälzer als einzigem Wittelsbacher noch zu seinen Lebzeiten in Landau (Reiterstandbild 1893), Ludwigshafen (Luitpoldhafen und Luitpoldbrunnen) und unweit des Hermersberger Hofs im Pfälzer Wald Denkmäler (hier einen Luitpoldturm [1908/09]) setzten,52 auch wenn ihre Zahl hinter jener der Monumente für den „Eisernen Kanzler“ Bismarck weit zurückblieb.53 Doch damit lässt sich nur eine, wenn auch die maßgebliche Seite des Ausgleichs zwischen Pfalz und Bayern und nur eine Seite des pfälzischen Identitätsbildungsprozesses im 19. Jahrhundert erklären. Die politische Annäherung zwischen der Pfalz und Bayern bewirkte zudem eine „im weiteren Sinne kulturelle Transformation

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Vgl. Möckl., S. 549 – 560. Vgl. hierzu und im Folgenden Hesselmann, S. 255 – 305. 52 Siehe die zahlreichen Prinzregenten- oder Luitpoldstraßen in der Pfalz sowie den Luitpoldhafen in Ludwigshafen; vgl. Braun-Jäppelt, S. 9 ff. 53 Vgl. Seele, S. 28 ff. 51

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der regionalen Identität“,54 wie Celia Applegate in ihrer richtungsweisenden Studie gezeigt hat. Da die Pfalz bis zum Ende der 1850er Jahre primär als „politische Landschaft“ charakterisiert werden muss und sich ihre politische wie kulturelle Elite zum einen über ihre fortschrittlichen Institutionen, ihre Modernität und zum anderen über die wirtschaftliche Benachteiligung und Beeinträchtigung ihrer konfessionellen Autonomie definiert hatte, waren andere Aspekte des Identitätsbildungsprozesses, etwa geographische oder kulturelle Komponenten, kaum oder nur schwach in Erscheinung getreten. „Je mehr die Pfalz jedoch ihren politischen Exzeptionalismus verlor, desto wichtiger wurden die anderen Bestandteile der regionalen Identität […]. Dies änderte sich ab den 1850er Jahren des 19. Jahrhunderts, in denen die Begeisterung für Regionalgeschichte, Volkskunde und Landschaft erwachte“.55 Diese neue Begeisterung für die „Heimat“ führte zu einer Neuorientierung der Region – weg von ihrem politischen und damit französischen Erbe und gerade unter der Regie der Nationalliberalen hin zur deutschen Kultur.56 Einfluss auf die Selbstzuschreibung der Pfälzer gewann dabei Wilhelm Heinrich Riehls im Auftrag Königs Max II. entstandene Studie „Die Pfälzer“,57 die in der Folgezeit begeistert rezipiert wurde, und die Erfindung des Pfälzer Volkslebens einleitete, dem Ludwig Schandein in der 1868 von Riehl herausgegebenen „Bavaria“58 oder August Becker in seiner Studie „Die Pfalz und die Pfälzer“59 größere Leserkreise erschlossen. Weite Verbreitung fand all dies in den bis zum Ersten Weltkrieg entstehenden Vereinen, allen voran dem 1869 neu gegründeten „Historischen Verein der Pfalz“,60 und last but not least in dem nach 1900 entstehenden „Pfälzerwald-Verein“,61 dessen Ziele sich nicht nur in Wandern, Naturschutz oder Tourismuswerbung erschöpften, sondern der auch die „Pflege des Heimatsinns“ zu seinen vornehmsten Aufgaben rechnete. Was den Pfälzerwald-Verein vor anderen Vereinen wie den Schwarzwaldoder den Odenwaldvereinen auszeichnete, war die symbolisch vollzogene Kongruenz zwischen der Pfalz als politischem Gebilde auf der einen sowie ihrer Geographie und Natur auf der anderen Seite. Damit einher ging um die Jahrhundertwende der Versuch, die Pfälzer Identität im bäuerlichen Leben der Region zu verankern, zu einem Zeitpunkt, als dies für einen schnell wachsenden Bevölkerungsteil in weite Ferne rückte, kam doch die Mehrzahl der Vereinsmitglieder aus den schnell wachsenden Städten, allen voran Ludwigshafen und Mannheim. Nichts lag näher, als parallel die Mundartdichtung zu propagieren. Und ebenso wenig überrascht, dass man 54

Applegate, S. 41. Applegate, S. 44. 56 Vgl. Applegate, S. 32 – 74. 57 Riehl, S. 13 ff. 58 Schandein, S. 191 – 242. 59 Becker, S. 1 ff. 60 Applegate, S. 69. 61 Applegate, S. 82. 55

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zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch das von Riehl eingehend beschriebene Fehlen einer regionalen Tracht als möglichst zu tilgenden Makel empfand und eine Pfälzer Tracht kreierte,62 deren Künstlichkeit gerade ihre symbolische Funktion für die Pfälzer Gesellschaft ebenso aufscheinen ließ wie die von August Croissant 1907 für den Billigheimer Purzelmarkt entworfene schwarz-goldene mit einem Löwen geschmückte Pfälzer Fahne. Nichts lässt den Wandel im pfalz-bayerischen Verhältnis besser aufscheinen, als der um die Fahne entbrennende Streit, der schließlich zu ihrem Verbot durch den Bayerischen Staatsminister des königlichen Hauses und des Äußeren führte.63 All dies unterstreicht, in welchem Maße die regionale Identität, die sich zunächst vorwiegend politisch definiert hatte, in der Heimatbewegung der Jahrhundertwende entpolitisiert wurde und in welchem Maße die Pfälzer danach strebten, zu einer historischen Kulturlandschaft mit einem eigenständigen Volksleben zu avancieren und ihr „Sondertum“ im Sinne Riehls gerade als provinzielles neu zu definieren. Die „politische Landschaft“ der Vormärzjahre war am Vorabend des Ersten Weltkriegs in eine historisch und kulturell definierte Landschaft, ja sogar in die Heimat eines vermeintlich eigenen deutschen Stammes, umgedeutet worden, der sich neben Bayern, Schwaben oder Franken zu behaupten wusste. Je näher der 100. Jahrestag des Anschlusses der Pfalz an das Königreich rückte, umso selbstverständlicher kam der Spruch „Bayern und Pfalz – Gott erhalt’s“64 viel mehr Pfälzern über die Lippen als achtzig oder sechzig Jahre zuvor. Quellen- und Literaturverzeichnis Applegate, Celia: Zwischen Heimat und Nation. Die pfälzische Identität im 19. und 20. Jahrhundert, Kaiserslautern 2007. Bauer, Richard: Prinzregentenzeit. München und die Münchner in Fotografien, München 1988. Becker, August: Die Pfalz und die Pfälzer (1858), ND Landau 1983. Bischof, Franz Xaver: Kulturkampf in Bayern. Bayerisches Staatskirchentum versus Ultramontanismus, in: Götterdämmerung. König Ludwig II. und seine Zeit, hrsg. von Peter Wolf, Augsburg 2011, S. 125 – 128. Bräunche, Ernst Otto: Parteien und Reichstagswahlen in der Rheinpfalz von der Reichsgründung 1871 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914, Speyer 1982. Braun-Jäppelt, Barbara: Prinzregent Luitpold von Bayern in seinen Denkmälern, Bamberg 1997. 62

Applegate, S. 101 f. Vgl. Neubecker, S. 50 – 67. 64 Die Herkunft dieses Wahlspruchs liegt im Dunkeln. Nachzuweisen ist er in verschiedenen Werken des aus Tirol stammenden bayerischen Historiographen und Diplomaten Joseph (Freiherr) von Hormayr (zu Hortenburg) (1782 – 1848); vgl. Hormayr, Freskengemälde, S. 65 und Hormayr, Bayern und Pfalz, S. 1 ff. 63

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Die Entwicklung der Verwaltung und Kommunalverfassung in der Pfalz und im rechtsrheinischen Bayern Von Franz Maier, Speyer I. Verwaltung und Kommunalverfassung in den wittelsbachischen Fürstentümern vor der Französischen Revolution Ein Vergleich der Entwicklung von Verwaltung und Kommunalverfassung in der Pfalz und im rechtsrheinischen Bayern kann nicht nur von den historischen Fixdaten 1814 oder 1816 ausgehen. Dafür ist es sicher notwendig, auch die Entwicklung der vorangegangenen sechs Jahrhunderte kurz in den Blick zu nehmen – Jahrhunderte, in denen das Herzogtum Bayern und die Pfalzgrafschaft bei Rhein ab 1214 von einer gemeinsamen Dynastie regiert wurden. Durch den Hausvertrag von Pavia 1329 kam es zwar zur Aufteilung der wittelsbachischen Dynastie in eine pfälzische und eine bayerische Linie, doch bei der damaligen Aufteilung des Territoriums erhielt die pfälzische Linie wegen der unterschiedlichen Größenverhältnisse auch einen Teil des Herzogtums Bayern, für den sich dann allmählich der Name „Oberpfalz“ einbürgerte. Diese Lösung erwies sich als sehr dauerhaft, ungeachtet aller späteren Grenzveränderungen. Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte beherrschte die bayerische Linie der Wittelsbacher das ganze Herzogtum Bayern. Und der historische Zufall wollte es, dass die beiden Territorien im Jahr 1777 unter einem Kurfürsten wiedervereinigt wurden, der seine Wurzeln in diesem pfälzischen Teil des Herzogtums Bayern hatte, nämlich in Sulzbach in der Oberpfalz.1 Betrachtet man sich die Verwaltungsstrukturen in den beiden Territorien Bayern und Pfalz im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, so wird man einige wesentliche Unterschiede feststellen, was zunächst nicht besonders verwunderlich ist.2 Bemerkenswert aber ist, dass die Oberpfalz trotz ihrer dreihundertjährigen Zugehörigkeit zur Kurpfalz von 1329 bis 1628 in ihrer Verwaltungsstruktur bayerisch geprägt blieb, was darauf hindeutet, dass diese wesentlichen Unterschiede zwischen Bayern und der Pfalz bereits im Hochmittelalter angelegt worden sind. Worin bestanden nun diese Unterschiede?

1 2

Vgl. hierzu allgemein Spindler, Handbuch, sowie zur Pfalz Schaab. Vgl. hierzu Press, S. 552 ff.

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1. Herzogtum Bayern Die Wittelsbacher waren seit 1180 im Besitz der bayerischen Herzogswürde, was sie in die Lage versetzte, im Transformationsprozess des 13. Jahrhunderts vom hochmittelalterlichen Personenverbandsstaat hin zum spätmittelalterlichen Territorialstaat ihre Landesherrschaft gegen den Widerstand des Hochadels zu konsolidieren, wobei das Königtum als Konkurrent weitgehend ausfiel, da dessen Interessenschwerpunkte in anderen Gebieten des Reiches lagen. Grundlage der Landesherrschaft der bayerischen Herzöge war die Hochgerichtsbarkeit, die von den herzoglichen Landgerichten ausgeübt wurde. Unterhalb der Ebene dieser Landgerichte gab es die sogenannten Hofmarken, Bezirke von adligen oder geistlichen Grundherrschaften, die innerhalb ihrer Grenzen die niedere Gerichtsbarkeit ausübten sowie das Polizeiund Steuererhebungsrecht innehatten. In diesen Hofmarken gingen auch die Dorfgerichte auf, die es im Spätmittelalter in Bayern noch gegeben hatte, wenn auch nur in relativ geringer Anzahl. Daneben gab es aber umfangreiche Gebiete, in denen die Bewohner keiner Hofmark, sondern direkt dem herzoglichen Landgericht unterstanden, wo das Landgericht also neben der Hochgerichtsbarkeit auch alle anderen gerichtlichen und herrschaftlichen Rechte wahrnahm.3 Die adligen Besitzer der Hofmarken wurden als Landsassen bezeichnet und bildeten zusammen mit den Prälaten und den gefreiten Städten und Märkten den Landtag (Landschaft) des Herzogtums Bayern. Die Entstehung einer gemeindlichen Selbstverwaltung in den herzoglichen Städten und Märkten war ein Prozess, der sich vom 13. Jahrhundert bis ins 15. Jahrhundert hinzog und die Kommunen rechtlich den Hofmarken gleichstellte. Dagegen war im ländlichen Bereich die politische Gemeinde als Selbstverwaltungskörper und unterstes Organ der Staatsverwaltung dem bayerischen Recht unbekannt. Für die Wahrnehmung hoheitsrechtlicher Aufgaben im Bereich der Landesverteidigung und Steuererhebung war die Bauernschaft des flachen Landes in „Obmannschaften“ gegliedert, denen in den größeren Städten die Viertel entsprachen. Je nach der Siedlungsstruktur umfasste eine solche Obmannschaft entweder ein einziges Dorf oder eine größere Anzahl von Weilern und Einzelhöfen, wobei sich die Grenze dann normalerweise am Pfarrsprengel orientierte. Gemeinde im rechtlichen Sinn war im Herzogtum Bayern nicht die Einwohnerschaft eines Dorfes oder einer Obmannschaft, sondern die Bauernschaft eines ganzen Landgerichts, die „Landgerichtsgemeinde“.4 Mit der Abschaffung des Prälatenstandes infolge der Säkularisation 1803 und der gleichzeitigen Beseitigung der magistratischen Gerichtsbarkeit und Polizei in den Städten und Märkten erfolgten die ersten Schritte zur Auflösung der alten landständischen Verfassung des Herzogtums Bayern. Den Todesstoß erhielt diese 1807 durch die Aufhebung der Steuerprivilegien der Stände nach der Erhebung Bayerns zum Königreich. Die formelle Abschaffung erfolgte dann durch die erste bayerische Verfas3 4

Press, S. 592 – 596. Lieberich, S. 209.

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sung von 1808. Dem bisherigen landsässigen Adel wurde dabei aber seine alte hofmärkische Gerichtsbarkeit in Form der neuen Patrimonialgerichte belassen. Zugleich wurde mit dem Gemeindeedikt von 1808 auf dem Land ein flächendeckendes Netz von „Ruralgemeinden“ gebildet, die an die Stelle der bisherigen Obmannschaften traten. Die geringfügigen Selbstverwaltungsrechte, die diese noch gehabt hatten, fielen bei den Ruralgemeinden nun ganz weg und wurden durch eine totale Staatsaufsicht ersetzt.5 2. Pfalzgrafschaft bei Rhein Im Unterschied zu Bayern fehlte in der rheinischen Pfalzgrafschaft der landsässige Adel und somit auch das Phänomen der hofmärkischen Gerichtsbarkeit. Der Adel im Bereich der Pfalz verstand es im Verlauf des Spätmittelalters, sich unter Ausnutzung seiner engen Bindungen an das Königtum einer Einbindung in den pfälzischen Territorialstaat zu widersetzen und sich stattdessen im Rahmen der Reichsritterschaft zu organisieren. Kennzeichnend für die Herausbildung des pfälzischen Territoriums im 15. Jahrhundert war eine im Vergleich zu Bayern gegenläufige Entwicklung: Hier war Grundherrschaft nur selten mit der Gerichtsbarkeit über diesen Besitz verbunden, und die wenigen Hubgerichte, bei denen dies der Fall war, wurden von den Pfalzgrafen systematisch zurückgedrängt. Dafür war man bestrebt, auf der untersten Ebene an die Stelle der vereinzelten Gerichtsgewalten einheitliche Dorfgerichte zu setzen, womit die bäuerliche Gemeinde zum Partner der fürstlichen Verwaltung wurde. Der Schultheiß als Vorsteher des Dorfgerichts war nicht mehr nur herrschaftlicher Amtsträger, sondern auch Repräsentant der Gemeinde. Im linksrheinischen Bereich umfassten die Befugnisse der Dorfgerichte oft sogar die hohe Gerichtsbarkeit, was in Bayern undenkbar gewesen wäre. Im Gegensatz zu Bayern war in der Pfalz daher auch nicht die hohe Gerichtsbarkeit das entscheidende Kriterium für die Landesherrschaft, sondern das, was man als „Zwing und Bann“ bezeichnete, nämlich die Befugnis, rechtsverbindliche Vorschriften und Anordnungen im Bereich der niederen Gerichtsbarkeit zu erlassen. Dementsprechend war die Pfalz auf der unteren Verwaltungsebene auch nicht in Landgerichte gegliedert, wie wir sie aus Bayern und der Oberpfalz kennen, sondern in Ämter, die eine Zusammenfassung der pfalzgräflichen Rechte unterschiedlichster Provenienz in einem bestimmten territorialen Bezirk darstellten.6 Ein weiteres wichtiges Kriterium für die Landesherrschaft war in der Pfalz das Recht, von den Untertanen die Schatzung zu erheben, also das Recht der Besteuerung. Im Gegensatz zur bayerischen Landsteuer, die von den Landständen erhoben wurde, zog der Pfalzgraf in seinem Territorium die Schatzung in Eigenregie ein, da es

5 6

Lieberich, S. 211 – 215. Schaab, Band 1, S. 189 ff.

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hier wegen der fehlenden Einbeziehung des Adels ins Territorium nicht zur Herausbildung von Landständen gekommen war.7 II. Umbruch und Neubeginn: Verwaltungsmodernisierung in Bayern und der Pfalz 1798 bis 1848 1. Einführung des französischen Verwaltungssystems im linksrheinischen Gebiet Nach der Eroberung der linkrheinischen Pfalz durch französische Truppen wurde ab 1798 auch dort, wie in allen deutschen Gebieten auf dem ganzen linken Rheinufer, das Verwaltungssystem der Französischen Republik eingeführt, was einen völligen Bruch mit den Verhältnissen des Ancien Regime bedeutete. Der pfalzbayerische Kurfürst verlor ebenso wie alle anderen Reichsstände seine Territorien in diesem Gebiet, die jetzt durch Verwaltungseinheiten in völlig neu gezogenen Grenzen ersetzt wurden: Von Präfekten geleitete Departements, die wiederum in Arrondissements untergliedert waren, auf der unteren Ebene die Gemeinden (Mairien). Auf allen drei Verwaltungsebenen gab es Gremien (Räte) zur Unterstützung der leitenden Beamten, die jedoch nur einmal jährlich für eine gewisse Zeit zusammentraten. Es wurden zwar Wahlversammlungen auf den drei Verwaltungsebenen eingeführt, deren Wahlrecht aber tatsächlich nur ein Vorschlagsrecht war und außerdem auf die Notabeln, d. h. die vermögenden Bürger beschränkt war. Die alten Privilegien von Adel und Klerus waren jetzt zwar abgeschafft, doch das autokratische System des Französischen Kaiserreiches unter Napoleon gewährleistete, dass die alten Eliten auch weiterhin einen großen Teil der öffentlichen Ämter besetzten.8 2. Neuorganisation der Verwaltung im Königreich Bayern unter Max I. Joseph Nach der Niederlage Napoleons gegen die alliierten Mächte 1814 und als Ergebnis der Verhandlungen auf dem Wiener Kongress und des nachfolgenden Münchner Vertrags mit Österreich erhielt Bayern bei der Aufteilung der französischen Rheinlande letztendlich im Jahr 1816 ein Gebiet in deren südöstlichem Bereich, das jetzt als „Rheinkreis“ dem bayerischen Staatsverband einverleibt wurde.9 Das bayerische Staatsgebiet rechts des Rheins war bereits im Verlauf der umfangreichen Verwaltungsreformen des Jahres 1808 in eine Anzahl von Kreisen eingeteilt worden, die nach dem Vorbild der französischen Departements nach Flussnamen benannt waren und deren Grenzen ebenfalls völlig neu, ohne jeden Bezug auf historische Ge7

Schaab, Band 1, S. 201 f. Vgl. hierzu Rummel, S. 179 – 188. 9 Volz, S. 1679 f.

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gebenheiten, gezogen wurden. Die Kreise standen unter der Leitung von Generalkommissären, ein beratendes Gremium aus der Bevölkerung des Kreises war im Gegensatz zum französischen System nicht vorgesehen. Die gleichzeitig erlassene erste Verfassung des Königreichs Bayern versprach zwar die Bildung einer „Nationalrepräsentation“, doch wurde diese nicht einberufen.10 1817 wurden in allen acht bayerischen Kreisen, also auch im neuen Rheinkreis, Regierungen als Verwaltungsspitze auf der mittleren Ebene geschaffen. Entscheidend war dabei, dass man sich in München aus Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten der neuen Untertanen entschloss, im Rheinkreis den aus französischer Zeit noch bestehenden Departementalrat unter der Bezeichnung „Landrat“ zu übernehmen. Auf der unteren Verwaltungsebene wurden die von den Franzosen übernommenen vier Arrondissements nicht weitergeführt, sondern im Jahr 1818 durch eine kleinteiligere Gliederung in 12 Landkommissariate ersetzt. Die 31 Kantone aus französischer Zeit bestanden dagegen als Gerichtsbehörden auch weiterhin. Die von den Franzosen eingeführte Trennung von Justiz und Verwaltung wurde beibehalten.11 Somit unterschied sich die Verwaltung des Rheinkreises in diesen beiden, vom französischen System übernommenen Punkten (Repräsentation auf Kreisebene und Trennung von Justiz und Verwaltung auf der unteren Ebene) wesentlich von den Verhältnissen im rechtsrheinischen Bayern. Mit der neuen Verfassung des Königreichs wurde 1818 zwar eine gesamtbayerische Ständeversammlung eingerichtet, wobei der Landrat für den Rheinkreis als Unikum innerhalb Bayerns beibehalten wurde. Allerdings wurde 1820 durch Anpassung an das Wahlrecht für die Ständeversammlung auch für den Landrat des Rheinkreises die Wahlordnung dahingehend geändert, dass künftig die Wahlmänner aus den beiden Klassen der Gemeinden und der Grundeigentümer kommen mussten, dazu wurde das Mindestalter für die Wählbarkeit von 25 auf 30 Jahre heraufgesetzt. Nach dem Vorbild des Rheinkreises sollten auch in den rechtsrheinischen Kreisen des Königreiches Bayern Landräte eingeführt werden, doch scheiterte ein erster Versuch im Jahr 1822 am Widerstand der Ständeversammlung. Erst nach dem Regierungsantritt Ludwigs I. kam dieser Plan dann im Jahr 1828 zur Ausführung. Schon als Kronprinz hatte Ludwig sich intensiv für dieses Projekt eingesetzt und 1821 dem bayerischen Finanzminister Lerchenfeld gegenüber seiner Enttäuschung darüber Ausdruck verliehen, dass die geplanten neuen Landratsversammlungen nur beratende Funktionen haben sollten. Er pries demgegenüber den im Rheinkreis bestehenden Landrat nach französischem Vorbild mit pathetischen Worten: „Küssen hätte ich die Männer mögen, so gefiel Mir fast alles, was sie sprachen.“12 1828 wurden dann in allen acht bayerischen Kreisen nach einheitlichem Muster organisierte Landräte eingeführt. Da man sich dabei allerdings nur mit einigen Ein10

Weis, S. 51 – 58. Volz, S. 1681 ff. 12 Rummel, S. 193. 11

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schränkungen am Vorbild des Rheinkreises orientiert hatte, bedeutete dies für den dortigen Landrat, dass er einige Änderungen in Kauf nehmen musste. Voraussetzung für die Wählbarkeit war jetzt die Zugehörigkeit zu einer der drei christlichen Religionen und ein Mindestvermögen, wodurch Juden und ärmere Bevölkerungsschichten ausgeschlossen wurden. Nach dem Vorbild des Wahlrechts zur Ständeversammlung erfolgten die Wahlen zum Landrat jetzt in vier getrennten Kollegien: Adel, Geistlichkeit, Großgrundbesitzer und Städte. Da es im Rheinkreis keinen Adel mit eigener Gerichtsbarkeit mehr gab, kam dort zu den bisherigen beiden Kollegien der Großgrundbesitzer und der Gemeinden nur noch das dritte Kollegium der Geistlichen hinzu, doch auch hiergegen äußerte der Landrat des Rheinkreises im Jahr 1829 seine Bedenken: „Möchten Personen, deren Reich nicht von dieser Welt ist, nicht allzusehr auf die Regierung dieser Welt sich Einfluß verschaffen wollen!“13 3. Reformansätze unter König Ludwig I. Im Jahr 1837 verfügte König Ludwig I. eine Umbenennung und neue Grenzziehung bei den acht Kreisen des Königreiches, womit er den Rationalismus der Montgelasschen Verwaltungseinteilung durch eine Rückbesinnung auf historische Verhältnisse ersetzen wollte. Der Rheinkreis erhielt bei dieser Gelegenheit den historischen Namen „Pfalz“. Wegen seiner geographischen Lage als Exklave des Königreiches war der Kreis Pfalz aber nicht von Grenzänderungen betroffen – ebenso wenig wie der ebenfalls erst 1814 an Bayern gekommene Untermainkreis, der jetzt den Namen „Unterfranken und Aschaffenburg“ erhielt, – im Gegensatz zu den übrigen sechs Kreisen, die zusätzlich zu den Umbenennungen auch in ihren Gebietszuschnitten teilweise stark verändert wurden.14 Weitere Reformvorhaben aus dem Beginn der Regierungszeit Ludwigs I., darunter v. a. die Trennung von Justiz und Verwaltung auf der Ebene der Landgerichte im rechtsrheinischen Bayern, kamen nicht weiter voran, da der König in späteren Jahren die damit verbundenen Kosten scheute und nach den Erfahrungen mit der liberalen Bewegung im Rheinkreis negative Auswirkungen auf die Staatsautorität fürchtete. Erst die revolutionäre Entwicklung des Jahres 1848 gab den Anstoß zu mehr Bewegung in diese Richtung. Nachdem die Münchner Bürgerschaft im März 1848 vom König u. a. Pressefreiheit und eine Neugestaltung des Wahlrechts zur Abgeordnetenkammer forderte, bestimmte Ludwig I. in seiner Märzproklamation, dass dem Landtag entsprechende Gesetzentwürfe vorzulegen seien. Er selbst dankte aber wenige Tage später zugunsten seines Sohnes Maximilian II. ab, da die neuen Gesetzesvorhaben nicht seiner Vorstellung einer Monarchie entsprachen.15

13

Rummel, S. 194. Vgl. hierzu Spindler, Geschichtsatlas, Karten 36 d und 40 a und b mit Erläuterungstext S. 114 f. 15 Vgl. hierzu Glaser. 14

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III. Reform der Staatsverwaltung im Königreich Bayern 1848 bis 1862 1. Auswirkungen der Revolution von 1848/49: Repräsentationen der Bevölkerung auf allen Verwaltungsebenen Auf der Grundlage der Märzproklamation verabschiedete der bayerische Landtag bereits im Juni 1848 entsprechende Gesetze, die tief in die bisherige Verfassung und Verwaltungsstruktur des rechtsrheinischen Bayern eingriffen. An erster Stelle ist hier die Abschaffung der Grundherrschaft und der grundherrlichen Gerichtsbarkeit des Adels in Form der fast 800 Patrimonialgerichte zu nennen, die eine jahrhundertealte Tradition beendete. Mit dem sogenannten Grundlagengesetz wurde die Trennung von Justiz und Verwaltung auf der unteren Ebene der Landgerichte angeordnet, doch sollte es noch 14 Jahre dauern, bis diese Maßnahmen umgesetzt wurden, da die bayerische Staatsregierung aus den schon genannten Gründen dagegen eingestellt war.16 Die soeben aufgezählten Reformen betrafen nur die rechtsrheinischen Kreise Bayerns, da sie in der Pfalz bereits seit der Zeit der französischen Herrschaft realisiert waren. Die pfälzischen Reformer verfolgten daher vorrangig andersgeartete oder weitergehende Bestrebungen, die vor allem in Richtung auf eine Reform der deutschen Bundesverfassung mit dem Ziel einer politischen Einigung Deutschlands gingen. Der Widerstand des bayerischen Königs gegen diese Bestrebungen führte schließlich im Mai 1849 zur Bildung einer „Provisorischen Regierung der Pfalz“, die faktisch ihre Unabhängigkeit von Bayern erklärte. Doch bereits nach einem Monat gelang es der königlich bayerischen Regierung in der Pfalz, die sich zwischenzeitlich in die Festung Germersheim zurückgezogen hatte, mit Hilfe preußischer Truppen die Kontrolle über die Pfalz zurückzugewinnen und die Aufständischen zu vertreiben.17 Mit einem neuen Wahlgesetz für die Ständeversammlung des Königreichs Bayern, ab jetzt als „Landtag“ bezeichnet, wurde im Rahmen der Reformen des Jahres 1848 die Einteilung der Abgeordnetenkammer in vier Kollegien aufgehoben und das Wahlrecht weitgehend liberalisiert, wodurch diese erst zu einer richtigen Volksvertretung wurde. Allerdings ging man bei der Reform der Landräte, also der Regionalparlamente auf der mittleren Verwaltungsebene der Kreise, nicht so weit: Das neue Landratsgesetz von 1852 änderte nichts an der überkommenen Einteilung in Kollegien, welche hier bis zum Ende der Monarchie im Jahr 1918 beibehalten wurde. Die Änderung bestand lediglich darin, dass der Adel nach dem Verlust seiner eigenen Gerichtsbarkeit jetzt mit den übrigen Großgrundbesitzern in einem Kollegium zusammengeschlossen wurde. Außerdem wurde die Repräsentation der Großgrundbesitzer im Verhältnis zur Repräsentation der Gemeinden stark geschwächt. Im pfälzischen Landrat kehrte sich dieses Verhältnis von früher 15:6 auf jetzt 4:16 um. Von größerer 16 17

Volkert, S. 509 f. Vgl. hierzu Fenske.

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Bedeutung als diese eher kosmetischen Änderungen war die Bildung von Kreisgemeinden als Selbstverwaltungskörperschaften mit erweiterten Zuständigkeiten für die Kreishaushalte, als deren Repräsentation die Landräte fortan fungierten. Zur Wahrnehmung dieser Aufgaben wurde in jedem Kreis von dem nur einmal im Jahr zusammentretenden Landrat ein ständiger Ausschuss aus sechs Mitgliedern gewählt, der von der Kreisregierung einberufen werden musste. Nach gleichem Muster wurden auf der unteren Verwaltungsebene der rechtsrheinischen Landgerichte und der pfälzischen Kantone Distriktsgemeinden als Selbstverwaltungskörperschaften gebildet, die von Distriktsräten repräsentiert wurden. Auch hier waren Vertreter der Großgrundbesitzer und der zum Distrikt gehörigen Gemeinden im Zahlenverhältnis 3:8 vertreten. Der Distriktsrat versammelte sich einmal im Jahr auf Einberufung und unter Leitung des Distrikts-Verwaltungsbeamten. Im rechtsrheinischen Bayern war dies der Landrichter, in der Pfalz der Landkommissär, welcher somit für mehrere Distriktsräte zuständig war, da in der Pfalz jeder Kanton eine eigene Distriktsgemeinde bildete. Auch hier wurde aus der Mitte des Distriktsrates ein ständiger Ausschuss gewählt, der für die laufenden Geschäfte zuständig war.18 Somit gab es seit dem Jahr 1852 im Königreich Bayern eine durchgehende Repräsentation nach dem gleichen Muster von der unteren über die mittlere bis zur höchsten Verwaltungsebene. Auf der unteren Ebene die Distriktsräte, die den königlichen Landrichtern bzw. in der Pfalz den Landkommissären gegenüberstanden, auf der mittleren Ebene die Landräte gegenüber den königlichen Kreisregierungen, auf der höchsten Ebene der Landtag gegenüber dem König selbst und dessen Ministern. Eine weitere Folge der Einführung der Distriktsräte war, dass nun erstmals auch im rechtsrheinischen Bayern die Landgemeinden in der Repräsentation auf Kreisebene, also in den Landräten, vertreten waren, was bis dahin nicht der Fall gewesen war. 2. Trennung von Justiz und Verwaltung auch im rechtsrheinischen Bayern Vollendet wurden diese Verwaltungsreformen aber erst durch das Gerichtsverfassungsgesetz von 1861, das nun endlich die bereits seit Jahrzehnten geplante Trennung von Justiz und Verwaltung auf der unteren Ebene auch im rechtsrheinischen Bayern brachte und damit die Voraussetzungen für eine Vereinheitlichung der Verwaltung im ganzen Königreich Bayern schuf. Neben den weiterhin bestehenden Landgerichten wurden im folgenden Jahr nach dem Vorbild der in der Pfalz schon seit 1818 bestehenden Landkommissariate nun auch dort reine Verwaltungsbehörden eingerichtet, die in der Regel mehrere Landgerichte umfassten. Als einheitliche Bezeichnung für diese Behörden wurde nun bayernweit der Name „Bezirksamt“ eingeführt, womit ab 1862 auch die bisherigen Landkommissariate der Pfalz so bezeichnet 18 Rummel, S. 207 f.; das dort genannte Zahlenverhältnis zwischen Gemeindevertretern und Großgrundbesitzern in den Distriktsräten ist von „5:3“ auf „8:3“ zu korrigieren.

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wurden.19 Nicht in die neuen Bezirksämter einbezogen wurden jedoch diejenigen Städte im rechtsrheinischen Bayern, die direkt den Kreisregierungen unterstanden. Da solche „kreisunmittelbaren“ Städte der französischen Verwaltungspraxis fremd waren (und bis heute sind), gab es sie in der Pfalz zu diesem Zeitpunkt nicht. Letztendlich kam darin die im rechtsrheinischen Bayern beibehaltene traditionelle Unterscheidung zwischen städtischen und ländlichen Gemeinden zum Ausdruck, die in Frankreich im Zug der Revolution von 1789 abgeschafft worden war. IV. Kommunalverfassung 1. Entwicklung bis 1869 Mit dem Gemeindeedikt von 1818 hatten die Gemeinden im rechtsrheinischen Bayern mehr Freiheit in der Vermögensverwaltung und das Recht der freien Wahl ihrer Vertretungsorgane erhalten. Eingeteilt waren die Gemeinden in Städte bzw. größere Märkte und Ruralgemeinden (Landgemeinden). Die Städte und größeren Märkte wurden durch einen bürgerlichen Magistrat und einen Gemeindeausschuss verwaltet. Der Magistrat bestand in kleineren Städten aus einem Bürgermeister, einem Stadtschreiber und sechs bis acht Bürgern, in größeren Städten kamen noch ein zusätzlicher Bürgermeister, rechtskundige Räte und eventuell ein technischer Baurat hinzu. Der Gemeindeausschuss bestand aus den Gemeindebevollmächtigten, die durch ein Wahlmännersystem von den wahlberechtigten Staatsbürgern gewählt wurden und aus dem höchstbesteuerten Teil der Bevölkerung kommen mussten. Der Gemeindeausschuss wählte wiederum die Mitglieder des Magistrats. Bei den Landgemeinden war ein Magistrat nicht vorgesehen. Deren Verwaltung erfolgte nur durch einen direkt gewählten Gemeindeausschuss, der sich aus dem Gemeindevorsteher, dem Gemeindepfleger, dem Stiftungspfleger und drei bis fünf Gemeindebevollmächtigten zusammensetzte. Die Staatsaufsicht über die Gemeinden, verbunden mit der Bestätigung der gewählten Magistrate bzw. Gemeindeausschüsse in den Landgemeinden, blieb allerdings unverändert bestehen, wahrgenommen bei den größeren Städten durch die Kreisregierungen, bei den kleineren Städten und Landgemeinden durch die zuständigen Landgerichte (bzw. bis 1848 die Gutsherrschaften).20 Im Rheinkreis dagegen hatte man die französische Kommunalverfassung zunächst noch beibehalten. Dafür wurde aber 1819 auch dort die Wahl der Gemeinderäte durch die Bürger eingeführt – ein deutlicher Fortschritt gegenüber der französischen Kommunalverfassung, nach der diese noch von oben ernannt worden waren, weswegen der Landesdeputierte und spätere Speyerer Regierungsrat Johann Löw sie 1816 als ein „militärisches System blinden Gehorsams“ bezeichnet hatte. Allerdings blieb es dabei, dass die Ernennung der Bürgermeister und Adjunkten aus den gewählten Mitgliedern des Gemeinderats durch die Kreisregierung erfolgte. Beibehalten 19 20

Rall, S. 246. Gesetzblatt für das Königreich Baiern 1818, Sp. 49 ff.

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wurden darüber hinaus die in französischer Zeit eingeführten Mairie-Verbände, d. h. die Zusammenfassung mehrerer kleiner Gemeinden zu einer Bürgermeisterei, wie sie wegen des zersplitterten Siedlungsbildes v. a. in der Westpfalz vorkamen.21 2. Die Gemeindeordnungen von 1869 Nach der im Jahr 1862 vollendeten Vereinheitlichung der staatlichen Verwaltung im Königreich Bayern nahm man auch eine Reform der Kommunalverfassung in Angriff, doch entschied man sich hier letztendlich gegen eine Vereinheitlichung, so dass im Jahr 1869 zwei unterschiedliche neue Gemeindeordnungen erlassen wurden, eine für die „Landestheile diesseits des Rheins“ und eine für die Pfalz.22 Der entscheidende Unterschied bestand auch weiterhin darin, dass die im rechtsrheinischen Bayern gebräuchliche rechtliche Trennung zwischen Stadt- und Landgemeinden in der Pfalz nicht existierte. Darüber hinaus gab es aber noch weitere Unterschiede, die bis zum Ende der Monarchie bestehen blieben (offiziell behielten die beiden parallelen Gemeindeordnungen von 1869 ihre Gültigkeit bis zum Jahr 1928). Ein fundamentaler Unterschied bestand in der Behandlung des Bürgerrechts, mit dem auch das Wahlrecht verbunden war. Die bayerische Unterscheidung von „Bürgerrecht“ und „Heimatrecht“ wurde jetzt auch in der Pfalz übernommen. Mit dem Heimatrecht waren die Aufenthaltserlaubnis und ein Anspruch auf finanzielle Unterstützung durch die Gemeinde im Fall der Bedürftigkeit verbunden; das Bürgerrecht wurde jetzt auf die volljährigen „selbständigen“ Männer (d. h. Haushaltsvorstände) mit Heimatrecht in der Gemeinde beschränkt, nachdem es bis dahin noch alle volljährigen männlichen Einwohner besessen hatten. Noch weiter gingen die Einschränkungen allerdings im rechtsrheinischen Bayern: Hier musste das Bürgerrecht extra durch die Gemeindeverwaltung verliehen werden, und diese konnte dafür eine unter Umständen erhebliche Aufnahmegebühr verlangen, was natürlich für weniger vermögende Einwohner eine hohe Hürde darstellte. Unter gewissen Umständen konnten auch juristische Personen und privatrechtliche Vereinigungen das Bürgerrecht erhalten. Mit dem Bürgerrecht war eine Teilhabe an den Gemeindenutzungen verbunden (wofür die Gemeinde aber auch wieder eine gesonderte Gebühr erheben konnte), dafür bestand allerdings die Verpflichtung, zur Deckung der Gemeindebedürfnisse beizutragen und Gemeindeämter anzunehmen. Dies lief darauf hinaus, dass Bürger, die in ein Gemeindeamt gewählt worden waren, dieses nur mit wirklich triftigen Gründen verweigern oder darauf verzichten konnten, andernfalls drohten heftige Geldstrafen, die in die Gemeindekasse flossen. Außerdem waren sie zu Hand- und Spanndiensten für die Gemeinde verpflichtet, die allerdings auch von Stellvertretern abgeleistet werden konnten. Auf Antrag konnten diese Dienste durch eine gleichwertige Geldabgabe abgelöst werden.

21 22

Rummel, S. 192. Gesetz-Blatt für das Königeich Bayern 1869, Sp. 865 ff.

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In der Pfalz hingegen war es genau umgekehrt: Hier war bei Umlagen zur Finanzierung von Gemeindeausgaben die Geldleistung der Bürger der Normalfall, welche auf Antrag in Einzelfällen durch Fuhr- oder Handarbeiten für die Gemeinde abgeleistet werden konnte. Bürger, die in ein Gemeindeamt gewählt worden waren, konnten darauf jederzeit wieder verzichten und aus dem Gemeinderat austreten. Verglichen mit der Pfalz war also im rechtsrheinischen Bayern das politische Mitspracherecht bis zum Ende der Monarchie ein Privileg, das allerdings teuer erkauft werden musste, sowohl hinsichtlich der direkt mit der Aufnahme als Bürger verbundenen Kosten als auch hinsichtlich der damit dauerhaft verbundenen Verpflichtungen finanzieller, aber auch zeitlicher Natur. In der Art und Weise der Gemeindeverwaltung brachten die Gemeindeordnungen von 1869 keine umwälzenden Änderungen: Im rechtsrheinischen Bereich blieb es bei der städtischen Verfassung mit dem Magistrat als der „Stadtregierung“ und ihm gegenüber den Gemeindebevollmächtigten als Vertretern der Gemeinde, bei der Landgemeindeverfassung parallel dazu der Gemeindeausschuss und demgegenüber die Gemeindeversammlung. Die Pfalz behielt ihre einheitliche Kommunalverfassung mit Gemeinderäten unter dem Vorsitz von Bürgermeister und Adjunkt. Im Gegensatz zum rechtsrheinischen Bayern, wo die Bürgermeister und Beigeordneten in getrennten Wahlgängen von den Bürgern direkt gewählt wurden, war in der Pfalz nach wie vor die für die „Rheinische Bürgermeisterverfassung“ charakteristische Wahl von Bürgermeistern und Adjunkten durch den Gemeinderat gebräuchlich. Ein weiterer wichtiger Unterschied war das Fortbestehen der aus französischer Zeit stammenden Institution des Gemeindeeinnehmers in der Pfalz. Der Gemeindeeinnehmer war ein Beamter mit Fachausbildung, der unter Aufsicht des Bürgermeisters für die Verwaltung der Gemeindekasse zuständig war und in den meisten Fällen zugleich noch als Steuereinnehmer für die staatliche Verwaltung fungierte. Den Gemeinderäten war die Verwaltung der Gemeindekasse untersagt, dafür waren sie auch von der Haftung befreit, die ausschließlich beim Bürgermeister und Gemeindeeinnehmer lag. Im rechtsrheinischen Bayern dagegen waren für die Gemeindekasse Verwalter zuständig, die aus dem Kreis der Mitglieder von Magistrat oder Gemeindeausschuss genommen werden sollten. Möglich war zwar auch die Heranziehung von besonderen Verwaltern, dies änderte jedoch nichts an der Gesamthaftung von Magistrat bzw. Gemeindeausschuss, wie sie in der Pfalz unbekannt war. Unterschiede gab es auch hinsichtlich der Besoldung der Funktionsträger: Während in der Pfalz alle Mitglieder des Gemeinderats, also auch Bürgermeister und Adjunkten, grundsätzlich ehrenamtlich tätig waren, erhielten in den rechtsrheinischen Städten und Landgemeinden zumindest die Bürgermeister Funktionsbezüge. Die Städte hatten dort außerdem die Möglichkeit (und teilweise auch Verpflichtung), zusätzliche rechtskundige Räte, technische Bauräte und andere Sachverständige in ihren Magistrat aufzunehmen, die dann auch entsprechend besoldet wurden. Diese Möglichkeit war in der Pfalz stark eingeschränkt. Zwar hatten größere Gemeinden auch dort die Möglichkeit, Techniker für das Bauwesen anzustellen, doch diese hat-

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ten dann nur eine beratende Stimme im Gemeinderat, waren also keine Mitglieder dieses Gremiums wie in den rechtsrheinischen Städten. Die bisherige, ebenfalls noch aus französischer Zeit stammende Verpflichtung der Gemeinden zur Aufstellung von Polizeikommissären wurde in eine Kann-Bestimmung umgewandelt. 3. Weiterentwicklung der pfälzischen Kommunalverfassung bis 1919 Somit zeigten sich in der pfälzischen Kommunalverfassung die Nachwirkungen der französischen Zeit bis zum Ende der Monarchie 1918. Eine Übernahme der rechtsrheinischen Kommunalverfassung auch in der Pfalz hätten sich dort wohl nur die Wenigsten gewünscht, doch einige Elemente daraus wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts durchaus für nachahmenswert erachtet. Mit der zunehmenden Industrialisierung vieler Städte und dem damit verbundenen Bevölkerungswachstum – in der Pfalz war vor allem Ludwigshafen betroffen – erschien die pfälzische Kommunalverfassung, in der nur ehrenamtliche Bürgermeister vorgesehen waren und auch keine Möglichkeit zur Bestellung rechtskundiger Räte bestand, allmählich unflexibel und nicht mehr recht geeignet für die Anforderungen moderner Kommunalverwaltungstätigkeit. 1896 wurde daher für pfälzische Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohnern die Möglichkeit eingeführt, berufsmäßige besoldete Gemeinderatsmitglieder aufzustellen. Die Stadt Ludwigshafen z. B. nutzte diese Möglichkeit umgehend mit der Anstellung ihres ersten Berufsbürgermeisters.23 Zum letzten Schritt, nämlich zur direkten Einführung der rechtsrheinischen städtischen Magistratsverfassung auch in der Pfalz, konnte man sich vorerst noch nicht entschließen. Es gab zwar auch in der Pfalz Gemeinden, die als „Stadt“ bezeichnet wurden, doch im Gegensatz zum rechtsrheinischen Bayern war diese Bezeichnung hier nur ein historisch bedingter Ehrentitel, verbunden mit dem Recht, ein eigenes Wappen zu führen, aber sonst ohne rechtliche oder administrative Auswirkungen. Erst im Jahr 1908 erhielten die Gemeindeverwaltungen der Städte in der Pfalz mit dem „Pfälzischen Städteverfassungsgesetz“ die Möglichkeit, beim König einen Antrag auf Verleihung der rechtsrheinischen Magistratsverfassung und der Kreisunmittelbarkeit zu stellen. Der Antrag musste von zwei Dritteln der stimmberechtigten Bürgerschaft unterstützt werden.24 Allerdings machte nur eine einzige pfälzische Stadt, nämlich Landau, von dieser Möglichkeit Gebrauch und wurde im Jahr 1910 zur ersten kreisunmittelbaren Stadt in der Pfalz erhoben.25 Sicher hatte man sich in München von diesem Gesetz mehr erwartet, und es ist eigentlich schwer zu verstehen, warum nicht mehr pfälzische Städte diesen Schritt vollzogen, der ihnen mit der Entlassung aus dem Verband des Bezirksamtes größere politische Spielräume gewährt hätte. Ein Grund mag darin liegen, dass die pfälzischen Städte auch nach Erlangung ihrer Kreisunmittelbarkeit im bisherigen Distriktsverband zu verbleiben hat23

Hippel, S. 516. Gesetz- und Verordnungs-Blatt für das Königreich Bayern 1908, S. 471 ff. 25 Gesetz- und Verordnungs-Blatt für das Königreich Bayern 1909, S. 733 f. 24

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ten und somit die praktischen Auswirkungen im Vergleich zu den rechtsrheinischen Verhältnissen durchaus begrenzt gewesen wären. Erst das nach dem Sturz der Monarchie erlassene Selbstverwaltungsgesetz von 1919 machte wesentliche Elemente der Magistratsverfassung (so z. B. auch die Direktwahl der Bürgermeister) zum verbindlichen Bestandteil der Verfassung aller bayerischen – somit auch aller pfälzischen – Kommunen.26 Erst ab diesem Zeitpunkt kann man von einer weitgehend einheitlichen Kommunalverfassung in Bayern sprechen. Im Zusammenhang damit wurden jetzt acht weitere pfälzische Städte durch das bayerische Innenministerium „von oben herab“ für kreisunmittelbar erklärt.27 Die Tatsache, dass es in der Pfalz bis heute noch acht kreisfreie Städte gibt, geht demnach zwar auf eine alte bayerische Verwaltungstradition zurück, doch ist diese Tradition in der Pfalz erst sehr spät eingeführt worden. V. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass im Bereich der staatlichen Verwaltungsstrukturen die Vereinheitlichung zwischen der Pfalz und dem rechtsrheinischen Bayern bis zum Jahr 1862 vollzogen war. Dabei hatte man der Pfalz entscheidende Neuerungen aus der französischen Zeit (Repräsentation auf der mittleren und unteren Ebene, Trennung von Justiz und Verwaltung) nicht nur belassen, sondern diese Elemente auch nach und nach im gesamtbayerischen Rahmen übernommen. Neu hinzu kam eine wesentliche Stärkung der Selbstverwaltung in diesen Gremien, die auch für die Pfalz wesentliche Verbesserungen gegenüber dem französischen System brachte. Im Gegensatz dazu kam es auf dem Gebiet der Kommunalverfassung bis zum Ende der Monarchie zu keiner Vereinheitlichung. Die Gelegenheit dazu hätte bei der Reform bestanden, die zum Erlass der neuen Gemeindeordnungen des Jahres 1869 führte, doch verzichtete man hierbei bewusst auf eine Vereinheitlichung. Zu unterschiedlich schienen die Traditionen in beiden Landesteilen, für zu stark wurden die Eingriffe in die alltäglichen Verhältnisse der Bürger erachtet. Zudem herrschten ja bis zur Einführung des BGB im Jahr 1900 in beiden Landesteilen auch noch unterschiedliche Rechtssysteme. Die Vereinheitlichung der Kommunalverfassung war somit ein Projekt, das erst die Regierung des Freistaats Bayern nach der Revolution von 1918 erfolgreich in Angriff nehmen konnte.

26 27

Gesetz- und Verordnungs-Blatt für den Freistaat Bayern 1919, S. 239 ff. Gesetz- und Verordnungs-Blatt für den Freistaat Bayern 1919, S. 838.

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Quellen- und Literaturverzeichnis Fenske, Hans u. a. (Hrsg.): Die Pfalz und die Revolution 1848/49, Band 1 und 2, Kaiserslautern 2000. Gesetzblatt für das Königreich Bayern. Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Bayern bzw. für den Freistaat Bayern. Glaser, Hubert: „Dies merkwürdige, vielbewegliche Individuum auf dem Throne“. Rückblicke auf König Ludwig I. von Bayern, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Band 50, 1987, S. 127 – 152. Hippel, Wolfgang von: Zwischen kleindeutscher Reichsgründung und Weltkriegs-Katastrophe – Ludwigshafen zur Zeit des Zweiten Deutschen Kaiserreichs 1870/71 – 1914, in: Geschichte der Stadt Ludwigshafen am Rhein, Band 1: Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, hrsg. von Stefan Mörz und Klaus Jürgen Becker, Ludwigshafen am Rhein 2003, S. 365 – 774. Lieberich, Heinz: Überblick über die geschichtliche Entwicklung der Gemeindeverfassung in Altbayern, in: Mitteilungen für die Archivpflege in Oberbayern, Nr. 9 und 10, hrsg. vom Kreisarchiv München, München 1942. Press, Volker: Die wittelsbachischen Territorien: Die pfälzischen Lande und Bayern, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des Reiches, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich u. a, Stuttgart 1983, S. 552 – 599. Rall, Hans: Die politische Entwicklung von 1848 bis zur Reichsgründung 1871, in: Handbuch der bayerischen Geschichte, Band 4: Das neue Bayern 1800 – 1970, hrsg. von Max Spindler, S. 224 – 282. Rummel, Walter, in Verbindung mit Maier, Franz und Hennig, Joachim: Verfassung, Verwaltung und Justiz, in: Kreuz – Rad – Löwe. Rheinland-Pfalz. Ein Land und seine Geschichte, Band 2: Vom ausgehenden 18. bis zum 21. Jahrhundert, hrsg. von Friedrich P. Kahlenberg und Michael Kißener, Mainz 2012, S. 179 – 258. Schaab, Meinrad: Geschichte der Kurpfalz, Band 1: Mittelalter, Stuttgart 1988, Band 2: Neuzeit, Stuttgart 1992. Spindler, Max (Hrsg.): Bayerischer Geschichtsatlas, München 1969. Spindler, Max (Hrsg.): Handbuch der bayerischen Geschichte, Band 2: Das alte Bayern, Der Territorialstaat vom Ausgang des 12. Jahrhunderts bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, München 1969. Volkert, Wilhelm: Bayern, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Band 2: Vom Reichsdeputationshauptschluß bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, hrsg. von Kurt G. A. Jeserich u. a., Stuttgart 1983, S. 503 – 550. Volz, Günther: Der bayerische Rheinkreis um 1830, in: Pfalzatlas, Textband 3, hrsg. von Willi Alter, Speyer 1981, S. 1679 – 1690. Weis, Eberhard: Die Begründung des modernen bayerischen Staates unter König Max I. (1799 – 1825), in: Handbuch der bayerischen Geschichte, Band 4: Das neue Bayern 1800 – 1970, hrsg. von Max Spindler, S. 3 – 86.

Rechtsordnung und Justizverfassung der Pfalz Von Reinhard Heydenreuter, München/Eichstätt I. Rechtsgeschichtliche Vorbemerkung: Der Pfälzer Löwe als Symbol für Recht und Rechtsprechung In den Wappen von drei deutschen Ländern, nämlich Bayern, Rheinland-Pfalz und Saarland findet sich der Pfälzer Löwe (das Wappentier des Pfalzgrafen bei Rhein) als Wappensymbol. In den nach dem 2. Weltkrieg geschaffenen Wappen der beiden letztgenannten Ländern wird er in seiner ursprüngliche Form dargestellt, nämlich mit einer roten Krone. Im Wappen Bayerns, das seit dem 13. Jahrhundert den pfälzischen Löwen neben den Rauten zeigte, wurde die rote Krone bei der Neuschöpfung des Wappens im Jahre 1923 beseitigt. Man war der Meinung, dass die Krone nicht mehr zum Wappen eines Freistaats passte. Das ist deswegen bedauerlich, weil die rote Krone auf die Gerichtsrechte des Pfalzgrafen bei Rhein zurückgeführt wird. Rot ist die Farbe der (Blut-) Gerichtsbarkeit und die rote Krone verweist demnach darauf, dass der Pfalzgraf bei Rhein der oberste Richter im Reich war, der auch über den deutschen König zu Gericht sitzen konnte. Diese heraldische Beziehung zum Recht zeichnet die Pfalz innerhalb Deutschlands besonders aus und es wäre zu wünschen, wenn mit diesem Symbol etwas respektvoller umgegangen würde. Leider ist zu beobachten, dass in letzter Zeit aus graphischer Beliebigkeit und in Unkenntnis der Heraldik selbst bei historischen Ausstellungen der Pfälzer Löwe seiner roten Krone und damit seiner Rechtssymbolik beraubt wird. II. Der Weg der Pfalz nach Bayern Mit dem Münchner Vertrag vom 14. April 18161 kam die linksrheinische Pfalz u. a. auch mit dem Gebiet der Reichsstadt Speyer, Teilen des Hochstifts Speyer und der hessischen Grafschaft Hanau-Lichtenberg (Pirmasens) an Bayern. Das Besitzergreifungspatent datiert vom 30. April 1816.2

1

Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1816, S. 435; Döllinger I, S. 157. Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1816, S. 309; Döllinger I, S. 294; auch abgedruckt in: Pfälzische Geschichte, S. 4. 2

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Dieses 1816 an Bayern gekommene Gebiet umfasste nur einen Teil der ehemals von den Wittelsbachern regierten pfälzischen Gebiete. Insbesondere fehlte das „Herz“ der alten Pfalz, nämlich die kurpfälzischen Gebiete um Mannheim und Heidelberg, die im Reichsdeputationshauptschluss von 1803 an Baden gefallen waren. Diesen Verlust haben die ersten beiden bayerischen Könige Max I. Joseph (Kurfürst 1799 – 1806, König 1806 – 1825) und Ludwig I. (regierte von 1825 – 1848) nie verwinden können und für König Ludwig gab es keine wichtigere außenpolitische Frage, als die Wiedergewinnung dieser Gebiete der alten Pfalzgrafschaft bei Rhein, die das Haus Wittelsbach 1214 erworben hatte. Nur mit großem diplomatischen Aufwand konnte Ludwig I. von den deutschen und europäischen Mächten davon abgehalten werden, sich Heidelberg und Mannheim, seine pfälzische Heimat, mit militärischer Gewalt von den badischen Großherzögen zurück zu holen. Diese Sehnsucht des Königs Ludwig I. nach Heidelberg war nicht zuletzt auch deshalb so stark, weil die Kurpfälzer rechts des Rheins für ihn, der ja um Heidelberg seine Jugend verbracht hatte, die besseren Pfälzer waren, da die linksrheinischen Pfälzer, wie er im Laufe seiner Regierungszeit leidvoll erfahren musste, durch ihre über 20jährige Verbindung mit Frankreich republikanisch verdorben waren. Es war bezeichnend, dass er nach dem Hambacher Fest (27. Mai 1832) durch einen Befehl an die Regierungen vom 31. Mai 1832 empört darauf hinwies, dass die „Volksmenge“ in Hambach nicht nur die „revolutionären“ Farben SchwarzRot-Gold gezeigt hätten, sondern auch die blau-weiß-rote Farbe … welche der französische Staat im Julius 1830 als Abzeichen des französischen Bürgertums erwählt hat. Dies sei unzulässig und zu bestrafen.3 Damit sind wir schon bei den Besonderheiten der linksrheinischen Pfalz, insbesondere bei dem im Folgenden zu erörternden juristischen Sonderweg der Pfalz. Dieser hängt damit zusammen, dass das Gebiet, das 1816 zum Königreich Bayern kam, vorher 20 Jahre lang ein mehr oder weniger fester Bestandteil der französischen Republik bzw. des französischen Kaiserreichs war. Nach der Befreiung von Napoleon wurde das spätere Gebiet der Pfalz zusammen mit anderen Gebieten 1814 unter die Verwaltung einer gemeinschaftlichen bayerisch- österreichischen Landesadministrations-Kommission (in Kreuznach, später in Worms) gestellt,4 um dann im Tausch gegen Salzburg sowie dem Inn- und Hausruckviertel im Münchner Vertrag vom 14. April 1816 zum Königreich Bayern zu kommen.5 Die Abtretung Salzburgs war in der bayerischen Öffentlichkeit sehr unpopulär und auch der Kronprinz Ludwig, der dort Statthalter war, wollte unbedingt Salzburg behalten. Obwohl in großen Teilen die Pfalz das Stammland der jetzigen Königsfamilie war (Herzogtum Zweibrücken), hätte man das Königreich Bayern lieber Richtung Süden und Südosten abgerundet, anstatt ein Gebiet zu erwerben, das 3 Lithographierter Befehl an alle Kreisregierungen v. 31. Mai 1832 (Privatarchiv des Verfassers). 4 Schmitt, S. 14 ff.; die Kommission gab ein eigenes Amtsblatt heraus. 5 Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1816, S. 435; Weis, S. 4 ff.

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durch das Fehlen der Kerngebiete Heidelberg und Mannheim verstümmelt war und keine direkte Landverbindung zum rechtsrheinischen Bayern hatte. Österreich aber machte militärischen Druck und Staatsminister Montgelas gab schließlich nach, was ihm Ludwig nie verziehen hat. Die Preisgabe Salzburgs war dann auch einer der Gründe für den durch den Kronprinzen forcierten Sturz Montgelas im Jahre 1817. Montgelas verteidigte sich später in seinen Memoiren6 mit dem Hinweis, dass er gar keine anderer Wahl gehabt hätte. Darüber hinaus wären die an Österreich abgetretenen Gebiete (Salzburg, Inn- und Hausruckviertel) finanziell und bevölkerungsmäßig weit unattraktiver als die Pfalz gewesen. Tatsache bleibt aber, dass Montgelas mit der Übernahme der neu gebildeten pfälzischen Provinz die Zerstückelung des Königreichs in Kauf genommen und auf eine Abrundung im Süden verzichtet hatte. Darüber hinaus war diese neue Provinz nicht nur ohne die alten rechtsrheinischen pfälzischen Gebiete gebildet worden, sondern auch vom ehemals linksrheinischen Gebiet der ehemaligen wittelsbachischen Pfalz war jetzt nur noch ein Teil zu Bayern gekommen: Der nördliche Teil mit den Ortschaften Alzey, Odenheim, Oberingelheim, Niederingelheim, Oppenheim, Bodenheim, Niederstein und Pfeddersheim kam an Hessen, Bacharach und Kaiserswerth an Preußen und Selz an das französische Elsaß-Lothringen. Den verbliebenen linksrheinischen Gebieten der wittelsbachischen Pfalz wurden folgende Gebiete zugeschlagen: die linksrheinischen Teile der Fürstbistümer Speyer und Worms, die Reichsstädte Speyer und Landau, die Herrschaften Leiningen, Falkenstein (größter Teil), Reipoltskirchen, Wartemberg (größter Teil) und andere Grafschaften und Reichsritterschaften ganz oder teilweise. III. Pfälzer Freiheitsrechte Alle Gebiet links des Rheins standen seit dem Einmarsch der französischen Truppen 1793 im ersten Koalitionskrieg (1792 – 1797) zunehmend unter dem Einfluss des französischen Rechts. Dieses wurde von der Mehrheit der Bevölkerung trotz Vorbehalte gegen die französische Besatzung sehr geschätzt, da es in vieler Hinsicht die freiheitlichen Prinzipien der französischen Revolution verkörperte. Die überragende Mehrheit der Bevölkerung war Gewinner der französischen Annektion. Den alten Landes- und Grundherrn, insbesondere den adeligen Grundbesitzern, weinte die Bevölkerung nicht nach und man war auch nach 1814 keineswegs gewillt, die alten Abhängigkeitsverhältnisse wieder herzustellen und etwa den Adel zu restituieren. In München war Montgelas klarsichtig genug, an den Verhältnissen nicht zu rühren. Das Pfälzer Modell der Adelsenteignung hatte er ja selbst schon in der bayerischen Konstitution von 1808 durchzusetzen versucht, was ihm freilich nicht gelungen war. Bei der Übernahme der Regierung in der Pfalz erhielt der Hofkommissar und spätere erste Regierungspräsident Franz Xaver Freiherr von Zwackh am 21. April 1816 6

Montgelas, S. 510 ff.

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eine Instruktion, in der der berühmte goldene Grundsatz festgeschrieben war, dass man der Pfalz ihre bisherigen Einrichtungen belassen wolle. Montgelas wies ihn im Namen des Königs an, den Gerüchten entgegenzutreten, als ob Wir der Kirche die Zehnten, dem Adel die Fronden, Jagden und Feudalrechte restituieren wollten. Zehent und Feudalrechte … bleiben abgeschafft hieß dann am 1. Mai 1816 die Botschaft, die Zwackh den Pfälzern öffentlich verkündete, nachdem im Besitzergreifungspatent vom 30. April 18167 davon keine Rede war. Am 16. Juni 1816 sicherte der Monarch selbst zu: Wir wollen an der bisherigen Verfassung, den Einrichtungen und den bestehenden Gesetzen dieser Provinz … durchaus keine Änderungen verfügen. Auch wollen wir die Verwaltung der überrheinischen Lande nach den dort bisher eingeführten Normen fortbestehen lassen.8 Obwohl man 1816 sogar den Departementsrat der französischen Zeit als Landrat und als ein die Stimme der Pfalz verkörperndes Beratungsorgan wiederbelebt hatte, misstraute man den Zusicherungen aus München, insbesondere als am 26. Mai 1818 König Max I. Joseph, mehr durch die finanziellen Notwendigkeiten, als durch seine konstitutionelle Gesinnung getrieben, eine Verfassung für das Königreich Bayern verkündete. Dies Misstrauen war nicht zuletzt auch deswegen gerechtfertigt, weil die beiden „Schutzengel“ der pfälzischen Institutionen, Staatsminister Montgelas in München und sein Freimaurerkollege Franz Xaver von Zwackh zu Holzhausen in der Pfalz 1817 entlassen worden waren. Beunruhigend war vor allem, dass im Text der Verfassung von 1818 die Sonderstellung des Rheinkreises unerwähnt blieb. Vielmehr befasste sich der Großteil der Verfassung samt Verfassungsbeilagen mit Materien, die in der Pfalz längst der Vergangenheit angehörten. Zu nennen sind hier die Bestimmungen in Titel IV § 19 über die Frohnden (die altbayerischen Scharwerke) und in Titel V über gutsherrliche Gerichtsbarkeit und Familienfideikommisse, über den besonderen Gerichtsstand und die Siegelmäßigkeit des Adels. Mit einer bemerkenswerten Verzögerung, nämlich erst am 5. Oktober 1818, erging quasi als inneramtliche Antwort auf einen Bericht des pfälzischen Generalkommissars und Regierungspräsidenten Joseph von Stichaner (dem bis 1832 in Speyer amtierenden Nachfolger des 1817 entlassenen Zwackhs) vom 14. Juni 1818 eine Allerhöchste Entschließung, in der die Verfassung kommentiert wurde und diejenigen Bestimmungen benannt wurden, die für den Rheinkreis nicht gelten sollten. Diese Entschließung erschien nicht im Gesetz- oder Regierungsblatt, sondern nur in dem mit VO vom 23. Mai 1816 ins Leben gerufenen Kreisamtsblatt von 1818.9 In dieser Entschließung wurden zunächst die Titel I bis III der Verfassungsurkunde (Allgemeine Bestimmungen, Thronfolge und Reichsverwesung, Staatsgut) auch für die Pfalz für anwendbar erklärt. Bei Titel IV wurde die in § 7 erfolgte Erwähnung der Frondienste (Scharwerke) als für die Pfalz nicht einschlägig erklärt. Nicht anwendbar für die Pfalz seien auch die Bestimmungen der VO vom 14. August 1815 7

Pfälzische Geschichte, S. 4. Pfälzische Geschichte, S. 5. 9 Amtsblatt des Rheinkreises, S. 847; Weber I, S. 733 ff. 8

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über Zwangsenteignung, da die VO nicht in der Pfalz publiziert sei. Damit wurde im Übrigen klargestellt, dass nur die nach dem Mai 1816 ausdrücklich in der Pfalz publizierten Rechtsnormen dort auch Gültigkeit haben sollten, ein Grundsatz, der für die übrigen zu Bayern nach 1803 gekommenen Gebieten nicht galt. Besonders erwähnt wurde in der Entschließung vom 5. Oktober 1818 die Rechtsstellung der Juden, die unter französischer Herrschaft die staatsbürgerliche Gleichberechtigung erhalten hatten. Dies wurde ihnen jetzt auch weiterhin zugesichert. Das bayerische Judenedikt von 1813, das den Matrikelzwang einführte und den weiteren Zuzug unterbinden wollte, galt also für die Pfalz nicht. Trotzdem genossen die Juden auch in der Pfalz nicht die gleichen Rechte wie die pfälzischen Untertanen, da in einem napoleonischen Judenedikt vom 17. März 1808 erhebliche Handelsbeschränkungen und zivilrechtlichen Einschränkungen verordnet worden waren. Dieses Edikt war schon am 14. Januar 1815 von der bayerisch-österreichischen Administration ausdrücklich bestätigt worden. Ein Grund für die Beibehaltung der französischen Rechtsverhältnisse (insbesondere der Abschaffung der Adelsvorrechte als Hauptinhalt der Entschließung vom 5. Oktober 1818) liegt mit großer Wahrscheinlichkeit in Staatsminister Graf Montgelas selbst, der nicht zuletzt aus seiner dem Freimaurertum verpflichteten Gesinnung heraus, den Adelsvorrechten feindlich gegenüber stand. Er hat wohl auch daran gedacht, die Pfalz als Musterstaat für das rechtsrheinische Bayern zu nutzen, wo er mit seiner adelsfeindlichen Konstitution von 1808 an seine Grenzen gestoßen war und wo auch die Durchsetzung eines einheitlichen Zivilrechts scheiterte. So lag es nahe, die Pfalz, in die er den Freimaurer Zwackh schickte, als Hebel für seine Vereinheitlichungsbemühungen einzusetzen. Nicht ohne tiefere Absicht unterstellte Montgelas die Pfalz seinem Außenministerium. Mit der Entlassung von Montgelas im Februar 1817 musste konsequenterweise auch sein Schützling Zwackh gehen und auch die Sonderbehandlung der Pfalz hörte in München schrittweise auf. Ludwig I. übernahm zwar noch 1829 das Pfälzer Institut des Landrats für das gesamte Königreich, aber nach dem Hambacher Fest vom 26. Mai 1832 war seine Liebe zur Pfalz weitgehend erkaltet. Er und der Pfälzer Wrede, den er samt Soldaten nach 1833 in den Rheinkreis zur „Pacifizierung“ schickte, waren nun der einhelligen Meinung, dass man 1816 den Pfälzern nie und nimmer die französischen Einrichtungen hätte lassen sollen. Das ganze Unglück mit der Pfalz, insbesondere die Katastrophe des Hambacher Festes, konnte man nun auf Montgelas schieben. Nach dem Hambacher Fest machte Ludwig I. den Versuch, diejenigen französischen Institutionen, die seiner Politik im Weges standen, nach Möglichkeit zu beseitigen bzw. einzuschränken. Dies war deswegen möglich, weil die Zusagen von 1816 bis 1818 durchaus auslegungsfähig waren. Lediglich über gewisse Grundprinzipien und pfälzische Grundfreiheiten konnten sich auch die findigsten Juristen des Königs

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nicht hinwegsetzen. Als eine Art Pfälzer Grundrechte fanden sie wie folgt Eingang in den 2. Band des berühmten Staatslexikons von Rotteck-Welcker von 1846:10 1. Freiheit und Sicherheit der Person. – Jede der neuern Constitutionen huldigt diesem Grundsatz, wenige haben aber denselben so richtig und entscheidend durch die ganze Gesetzgebung durchgeführt, wie die in Rheinbaiern eingeführte französische. Doch bewies die neueste Erfahrung, (namentlich auch in Frankreich selbst), dass noch nicht alle verschiedenartige Interpretation in einzelnen Fällen beseitigt ist. – So viel bleibt unbestritten, dass jeder Eingeborene das unbedingte Recht besitzt, sich zu verehelichen und ansässig zu machen. 2. Gleichheit vor dem Gesetz; – sonach keine eigentümliche Gerichtsbarkeit für einzelne Stände (hat in Beziehung auf das Militair eine Ausnahme erlitten); – kein bevorrechteter Adel (letztes speziell anerkannt bei Publication der Verfassungsurkunde). 3. Freiheit der Gewerbe; – deshalb kein Privilegium, keine Meisterschaft, kein Zunftzwang; – wer die gewöhnliche Patentsteuer bezahlt, kann jedes Gewerbe treiben. Ausgenommen (zufolge Napoleonischer Decrete) die Buchhandlungen und Buchdruckereien, und ferner, aus sanitätspolizeilichen Rücksichten, die Apotheken. 4. Trennung der Justiz von der Administration und der administrativen Polizei 5. Öffentlichkeit der Gerichtssitzungen 6. Geschworenengerichte bei allen Kriminalanklagen 7. Trennung des Geistlichen vom Weltlichen; – die Geistlichen haben nirgendwo die Zivilstandsregister zu führen; gesetzlich gültige Trauungen können ausschließlich nur durch den Zivilbeamten (Bürgermeister oder dessen Vertreter) stattfinden, wobei es natürlich jedem unbenommen, und auch durch den Gebrauch allgemein eingeführt ist, sich überdies noch kirchlich, durch den Geistlichen, einsegnen zu lassen. (Doch darf dieser keine Taufe, Trauung oder Beerdigung vornehmen, ohne dass ihm der betreffende Akt der Zivilbehörde vorgezeigt werde.) 8. Freiheit und Sicherheit des Eigentums; – Abschaffung der Zehnten und der übrigen Feudallasten. Im Folgenden sollen nun einzelne Punkte dieser „Pfälzer Grundrechte“ näher erörtert werden. 1. Gerichtsorganisation Einen großen Vorsprung gegenüber dem rechtsrheinischen Bayern besaß die Pfalz im Bereich der Gerichtsverfassung. Denn dort war eines der vorrangigen Ziele der französischen Revolution, die Trennung der Justiz von der Verwaltung, bereits 1798 vollständig verwirklicht worden (Präfekturprinzip). 10

Kolb, S. 164.

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Im rechtsrheinischen Bayern gehört die Trennung von Gericht und Verwaltung (auf der Unterstufe) zu einem der dunklen Kapitel der bayerischen Rechtsgeschichte. Sie wurde erst unter König Max II. mit dem Gesetz über die Gerichtsverfassung vom 10. November 186111 eingeführt, wobei vor allem für die lange Verzögerung finanzielle Gründe ins Feld geführt wurden. Dass es 1861 zur Trennung von Justiz und Verwaltung im rechtsrheinischen Bayern kam, ist nicht zuletzt den pfälzischen Abgeordneten im bayerischen Landtag zu verdanken, die sich immer wieder für die Unabhängigkeit der Justiz stark machten und auf das Beispiel der Pfalz verwiesen. Möglicherweise war es dieser Respekt vor der Justiz, der dazu führte, dass die Pfälzer Juristen im Bayern des 19. Jahrhundert in der Wissenschaft und Politik so Herausragendes geleistet haben. Bei der Gerichtsorganisation in der Unterstufe waren in der französischen Zeit für jeden Kanton Friedensrichter eingerichtet worden (Friedensgerichte), die (eventuell zusammen mit den Bürgermeistern) auf strafrechtlichem Gebiet die Polizeigerichtsbarkeit (Aburteilung der Polizeifrevel, vergleichbar den heutigen Ordnungswidrigkeiten), auf zivilrechtlichem Gebiet die Friedensgerichtsbarkeit ausübten. Ihre Neuorganisation erfolgte durch Verordnung vom 17. 11. 1817.12 Es bestanden ursprünglich 32 Untergerichte,13 welche die Bezeichnung Friedensgerichte führten, dann seit dem Gesetz von 4. 2. 185414 (nach Kompetenzerweiterung) die Bezeichnung Landgerichte (älterer Ordnung) und schließlich seit Einführung der Reichsjustizgesetzgebung 1879 den Namen Amtsgerichte. Über den Kantonen standen zur französischen Zeit als Verwaltungsbezirke die Arrondissements, für die jeweils Gerichte für Zivil- und Strafsachen eingerichtet waren (erste Instanzgerichte, tribunaux), die seit 1817 die Bezeichnung Bezirksgerichte führten (Frankenthal, Landau, Kaiserslautern, Zweibrücken).15 Sie waren mit je 3 Richtern, einen Staatsprokurator (Staatsanwalt) und einem Substitut besetzt. Seit 1879 (mit Einführung der Reichsjustizgesetzgebung) führten sie die Bezeichnung Landgerichte. Von Anfang an war den Bezirksgerichten im Strafrechtsbereich die Aburteilung von Polizeivergehen als so genannte Zuchtpolizeigerichte übertragen. An jedem Bezirksgericht war ein Staatsprokurator als Staatsanwalt tätig.

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Weber V, S. 374. Amtsblatt des Rheinkreises 1817, S. 529. 13 Annweiler, Bergzabern, Blieskastel, Dahn, Dürkheim, Edenkoben, Frankenthal, Germersheim Göllheim (1879 aufgehoben), Grünstadt, Hornbach (1879 aufgehoben), Kaiserslautern, Kandel, Kirchheimbolanden, Kusel, Landau, Landstuhl, Lauterecken, Medelsheim (1817 aufgehoben), Mutterstadt (1859 nach Ludwigshafen verlegt), Neustadt a. H., Obermoschel, Otterberg, Pirmasens, Rockenhausen, Speyer, Waldfischbach, Waldmohr, Winnweiler, Wolfstein, Zweibrücken. 1868 wurde ein neues Landgericht St. Ingbert gebildet (Weber, Anhangband, S. 135 Anm. 13). 14 Gesetzblatt des Königreichs Bayern 1853/55, S. 21; dazu die Verordnung vom 17. 5. 1854, RBl. 1854, S. 337. 15 Königlich-Baierisches Regierungsblatt. 1817, S. 118. 12

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Für die Departements (die Pfalz gehörte zu den drei Departements Donnersberg, Saar und Niederrhein) bestanden Gerichtshöfe und zwar für Strafsachen der Cour de justice criminelle und für Zivilsachen der Cour d’appel. An ihre Stelle trat unter der österreichisch-bayerischen Verwaltung der Appellationsgerichtshof in Trier und als das Gebiet um Trier an Preußen fiel 1815 der Appellationsgerichtshof von Kaiserslautern, der seine Tätigkeit am 16. August 1815 aufnahm. Dieser wurde 1816 von König Max I. Joseph in alter Anhänglichkeit an seine Residenzstadt nach Zweibrücken verlegt (feierliche Eröffnung am 16. Oktober 1816).16 Das war auch ein gewisser Ausgleich dafür, dass die Regierung des Rheinkreises von Zweibrücken nach Speyer ging. Beim Übergang an Bayern wurde das gesamte Justizpersonal übernommen. Als Präsident des Appellationsgerichtshofs in Trier, Kaiserslautern und Zweibrücken amtierte bis zu seinem Tod 1824 der hervorragende pfälzische Jurist A.G.F. Rebmann, der sich sehr stark für die Errungenschaften aus der französischen Zeit einsetzte, etwa für das mündliche und öffentliche Verfahren, für die Schwurgerichte und die Beibehaltung des französischen Zivil- und Handelsrechts. Das Appellationsgericht des Rheinkreises (seit 1838 Pfalz) in Zweibrücken war in zwei Kammern geteilt, die jeweils mit fünf Richtern urteilten.17 In seiner Funktion als Kassationshof für die Pfalz nahm er eine Sonderstellung ein (Revisionsgericht, Aufhebung und Zurückverweisung von Urteilen im Zivil- und Strafrecht). Eine Sonderstellung nahm es auch in der Geschichte der Demokratie in Deutschland ein, weil es dem reaktionären König Ludwig I. in München trotzte und dafür schikaniert wurde. 1832 sprach das Schwurgericht in Landau (die Assisen) den in die Pfalz übergewechselten Juristen Johann Wirth und die sonstigen Teilnehmer am Hambacher Fest frei. Wirth und andere hatten in der Pfalz einen Preßverein gegründet, eine der ersten und wirksamsten politischen Vereinigungen in der deutschen Geschichte, der sich vor allem gegen die völlig überzogene Zensur durch Ludwig I. wandte. Die Rache des Königs ließ nicht lange auf sich warten. Er kehrte sich nicht an das Urteil der Geschworenen, sondern ließ andere Straftatbestände auskramen, die eine Verurteilung vor anderen Gerichten rechtfertigten. Nach dem Hambacher Fest wurde trotz heftiger Proteste des pfälzischen Landrats das Kassationsgericht als Strafmaßnahme von Ludwig I. mit Wirkung vom 1. 10. 1832 an das Oberappellationsgericht in München (als Kassationsgerichtshof für den Rheinkreis) verlegt. Sechs der dreizehn Richter des Appellationsgerichtshof wurden entlassen. Auch der Präsident des Appellationsgerichts Johannes von Birnbaum, der 1824 dem verstorbenen Präsidenten Rebmann nachgefolgt war, musste gehen. Der Appellationsgerichtshof der Pfalz, den man zum Leidwesen des Königs nicht auflösen konnte, wurde mit neuen Richtern aus Altbayern versehen, die vom franzö16

Zur Geschichte des ehemaligen Appellationsgerichts und heutigen OLG Zweibrücken vgl. Dury, S. 150 ff. Vgl. auch Sven Paulsen (Hrsg.): Festschrift 175 Jahre pfälzisches Oberlandesgericht, Neustadt a.H. 1990. 17 Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1817, S. 113.

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sischen Recht keine Ahnung hatten. Damals vollzog Ludwig I. ein wahres Strafgericht an pfälzischen Richtern und Beamten: Er entließ über 200 „napoleonische“ Beamte, also vor allem diejenigen, die sein Vater 1816 aus der französischen Verwaltung übernommen hatte.18 Diese Furcht des Königs vor den allzu beweglichen und republikanisch gesinnten Pfälzern kommt auch darin zum Ausdruck, dass unter den höheren bayerischen Beamten die linksrheinischen Pfälzer stark unterrepräsentiert waren. Besonders nach den Jahren 1832 und 1848 sank deren Anteil in der bayerischen Beamtenschaft stark ab.19 Merkwürdig ist auch die weitere Geschichte des an das Oberappellationsgericht (dem späteren bayerischen Obersten Landesgericht) angegliederten Kassationsgerichtshof, der eigentlich nur die Aufgabe hatte, ein Urteil entweder zu bestätigen oder aufzuheben und mit Gründen zur erneuten Verhandlung zurückzuweisen. Statt sich darauf zu beschränken, begann dieses in München sitzende und für die Pfalz zuständige Gericht selbständig Endurteile zu fällen, was keineswegs der Rechtslage entsprach. Offensichtlich wollte man, misstrauisch wie man gegenüber den Pfälzer Instanzen war, die Angelegenheiten nicht in der Pfalz erledigt wissen. Das Pfälzer Schwurgericht (Assisengerichtshof), das aus einem Appellationsgerichtsrat und anfangs zwei, dann vier richterlichen Beisitzern (aus den Bezirksgerichten) sowie 12 Geschworenen bestand, konnte in einen der vier pfälzischen Bezirksgerichtssitze tagen. Als Staatsanwalt fungierte der Generalprokurator. Die Geschworenen hatten über die Schuld zu entscheiden, die Richter hatten die Aufgabe, den Schuldspruch durch die Subsumierung der Fakten zu begründen. Das Pfälzer Schwurgericht und seine Tätigkeit, insbesondere seine Zuständigkeit für politische und Pressevergehen, war das große Vorbild bei der Einführung der Schwurgerichte im restlichen Bayern im Jahre 1848. Schwurgerichte, für König Ludwig I. eine schreckliche Ausgeburt der französischen Revolution, wurden von seinem pfälzischen Freund und Minister Georg Maurer ebenso wie die Öffentlichkeit des Verfahrens immer wieder als eine altdeutsche Einrichtung gepriesen, die von den Franzosen nach englischem Vorbild übernommen worden war. Und diese seien bekanntlich Germanen. Freilich konnten die Schwurgerichte von Maurer, der ja 1847 das „Ministerium der Morgenröte“ übernehmen musste, nicht zu Regierungszeiten Ludwig I. durchgesetzt werden. Aber die Einführung der Gerichtsöffentlichkeit und von Staatsanwaltschaften konnte er Ludwig I. abtrotzten, der dann am 20. März 1848 angesichts so vieler Zumutungen, nicht zuletzt auch von Pfälzer Seite, abdankte. 1879 wurde mit Einführung der Reichsjustizgesetzgebung aus dem Appellationsgericht das Oberlandesgericht Zweibrücken. Seit 1990 trägt es die Bezeichnung „Pfälzisches Oberlandesgericht Zweibrücken“.

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Haan, Pfälzische Beamtenschaft, S. 285 ff. Haan, Berufung S. 271 ff.

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2. Freiwillige Gerichtsbarkeit: Notariat In der freiwilligen Gerichtsbarkeit hatten die Pfälzer schon in der französischen Zeit den Schritt aus dem Mittelalter gemacht, indem dort wie im übrigen Frankreich neben anderen Adelsrechten vor allem auch die „Siegelmäßigkeit“ des Adels, also das Recht, Urkunden zu errichten, abgeschafft wurde. Im rechtsrheinischen Bayern konnte sich der Adel dieses sehr ertragreiche Privileg bis ins Jahr 1848 bewahren. Daneben waren es dann in Altbayern vor allem die Staatsbeamten der Unterbehörden, die das Beurkundungsgeschäft verrichteten und von den Gebühren (Sporteln) einen Teil ihres Einkommens bezogen. Dieses Miteinander von freiwilliger und streitiger Gerichtsbarkeit konnte zu Kollisionen führen, etwa wenn ein Richter darüber zu befinden hatte, ob ein Vertrag, den er selbst beurkundet hatte, korrekt war. In der Pfalz wurde nach französischem Vorbild, das streng auf die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter schaute, das Notariat als die ausschließliche Beurkundungsinstanz eingerichtet. Auch hier war die Pfalz Vorbild für das rechtsrheinische Bayern, wo am 1. Juli 1862 das Notariat zusammen mit der Trennung von Gericht und Verwaltung eingeführt wurde. 3. Zivilrecht und Zivilprozess Bis zur Einführung des BGB am 1. Januar 1900 galt in der Pfalz das „pfälzische Civilgesetzbuch“, der Code civil (Code Napoleon) vom 21. März 1804.20 Der 1806 eingeführte Code de procédure civile wurde durch die bayerische Zivilprozessordnung von 1869 ersetzt. Das französische Handelsgesetzbuch galt in der Pfalz bis zur Einführung des allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuches 1861. Der Code Civil (Code Napoleon) wurde am 21. März 1804 in allen französischen Gebieten in Kraft gesetzt, in der Pfalz in deutscher Übersetzung als „Pfälzisches Zivilgesetzbuch“. Zusätzlich galten dann ab 1814 auch alle bis zu diesem Jahr ergangenen französischen Gesetze, Senatskonsulte, Dekrete und Erlasse, soweit sie publiziert waren, da bei der Einverleibung des linken Rheinufers in die französische Republik auch die früheren in Frankreich erlassenen legislativen Akte fast durchgängig mit Gesetzeskraft versehen wurden. Obwohl in der Verfassung von 1818 (Tit. VIII § 7) zugesagt worden war, dass im ganzen Königreich ein einheitliches bürgerliches Gesetz bestehen soll, blieb es bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches 1900 besonders in Franken und Schwaben bei einem bunten Fleckenteppich von Rechten. Kein Land in Deutschland verfügte über so viele Partikularrechte und für jeden Richter war ein Blick in die Zivilgesetzstatistik des Königreichs (etwa diejenige Völderndorffs) notwendig, um die 20 Völderndorff, S. 105. Die Abschaffung erfolgte ausdrücklich durch Art. 175 des (bayerischen) Ausführungsgesetzes zum BGB vom 9. Juni 1899 (Beilage zum Gesetz- und Verordnungsblatt 1899, Nr. 28 von 12. Juni 1899, S. 1 – 82). (Das in der Pfalz geltende Civilgesetzbuch (Code civil) tritt außer Kraft).

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jeweils geltenden Partikularrechte festzustellen, die sich oft innerhalb einer Gemeinde von Hausnummer zu Hausnummer unterschieden. Lediglich in Teilbereichen, wie im Hypothekenrecht 1822, kam es zu einer einheitlichen Gesetzgebung. Auch hier war die Pfalz im Vorteil, weil lokale Rechte im Unterschied zum restlichen Bayern seit 1804 keine große Bedeutung mehr hatten. Nur wenn der Code civil ausdrücklich auf lokale Observanzen verwies, galten diese. Das war etwa bei den so genannten redhibitorischen Mängel beim Viehkauf (Art. 1648 Code civil) der Fall (also bei Mängeln, die zu einer Rückgabe berechtigen). Hier wurde allerdings in Bayern seit 1859 eine einheitliche Regelung erlassen. Weitere Fälle waren die Mietrechtsbestimmungen der Art. 1736 Code civil (Kündigungsfristen) und Art. 1754 Code civil (Pflicht zu Reparaturen), die auf den Lokalbrauch verweisen. Ein solcher Verweis findet sich auch im Baurecht (Nachbarschaftsrecht) bei der Höhe der Zwischenmauern (Art. 663 Code civil), bei der Bestimmung der zulässigen Nähe der Anpflanzungen zur Nachbargrenze (Art. 671 Code civil) sowie bei der Bestimmung der Entfernung von Brunnen oder Klärgruben (Schwindgruben) von der Mauer des Nachbarn (Art. 674 Code civil).21 Im Streitfall mussten hier die Richter bis 1900 die älteren Zivilgesetze (Lokalstatuten) anwenden, also beispielsweise in Speyer das alte Recht der Reichsstadt oder in Edenkoben das kurpfälzische Recht. Eine Besonderheit des pfälzischen Nachbarschaftsrechts, die dann auch über 1900 hinaus noch galt, war das Fensterrecht. Falls der Eigentümer eines Gebäudes bei Fenstern oder anderen Lichtöffnungen (die nach BGB zu schließen waren) durch Zeitablauf (30 Jahre) nach Art. 675 ff, 690 Code civil gewisse Rechte erworben hatte, so behielt er sie auch nach 1900.22 Durch das BGB abgeschafft bzw. umgewandelt wurde der in der Pfalz übliche Kommunmauerzwang (Art. 663 Code civil). Bei altrechtlichen Streitigkeiten, etwa im Bereich des Wegerechts, muss der Code civil heute noch herangezogen werden. Häufig vor allem im Bereich der Oberlandesgerichte Karlsruhe, Zweibrücken und Köln. Aber auch der Bundesgerichtshof muss sich mit dem alten französischen Recht befassen, etwa in einer Entscheidung vom 1984, wo er bei der Frage nach dem Eigentum an Uferflächen den Art. 556 des Code civil heranzog. Beginnend mit der deutschen Administration 1814 wurde das französische Recht schrittweise Abänderungen unterzogen. Die erste Änderung betraf das Familienrecht. Mit Verordnung vom 1. November 1814 wurde die in Art. 162 des Code Civil ausgeschlossene Dispensation vom Eheverbot zwischen Schwager und Schwägerin eingeführt. Im Bereich der Gerichtsverfassung und des Zivilprozesses wurden ebenfalls schon seit der Administration Änderungen verfügt. Wichtig war etwa die Aufhebung 21

Völderndorff, S. 153 f. Art. 47 des Bayerischen Ausführungsgesetzes zum BGB v. 9. Juni 1899 (Gesetz und Verordnungsblatt des Königreichs Bayern 1899, Beilage Nr. 28 v. 12. 6. 1899, S. 1 – 82). 22

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der in Frankreich üblichen Trennung des Anwaltsberufs vom Beruf des Advokaten mit Verordnung vom 3. August 1815. Der Anwalt war nur befugt, den Klienten bei Gericht zu vertreten, während sich der Advokat auf die Abfassung von Schriftsätzen beschränkte. Wichtig ist auch das nur für die Pfalz geltende Gesetz vom 1. Juni 1822 über die Vereinfachung des Verfahrens bei Zwangsveräußerungen von Immobilien23 oder das Gesetz vom 11. September 1825 über die freiwillige Veräußerung von Mobilien und Immobilien. Ebenfalls speziell auf die Pfalz zugeschnitten war das Gesetz vom 15. April 1840 über die Aufhebung eines französischen Gesetzes über die Erziehung von Söhnen bei Familien, die über 7 Kinder haben:24 Hier wurde die Unterstützung des Staates für kinderreiche Familien gestrichen. Mit dem Zwangsvollstreckungsverfahren in der Pfalz befasste sich das Gesetz vom 23. Mai 1846 über das Exekutionsverfahren,25 mit dem Hypothekenrecht das Gesetz vom 16. Mai 1868 über die Abänderung einiger Bestimmungen des in der Pfalz geltenden Zivilgesetzbuches über Privilegien und Hypotheken,26 dann Art. 163 – 224 des Ausführungsgesetzes vom 23. Februar 1879 zur Reichszivilprozessordnung,27 das Gesetz v. 20. März 1882 über die Vollstreckungsbefehle in der Pfalz28 und das Gesetz vom 26. April 188829 über die Abänderung von Bestimmungen des in der Pfalz geltenden Hypotheken- und Vormundschaftsrechts. Der Einfluss des Code civil auf das deutsche Recht, insbesondere auf unser Bürgerliches Gesetzbuch von 1900, darf nicht unter- und überschätzt werden und ist bis heute ein beliebtes Thema für rechtshistorische Kontroversen. Vor allem wurde darüber diskutiert, inwieweit die Bestimmungen des Code civil altes fränkisches und germanisches Recht widerspiegeln und damit durchaus für deutsche Verhältnisse anwendbar seien oder ob der Code civil nur ein Abklatsch des römischen Rechts war, das in der Form des gemeinen Rechts in den meisten deutschen Gebieten Deutschlands seit dem 16. Jahrhundert sowieso geltendes Recht war. Bei der Diskussion um die Nachwirkungen des französischen Rechts spielte die jeweilige politische Haltung eine nicht zu unterschätzende Rolle, vor allem bei der Abwehr und Verteufelung alles Französischen. Inzwischen wird aber, was die Beziehung dieses Rechts zur Bevölkerung betrifft, eine positive Bilanz gezogen. Die Pfälzer haben, und das wird niemand bestreiten, ihr bis 1900 geltendes französisches Recht geschätzt, es ist ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Keinesfalls wurde das BGB als eine Verbesserung begrüßt, was im Übrigen auch für Altbayern gilt. Hingewiesen sei nur auf die durch das BGB bewirkte Verschlechterung der Lage der nichtehelichen Mutter durch Einführung der Einrede des Drittverkehrs und der Verschlechterung der Alimentations23

Gesetzblatt des Königreichs Bayern 1822, S. 163. Gesetzblatt des Königreichs Bayern 1840, S. 65. 25 Gesetzblatt des Königreichs Bayern 1846, S. 105; Weber III, S. 614. 26 Weber VIII, S. 297. 27 Weber XII, S. 614. 28 Weber XV, S. 646. 29 Weber XIX, S 49. 24

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regeln. Einschneidend war, dass im BGB auch das im französischen Recht übliche Verbot, der Vaterschaft nachzuforschen, aufgehoben wurde. In einigen Bestimmungen des deutschen Rechts ist die direkte Beeinflussung durch das französische Recht offensichtlich, etwa bei den Bestimmungen über den gutgläubigen Erwerb, der in Art. 2279 Code civil zuerst ausformuliert, vom § 306 des Allgemeinen Handelsgesetzbuches übernommen wurde und von dort seinen Weg in § 932 BGB fand. Hingewiesen sei darauf, dass zwei Senate des Reichsgerichts mit dem so genannten „rheinischem“ (französischem) Recht befasst waren, das ja nicht nur im linksrheinischen Bayern, sondern etwa auch in den preußischen Rheinprovinzen und in Baden galt. Die Mitarbeiter am Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches waren fast einhellig der Meinung, dass der Code civil umfassend bei den Gesetzgebungsarbeiten berücksichtigt worden war. Das gilt im Übrigen auch für die nie vollendeten Arbeiten am bayerischen Zivilgesetzbuch des Königreichs Bayern. 4. Strafrecht und Strafprozess In der Pfalz galt auch nach dem Übergang an Bayern die dort wie in ganz Frankreich 1808/09 eingeführte Strafprozeßordnung (code d’instruction criminelle) und das am 1810/11 eingeführte Strafrecht (Code pénal) weiter. Nicht eingeführt wurde in der Pfalz also das von Feuerbach verfasste bayerische Strafgesetzbuch von 1813, obwohl es als das modernste Strafrecht Europas galt. Erst mit der Strafgesetzgebung 1861 wurden die linksrheinischen und rechtsrheinischen Strafgesetzbücher angepasst. Da sich Feuerbachs Strafgesetzbuch von 1813 wegen der Starrheit seiner Bestimmungen in der Praxis als nur beschränkt tauglich erwies, wurde bald der Ruf nach einer Neufassung, ja nach einem neuen Strafrecht laut. Als ein Grund für eine Neufassung wurde natürlich auch das unterschiedliche Strafrecht in der Pfalz genannt, das sich nicht unerheblich vom bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 unterschied und in vielen Punkten schon den rechtspolitischen Forderungen des liberalen Bürgertums entsprach. Im Unterschied zu Feuerbachs Strafgesetzbuch waren in der Rheinpfalz etwa die Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens sowie die Einrichtung von Schwurgerichten und Staatsanwaltschaften konsequent verwirklicht. Obwohl die Verfassung von 1818 ein einheitliches Strafgesetzbuch versprochen hatte, weigerte sich König Ludwig I., die fortschrittlichen Institutionen der Pfalz im rechtsrheinischen Bayern einzuführen. Dies galt vor allem für die Schwurgerichte: Ihre Einführung war eine der wichtigsten Forderungen fast aller liberalen Politiker und Juristen dieser Zeit. Der Freispruch der beiden Hauptredner am Hambacher Fest von 1832, Dr. Philipp Jakob Siebenpfeiffer und Dr. Johann Georg August Wirth vor dem Schwurgericht Landau am 16. August 1832, bestärkte jedoch den König in seiner Auffassung, dass die pfälzischen Schwurgerichte wie die Schwurgerichte überhaupt eine Gefahr für seine autokratische Herrscherweise darstellten. In massiver Weise ging Ludwig I. nun daran,

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die Justiz für seine Zwecke personell zu säubern und umzubauen. So machte er das Landshuter Appellationsgericht zur zentralen Strafinstanz für Hoch- und Staatsverrat im Königreich und besetzte es mit dem willfährigen Präsidenten Joseph von Hoermann. Auch wenn es den Gerichten nicht immer gelang, genug Nachweise für den Tatbestand des Hoch- oder Staatsverrats zu finden, so war es doch vor allem die jahrelange Untersuchungshaft, mit der man politische Oppositionelle besonders empfindlich treffen konnte. Da die Pfälzer Schwurgerichte u. a. auch für politische und Pressevergehen zuständig waren und dabei besonders moderate Urteile fällten, versuchte Ludwig I. mit allen Mitteln, auf die Rechtsprechung Einfluss zunehmen. Typisch ist es, wenn er in einem Signat vom 25. November 1833 anordnet, dass die Assisen-Präsidenten den Geschworenen begreiflich machen sollten, dass sie nach dem Gesetz, wie streng dies auch sei, zu urteilen hätten. Für Milderungen in Form von Begnadigungen sei er allein zuständig.30 Die Frage, ob das französische Strafrecht von 1810, der Code penal, strenger oder milder war als das Feuerbachsche Strafgesetzbuch von 1813, ist schwer zu beantworten. Fest steht jedenfalls, dass der Strafprozess, der von Feuerbach in seinem Strafgesetzbuch ebenfalls abgehandelt wurde, im französischen Recht mit Staatsanwalt, Öffentlichkeit und Schwurgerichten weit fortschrittlicher ausgestaltet war als das bayerische Recht. Was die Strafaussprüche betrifft, so scheint in einigen Bereichen das französische Strafrecht strenger gewesen zu sein. Das lässt sich aus einer Übersicht vom Jahre 1817 über die vom Staatsministerium der Justiz erledigten Gnadengesuche entnehmen. Unter der Rubrik „Begnadigung“ wird als Begründung ausdrücklich aufgeführt Weil nach französischem oder älteren Strafgesetzen abgeurteilte Verbrecher nach der neue neuen Baierischen Strafgesetzgebung milder wären behandelt worden.31 Unter dieser Rubrik sind immerhin 23 Fälle verzeichnet. Härter bestraft wurden im rechtsrheinischen Bayern typischerweise Delikte wie Wilderei und Gotteslästerung. 5. Öffentliches Recht Besonders deutlich zeigte sich der Unterschied zwischen den „pfälzischen Institutionen“ im linksrheinischen Bayern und dem Recht im rechtsrheinischen Bayern im Bereich des öffentlichen Rechts. Das führte soweit, dass in der Regel in der Pfalz das restliche Bayern als „Ausland“ und umgekehrt behandelt wurde. Deshalb warf man der bayerischen Regierung vor allem in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts bei ihren Maßnahmen sehr oft die allzu ängstliche Schonung angeblicher pfälzischer Institutionen vor.32 Als etwa am 29. Juli 1863 für die sieben rechtsrheinischen Regie30

Die Signate König Ludwigs I., 1833, Nov. 25. Jahrbücher der Gesetzgebung und Rechtspflege im Königreich Bayern, Bd. 3, Erlangen 1820, S. 92. 32 Der Hausierhandel in der Pfalz, in: Blätter für administrative Praxis 15 (1865), S. 65. 31

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rungsbezirke eine Verordnung mit „Vorschriften über den Hausierhandel und den Betrieb der Wandergewerbe“ erlassen wurde, stellten die renommierten Blätter für administrative Praxis resigniert fest: Es ist traurig, dass die Pfälzer im rechtsrheinischen Bayern und die rechtsrheinischen Bayern in der Pfalz als Ausländer behandelt werden sollen.33 Interessant ist der Unterschied, der offensichtlich rechtlich und tatsächlich zwischen einem pfälzischen und einem rechtsrheinischen bayerischen Hausierer bestand: Offensichtlich handelten die Pfälzer anders als die rechtsrheinischen Hausierer besonders mit Bildern und „gebranntem Wasser“, was man offensichtlich in München nicht wusste. Auch konnten die Pfälzer in der Regel ihre Kinder (mit Ausnahme der schulpflichtigen) zum Hausieren mitnehmen, was im rechtsrheinischen Bayern absolut verboten war. Darüber hinaus war es in der Pfalz nicht genehmigungspflichtig wie im rechtsrheinischen Bayern, wenn man sich beim Hausieren eines bespannten Fuhrwerks oder eines Lasttiers bediente. Im Unterschied zur Pfalz waren im rechtsrheinischen Bayern Fuhrwerke, in denen man wohnte, streng verboten.34 Trotzdem war der Hausierhandel in der Pfalz, dem Land der Gewerbefreiheit, nicht unbedingt freigegeben, sondern galt im Gegenteil als unerwünscht. Eine Verordnung der bayerischen Landesadministration am linken Rheinufer vom 10. Juni 1816 verbot deshalb den Hausierhandel für Ausländer völlig und für Inländer nur nach Genehmigung (Hausierpatent). Interessant ist die Begründung für diese Verordnung, nach der durch den Hausierhandel die Errungenschaften der pfälzischen Gewerbefreiheit gefährdet würden: Durch das Gesetz vom 2. März 1791 wurde mit Abschaffung der vorher bestehenden Zünfte und Innungen eine unbedingte Handelsfreiheit eingeführt und einem jeden gestattet, vermittels eines Patents dasjenige Geschäft oder Gewerbe auszuüben, wo er zu betreiben für gut fand; vorbehaltlich jedoch sich den bestehenden oder nötig erachtet werdenden Polizeiordnungen zu fügen. Da nun von mehreren Seiten die beschwerende Anzeige geschehen, dass Ausländer, fremde und einheimische Juden, Taglöhner und andere ohne bestimmten Wohnort herumziehende Individuen sich des Alleinhandels sowohl in Ellen- als kurzen und Spezereiwaren durch den Verkauf von Haus zu Haus bemächtigen; auch die tägliche Erfahrung allerdings lehrt, dass durch eine diesen Leuten eigene Zudringlichkeit das Publikum mit Waren überschwemmt und gewöhnlich in der Qualität oder dem Preis derselben nicht allein gefährdet, sondern auch der angesessene rechtliche Kaufmann, der sich zu solchen unerlaubten Wendungen nicht herablässt, in Ausübung seines Geschäfts gekränkt wird; dass sich endlich Leute im Land herumtreiben, welche Waren von so geringem Wert zum Verkauf feil bieten, wovon der größtmögliche Gewinn nicht zureichen kann, ihre Lebsucht zu befriedigen, und demnach bei diesen der Vorwand des Hausierens sonstige strafbare Absichten vermuten lässt.35

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Ebd., S. 66. Ebd., S. 68. 35 Ebd., S. 68 f. 34

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Wie wir gesehen haben, stützte man in der Pfalz die Gewerbefreiheit auf ein französisches Gesetz vom 2. März 1791 (Art. 7). Obwohl dieses Gesetz nicht in der Pfalz publiziert wurde, bildete es die selbstverständliche Grundlage einer der wichtigsten „pfälzischen Institutionen“. Es sei nur daran erinnert, dass im rechtsrheinischen Bayern die Gewerbefreiheit erst im Jahre 1868 eingeführt wurde. Auf die Gewerbefreiheit als pfälzisches „Schlüsselrecht“ führten manche sogar den sprichwörtlichen „heiteren Sinn“ der Pfälzer zurück. Auf die Gewerbefreiheit führte man darüber hinaus auch die niedrige Zahl der nichtehelichen Geburten und die niedrige Kriminalitätsziffer zurück. Mit solchen Rückschlüssen wollte man freilich nicht zuletzt der Regierung die Einführung der Gewerbefreiheit im rechtsrheinischen Bayern schmackhaft machen.36 Die Aufnahme eines Gewerbes geschah in der Pfalz dadurch, dass man gegenüber dem Bürgermeisteramt eine entsprechende Erklärung abgab, in das „Gewerbedeklarationsregister“ eingetragen wurde und dann ein Patent über die Anmeldung erhielt. Die einzige Verpflichtung des Gewerbetreibenden war die Entrichtung der Gewerbesteuer. Bei einigen Gewerben war freilich auch in der Pfalz eine polizeiliche Konzession notwendig, etwa für alle Gewerbe und Fabriken, die in erheblichem Masse Dritte belästigen (etwa Ziegelöfen, Hammerwerke, Hochöfen oder chemische Fabriken). Dann Betriebe mit Wasserbauanlagen wie Mühlen und der Betrieb von Bergwerken und Torfstichen. Darüber hinaus alle Gewerbe und Fabriken, bei denen Dampfkessel zum Einsatz kamen sowie Apotheken und der Verkauf von Arznei- und Geheimmittel (kosmetische Mittel). Noch auf eine napoleonische Verordnung von 1810 (kaiserliches Dekret vom 5. Februar 1810) geht die Konzessionspflicht für Buchhandlungen und Buchdruckereien zurück. Eine Konzession durfte in diesen Fällen nur erteilt werden, wenn neben der Befähigung auch die Ergebenheit an Vaterland und Souverän nachgewiesen wurde. Eine Bestimmung, die in der Pfalz nach 1832 eine nicht unwesentliche Rolle spielte. Neben der Gewerbefreiheit war es vor allem die Abschaffung der Feudalrechte, die die Pfalz vom rechtsrheinischen Bayern unterschied. Mit seiner Ankündigung „Zehent und Feudalrechte…bleiben abgeschafft“ vom 1. Mai 1816 hat sich der erste Generalkommissar des Rheinkreises , der berühmte Freiherr Franz Xaver von Zwackh und sein König Max I. Joseph in die Herzen der Pfälzer eingeschrieben, die sich eine Rückkehr der alten Verhältnisse nach den Jahren der französischen Herrschaft nicht vorstellen konnten. Da aber die bayerische Verfassungsurkunde vom 26. Mai 1818 im Titel IV § 19 noch die Frohnden (die altbayerischen Scharwerke) und deren Umwandlung in gemessene erwähnte und im Art. V der Verfassungsurkunde alle Feudalrechte (gutsherrliche Gerichtsbarkeit, Familienfideikommisse, besonderer Gerichtsstand, Siegelmäßigkeit u. a.) fröhliche Auferstehung feierten und in besonderen Edikten (Verfassungsbeilage IV: Edikt über die Standesherren; Verfassungsbeilage V: Adelsedikt; Verfassungsbeilage VI: Edikt über die gutsherr36

Reichardt, S. 11 ff.

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liche Gerichtsbarkeit; Verfassungsbeilage VIII: Edikt über die Siegelmäßigkeit) erläutert wurden, musste die Entschließung vom 5. Oktober 1818 betonen, dass diese Bestimmungen für den Rheinkreis keine Geltung haben sollten. Das Edikt über die Standesherrn konnte in der Pfalz schon deswegen nicht angewandt werden, weil die dort ansässigen ehemals reichsunmittelbaren Grafen und Fürsten, wie etwa die Grafen und Fürsten von Leiningen, für ihre Besitzungen (die wie das gesamte linksrheinische Gebiet im Luneviller Frieden 1801 an Frankreich fielen) entschädigt worden waren (§ 20 des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803). Da keine der pfälzischen neuen und alten Adelsfamilien nennenswerten Grundbesitz in der Pfalz besaßen, kam es auch nicht zur Errichtung von adeligen Familienfideikommissen in der Pfalz, was rechtlich möglich gewesen wäre. Zu den dunklen Kapiteln der rechtsrheinischen Gesetzgebungsgeschichte gehört das Thema Ansässigmachung und Verehelichung. Besonders durch das Gesetz von 1834, das nicht für die Rheinpfalz galt, wurde den Gemeinden die Befugnis gegeben, relativ frei über Ansässigmachung in einer Gemeinde (Heimatrecht) und über die Verehelichung seiner Bewohner zu entscheiden. Beides wurde nur bei entsprechendem Vermögen der Bewerber gegeben, wobei die genehmigte Ansässigmachung (Heimatrecht) zunächst nur bedeutete, dass sich die Gemeinde bereit erklärte, im Falle der Verarmung zu haften. Für einen bedeutenden Teil der Bevölkerung, etwa für Dienstboten oder Taglöhner war damit der Weg zur Ansässigmachung verschlossen. Sie mussten immer damit rechnen, im Falle einer Notlage (wenn beispielsweise eine Dienstmagd ein Kind bekam), in ihre Heimatgemeinde zurückverwiesen zu werden. In der Pfalz dagegen, schreibt ein Autor im Jahre 186537 ist die Bevölkerung mit dem daselbst in diesen Dingen seit 50, 60 und 70 Jahren geltenden freieren Systeme zufrieden und wünscht in der Hauptsache keine Änderung. Welche Rechte genoss die Pfalz im Unterschied zum rechtsrheinischen Bayern im Bereich der Ansässigmachung? In der Pfalz konnte sich jeder Pfälzer ohne Einwilligung der Gemeinde oder einer Behörde niederlassen, wo er wollte. Er musste nur, wenn es sich nicht um seine Heimatgemeinde handelte, ein Bürgereinzugsgeld (Bürgergeld) bezahlen.38 Das Bürgergeld betrug je nach den damit gewährten Vorteilen 5 bis 200 fl. Kein Bürgergeld hatte derjenige zu zahlen, der sich nur für einige Zeit in der jeweiligen Gemeinde aufhalten wollte. Dieser musste dann einen Heimatschein beibringen, aus dem hervorging, in welcher Gemeinde er heimatberechtigt (= unterstützungsberechtigt, Verbot der Ausweisung) war. Wird der Aufenthalt ein ständiger, etwa durch den Erwerb eines Grundstücks, musste der Betreffende das Bürgergeld bezahlen; damit erwarb er auch eine neue Heimatberechtigung und galt als Ortsbürger, der auch zu den Gemeindenutzungen berechtigt war (Allmenden, Spital u. ä.). Mit dem Ortsbürgerrecht war noch nicht zwingend die Wahlberechtigung verbunden. 37

Die pfälzische Gesetzgebung über Freiheit der Niederlassung, der Verehelichung und des Gewerbebetriebs, in: Blätter für administrative Praxis 15 (1865), S. 113. 38 Verordnung der kgl. Bayerischen Landesadministration am linken Rheinufer vom 9. August 1816.

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Hier musste noch der Besitz eines besteuerten Grundstücks oder Gewerbes dazukommen. Das war in der Pfalz jedoch wegen der Gewerbefreiheit und wegen des Realteilungsprinzips unproblematisch. Mit dem komplizierten rechtsrheinischen bayerischen Ansässigmachungsverfahren war das Pfälzer Niederlassungsrecht nicht zu vergleichen. Gleiches lässt sich von der Verehelichung sagen. Zunächst richtete sich die Verehelichung in der Rheinpfalz nach dem Code civil und dessen Personenstandsrecht, das die Eheschließung nur unter streng geregelten Voraussetzungen untersagte. Das französische Recht kannte seit 1792 die Zivilehe und die Ehescheidung. Der Staat hielt sich in Frankreich also im Unterschied zum alten Kurfürstentum und Königreich Bayern bei der Kontrolle der Eheschließung weitgehend zurück. In der Pfalz durfte der Staat bzw. die Gemeinde nicht wie im rechtsrheinischen Bayern danach fragen, ob der Heiratswillige seine Familie ernähren konnte. Der Heiratswillige meldete sich lediglich beim Bürgermeister als Zivilstandsbeamten an und damit war die Ehe eine rein zivilrechtliche Angelegenheit. Keinem Pfälzer konnte der Bürgermeister die Ziviltrauung verweigern (Art. 74 Code civil). Damit entwickelte sich die Pfalz aber nicht zum Heiratsparadies für die Bewohner des rechtsrheinischen Bayern. Sobald nämlich ein „Ausländer“ in der Pfalz heiraten wollte und dazu gehörten auch die Bewohner der rechtsrheinischen sieben bayerischen Regierungsbezirke, mussten sie die dort erforderlichen Genehmigung vorweisen.39 Das Pfälzer Vorbild der Eheschließungs- und Ansässigkeitsfreiheit wirkte im restlichen Bayern nur beschränkt. Im Gegenteil: Die Freizügigkeit und die Zivilehe ohne obrigkeitliche Beschränkung galt im rechtsrheinischen Bayern vielfach als Grund für die allgemein angenommene sittliche Fragwürdigkeit der Pfälzer und ihres französisch angehauchten Lebensstils, obwohl die Tatsachen für die Pfalz sprachen: In der Pfalz war die Zahl der nichtehelichen Geburten zwei- bis dreimal so niedrig wie in den rechtsrheinischen Gebieten Im rechtsrheinischen Bayern dauerte es sehr lange, nämlich bis zum Heimatgesetz vom 16. April 1868, bis man den pfälzischen Standard erreicht hatte. Die Zivilehe wurde im restlichen Bayern erst durch das Reichsgesetz vom 6. Februar 1875 eingeführt. IV. Pfälzer Juristen und Revolutionäre: Das Beispiel Ludwig Ritter von Weis (1813 – 1880) Abschließend sei noch auf einige der vielen Pfälzer Juristen hingewiesen, die für die bayerische Rechtsgeschichte eine bedeutende Rolle spielten, nämlich auf Georg von Maurer, der bereits durch eine bedeutende Biographie gewürdigt wurde,40 auf 39 Die pfälzische Gesetzgebung über Freiheit der Niederlassung, der Verehelichung und des Gewerbebetriebs, in: Blätter für administrative Praxis 15 (1865), S. 119. 40 Dickopf.

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Friedrich von Zentner41 und den vergleichsweise unbekannteren Ludwig Ritter von Weis (1813 – 1880), der im Folgenden beispielhaft für die zahlreichen und hervorragenden Pfälzer Juristen des 19. Jahrhunderts wegen seiner merkwürdigen Laufbahn (vom Revolutionär zum Staatsbeamten) kurz gewürdigt werden soll. Dr. Ludwig (Ritter von) Weis,42 (Januar 1813 Zweibrücken – 15. Mai 1880 München) war seit 1. Februar 1841 Advokat in Zweibrücken und seit 1. Oktober 1851 ordentlicher Professor des französischen Rechts und des bayerischen Staatsrechts an der Universität Würzburg. Er machte vor allem als Landtagsabgeordneter von sich reden. Im Landtag war er einer der Führer der konservativen Kammermehrheit und Gegner des liberalen Ministeriums. Gegen den Widerstand des Ministeriums v. d. Pfordten-Reigersberg kämpfte er erbittert um die Trennung von Justiz und Verwaltung. Im Jahr 1854/55 (wo er als 2. Präsident der Kammer der Abgeordneten amtierte) gehörte er mit Hegnenberg und Lerchenfeld zu der Mehrheit, die das Vertrauensvotum für das Ministerium ablehnten und die Auflösung der Kammer herbeiführten. Bei der Neuwahl wurde von der Regierung seine Wahl auf Betreiben der Regierung angefochten und kassiert, aber die Nachwahl brachte ihn auf sein Mandat zurück. Im Folgenden verschärfte sich der Gegensatz zwischen Parlament und Regierung, was zur Aufhebung des Gesetzgebungsausschusses, dessen Berichterstatter Weis ab 1. April 1858 war, führte. Darüber hinaus wurde Weis fünf Tage später von seiner Stelle als Universitätsprofessor enthoben und an das Appellationsgericht für Mittelfranken in Eichstätt versetzt, weil er angeblich wegen seiner oppositionellen Gesinnung als Professor für bayerisches Staatsrecht ungeeignet sei. Obwohl seine Präsenz an der Universität wegen seiner Tätigkeit als Abgeordneter nicht die beste war, versuchte die Fakultät durch ein Immediatgesuch an den König die „betrübende“ und „schmerzliche“ Maßregel rückgängig zu machen. Mehr Eindruck beim König und beim Ministerium in München machte der Beschluss des Gemeindekollegiums der Stadt Würzburg, Weis zum Würzburger Ehrenbürger zu machen. Der Antrag wurde vom regierungsabhängigen Magistrat nicht bestätigt. Bei Beginn der neuen Landtagssession im September 1858 wurde Weis demonstrativ wieder zum zweiten Präsidenten gewählt, was am nächsten Tag (30. September 1858) zur Auflösung des Landtags führte. Bei den Neuwahlen im Januar 1859 unterlag Weis in seinem Wahlbezirk dem Regierungskandidaten, aber er wurde in drei rechtsrheinischen Bezirken gewählt und trat als Abgeordneter von Kaufbeuren in den Landtag ein, wo er wieder zum zweiten Präsidenten gewählt wurde, worauf der König nach zwei Monaten die Tagung wiederum vorzeitig schließen ließ (26. März 1859). Dies sollte der letzte Sieg des Ministeriums von der Pfordten sein, da man inzwischen auch in Hofkreisen erkannte, dass das Hin und Her zwischen Landtag und Regierung zunehmend zu einer Entzweiung zwischen Bürgertum und König führte. Mutig versuchte nun die Stadt Würzburg, Weis zum Bürgermeister zu wählen und fragte vorher deswegen in München an. Obwohl Innenminister Reigersberg wider41 42

Vgl. Heydenreuter, S. 101 ff. Chroust, S. 19 ff.

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sprach, hatte sich nun die Meinung des Königs geändert. Er soll bei dieser Gelegenheit die Worte gesprochen haben „Ich will Frieden haben mit meinem Volke“ und am 5. Juni 1859 wurde dem Magistrat mitgeteilt, dass der König „nicht das geringste“ gegen die geplante Wahl habe, die dann Ende Juni 1859 stattfand. Drei Jahre lang erwarb sich Weis große Verdienste um die Stadt. Dann erhielt er vom neuen Ministerium Schrenck43 das Angebot, als Ministerialrat im Justizministerium unter Minister Karl Christoph Frh. von Mulzer (seit 1. August 1864 Eduard Ritter von Bomhard) bei den zukünftigen Gesetzesvorhaben mitzuarbeiten. Dahinter stand natürlich der Versuch, den politischen Gegner zu „zähmen“. Weis ging auf das Angebot ein und wurde am 1. Mai 1862 zum Ministerialrat ernannt. Die Stadt Würzburg verlieh ihm nun (im zweiten Anlauf) endgültig das Ehrenbürgerrecht (Mai 1862). Im Ministerium widmete sich Weis vor allem der neuen Zivilprozessgesetzgebung (1869) und dem Genossenschaftsgesetz. Am 29. April 1869 erhielt er den Zivilverdienstorden und wurde als Ritter von Weis geadelt. In der Kammer der Abgeordneten trat er mit Rücksicht auf seine Stellung als Staatsbeamter nicht mehr stark hervor, bildete aber einen wichtigen Rückhalt der Patriotenpartei. Bei der von 11. bis 21. Januar 1871 währenden Diskussion um die Versailler Verträge setzte sich Weis gegen die Mehrheit seiner Partei für eine Zustimmung ein, er gehörte damals also zu den Befürwortern der kleindeutschen Lösung (ohne Österreich) und vertrat damit die Regierungsposition. Am 1. Mai 1871 wurde er Präsident des Appellationsgerichts der Pfalz und am 1. Mai 1879 versetzte man ihn auf seinen eigenen Antrag hin in den endgültigen Ruhestand. Wenig später kehrte er nach München zurück, wo er aber schon am 15. Mai 1880 starb. V. Zusammenfassung 20 Jahre französische Besetzung und 11 Jahre Zugehörigkeit zum französischen Staat machte es den Einwohnern der Pfalz nicht leicht, sich nach dem Anschluss an Bayern 1816 an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen, auch wenn man den Pfälzern 1816 und zuletzt noch nach Erlass der bayerischen Verfassung im Mai 1818 ausdrücklich ihre alten Rechte bestätigt hatte. Die Verfassung vom Mai 1818 galt nach der Bekanntmachung vom Oktober 1818 in der Pfalz nur eingeschränkt, insbesondere galten dort nicht mehr die Adelsrechte (Patrimonialgerichtsbarkeit), die im rechtsrheinischen Bayern durch die Verfassung wieder erneuert worden waren. Beibehalten wurde in der Pfalz als weitere „französische Institutionen“ die Gewerbefreiheit, die Öffentlichkeit der Rechtspflege, die Schwurgerichte sowie die Trennung von Gericht und Verwaltung. Die Schwurgerichte und die Trennung von Justiz und Verwaltung, wie sie in der Pfalz praktiziert wurden, galten als vorbildlich für Deutschland, insbesondere für das rechtsrheinische Bayern, wo die Schwurgerichte erst 1848 und die Trennung von Ge43 Karl Frh. v. Schrenck v. Notzing war vom 1. 5. 1859 – 4. 10. 1864 Staatsminister des Königlichen Hauses und des Äußeren.

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richt und Verwaltung erst 1861 eingeführt wurden. Die Pfälzer Abgeordneten in der Ständeversammlung ließen keine Gelegenheit aus, um ihre Überlegenheit in diesem Punkte deutlich zu machen. Der Gegensatz zwischen dem behäbigen Altbayern und dem redegewandten Pfälzer zeigte sich spätestens für jedermann nach Eröffnung der Ständeversammlung im Jahre 1819, als vor allem die Pfälzer (neben den Franken) die Rednertribüne in Anspruch nahmen. Bis ins 20 Jahrhundert findet dieser Gegensatz der Mentalitäten seinen Ausdruck in den mehr oder weniger liebenswerten Bezeichnungen, mit denen sich Pfälzer und rechtsrheinische Bayern bedacht haben. Der lebhafte Pfälzer war der „Krischer“ (der Kreischer), der rechtsrheinische Bayer (eine besonders Unterschied zwischen Altbayern, Franken und Schwaben wurde wohl nicht gemacht) war der „Zwockl“, ein Ausdruck, der sich wohl vom ersten pfälzischen Regierungspräsidenten, dem Frh. von Zwackh-Holzhausen, ableitet. Für die rechtliche Volkskunde interessant ist die Tatsache, dass man die anerkannte Lebenslust des Pfälzers und seine Beweglichkeit nicht zuletzt auf seine rechtliche Sonderstellung zurückführte, auf die Gewerbefreiheit, die Freizügigkeit, die Zivilehe und andere französische Institutionen. Es versteht sich aber auch, dass diese Bindung an französische Rechtsinstitutionen negativ bewertet wurde in einer Zeit, in der man sich unter dem nachwirkenden Mythos der Befreiungskriege von Frankreich und dem „welschen“ römischen Recht durch die Suche nach dem „deutschen Volksgeist“ abgrenzte. Diese Nähe des Pfälzers zu Frankreich, die sich in den Rechtsinstitutionen manifestierte, brachte ihm im restlichen Bayern einen gewissen Verdacht der Liederlichkeit und übertriebenen Geschäftigkeit („Krischer“) ein, was sich freilich gegen Ende des 19. Jahrhunderts legte, als sich der Anteil der Pfälzer an der höheren Beamtenschaft merklich steigerte. Insbesondere waren es dann die pfälzischen „Weinbarone“, die im rechtsrheinischen Bayern mehr und mehr Anerkennung fanden. Bemerkenswert ist, dass etwa mehrere Mitglieder der berühmten Weinbauernfamilien Jordan und Buhl aus Deidesheim als Landtagsabgeordnete in München tätig waren. Der 1911 in die Kammer der Reichsräte berufene nationalliberale Franz von Buhl, 1917 Mitbegründer der Deutschen Vaterlandpartei, die für weit gesteckte Kriegsziele eintrat, war einer der wenigen Pfälzer, die es in die Kammer der Reichsräte schafften. Dr. Friedrich von Bassermann-Jordan, Weingutsbesitzer und Weinbaubesitzer, war einer der letzten Zivilisten, die der bayerische König Ludwig III. vor dem Zusammenbruch der Monarchie noch geadelt hat (9. November 1917). Damit waren die Pfälzer, zumindest ihre „Weinbarone“, endgültig im Königreich Bayern angekommen. Literatur Amtsblatt des Rheinkreises. Baumann, Kurt: Das pfälzische Appellationsgericht in der Zeit von 1815 bis 1871, in: Festschrift zum 150jährigen Bestehen des pfälzischen Oberlandesgerichts, hrsg. v. W. Reinheimer, Zweibrücken 1965, S. 1 – 57.

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Chroust, Anton: Dr. Ludwig Weis, in: ADB 55, (Leipzig 1910), S. 19 – 24. Dickopf, Karl: Georg Ludwig von Maurer 1790 – 1872. Eine Biographie, München 1960. Dölemeyer, Barbara/Mohnhaupt, Heinz/Somma, Alessandro (Hrsg.): Richterliche Anwendung des Code civil in seinen europäischen Geltungsbereichen außerhalb Frankreichs, Frankfurt a. M. 2006. Döllinger, Georg: Sammlung der im Gebiete der inneren Staatsverwaltung des Königreichs Bayern bestehenden Verordnungen, 20 Bde, München 1835/39. Dury, Walter: Zweibrücken – die pfälzische Residenz des Rechts, in: Glück-Christmann, Charlotte (Hrsg.): Zweibrücken 1793 – 1918. Ein langes Jahrhundert, Zweibrücken 2002. Fenske, Hans (Hrsg.): Die Pfalz und Bayern 1816 – 1956 (Veröffentlichungen der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften 94), Speyer 1998. Gesetz und Verordnungsblatt des Königreichs Bayern. Gesetzblatt des Königreichs Bayern. Haan, Heiner: Die bayerische Personalpolitik in der Pfalz von 1816/18 bis 1849, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 3 (1977), S. 351 – 394. Haan, Heiner: Die Berufung von Pfälzern in die obersten bayerischen Staatsbehörden (1816 – 1870), in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 4 (1978), S. 271 – 280. Haan, Heiner: Die Eingliederung der Pfalz in die bayerische Verwaltungsorganisation 1816 – 1870, in: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 77 (1979), S. 253 – 267. Haan, Heiner (Bearbeiter): Hauptstaat-Nebenstaat. Briefe und Akten zum Anschluss der Pfalz an Bayern 1815/17 (Veröffentlichungen der Landesarchivverwaltung Rheinland Pfalz 29), Koblenz 1977. Haan, Heiner: Kontinuität und Diskontinuität in der pfälzischen Beamtenschaft im Übergang von der französischen zur bayerischen Herrschaft (1814 – 1818), in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 2 (1976), S. 285 – 309. Heydenreuter, Reinhard: Der Mann hinter Montgelas. Zum 250. Geburtstag des „Verfassungsvaters“ Georg Friedrich Freiherr von Zentner (1752 – 1835), in: Die Pfalz 53 (2002), S. 101 – 121. Kolb, Friedrich: Rheinbaiern, in: Rotteck-Welcker, Staatslexikon, Bd. 2, Altona , o. J. (1835). Königlich-Baierisches Regierungsblatt 1816. Meikel, G. (Hrsg.): Bayerische Ausführungsgesetze zum Bürgerlichen Gesetzbuche, zur Civilprozess-Ordnung und zum Gerichts-Verfassungs-Gesetz, München 1901. Montgelas, Maximilian Joseph von: Denkwürdigkeiten des Grafen Maximilian Joseph v. Montgelas über die innere Staatsverwaltung Bayerns, hrsg. von G. Laubmann u. M. Doeberl. Nebst einer Einl. über die Entstehung des modernen Staates in Bayern von M. Doeberl, München 1908. Pfälzische Geschichte, Bd. 2, 2. Aufl., hrsg. von Karl-Heinz Rothenberger, Karl Scherer, Franz Staab, Jürgen Keddigkeit, Kaiserslautern 2002. Reichardt, Georg Ludwig: Über die notwendige Einführung der Gewerbefreiheit, München 1865.

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Die Signate König Ludwigs I., ausgewählt und eingeleitet von Max Spindler, hrsg. von Andreas Kraus. Bd. 2, München 1987. Schmitt, Friedrich: Die provisorische Verwaltung des Gebietes zwischen Rhein, Mosel und französischer Grenze durch Österreich und Bayern in den Jahren 1814 – 1816 (Mainzer Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 10), Mainz 1962. Schubert, Werner (Hrsg.): Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Zivilrecht, Gerichtsverfassungsrecht, Zivilprozessrecht. Köln 1977. Schubert, Werner (Hrsg.): 200 Jahre Code civil. Die napoleonische Kodifikation in Deutschland und Europa, Köln 2005. Siebenpfeiffer, Philipp Jakob: Handbuch der Verfassung, Gerichtsordnung und gesammten Verwaltung Rheinbayerns, 5 Bde, 1831 – 1833, fortgesetzt von Luttringhausen, N., 2 Bde. 1846. Völderndorff, Otto Frh. von: Civilgesetzstatistik des Königreichs Bayern, Nördlingen 1880. Weber, Karl: Neue Gesetz- und Verordnungen-Sammlung für das Königreich Bayern mit Einschluss der Reichsgesetzgebung, 42 Bde. München 1880 – 1919; Anhangband, München 1894. Weis, Eberhard, 150 Jahre Pfalz-Bayern. Der Münchner Vertrag von 1816 zwischen Bayern und Österreich, in: Stimme der Pfalz 17 (1966) S. 4 – 8.

Die pfälzische Landwirtschaft des 19. Jahrhunderts im Spiegel des bayerischen Stammlandes Von Alois Seidl †, Weihenstephan I. Als der pfalz-zweibrückische Hofgärtner und fürstliche Rat August Petri (1744 – 1809) infolge der napoleonischen Kriegswirren 1802 nach Bayern kam, berichtete er an seinen Dienstherrn, den nunmehrigen Kurfürsten Max IV. Joseph (1799 – 1806; König Max I. Joseph 1806 – 1825) Folgendes: „– ich hatte kaum … die Kurfürstlich Bairischen Staaten erreicht, so fand ich, daß die Kultur der Land-Wirthschaft noch in seiner Kindheit wie in einer Wiege schlumre –“.1 Kurfürst Max IV. Joseph, dem die Hebung der Landwirtschaft als dem wichtigsten Wirtschaftszweig ein persönliches Anliegen war, nahm dessen Vorschläge, die vor allem auf eine Verbesserung der Futter- und Viehwirtschaft, besonders der Schafhaltung abzielten, huldvoll entgegen. Er hatte im gleichen Jahr einen fähigen jungen Mann, Max Schönleutner2 (1778 – 1831), zu Albrecht Daniel Thaer3 (1752 – 1828), dem damals führenden deutschen Agrarwissenschaftler, nach Celle geschickt, um dort die Grundbegriffe einer rationellen, also vernunftbegründeten, unternehmerisch ausgerichteten Landwirtschaft kennenzulernen. Auch Schönleutner, Wegbereiter des „Grünen Zentrums Weihenstephan“, äußert sich kritisch über den Zustand der heimischen Landwirtschaft, wenn er schreibt: „Noch bleibt der Landmann, was er ist, noch arbeitet er in dem von Urgroßältern ererbten Schlendrian mechanisch fort…“.4 Schönleutner war es auch, der für den Ausbau der ehemaligen Klosterökonomie Weihenstephan bei Freising zu einer Musterlandwirtschaft einen Baumeister und mehrere Knechte aus der Pfalz einstellte. Er erwartete, dass diese, im Gegensatz zu den vorhandenen Arbeitskräften „… von Vorurtheilen frey und wenigst zum Theile schon einer besseren Ackerbestellung kundiger wären …“.5 Mögen diese Beurteilungen auch subjektiv sein, eingefärbt vielleicht von der gefühlten Wichtigkeit der eigenen Aufgabe. Sie sollen doch Anlass sein, der Frage 1 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (nachfolgend BayHStA), MF 18735, Schreiben vom 30. September 1802. 2 Zu Max Schönleutner: Seidl, Schönleutner – Künder, S. 134 ff. 3 Zu Albrecht Daniel Thaer: Seidl, Agrargeschichte, S. 144 ff. 4 BayHStA, MF 66686, Unterrichtsplan vom 16. November 1803. 5 BayHStA, MF 20992, Schreiben vom 1. Februar 1804.

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nachzugehen, wie es sich mit der Landwirtschaft im links-und rechtsrheinischen Bayern in diesem von der wittelsbachischen Herrschaft geprägten 19. Jahrhundert verhielt. Ferner, wie weit diese getrennten Landesteile in einem fachlich-geistigen Austausch standen. Bezüglich der ersten Frage werden die agrarpolitischen Rahmenbedingungen zu betrachten sein und die große Palette der landwirtschaftlichen Erzeugung. Bei der Beantwortung der zweiten Frage sollen Persönlichkeiten im Mittelpunkt stehen, die als Repräsentanten des angesprochenen geistig-fachlichen Austausches angesehen werden können. II. 1. Agrarpolitische Rahmenbedingungen: Agrarverfassung, Agrarstruktur, Agrarbildung Eine grundlegende Umgestaltung der Agrarverfassung brachten die Agrarreformen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, meist zusammengefasst unter dem Begriff Bauernbefreiung. Diese umfasste die Lösung der grund-, leib- und gerichtsherrschaftlichen Bindungen, denen der Bauer jahrhundertelang unterworfen gewesen war. Im rechtsrheinischen Bayern wurde die Bauernbefreiung endgültig erst mit dem „Gesetz über die Aufhebung der standes- und gutsherrlichen Gerichtsbarkeit, dann die Aufhebung, Fixirung und Ablösung von Grundlasten“ vom 4. Juni 1848 abgeschlossen. In den von Frankreich annektierten linksrheinischen Gebieten und damit auch in der ab 1816 bayerischen Rheinpfalz, waren 50 Jahre früher, mit Erlass vom 26. März 1798, sämtliche Feudalrechte aufgehoben worden.6 Dies hatte vor allem zwei Auswirkungen: a) Das bisherige durch die Vielzahl der Grundherren bestimmte Chaos bäuerlicher Lasten wurde ersetzt durch eine einheitliche an den französischen Staat zu entrichtende Steuer. Trotz dieser Einheitlichkeit bestand noch keine Steuergerechtigkeit, da die Vermessung und Bonitierung der besteuerten Gründe noch ausstand. Die Erstellung des sogenannten Urkatasters kam erst 1809 in Gang und wurde 1842 abgeschlossen.7 Aber immerhin war der Pfälzer Bauer nun Volleigentümer, Vollbürger und Vollunternehmer geworden. b) Volleigentum bedeutete auch, dass die Gebundenheit der Güter, sofern sie noch bestanden hatte, aufgehoben war. Dies bedeutete, dass die in der Pfalz weithin bestehende Erbsitte der Realteilung ohne Einschränkung ausgeübt werden konnte. Ja sie wurde 1804 mit der Einführung des Code Napoleon und dem darin enthaltenen Artikel 831 als gesetzliche Erbregelung festgelegt. Der Artikel bestimmt, dass die Erb-

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Weidmann, S. 51 f. Baumann, S. 89 ff.

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masse zu gleichen Losen auf die Erben aufzuteilen ist (! d’autant de lots egaux qu’il y a d’heritiers copartageants). Die Ergebnisse der Bauernbefreiung und die Legalisierung der Realteilung blieben als Kernstücke der Agrarreformen in der französischen Besatzungszeit auch nach der Einverleibung der Rheinpfalz in das Königreich Bayern in Geltung. Der Pfälzer Bauer war und blieb frei. Gegenüber seinen rechtsrheinischen Berufsgenossen hatte er allerdings einen entscheidenden agrarstrukturellen Nachteil. Dieser lag, sicher mitbedingt durch die Realteilung, in der geringen Betriebsgröße und in der Flurzersplitterung. Gemäß der frühesten Betriebsstatistik nach Durchführung der Landvermessung von 18548 lag die durchschnittliche Betriebsgröße in der Pfalz bei 2,89 ha im Vergleich zum bayerischen Durchschnitt von 4,94 ha. Zum Ende des Jahrhunderts hin nahm die durchschnittliche Betriebsgröße in der Pfalz weiter ab, eine Folge der weiterhin üblichen Realteilung, im bayerischen Durchschnitt zu. Die Flurzersplitterung zeigt ein ähnliches Bild. So entfielen 1854 auf eine Betriebsflur in der Pfalz 19,7 Teilstücke, woraus sich eine durchschnittliche Flurstücksgröße von 0,15 ha ergibt, im bayerischen Durchschnitt waren es 0,33 ha. Die Flurzersplitterung führt der Pfälzer Musterlandwirt Adam Müller (1814 – 1879), 1849 bis 1864 Mitglied der Kammer der Abgeordneten in München, als Hauptgrund dafür an, dass Geräte und Maschinen noch nicht in dem Maße Eingang gefunden hätten, „als man von einer so fleißigen und intelligenten Bevölkerung erwarten sollte“.9 Ähnlich ungünstige Verhältnisse wie die Pfalz weist nur der Regierungsbezirk Unterfranken auf. In beiden Regierungsbezirken spielt der Weinbau eine maßgebliche Rolle, was das Urteil mildert. Denn der Weinbau ist handarbeitsintensiv und tendiert daher naturgemäß zum kleineren Betrieb. Nur etwa 1 ha Rebfläche konnte auf der Handarbeitsstufe von einer Vollarbeitskraft bewältigt werden.10 Bestätigt wird dies dadurch, dass das Landeskommissariat Neustadt, Zentrum des Weinbaus, mit 1,58 ha durchschnittlicher Betriebsgröße den niedrigsten Wert, das Landeskommissariat Homburg, in dem getreidestarken Westrich gelegen, mit 4,25 ha den höchsten Wert aufweist. Die kleinbetriebliche Agrarstruktur im Verein mit einer Bevölkerungsexplosion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (1801: 330797 Einwohner; 1849: 616370 Einwohner) führten zu Ernährungskrisen und Auswanderungswellen.11 Eine Entlastung brachten erst nach der Jahrhundertmitte infolge verbesserter Produktionstechnik (Geräteausstattung, Düngung) allmählich ansteigende Erträge und die im Vergleich zum rechtsrheinischen Bayern früh einsetzende Industrialisierung.

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Berechnungsgrundlage: von Hermann, Statistik 1857, Tafel IX. Die aufgeführten Zahlen beziehen sich auf die Privatlandwirtschaft. Nicht einbezogen sind staatliche und kommunale Betriebe sowie Betriebe von Stiftungen und Körperschaften. 9 Müller, Adam, Landwirthschaft, S. 462. 10 Oberhofer / Schumann, S. 115. 11 Paul, S. 69 ff.

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Freies Unternehmertum hat nur Bestand, wenn es auf die notwendige fachliche Bildung zurückgreifen kann. Der in Zweibrücken gebürtige, später in Passau und Weihenstephan tätige Schüler Schönleutners, Karl Hornstein (1798 – 1887), drückte es so aus: „Die Landwirthschaft ist eine Naturwissenschaft in ihrer Anwendung, welche durch Gewinn beim Verkauf ihrer Erzeugnisse ihren Lohn sucht; folglich ist das Studium der Naturwissenschaften und Mathematik – zwei Begriffe, die ungemein viel enthalten – die wichtigste Bedingung für einen Landwirth, der nicht eine lebendige sich selbst aufreibende Maschine seyn will“.12 Der erste größere Schub in dieser Richtung war die Errichtung der Landwirtschafts- und Gewerbeschulen. Diese geht auf die Lehrplanund Schulreform von 1833 unter König Ludwig I. (1825 – 1848) zurück, der dem zunehmenden Bedarf an technisch-gewerblicher Bildung Rechnung tragen sollte. Auch die Landwirtschaft sollte in diesen Schulen Berücksichtigung finden. So heißt es in der entsprechenden Verordnung: „Um neben dem gewerblichen auch den landwirthschaftlichen Unterricht angemessen zu fördern, und auch dem so wichtigen ackerbauenden Stande einen Beweis Unserer väterlichen Fürsorge zu geben, wollen Wir nicht nur jede (…) Gewerbsschule Unseres Reiches auch jungen Landwirthen hinsichtlich der ihrem Berufe verwandten Unterrichtsgegenständen geöffnet, sondern auch an dem Sitze jeder Kreisgewerbsschule einen eigenen Landwirthschaftslehrer … aufgestellt … wissen.“13 1833/34 wurden in Bayern 22 Landwirtschafts- und Gewerbeschulen eingerichtet, davon drei im Rheinkreis, nämlich in Kaiserslautern, Landau und Speyer. Zweibrücken folgte 1836. An der Kreis- Landwirtschafts- und Gewerbeschule Kaiserslautern wurde ein Landwirtschaftslehrer angestellt. Als landwirtschaftliche Fachschulen konnten sich die Landwirtschafts- und Gewerbeschulen jedoch nicht durchsetzen. Ihnen liefen die Winterschulen den Rang ab, die eine kurze, auf das Winterhalbjahr beschränkte Betriebsleiterausbildung vermittelten.14 Dieses Angebot kam gerade dem kleinen pfälzischen Familienbetrieb entgegen, bei dem die Bildungsbereitschaft ohnehin nicht groß war15, setzte sich aber in ganz Bayern durch. Die Auseinanderentwicklung der landwirtschaftlichen und gewerblichen Komponente der Landwirtschafts- und Gewerbeschulen lässt sich an der Kreis- Landwirtschafts- und Gewerbeschule Kaiserslautern genau verfolgen. Während sich der gewerbliche Zweig 187716 zu einer Realschule, später zu einer Oberrealschule, also in die allgemeinbildende Richtung weiterentwickelte, wurde schon 1866 eine auf zwei Winterhalbjahre angelegte landwirtschaftliche Winterschule eingerichtet, also die landwirtschaftlich-fachliche Richtung eingeschlagen. Als die Winterschule 1898 zu einer dreisemestrigen Ackerbauschule erweitert wurde, mit 12

Hornstein, S. 32. Regierungs-Blatt für das Königreich Bayern, Nr. 9 vom 23. Februar 1833, Spalte 183 f. Der „Kreis“ entspricht dem heutigen Regierungsbezirk. 14 Vgl. hierzu Seidl, Agrargeschichte, S. 163 f. 15 Laufer, S. 258 ff. 16 Gemäß Verordnung über die Umbildung der Gewerbsschulen in Realschulen vom 29. April 1877. Im gleichen Jahr wurde im rechtsrheinischen Bayern in Freising die erste Schule unter dieser Bezeichnung eröffnet, ebenfalls an einer Gewerbeschule. 13

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dem Ziel, „durch wissenschaftlichen Unterricht und praktische Unterweisungen jungen Landwirten eine den Forderungen der Zeit angemessene Berufsbildung zu geben“,17 trennten sich die Wege beider Bildungsanstalten endgültig.18 Kaiserslautern ist ein Beispielsfall für ähnliche Abläufe im bayerischen Schulwesen. Dem Bildungsund Forschungssektor zuzurechnen ist die „landwirthschaftliche Kreisversuchsstation“ in Speyer, die 1875 auf Anregung des pfälzischen Kreiskomitees des landwirtschaftlichen Vereins in Bayern errichtet wurde.19 Sie wurde bereits 1884 zu einer öffentlichen Untersuchungsanstalt für Nahrungs- und Genussmittel erweitert.20 2. Agrarproduktion und Agrarmarkt Von der rheinpfälzischen Gebietsfläche von rd. 5930 km2 waren 1854 57 % landund 38 % waldwirtschaftlich genutzt. Maßgebend für die pflanzliche Erzeugung ist zunächst und vor allem der natürliche Standort. Hierbei soll grob zwischen der Vorderpfalz (Rheintal mit Haardt) und der waldreichen, hügeligen und bergigen Westpfalz (Westrich) unterschieden werden. Die Vorderpfalz ist ein ausgesprochenes landwirtschaftliches Intensivgebiet mit besten Ackerlagen, wobei das Rheintal zur in Frage stehenden Zeit als deutschlandweit höchst stehende Agrarlandschaft angesehen wurde. In diesem Sinne schreibt auch Johann Nepomuk Schwerz (1759 – 1844), der kongeniale Zeitgenosse Thaers an der agrarischen Bildungsstätte in Hohenheim, von der pfälzischen Landwirtschaft als einem Schatz, der gehoben werden müsse, damit auch andere daraus Nutzen ziehen könnten.21 Nicht von ungefähr wurde in einer Diskussion um die Notwendigkeit von Musterlandwirtschaften in der Kammer der Abgeordneten davon gesprochen, dass man die pfälzische Landwirtschaft nicht mit der rechtsrheinisch bayerischen vergleichen könne, da die im Rheintal betriebene Landwirtschaft eigentlich Gartenbau sei.22 Die aus dem Rheintal ansteigende Haardt ist das klassische pfälzische Weinbaugebiet. Auf dem westlich anschließenden, hinsichtlich Boden und Klima ungünstigeren Westrich wurde dementsprechend zwangsläufig eine extensivere Landwirtschaft betrieben. Kennzeichnend für die landwirtschaftliche Nutzung in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Dominanz des Ackerbaus. Betrug das Ackerland-Grünland-Verhältnis in Bayern 2,2:1, so in der Pfalz 4,7:1. 17 Erster Jahresbericht über die Pfälzische Kreisackerbauschule zu Kaiserslautern für das Schuljahr 1898/99, S. 3. 18 Straub, S. 267 ff. 19 Archiv des Hauses der bayerischen Landwirtschaft (nachfolgend AHdbL), GC 1147, Schreiben des Kreis-Komitees des Landwirtschaftlichen Vereins für die Pfalz vom 5. April 1875. Maßgebend waren die Vorschläge von dem Liebig-Schüler und Professor an der Polytechnischen Schule in München Julius Lehmann, der die dort bestehende landwirtschaftliche Zentralversuchsstation für das Königreich Bayern reorganisiert hatte. 20 Bayerischer Landwirtschaftsrat, Denkschrift 1890, S. 687. 21 Schwerz, S. III f. 22 Verhandlungen der zweiten Kammer der Ständeversammlung des Königreichs Bayern, 9. Bd., München 1819, S. 9 f.

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Auch im Ackerflächenverhältnis, also im Anteil der einzelnen Fruchtarten an der Ackerfläche zeigen sich bedeutende, teils standörtlich, teils historisch bedingte Unterschiede (siehe Tabelle 1). Tabelle 1 Vergleich des Acker- und Nutzflächenverhältnisses der Rheinpfalz und Bayerns (1854)23 Pfalz Nutzungsart

Bayern % Ackerfläche

ha

% Ackerfläche

ha

Weizen

22.044

15,7

239.833

13,8

Roggen

44.298

31,5

604.906

34,8

Dinkel (Spelz)

26.635

19

126.710

7,3

Gerste

20.751

14,8

287.392

16,5

Hafer

25.743

19

479.113

27,6

140.471

51,1

1.737.954

57,9

5.938

2,2

51.668

1,7

49.654

18

233.301

7,8

5.992

2,2

56.761

1,9

55.646

20,2

290.062

9,7

Feldfutterbau (ohne Rüben)

29.584

10,8

245.619

1,2

Wein

10.299

3,7

22.109

0,7

Sonstige Handelsgewächse

13.034

4,7

66.724

2,2

Vollbrache

20.075

7,3

587.717

19,6

Getreide insges. Sonstige Körnerfrüchte Kartoffeln Rüben Hackfrüchte insges.

%Landw. Fläche Ackerfläche insges. Wiesen Weiden Dauergrünlandfläche insges. Landw. Gartenbau Landw. genutzte Fläche insges. 23

275.047

81,4

53.309

%Landw.Fläche 3.001.853

65.5

1.210.959

4.869

293.916

58.778

17,4

1.504.875

32,8

4.081

1,2

75.810

1,7

337.906

100

4.582.538

100

Beiträge zur Statistik des Königreichs Bayern, H.7, 1857.

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Bei der Fruchtartengruppe Getreide fällt der vergleichsweise hohe Dinkelanteil ins Auge. Dies entspricht dem traditionell starken Dinkelbau im südwestdeutschen Raum mit Anbaukern in der Schweiz.24 Verwiesen sei auch auf Hildegard von Bingen, die dem Dinkel einen besonders hohen gesundheitlichen Wert beimaß. Als weitere Körnerfrucht finden wir in der Pfalz einen bedeutenden Rapsanbau, wohin er sich von den Niederlanden her ausbreitete. Man baute ihn entweder auf das sorgfältig bereitete Brachfeld an oder zog ihn in Pflanzgärten heran, um ihn später zu verpflanzen.25 Bei den Hackfrüchten fällt der starke Kartoffelbau der Pfalz auf. Wenngleich sich der feldmäßige Kartoffelanbau sowohl links wie rechts des Rheins auf das 17. Jahrhundert zurückführen lässt, hat er sich in der Pfalz wesentlich schneller und stärker verbreitet.26 Dies ist vor allem auf die ernährungswirtschaftlich angespanntere Situation zurückzuführen, bedingt durch eine vergleichsweise hohe Bevölkerungsdichte und die kleinbetriebliche Struktur der Landwirtschaft. Auch die Hungersnot von 1816/17, Folge einer vor allem in Südwestdeutschland durch Dauerregen verursachten Missernte, trug zu ihrem Aufstieg als Volksnahrungsmittel bei. Vom natürlichen Standort her eignen sich besonders die leichteren Böden des Westrichs für den Kartoffelanbau. So heißt es in einem Bericht des Landwirtschaftlichen Vereins: „Im hinteren Theile der Pfalz nimmt die Kartoffel fast 1/3 des Feldes ein, dient jedoch daselbst nur zum eigenen Bedarf, insbesondere auch für die Brennereien. Im Bezirk Pirmasens entscheidet der Ernteausfall der Kartoffel geradezu über Wohl und Wehe der Bewohner.“27 Pfälzische Kolonisten waren es auch, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen produktionstechnisch hochstehenden Kartoffelbau in das um Neuburg an der Donau gelegene Donaumoos brachten, woraus sich der bis heute blühende Saatkartoffelbau entwickelte. Obwohl seinerzeit zwischen Futter- und Zuckerrüben zumindest statistisch nicht unterschieden wurde, ist zu bemerken, dass in der Pfalz schon während der französischen Besatzungszeit im Zusammenhang mit der von Napoleon verfügten Kontinentalsperre die ersten Anstöße kamen, Zucker aus Rüben herzustellen. Zu später größerer Bedeutung gelangte die Zuckerfabrik in Frankenthal. 1838 in Kaiserslautern gegründet, wurde sie 1843 nach Frankenthal verlegt, wo sie sich zur damals größten deutschen Zuckerfabrik entwickelte. Günstige Verkehrslage und sehr gute natürliche Voraussetzungen für den Rübenanbau haben dazu beigetragen. Nach dem Ersten Weltkrieg fasste die Fabrik mit Produktionsstätten in Ochsenfurt und Regensburg auch im rechtsrheinischen Bayern Fuß. Letztlich gingen alle diese Werke in der heute noch bestehenden Südzucker AG auf. Die Fabrik Frankenthal war aller-

24

Körber-Grohne, S. 75 ff und Miedaner / Longin, S. 32 f. Schröder-Lembke, Raps-und Rübsenanbau, S. 183 ff. 26 Vgl. hierzu Weidmann, S. 116 ff. und Wirsing, S.23 ff. 27 General-Comité des Landwirthschaftlichen Vereins in Bayern, Denkschrift 1860, S. 613.

25

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dings im Zweiten Weltkrieg so stark zerstört worden, dass sie nicht wieder aufgebaut wurde.28 Der höhere Feldfutterbau in der Pfalz ist vor allem auf den erwähnten geringen Dauergrünlandanteil zurückzuführen. Eine besondere Rolle spielen dabei die Futterleguminosen, vor allem Klee, Luzerne und Esparsette. Als Ausgangszentren für den deutschen Kleeanbau werden neben Italien vor allem die Niederlande angesehen, von wo aus er seinen Weg in die Pfalz fand. Wallonische Religionsflüchtlinge sollen ihn dorthin schon im 16. Jahrhundert mitgebracht haben.29 Wie bei allen Neuerungen, insbesondere wenn sie von der Obrigkeit verordnet werden, regte sich auch gegen den Kleeanbau bäuerlicher Widerstand, der im Pfalz-Zweibrückischen besonders ausgeprägt war. So heißt es denn auch, auf der Titelseite einer Schrift über den richtigen Kleebau: „Auf hohen Befehl zum Besten des Pfalz-Zweybrückischen Landmanns“.30 Als Königin der kleeartigen Futterpflanzen wird darin die Luzerne bezeichnet, der Rotklee wird als Holländischer Klee benannt, was den beschriebenen Verbreitungsweg bestätigt. Bei der Gruppe der Handelsgewächse ist der Wein zu benennen, „die Krone aller Produkte der pfälzischen Landwirtschaft“.31 Der Betriebsstruktur nach liegt der Weinbau vor allem in der Hand kleinbäuerlicher Betriebe. Typisch ist folgende Beschreibung eines Weinbaubetriebes aus Deidesheim: „Der Besitz des Winzers N. N. … ist parzelliert und umfaßt 90 a … 40 a dienen dem Weinbau, 50 a als Ackerland. Die Weinberge in der Größe von meist 1/16 bis 1/8 ha haben gemischten Satz, Franken, Riesling und Traminer. Die Äcker werden mit Korn, Gerste, Kartoffeln und Rüben bestellt. Der Ertrag dient dem eigenen Haushalt.1 Kuh, 1 Ziege, gewöhnlich 2 Schweine und 10 bis 12 Hühner werden ebenfalls für den eigenen Haushalt gehalten. Das Korn wird selbst zur Mühle gebracht, das Brot im Hause gebacken. Die Weinberge werden mit Stallmist gedüngt, die Äcker erhalten noch eine Beigabe von künstlichen Düngern. Der Ertrag aus den Weinbergen wird alljährlich an das Haus N. N., Weingut in Deidesheim, zum Herbstpreis abgeliefert. Äcker und Weinberge werden selbst bebaut. Die Frau ist mit tätig. Die übrige Zeit bringt Verdienst bei obengenanntem Weingut, teils im Akkord, teils im Tagelohn“.32 Misst man das durchschnittliche Fruchtartenverhältnis an den beiden Hauptmerkmalen der von Albrecht Daniel Thaer und seinem Schüler Max Schönleutner verkündeten rationellen Landwirtschaft, nämlich regelmäßigen Wechsel von Halm- (Getreide) und Blattfrucht (z. B. Klee, Rüben) und verstärkten Feldfutterbau, bei gleichzeitiger Einschränkung der Brache, so ergibt sich:

28

Verband Hessisch- Pfälzischer Zuckerrübenanbauer e. V., S. 26 ff. Schröder-Lembke, Kleeanbau, S.143 f. 30 Schimper, Titelblatt. 31 Müller, Adolf, S. 97. 32 Dade, S. 102. 29

Die pfälzische Landwirtschaft im Spiegel des bayerischen Stammlandes

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a) Die pfälzische Landwirtschaft liegt mit einem Getreideanteil an der Ackerfläche von 51,1 % nahe beim reinen Fruchtwechsel, dem ein Anteil von 50 % entsprechen würde. Dass die Fruchtwechselwirtschaft gelegentlich auch als „rheinische Wirtschaft“ bezeichnet wird, unterstreicht diese Tatsache.33 b) Die Ausweitung des Feldfutterbaus, insbesondere des Kleebaus, ermöglichte eine Aufstockung der Viehhaltung, und damit eine Erhöhung der Stallmistproduktion, die, da die Mineraldüngung noch in den Kinderschuhen steckte, Voraussetzung für hohe Erträge im Ackerbau und auch im Weinberg war. c) Der geringe Weideanteil an der ohnehin geringen Dauergrünlandfläche führte zwangsläufig zur ganzjährigen Stallhaltung des Viehs und damit zu einer geregelten Stall- und Stalldüngerwirtschaft. Über den aufgeführten Merkmalen eines fortschrittlichen Landbaus darf allerdings nicht übersehen werden, dass dieser auch wesentlich durch die Intensivlandwirtschaften des benachbarten Auslandes, insbesondere der damaligen Niederlande, beeinflusst war. Hinzuweisen ist dabei neben der erwähnten Übernahme von Blattfrüchten und der damit verbundenen Fruchtwechselwirtchaft auch auf Entlehnungen im Pflugbau, die eine verbesserte Bodenbearbeitung ermöglichten. Aus belgischen Vorbildern („Brabanter“, „Flandrischer Pflug“) wurde der Schwerz’sche oder Hohenheimer Pflug34 entwickelt, wie auch der Dombasle-Pflug35, die sich in Südwest-Deutschland weit verbreiteten. Diese Pflüge unterschieden sich von den herkömmlichen altdeutschen vor allem dadurch, dass sie statt des geraden hölzernen ein gewölbtes eisernes Streichbrett hatten. Die bedeutendsten Zweige der Viehhaltung um die Jahrhundertmitte waren Pferde-, Rindvieh- und Schafhaltung, wobei die flächenbezogene Viehdichte der Pfalz etwa der Gesamtbayerns entsprach. Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Pferde. Für die technisch weiterentwickelte Landwirtschaft, für den Transport, für Repräsentation und nicht zuletzt für das Militär war das Pferd unentbehrlich. Gerade aus dem letztgenannten Grunde wurde eine planmäßige, staatliche Pferdezucht betrieben. In der Pfalz übernahm das Landgestüt Zweibrücken diese Aufgabe. Das dort gezüchtete „Zweibrücker Pferd“, ein Warmblüter mit arabischem und englischem Blut, war ein Reit- und Wagenpferd, das auch für die leichte Kavallerie geeignet war.36 Für den Einsatz in der Landwirtschaft wurden vor allem französische Kaltblutrassen bevorzugt, beispielsweise der schwere Ardenner oder der mittelschwere Anglonormanne. Die Zucht dieser Pferde wurde weitgehend Privatbetrieben überlassen.37 Die 33

Kraus, S. 259. Herrmann, S. 8 ff. 35 Benannt nach dem bedeutenden französischen Agronomen Christophe Mathieu de Dombasle, Zeitgenosse Albrecht D. Thaers und Übersetzer von dessen Werken. 36 Weidmann, S. 237. 37 AHbdL, GC 1020, Landratsabschied vom 12. Juni 1866. 34

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größte Pferdedichte in der Pfalz wies das Landeskommissariat Speyer auf, die niedrigste das Landeskommissariat Pirmasens.38 Die Rinderzucht war anfangs des 19. Jahrhunderts durch Einkreuzungen in die zahlreichen Landschläge gekennzeichnet. Um die Jahrhundertmitte wurden für Bayern noch 23 Landschläge angegeben.39 Während sich jedoch im rechtsrheinischen Bayern, das auf die Schweizer Simmentaler zurückgehende Höhenfleckvieh durchsetzte, war es in der Pfalz mit dem Glan-Donnersberger Vieh eine Gelbviehrasse.40 Sie entwickelte sich aus dem leichteren Glan- und dem schwereren Donnersberger Schlag unter Einkreuzung von Schweizer Vieh41, aber auch von Braunvieh und französischen Charolais. Als Dreinutzungsrind mit guter Milch- und Fleisch- und vorzüglicher Zugleistung, die vor allem für den Kleinbetrieb wichtig war, fand diese Rasse über die Pfalz hinaus weite Verbreitung. Die Rindviehdichte lag am höchsten im Landeskommissariat Kusel, im zentralen Zuchtgebiet des Glan-Donnresberger Viehs gelegen, am niedrigsten im Landeskommissariat Pirmasens.42 Die Schafhaltung spielte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch eine bedeutende Rolle. In Weihenstephan hatte Schönleutner 1819/20 einen eigenen Schafhof in damals modernster Bauweise errichten lassen, um die königliche Merinoschafherde unterzubringen.43 In der Mitte des Jahrhunderts hatte die Schafzucht bereits ihren Zenit überschritten.In der Pfalz war die Schäferei weitgehend auf den weidereichen Westrich konzentriert. In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts waren dort noch dörfliche Gemeinschaftsherden auf Dorfweiden üblich. Mit zunehmender Intensivierung der Landwirtschaft und nach Aufteilung der Gemeinweiden auf die Anteilseigner wurden sie aufgegeben. Einzelunternehmer traten an ihre Stelle.44 Mit dem Rückgang der Wollerzeugung infolge der zunehmenden Konkurrenz der Baumwolle trat verstärkt die Schaffleischproduktion in den Vordergrund, doch nahm die Zahl der Schafe insgesamt stark ab. An ihrer statt wurden Rindviehund Schweinehaltung ausgedehnt. Die Vermarktung der über den Eigenbedarf hinaus erzeugten landwirtschaftlichen Produkte erfolgte über Schrannen und Märkte, deren örtlicher und zeitlicher Betrieb genau geregelt war. Die Rheinpfalz hatte mit 23 Schrannen ein relativ dichtes Netz. Die Hauptschranne für Getreide war Kaiserslautern, die für den Export nach Frankreich wichtigste Zweibrücken.45 Die bedeutendsten Marktorte waren Quirnbach für Rindvieh, für Schafe Ulmet, beide im Landkreis Kusel gelegen. 38

von Hermann, Statistik 1855, Tafel XXIII. Kronacher, Kartenbeilage. 40 Sambraus, S. 45. 41 AHdbL, GC 165, Förderantrag des Kreiskomitees des Landwirtschaftlichen Vereins für die Pfalz vom 13. November 1836. 42 Wie Anm. 37. 43 Seidl, Schönleutner-Künder, S. 140 f. 44 Müller, Adam, Landwirthschaft, S. 460. 45 Seuffert, S. 300. 39

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Da der Rheinkreis ringsum von Zollgrenzen eingeschlossen war, war die bayerische Zollpolitik von größter marktpolitischer Bedeutung, insbesondere für den auf den Export angewiesenen Pfälzer Weinhandel. Die Zollunion Bayerns mit Württemberg von 1828 brachte diesbezüglich keinen Fortschritt, da gemäß einer weiteren Vereinbarung zwischen Bayern und Württemberg auf der einen und Hessen-Darmstadt und Preußen auf der anderen Seite von 1829 die zollpolitische Einkreisung der Pfalz bestehen blieb. Die Pfälzer Winzer waren darüber sehr erbittert. Auf dem Hambacher Fest scharten sich Tausende von Pfälzer Bauern um eine schwarze Fahne mit der Aufschrift „Weinbauern müssen trauern“.46 Erst der Deutsche Zollverein von 1834 brachte die ersehnte Entlastung. III. Als Träger des geistig-fachlichen Austausches zwischen den beiden bayerischen Landesteilen links und rechts des Rheins seien Ludwig Wallrad Medicus (1771 – 1850), Adam Müller (1814 – 1879) und Adolf Nipeiller (1839 – 1915) gewürdigt. Ludwig Wallrad Medicus47, geboren am 8. August 1771 in Mannheim, war Sohn des Begründers und Direktors der Kameral Hohen Schule zu (Kaisers-)Lautern, Friedrich Casmir Medicus. Er hatte Kameralistik an der Universität Heidelberg studiert, wohin die erwähnte Hohe Schule zwischenzeitlich übergesiedelt war. Nach weiteren Studien an der Handelsakademie in Hamburg und Bildungsaufenthalten in der Rheinpfalz, Württemberg und der Schweiz, die der agrarwissenschaftlichen Fortbildung dienten, trat er 1795 in Heidelberg die Laufbahn eines Hochschullehrers in eben diesem Fachgebiet an. Bereits in diesen Jahren verfasste er ein forstwissenschaftliches Handbuch.48 Nach einer Zwischenstation an der Universität Würzburg wurde er 1806 an die Ludwig-Maximilians-Universität zu Landshut berufen, wo er an der Kameralwissenschaftlichen Sektion den Lehrstuhl für Land-, Forstwirtschaft und Bergbau übernahm. Er versah diesen Lehrstuhl über 20 Jahre hinweg bis zu der von König Ludwig I veranlassten Verlegung der Universität nach München und dann weiter dort.49 In seiner Landshuter Zeit folgt ein weiteres agrarwissenschaftliches, diesmal der Landwirtschaft gewidmetes Standardwerk. Ausführlich befasst er sich darin auch mit dem Weinbau und schreibt einleitend: „In allen Ländern, denen die Natur die köstliche Gabe des Weinbaues verliehen hat, wird derselbe so ausnehmend stark betrieben, und beschäftiget so viele Stände, daß er zu den wichtigsten Zweigen der Landwirthschaft gerechnet werden muß“.50 Dabei wird er wohl auch an sein Heimatland gedacht haben. Medicus zeigt sich in diesen Werken als Ver46

Faber, S. 388. Zur Person: Boehm / Müller / Smolka / Zedelmaier, S. 190. 48 Medicus, Ludwig Wallrad, Forsthandbuch, oder Anleitung zur deutschen Forstwissenschaft, Tübingen 1802. 49 Zur Lehrtätigkeit in Landshut ausführlicher: Seidl, Anfänge, 191 ff. 50 Medicus, System der Landwirthschaft, S. 231. 47

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treter der kameralistischen Lehrtradition, die er ausdrücklich auf seinen Vater zurückführt51 und die vor allem eine wohlgeführte Staats-, Domänen- und Forstverwaltung im Auge hat. In diesem Sinne schreibt er in seinem Werk über die Landwirtschaft: „Nach dem bekannten Zwecke dieses Entwurfs (als Vorlesungsunterlage zu dienen, Anm. d. Verf.) wird jenen Theilen stets die mehrere Ausführlichkeit gewidmet werden, welche in Bezug auf die gesammte Staatswirthschaft die wichtigsten sind …“.52 Staatliche landwirtschaftliche Spezialschulen, wie die Musterlandwirtschaftsschule in Weihenstephan, hält er nicht für zwingend notwendig und weist für die auch von ihm befürwortete Modernisierung der Landwirtschaft Geistlichen und Schullehrern eine wichtige Rolle zu.53 Demgegenüber steht Schönleutner. Er lehnt, wie sein Lehrer Thaer, die Agrarbildung auf Universitäten ab und fordert praktische mit einer Musterlandwirtschaft verbundene Ökonomieschulen.54 Er hatte die Hebung der breiten Landwirtschaft im Auge. Sein Ansatz war auf den Erfolg des Einzelbetriebes gerichtet, privatökonomisch, der Medicus’ sozialökonomisch. Ob die beiden einen tieferen fachlichen Austausch gepflogen haben, wissen wir nicht. Ihre Wirkungsorte waren ja, zumindest nach heutigen Begriffen, nicht weit voneinander entfernt. Sicher wissen wir, dass Schönleutner Medicus bei der Erschließung eines „ökonomischen und Forstgartens“ an der Landshuter Universität behilflich war, indem er ihm geeignetes Gerät zur Verfügung stellte. Auch waren sie beide Gründungsmitglieder des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern. Der Erfolgreichere von beiden war Medicus. Schönleutner konnte sich mit seinem Plan von einer auf wissenschaftliches Niveau gehobenen Musterlandwirtschaftsschule nicht durchsetzen.55 Medicus trug seine kameralistisch verwurzelte Lehre im Rahmen der dortigen Staatswirtschaftlichen Fakultät auch an die Universität München weiter. Hier las er bis kurz vor seinem Tod aus seinem Fachgebiet, zuletzt über Forstbotanik und Enzyklopädie der Gewerbskunde.56 So schloss sich der Kreis des geistigen Austausches ausgehend von Kaiserslautern, endend in München. Ein völlig anderer Lebens- und Berufsweg war Medicus’ Landsmann Adam Müller beschieden.57 Er wurde am 14. Dezember 1814 in dem Dorf Gerhardsbrunn auf der Sickinger Höhe (Lkr. Kaiserslautern) geboren. Seine Eltern bewirtschafteten dort einen Bauernhof. Ein Charakteristikum des Dorfes bestand darin, dass dort nicht, wie

51

Ebd., S. IX. Ebd., S. 7. 53 Medicus, Unterricht in der Landwirthschaft , S. 12 f. 54 Seidl, Schönleutner – Künder, S. 144. 55 Seidl, Schönleutner – „Märtyrer“, S. 587 f. 56 Ludwig-Maximilians-Universität München, Digitales Archiv, Verzeichnis der Vorlesungen an der Königlichen Ludwig-Maximilians-Universität zu München im Sommersemester 1850. 57 Hierzu Müller, Adam, Erinnerungen. 52

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in der Pfalz allgemein üblich, die Erbsitte der Realteilung, sondern das Anerbenrecht galt. In seiner Kindheit und Jugendzeit besuchte Müller die Dorfschule und arbeitete auf dem elterlichen Betrieb mit. Bereits in dieser Zeit zeigten sich seine vielfältigen Interessen, die sich über die tägliche Lebenswelt hinaus auf alle greifbare Lektüre bezog und auch die Musik einschloss. Mit 19 Jahren entließ ihn sein Vater, damit er die französische Sprache erlerne und in die Welt hinauskomme. Auf Vermittlung von Felix Villeroy (1792 – 1881), Gutsbesitzer in St. Ingbert (Saarpfalz-Kreis), der ihm ein väterlicher Freund wurde, wandte sich Müller nach Lothringen. Dort lernte er nicht nur Französisch, sondern gab auch selbst Unterricht in Deutsch und Musik. Nach knapp zwei Jahren kehrte er auf den elterlichen Hof zurück. Villeroy versorgte den Wissbegierigen nun auch mit Fachliteratur aus seiner Bibliothek, unter anderem von Schwerz und Thaer, und regte Müller zu eigener fachliterarischer Tätigkeit an. Dieser gab nach einigen kleineren Schriften und Beiträgen 1845 ein landwirtschaftliches Lehrbuch heraus, das zu einem ausgesprochenen Erfolg wurde. In der Einleitung stehen folgende Sätze, die Gedanken von Schönleutner und Thaer widerspiegeln: „Die Landwirthschaft, in welcher alle Einrichtungen nach wohlgeprüften Grundsätzen geregelt sind, heißt rationelle Landwirthschaft, und der sie betreibende Landwirth ist ein rationeller oder denkender Landwirth. Der rationellen Landwirthschaft gegenüber steht die stationäre oder stillstehende Landwirthschaft, in welcher alles nach alt hergebrachter Gewohnheit, nach der von Vätern und Urvätern eingeführten Art und Weise betrieben wird“.58 Konkreter wird er an anderer Stelle des Buches: „Die Landwirthschaft ist dazu bestimmt, Denjenigen, der sich darauf verlegt, zu ernähren und für denselben einträglich zu werden. Sie ist von dieser Seite betrachtet, eine Industrie, und Gewinn das Ziel, nachdem der Landwirtrh strebt“59. Mit Villeroy zusammen gab er später auch ein vielbeachtetes Werk über Pferdezucht heraus.60 So wurde Müller bekannt und schließlich 1848 als Vertreter des Wahlkreises Zweibrücken in die Kammer der Abgeordneten in München gewählt, wo er die Belange der pfälzischen Landwirtschaft vertrat. Wie Thaer und Schönleutner war auch Adam Müller die Agrarbildung ein Herzensanliegen. Ähnlich wie Schönleutner in seinem Praktikanteninstitut nahm Müller landwirtschaftlich interessierte Jugendliche in dem von ihm seit 1847 bewirtschafteten schwiegerelterlichen Hof auf und bildete sie praktisch und theoretisch. Das pädagogische Interesse Müllers zeigte sich darüber hinaus in seinen Bemühungen um eine solide Schulbildung der Landkinder einschließlich der zugehörenden Lehrerbildung61 wie auch um eine effiziente agrarische Fachbildung. Wie wichtig ihm letztere war, bewies er dadurch, dass er 1864 sein Abgeordnetenmandat aufgab, um an der neu eingerichteten landwirtschaftlichen Abteilung der Gewerbeschule Kaiserslau58

Müller, Adam, Lehrbuch, S. 3. Ebd., S. 361. 60 Villeroy Felix / Müller Adam, Der Pferdezüchter, Mainz 1858. 61 AHdbL, GC 103, Bericht über eine Reise in die Pfalz vom 4. Januar 1869. 59

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tern zu unterrichten. Er favorisierte allerdings eine von der Gewerbeschule losgelöste landwirtschaftliche Kurzausbildung, wie sie, wie oben dargestellt, in Form einer landwirtschaftlichen Winterschule an der Gewerbeschule Kaiserslautern 1866 tatsächlich eingerichtet wurde.62 Die Krönung seiner standespolitischen Arbeit war die Berufung zum 1. Sekretär (General-Sekretär) des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern zum 1. November 1865, die er wesentlich dem Einfluss des mit ihm befreundeten Professors für Agrikulturchemie an der Ludwigs- Maximilians-Universität zu München, Justus von Liebig (1803 – 1873), verdankte. Er übte diese Tätigkeit bis zu seinem Lebensende aus. Auch in dieser Zeit kümmerte er sich intensiv um die Agrarbildung, etwa wenn er die Abschlussprüfungen von neu errichteten Winterschulen besuchte63 oder sich gegen das Vorurteil der Bildungsfeindlichkeit der altbayerischen Bauern wehrte. Und aus dem Selbstbewusstsein eines freien pfälzischen Bauern heraus schreibt er: „Man vergesse nicht, daß der Bauersmann vor allem Mensch und Staatsbürger ist, und daß er als solcher ebenso viel Anspruch auf allgemeine Bildung zu machen hat, als jeder andere. Man lehre ihn denken, man bilde seinen Verstand und sein Gemüth“.64 Als ihm schließlich 1872 ein Lehrauftrag über Speziellen Pflanzenbau an der neu errichteten landwirtschaftlichen Abteilung der Polytechnischen Schule, der späteren Technischen Hochschule, in München erteilt wurde, war dies die höchste Ausprägung seines Engagements in der Agrarbildung. In Anerkennung seiner Lebensleistung wurde Müller gemäß allerhöchster Entschließung das Ritterkreuz I. Klasse des Königlichen Verdienstordens vom heiligen Michael verliehen.65 Neben Medicus und Müller, deren Lebens- und Berufsweg in der Pfalz begann und in München sein Ziel fand, steht Adolf Nipeiller66, der am 16. Juni 1839 in Neustadt (Odenwaldkreis) als Sohn eines Fürstlich Löwensteinschen Forstbeamten geboren, seine Ausbildung in München begann. Er besuchte dort die Gewerbeschule und die darauf aufbauende Polytechnische Schule, ab 1859 finden wir ihn an der Landwirtschaftlichen Zentralschule Weihenstephan, der Nachfolgeeinrichtung der Musterlandwirtschaftsschule Schönleutners. Nach einigen Jahren in der Praxis und als Repetitor für Naturwissenschaften an der Königlichen Tierarzneischule in München übernahm er 1865 die Stelle Adam Müllers als Landwirtschaftslehrer an der Gewerbeschule Kaiserslautern, wurde Leiter der dort eingerichteten landwirtschaftlichen Winterschule und der daraus hervorgegangenen Ackerbauschule. Als 62 Vorplanungen hierzu reichten bis 1860 zurück (AhdbL, GC 905, Protokoll des Sitzung des Generalkomitees des Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern am 21. April 1860). 63 AhdbL, GC 913, Schreiben des Staatsministeriums des Handels und der öffentlichen Arbeiten an die Kreisregierung von Mittelfranken vom 28. Februar 1867 (Abschrift). 64 Centralblatt (Zeitschrift) des landwirthschaftlichen Vereins in Bayern LVI (1866), S. 197 f. 65 BayHStA, Ordensakten Nr. 14079, Entschließung vom 31. Dezember 1868. 66 Stadtarchiv Kaiserslautern: Zum 100. Geburtstag von Prof. Adolf Nipeiller-Kaiserslauern (Presseartikel).

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er 1909 im Alter von 70 Jahren pensioniert wurde, konnte er auf 44 Jahre erfolgreicher landwirtschaftlicher Fachschullehrertätigkeit in Kaiserslautern zurückblicken. Die darin eingeschlossene Lehrerfahrung floss auch in die Neubearbeitung eines Leitfadens für den Landwirtschaftsunterricht ein.67 Nipeiller war für den jungen Stand der verbeamteten Landwirtschaftslehrer im Königreiche Bayern auch in der Verbandsarbeit tätig.68 In der Beratungsarbeit erwarb sich Nipeiller große Verdienste um den Pflanzenschutz im Weinbau, insbesondere der Reblausbekämpfung. Ab 1872 wurde er zum leitenden Sachverständigen für Reblausangelegenheiten ernannt. Seinem unermüdlichen Einsatz war es zu verdanken, dass die pfälzischen Weinbaugebiete bis zum Ersten Weltkrieg weitgehend reblausfrei blieben. IV. Legen wir uns die eingangs gestellten Fragen nochmals vor, so ist zusammenfassend zu sagen, dass sich die landwirtschaftlichen Verhältnisse des bayerischen Stammlandes und der Rheinpfalz erheblich unterschieden. Neben den voneinander abweichenden natürlichen Standortvoraussetzungen war dies vor allem auf die Unterschiede in der Agrarverfassung zurückzuführen, die der zeitweise in Frankreich eingegliederten Rheinpfalz den Vorsprung eines halben Jahrhunderts in der Entwicklung gaben, die wir unter dem Begriff Bauernbefreiung zusammenfassen. Andererseits waren die agrarstrukturellen Voraussetzungen auf Grund der dort vorherrschenden Realteilung in der Pfalz vergleichsweise ungünstig, was sich hemmend auf die Entwicklung der Produktionstechnik auswirkte. Trotz dieser Hemmnisse, die lange auch durch eine nachteilige Zollpolitik verstärkt wurden, zeigt ein Vergleich des Entwicklungsstandes der Agrarproduktion zwischen dem links- und rechtsrheinischen Teil Bayerns um die Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die Landwirtschaftsbetriebe der Pfalz hinsichtlich einer unternehmerisch ausgerichteten Betriebseinrichtung und -führung vergleichsweise weiter vorangeschritten waren. Die eingangs erwähnten Beurteilungen von August Petri und Max Schönleutner waren also, wenn auch überzeichnet, im Kern richtig. Ein wesentlicher Grund hierfür lag sicher darin, dass einerseits die unternehmerische Freiheit voll gewährleistet war, andererseits die hohe Bevölkerungsdichte einen zusätzlichen Druck in Richtung einer existenzsichernden Wirtschaftsweise ausübte. Nicht zuletzt stand die Pfalz im Einflussbereich hoch entwickelter Intensivlandwirtschaften des benachbarten Auslandes.

67

Grünewald, Christian, Leitfaden beim Unterrichte in der Landwirtschaft, neu bearbeitet von Nipeiller, Adolf / Prove, Oskar, Kaiserslautern 1890. 68 Der Landesverband Bayerischer Landwirtschaftslehrer konstituierte sich am 25. September 1897 zu München. Nipeiller nahm ab 1. Oktober 1898 die Funktion eines Beisitzers im Vorstand des Verbandes wahr (Archiv des Wissenschaftszentrums Weihenstephan, Protokoll vom 1. Oktober 1898).

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Der fachlich-geistige Austausch vollzog sich vor allem im Bereich der Agrarbildung. Die genannten Repräsentanten traten durchweg durch viel beachtete Fachliteratur hervor, in die regionaler Erfahrungsbereich und die Lehrtradition der jeweiligen Bildungsstufe einflossen. Die örtlichen Schwerpunkte ihrer praktischen Bildungsarbeit waren Kaiserslautern und München. Insgesamt kann für das wittelsbachische 19. Jahrhundert festgestellt werden, dass die bayerische Pfalz ohne Zweifel befruchtend für die gesamtbayerische Agrarentwicklung war. Archivalien und Literatur Archivalien Archiv des Hauses der bayerischen Landwirtschaft Herrsching (AhdbL): GC (General-Comité) 103, 165, 913, 1020, 1147. Archiv des Wissenschaftszentrums Weihenstephan. Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA): MF (Staatsministerium der Finanzen) 18735, 20992, 66686: Ordensakten Nr. 14079. Stadtarchiv Kaiserslautern.

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Die pfälzische Landwirtschaft im Spiegel des bayerischen Stammlandes

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Grundlinien der Entwicklung von Gewerbe und Industrie der Pfalz im 19. Jahrhundert Von Dirk Götschmann, Würzburg I. Signum der Epoche: Die industrielle Revolution „Die ökonomische Unsicherheit hat sich wesentlich vermehrt durch die jetzt allgemein übliche Produktion für den Weltmarkt und dessen Launen, durch die Differenzierung der einzelnen Wirtschaften, durch die Ausdehnung der Kreditwirtschaften, durch tagtägliche Neuerungen der Produktions- und Verkehrstechnik usw. So ist also das heutige Wirtschaftsleben weit unsicherer und unfreier als noch vor hundert Jahren. Das Gespenst des „wirtschaftlichen Ruins“ geht um und „Krisen“ bedrohen von Zeit zu Zeit die Erwerbsgebiete. Gerade für ein Land wie unsere Pfalz, in welchem der Schwerpunkt des Erwerbslebens in der Großindustrie ruht, wäre es daher von den schlimmsten Folgen, wenn einmal ein starker Rückschlag käme.“ Dieses Resümee zogen am Vorabend des Ersten Weltkrieges die beiden Autoren des Werkes „Das Wirtschaftsleben der Pfalz in Vergangenheit und Gegenwart“.1 Obwohl ihr geschichtlicher Rückblick bis in die Steinzeit zurückreicht, war es doch unverkennbar die Entwicklung des 19. Jahrhundert, die sie am meisten beeindruckte. Und das völlig zu Recht, denn in den wenigen Jahrzehnten, die damals die Anfänge der Industrialisierung in der Pfalz zurücklagen, hat sich deren „Wirtschaftsleben“ tatsächlich tiefgreifender verändert als vorher in vielen Jahrhunderten. Denn im 19. Jahrhundert vollzog sich in der Pfalz wie in weiten Teilen der westlichen Welt generell der Wandel von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft und in der Folge auch der vom Agrarstaat zum Industriestaat. Zwischen diesen beiden Gesellschafts- und Staatsformen liegen jedoch Welten. Eine Agrargesellschaft muss ihr produktives Potential nahezu ausschließlich der Gewinnung von Nahrungsmitteln und anderen lebensnotwendigen Gütern widmen, denn anders kann sie schlichtweg nicht existieren. Entsprechend wenig Produktivkraft steht für andere Zwecke zur Verfügung, und das hat weitreichende Konsequenzen sowohl für die Gesellschaft wie den Staat. Deren wichtigste Aufgabe muss die Konservierung der bestehenden Verhältnisse sein, da diese jedem Mitglied der Gesellschaft zumindest eine Existenz ermöglichen, auch wenn diese vielfach als verbesserungsbedürftig empfunden wird. Jede Veränderung stellt deshalb zunächst eine Bedrohung dar. Die Stellung des Einzelnen wird von seiner Geburt bestimmt, sozialer 1

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Auf- wie Abstieg bilden Ausnahmen. Und mit dieser Immobilität korreliert ein geringes Wachstum von Bevölkerung und Wirtschaft. Wichtigste Aufgabe des Staates ist der Schutz der Gesellschaft gegen Angriffe von außen und innen. Er finanziert sich nahezu ausschließlich aus dem Agrarsektor und wird von den führenden Schichten der Gesellschaft mitgetragen. Dieser aber rechnet sich die große Mehrheit der Bevölkerung zu – auch wenn sie darin nur einen untergeordneten Rang einnimmt – und so besteht eine enge Verbindung von Gesellschaft und Staat. Diese Verhältnisse hat die industrielle Revolution von Grund auf geändert. Dank des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts musste ein immer geringerer Teil der Produktivkräfte zur Gewinnung von Nahrungsmitteln und anderen Lebensbedürfnissen eingesetzt werden. Damit wuchs das Potential, das für andere Zwecke zur Verfügung stand, zumal dieses durch den Einsatz fossiler Energieträger eine gewaltige Steigerung erfuhr. Die Folge war ein enormes Wachstum von Gewerbe, Industrie und Dienstleistungen, und diese Bereiche haben den größten Teil des Geburtenüberschuss der nun stark wachsenden Bevölkerung absorbiert. Obwohl auch die Produktivität der Landwirtschaft erheblich anstieg, ging deren volkswirtschaftliche Bedeutung deshalb stetig zurück. Parallel dazu wandelte sich die Agrar- zur Industriegesellschaft. Immer mehr Menschen mussten sich in einem zumeist städtischen Umfeld selbst eine Existenz schaffen, und hierbei zählten nicht Herkommen und Stand, sondern Leistung. Eigenschaften wie „Leistungsbereitschaft“, „Leistungsfähigkeit“ „Anpassungsfähigkeit“ und „Mobilität“ sind es, die in der Industriegesellschaft gefragt sind. Der große Nutznießer dieser Entwicklungen war der Staat, dessen Einnahmen und damit Machtpotential proportional mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit seiner Bürger wuchsen. Das ermöglichte einen enormen Ausbau des Regierungsund Verwaltungsapparates, so dass der Staat immer mehr Funktionen übernehmen konnte. Darunter waren viele, die vordem andere Institutionen wahrnahmen, so etwa im Bereich der sozialen Fürsorge, der Krankenversorgung, des Bildungswesen und der Kulturpflege. Zwar haben viele Menschen von dieser Ausweitung der staatlichen Aktivitäten profitiert, letztlich aber kam sie vor allem dem Staat selbst zugute. Sein Einfluss wuchs damit in einem solchen Ausmaß, dass seine Repräsentanten die Interessen des Staates und nicht die der Gesellschaft zur Richtschnur ihres Handelns machen konnten. In Deutschland setzte diese Entwicklung im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ein. Ihre wichtigsten Merkmale waren die Verlagerung des wirtschaftlichen Schwerpunktes von der Land- und Forstwirtschaft zu Gewerbe, Industrie und Dienstleistungen sowie eine starke Bevölkerungszunahme, die mit einer hohe Mobilität, der Landflucht und dem Städtewachstum einherging. Diese Prozesse verliefen in Deutschland jedoch sehr unterschiedlich, und dies nicht nur von Land zu Land, sondern oft von Region zu Region. Denn diese Entwicklungen waren zum einen von den natürlichen Gegebenheiten eines Raumes abhängig, die in Deutschland aber schon auf relativ

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kurzer Distanz sehr unterschiedlich sein können, und zum anderen von den politischen Rahmenbedingungen, die zunächst gleichfalls stark differierten. II. Die Ausgangslage in der Pfalz Die bayerische Pfalz umfasste eine Fläche von rund 5.500 qkm, was etwa 30 Prozent des heutigen Bundeslandes Rheinland-Pfalz entspricht.2 Sie wurde durch den von Nord nach Süd verlaufenden Mittelgebirgszug der Hardt in zwei Regionen von unterschiedlichem Charakter geteilt. Östlich davon erstreckt sich bis zum Rhein eine fruchtbare Ebene, die der Landwirtschaft einschließlich des Wein- und Obstanbaus beste Bedingungen bietet. Das Zentrum dieser Region bildet das am Rhein gelegene Speyer, das auch Sitz der Kreisregierung war. Nach Westen geht die Hardt in ein vielfach bewaldetes Berg- und Hügelland mit weiten Talmulden über. Die höchsten Erhebungen sind der im Pfälzer Bergland gelegene Donnersberg mit 687 Metern und der Kalmit, der mit 683 Metern die höchste Erhebung des Pfälzer Waldes bildet. Das Zentrum dieser vielfältig gegliederten Region ist Kaiserslautern, das in einer weiten Talsenke zwischen dem nördlichen Pfälzer Bergland und südlichen Pfälzer Wald gelegen ist. Im Westen reichte die Pfalz bis St. Ingbert und damit in das heutige Saarland. Ein Teil der dortigen großen Kohlevorkommen lag auf pfälzischem Gebiet. Zudem gab es Vorkommen an Erzen, die jedoch nur in geringem Umfang wirtschaftlich genutzt werden konnten. Von größerer wirtschaftlicher Bedeutung waren die Vorkommen an Steinen und Erden, die im Verlauf der Industrialisierung eine wichtigere Rolle spielen sollten. Zudem verfügte die Pfalz über einen großen Waldreichtum, so dass Holz auch im 19. Jahrhundert noch in größeren Mengen zur Verfügung stand. Von einiger wirtschaftlicher Bedeutung war auch das Potential an Wasserkraft, vor allem im Pfälzer Wald. Es wurde in vorindustrieller Zeit vielfach genutzt, für eine Verwertung in größerem Stil, wie sie später in Form der Stromerzeugung stattfand, war sie jedoch nicht hinreichend. Die wichtigsten Produkte der Pfalz waren zunächst land- und forstwirtschaftlicher Natur. Besonders Wein, Getreide, Tabak und Holz wurden in größeren Mengen exportiert. Damit waren die natürlichen Voraussetzungen für die Industrialisierung nicht besonders günstig, womit die Pfalz das Schicksal vieler Regionen Deutschlands teilte, die gleichfalls nicht über größere Bodenschätze verfügten. Dennoch weist die wirtschaftliche Entwicklung der Pfalz im 19. Jahrhundert einen ganz eigenen Charakter auf. Die Ursachen dafür sind vornehmlich in Besonderheiten politischer und gesellschaftlicher Natur zu suchen. Als erstes ist dabei auf die Tatsache zu verweisen, dass in der Pfalz der durch die Französischen Revolution ausgelöste Modernisierungsprozess konsequent durchgeführt und nicht revidiert wurde. Denn die damit verbundenen politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen wurden von den Pfälzern als wertvolle Errungenschaften betrachtet und hartnäckig verteidigt. Die 2 Zu den natürlichen Gegebenheiten und Grundlagen der pfälzischen Wirtschaft vgl. Wysocki, S. 213 – 251.

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Zusage, die „Pfälzischen Institutionen“ nicht anzutasten, war eine wichtige Bedingung dafür, dass die Pfälzer ihre Eingliederung in das Königreich Bayern akzeptierten.3 Von Bayern aus schaute man tatsächlich mit einem gewissen Neid auf die Pfälzer. Das war auch einer der Gründe, warum Pläne der bayerischen Regierung, die Pfalz steuerlich stärker zu belasten, vor allem in Altbayern auf eine positive Resonanz stießen.4 Schon auf dem ersten Landtag 1819 haben sich die Pfälzer heftig, aber letztlich vergeblich gegen ihre steuerliche Benachteiligung beschwert. Diese Diskussionen bieten aufschlussreiche Einblicke in die Verhältnisse der Pfalz und das Selbstverständnis der Pfälzer. Diese seien, so führte etwa ein Pfälzer Abgeordneter aus, keineswegs wohlhabender als andere Bürger Bayerns, aber eher bereit als diese, ihren Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten: „Der Bürger trägt seine schuldige Staatslasten mit mehr Geduld, weil er auf der andern Seite dafür unumschränkter Herr seiner Person und seines Eigenthums ist, nur dem Gesetze Unterthan, ist jeder gleich vor demselben, und kein Privilegium, kein Vorzug findet hier statt. Schnelle und öffentliche Civil- und Criminal-Justizpflege, gleiche Vertheilung aller Staats- und Gemeinde-Lasten, die Institutionen der Landräthe und der Geschworenen, – liberale und humane Behandlung von Seiten der Beamten, Trennung der Verwaltung von der Justizpflege, Civil-Gesetze, die dem Zeitgeiste angemessen sind, und das freie Eigenthum des Besitzes nicht einschränken, und dem Menschen seine angeborenen Rechte zusichern, allgemeine Gewerbsfreiheit, das Recht, seine Stadt- und Ortsmagistrate, wie auch die Friedensrichter, zu wählen, und so weiter, sind politische Vortheile, die dem Einwohner des Rheinkreises manches Ungemach vergessen, – oder doch wenigstens erträglicher machen. Ungebundenheit der Güter, Festsetzung eines Loskaufpreises für alle Grundrenten und Bodenzinsen, solche mögen dem Staat oder Privaten angehören, ein Gesetz, das alle zu einer Verlassenschaft gehörige Güter unter den Erben gleichheitlich vertheilt werden müssen, Befugniß, sich nach belieben zu verehelichen, alles dieß sind Ursachen, daß Industrie und Cultur steigt, und daß eine Familie sich auf 4 bis 5 Tagwerk Feldes bei angestrengtem Fleiße und 6 tägiger Arbeit jeder Woche ernährt.“5 Außer diesen Ursachen seien es die Intelligenz und Aktivität der Pfälzer, zumal im Ackerbau, die ihren Wohlstand bedingten. Nichts davon, so der Redner, rechtfertige es aber, sie deswegen höher zu besteuern. Einige dieser Passagen verdienen besondere Aufmerksamkeit. So die Feststellung, dass der Pfälzer „unumschränkter Herr seiner Person und seines Eigenthums“ sei, und dass man Gesetze habe, „die dem Zeitgeiste angemessen“ seien, das „freie Eigenthum des Besitzes“, die jedem Menschen angeborenen Rechte sowie die „allgemeine Gewerbsfreiheit“ gewährleisteten. Wichtig ist auch der Hinweis auf die freie Verfügbarkeit über Grund und Boden – die „Ungebundenheit der Güter“ – ,

3

Zu diesen vgl. Faber, S. 20 – 40; Spindler, S. 280 ff.; Silbernagel, S. 6 ff. Götschmann, Landtag, S. 53 ff. 5 Götschmann, Landtag, S. 57. 4

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sowie auf die Wirkung des Erbrechts und nicht zuletzt auf die Tatsache, dass man zur Heirat keiner obrigkeitlichen Bewilligung bedürfe. Denn damit sind einige Faktoren genannt, die für die wirtschaftlichen Verhältnisse der Pfalz und deren weitere Entwicklung von entscheidender Bedeutung waren. Das war zunächst die freie Verfügung über Grund und Boden. Sie bildete die Voraussetzung für dessen intensive Nutzung, da so jede Steigerung des Ertrags unmittelbar und ausschließlich demjenigen zugutekam, der ihn bewirtschaftete, und das war i. d. R. der Besitzer. Dieser Zustand wurde im rechtsrheinischen Bayern erst mit der Beseitigung der Grundherrschaft im Zuge der Revolution von 1848 erreicht. Zum Zweiten das Erbrecht, das dafür sorgte, dass die Konzentration von Besitz in den Händen Einzelner erschwert wurde. Das hatte zur Folge, dass es einem größeren Personenkreis möglich war, sich eine eigene Existenz aufzubauen und eine Familie zu gründen. Letzteres wurde auch dadurch erleichtert, dass man dazu, anders als im rechtsrheinischen Bayern, keinen Nachweis eines gesicherten Mindesteinkommens erbringen musste. III. Landwirtschaft und Gewerbe: Symbiose mit Nebenwirkungen Die Wirkungen dieser Rahmenbedingungen fallen vor allem ins Auge, wenn man die Erwerbsstruktur der Pfälzer Bevölkerung betrachtet. 1832 zählte man in der Pfalz insgesamt rund 540.000 Menschen.6 Davon lebten nach Angaben der Statistik 46.479 Familien mit 224.628 Personen ausschließlich von der Landwirtschaft, 9.022 Familien mit 115.581 Mitgliedern aber von einer nebeneinander ausgeübten Tätigkeit in Landwirtschaft und Gewerbe. Bei 13.803 Familien mit 69.455 Personen wurde die gewerbliche Tätigkeit als Haupt-, und die Landwirtschaft als Nebentätigkeit eingestuft. Komplettiert wurde der landwirtschaftliche Sektor durch 80.035 „ansässige Tagelöhner“ und 20.012 Dienstboten „bei landwirtschaftlichen Familien“, womit er insgesamt 440.256 Menschen zählte. Tatsächlich lebten ausschließlich von der Landwirtschaft wohl nur wenig mehr als die 46.497 Familien mit 224.628 Mitgliedern, die dies so angegeben hatten. Die meisten derjenigen, die einer anderen Kategorie des landwirtschaftlichen Sektors zugezählt wurden – und das waren 215.628 Menschen – mussten daneben andere Tätigkeiten ausüben, um ihren Lebensunterhalt und den ihrer Angehörigen bestreiten zu können. Ausschließlich oder überwiegend von einer gewerblichen Tätigkeit lebten ca. 78.000 Menschen; von den ca. 22.000 Menschen, die die Gesamtbevölkerung komplettierten, bezog ein großer Teil wohl öffentliche Unterstützung, während der andere seinen Unterhalt im öffentlichen Dienst und in den freien Berufen fand oder von Renten lebte. Wie ein Blick auf die spätere Statistik zeigt, wies die Landwirtschaft der Pfalz auch weiterhin unter allen bayerischen Regierungsbezirken den bei weitem größten Anteil von Klein- und Kleinstbetrieben auf. Und deren Anteil ging, anders als im 6

Folgende Zahlen nach: Gruber, S. 19.

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rechtsrheinischen Bayern, bis zum Ersten Weltkrieg nicht zurück, sondern nahm im Gegenteil sogar noch zu.

Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählten 24.442 von insgesamt 114.781 landwirtschaftlichen Betrieben, das waren 21,3 Prozent, zu den Kleinbetrieben mit 2 bis 5 Hektar Betriebsfläche, 72.486 oder 63,2 Prozent waren sogenannte Parzellenbetriebe mit weniger als zwei Hektar Fläche.7 Schon die Inhaber dieser Kleinbetriebe mussten „oft einen schweren Kampf um das Dasein führen“, wie es in einer zeitgenössischen Darstellung heißt. Die „Parzellen- oder Zwergwirtschaften“ aber konnten nach Aussage der gleichen Quelle nur bei etwa zwei Hektar in hochentwickelten Weinbaugebieten eine kleine Familie noch „anständig ernähren“.8 Geht man davon aus, dass jeder dieser Betriebe eine vierköpfige Familie zu ernähren hatte, dann lebten noch am Ende des 19. Jahrhunderts 388.000 Menschen, das waren deutlich mehr als ein Drittel der Bevölkerung der Pfalz, auf dieser Existenzgrundlage. Diese landwirtschaftlichen Besitzverhältnisse hatten weitreichende Folgen für die gesamte Wirtschaftsstruktur der Pfalz. Denn zahlreiche Familien bedurften damit zusätzlicher Einkommensquellen, die nur im gewerblichen Bereich zu finden waren. Dabei lag es nahe, solche Produkte herzustellen, deren Rohstoffe aus dem eigenen landwirtschaftlichen Betrieb oder zumindest aus dessen Umgebung stammten, 7 8

Zahlen nach Mang / Zink, S. 122. Mang / Zink, S. 119 f.

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und die man nicht nur veräußern, sondern auch zur Deckung des eigenen Bedarf verwenden konnte. Denn so erzielte man nicht nur ein zusätzliches Einkommen, sondern senkte auch die eigenen Lebenshaltungskosten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die am weitesten verbreitete Nebenbeschäftigung die Herstellung von Leinwand. Denn deren Basis ist der Flachs, eine Pflanze, die geringe Anforderung hinsichtlich des Nährstoffgehaltes ihres Anbaugrundes stellt und in der Pfalz bestens gedieh. Die Fasern dieser Pflanze konnten mit einfachsten Mitteln gewonnen und weiterverarbeitet werden, wenn auch der Arbeitsaufwand dafür beträchtlich war, und dies bis hin zum fertigen Produkt, der Leinwand. Größeren Aufwand dagegen erforderte die Aufbereitung und Verarbeitung von Wolle, was deshalb i. d. R. in einem regulären Handwerksbetrieb erfolgte. Ein weiterer weitverbreiter Nebenerwerb war die Weiterverarbeitung von Stoff zu Kleidungsstücken. Während die Leinwandproduktion mit der Industrialisierung ihre Existenzgrundlage verlor, entwickelte sich die Herstellung von Bekleidungsstücken zur wichtigsten Sparte der Hausindustrie, die von großer und wachsender Bedeutung war.9 1882 wies die (in diesem Bereich allerdings lückenhafte) Statistik 3.370 HausindustrieBetriebe mit 4.083 Beschäftigten nach, 1885 waren es 3.299 Betriebe mit 4.526 und 1906 dann 4.079 Betriebe mit 4.802 Beschäftigten. Nach den Erhebungen von 1906 waren 92,4 Prozent dieser Betriebe dem Bekleidungsgewerbe zuzuordnen; an zweiter Stelle folgte mit 3,5 Prozent die Industrie der Holz- und Schnitzstoffe.10 Nach Oberfranken, wo die Hausindustrie einen wichtigen Teil der Textilindustrie bildete, rangierte die Pfalz bei den Hausindustrie-Betrieben weit vor allen anderen bayerische Regierungsbezirken. Die Statistik bemerkte dazu: „Der Hausgewerbebetrieb ist nicht selten mit Landwirtschaft verbunden, wobei diese bald den Haupt-, bald den Nebenerwerb darstellt. (…) Diese Art ländlicher Hausindustrie ist agrarund sozialpolitisch von besonderer Wichtigkeit.“11 IV. Der politische Faktor Wie sich die Wirtschaft einer Region entwickelt, hängt nicht nur von den naturräumlichen Bedingungen, sondern entscheidend davon ab, wie der Mensch diese nutzt. Und da der Mensch ein soziales Wesen ist, ist die Organisation der Wirtschaft 9 In gesamten Bayern gab es 1882 18.523 Hausindustrie-Betriebe, 1907 waren es 25.463; die Zahl der hier Beschäftigten wuchs von 27.430 auf 36.711. Die meisten Betriebe (1882: 36,9 Prozent, 1907: 43,8 Prozent) stellten Bekleidung her, dann folgte die Textilerzeugung (1882: 43,8; 1907: 27,9 Prozent). An dritter Stelle stand die Industrie der Holz- und Schnitzstoffe mit (1882: 11,5 Prozent; 1907: 19,9 Prozent. (S. 310*) Drei Fünftel der Betriebe waren Alleinbetriebe (S. 313), 44,9 % der hierin beschäftigten Personen waren männlich, 55,1 % weiblich, und 79,3 % waren älter als 16 Jahre. Alle Zahlen nach: Beiträge zur Statistik Bd. 82, S. 310*-313*. 10 Beyträge zur Statistik Bd. 82, S. 323. 11 Beyträge zur Statistik Bd. 82, S. 322. Zu Umfang und Bedeutung der pfälzischen Hausindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts vgl. Mang / Zink, S. 259 – 266.

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vorrangig Sache der Gesellschaft. Grundsätzlich sollte sie mit Hilfe des Staates solche allgemein verbindlichen Rahmenbindungen schaffen und durchsetzen, die eine optimale Nutzung des wirtschaftlichen Potentials ermöglichen und es all ihren Mitgliedern erlauben, sich angemessen daran zu beteiligen. In der Praxis wird dies allerdings durch die in allen Gesellschaften vorhandenen Interessensgegensätzen erschwert. Und es sind diese Gegensätze, die dem Staat, der den Willen der Gesellschaft in politisches Handeln umzusetzen hat, seinen zumeist großen Handlungsspielraum verschaffen. Im Fall der Pfalz wurde der politische Kurs weitgehend von der bayerischen Staatsführung bestimmt.12 Und deren vordringlichstes Ziel war zunächst die Sanierung der Staatsfinanzen. Denn das Königreich Bayern, dem die Pfalz seit 1816 zugehörte, war hoch verschuldet. 1819 betrug die Staatsverschuldung etwa 110 Millionen Gulden, die jährlichen Staatseinnahmen dagegen wurden mit rund 30 Millionen veranschlagt. Das entsprach einem Verhältnis von Staatsschuld zu Staatseinnahmen von etwa 4 : 1. (Zum Vergleich: Die Staatsschulden Griechenlands betrugen auf ihrem Höhepunkt im Jahr 2011 knapp 366 Milliarden E, und diesen standen Staatseinnahmen in Höhe von 88 Milliarden gegenüber, was gleichfalls einem Verhältnis von etwa 4 : 1 entsprach). Zudem wies der Haushalt Bayerns auch in den folgenden Jahren ein beträchtliches Defizit auf, was zu weiteren Kreditaufnahmen zwang. Verschärft wurde die finanzielle Notlage des bayerischen Staates durch eine sehr ungünstige Entwicklung der Wirtschaft in der nachnapoleonischen Ära. Kaum dass sich die Verhältnisse nach zwei Jahrzehnten ständiger Kriege zu normaliseren begonnen hatten, bewirkte eine gewaltige Aschewolke, die bei einem Vulkanausbruch im Frühjahr 1815 in Sumatra entstanden war, dass der Sommer 1816 auf der nördlich Erdhalbkugel ausfiel und mit ihm nahezu die gesamte Ernte. Es folgte das Hungerjahr 1816/1817, die letzte ganz Europa erfassende Versorgungskrise. Nach deren Überwindung gingen dann die Preise für Agrarprodukte stark und dauerhaft zurück, mit der Folge, dass die Kaufkraft eines großen Teils der Bevölkerung erheblich sank und mit ihr die Nachfrage nach gewerblichen Produkten und Dienstleistungen. Die Folge war eine langandauernde wirtschaftliche Flaute. Diese Entwicklung traf die Pfälzer besonders hart, denn sie hatten darüber hinaus mit besonderen Problemen zu kämpfen. Seit 1814 waren sie vom französischen Wirtschaftsraum, in den sie in den letzten Jahren der napoleonischen Ära gut integriert waren, durch eine hohe Zollschranke abgetrennt. Diese errichtete Frankreich vor allem, um sich so gegen die englischen Waren abzuschirmen, die seit Aufhebung der Kontinentalsperre ganz Europa überfluteten. Die Pfalz dagegen war durch keine Zollgrenze geschützt, denn in München hatte man ausgerechnet, dass deren Einrichtung und Unterhalt weit höhere Kosten verursachen würden, als über Gebühren eingebracht werden könnten. Die Folge war, dass man alle Waren zollfrei in die 12 Zur Wirtschaftspolitik und wirtschaftlichen Entwicklung Bayerns in diesem Zeitraum vgl. Götschmann, Wirtschaftsgeschichte, v. a. Kapitel II: „Bayern auf dem Weg zum Industriestaat (1840 – 1914)“ S. 76 – 147.

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Pfalz einführen konnte, während alles, was von dort ausgeführt wurde, verzollt werden musste, und dies zu teilweise sehr hohen Sätzen. Denn auch alle angrenzenden deutschen Länder waren mit Zolllinien umgeben und erhoben teilweise Zölle mit prohibitiver Wirkung. So auch Bayern, womit den Pfälzern besonders auch der Export von Tabak und Wein dorthin sehr erschwert wurde. Die pfälzische Wirtschaft war damit beim Absatz weitgehend auf den Binnenmarkt angewiesen, womit ihre Entwicklungsmöglichkeiten sehr stark eingeschränkt waren.13 Damit nicht genug, diente der Verzicht auf eine pfälzische Zolllinie auch als Argument für eine stärkere steuerliche Belastung der Pfalz. Und selbst damit war es noch nicht getan. Denn Bayern übertrug der Pfalz, die bisher mit keinen Staatschulden belastet war, über 2 Millionen Gulden der allgemeinen Staatsschuld zur Verzinsung und Tilgung. Bayern brachte die Übernahme der Pfalz somit handfeste finanzielle Vorteile.14 Denn die Einnahmen, die der bayerische Fiskus hier erzielte, waren erheblich höher als die Mittel, die in Form von Ausgaben für die Verwaltung und Investitionen zurückflossen. Letztere gingen vor allem in den Straßen- und Wasserbau. Größere Summen flossen etwa in die „Rheinkorrektion“, die Bayern 1817 gemeinsam mit Baden nach den vom badischen Ingenieur Tulla ausgearbeiteten Plänen in Angriff nahm.15 Diese Flussbaumaßnahmen sollten zwar erhebliche positive Auswirkungen für die Entwicklung der pfälzischen Wirtschaft haben, doch traten diese erst nach Jahrzehnten ein. Von den Straßenbaumaßnahmen dagegen haben die Pfälzer nur wenig profitiert, da diese voranging an militärischen Bedürfnissen ausgerichtet waren.16 Darunter litt vor allem die pfälzische Eisenindustrie, die ihre Rohstoffe oft über weite Entfernungen heranbringen musste und zudem einen beträchtlichen Teil ihrer Produkte exportierte. Erst ab Mitte der 1820er Jahre räumte man in München der Förderung der Wirtschaft generell einen etwas größeren politischen Stellenwert ein. In diesem Zusammenhang ist auch eine 1824 verfügte Zollsenkung auf bestimmte Eisenwaren aus der Pfalz einzuordnen. Von ihr profitierten vor allem die Gienanth’schen Werke, die damals mit großem Abstand das meiste Pfälzer Eisen produzierten.17 Man wird vermuten dürfen, dass diese Entscheidung auch dadurch begünstigt wurde, dass Ludwig Gienanth Mitglied der Kammer der Reichsräte war, des Oberhauses des bayerischen Parlaments. Dagegen spielten die wirtschaftlichen Interessen der Pfalz bei den Verhandlungen, die Bayern mit seinen Nachbarstaaten über einen wirtschaftlichen Zusammenschluss führte, keine Rolle.18 Deren erstes Resultat war der 1828 mit Württemberg geschlossene Süddeutsche Zollverein, der 1829 einen Bund mit dem preußisch-hes13

Kermann, S. 279 – 311, S. 294. Gruber, S. 26 – 30; Kermann, S. 294 f.; Götschmann, Landtag, S. 60 – 63. 15 Mang / Zink, S. 103 – 106; Gruber, S. 89 f. 16 Kerman, S. 297 f. 17 Cloer, S. 222. 18 Zum Folgenden vgl. Gruber, S. 102 – 161. 14

130

Dirk Götschmann

sischen Zollverein einging, aus dem dann schließlich 1834 der Deutsche Zollverein hervorgehen sollte. Von pfälzischer Seite aus hatte man während der Verhandlungen wiederholt versucht, die bayerischen Verhandlungsführer für die wirtschaftlichen Probleme der Pfalz zu sensibilisieren, doch ohne Erfolg. Gegen heftigen Wiederstand der Bevölkerung wurde die Pfalz im Dezember 1829 mit einer Zolllinie umgeben und dem bayerisch-württembergischen Zollverein angeschlossen, wobei jedoch Wein und Tabak von der übrigen gewährten Zollfreiheit bei der Einfuhr nach Preußen und Hessen-Darmstatt weiterhin ausgeschlossen blieben. Erst mit dem Inkrafttreten des Deutschen Zollvereins 1834 fielen alle Zollschranken und endete damit die bisherige Diskriminierung der Pfalz. Mit ihrem Engagement für die Bildung eines gemeinsamen deutschen Wirtschaftsraums hat die bayerische Staatsführung tatsächlich die Weichen gestellt für den wirtschaftlichen Aufschwung der Pfalz. Obwohl die Pfälzer Interessen dabei, wenn überhaupt, nur eine ungeordnete Rolle gespielt hatten, zählte gerade die Rheinpfalz unübersehbar zu den größten Nutznießeren des wirtschaftlichen Zusammenschlusses Deutschlands.19 Zwar verlief die wirtschaftliche Entwicklung in der Pfalz wie in ganz Bayern noch bis zur Jahrhundertmitte ohne größere Dynamik. Aber in der Pfalz fand im Gegensatz zum rechtsrheinischen Bayern zumindest auch kein Rückschritt statt. Denn hier brach man 1834 den 1825 gestarteten Anlauf zur Einführung der Gewerbefreiheit ab, erschwerte die Gründung von Gewerbetrieben und erhöhte auch wieder die Hürden zur Eheschließung. An dieser restriktiven Politik hielt man bis in die 1860er Jahre fest, erst 1868/69 wurden die dann längst überfälligen Reformen in der Gewerbe- und Sozialgesetzgebung nachgeholt. Von einer derartig repressiven Gewerbe- und Sozialpolitik blieb die Pfalz verschont. Sie profitierte auch davon, dass der Zollverein von Preußen dominiert wurde, das aus Rücksicht auf seine rheinländischen Provinzen eine Zollpolitik verfolgte, wie sie auch pfälzischen Interessen entsprach.

V. Die Anfänge der Industrialisierung Vom freien Zugang zum deutschen Binnenmarkt hat die pfälzische Wirtschaft ersichtlich profitiert. So setzten etwa die Gienanth’schen Eisenwerke, obwohl sie nunmehr in direkter Konkurrenz zu den benachbarten preußischen Eisenhütten standen, ihre schon seit längerem zu beobachtende Expansion verstärkt fort. Und dies, obwohl dem dringlichen Wunsch des Unternehmens, seine Werke möglichst bald an die Eisenbahn anzuschließen, lange nicht nachgekommen wurde. Der Bau einer Eisenbahn genoss, nachdem 1835 auf bayerischem Boden die erste deutsche Eisenbahn in Betrieb genommen worden war, auch in den Kreisen der Pfälzer Wirtschaft oberste Priorität.20 Bayerns Staatsführung wollte den Eisenbahnbau zunächst privaten Investoren überlassen, aber als diese nicht die erhofften Aktivitäten entfalteten, wurde er 19 20

Wysocki, S. 197. Mang / Zink, S. 282 – 288.

Gewerbe und Industrie der Pfalz im 19. Jahrhundert

131

zur Staatsaufgabe erklärt; 1844 entstand die bayerische Staatsbahn. Seither wurden im rechtsrheinischen Bayern im großen Stil staatliche Mittel in den Eisenbahnbau investiert, wozu sich der Staat erneut hoch verschuldete. Im rechtsrheinischen Bayern wurde dadurch die Industrialisierung sichtlich beschleunigt. In der Pfalz engagierte sich der bayerische Staat in dieser Form nicht. Hier sollten die Eisenbahn nach wie vor von privaten Investoren gebaut werden, die schon in den 1830er Jahren ihr Interesse daran bekundet hatten. Sie wollten als erstes eine direkte Strecke von Saarbrücken nach der Rheinschanze, dem späteren Ludwigshafen, bauen und so eine Anbindung des saarländischen Kohlebeckens mit dem Rhein herstellen. 1845 wurde der Bau schließlich in Angriff genommen, abgeschlossen war er im August 1849. 1853 ging dann die Strecke von Ludwigshafen nach Worms in Betrieb, und 1855 die von Ludwigshafen nach Straßburg. Weitere folgten dann rasch. Ende der 1870er Jahre umfasste das Schienennetz 594 km, das waren 10,1 km auf 100 qm Fläche; im rechtsrheinischen Bayern waren es damals erst 5,9 km und in Deutschland 5,6 km.21 Die Gienanth’schen Eisenwerke erhielten ihren Anschluss schließlich in den 1870er Jahren, da aber hatten sie die Roheisenerzeugung bereits aufgegeben und sich auf die Eisenverarbeitung beschränkt. Immerhin konnte sie in dieser Form dank des Eisenbahnanschlusses erfolgreich weitergeführt werden.22 Die darin erkennbare Vernachlässigung essentieller Bedürfnisse von Unternehmen, deren Entwicklung im volkswirtschaftlichen Interesse liegen musste, ist kein Einzelfall. Sie war unverkennbar eine Folge des Desinteresses, das die in München angesiedelten zentralen staatlichen Behörden der Pfalz gegenüber an den Tag legten. So wurde auch das Potential, das die beiden größten pfälzischen Steinkohlegruben, die Bergwerke bei St. Ingbert und Mittelbexbach, darstellten, bei weitem nicht ausgenutzt. Sie befanden sich im Besitz des Staates, der seine Betriebsführung aber ausschließlich an fiskalischen Interessen ausrichtete. Er war daher zu keinen größeren Investitionen bereit, obwohl die Arbeits- und Lebensbedingungen sehr verbesserungsbedürftig waren, und dies auch dann nicht, als die Nachfrage nach Steinkohle stark anstieg.23 1910 wurden in der Pfalz 1.893.001 t Steinkohle verbraucht, davon stammten aber nur 743.172 t aus pfälzischen Gruben und davon wiederum nur 392.880 aus den beiden staatlichen Bergwerken.24 Der größte Teil der in der Pfalz verbrauchten Kohle kam von der Ruhr und aus England, von wo sie per Schiff kostengünstig über Ludwigshafen importiert werden konnte.25 Zu diesem Zeitpunkt war Ludwigshafen schon seit längerem der wichtigste wirtschaftliche Zentralort der Pfalz. Der Aufstieg dieses Ortes begann 1843, als das Handelshaus Lichtenberg seine Hafenanlagen in der Rheinschanze dem bayerischen 21

Wysocki, S. 223. Cloer, S. 224 ff. 23 Kermann, S. 297. 24 Mang / Zink, S. 205. 25 Mang / Zink, S. 205 f.

22

132

Dirk Götschmann

Staat verkaufte. Damit wurde dieser Platz, an dem bisher kaum 100 Menschen ansässig waren, eine Gemeinde, die den Namen Ludwigshafen erhielt.26 1852 wurde die Kommune selbstständig, 1857 in den Rang einer Stadt erhoben. Am Beispiel dieser Stadt kann man geradezu beispielhaft nachvollziehen, welche Dynamik die Industrialisierung in der Pfalz entwickeln konnte, wuchs die Einwohnerzahl Ludwigshafens doch von 900 im Jahr 1851 auf 12.093 im Jahr 1875 und 83.301 im Jahr 1910. Grundlage dieser raschen Entwicklung war vor allem die günstige Verkehrslage. Ludwigshafen war neben Mannheim Kopfstation der Rheinschifffahrt und Eisenbahnknotenpunkt. In seinem Hafen wurden alle Güter umgeschlagen, die von links des Rheines kamen oder dorthin gingen. Die Zahl der in Ludwigshafen abfertigten Schiffe stieg von 1783 im Jahr 1856 auf 10.350 im Jahr 1895 und 22.518 im Jahr 1911. Im letztgenannten Jahr wurden in Ludwigshafen per Schiff Güter mit einem Gewicht von über 2,5 Millionen und per Eisenbahn mit mehr als 1,9 Millionen Tonnen umgeschlagen.27 Wegen ihrer äußerst verkehrsgünstigen Lage war die Stadt zudem der ideale Standort für alle industriellen Unternehmen.28 Das mit Abstand größte der Unternehmen, die dies erkannten und erfolgreich nutzten, war die BASF, die sich hier 1865 ansiedelte. Die Zahl ihrer Arbeiter stieg von anfänglich 30 auf knapp 2400 im Jahr 1885 und über 9000 im Jahr 1910; dazu kamen 520 wissenschaftlich-technische und 1150 kaufmännische Angestellte.29 Vor allem ihrer gegenüber dem rechtsrheinischen Bayern weitaus günstigeren Lage sowohl in Hinsicht auf den Bezug von wichtigen Rohstoffen wie dem Zugang zum deutschen und dem weltweiten Markt ist es zuzuschreiben, dass sich die Wirtschaft in den Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg in der Pfalz weitaus dynamischer entwickelte als im rechtsrheinischen Bayern. Das zeigt am deutlichsten die Auslastung der Eisenbahn, die ein sehr aussagekräftiger Indikator für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes ist. Während in der Pfalz im Jahr 1910 pro Kilometer Betriebslänge 1.005.242 Gütertonnen-Kilometer anfielen, waren es im rechtsrheinischen Bayern nur 572.414. Und dies, obwohl in Bayern auf 10.000 Einwohner 12,0 km, in der Pfalz aber nur 9,1 Kilometer Bahnstrecke entfielen.30 VI. Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch Welche Faktoren haben die Industrialisierung der Pfalz ermöglicht und vorangetrieben, und wie haben sich dabei die Strukturen von Wirtschaft und Gesellschaft verändert? Diesen Fragen wird nachfolgend auf Grundlage der zeitgenössischen Statistik nachgegangen. 26

Haan, S. 206. Mang / Zink, S. 292. 28 Mang / Zink, S. 255 – 257. 29 Mang / Zink, S. 240 30 Mang / Zink, S. 289. 27

Gewerbe und Industrie der Pfalz im 19. Jahrhundert

133

Sie liefert zunächst wichtige Informationen bezüglich der Erwerbsstruktur der pfälzischen Bevölkerung. Im Jahre 1840, also noch bevor die Industrialisierung in Gang kam, zählte man in der Pfalz 571.137 Einwohner, dazu kam das Militär mit 7.983 Personen. 42.178 Familien mit zusammen 190.070 Köpfen lebten laut der Statistik ausschließlich von Land- und Forstwirtschaft, 12.110 Familien mit 85.787 Menschen betrieben Landwirtschaft und Gewerbe nebeneinander. Hinzu kamen 20.294 Familien mit 90.095 Personen von „Landbautagelöhnern mit Grundbesitz“ und 9.002 Familien mit 35.884 Personen von „Landbautagelöhnern ohne Grundbesitz.“ 21.100 Personen wurden als „Gesinde“ erfasst; damit zählte die gesamte „landwirtschaftliche Bevölkerung“ 395.936 Menschen. Von Landwirtschaft allein lebten wohl nicht viel mehr als diejenigen 42.178 Familien mit 190.070 Personen, die diese als ausschließlichen Erwerb angegeben hatten. Damit war deren Zahl gegenüber der Erhebung von 1832 um 34.558 (15,4 %) zurückgegangen. Die übrige „landwirtschaftlichen Bevölkerung“, die zumeist zusätzlicher Einkünfte bedurfte, zählte noch etwa 200.000 Menschen, das waren 15.000 weniger als noch acht Jahre zuvor. Im gewerblichen Sektor unterschied die Statistik in „Selbständige mit Haus- und Grundbesitz“ und solche ohne einen solchen, sowie in abhängig Beschäftigte und Tagelöhner. 1840 zählte man 19.236 „Selbständige mit Haus und Grundbesitz“ – mit Angehörigen waren dies 91.172 Menschen – und 5.799 Selbständige mit insgesamt 23.651 Personen ohne einen solchen Besitz, 1044 Familien von „abhängig Beschäftige“ mit insgesamt 15.969 Personen und 1266 Familien von Tagelöhnern mit 5.031 Personen. Insgesamt rechnete die Statistik 1840 dem gewerblichen Sektor 27.345 Familien mit 135.823 Köpfen zu, das waren knapp 24 % der Gesamtbevölkerung. Als dritte und letzte Abteilung erfasste die Statistik jene, die „von Renten, höheren Diensten, Wissenschaft und Kunst“ lebten, beziehungsweise in Diensten solcher Personen standen. Das waren 1840 in der Pfalz 4.854 Familien mit insgesamt 22.907 Seelen, und damit etwa vier Prozent der Bevölkerung. Der Rest der zivilen Bevölkerung – 12.471 Mensch oder 2,2 Prozent – waren „conscribierte Arme“, lebten also von öffentlicher Unterstützung. Über die Struktur der gewerblichen Wirtschaft gibt die Gewerbestatistik von 1847 umfassend Auskunft. Wie aus dieser zu ersehen ist, rangierten die traditionellen Handwerke sowohl hinsichtlich der Zahl der Betriebe wie der Beschäftigten noch weit an der Spitze. Die am stärksten besetzten Gewerbe waren demnach:31 Gewerbe

Meister/Zahl der Betriebe

Gehilfen u. Lehrlinge

Schuhmacher

3170

821

Schneider

1957

350

Maurer

1850

788

31 Beyträge zur Statistik Bd. 1, S. 114 – 125: „Zahl der Handwerker und der vorherrschend für den örtlichen Bedarf beschäftigten Gewerbetreibenden und Künstlern“ 1847; Beiträge zur Statistik Bd. 10, Tafel XIII.

134

Dirk Götschmann

Gewerbe

Meister/Zahl der Betriebe

Gehilfen u. Lehrlinge

Tischler Grobschmied

1282 1268

315 206

Bäcker

777

229

Rad- u. Stellmacher Wagenbauer

734

66

Böttcher

729

40

Schlosser

680

146

Fleischer

635

77

Zimmerleute

534

262

Barbier

504

34

Drechsler

283

10

Glaser

271

30

Maler u. Vergolder

239

81

Gerber

153

120

Riemer u. Sattler

225

30

Korbmacher

223

1

Töpfer

217

49

Klempner

157

20

Steinmetz

155

136

Bürstenbinder

113

10

Zimmerleute

534

262

Daneben gab es eine breite Palette weiterer Betriebe aller Sparten, die hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden können. Insgesamt wurden 17.756 Meister, d. h. selbständige Betriebe gezählt, in denen einschließlich der Betriebsinhaber 22.473 Menschen arbeiteten. Neben diesen Handwerkern erfasste die Statistik als eigene Gruppe jene „Personen, die selbständig von Handarbeit leben, als Näherinnen, Wäscherinnen, Tagelöhner, Holzhauer, Chaussee- und Eisenbahnarbeiter etc.“. Hierzu zählten im Jahr 1847 28.246 männliche und 14.408 weibliche Personen. Weitere eigene Kategorien bildeten das zur „Bequemlichkeit der Herrschaft“ tätige Gesinde, insgesamt 1.989 Personen, sowie 11.095 Knechte und 16.062 Mägde. Insgesamt wurden in diesem Sektor 94.273 Menschen erfasst, das waren rund 15,5 Prozent der gesamten Bevölkerung; denn 1847 zählte diese insgesamt 608.470 Menschen. Einen Sektor der gewerblichen Wirtschaft von rasch wachsender Bedeutung stellten die Fabriken und die „vorherrschend für den Großhandel beschäftigten Gewerbeanstalten“ dar. Im Textilbereich waren das:

Gewerbe und Industrie der Pfalz im 19. Jahrhundert Bezeichnung

Zahl der Betriebe/ Webstühle

Zahl der Spindeln/ Handwebstühle

Arbeiter

Arbeiterinnen

Streichgarnspinnerei

20

80

10

Seidenhaspelanstalt

27

6

29

1

13

Fabrik für div. Garne

2790 Spindeln

135

Seidenbandwaren

148 Webstühle

149

Baumwollwaren

476 Webstühle

489

3361

3555

Woll- und Halbwollwaren

Leinenwaren

365

506

Strumpfweberei und -strickerei

51

54

Webstühle als Nebenbeschäftigung

711

Tuchfabriken

13

Walkmühlen

33

22 Handwebstühle

209

109

36

Fabrik für baumwollne Zeuge

1

5 Handwebstühle

9

3

Fabrik für Seidenetc. Waren

2

100 Handwebstühle

100

22

34

31 Handwebstühle

54

Fabrik für Strumpfwaren Garnbleichen

9

4

12

Stückbleichen

22

25

57

Stückfärberei

99

133

Druckerei für Zeuge

6

4 Drucktische

12

Die Eisenindustrie umfasste fünf Eisenhütten mit zusammen sechs Hochöfen, acht Frischfeuern, elf Puddlingsöfen, drei Schweißöfen, drei Kuppelöfen, sieben Flammöfen und 1135 Arbeiter. Als weitere „Fabriken“ und „vorherrschend für den Großhandel beschäftigten Gewerbeanstalten“ wurden erfasst: - 2 Eisendrahtwerke mit 82 Beschäftigten - 3 Kupferwerke mit 13 Beschäftigten - 1 Hütte für Gewinnung von Allaun und/oder Quecksilber mit 30 Beschäftigten - 3 Maschinenfabriken mit 180 Arbeitern und 100 Arbeiterinnen - 21 Eisen-, Blech- und Sensenhämmer mit 14 Beschäftigten - 1 Gold- und Silberwarenmanufaktur mit 7 Beschäftigten

136

Dirk Götschmann

- 103 Kalkbrennereien mit 216 Beschäftigten - 163 Ziegeleien mit 216 Beschäftigten - 35 Gipsmühlen mit 76 Beschäftigten - 4 chemische Fabriken mit 40 männlichen und 14 weiblichen Beschäftigten - 2 Zündwarenfabriken mit 11 männlichen und 20 weiblichen Beschäftigten - 4 Glashütten mit 269 männlichen und 27 weiblichen Beschäftigten - 1 Porzellanfabrik mit 60 männlichen und 8 weiblichen Beschäftigten - 2 Steingutfabriken mit 4 Beschäftigten - 217 Ölmühlen mit 315 Beschäftigten - 20 Lohmühlen mit 22 Beschäftigten - 55 Sägemühlen mit 89 Beschäftigten - 108 Pottaschesiedereien mit 142 Beschäftigten - 82 Teeröfen u. Pechsiedereien mit 15 Beschäftigten - 17 Fabriken von gefärbten und lackiertem Leder mit 54 Beschäftigten - 4 Wachswarenfabriken mit 10 Beschäftigten - 22 Papier- und Pappemühlen mit 234 und 71 Beschäftigten - 1 Spielkartenfabrik mit 7 Beschäftigten - 2 Papiermachefabriken mit 164 männlichen und 154 Beschäftigten - 700 Wassermühlen mit zusammen 1365 Gängen und 1335 Arbeitskräften - 2 Mühlen mit tierischer Kraft, 2 Mahlgängen und 5 Arbeitern - 2 Mühlen mit Dampfkraft, 4 Mahlgängen und 4 Arbeitern - 8 Stärke- etc. Fabriken mit 30 Beschäftigten - 1 Süßwarenfabrik mit 12 Beschäftigten - 22 Tabakfabriken mit 177 männlichen und 122 Beschäftigten - 2 Rübenzuckerfabriken mit 76 Beschäftigten - 33 Essigfabriken mit 44 Beschäftigten - 226 Bierbrauereien mit 383 Beschäftigten - 104 Branntweinbrennereien mit 146 Beschäftigten. An Dampfmaschinen waren damals in Betrieb: - 1 mit 23 PS im Bergbau - 1 mit 4 PS in Mühle - 12 mit 340 PS in Maschinenfabriken

Gewerbe und Industrie der Pfalz im 19. Jahrhundert

137

- 1 mit 4 PS für andere Zwecke - 1 mit 150 PS für ein Schiff. Die Gesamtzahl der Arbeitskräfte in allen vorgenannten Betrieben betrug 8.501, hinzu kamen jene 4.753 Meister und Gehilfen, welche die insgesamt 5.112 Handwebstühle betrieben; alles zusammen zählte man damit in diesen größeren Gewerbebetrieben 13.254 Arbeitskräfte, womit eine Fabrikarbeitskraft auf 46 Einwohner kam.32 Charakteristisch für das Gewerbe und die Industrie der Pfalz war ihre starke Ausrichtung auf den inländischen Absatzmarkt, der Rückgriff auf die örtlichen und regionalen Rohstoffe und Ressourcen sowie – damit in engem Zusammenhang stehend – eine starke Dominanz der Klein- und Kleinstbetriebe. Damit verbunden war eine stark absatzorientierte Standortwahl. Nur in den Fällen, in denen man auf bestimmte Rohstoffe – etwa Holz, Kohle, Erz, Steine und Erden, aber auch Wasserkraft – angewiesen war, traten andere Kriterien als das der Nähe zum Abnehmer in den Vordergrund, wobei dann die Verkehrsanbindung von um so größerer Bedeutung war. Ausnahmen von dieser Absatzorientierung gab es auch dort, wo relativ leicht zu transportierende Rohstoffe und Produkte verarbeitet und hergestellt wurden; hier ist eine Lohnorientierung zu beobachten. Die Ursache für diese Ausrichtung der gewerblichen Produktion ist darin zu suchen, dass jedes Produkt mit jedem Kilometer, den es transportiert werden musste, teurer wurde, und diese Verteuerung war besonders beim Landtransport beträchtlich. Eine Ware war daher an anderen Orten nur dann konkurrenzfähig, wenn sie dort nicht oder nicht in der gleichen Qualität erzeugt werden konnte. Die Produktion musste sich somit vor allem am örtlichen Bedarf ausrichten, und dessen Umfang wurde von der Zahl der hier lebenden Menschen und ihrer Kaufkraft konstituiert. Nur in dem Maße, wie diese zunahmen, konnte auch die Produktion gesteigert werden. Damit aber waren dem wirtschaftlichen Wachstum enge Grenzen gesetzt. Mit dem Bau von Eisenbahnen, dem Ausbau der Wasserstraßen und der Einführung der Dampfschifffahrt wurden die Transportkosten radikal gesenkt. Damit spielte sich das gesamte Wirtschaftsleben sehr rasch unter völlig veränderten Rahmenbedingungen ab. Nun hing es vor allem von den Herstellungskosten und der Qualität eines Produktes ab, ob es sich am Markt behaupten konnte. Und dieser Markt erweiterte sich mit dem Ausbau der modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel binnen weniger Jahrzehnte zu einem Weltmarkt. Da dort aber auch die Rohstoffe einschließlich der Energierohstoffe kostengünstig beschafft werden konnten spielten bei den Herstellungskosten die Arbeitskosten („Lohnstückkosten“) eine immer wichtigere Rolle. Die Pfalz verfügte jedoch über ein großes Reservoir an einsatzwilligen und leistungsfähigen Arbeitskräften, und deshalb eröffnete diese Entwicklung dem Gewerbe und der Industrie Wachstumschancen von bisher unvorstellbaren Dimensionen. Die 32

Beyträge zur Statistik Bd. 10, Tafel XIII.

138

Dirk Götschmann

mit der Steigerung der Produktion verbundene Zunahme an Arbeitsplätzen in den exportorientierten Branchen und Unternehmen bewirkte wiederum einen starken Anstieg der Kaufkraft der Bevölkerung und damit der Binnennachfrage, was der gesamten Wirtschaft zugutekam. Mit der Industrialisierung setzte deswegen auch kein Arbeitsplatzschwund bei den Klein- und Kleinstbetrieben ein; diese nahmen vielmehr sogar zu, und so bildete der Mittelstand auch weiterhin ein Charakteristikum der pfälzischen Wirtschaft. Diese Entwicklung lässt sich bereits aus der Gewerbestatistik von 1861 ablesen:33 Gewerbe

Meister/ Zahl der Betriebe 1847

Meister/Zahl der Betriebe 1861

Gehilfen u. Lehrlinge 1847

Gehilfen u. Lehrlinge 1861

Schuhmacher

3170

3658

821

2233

Schneider

1957

2757

350

1325

Maurer

1850

1890

788

2581

Tischler

1282

1359

315

837

Grobschmied

1268

1285

206

712

Bäcker

777

1131

229

824

Rad- u. Stell-macher, Wagenbauer

734

823

66

322

Böttcher

729

723

40

299

Schlosser

680

602

146

419

Fleischer

635

968

77

329

Zimmerleute

534

513

262

696

Barbier

504

782

34

257

Drechsler

283

239

10

79

Glaser

271

291

30

99

Maler u. Vergolder

239

383

81

274

Gerber

153

148

120

197

Riemer u. Sattler

225

245

30

119

Korbmacher

223

512

1

55

Töpfer

217

141

49

104

Klempner

157

212

20

125

Steinmetz

155

276

136

490

Bürstenbinder

113

81

10

265

Zimmerleute

534

513

262

696

33

Grundlage: Beyträge zur Statistik Bd. 10, Tafel XIII.

Gewerbe und Industrie der Pfalz im 19. Jahrhundert

139

Stärker als die Zahl der Betriebe hat sich die der darin Beschäftigten erhöht, sie wuchs von 22.473 im Jahr 1847 auf 35.181 im Jahr 1861. Noch stärker zeichnete sich bei den Fabrikbetrieben der Trend zum größeren Betrieb ab, aber insgesamt ist die Zahl der hier Beschäftigten gegenüber 1847 deutlich geringer gewachsen, nämlich von 13.254 auf 16.525. Damit entfiel aber immerhin nun ein Fabrikbeschäftigter auf 37 Einwohner. Diese Entwicklung setzte sich nach der Reichsgründung in verstärktem Maß fort. Dem Boom der Gründerjahre folgte zwar schon 1873 ein starker konjunktureller Einbruch, aber seit der Mitte der 1880er Jahre nahm die Industrialisierung auch in der Pfalz erkennbar Fahrt auf. Das schlug sich am auffälligsten in einem kontinuierlichen Rückgang des Bevölkerungsanteils nieder, der von der Landwirtschaft lebte. Die Dynamik dieses Prozesses lässt sich dem folgenden Diagramm entnehmen:34

Dass diese Entwicklung in der Pfalz dynamischer verlief als in Bayern insgesamt zeigt ein Vergleich der beiden nachfolgenden Tabellen:

34

Grundlage der folgenden Diagramme und Tabellen: Beyträge zur Statistik Bd. 82.

140

Dirk Götschmann Tabelle 1 Entwicklung in der Pfalz Zu- oder Abnahme 1882 – 1895 in absoluten Zahlen

Zu- oder Abnahme 1882 – 1895 in Prozent

Zu- oder Abnahme 1895 – 1907 in absoluten Zahlen

Zu- oder Abnahme 1895 – 1907 in Prozent

Gesamtbevölkerung

+84.150

+12,5

+138.001

+18,2

Land-u. Forstwirtschaft

@33.737

@10,8

@7.773

@2,8

Gewerbe u. Industrie

+84.223

+35,7

+101.879

+31,8

Handel u. Verkehr

+19.874

+33,9

+22.686

+28,9

Tabelle 2 Die Entwicklung im gesamten Bayern Zu- oder Abnahme in Prozent 1882 – 1895

Zu- oder Abnahme in Prozent 1895 – 1907

Gesamtbevölkerung

+9,6

+14,2

Land-u. Forstwirtschaft

@1,3

+0,4

Gewerbe u. Industrie

+20,2

+22,2

Handel u. Verkehr

+29,6

+35,5

Einen Überblick über die Entwicklung der einzelnen Branchen bietet das auf der nachfolgenden Seite wiedergegebene Diagramm. Wie bei einem Vergleich der Zahlen der Erhebungen von 1882, 1895 und 1907 zu erkennen ist, hat sich an der Rangfolge der Branchen nur wenig geändert. Bei einem Blick auf jene Bereiche, die 1882 mindestens tausend Beschäftigte aufwiesen, sieht man, dass der damals führende Sektor jener der „Bekleidung und Reinigung“ war, dem die Handelsgewerbe, das Nahrungs- und Genussmittelgewerbe, das Baugewerbe, das holzverarbeitende Gewerbe, die Spinnstoffindustrie, die Metallverarbeitung, der Maschinen-, Werkzeuge u. Apparatebau, die Industrie der Steine und Erden, das Gastgewerbe, die Papier- und die Lederindustrie, der Bergbau, die Hütten und Salinen, die Chemische Industrie und das Verkehrsgewerbe folgten. Nach wie vor wurde das Bild des gewerblichen Sektors von Kleinbetrieben mit maximal sechs Beschäftigten beherrscht. 1875 arbeiteten von den 88.034 Personen, die im gewerblichen Sektor tätig waren, 76 % in derartigen Betrieben. In den folgenden Jahrzehnten ging der prozentuale Anteil dieser Beschäftigten an der Gesamtbeschäftigtenzahl kontinuierlich zurück; 1895 lag er bei 49, 1907 dann bei 42,9 Prozent. Die absolute Zahl der in Kleinbetrieben Tätigen stieg jedoch auch in diesem Zeitraum noch an, so allein von 1895 bis 1907 um nicht weniger als 21,3 Prozent.35 35

Beyträge zur Statistik Bd. 82, S. 172*.

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VII. Resümee Die Entwicklung von Industrie und Gewerbe in der Pfalz weist im Vergleich zu der des rechtsrheinischen Bayern einige Besonderheiten auf, die ihr einen ganz eigenen Charakter verleihen. Bedingt durch den Umstand, dass die bei weitem größte Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe von so geringem Umfang war, dass er einer Familie keine hinreichende oder allenfalls eine sehr kümmerliche Existenzgrundlage bot, war der Bevölkerungsanteil, der auf einen Zuerwerb außerhalb der Landwirtschaft angewiesen war, in diesem Regierungsbezirk Bayerns von Anfang an größer als in allen anderen. Und da sowohl die Aufnahme einer selbstständigen gewerblichen Tätigkeit wie die Gründung einer Familie, anders als dies im rechtsrheinischen Bayern der Fall war, keinen Restriktionen unterlag, nahm die gewerbliche Produktion bereits im Vorfeld und in der ersten Phase der Industrialisierung rascher zu, als dies im rechtsrheinischen Bayern der Fall war.

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Die wichtigste Bedingung für dieses Wachstum aber war die Erweiterung der Absatzmöglichkeiten für gewerbliche Produkte. Der erste Schritt dazu erfolgte mit der Einbeziehung der Pfalz in den Deutschen Zollverein 1834, der zweite mit der seit der Mitte des Jahrhunderts rasch voranschreitenden Integration in das moderne internationale Verkehrswesen. Denn damit änderten sich die Rahmenbedingungen der Wirtschaft grundlegend, und dank ihrer verkehrsgünstigen Lage hat die Pfalz davon, dass die deutsche Wirtschaft in den Jahrzehnten bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges ihren Anteil am Weltmarkt kontinuierlich ausbauen konnte, erheblich profitiert. Da mit dem Aufschwung der exportorientierten Unternehmen auch die Kaufkraft der Bevölkerung und so die Binnennachfrage zunahmen, waren auch die kleineren Gewerbebetriebe Nutznießer dieser Entwicklung; damit blieb ein starker gewerblicher Mittelstand weiterhin charakteristisch für die pfälzische Wirtschaft. Quellen- und Literaturverzeichnis Beyträge zur Statistik des Königreichs Bayern, Bd. 1, München 1850. Beyträge zur Statistik des Königreichs Bayern Bd. 10, München 1862. Beyträge zu Statistik des Königreichs Bayern Bd. 82, 1911: Gewerbe und Handel in Bayern. Nach der Betriebszählung vom 12. Juni 1907. Cloer, Bruno: Eisengewinnung und Eisenverarbeitung in der Pfalz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Rhein-Neckar-Raum an der Schwelle des Industriezeitalters, Mannheim 1984, S. 219 – 236. Faber, Karl Georg: Die Rheinischen Institutionen, in: Hambacher Gespräche 1962 (Geschichtliche Landeskunde Bd. 1), Wiesbaden 1964. Götschmann, Dirk: Wirtschaftsgeschichte Bayerns. 19. und 20. Jahrhundert, Regensburg 2010. Götschmann, Dirk: Der bayerische Landtag und die Pfalz 1819 – 1848, in: Fenske, Hans (Hg.): Die Pfalz und Bayern 1816 – 1956, Speyer 1998, S. 41 – 65. Gruber, Hansjörg: Die Entwicklung der pfälzischen Wirtschaft 1816 – 1834 unter besonderer Berücksichtigung der Zollverhältnisse, Saarbrücken 1962. Haan, Heiner: Gründung der Industrie- und Handelskammer für die Pfalz im Spiegel der Wirtschaftsentwicklung (1800 – 1850), in: Rhein-Neckarraum an der Schwelle des Industriezeitalters, Mannheim 1984, S. 177 – 212. Kermann, Joachim: Wirtschaftliche und soziale Probleme im Rheinkreis/Pfalz an der Schwelle des Industriezeitalters, in: Der Rhein-Neckar-Raum an der Schwelle des Industriezeitalters, Mannheim 1984. Mang, Ludwig / Zink, Theodor: Dass Wirtschaftsleben der Pfalz in Vergangenheit und Gegenwart, München 1913. Silbernagel, Herbert: Die Pfalz unter dem Regierungspräsidenten Frhr. von Stengel 1832 – 1837. Zugleich ein Beitrag zum Verhältnis Bayern – Pfalz in dieser Zeit, Diss. München, 1936.

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Spindler, Max: Die Pfalz in ihrem Verhältnis zum bayerischen Staat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,(1953), in: Ders., Erbe und Verpflichtung. Aufsätze und Vorträge zur bayerischen Geschichte, hg. von Kraus, Andreas, München 1966, S. 280 – 300. Wysocki, Josef: Die pfälzische Wirtschaft von den Gründerjahren bis zum Ausbruch des 1. Weltkrieges, in: Rhein-Neckar-Raum an der Schwelle des Industrie-Zeitalters, Mannheim 1984.

Vom Adel. Bayern und die Pfalz aus gesellschaftshistorischer Perspektive Von Markus Raasch, Mainz / Eichstätt Einleitung In keinem Bereich hat die bayerisch-pfälzische Historiografie die Grenzen derart klar gezogen wie auf dem Gebiet der Gesellschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Die pfälzische Bürgergesellschaft erscheint in der Folge vielfach als Antonym der bayerischen Ständegesellschaft, das Königreich Bayern figuriert als Residuum gesellschaftlichen Konservativismus, wohingegen sein linksrheinischer Rheinkreis als Fluidum bürgerlicher Moderne betrachtet wird. Ein 38 Jahre altes Urteil von Heiner Haan steht in diesem Kontext bis heute paradigmatisch: Die Pfalz besaß „eine im Kern bürgerliche und damit im Sinne des Zeitgeistes fortschrittliche Gesellschaftsstruktur“, während das rechtsrheinische Bayern „noch in starkem Maße Relikte feudalständischer Strukturen aufwies“.1 Der Adel hat dementsprechend als Herrschaftsträger der Vormoderne in der modernen pfälzischen Geschichte keinen Platz. Zuletzt pointierte Kurt Andermann: „Seit der Französischen Revolution ist die Pfalz […] eine Landschaft ohne Adel“.2 Kurt Baumann hat in diesem Sinne gerne den spätromantischen Dichter Oskar von Redwitz zitiert: „[…] vom Adel wußte man in der Pfalz, in der einst ein Federstrich der Französischen Revolution alle Adelsprivilegien vernichtete, so viel als gar nichts; ja ich möchte fast sagen: der Bürgerliche sah, namentlich wenn er vermögend war, mit einer gewissen Verachtung auf die wenigen adeligen Beamten herab, welche aus ,Altbayern‘ in die Pfalz versetzt worden waren.“3 „Adelsfeinschaft“ hat die Forschung konsequenterweise zum integralen Bestandteil eines „politischen Katechismus des pfälzischen Bürgertums im 19. Jahrhundert“ erklärt.4 Substantiell vermessen wurden die Grenzen bayerisch-pfälzischer Gesellschaftsgeschichte indes bisher nicht. Die Adelshistoriografie liefert hier das markanteste Beispiel. In Bayern besitzt sie zwar eine durchaus bedeutende sozialhistorische Tra1

Haan, Kontinuität und Diskontinuität, S. 285. Ähnlich: Haan, Vom Nebenstaat zur Provinz, S. 73 f. 2 Andermann, Eine Vorbemerkung, S. 363; Auch Harald Stockert spricht von einem „Land ohne Adel“: Stockert, Im höfischen Niemandsland, S. 529. 3 Zit. nach Baumann, Adel und Bürgertum, S. 199. 4 Baumann, Adel und Bürgertum, S. 208.

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dition.5 Am jüngeren Boom der Adelsgeschichte der Moderne, der u. a. durch den sogenannten „Cultural Turn“ befördert wurde,6 hat sie jedoch bisher nur begrenzt Anteil genommen. In einschlägigen Publikationen bildet die Zeit des 19. und 20. Jahrhunderts zumeist lediglich ein Anhängsel.7 Ein angesichts der klaren Forschungsverdikte kaum erklärliches Desiderat bildet der pfälzische Adel des 19. Jahrhunderts, was Kurt Andermann auch unumwunden zugibt und für überaus bedauerlich hält, „als nicht zuletzt gerade hinsichtlich dieser Periode neue Perspektiven zu erwarten“ sind.8 Bis heute existieren keinerlei systematische Studien zum Adel in der modernen Pfalz. Diese große Lücke kann und möchte meine Studie nicht füllen. Es ist ihr aber ein großes Anliegen, für den Widerspruch zwischen Forschungsurteil und empirischer Triftigkeit und damit für das kritische Hinterfragen scheinbar klarer Grenzziehungen in der bayerisch-pfälzischen Geschichtsschreibung zu sensibilisieren. Im Folgenden soll daher das pfälzisch-bayerische Verhältnis im 19. Jahrhundert aus adelshistorischer Perspektive und mit den Mitteln einer kulturalistisch sensiblen Sozialgeschichte ins Blickfeld gerückt werden. Ich möchte in fünf Schritten vorgehen: I. erscheint es mir unerlässlich, die Ausgangssituation des 18. Jahrhunderts zu skizzieren. Sodann möchte ich kategorial vier Themenfelder näher beleuchten: Die Rechtsdimension, die Frage der Besitzverhältnisse, die Rolle des Adels in der Bürokratie und schließlich den lebensweltlichen Zusammenhang zwischen Adeligkeit, verstanden als spezifisches Kulturmodell,9 und bürgerlichen Werten. Quellengrundlage bilden u. a. die Personalia der pfälzischen Beamtenschaft, die Handbücher zum bayerischen Grundbesitz sowie einschlägiges Akten- und Korrespondenzmaterial von adeligen Familien, das in verschiedenen staatlichen und privaten Archiven in Rheinland-Pfalz, Hessen und Bayern gesichtet wurde. I. Die Ausgangslage Zur Konturierung der Ausgangslage bedarf es zunächst der Unterscheidung. Denn der nach 1806 im Königreich Bayern zusammengefasste Adel sah sich zuvörderst durch seine Heterogenität gekennzeichnet. Auf einer Seite stand der altbayerische Adel.10 In Kurbayern war die Hofmarkenverfassung kennzeichnend; es gab einen eklatant hohen Anteil landsässiger Adeliger. Ende des 18. Jahrhunderts wahrten lediglich noch die Grafen von Ortenberg eine reichsunmittelbare Stellung, der Herr5

Beispielhaft seien genannt: Hofmann; Zang; Brunner. Vgl. zum Boom der Adelsgeschichte der Moderne nebst ausführlichen Bibliografien auch die Einleitungen in: Raasch, Der Adel auf dem Feld der Politik u. Raasch, Adeligkeit. 7 Demel / Kramer; Jahn; Drossbach. Wichtige kulturalistisch sensible Monografien beschäftigen sich nur in Teilen mit dem Adel: Krauss, Herrschaftspraxis; Löffler. 8 Andermann, Vorbemerkung, S. 365. 9 Reif, S. 119 f. 10 Prägnant dazu: Brunner, S. 18 ff. 6

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schaft Alt- und Neufrauenhofen bestritten die staatlichen Behörden jene trotz eines einschlägigen Urteils des Reichskammergerichts. Im Regelfall waren die Adeligen katholisch und sie lebten im relativen Wohlstand. Etwa 90 Prozent der Hofmarken befanden sich in ihrem Besitz.11 Bürgerlichen Gutseignern konnten am Ende des 18. Jahrhundert im Mittel gerade sieben untertänige Familien zugerechnet werden, Freiherren 131, Grafen 323.12 Dem altbayerischen muss der fränkische und schwäbische Adel gegenübergestellt werden.13 Für Franken und Schwaben konnte ein territorium inclausum als wesentliches Signum gelten. Die Masse des Adels stellten die Patrizier der Reichsstädte und vor allem Reichsritter14. Ein Großteil besaß die evangelische Konfession, viele übten das Summepiscopat aus. Die Besitztümer selbst der kleineren Fürsten und Reichsgrafen waren zumeist klein und zersplittert und die Adeligen trotz gravierender Unterschiede in Relation weniger wohlhabend.15 Sie erreichten im Durchschnitt nicht annähernd die Verdienste der höheren Beamtenschaft. Viele adelige Familien gingen insolvent, mancher Reichsbaron konnte die Gehälter seiner Bediensteten nicht mehr bezahlen und sah sich genötigt, Mobilar zu versetzen. Es kam vor, dass adelige Kinder auf Stroh schlafen und Kleidung für Medizin verkaufen mussten.16 Das für den 18. Jahrhundert vielerorts konstatierte Phänomen der Adelsverarmung, mithin die Genese eines zumeist landlosen Adelsproletariats, besaß hier eine besondere Ausprägung.17 Ungeachtet der gebotenen Differenzierung gilt jedoch auch im Hinblick auf Kurbayern: Am Anfang war nicht Napoleon. In quantitativer Hinsicht verlor der Adel seinen Einfluss zunehmend. Nimmt die frühneuzeitliche Forschung einen maximalen adeligen Bevölkerungsanteil von zwei Prozent an,18 so konnten um 1800 nur mehr 0,3 Prozent der bayerischen Bevölkerung zum Adel gezählt werden. In Preußen lag das Quantum mehr als dreimal so hoch, in Spanien zwölf- und in Polen 25-mal.19 Der Anteil des Adels am Grundbesitz war signifikant, aber in Relation niedrig. Er lag im Jahre 1800 bei etwa 25 Prozent, in Pommern war die Quote doppelt so hoch, in Großbritannien befanden sich drei Viertel des Grundbesitzes in adeliger Hand, in Polen sogar 90 Prozent.20 Zudem war die Instabilität der bayerischen Adelsland11

Zang, S. 53. Zang, S. 52 u. 53. 13 Prägnant: Brunner, S. 14 ff. 14 Zur fränkischen Reichsritterschaft z. B.: Endres, Staat und Gesellschaft; Zur Reichsritterschaft in Schwaben: Spindler, S. 1004 – 1030. 15 Grundlegend zur wirtschaftlichen Situation des Adels: Endres, Die wirtschaftlichen Grundlagen; Kollmer. 16 Murk, S. 149. 17 Wrede, S. 389 f. 18 Asch, Europäischer Adel, S. 2. 19 Demel, Der europäische Adel, S. 44 f. 20 Demel, Der europäische Adel, S. 70 f. 12

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schaft durchaus frappierend. Fast 80 Prozent der Adelsgüter verblieben nicht mehr als 100 Jahre im Besitz einer Familie.21 Die bürgerliche Leistungsgesellschaft hatte längst Raum gegriffen. Ohne die wechselseitige Bedeutung von Adel und vormoderner Staatsbildung in Abrede zu stellen,22 kann konstatiert werden, dass an den bayerischen Lokalregierungen Bürgerliche im 18. Jahrhundert schon einen Anteil von über 27 Prozent besaßen; bei den Hofräten lag die Quote sogar bei fast 30 Prozent.23 Selbst im höchsten Kollegium, dem Geheimen Rat, sank der Anteil des alten Adels zwischen 1737 und 1777 von knapp 93 auf nur noch 83 Prozent.24 Überkommene adelige Werte hatten im Zeitalter der Aufklärung eine breite Delegitimierung erfahren und sinnfälligerweise hatten etliche Adelige die Aufklärung getragen, häufig sogar eine ihrer wesentlichen Implikationen: eine radikale Adelskritk.25 Verschärft wurde die Adelskrise durch die Zuspitzung inneradeliger Heterogenität. Sie war Ausfluss einer extensiven Nobilitierungspraxis, die zum Teil zu „inflationäre[n] Standeserhöhungen“ führte, „neue Hierarchien schuf sowie ältere Statusansprüche entwertete und andererseits Aufsteigern den Weg in den Adel überhaupt erst öffnete“. 26 Gerade der bayerische Kurfürst Karl Theodor machte von seiner Position als Reichsvikar weidlich Gebrauch. 1790 zeichnete er innerhalb von zehn Monaten für nicht weniger als 113 Verleihungen von Adelsprädikaten, 57 Freiherren- sowie 79 Grafentitel verantwortlich.27 Er nährte damit freilich nicht nur das inneradelige Konkurrenzdenken, sondern vergrößerte auch die sozioökonomischen Probleme des Adels. Beispielsweise lag die Hälfte des Grundbesitzes, den der neue bayerische Adel besaß, im Rentamt München und damit in einem landwirtschaftlich wenig günstigen Gebiet. Sein Besitztum war für gewöhnlich klein, und wenig rentabel.28 Es gab außerdem etliche Mitglieder des alten und des neuen Adels, die kein Land besaßen und als Kassiere, Protokollisten, Accesisten, Expeditoren oder Schreiber arbeiteten.29 Vor diesem Hintergrund besaß die Pfalz durchaus eine Sonderrolle – jedoch nicht, weil sie sich grundsätzlich von den anderen Adelsregionen des späteren Königreichs unterschied, sondern vor allem, weil sie nicht klar zuzuordnen war. Ihre Adelslandschaft sah sich ebenfalls durch ihre Instabilität gekennzeichnet, allerdings florierte sie im 18. Jahrhundert durchaus.30 Die von der Forschung für das Alte Reich immer wieder herausgestellten „starken Kontinuitätsbrüche“ in der pfälzischen Ge21

Zang, S. 39. Dazu prägnant etwa: Sikora, Der Adel, S. 29 ff. 23 Zang, S. 68. 24 Zang, S. 69. 25 Asch, Der Europäische Adel, S. 275 ff. 26 Asch, Staatsbildung, S. 393. 27 Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 30; Brunner, S. 22. 28 Zang, S. 53 u. 54. 29 Zang, S. 72. 30 Grundlegend: Stockert, Im höfischen Niemandsland. 22

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sellschaftsstruktur31 betrafen ihren Adel in besonderer Weise. Noch im 17. Jahrhundert konnte die Region infolge des Dreißigjährigen Krieges als adelsarme Region gelten, in welcher die zahlreichen sich im Verfall befindlichen Burgen die weitgehende Absenz des Adels buchstäblich vor Augen führten.32 Wichtige Zäsuren bedeuteten dann aber der Herrschaftsantritt der katholischen Pfalz-Neuburger Linie im Jahr 1685 und nicht zuletzt die Übersiedlung des kurpfälzischen Hofes und der Regierung nach Mannheim im Jahre 1720. Zumal die Fürsten mittels einer offensiven Adelspolitik ihren Machtanspruch in der Region zementieren und ihr Herrschaftsgebiet rekatholisieren wollten, entstanden in der Mannheimer Umgebung rechts wie links des Rheins zahlreiche neue Herrensitze.33 Alte Adelsfamilien verschwanden – Ende des 18. Jahrhunderts gab es im Niederadel mit den Freiherren von Hohenecken und den Schliederern von Lachen lediglich zwei Geschlechter im Pfälzer Raum, die bis ins Spätmittelalter zurückverfolgt werden konnten.34 Einige wenige, wie etwa die Kämmerer von Worms, genannt von Dalberg, konnten ihre alten Klientelverbindungen reaktivieren.35 Dafür traten etliche fremde Niederadelige oder Nobilitierte, insbesondere katholischer Konfession, auf den Plan und spielten als Angehörige des Hofstaates oder Mitglieder der Regierungskollegien eine nicht unbedeutende Rolle. Als Beispiel für übersiedelten landfremden katholischen Adel können etwa genannt werden: die Familie von Hillesheim, die ursprünglich ein niederrheinisches Freiherrengeschlecht repräsentierte und 1712 ob ihrer Dienste für die Kurfürsten der Pfalz in den Reichsgrafenstand erhoben wurde,36 die aus dem Trierer Raum stammende Familie von Hundheim, die das Amt des Obristküchenmeisters besetzte,37 und die oberpfälzischen Oberndorffs, deren freiherrliche Vertreter bis zum Minister und Statthalter der Kurpfalz aufstiegen38. Die prominentesten unter den vormals Bürgerlichen waren wohl die von Hackes, deren Wurzeln in Thüringen lagen, die nahezu das gesamte 18. Jahrhundert über das Amt des Obristjägermeisters am kurpfälzischen Hof inne hatten und u. a. für den Bau der katholischen Kirche in Trippstadt verantwortlich zeichneten,39 die aus Neuburg an der Donau stammende Familie von Wiser, deren Angehörige u. a. als Hofkanzler und Regierungspräsidenten fungierten und als Ortsherren eine gezielt auf Katholiken ausgerichtete Ansiedlungs- und Personalpo31

Z. B. Dotzauer, S. 25. Stockert, Im höfischen Niemandsland, S. 509 f. u. 512 f.; Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 36 f. 33 Stockert, Im höfischen Niemandsland, S. 513 ff.; Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 38 ff. 34 Stockert, Im höfischen Niemandsland, S. 508. 35 Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 74 ff. 36 Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 51 f. 37 Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 120 ff. Der Mannheimer Hof bestand aus sechs Stäben: Obristhofmeister, Obriststallmeister, Obristhofmarschall, Obristkämmerer, Obristjägermeister und Hofmusikintendant: Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 43 f. 38 Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 147 ff. 39 Zu den Freiherren von Hacke: Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 107 ff. 32

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litik betrieben,40 sowie die von Hallberg, die den Kanzler und Kammerpräsidenten stellen sollten und durch die Errichtung einer Kirche in ihrer Residenz Fußgönheim der Rekatholisierung wesentlichen Vorschub leisteten41. Überdies gingen einige Bande nach Zweibrücken, da der Kurfürst mit diesem kleinen Hof rege kooperierte. Hier sind z. B. Familienangehörige der von Hacke, von Gagern, von Fürstenwärther, von Wrede oder von Savigny nachgewiesen. Laut einer von Hans Ammerich zusammengestellten Liste lag das Adelsquantum in der Zweibrückener Zentralverwaltung zwischen 1719 und 1793 bei den Geheimen Räten bei über 70 Prozent (24 von 34); von diesen hatte 1/6 (4) nach 1775 die Adelswürde erhalten.42 Im Ganzen zeigten sich auf dem Boden der späteren Rheinpfalz im Jahre 1789 unterschiedliche Formen von Adelsherrschaft:43 Hier waren immerhin 18 Reichsstände begütert. Die größten Herrschaften waren die kurpfälzische mit einem Anteil von knapp 34,4 Prozent an der Gesamtfläche der heutigen Pfalz sowie die herzoglich-zweibrückensche mit etwa 11,5 Prozent. Weitere Reichsstände waren: Der Kaiser des Heiligen Römisches Reiches als Graf von Falkenstein, der Markgraf von Baden, der Landgraf von Hessen-Darmstadt, der Fürst von Nassau-Weilburg44, der Fürst von Leiningen-Hardenburg, der Wild- und Rheingraf zu Grumbach, der Graf von Wartenberg, der Fürst von Isenburg-Büdingen, der Graf von LeiningenHeidesheim, der Graf von Leiningen-Guntersblum sowie wegen schwäbischen Gutsbesitzes der Reichsritter Graf von der Leyen. Recht groß fiel der Anteil eigenständiger Herrschaften aus. Eine immediate Stellung besaßen Graf von Leiningen-Altleiningen, Graf von Neuleiningen, Graf von Hillesheim45, Graf Eckbrecht von Dürckheim, Graf von Wiser, Freiherr Schenk von Waldenburg, Freiherr von Hallberg46, Freiherr von Dalberg, Freiherr von Warmbrunn, Freiherr von Kerpen, Freiherr von Fürstenwärther, Freiherr von Reigersberg sowie Freiherr von Wambold. Und auch der landsässige Adel war von Bedeutung. Hierunter firmierten allein auf der Herrschaftskarte knapp 20 Adelsfamilien, darunter einfache Adelige wie von Vopelius, von Kellenbach oder von Cathcart, freilich auch auswärtige Reichsstände wie der Graf von Löwenstein-Wertheim, der Graf von Sayn-Wittgenstein oder Fürst von

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Zu den Grafen von Wiser: Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 98 ff. Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 48 u. 91 ff. 42 Ammerich, S. 211 ff. 43 Die folgenden Angaben korrelieren die einschlägige Herrschaftskarte mit den Listen der Reichsstände, Reichsritterschaft und Nationalgüterversteigerungen: Böhn; http://www.uni-hei delberg.de/institute/fak2/mussgnug/altehtml/folie_22.html#35 - 36; Schieder; Martin; Fabricius. 44 Zum Verhältnis der Fürsten von Nassau-Weilburg zum kurpfälzischen Hof und seinem Herrschaftssitz in Kirchheimbolanden: Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 60 ff. 45 Zu seiner Herrschaft Hohenfeld-Reipoltskirchen in der Westpfalz: Keiper. 46 Zu seiner Herrschaft in Fußgönheim z. B.: Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 93 ff. 41

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Isenburg-Büdingen.47 Ausschließlich im Hofdienst dürften des Weiteren einige Dutzend Adelige gestanden haben. Die Inhomogenität der pfälzischen Adelslandschaft nahm sich in jedem Fall beachtlich aus – weniger, weil der Anteil des nicht hauptsächlich in der Pfalz beheimateten Adels beträchtlich war, sondern vielmehr wegen des inneradeligen Konkurrenzdenkens: Reichsfürsten und -grafen betrachteten die Vertreter des Neuadels despektierlich als gens parvenues, während gleichzeitig die frühen Aufsteiger des 18. Jahrhunderts wie die von Wiser, von Hallberg oder von Hacke ihrerseits den am Vorabend der Französischen Revolution Nobilitierten mit großen Ressentiments begegneten.48 Zugleich war der Zusammenhang von Adel und Aufklärung evident, was sich in Unterstützung für die Akademie der Wissenschaften und das Verlagswesen,49 zudem – wie Winfried Dotzauer aufgezeigt hat – im Logenwesen manifestierte50. Bekannt ist, dass Illuminaten wie Seinsheim und Montgelas in Zweibrücken Zuflucht fanden. Einige fürstliche Hofräte attackierten die Adelsherrschaft und Gräfin Forbach, morganatische Gattin Herzog Christians IV. von Pfalz-Zweibrücken, machte angeblich sogar Benjamin Franklin einen mit Freiheitsmütze verzierten Spazierstock zum Geschenk.51 Die wirtschaftlichen Sorgen der pfälzischen Adeligen waren nicht von der Hand zu weisen: Selbst die Besitzstände der regierenden Territorialherren bildeten oftmals ein verhältnismäßig kleines und nicht geschlossenes Herrschaftsgebiet. Die im Dorf Mettenheim residierende Grafschaft Wartenberg beispielsweise umfasste ein Herrschaftsgebiet von gerade einmal knapp 74 Quadratkilometern, auf dem ca. 2.700 Menschen lebten.52 Adelige Gutsbesitzer litten unter rückständigen Techniken und übersteigertem Repräsentationsbewusstsein. Selbst regierende Häuser hatten mit Überschuldungen und großen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen.53 Obschon Adelshäuser auch Reformen anstießen, etwa für ihre Beamten Leistungs- und Qualifikationsanforderungen einführten oder eine physiokra47 Zum landsässigen Adel gehörten: Freiherr von Oberndorff, Graf von Löwenstein-Wertheim Graf von Sayn-Wittgenstein, Fürst von Isenburg-Büdingen, Graf von DegenfeldSchomburg, Freiherr von Reibelt, Freiherr von Hundheim, Freiherr von Hacke, Freiherr von Greiffenclau, Freiherr von Vogt, von Hunolstein, von Vopelius, von Kellenbach, Freiherr von Schorrenberg, von Cathcart, Merz von Quirnheim, Freiherr von Gemmingen-Homberg, Freiherr Schenk von Waldenburg; Mitglieder der Reichsritterschaft, Kanton Niederrhein, soweit sie 1789 dort begütert waren: Graf von der Leyen, Graf von Degenfeld, Graf Vogt von Hunolstein, Graf Eckbrecht von Dürckheim, Graf von Hillesheim, Freiherr von Dalberg, Freiherr von Kerpen, Freiherr von Hacke, Greifenclau: Fabricius, S. 513 f.; Mitglieder, Güterbesitzer und Untertanen des reichsritterschaftlichen Kantons am Niederrhein, nach der Rechnung für das Jahr 1790 waren: Cathcart, Dalberg, Hacke, Hillesheim, Hundheim, Hunolstein, Dürckheim, Kerpen, Leyen, Degenfeld. 48 Stockert, Im höfischen Niemandsland, S. 524 f; Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 167. 49 Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 168. 50 Dotzauer, S. 26 f. 51 Baumann, Die Pfalz und die Französische Revolution, S. 183. 52 Zur Grafschaft Wartenberg zuletzt: Heinz, S. 194 ff. 53 Kell, S. 29 ff.

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tische Agrar- und Peuplierungspolitik betrieben nebst Neulanderschließung, Einführung neuer Anbauprodukte und Intensivierung der Bodenbewirtschaftung,54 gestaltete sich ihre Lage schwierig. Der Familie von der Leyen beispielsweise drohte – vor allem in Folge der zeittypischen Bau- und Prunklust55 – der Bankrott.56 II. Adel und Recht Kein Bereich der Adelsgeschichte der Moderne scheint die Differenz von linksund rechtsrheinischem Bayern derart klar zu bezeugen wie die Rechtsdimension: Die Adelsgeschichte des modernen Bayern stand im Zeichen von Verlust und Privilegienabbau – freilich sollte sich dieser über mehr als 100 Jahre erstrecken und nur bedingt stringent verlaufen. Die durchaus einschneidende Neuordnung des bayerischen Adelsrechts setzte 1806 mit der Deklaration über die der königlichen Souveränität unterworfene Ritterschaft ein. Als oberste Maxime galt dabei die Festschreibung staatlicher Kontrolle; es war nur mehr der Staat, der Privilegien vergab. Fortan waren die ehemalige Reichsritterschaft und die vormaligen Patrizier der Reichsstädte dem landsässigen Adel völlig gleichgestellt, alle aus der Reichsunmittelbarkeit resultierenden Rechte wurden als obsolet betrachtet, ritterschaftliche Korporationen bestanden nicht länger.57 Seit 1807 war es dem mediatisierten Adel verboten, Titel und Würden zu führen, „welche ein vormaliges Verhältnis zu dem Deutschen Reiche ausdrücken oder welche sie als Regenten des Landes bezeichnen“58. Die Führung des Titels „von Gottes Gnaden“ wurde untersagt. Die Konstitution von 1808 verneinte ein Monopol des Adels auf hohe Staatsämter. Mit dem „Organischen Edikt“ vom 31. August 1808 wurde die Leibeigenschaft endgültig abgeschafft, alle Formen eines guts- oder lehensrechtlichen Besitzstandrechts sollten getilgt werden. Ob der Einführung einer bayerischen Adelsmatrikel, in die außer der königlichen Familie sämtliche Adelige, auch die Standesherren, einzutragen waren, bedeutete Adel nicht mehr als eine königliche Konzession. Sie wurde durch seine Beamten lediglich dann gewährt, wenn innerhalb von sechs Monaten beim Reichsheroldenamt, einer eigens geschaffenen Abteilung des Außenministeriums, ein entsprechender Abstammung- und Besitzstandnachweis erbracht werden konnte. Durch das „Edikt über den Adel im Königreiche Baiern“ vom 28. Juli 1808 wurden alle bestehenden Fideikommisse und älteren Familienverträge suspendiert, die Bildung von Majoraten war weiterhin möglich, jedoch an eine hohe Ertragsrente gekoppelt. Die Edelmannsfreiheit, also u. a. die niedere Gerichtsbarkeit in den Hofmarken, wurde endgültig aufgehoben, die Siegelmäßigkeit beschränkt. Besonders hart traf den Adel die Suspension 54

Kell, S. 303 f; Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 34. In früheren Zeiten hatte sich der Herrschaftsanspruch des Adels in Burgen manifestiert. Nunmehr galten prunkvolle Herrensitze und Schlösser ebenso als modern wie feudale Stadtpalais. Hierzu z. B. Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 30 ff. 56 Heinz, Der Reichsdeputationshauptschluss, S. 230. 57 Z. B. Brunner, S. 31. 58 Zit. nach Nusser, S. 310. 55

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der steuerlichen Vorteile. Konkurrenz erhielt der Geburtsadel überdies durch die Gründung des Zivildienstordens der bayerischen Krone sowie des Militär-Max-Josephs-Ordens, die mit der Verleihung eines persönlichen Adels und dem Titel „Ritter“ verbunden waren.59 So restriktiv die unter Montgelas betriebene Adelspolitik anmutete, so augenfällig bedeuteten die Verfassung von 1818 samt dem ihr beigefügten Adelsedikt dann eine teilweise Renovierung adeliger Privilegien.60 Sie garantierten beispielsweise die gutsherrlichen Rechte ausdrücklich. Die Verfassung teilte den bayerischen Adel formal in fünf Adelsklassen ein: Fürsten, Grafen, Freiherren, Ritter (zu einem geringen Teil erblich, im Regelfall durch Verdienstorden) und einfache „von“. Es wurden fünf besondere und zwei ausschließliche Privilegien des Adels benannt: Genauso wie Geistliche besaßen Adelige „in bürgerlichen und strafrechtlichen Fällen“ einen bevorzugten Gerichtsstand. In Entsprechung zur höheren Beamtenschaft kamen ihnen das Kadettenprivileg und wieder die vollständige Siegelmäßigkeit zu. „Ausschließend“ hatte der Adel „das Recht, eine gutsherrliche Gerichtsbarkeit ausüben“ zu können – ein Privileg, das 1809 in Württemberg und 1813 in Baden abgeschafft worden war, 61 jedoch zumindest etwas dadurch relativiert wurde, dass der Staat Vorgaben für die juristische Vorbildung der Patrimonialrichter machte. Der Adel durfte wieder Familienfideikommisse errichten – auch auf kleinere Vermögen.62 Gemäß den Vorgaben der Wiener Schlussakte erfuhren die Standesherren besondere Würdigung. Sie wurden von Personal- und wohnortgebunden Haussteuern befreit, während sie zugleich die Einkünfte aus der belassenen Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt zugesprochen bekamen. Ihnen wurde das Kirchen- und Schulpatronat gewährt, sie waren von der Militärpflicht befreit, im Todesfall stand ihnen Kirchengebet und offizielle „Landestrauer“ zu. Nicht zuletzt galten sie als ebenbürtig mit den Mitgliedern des königlichen Hauses, d. h. entsprechende Heiratsverbindungen wurden als standesgemäß angesehen. Markant nahm sich zudem der adelige Einfluss im neu geschaffenen Zwei-Kammer-System aus, dem als „Volksvertretung“ wesentliche Mitwirkung an der Gesetzgebung, ein Petitions- und Beschwerderecht sowie vor allem das Steuerbewilligungsrecht zugebilligt wurde: In der Kammer der Reichsräte waren neben den volljährigen Prinzen des Königlichen Hauses, den Kronbeamten, den Erzbischöfen von München-Freising und Bamberg, einem vom König ernannten Bischof und dem jeweiligen Präsidenten des protestantischen Generalkonsistoriums alle Standesherren sowie diejenigen Personen versammelt, „welche der König entweder wegen ausgezeichneter dem Staate geleisteter Dienste, oder wegen ihrer Geburt, oder ihres Vermögens zu 59

Zorn, S. 854. Allgemein zu den adelsbezogenen Reorganisationsbemühungen von Montgelas: Drechsel, Über Entwürfe, S. 16 ff. 61 So unterstanden 1817 noch immerhin fast 16 Prozent der rechtsrheinischen Bevölkerung einem Patrimonialgericht: Wüst, S. 45. 62 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1818, Titel V, § 4, zit. nach http://www.documentarchiv.de/nzjh/verfbayern.html. 60

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Mitgliedern dieser Kammer entweder erblich oder lebenslänglich“ ernannte. Zu erblichen Reichsräten konnten nur adelige Gutsbesitzer werden, die auf ihr lehnsmäßig oder fideikommisarisch gebundenes Vermögen mindestens 300 Gulden an Grundund Hausteuern zu zahlen hatten. Über die Zusammensetzung der zweiten Parlamentskammer entschied die Wahl bestimmter Gesellschaftsklassen, wobei jede Klasse ihre eigenen Abgeordneten entsandte und die Klasse der adeligen Gutsbesitzer ein Achtel der Sitze für sich beanspruchen konnte.63 Der Adel, der 1833 knapp 9.100 Personen, d. h. rund 0,3 Prozent der bayerischen Bevölkerung, umfasste, war folglich eklatant überrepräsentiert.64 Allerdings ist es voreilig, für die Zeit des Vormärz von einer substantiellen adeligen Restauration zu sprechen. Erstens schritt der Abbau adeliger Privilegien gegen Entschädigung langsam, aber stetig, voran. Mitte der 1820er Jahre gestattete die Regierung die Fixierung, Geldumrechnung und Ablösung (zum 25-fachen Jahresbetrag) der grundherrlichen Gefälle und Frondienste. Seit 1831 gestand sie Adeligen eine Entschädigung zu, wenn diese auf die Patrimonialgerichtsbarkeit verzichteten. So gab es 1848 schon vor Ausbruch der Revolution in Relation zu den 1820er Jahren ein Drittel weniger Herrschaftsgerichte, mehr als die Hälfte weniger Patrimonialgerichte erster Klasse, mithin für mindestens 300 Familien vor Ort zuständig, sowie ein Viertel weniger Patrimonialgerichte zweiter Klasse.65 Zweitens scheiterten alle weitergehenden Bemühungen der ständischen Reorganisation. In Franken misslingt beispielsweise, was die Althessische Ritterschaft 1835 und der Altadel der Rheinprovinz 1837 erfolgreich unternommen hatten: der Versuch, eine Adelskorporation ins Leben zu rufen.66 Obschon bereits ein geschäftsführendes Komitee bestand und klare programmatische Maximen existierten (u. a. Austausch über landwirtschaftliche Fragen, Gründung einer Unterstützungsanstalt für adelige Söhne, politische Werbearbeit im Hinblick auf „richtige[r] Ansichten über den Adel“ sowie „die vaterländische Gesetzgebung“), lehnte der König die Gründung ab. Er sah die monarchische Prärogative gefährdet.67 Die Revolution von 1848/49 schrieb die adelige Verlustgeschichte dann wesentlich fort: Durch die Gesetze vom 4. Juni 1848, später ergänzt durch ein Jagd- Weideund Forstgesetz, wurden die grundherrlichen Herrschaftsrechte aufgehoben. Es kamen in Fortfall: Die Naturalscharwerke, der Zehnt, die Mortuarien, die Relikte der an der Person haftenden Abgaben und vor allem die standes- und grundherrliche Gerichtsbarkeit68. Die Weiderechte auf fremdem Gut und Boden wurden aufgeho63 Verfassungsurkunde für das Königreich Bayern vom 26. Mai 1818, Titel VI, § 1 – 3, 7 – 9, zit. nach http://www.documentarchiv.de/nzjh/verfbayern.html. 64 Götschmann, S. 44 ff. 65 Demel, Die wirtschaftliche Lage, S. 253. 66 Drechsel, Über Entwürfe, S. 21 ff. 67 Drechsel, Über Entwürfe, S. 28 ff. 68 Eine Ausnahme bildete lediglich die Familie Thurn und Taxis. Die Gerichtsbarkeit über ihr Personal blieb erhalten, weil sie angeblich nicht gutsherrlicher Art war: Hofmann, S. 497.

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ben. Die Polizeigewalt ging überall auf den Staat über. Während an der Kammer der Reichsräte prinzipiell nichts geändert wurde, sollte die Zusammensetzung der zweiten Parlamentskammer fortan durch alle über 25-jährigen steuerzahlenden Bürger bestimmt werden. Sicherlich erschienen die Beharrungskräfte des Adels zumindest partiell frappierend: Im Gegensatz zu Preußen blieb – als ausschließliches Recht des Adels – der Fideikommiss.69 Privilegiert waren außerdem weiterhin die Standesherren.70 Gleichwohl konnte die Demontage adeliger Vorrechte als wesentliche Errungenschaft von 1848 nicht durch die restaurativen Tendenzen der Nachrevolutionszeit revidiert werden. Vielmehr schritt der Privilegienverlust weiter voran: Die Siegelmäßigkeit wurde mit dem Gesetz gegen die Freiheit von Tax- und Stempelgebühren (1852), dem Notariatsgesetz von 1861 und schließlich der Zivilprozessordnung von 1869 schrittweise abgeschafft. Das Wehrgesetz von 1868 beseitigte das Vorrecht der Söhne des Adels und der höheren Beamten, als Kadetten in die Armee einzutreten. Während in Preußen die ständisch gegliederten Provinziallandtage, zudem die den Großgrundbesitz bevorteilenden Landgemeindeordnungen reinstalliert wurden und vor allem anstelle der auf Vermögen gründenden Ersten Kammer ein ausschließlich ständisch zusammengesetztes Herrenhaus ins Leben trat,71 scheiterte in Bayern 1854 der Versuch, „das konservative Element in der Volksvertretung zu vergrößern“ und die zweite Kammer wieder ständisch zu gliedern72. 1899 traf der Privilegienabbau dann auch die Standesherren: Gegen Entschädigung wurden nunmehr zwangsweise die zugestandenen Befreiungen von Personalsteuern, Umlagen, Weggeldern und Verbrauchssteuern abgelöst. Dass ihren Nachgeborenen noch 1911 der bayerische Staat die Führung des Prinzentitels, der eigentlich für die königliche Familie vorgesehen war, zugestand, konnte über die weitgehende Auflösung ihrer Sonderstellung am Ende des 19. Jahrhunderts kaum hinwegtäuschen. In der Pfalz geschah letzthin das gleiche wie im rechtsrheinischen Bayern – nur wegen der Zugehörigkeit zu Frankreich deutlich früher und in wesentlich kürzerer Zeit. Die bayerischen Signata der modernen adeligen Rechtgeschichte – Verlust, Restaurationstendenzen wegen staatlicher Konzessionsangebote und verzweifelte, letzthin zum Scheitern verurteilte Versuche der Beharrung – waren auch hier kennzeichnend. Mit Anschluss der linksrheinischen Pfalz an das revolutionäre Frankreich nach dem Frieden von Campo-Formio begann „die feudale Privilegiengesellschaft“73 in Fortfall zu geraten. Die droit féodoux, d. h. sämtliche feudalrechtliche Bestimmungen, wurden mit Erlass vom 26. März 1798 prinzipiell entschädigungslos aufgehoben; es sollte fortan die Freiheit der Person und des Eigentums obwalten. Leibeigen69 So existierten am Vorabend des Ersten Weltkrieges in Preußen 1.311, in Bayern 202 Fideikommisse, wobei die Hälfte von letzteren bereits vor 1818 bestand: Wienfort, S. 407 f. 70 Brunner, S. 149 ff. 71 Reif, S. 46. 72 Drechsel, Über Entwürfe, S. 40; Brunner, S. 50. 73 Fehrenbach, S. 61.

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schaftliche Abgaben, die Patrimonialgerichtsbarkeit, die Zwangs-, Bann- und Jagdrechte, die Fronen und Zehnten wurden abgeschafft – allerdings konnten letztere bald als Grunddienstbarkeiten interpretiert werden und waren dann abzulösen.74 Die 1807 im Code Civil kodifizierte Rechtsgleichheit vor dem Gesetz ließ den Adel seines privilegierten Gerichtsstandes verlustig gehen, also u. a. des Vorrechts, nur von den höheren Gerichten belangt werden zu können. Das Institut des Fideikommisses erlosch, alles Eigentum sollte teilbar sein, was mit der vormaligen rheinischen Agrarverfassung, welche die Güterteilbarkeit im Erbrecht schon seit langem kannte, konform ging. Indes wurde das Gleichheitsprinzip bei den Erbrechtsbestimmungen durch die Einführung des Majoratsrechts in den Code Civil relativiert. Auch das französische Recht ging ein Stück weit auf den Adel zu. Massiven Attacken sah sich dessen ungeachtet der mit Beginn der französischen Herrschaft konfiszierte Besitzstand des Adels ausgesetzt. Das Eigentum von Kirchen und reichständischer Adeliger wurde grundsätzlich in Nationalgut überführt, also verstaatlicht, und sollte verkauft bzw. versteigert werden. Mit dem Frieden von Lunéville gingen die Güter der katholischen Kirche und der Reichsstände formal in den Besitz des französischen Staates über. Gemäß dem Reichsdeputationshauptschluss vom 25. Februar 1803 sollte der vormals linksrheinisch regierende Adel durch säkularisierte rechtsrheinische Territorien entschädigt werden. In realiter wurde aber wegen der begrenzten Entschädigungsmasse lediglich ein Teil voll entschädigt, manche erhielten lediglich Rentenansprüche zuerkannt, andere bekamen keinerlei Kompensation. Das neue Fürstentum Leiningen beispielsweise übertraf das alte an Bodenfläche und Einkünften erheblich.75 Philipp Franz von der Leyen, ehedem Herrscher über 70 Ortschaften mit insgesamt 440 Quadratkilometer Land und ca. 23.000 Einwohnern, ging demgegenüber leer aus.76 Die Grafen von Sickingen erhielten für immerhin 193 Quadratkilometern mit 6.400 Bewohnern nur eine minimale Entschädigung.77 Franz von Sickingen-Sickingen, der in den 1780er Jahren zahlreiche Besitzungen im Pfälzer Raum erworben hatte, wurde in den Ruin getrieben. Zuletzt mietete er sich als kinderloser Junggeselle völlig verarmt in Wiesbaden im Haus eines Bäckers ein.78 Dem niederen Adel wurde nach dem Frieden von Lunéville grundsätzlich die Rückgabe seiner beschlagnahmten Güter – selbstredend ohne Feudalrechte – in Aussicht gestellt. Freilich war diese an die Bedingung geknüpft, entweder französische Staatsbürger zu werden oder die Güter innerhalb einer bestimmten Frist zu veräußern. Nur „wenige Einwohner haben [sodann] von dem ohnehin nur im Titel bestehenden Vor-

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Fehrenbach, S. 63; Allgemein: Dipper, Die Bauernbefreiung, S. 50 ff. Die Mediatisierung, mithin der Anschluss an das Großherzogtum Baden im Jahre 1806, kostete es freilich wieder eine Fläche von über 60.000 Morgen Land: Kell, S. 193; Wild, S. 9 ff. 76 Heinz, S. 228 ff. 77 Heinz, S. 212. 78 Stockert, Viele adeliche Häuser, S. 90. 75

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rechte des neuen französischen Adels Gebrauch gemacht oder Majorate nach damaligen Gesetzen gestiftet“.79 Nach Zusammenbruch des Napoleonischen Herrschaftssystems wurde die Sequestration im Jahre 1814 endgültig aufgehoben. Über die noch nicht verkauften bzw. als Nationalgüter versteigerten Ländereien konnten die vormaligen Besitzer nun wieder verfügen. Das Hoffen auf eine grundlegende Restauration nach der Franzosenzeit war allerdings vergebens: Nachdem die Pfalz 1816 an das Königreich Bayern gefallen war, bestätigte der König aus formaljuristischen Gründen (es existierte schlechterdings noch keine bayerische Verfassung) und vor allem aus strategisch-integrativem Impetus ausdrücklich die Besitzverhältnisse, die Abschaffung der Adelsvorrechte und den Fortbestand des „Code Napoleon“. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hat es zum Teil vehemente Versuche von ehemals oder immer noch in der Pfalz ansässigen Adeligen gegeben, Privilegien zu restituieren. Die Hohenberger Linie der Grafen Sickingen kämpfte jahrzehntelang um Restitutionen und erhielt immerhin einige Waldparzellen vom bayerischen Staat zurück.80 Die Fürsten von der Leyen führten langwierige Prozesse und klagten besonders wegen des Verlustes der St. Ingberter Kohlengruben,81 Carl von Gagern wollte den Zehnten wieder eintreiben dürfen82. Die verschiedenen Bemühungen „der benachbarten Adeligen und selbst einiger dieses Landes, daß man baierischerseits der Kirche die Zehnten, dem Adel Fronden, Jagden und Feudalrechte in der Folge restituiren würde“,83 scheiterten aber grundsätzlich alle spätestens vor Gericht. So fielen wohl einige ehemals in der Pfalz begüterte Adelige der Armut anheim. Als z. B. 1820 der bayerische General von Roussilon in Mannheim starb, musste offenbar die Beerdigung verschoben werden, weil das zweite Hemd des Verstorbenen, mit dem die Leiche bekleidet werden sollte, bei der Wäscherin war. Die Witwe des Cathcart von Carbiston musste sich als Dienstmagd verdingen. 1852 brachen zwei Mitglieder der Familie Metz von Qurirnheim aus Verzweiflung in ihr ehemaliges Schloss ein.84 Charakteristisch für die Pfalz blieben „adelige Gutsbesitzer ohne weitere Vorrechte […], adelige Beamte, die sich von bürgerlichen Beamten in nichts unterscheiden, adelige Familien, deren Rechtsverhältnisse keine Eigenheiten darbieten […]“.85 Allerdings sollten immerhin auch adelige Pfälzer im bayerischen Reichsrat vertreten sein, obschon es im Rheinkreis weder Standesherren noch adelige Gutsbesitzer mit Gerichtsbarkeit gab. Durch königliche Ernennung auf Lebenszeit gelangten zehn Pfälzer, darunter acht mit Adelstitel in die erste bayerische Kammer: Dies 79 Allgemeines Organisationsgutachten Zwackhs, 30. Januar 1816, zit. nach Haan, Hauptstaat, Nr. 18. 80 Heinz, S. 227. 81 Heinz, S. 252. 82 Baumann, Adel und Bürgertum, S. 210. 83 Zwackh an Montgelas, 17. April 1916, zit. nach Haan, Hauptstaat, Nr. 38. 84 Baumann, Adel und Bürgertum, S. 211. 85 Allgemeines Organisationsgutachten [1815/16], zit. nach Haan, Hauptstaat, Nr. 8.

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waren drei Juristen, der Generalprokurator Ludwig Christian Ritter von Koch und die Präsidenten des Oberlandesgerichts, Ludwig Ritter von Zöller und Heinrich Ritter von Hessert, vier Weingutsbesitzer (Armand Buhl, Eugen Ritter von Buhl, August Ritter von Clemm, Franz Buhl) sowie die Industriellen Ferdinand Ritter von Böcking, Gustav von Krämer und – als erster Pfälzer überhaupt – Ludwig von Gienanth.86 Letzterer war bis 1917 zudem der einzige Pfälzer, der auch die Erhebung in den erheblichen Freiherrenstand erhielt. III. Adel und Besitz Zweifelsohne: Auch in wirtschaftlicher Hinsicht prägte der Verlust die Geschichte des bayerischen Adels rechts des Rheins. In Relation etwa zu den ostelbischen Standesgenossen schien seine ökonomische Macht sehr begrenzt: Das Quantum an Gutsbesitzern, die über 100 Hektar Land verfügten, machte im 19. Jahrhundert nie mehr als ein Prozent der bayerischen Güter aus; die durchschnittliche Betriebsgröße betrug 4 1/2 Hektar. Demgegenüber entfielen in Preußen 1851 fast 4/10 der Bodenfläche auf 12.000 Rittergüter mit einer mittleren Betriebsgröße von 531 Hektar. Sinnfälligerweise befanden sich 1925 in Bayern lediglich 3 Prozent der Landfläche in adeliger Hand, während der Gesamtschnitt für Deutschland bei 13 Prozent lag.87 An Einkünften erzielten die bayerischen Adeligen aus Grund- und Herrschaftsvermögen im Mittel höchstens 500 Gulden, was unter dem mittleren Einkommen im Königreich lag.88 In der zeitlichen Entwicklung erscheint der Potenzverlust umso eindrucksvoller. Es nimmt beispielsweise nicht wunder, dass 1848 vornehmlich in Franken „eine heftige Animosität gegen den Adel“ zu konstatieren war, die sich in der Zerstörung von Schlössern, Herrschaftsakten, Steuerregistern und Zinsbüchern entlud.89 Denn es gab hier traditionsgemäß die kleinsten und unrentabelsten Güter, die Bereitschaft zu Innovationen war am geringsten ausgeprägt und die Besitzer wurden aus wirtschaftlichem Druck umso unnachgiebiger je fordernder ihre Grundholden wurden. Die bis zur Revolution verbliebene Patrimonialgerichtsbarkeit verschärfte mitunter sogar die Situation, da sie bisweilen höhere Kosten als Einnahmen produzierte.90 Nach 1848 waren die Härten der Grundentlastung nicht von der Hand zu weisen. Die Wertverluste nach Ablösung lagen in Bayern bei 10 – 20 Prozent und damit deutlich höher als etwa in Hannover (0 Prozent), etwas höher als in Baden (5 – 15 Prozent), freilich auch ungleich niedriger als in Württemberg (47 – 48 Prozent). Die Trennung von 86

Drechsel, Die Reichsräte, S. 19 ff. Zu Ludwig von Gienanth und seiner Familie existiert eine umfangreiche Literatur. Exemplarisch seien genannt: Wedemeyer; Weidmann, S. 514 ff.; Ziegler, S. 51 ff. 87 Reif, S. 95. 88 Demel, Die wirtschaftliche Lage, S. 255. 89 Drechsel, Über Entwürfe, S. 39 f. 90 Brunner, S. 35 ff.

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Adel, zumal von altem Adel, und Grundbesitz schritt in der Folge stetig voran. Bereits 1834 ernährte sich nur mehr etwa ein Fünftel der Adelsfamilien vom Grundbesitz; gut die Hälfte davon, 332 Familien, lebte ausschließlich von Dominikalien; über 50 Prozent des Adels wirkten als Beamte oder Militärs. 402 Adelsfamilien waren ohne allen Besitz und gehörten wohl teilweise freien Berufen an.91 1852 lebten dann sogar 110.084 Adelige von irgendeiner Art der öffentlichen Anstellung; 2.704 ausschließlich von Renten.92 In Oberbayern gab es in den 1850er Jahren außer den erblichen Reichsräten lediglich noch acht Fideikommissbesitzer. Unter den wohlhabendsten Grundherren konnten neben 13 altbayerischen Uradelsfamilien schon neun neugeadelte Bankiersund Unternehmerfamilien gezählt werden.93 Es war „mit ziemlicher Bestimmtheit anzunehmen, daß weit über die Hälfte der adeligen Familien entweder gar nicht oder doch nur mit ganz unbedeutendem Grundbesitze angesessen“ waren.94 Die gleichmäßige Erbverteilung brachte eine Zerstückelung des freien Besitzes und wegen mangelhafter Rentabilität immer wieder seinen Verkauf. Besonders schwer war es für diejenigen, die sich weigerten nach zeitgemäßen Grundsätzen zu wirtschaften.95 So wurden verstärkt Nebenlinien ohne Grundbesitz geschaffen; der landferne, grundbesitzlose Adel wuchs; „ein namhafter Theil derselben muß[te] geradezu als arm bezeichnet werden“,96 das Adelsproletariat vergrößerte sich. Selbst Großgrundbesitzer konnten in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Ein Beispiel bietet Peter Carl Freiherr von Aretin, der in Niederbayern knapp 1.500 Hektar Land nebst zwei Brauhäusern und einer Mühle besaß.97 Seine Vermögenslage gestaltete sich zu Beginn der 1880er-Jahre überaus schwierig, die Erträge waren deutlich im Fallen begriffen, der Schuldenstand wuchs. Es schien offenkundig, dass Carl Aretin „kein Geld hat und in den letzten Jahren sogar vom Kapital gezehrt hat“.98 Die Söhne führten in Anbetracht dieser Situation heftigste Klage und forderten eine rationalere Wirtschaftsführung: „Die ganze Kunst einer guten Wirtschaft liegt darin, in Allem und Jedem nur seinen Vortheil im Auge zu haben, und das geschieht bei uns leider nicht. Er [Peter Carl] war […] und ist es heute noch der edel denkende, milde Gutsherr, der Leuten Glauben schenkt. Daß geht heute nicht mehr […]“.99

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Krauss, Herrschaftspraxis, S. 142. Krauss, Herrschaftspraxis, S. 142 f. 93 Brunner, S. 46; http://www.adel-in-bayern.de/index.php?nID=74. 94 Gustav von Lerchenfeld, 1854, zit. nach Krauss, Adeliges Landleben, S. 64. 95 Brunner, S. 43 ff. 96 Gustav von Lerchenfeld, 1854, zit. nach Krauss, Adeliges Landleben, S. 64. 97 Martin, Jahrbuch des Vermögens, S. 89; Handbuch, 1907, S. 195 f. und 211. 98 Ein Sohn von Peter Carl von Aretin an Maximilian von Soden, 23. April 1883, in: Verlobungsanzeige, 31. Mai 1869, in: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (im Folgenden: BayHstaM), Familienarchiv (im Folgenden: FA) Aretin, Carl 49/34. 99 Ein Sohn von Peter Carl von Aretin an Maximilian von Soden, 23. April 1883, in: Verlobungsanzeige, 31. Mai 1869, in: BayHstaM, FA Aretin, Carl 49/34. 92

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Allerdings: Trotz allem war der bayerische Adel auch überaus erfolgreich im „Kampf ums Obenbleiben“. Seine Beharrungskräfte sind ebenso herauszustellen wie die frappierende Interdependenz, die zwischen dem Potenzverlust der einen und dem Zugewinn anderer Adeliger bestand. Etlichen Gutsbesitzern gelang es u. a. durch Offenheit gegenüber modernen Produktionsmethoden und vor allem auf Kosten ihrer Standesgenossen ihr Eigentum zügig, im Falle der meisten Standesherren sogar eklatant auszubauen und sich außerdem durch die Verpachtung zahlreicher Bauerngüter zu konsolidieren.100 So gab es 1825 in Bayern nur sechs Güter über 1.000 ha und 22 Güter über 650 ha; das größte Gut besaß 1.800 ha. 1925 erreichte das größte bayerische Gut 6171 ha, und in der Hand adeliger Besitzer zählte man 93 Güter über 650 ha (Durchschnitt: 1.530 ha); 59 davon erreichten Größen über 1.000 ha (Durchschnitt 1.960 ha) Grundfläche.101 Als Beispiel für eine gelungene finanzielle Konsolidierung kann Karl Heinrich Ernst Fürst zu Löwenstein-Wertheim genannt werden: Die Löwensteins gehörten traditionell zu den größten Waldbesitzern Süddeutschlands. 1840 umfasste das vornehmlich im Spessart situierte Waldareal insgesamt 12.028 Hektar.102 Nach der Mediatisierung gestaltete sich die Finanzlage der Familie nicht einfach. Der Anteil des Schuldendienstes an den Gesamteinnahmen belief sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf im Mittel 90 Prozent; 1848 betrug der Schuldenstand ca. 2,7 Mio. Gulden. Eine Entlastung brachten erst die Ablösegelder aus der Grundentlastung. Kommerziell erfolgreich waren die Löwensteins aber vor allem deshalb, weil sie eine intensivierte Waldwirtschaft betrieben, die den Forstbestand ausschließlich unter ökonomischen Aspekten auszubeuten suchte und die Wälder durchaus skrupellos übernutzte,103 und weil sie sich offen zeigten für Innovationen bei neuen Produkten und Anbaumethoden (Seidenraupenzucht). Bis Ende des 19. Jahrhunderts stieg der Grundbesitz der Fürsten in der Folge auf insgesamt 27.384 Hektar.104 Die Rosenberger Linie der Löwensteins avancierte zu den wohlhabenden Häusern unter den Standesherren Süddeutschlands; 1914 konnte Löwensteins Sohn ein Vermögen von neun und ein Jahreseinkommen von 0,4 Mio. Mark attestiert werden.105 Und auch jenseits der Standesherren war die wirtschaftliche Macht des bayerischen Adels im Laufe des 19. Jahrhunderts gewachsen: 1914 gab es in Bayern immerhin 18 Personen mit einem Vermögen über 20 Millionen Mark, davon waren 13 (72 Prozent) adelig. 48 Personen besaßen zwischen 10 und 20 Millionen, darunter 32 (67 Prozent) Adelige. Den größten Anteil unter den bayerischen Millionären stellten altansässige Niederadelige, deren Fortschrittsaffinität teilweise ins Auge

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Reif, S. 11. Reif, S. 71 f. 102 Stockert, Adel im Übergang, S. 212. 103 Stockert, Adel im Übergang, S. 212. 104 Stockert, Adel im Übergang, S. 215 f. 105 Martin, Jahrbuch des Vermögens, S. 24. 101

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sprang.106 August Maximilian Freiherr von Gise z. B. hatte klugerweise sowohl seinen landwirtschaftlichen Betrieb wie sein Brauhaus und die Branntweinbrennerei in Pacht gegeben, während er selbst für den teich- und vor allem den forstwirtschaftlichen Bereich verantwortlich zeichnete.107 1914 firmierte er als Millionär.108 Sigmund Freiherr von Pfetten waren in der Nähe des oberbayerischen Neuburg Güter mit einer Gesamtfläche von 1.200 Hektar eigen.109 Ihm wurde ein Vermögen von zwei Millionen Mark zugeschrieben.110 Auffällig ist, dass Pfetten nach Übernahme des Familienbetriebs im Jahre 1880 dessen Modernisierung konsequent vorangetrieben hat, z. B. durch die Einführung einer neuen Buchführung oder indem er Anbauversuche mit fremder Saatzucht unternahm.111 In der Pfalz konnte es wegen der differierenden Rechtsverhältnisse nur eingeschränkt einen adeligen Kampf ums Obenbleiben geben, adellos war das 19. Jahrhundert hier aber dennoch nicht. Der Zäsurcharakter der Franzosenzeit ist im Hinblick auf die Besitzverhältnisse in der Pfalz nicht zu leugnen. Die 1804 einsetzenden Nationalgüterversteigerungen kamen vor allem Bürgerlichen, namentlich Bankiers, Handelsleuten und Fabrikanten, zu gute. Der von Esebecksche Rittershof im Landkommisssariat Zweibrücken beispielsweise kam an die im Keramikgeschäft tätigen Villeroys.112 Das Hallbergsche Schlossgut zu Buchheim fiel an eine Winzerfamilie.113 Der Fabrikant Maximilian Heyl kaufte das zuletzt im Besitz des Grafen Huynady befindliche Hofgut Mundenheim.114 Das Gut St. Ingbert, mit seinen 1.584 Hektar deutlich das größte der Pfalz und vormals im Besitz der Grafen von Leyen, geriet an die Eisenindustriellenfamilie Krämer.115 Erheblich profieren konnten die Gienanths, die zwar seit Mitte des 18. Jahrhunderts als Waffenschmiede und Besitzer von Eisenschmelzen und Hammerschmieden eine tragende Rolle in der pfälzischen Eisenindustrie inne hatten, aber erst in der Franzosenzeit zu einem der größten Fabrik- und Grundbesitzer der Pfalz avancierten. Die Gienanths verfügten nach den Nationalgüterversteigerungen allein über vier Eisenhüttenwerke (Altleiningen, Hochstein, Trippstadt, Eisenberg) und Mitte des 19. Jahrhunderts galt die Familie, die zu diesem Zeitpunkt 1.500 Berg- und Hüttenleute beschäftigte, als reichste der Pfalz. Allerdings: In Bezug auf den vermeintlich mit der Besitzumverteilung verbundenen Niedergang des pfälzischen Adels ist der Umbruchcharakter der Franzosenzeit 106

Reif, S. 73. Haberl, S. 87 f. 108 Martin, Jahrbuch des Vermögens, S. 76. 109 Pfetten-Arnbach, S. 5 f. 110 Handbuch, 1907, S. 92 ff; Martin, Jahrbuch des Vermögens, S. 57. 111 http://www.gemeindeforschung.de/downloads/frei/Volkskunde/SigmundProzent20v.Pro zent20Pfetten-Arnbach Prozent20Gedenktag Prozent202011.pdf. 112 General-Comité, Ergänzungsband, S. 126 f. Zu den Villeroys z. B.: Adler. 113 General-Comité, Ergänzungsband, S. 116. 114 General-Comité, Ergänzungsband, S. 120 f. 115 General-Comité, Ergänzungsband, S. 129 f. 107

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auch zu relativieren. Es ist zunächst in Rechnung zu stellen, dass etliche adelig-bürgerliche Besitzwechsel bereits vor den Nationalgüterversteigerungen stattfanden. Die von Esebecks z. B. verkauften den Ausbacherhof in Kusel schon in den 1790er Jahren,116 der Kaplaneihof bei Bergzabern ersteigerten Bürgerliche 1786 vom Herzog von Zweibrücken.117 Sodann muss festgehalten werden, dass auch Adelige Nutznießer der Versteigerungen waren, etwa das französische Geschlecht de Lasalle von Louisenthal.118 Des Weiteren ist die durchaus signifikante Kontinuität in den Besitzverhältnissen zu konstatieren. Altadelige Familien wie etwa die Esebecks oder Closens blieben im Zweibrückener Raum wohnhaft und begütert, verehelichten sich zudem mit bürgerlichen Profiteuren der Franzosenzeit, wie den aus Karlsruhe bzw. Regensburg stammenden Liliers.119 Auch traditionsreiche Güter wie das Schlossgut Monsheim verblieben von 1780 bis in die 1850er Jahre im Besitz der Familie von Gagern,120 die im Übrigen selbst in den Besitz von Säkularisationsgut, etwa das Weingebiet des Klosters Eberbach im Rheingau, kam121. Genauso kamen uradelige Familien wie die Freiherren von Warmbrunn schadlos durch die Franzosenzeit. Das Gut Gauersheim bei Kirchheimbolanden, mit Hilfe der Familie Gagern Ende des 18. Jahrhunderts erworben, war bis in die 1830er Jahre im Besitz der Warmbrunns.122 Darüber hinaus stiegen Handelsleute und Industrielle wie Georg oder Max Relikten von Lilier, Ferdinand Ritter von Böcking, Eugen Ritter von Buhl (1894123 ; seit 1908 auch Anrede „Exzellenz“124), August Ritter von Clemm (1893 oder 1914125), Gustav von Krämer oder Ludwig Freiherr von Gienanth (1817 Verleihung des Zivildienstordens; seit 1835 im erblichen Freiherrenstand126) nicht nur selbst in den Adelsstand auf, sondern sie pflegten diese Netzwerke auch gezielt. Georgine Lilier beispielsweise heiratete den badischen Kammerherrn Adrian Karl Reinhard Freiherr

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General-Comité, Ergänzungsband, S. 113. General-Comité, Ergänzungsband, S. 118. 118 Thürheim an Zwack, 11. Februar 1817, in: Landearchiv Speyer (im Folgenden: LAS), Zwackh-Archiv 143; für das saarländische Schloss Dagstuhl auch: http://www.dagstuhl.de/ ueber-dagstuhl/geschichte/. 119 Z. B. Bekanntmachung, 7. Januar 1830, 29. Mai 1830, 21. Juli 1830, 13. Februar 1836, 12. Juli 1836, in: Intelligenzblatt des Rheinkreises, Band 13, S. 647. 120 http://www.regionalgeschichte.net/?id=2797. 121 Vgl. Rechnungen, in: Hessisches Staatsarchiv Darmstadt (im Folgenden: HStaD) O 11 Nr. B 81 – 83. 122 Tilgung einer von Ludwig Freiherr v. Wallbrunn gewährten Hypothek zum Erwerb des Gutes Gauersheim bei Kirchheimbolanden, in: HStaD O 11 Nr. B 51. 123 Regierung der Pfalz an Buhl, 27. September 1894, zit. nach LAS V 148 7; Schreiben des Heroldamtes in München an Buhl, 6. September 1894, in: LAS V 148 19; Adelsdiplom, in: LAS V 148 2. 124 Diplom, 23. Dezember 1908, in: LAS V 148 20. 125 Genealogisches Handbuch des Adels (im Folgenden: Gotha), II, 1974, S. 304. 126 Erbliches Freiherrendiplom, 20. September 1835, in: LAS T 89 860. 117

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von Berstett127, der aus einem elsässischen Uradelsgeschlecht stammte und dessen Vater von 1820 bis 1830 als Ministerpräsident des Großherzogtums Badens amtierte128. Zwei Söhne Ludwig Gienanths ehelichten Adelige: Friedrich die Tochter des pfälzischen Regierungspräsidenten Franz Joseph von Stichaner, Carl zunächst Mathilde von Horn und dann Hermine von Stetten, beide Repräsentantinnen eines Uradelsgeschlecht. Von den drei Töchtern Ludwigs Gienanths heiraten zwei in adelige Familien ein: Amalie ehelichte den nobilitierten Regierungsdirektor Friedrich Freiherr von Neimans in Speyer und Julie 1835 den aus einer uradeligen Familie stammenden Gutsbesitzer Gustav Johann Freiherr von Gemmingen-Steinegg in Bessenbach bei Aschaffenburg.129 Erbe der Buhlschen Weingüter wurde der Neffe von Eugen Buhl: Enoch aus dem fränkischen Uradelsgeschlecht der von und zu Guttenberg.130 Hinzu kamen etliche Ehen zwischen den Industriellenfamilien selbst: Der Sohn von Carl Gienanth vermählte sich beispielsweise mit Elise Engelhorn, Tochter des BASF-Direktors Friedrich Engelhorn, die ein noch größeres Vermögen in die Ehe einbrachte als er schon besaß.131 Der Sohn von August Clemm ehelichte die Tochter des BASF-Direktors und späteren -Aufsichtsratsvorsitzenden Heinrich von Brunck.132 Schließlich waren 1879 unter den 51 größten privaten Grundbesitzern der Pfalz immerhin neun Adelige, was einem Anteil von fast 18 Prozent entsprach.133 Damit lag die Pfalz zwar am Ende der bayerischen Regierungsbezirke, aber weit weniger klar, als man vermuten könnte. In Niederbayern z. B. befanden sich unter den 138 größten privaten Grundbesitzern 33 Adelige, also 23,9 Prozent.134 Der Anteil der Nobilitierten (in der Pfalz drei von 18) lag sogar auf gesamtbayerischem Niveau. Die größten adeligen Grundbesitzer der Pfalz waren: 1. Karl Freiherr von Gienanth (Winnweiler), 2. Ferdinand von Böcking (Grundbesitz in Kandel), 3. die Erben des Eisenbahningenieurs und pfälzischen Staatsbeamten Paul Camill Freiherr von Denis (Dürkheim), der u. a. für den Bau der ersten deutschen Eisenbahn, der Ludwigs-Eisenbahn Nürnberg-Fürth, verantwortlich zeichnete,135 127 Bekanntmachung, 13. Februar 1836, in: Amts- und Intelligenzblatt des königlich baierischen Rheinkreises, S. 137. 128 Ritthaler. 129 Warmbrunn, S. 298. 130 Hesselmann, Wirtschaftsbürgertum, S. 154. 131 Ehevertrag Eugen Gienanth und Caroline Elisabetha Eugenie Engelhorn, 12. Mai 1872, in: LAS T 89 47. 132 Hesselmann, S. 163. 133 General-Comité, Handbuch, S. 132 f. 134 General-Comité, Handbuch, S. 107 ff. An der Spitze der Regierungsbezirke stand im Übrigen Schwaben mit einem Adeligenanteil unter den größten Grundbesitzern von über 86 Prozent: General-Comité, Handbuch, S. 366 ff. 135 Personalakte Denis, in: LAS H 2 118; Massute, S. 599.

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4. ein Repräsentant der altadeligen Winzerfamilie Dael von Köth-Wanscheid, (Dirnstein),136 5. Georg und Max Relikten von Lilier (Zweibrücken), sowie die Rentiers 6. Alexander Jacomin Baron de Malespine (Zweibrücken), der als Sohn eines südfranzösischen Offiziers 1821 in Zweibrücken geboren worden war und die von seinem Vater zu noblen Landresidenzen umgestalteten Höfe Kirchheim und Kahlenberg übernahm,137 7. Alexander von Geiger aus Saargemünd (Zweibrücken), dessen Familie 1774 in den kurfürstlich-pfälzischen Adelsstand erhoben worden war und der vermutlich ein vormaliger Kachelofenproduzent und französischer Senator war,138 8. der königliche preußische Rittmeister Alexander Schmidt von Schwind aus Düsseldorf (Zweibrücken)139. Der durchaus signifikante Anteil auswärtiger Gutsbesitzer und Nobilitierter mag – zumindest teilweise – im Kontrast zum bayerischen Adel rechts des Rheins stehen. Den Umbruchcharakter der Franzosenzeit und die vermeintliche Adelslosigkeit der pfälzischen Moderne relativierend, repräsentiert er aber eindrucksvoll die Kontinuität in der Diskontinuität der Pfälzer Geschichte. Denn wenige Güter hatten sich ja auch im 18. Jahrhundert lange in der Hand einer adeligen Familie gehalten und zudem waren etliche der in der Franzosenzeit um ihren Besitz gebrachten selbst homines novi gewesen. IV. Adel und Bürokratie Klassische Soziotope, zumal des nachgeborenen Adels, bildeten das geistliche Leben, der Hof, das Militär und die Bürokratie. Durch die Umbrüche des frühen 19. Jahrhunderts und den damit korrelierenden Siegeszug bürgerlicher Bildungsund Leistungsvorstellungen sollten die entsprechenden Zugangsmöglichkeiten aber deutlich beschränkt werden. Der Untergang der Germania Sacra verhinderte die Auffüllung der Domkapitel, die etwa in Speyer traditionsgemäß in besonderem Maße von Reichsrittern dominiert wurden;140 die Säkularisation der Stifte bedeutete einen harten Einschnitt. Das reüssierende Leistungsprinzip trieb zwecks Ausgleich 136 Gotha, VI, 1987, S. 388; http://www.geschichte-des-weines.de/index.php?option=com_ content&view=article&id=165:dael-von-koeth-wanscheid-friedrich-1808 - 1883&catid= 45:persoenlichkeiten-a-z&Itemid=83. 137 http://www.pfaelzischer-merkur.de/region/lokales/art27906,4947272; http://www. rohmuehle.eu/htm/geschichte.htm; http://www.bliesdalheim.de/alexanderturm_baron.htm. 138 Gotha, IV, 1978, S. 60; http://www.memotransfront.uni-saarland.de/pdf/gewerbe_sarre guemines.pdf. 139 Gotha, XII, 2001, S. 544. 140 Maier, S. 492 f.

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von Standesvorteilen die Formalisierung von (Aus-)Bildung voran, was sich in der flächendeckenden Einführung des Abiturs ebenso manifestierte wie in der Etablierung fester Laufbahnprinzipien in der Verwaltung, im Militär und auch für höhere geistliche Ämter. Auf den bayerischen Adel wirkte sich dies durchaus aus, wobei das Phänomen der Adelspyramide frappierend anmutet. In der Breite war der adelige Potenzverlust enorm, aber seine Repräsentanten hielten sich in den Spitzenpositionen und zwar vornehmlich dort, wo Repräsentationsaufgaben gefordert waren: Am größten fiel der Einbruch bei den geistlichen Laufbahnen aus. Denn unter den 16 zwischen 1818 und 1918 amtierenden Erzbischöfen befanden sich lediglich vier von adeliger Geburt, die auch alle in der ersten Jahrhunderthälfte ihre Würde erhielten.141 Kaum Abstriche musste der Adel am Hofe machen. Die obersten Hofämter befanden sich durchweg in seiner Hand (der Kronoberhofmeister kam aus den Familien Oettingen-Wallerstein oder Oettingen-Spielberg, der Kronoberstmarschall war traditionell ein Fugger, als Kronoberstkämmerer fungierte u. a. Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst und den Kronoberpostmeister stellte die Familie Thurn und Taxis), die obersten Hofränge zum größten Teil.142 Substantiell blieb der Einfluss des Adels in den höheren Beamtenpositionen – wenn auch nicht so eklatant wie in Preußen.143 Immerhin knapp 32 Prozent der leitenden bayerischen Beamtenschaft zwischen 1806 und 1918 waren von adeliger Geburt. Innerhalb der Minister und ihrer Verweser lag der Anteil bei über 4/10.144 Unter den bayerischen Regierungspräsidenten betrug das adelige Quantum 59,2 Prozent.145 Bei den Ministerialreferenten lag demgegenüber die Quote lediglich bei 10,9 Prozent, wobei das Innenministerium den stärksten Anteil stellte. Im Kultusministerium stand ein adeliger Referent 23 Bürgerlichen gegenüber, im Finanzministerium kamen auf 69 Bürgerliche 3 Adelige.146 Eine besondere adelige Domäne bildete der diplomatische Dienst. 58 Prozent der dortigen Beamten waren von adeliger Geburt, knapp 80 Prozent derjenigen bürgerlicher Herkunft wurden nobilitiert. Als Missionschefs im Ausland kamen fast durchweg Adelige zum Einsatz.147 In Preußen lag der adelige Anteil im Diplomatischen Dienst nicht höher.148 Noch frappierender war der adelige Einfluss lediglich in den höheren Militärpositionen: Zwischen 1808 und 1918 gab es 20 Kriegsminister und sechs Verweser, 19 davon waren adelig.149 Bei den Generälen besaßen 66 von 90

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Drechsel, Die Reichsräte, S. 17 u. 18. Drechsel, Die Reichsräte, S. 16 f. 143 Reif, S. 75 f. 144 Schärl, S. 32 f. 145 Schärl, S. 54 f. 146 Schärl, S. 49. 147 Schärl, S. 307. 148 Grypa, S. 247 ff, vor allem S. 248. 149 Schärl, S. 67. 142

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ein amtsungebundenes Adelsprädikat.150 In toto ergab sich an den Spitzenstellen der bayerischen Armee ein Adelsanteil von 73,3 Prozent.151 Gleichwohl war der adelige Einfluss im bayerischen Militär stark rückläufig. Bei weitgehend stabiler Größe verzeichnete das Offizierskorps mithin im Jahre 1799 eine Adelsquote von 50, 1911 nur noch von 18 Prozent.152 Die Situation in der Pfalz besaß vor diesem Hintergrund kaum besondere Züge: Eine Adelspyramide gab es auch in der hiesigen, indes von Nicht-Pfälzern dominierten Bürokratie. Auffällig ist der Umstand, dass auch in den niederen Chargen immer wieder Adelige tätig waren. Es existierte letztlich kein Bereich der Verwaltung, wo im 19. Jahrhundert keine Adeligen zu finden waren. Es gab beispielsweise in der Pfalz bis 1900 14 Regierungspräsidenten,153 von denen lediglich einer gebürtiger Pfälzer und nur zwei zum Zeitpunkt ihres Amtsantritts keinen Adelstitel besaßen (Franz Alwens154 und Sigmund Heinrich Freiherr von Pfeufer). Bei fünfen hatten Vater oder Großvater die Adelswürde erhalten (Franz Joseph Wigand von Stichaner155, Carl Albert Leopold Freiherr von Stengel, Karl Theodor von Wrede156, Eugen von Wrede, Julius von Auer), vier waren selbst nobilitiert worden (Franz Xaver von Zwackh zu Holzhausen157, Johann Baptist Ritter von Zenetti158, Paul von Braun, Gustav von Hohe) und zwei entstammten einer altadeligen Familie (Ferdinand Freiherr von Andrian-Werburg und Ludwig Freiherr von Welser), einer repräsentierte ein ehrwürdiges Münchener Patriziergeschlecht (Karl Freiherr Schrenck von Notzing). Die meisten der Regierungspräsidenten hatten mindestens eine adelige Frau und waren so mit dem Uradel (Schaumberg zu Strößendorf) oder hochrangigen Beamtenfamilien (Mieg, Thürheim) verbandelt. Im Jahre 1819 besaßen in der pfälzischen Verwaltung neben dem Regierungspräsidenten sein Stellvertreter, der Direktor der Kammer des Inneren sowie der Präsident des Appellationsgerichtes und dessen Vize den persönlichen Adel. Adelig waren die Landräte Ludwig von Gienanth und Daniel von Andrä, seines Zeichens nobilitierter Gutsbesitzer, freilich auch ein Kreisbergrat in der Kammer des Inneren (Frank Freiherr von Gumppenberg, dessen Familie vermutlich 1799 in den kurfürstlich-pfalzbayerischen Adelsstand erhoben worden war159), der Oberpostmeister (Anton Graf von Taufkirchen, ein Vertreter des bayerischen Uradels160) und der Postmeister in 150

Schärl, S. 70. Schärl, S. 81. 152 Reif, S. 79. 153 Allgemein zu den pfälzischen Regierungspräsidenten: Schineller. 154 Imhoff, S. 175. 155 Zu Stichaner z. B.: Scheidt. 156 Zu Wrede z. B.: Renner. 157 Übersendung des Adelsdiploms, 20. September 1812, in: LAS Zwackh-Archiv 207. 158 Zu Zenneti z. B.: Zenneti. 159 Gotha, IV, 1978, S. 330. 160 Gotha, XIV, 2003, S. 341 ff. 151

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Landau (Friedrich Freiherr von Tautphoens, dessen Geschlecht 1763 die Adelswürde zugesprochen bekommen hatte161). Als Bürgermeister von Zweibrücken amtierte ein von Esebeck.162 Selbst ein Baukondukteur (Christian von Jan, der ein vormals reichsadeliges Geschlecht vertrat163) und der Direktor der Armenanstalt in Frankenthal (August Freiherr von Horix, dessen Familie 1790 den Reichsfreiherrenstand erhalten hatte164) sind zu nennen.165 1827 gestaltete sich das Bild bei den höheren Posten identisch; die Räte in den beiden Kammern waren nunmehr bis auf einen (Carl von Wiebeking, Träger des bayerischen Verdienstordens166) alle bürgerlich, dafür befanden sich aber unter den Landkommissären zwei Adelige aus traditionsreichen Familien: Der dem vogtländischen Uradel entstammende Joseph Anton Freiherr von Pölnitz167 in Kusel und Carl August von Hohenfels in Zweibrücken. Bei den 20 Landräten gab es mit Gustav von Failly168, dem Direktor des Landgestüts von Zweibrücken, einen Repräsentanten des lothringischen Uradels.169 Im Jahre 1831 erhält ein Adeliger (Ferdinand von Lemezan) sogar eine Stelle als Steiger „mit dem unregelmäßigen Gehalte von 275 Gulden“.170 Knapp drei Jahre später stellt ein Arzt bei diesem einen „so hohe[n] Grad der Schwäche … des ganzen Körpers“ [fest], dass er wenigstens ein Jahr lang keine körperlich anstrengende Arbeit, besonders in Bergwerken, verrichten“ darf. Kurz darauf stirbt Lemezan.171 1835172 waren unter den Räten in der Kammer des Inneren und der Finanzen drei Adelige tätig, darunter mit Ludwig Freiherr von Lichtenstein auch ein Vertreter des fränkischen Uradels173. Auch der Regierungsassesor stammte aus einem angesehenen Nürnberger Patriziergeschlecht (Johann Freiherr von Holzschuber174). Unter den Landkommissären befanden sich zwei Repräsentanten einer alten Adelsfamilie (Joseph Anton Freiherr von Pölnitz für Frankenthal und Karl August von Hohenfels 161

Gotha, XIV, 2003, S. 347 f. Anzeige der im Königlich-Baierischen Civildienste stehenden Individuen im Rheinkreise, Speyer 1819. 163 Gotha, VI, 1987, S. 21 f. 164 Gotha, V, 1984, S. 356. 165 Personalakte Jan, in: LAS H 2 327; Personalakte Horix, in: LAS H 2 302. Horix wird 1821 wegen „Umtriebe … gegen die Regierung, und insbesondere gegen ihren Präsidenten“ entlassen und inhaftiert: Seutter, 12. März 1822, in: LAS H 2 302. 166 Gotha, XVI, 20034, S. 173. 167 Gotha, X, 1999, S. 445 f. 168 Gotha, III, 1975, S. 215. 169 Anzeige der Beamten und Angestellten im Staats- und Communaldienste des Königlich Bayerischen Rheinkreises, Speyer 1827. 170 Staatsministerium der Finanzen, 15. März 1831, in: LAS H 4 5172. 171 Ärztliches Zeugnis, 11. September 1834, in: LAS H 4 5172. 172 Anzeige der Beamten und Angestellten im Staats- und Communaldienste des Königlich Bayerischen Rheinkreises, Speyer 1835. 173 Personalakte Lichtenstein, in: LAS H 2 444; Gotha, VII, 1989, S. 342. 174 Gotha, V, 1984, S. 342 f. 162

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für Zweibrücken), unter deren Actuaren gab es sogar drei Adelige, darunter zwei geborene (Jacob von Annetsberger für Kaiserslautern175; Karl von Burger für Landau sowie der den hinterpommerschen Uradel vertretende Friedrich Freiherr von Podevils176 für Zweibrücken). Hinzu kamen mit Adelswürden noch ein Cassier (Karl von Rogister; seine Familie besaß seit 1790 die Adelswürde177), ein Mitglied der Postverwaltung (Jos. von Delling; sein Vater war 1813 in den Adelsstand erhoben worden178) und ein Rat am Appellationsgericht (August Alexander von Röder, vermutlich aus badischem Uradel stammend179). Im Jahre 1851 fanden sich in der pfälzischen Bürokratie – neben den Direktoren der beiden Kammern – mit Adelstitel: zwei Räte in der Kammer des Innern (Joseph von Stichaner sowie der mittelfränkische Uradelige Stephan Freiherr von Leonrod180), ein Kreisschulreferent, drei Landkommissäre (Max Freiherr von Maillot für Kaiserslautern, dessen Familie seit 1790 den bayerischen Adelsstand besaß,181 Franz Borgias von Prädl für Landau sowie mit Reinhard von Freyberg ein Vertreter eines schwäbischen Uradelsgeschlechtes), zwei Actuare (Graf Clemens zu Pappenheim für Frankenthal, fränkisch-schwäbischen Uradel repräsentierend,182 und Wilhelm Freiherr von Holzschuher für Landau), ein Cassier in der Postadministration (Moritz von Axthelm, dessen Geschlecht seit 1814 die bayerische Adelswürde inne hatte183) sowie bei der pfälzischen Ludwigsbahn ein Commissär (Moritz August von Marc) sowie der Vorstand des Verwaltungsrats (Anton Freiherr von Pölnitz).184 Als Forstmeister war der Hofratssohn Jakob von Traitteur tätig.185 Der dem Wiener Reichsadelsstand entstammende Eisenbahnassistent Gustav Freiherr von Horn186 hatte kurz zuvor den Staatsdienst quittiert, wegen „Übernahme der in der Gemeinde Obermohr, Landkommissariat Homburg, gelegenen vererbten väterlichen Güter“.187 1856 wollte er aber, inzwischen Witwer und Vater von zwei kleinen Zwillingen, wieder in den öffentlichen Dienst zurück. Denn „die Subsistenzmittel“ konnten „nicht verläßig bezeichnet werden“. Sie erreichten einen Betrag, „von dessen Zeichen allein

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Personalakte Annetsberger, in: LAS H2 10. Gotha, X, 1999, S. 463 ff. 177 Gotha, XI, 2000, S. 501 f. 178 Gotha II, 1974, S. 446 f. 179 Gotha, XI, 2000, S. 476 f. 180 Gotha, VII, 1989, S. 288. 181 Gotha, VIII, 1997, S. 176. 182 Gotha X, 1999, S. 161 ff. 183 Gotha, I, 1972, S. 162. 184 Verzeichnis der Beamten und Angestellten im Staats- und Gemeindedienste des Königlich Bayerischen Regierungsbezirkes der Pfalz, Speyer 1851. 185 Personalakte Traitteur, in: LAS H 6 1217. 186 Gotha, V, 1984, S. 359 f. 187 Horn an Präsidium der Pfalz, 26. August 1856, in: LAS H 2 303. 176

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eine Familie nicht leben kann“.188 Seit 1859 war Herman von Egger, wahrscheinlich aus einem niederbayerischen 1731 geadelten Geschlecht,189 in Pirmasens als Geometer beschäftigt. Er hatte schon zuvor ob „sehr drückende[r] Familienverhältnisse […] gegen Verpfändung seiner Meßinstrumente um einen Vorschuß von 60 Gulden“ bitten müssen190 und seine Familie erhielt noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts wegen „ihrer bedrängten Lage“ vom bayerischen Staat Unterhaltszahlungen191. Fast zur gleichen Zeit wurde der vormalige Stationsgehilfe Georg Friedrich von Heydenaber, Vertreter des Oberpfälzer Uradels,192 wegen Amtsuntreue entlassen, zu einer Festungsstrafe verurteilt und mit dem Verlust des Adelstitels bestraft.193 1863 gab es in der pfälzischen Verwaltung immerhin drei adelige Räte (der aus Oberbayern stammende Max de Lamotte194, Max Freiherr von Maillot de la Treille und Ludwig von Ammon, dessen Familie einst in leiningschen Diensten stand und 1742 die Adelswürde erhalten hatte195). In der Kammer der Finanzen saßen überdies mit Adelstitel ein Rechnungskommissär, ein Funktionär und sogar ein Rechnungssekretär (der aus einem altbayerischen Geschlecht stammende Max Freiherr von Pelkhoven196). Als Bezirksamtmann von Speyer fungierte Wilhelm Freiherr von Holzschuher, als Direktor der Gestütsverwaltung der eine Augsburger Patrizierfamilie repräsentierende Karl von Rad197. In der Postverwaltung gab es gleich vier Adelige (Moritz von Axthelm als Oberpostmeister, in Kaiserslautern der ein französisches Adelsgeschlecht vertretende Karl von Pillement198, in Landau der Nobilitierte Sigmund von Weech; in Ludwigshafen Otto Freiherr von Stengel). Der nobilitierte Heinrich von Krämer fungierte als Landrat von St. Ingbert.199 Kurz Zeit später kam auch der Forstgehilfe Carl Andreas Florentin von Reitz, dessen Familie 1819 die Adelswürde erhalten hatte,200 in der Pfalz zur Anstellung. Sein Vater war Rittergutsbesitzer in Oberfranken, der zunächst versucht hatte, den Sohn von seiner Neigung zur Försterei abzubringen „und zur Übernahme seines väterlichen Besitzthum heran zu bilden; allein die durch die Neuzeit hervorgerufenen Gesetze über die Auflösung 188 Landeskommissariat Kaiserslautern an Hohes Präsidium der Pfalz, 22. September 1856, in: LAS H 2 303. 189 Gotha, III, 1975, S. 89. 190 Egger, 24. April 1838, in: LAS H 4 53. 191 Adele von Egger an Kammer der Finanzen, Pfalz, 20. Mai 1901, in: LAS H 4 53. 192 Gotha, V, 1984, S. 195. 193 Staatsministerium der Finanzen, 16. Juli 1857, in: LAS H 2 283. 194 Personalakte Lamotte, in: LAS H 2 414. 1871 erhielt er den Verdienstorden der bayerischen Krone: Palatina, 3. Februar 1887, in: LAS H 2 414. 195 Gotha, I, 1972, S. 79. 196 Gotha, X, 1999, S. 241. 197 Gotha, XI, 2000, S. 129. 198 Gotha X, 1999, S. 39. 199 Beamtenverzeichniß und Statistik des Königlich Bayerischen Regierungsbezirkes der Pfalz, Speyer 1863. 200 Gotha, XI, 2000, S. 315.

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der Gerichtsbarkeiten und Ablösung und Fixierung [der] Grundlasten haben [s]eine Vermögensverhältnisse so alteriert“, dass er von seinem Vorhaben abließ.201 Im Jahre 1870202 arbeiteten in der Kammer des Inneren zwei adelige Räte, darunter der aus einer standesherrlichen Familie stammende, spätere Abgeordnete der Zentrumspartei Hartmut Graf Fugger von Kirchberg-Weißenhorn. Im Kreisbauamt saß ein Adeliger und unter den vier Regierungsaccessisten Georg Freiherr von Bechtolsheim. In der Kammer der Finanzen waren der Accessist Friedrich von Hertlein, aus einem fränkischen Geschlecht stammend, das gewohnheitsmäßig den Adelstitel führte,203 und der Rechnungskommissär Hugo von Leth, dessen Großvater 1790 in den Adelsstand erhoben worden war, tätig204. Als Bezirksamtmann für Germesheim fungierte Emmrich Josef von Mörs, dessen Familie 1778 den Reichsadelsstand erhalten hatte,205 (Assessor war Josef von Stichaner) und für Landau der ein irisches Adelsgeschlecht vertretende Adalbert Freiherr von Harold206. Insgesamt besaßen alle Direktoren der Kammer des Inneren den Adelstitel, wobei fünf Träger des bayerischen Verdienstordens waren. In der Kammer der Finanzen gab es drei adelige Direktoren, zwei besaßen den Rittertitel. Präsident des Appellationsgerichtes war stets ein Träger des bayerischen Verdienstordens. Bei den Landkommisssären/Bezirksamtsmännern lag der Adelsanteil immerhin bei einem 1/6, für die Regierungsräte in der Kammer des Innern bei 24,3 Prozent. Auffallend hoch ist das Quantum in der höheren Postverwaltung, nachdem die Administrationen auf fünf reduziert und dafür vergrößert wurden. Seit den 1860er Jahren besaß der Oberpostmeister den Adelstitel, der adelige Anteil unter den Leitern der einzelnen Verwaltungen lag bei 50 Prozent. Sehr gering war das Adelsquantum demgegenüber unter den Landräten und Bürgermeistern. Eine Spezifik bildet die Militärverwaltung. Denn sowohl 1863 als auch 1870 war der Truppencorpscommandant ein Bürgerlicher und auch an der Spitze der Commandantschaften in Landau, Germersheim, Speyer und Zweibrücken standen Bürgerliche sowie drei Träger des Verdienstordens der bayerischen Krone und mit Graf Tattenbach ein Vertreter eines altbayerischen Geschlechts. Freilich waren dafür die Adjudanten und Stabsoffiziere durchweg adelig, im Regelfall aus traditionsreichen Familien wie den Gravenreuth oder den Eggloffstein.207 Es ist in toto sinnfällig: 201

Friedrich von Reitz an Kammer der Finanzen, Königliche Regierung von Oberfranken, 14. November 1850, in: LAS H 6 959. Reitz wurde 1867 Forstwart im Revier Trippstadt, später Förster in Amsohl. Weitere Forststellen folgen: Personalakte Reitz, in: LAS H 6 959. 202 Beamtenverzeichniß und Statistik des Königlich Bayerischen Regierungsbezirkes der Pfalz, Speyer 1870. 203 Gotha, V, 1984, S. 154 f. 204 Schreiben von Leth, 21. Dezember 1878, in: LAS H 4 173. 205 Gotha, IX, 1998, S. 125. 206 Gotha, IV, 1978, S. 446. 207 Beamtenverzeichniß und Statistik des Königlich Bayerischen Regierungsbezirkes der Pfalz, Speyer 1870, S. 123 ff; Beamtenverzeichniß und Statistik des Königlich Bayerischen Regierungsbezirkes der Pfalz, Speyer 1863, S. 117 ff.

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Die Pfalz offenbarte im 19. Jahrhundert die wesentlichen Charakteristika der modernen Adelsgeschichte: Auf der einen Seite bei gleichzeitigem Bedeutungsverlust in der Breite die perpetuierte Affinität zur Macht, also die signifikante Überrepräsentanz in höheren Ämtern, auf der anderen Seite frappierende wirtschaftliche Inhomogenität, die sowohl Altadelige wie auch Nobilitierte niedere Berufe ergreifen ließ und zum Teil in schwierige, zum Teil in prekäre Lebensverhältnisse abrutschen ließ. Die für den deutschen Raum exklusive Bestimmung des bayerischen Adelsedikts, die eine standesgemäße Lebensführung vorschrieb und deshalb handwerkliche und gewerbliche Tätigkeiten mit Ladenbetrieb untersagte,208 erscheint vor diesem sozioökonomischen Hintergrund ebenso als Farce wie das oberflächliche Forschungsurteil, dass sich der Adel gegenüber neuen bürgerlichen Berufen wie Lehrer, Anwalt, Arzt oder Wissenschaftler versagt habe209. Sicherlich: Der komplexe adelshistorische Befund für die Beamtenschaft der Pfalz ist im Grunde wenig überraschend. Schließlich war sie Teil der bayerischen Bürokratie und der Anteil der Nicht-Pfälzer fiel relativ hoch aus. Allerdings könnte die Diskrepanz zur herrschenden Literaturmeinung, nach der es im 19. Jahrhundert in der Pfalz lediglich „einige personaladlige Spitzenbeamte und ein paar altadlige Beamte aus Altbayern und Franken“ gab,210 kaum größer sein. V. Adeligkeit und bürgerlicher „Wertehimmel“ Der vermeintlich klare Gegensatz von pfälzischer Bürger- und bayerischer Ständegesellschaft wird weiter relativiert, wenn man lebensweltliche211 Tiefenbohrungen anstellt. Die klassischen Ausprägungsformen von Adeligkeit, von ausgeprägtem Repräsentationsbewusstsein und caritativem Engagement über besondere, der Einübung standesspezifischen Verhaltens dienlicher Bildungsformen bis hin zum Konnubium sind auch in der Pfalz des 19. Jahrhunderts evident – gelebt von Rentiers, Teilen der höheren Beamtenschaft und vor allem den aufstrebenden Industriellenfamilien. Der Adelstitel kam dabei häufig, aber nicht immer hinzu. Davon zeugen im klassizistischen Empirestil errichtete Herrenhäuser samt Marmorböden, Salons, Bildersälen, Billard-, Lanzen- und Türkenzimmer sowie mondäner Garten- und Parkanlagen mit Orangerie, griechisch-römischen Götter- und Heroenstatuen und offenen

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Nusser, S. 317 ff. Reif, S. 26. Auch quantitativ ist das Urteil nur bedingt tragfähig, wenn z. B. 1914 laut DAG immerhin ca. 3 Prozent der deutschen Universitätsprofessoren und Privatdozenten adelig waren. 210 Andermann, Eine Vorbemerkung, S. 363. 211 Lebenswelt soll im soziologischen Sinne verstanden werden einerseits als Handlungsraum alltäglicher Lebenspraxis, andererseits als Bewusstseinsmatrix, mithin als der Vorrat an praktischem Wissen, der die aktive Teilnahme am Alltag ermöglicht. 209

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Kegelbahnen.212 Dies belegen der Bau repräsentativer Aussichtstürme (z. B. der von Malespine errichtete Alexanderturm bei Bliesdalheim)213, die Einrichtung von Wohltätigkeitstiftungen, die in der Pfalz u. a. Stipendien an Schüler und Studenten verteilte und Lehrererstellen an Landwirtschafts- und Gewerbeschulen finanzierte,214 ferner Modelieferungen aus Paris,215 diverse Hauslehrer216 und ausgiebige Kavalierstouren durch Europa, bei denen man Weltbildung erlangen und internationale Netzwerke schließen sollte und in praxi mitunter „an der Seine entlangschlenderte, die Grand Opéra besuchte, mit netten, hübschen Französinnen Freundschaft schloß und die Sehenswürdigkeiten der französischen Metropole“ aufsuchte.217 Stilbildend waren regelmäßige Feste, Bälle, Diners, Hauskonzerte, Jagdgesellschaften,218 und der Bau von Mausoleen219, außerdem die Einstellung von Gesellschafterinnen, die auf dem Klavier vorspielten, mit denen man zusammen spazierte und vorzugsweise auf Französisch plauderte“220. Familienbeziehungen konnten gemäß traditionellen Vorstellungen von Distanz bzw. einem do-ut-des-Verständnis geprägt sein.221 Bisweilen war dann im Gespräch zwischen Eltern und Kindern das „Sie“ üblich.222 Ehen wurden in adeliger Tradition stark unter utilitaristischen Gesichtspunkten gesehen; eine intensive Prüfung der materiellen Ausgangskonditionen war daher obligatorisch.223 Vice versa blieben allerdings selbst vermögende altadelige bayerische Familien von bürgerlichen Wertevorstellungen nicht unberührt, was eine Analyse der im 19. Jahrhundert im politischen Katholizismus aktiven Männer offenbar werden lässt: Der Großteil von ihnen hatte im Sinne des bürgerlichen Leistungsethos224 eine gymnasiale Ausbildung genossen und ein ordentliches (Jura-)Studium absolviert, unter den bayerischen Zentrumsadeligen im Reichstag finden sich sogar Promovierte (Franz Joseph Freiherr von Gruben und und Heinrich Freiherr von Papius). 212

Hesselmann, S. 165; Errichtung eines Parks, in: LAS T 89 257; Parkanlage Eisenberg, in: LAS T 89 256; Inventarium über Privat Mobilargegenstände, 1834, in: LAS T 89 255; Schröter, S. 214 f u. 219; http://www.pfaelzischer-merkur.de/region/lokales/art27906,4947272. 213 http://www.pfaelzischer-merkur.de/region/lokales/art27906,4947272; http://www. rohmuehle.eu/htm/geschichte.htm; http://www.bliesdalheim.de/alexanderturm_baron.htm. 214 Testament des Ludwig von Gienanth, 9. Juni 1838, in: LAS T 89 25; Protokolle der freyherrlich Friedrich von Gienanth’schen Stiftung für wohltätige Zwecke im Lande, 8. April 1845, 30. März April 1863, beide in: LAS T 89 681. 215 Hesselmann, S. 204. 216 Z. B. Weidmann, S. 541. 217 Zit. nach Wedemeyer, S. 100. 218 Wedemeyer, S. 196; Jacob, S. 30; Schröter, S. 84, 86 u. 158. 219 Rechnung über Mausoleum für Familie Freiherr von Gienanth, in: LAS T 89 820. 220 Z. B. Friedrich von Gienanth an seiner Vater Ludwig, 13. Dezember 1839, in: LAS T 89 25; Wedemeyer, S. 232. 221 Dazu allgemein: Habermas, S. 259 ff. 222 Wedemeyer, S. 96. 223 Budde, S. 26 ff. 224 Budde, Auf dem Weg, S. 112 ff.

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Es gab etliche Adelige, die sich zielgerichtet auf ihr späteres Dasein als Landwirt vorbereiteten, d. h. eine landwirtschaftliche Ausbildung genossen oder forstwissenschaftliche Studien in Tharandt oder Hohenheim betrieben. Wenn überhaupt eine „Kavalierstour“ unternommen wurde, dann hatte diese längst auch den Charakter eines Berufspraktikums angenommen, in dessen Rahmen in verschiedenen Ländern Betriebe besichtigt und Geschäftskontakte gepflegt wurden. Das unternehmerische Ethos war zumindest partiell von adelsuntypischer aktiver Teilnahme geprägt. Bei den Schönborn-Wiesentheids beispielsweise war das Familienoberhaupt traditionsgemäß „die Seele der Geschäftsführung“ – sowohl im Hinblick auf die Administration der Güter wie der Schlösser.225 Der Tochter von Maximilian Ignaz Tänzl von Trazberg war es überaus wichtig, ihn als jemanden zu darzustellen, der um 4 oder 5 Uhr morgens im Stall, auf dem Acker oder im Wald stand, vor Ort Anordnungen tat und den Betrieb permanent überwachte.226 Im Privaten hatte der bürgerliche Familien- und Liebesbegriff durchaus Raum gegriffen. Das „Du“ war in der Kommunikation zwischen Eltern und Kindern kennzeichnend. Die Erziehung oszillierte zwischen liebevoller Fürsorge und notorischer Strenge: An Zuneigungsbeweisen mangelte es nicht. Löwensteins Vater beispielsweise versicherte seinem vierjährigen Sohn unverblümt: „Ich habe Dich so lieb und denke so viel an Dich“.227 Nach dem frühen Tod von Löwensteins Eltern fielen den Großeltern wesentliche Erziehungsaufgaben zu,228 denen sie nach bürgerlichem Vorbild mit Fürsorge, Mahnungen, klar oder latent formulierten Leistungserwartungen und dementsprechender operanter Konditionierung nachzukommen suchten: In Briefen bekräftigte der Großvater seinem Enkel gegenüber seine Zuneigung „Adieu, mein guter Kerl, ich habe Dich recht lieb.“229 Zugleich wurde offen gerügt: „Es betrübt mich und den Großpapa … daß Du nicht folgsam bist. Wenn das Bad Dir auch Freude macht, so mußt Du doch gleich heraus, wenn [das Kindermädchen] es Dir sagt.“230 Häufiger freilich bauten die Großeltern mittelbar Druck auf, ihre Kindesliebe akzentuierend, an vermeintlich positive Eigenschaften appellierend und eine Belohnung für konformes Verhalten in Aussicht stellend: „Deine Schrift ist noch nicht so schön, wie die Schrift unserer lieben Ada, aber es wird noch kommen, mein guter Karl, denn du bist ein gutes und fleißiges Kind“. „Hoffentlich wirst Du gute Fortschritte im Französischen mit der guten Tante gemacht haben, und dann werden wir bald unseren Hirsch erlegen können. Vergesse ja nicht darauf, guter Kerl.“231 „Ich bin überzeugt, daß Du recht brav bist …“.232 225

Schliess, S. 10. Tänzl von Trazberg, S. 46. 227 Constantin von Löwenstein an Löwenstein, 14. Juli 1838, zit. nach Siebertz, S. 10. 228 Siebertz, S. 11 f. 229 Zit. nach Siebertz, S. 14. 230 Zit. nach Siebertz, S. 13 f. 231 Zit. nach Siebertz, S. 13. 232 Zit. nach Siebertz, S. 14. 226

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Sicherlich war ein signifikanter Teil der adeligen Ehen arrangiert, nicht wenige aber auch aus Liebe geschlossen und/oder von Intimität und Zärtlichkeit getragen: Georg Arbogast von und zu Franckenstein und seine Frau beispielsweise, die während der Morgenmesse erstmals aufeinandertrafen und sich einige Zeit zur Vergewisserung ihrer Liebe nahmen, verband augenscheinlich ein romantisch aufgeladenes Verhältnis.233 Etliche altadelige Männer überhäuften ihre Frauen mit Liebesbekundungen: Bei Maximilian Freiherr von Soden z. B. war es sein „Erstes . . . nach Ankunft in Berlin seiner Frau“ einen Gruß zu senden“;234 In keinem Fall sollte seine Frau denken, „daß zwischen mein Herz u. Dich sich der Reichstag eingeschoben habe“.235 Er sparte nicht an intimen Anredeformeln („Meine Süße, „Liebes Kind“, „Mein Herz“, „mein gutes Schatzi“, „mein liebster Schatz“, „mein liebes Weib“, mein Weibi“ etc.) und er scheute sich nicht zu bekunden: „Ich sehne mich so nach dir u. deiner Liebe.“236 Selbst dem ureigenen Betätigungsfeld des Bürgertums – dem Parlamentarismus – begegneten bayerische Altadelige nur bedingt mit Distanz. Sicherlich war die Adelsquote im bayerischen Abgeordnetenhaus gering. 1890 lag sie bei 6 Prozent der Mandatsträger, 1914 nur mehr bei 4 Prozent – die Pfalz stellte im 19. Jahrhundert wohl nur einen adeligen Abgeordneten, den nobilitierten Oberappellationsgerichtsrat Friedrich Daniel von Piris.237 Immerhin besetzte der Adel bis 1918 das Amt des Parlamentspräsidenten.238 Im Reichstag sah dies – zumindest bis Ende des 19. Jahrhunderts – jedoch anders aus: In der Bismarckära lag der Adelsanteil unter den bayerischen Abgeordneten bei über einem Drittel. In der kulturellen Praxis ihrer politischen Tätigkeit zeigte sich ohne Frage eine gewisse innere Distanz. Mancher tat sich schwer mit der säkularen Großstadt Berlin und dachte bisweilen darüber nach, „wie viel schöner es auf dem Land wäre“,239 davon träumend, mit der Ehefrau „zu Hause im Feld, Wald und Garten spazieren zu gehen“240. Es gab Abgeordnete, die froh waren nicht mehr zur Reichstagswahl antreten zu müssen, da „recht viele andere Collegen viel geeigneter zu dem Geschäft und sehr angenehmer erfreut über die auf sie fallende Wahl wären“.241 Gleichwohl lag die Abwesenheitsquote der bayerischen Adeligen nicht unter der ihrer bürgerlichen Kollegen. Das Interesse an den Gegenständen und Abläufen des 233

Aretin, S. 15. Soden an seine Frau, 5. Februar 1873, in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen 733. 235 Soden an seine Frau, Febr. 1874, in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen 733. 236 Soden an seine Frau, 16. Januar 1875, in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen 735. 237 Beamtenverzeichniß und Statistik des Königlich Bayerischen Regierungsbezirkes der Pfalz, Speyer 1863, S. 142. 238 Reif, S. 87. 239 Soden an seine Frau, 11. April 1877, in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen 738. 240 Soden an seine Frau, 10. August 1875, in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen 735. 241 Clemens von Schönborn an Franckenstein, 19. November 1886, in: Frankensteinsches Archiv Ullstadt (im Folgenden: FAU), Rote Handakten 12. 234

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Parlamentarismus war unverkennbar. Zentrumsadelige verfolgten selbst die Arbeit derjenigen Kommissionen mit großer Intensität, denen sie nicht angehörten.242 Soden echauffierte sich über (bürgerliche) Fraktionskollegen, die nach der Devise handelten: „Ich lese keine Vorlage, ich gehe in keine Fraktion und stimme gegen alles!“243 Groß war die Freude, wenn sich die Ehefrau für die Belange des Reichstags erwärmen konnte; von der „politische[n] Frau“ Maria von Franckenstein war der Zentrumsadelige höchst angetan244. Konrad von Preysing ereiferte sich über die fehlende gesellschaftliche Wertschätzung des Parlamentarismus und geißelte die öffentliche Meinung, die sich vor allem vom Bouvelardesken ansprechen ließ.245 Auch bei Abwesenheit suchten die Adeligen der Zentrumsparteiden Kontakt zu Fraktionskollegen in Berlin, wurde über parlamentarische Angelegenheiten diskutiert, tauschte man wichtige Materialien aus und verfolgte Verhandlungen „eifrig“ und „mit großem Interesse“.246 Wenige Monate nach seinem Rückzug aus dem Reichstag im Jahre 1884 konzedierte Sigmund von Pfetten: „Mir geht der Reichstag schon ab“.247 1887 stellte er sich dann abermals erfolgreich für den Reichstag zur Wahl. Auch die politischen Präferenzen lassen mit Blick auf den Adel schwerlich eine klare Trennung zwischen links- und rechtsrheinischem Bayern vornehmen: Sicherlich besaßen führende adelige Vertreter der Revolution von 1848/49 eine Pfälzer Vergangenheit: Heinrich von Gagern als Präsident der Frankfurter Nationalversammlung, Karl Fürst von Leiningen als Ministerpräsident der Reichsregierung und Carl Freiherr von Closen als bayerischer Gesandter am Bundestag.248 Der rigide Konservativismus von pfälzischen Neuadeligen wie Ludwig von Gienanth, der eine große Distanz gegenüber der liberalen Freiheits- und Einheitsbewegung nach sich zog, ist freilich ebenso in Rechnung zu stellen.249 Gleiches gilt für die demonstrative Zurückhaltung aller bekannten bürgerlichen Revolutionspolitiker, als 1848 die Adelsdebatte in der Paulskirche zwar mit der Suspendierung aller Privilegien, aber nicht mit einem eindeutigen Bekenntnis zur Aufhebung des Adels endete.250 Vor allem zeichnete sich auch der rechtsrheinische Adel durchaus durch seine politische Heterogenität aus: Die Affinität zum Liberalismus war ebenso evident wie die konservative Grundausrichtung. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts trieb 242 243

316. 244

Soden an seine Frau, 13. April 1873, in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen 733. [Lebenserinnerungen von Soden], 1919, S. 10, in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen

Soden an seine Frau, 14. März 1877, in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen 738. Konrad von Preysing an Franckenstein, 14. November 1888, in: FAU, Politische Korrespondenz 1887 – 1890. 246 Konrad von Preysing an Soden, 22. Oktober 1883, in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen 653; Pfetten an Soden, 20. Februar 1878, Pfetten an Soden, 14. August 1878 und Pfetten an Soden, 27. August 1878, alle in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen 650. 247 Pfetten an Soden, 17. Januar 1885, in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen 655. 248 Brunner, S. 50. 249 Warmbrunn, S. 306 f. 250 Zur Adelsdebatte in der Paulskirche: Wende. 245

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der Unmut über Ludwig I. viele Adelige in die Arme der national-liberalen Bewegung.251 Und auch im deutschen Reichstag lag die Adelsquote unter den bayerischen Abgeordneten der liberalen Parteien zwischen 1871 und 1890 immerhin bei im Schnitt 16,9 Prozent, in der vierten Legislaturperiode sogar bei 26,3 Prozent. Keine andere Landsmannschaft besaß bei den Liberalen einen höheren Adelsanteil. In den konservativen Parteien betrug das Adelsquantum zwar 100 Prozent, allerdings saßen hier auch lediglich vier Abgeordnete zwischen 1871 und 1890 für Bayern im Reichstag. In der Zentrumsfraktion des Reichstags war das Königreich Bayern mit 96 Abgeordneten repräsentiert. 30 von ihnen können dem Adel zugeordnet werden, was einem Anteil von 31,3 Prozent entspricht.252 Damit besaß für den politischen Katholizismus lediglich die Rheinprovinz eine geringere Adelsquote. Gerade der bayerische Zentrumsadel ließ außerdem manifest werden, wie unterschiedlich Konservatismus attributiert sein konnte. Denn dort gab zum einen Vertreter eines entschiedenen Konservativismus wie etwa Carl Freiherr von Ow-Felldorf,253 Sie akzentuierten die monarchische Prärogative. Mit Blick auf den Konstitutionalismus sah man sich ganz klar auf der Seite derjenigen Kräfte, welche „die üblen Folgen dieses unglückseligen Systems nach Kräften abzuwehren und abzuwenden“ trachteten.254 Adelige wie Franckenstein oder Soden stellten demgegenüber die liberalen Züge ihres Konservativismus heraus. Selbstverständlich sollte konservative Parteipolitik auch für sie stets so betrieben werden, „daß die Autorität der weltlichen Obrigkeit möglichst wenig erschüttert werde“.255 Gleichwohl standen sie weiteren Verfassungsfortschritten in Richtung Parlamentarisierung durchaus aufgeschlossen gegenüber, weil ihrer Ansicht nach nur so den Interessen des Konservatismus Geltung verschafft werden könne.256 VI. Schlussbetrachtung Noch einmal: Diese Studie liefert keine pfälzische Adelsgeschichte des 19. Jahrhunderts. Sie zeigt aber die Relativität von Grenzen, welche die Forschung für die bayerisch-pfälzische Gesellschaftsgeschichte immer wieder gezogen hat. So lässt schon die Ausgangssituation des 18. Jahrhunderts wenig eindeutige Verhältnisse offenbar werden: Es lässt sich im Hinblick auf Herrschaftsbeziehungen, Wohlstand und konfessionelle Verteilung eine Grenze zwischen der kurbayerischen und der fränkischen bzw. schwäbischen Adelslandschaft ziehen. Die Pfalz ist mit ihrem ob der Anziehungskraft der kurpfälzischen Residenzstadt Mannheim neu aufblühenden Adelsleben, einer recht gleichmäßigen Verteilung von Reichsständen, immediaten 251 Gollwitzer, S. 163 ff; Dipper, Adelsliberalismus; Dipper, Deutscher und italienischer Adelsliberalismus. 252 Vgl. die entsprechenden Tabellen in Raasch, Der Adel auf dem Feld der Politik. 253 Hartmannsgruber, S. 122 f. 254 Manifest [1889], in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen 514. 255 Manifest [1889], in: BayHstaM, FA Soden-Fraunhofen 514. 256 Hartmannsgruber, S. 123.

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Herrschaften und landsässigem Adel nur schwerlich einzuordnen. Die diversen Auflösungserscheinungen des Alten Reiches trafen alle Teile des späteren Königreiches Bayern. Im Hinblick auf die rechtliche Entwicklung im 19. Jahrhundert fallen die Unterschiede am stärksten aus. Vor allem die Nationalgüterversteigerungen links des Rheins und die teilweise langwierige Wirksamkeit adeliger Beharrungskräfte rechts des Rheins rechtfertigten eine Grenzziehung. In der Substanz geschah in der Pfalz unter französischer Herrschaft indes das gleiche wie zu dieser und in der nachnapoleonischen Zeit im bayerischen Königreich: Privilegienabbau bei staatlichen Konzessionsangeboten. Der Blick auf die Besitzverhältnisse konterkariert eine klare Grenzziehung. Die vermeintlich dem rechtsrheinischen Adel eigentümliche Interdependenz zwischen Verlust und Vermögensausbau steht den pfälzischen Verhältnissen nur bedingt entgegen, da dort die Kontinuitäten zur vornapoleonischen Zeit – faktisch wie phänomenologisch – weitaus stärker sind als bisher angenommen. Besitz und Adel sind in der Pfalz des 19. Jahrhunderts nicht voneinander zu trennen. Das Feld Adel und Bürokratie bezeugt auch für die Pfalz allgemeine Phänomene des 19. Jahrhunderts: Potenzverlust in der Breite, Überrepräsentanz in höheren Ämtern, zum Teil frappierende wirtschaftliche Probleme. Eine Besonderheit bleibt der hohe Anteil von Nicht-Pfälzern in der Verwaltung, aber das ist kein Spezialproblem der Adelsgeschichte. Die Zahl der adeligen Beamten ist in jedem Fall höher als bisher gedacht. In lebensweltlicher Hinsicht ist der Aufbruch der Adelsgesellschaft rechts des Rheins letzthin ebenso markant wie deren Persistenz in der Pfalz. Dass auch Nobilitierte und Bürgerliche zu ihren Trägern avancierten, beschreibt dabei keinen Sonderfall, sondern eine Konstante der neuzeitlichen Adelsgeschichte. Zuletzt soll zumindest kurz die elementare Frage des symbolischen Kapitals angerissen werden. Denn soziale und lebensweltliche Perseveranz ist ja das eine, die Dimension von Macht, Ansehen und Prestige jedoch etwas anderes. Auch hier hat die pfälzische Forschung Pflöcke in den Boden gerammt: Kurt Baumann z. B. spricht ihm das symbolische Kapital weithin ab und zitiert zur vermeintlichen Untermauerung seinen „Kronzeugen“: Oskar von Redwitz. Dieser spricht laut Baumann etwa davon, dass auf dem oberfränkischen Stammgut der Familie die Kinder als „das Baronle“ oder der kleine Baron“ tituliert wurden, während sein älterer Bruder und er in der Pfalz „nur ‘s Redwitze Heinrich und Oskar“ hießen.257 Es ist aber auch hier zu differenzieren: Baumann verschweigt z. B., dass die oberfränkischen Stammgüter der Familie Redwitz wegen der „gedankenlosen Wirtschaft“ des Vaters, der „uebergrosse Ausgaben für Wohlleben Hand in Hand mit Nichtstun und finanzieller Sorglosigkeit“ zu verantworten hatte, für 25 Jahre sequestriert waren und Oskar und sein Bruder dort als Kind nie gelebt haben.258 Baumann erwähnt nicht, dass der als „gereifter Mann“259 für seinen aristokratischen Lebensstil bekannte und angefeindete 257

Zit. Baumann, Adel und Bürgertum, S. 199. Jugenderinnerungen Oskar von Redwitz, S. 2, in: Staatsbibliothek München (im Folgenden: SM), Nachlass (im Folgenden: NL) Redwitz, I,E,1,2,1. 259 Jugenderinnerungen Oskar von Redwitz, S. 29, in: SM, NL Redwitz, I,E,1,2,1. 258

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Oskar von Redwitz260 in seinen Erinnerungen großes Interesse daran hatte, die bürgerlichen Einflüsse seiner Erziehung herauszustellen. Entsprechend sarkastisch äußert er sich wiederholt über die ihm „angedichtete „fedudalaristokratische Erziehung!“261 oder die Bestrebungen, ihn „zum Feudalaristokraten hinaufzuschrauben“262. Es war ihm sehr wichtig, seine „von jeher nicht aristokratisch gefärbte Weltanschauung und Gewohnheit, mich nie für etwas Besseres oder Edleres zu halten“, herauszustellen.263 Zuletzt unterschlägt Baumann den Umstand, dass Redwitz in seinen Erinnerungen ausdrücklich sagt, dass seine Eltern auch in der Pfalz als „Herr Baron und Frau Baronin“ tituliert wurden.264 Bei anderen in- und außerhalb der Pfalz Begüterten, etwa den Gagerns, finden wir denn auch keine Hinweise auf unterschiedliche regionale Einstellungen gegenüber dem adeligen Gutsbesitzer. Der in Briefen, Zeitungsartikeln und lokaler Erinnerungskultur manifest werdende Umgang von Pfälzern mit der Familie Redwitz265, dem „hochverehrten Herrn Baron von Giennanth“266 oder dem allseits geschätzten „Baron“ Alexander Jacomin de Malespine,267 konturiert mitunter ein gänzlich anderes Bild als die bisherige Forschung. Ein substantielles Urteil wird erst gefällt werden können, wenn das lokale Archiv- und Zeitungsmaterial gründlich ausgewertet worden ist. Ich denke: Dieser Beitrag vermag letztlich nicht mehr als zur Differenzierung zu gemahnen. Aber er macht hoffentlich deutlich, dass die pfälzische Adelsgeschichte für künftige Forscher/innen ein fruchtbares Feld darstellt.

260 Redwitz hatte z. B. brieflichen Kontakt mit den Königshäusern Sachsens, Preußens und Bayerns: Briefe, in: SM, NL Redwitz, B. Seine eigenen Kinder wuchsen in Oberfranken „als gleichberechtigte Glieder eines uralten historischen Adelsgeschlechtes“ auf: Jugenderinnerungen Oskar von Redwitz, S. 10, in: SM, NL Redwitz, I,E,1,2,1. Als er sich im Alter in Meran niederließ, erwarb er die „prachtvoll gelegene Villa Möser“, die er erweitert, „mit einer Parkanlage versehen und diese mit einer [ …] in Wien modellierten und in Cararamarmor ausgeführten Colosalbüste Schillers“ geschmückt hatte: Biografische Skizze, S. 3, in: SM, NL Redwitz, I, E, 2. 261 Jugenderinnerungen Oskar von Redwitz, S. 16, in: SM, NL Redwitz, I,E,1,2,1. 262 Jugenderinnerungen Oskar von Redwitz, S. 10, in: SM, NL Redwitz, I,E,1,2,1. 263 Jugenderinnerungen Oskar von Redwitz, S. 14, in: SM, NL Redwitz, I,E,1,2,1. 264 Jugenderinnerungen Oskar von Redwitz, S. 9, in: SM, NL Redwitz, I,E,1,2,1. 265 Vgl. z. B. Adolf Stoll, Arzt aus Bad Dürkheim, Schriftführer des Altertumsvereins an Baronin [Redwitz], 11. u. 26. Februar 1928, in: SM, NL Redwitz, C; Zeitungsartikel, aus Speyer, 1856, in: SM, NL Redwitz, IV, A, 2; Zeitungsartikel, aus der Pfalz, 1891, in: SM, NL Redwitz, IV, A, 3. 266 Vgl. die Anredeformeln im einschlägigen Korrespondenzmaterial des Familienarchivs, z. B. LAS T 89, Nr. 906. 267 http://www.pfaelzischer-merkur.de/region/lokales/art27906,4947272; http://www. rohmuehle.eu/htm/geschichte.htm; http://www.bliesdalheim.de/alexanderturm_baron.htm.

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Archivalien und Literatur Archivalien Bayerisches Hauptstaatsarchiv München - Familienarchiv Aretin, Nachlass Peter Carl von Aretin - Familien Archiv Soden-Fraunhofen, Nachlass Maximilian von Soden-Fraunhofen Frankensteinsches Archiv Ullstadt - Rote Handakten Hessisches Staatsarchiv Darmstadt - Familienarchiv Gagern (O 11) Landesarchiv Speyer - Regierung der Pfalz, Präsidium, Personalakten (H 2) - Regierung der Pfalz, Kammern des Innern und der Finanzen, Personalakten (H 4) - Regierung der Pfalz, Kammer der Forsten, Personalakten (H 6) - Familienarchiv Giennanth-Eisenberg (T 89) - Nachlass Franz Xaver von Zwackh auf Holzhausen (V 29) - Nachlass (Reichsrat von) Buhl (V 148) Staatsbibliothek München - Nachlass Oskar von Redwitz

Literatur Adler, Beatrix: Wallerfanger Steingut. Geschichte und Erzeugnisse der Manufaktur Villeroy Vaudrevange bzw. der Steingutfabrik Villeroy & Boch Wallerfangen, Dillingen 1995. Ammerich, Hans: Landesherr und Landesverwaltung. Beiträge zur Regierung von Pfalz-Zweibrücken am Ende des Alten Reiches, Saarbrücken 1981. Andermann, Kurt: Adel im Pfälzer Raum. Eine Vorbemerkung, in: Adel im Pfälzer Raum, zit. nach http://www.hist-verein-pfalz.de/downloads/363_529.pdf, S. 363 – 366. Aretin, Karl Otmar von: Franckenstein. Eine politische Karriere zwischen Bismarck und Ludwig II., Stuttgart 2003. Asch, Ronald G.: Staatsbildung und adelige Führungsschichten in der Frühen Neuzeit. Auf dem Weg zur Auflösung der ständischen Identität des Adels?, in: Geschichte und Gesellschaft, 33, 2007, S. 375 – 397. Asch, Ronald G.: Europäischer Adel in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung, Köln u. a. 2008. Baumann, Kurt: Die Pfalz und die Französische Revolution, in: Andermann, Kurt (Hg.): Von Geschichte und Menschen der Pfalz. Ausgewählte Aufsätze von Kurt Baumann, Speyer 1984, S. 179 – 197.

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Pfälzer ,Eigen-Sinn‘ – Der Unionsprotestantismus im Königreich Bayern* Von Werner K. Blessing, Erlangen I. Zweierlei Protestantismus Seit der Aufklärung hat sich die christliche Religion in Europa gespalten. Denn als sie, die vor allem auf überliefertem Glauben beruhte, in den Fortschrittssog kritischer Vernunft1 geriet, reagierten ihre Theologen verschieden. Zugespitzt gesagt: Die einen widerstrebten mit ihrer je kirchlichen Tradition ,konfessorisch‘ solcher Modernisierung. Denn diese unterwerfe die geoffenbarte Wahrheit einer rationalen Bildung und hebe in einer Säkularisierungsspirale letztlich das Christentum auf. Andere öffneten sich der Aufklärungskultur und wollten das Christentum mit ihr vermitteln, weil sie in einer neuen Zeit auf die „Zusammenbestehbarkeit“ von Glauben und Wissen (Ernst Troeltsch) bauten. Infolgedessen galten im Deutschland des ,langen 19. Jahrhunderts‘, so Thomas Nipperdey, zwei Protestantismen nebeneinander: ein neuorthodoxer, der biblisch-,positiv‘ zu sein beanspruchte, sowie ein rationalistischer, der liberal und teilweise zum Kulturprotestantismus wurde.2 Beispielhaft lassen sich diese beiden Richtungen, deren Divergenz bis zum „innerprotestantischen Kulturkampf“3 führte, am Protestantismus in Staatsbayern verfolgen. Das Anfang des 19. Jahrhunderts aus Territorien zwischen Inn und linkem Rheinufer gebildete neue Bayern überspannte mehrere Geschichtslandschaften mit je eigener Religionskultur. Das galt besonders für die protestantische; anders als die katholische mit ihren einheitlichen Grundzügen in Verfassung, Lehre und Kult war sie, da im Alten Reich überall in Landeskirchen verfasst, stets territorial geprägt. Zwei Schlaglichter aus der Revolution von 1848/49 – Krisen machen Strukturunterschiede besonders sichtbar – zeigen dies zugespitzt. Der Ansbacher Konsistorialrat Friedrich Heinrich Ranke, ein Bruder des Historikers, veröffentlichte 1849 „Predigten aus dem * Für die hilfreiche Beratung im Zentralarchiv der Evangelischen Kirche der Pfalz, Speyer, danke ich den Damen Dr. Gabriele Stüber, Christine Lauer und Gesine Parzich. Die Belege beschränken sich aus Platzgründen weitgehend auf Titel zur Pfalz und zu Bayern; allgemeine Literatur wird nur vereinzelt angeführt. 1 Zu den geschichtsphilosophischen und historischen Dimensionen des Fortschrittsbegriffs grundsätzlich Ruppert, Idee. 2 Nipperdey, S. 421 – 433; vgl. auch Hölscher, Geschichte, 3. Teil, der im Horizont der Zukunftvorstellungen die protestantische Frömmigkeitskultur entfaltet; Graf, Spaltung; Wagner, Rationalismus; Jacobs; Graf, Kulturprotestantismus; Kantzenbach / Mehlhausen. 3 Hübinger, bes. S. 291 ff.

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Jahre 1848. Ein Zeugniß gegen den Geist der Revolution und des Abfalls von Gott“, um zu warnen „vor dem Wege der Empörung als vor dem Wege des Verderbens“ wie in der Französischen Revolution; nur der Bund von Thron und Altar verbürge die gottgewollte Ordnung. Dagegen sah der Pfälzer Pfarrer Friedrich Theodor Frantz in seiner Zeitschrift „Morgenröthe“ die Revolution als Sieg „der Freiheit in Staat und Kirche “, als Beginn einer „Reformation“, zu der die vor 300 Jahren „nur wie die Einleitung“ erschien. Nachdem „das Eis des geistigen Winters gebrochen“ sei, werde „mit der Freiheit auch das Recht und die Ordnung den Sieg behalten und das Wohl der Völker in der Sonne der Freiheit fröhlich gedeihen“.4 Der Unterschied in der Kirchenreligion war offenkundig. Wir fragen, wie es zu ihm durch die Bedingungen in „Hauptstaat und Nebenstaat“5 kam, welche Typen sich im 19. Jahrhundert daraus entwickelten und wie sie sich zueinander verhielten, was dies jeweils für die Kirche bedeutete und auf welche Weise beide auf die Bevölkerung wirkten. Letzteres, von dem man bisher wenig weiß, suchen wir in Pfarrbeschreibungen und Berichten von Physikatsärzten – diese aus den 1860er Jahren, jene aus dem Vormärz, den 1850er, 1870er, 1890er und 1910er Jahren – zu fassen. Auch wenn solche von Staat und Kirche normierten Quellen die Realität nicht direkt abbilden, zudem unterschiedlich aussagekräftig sind, zeigen sie nicht nur das Kirchenhandeln, sondern lassen im Vergleich auch typische Züge kollektiver Mentalität aufscheinen.6 Dabei geht es im Folgenden nur um die Sphäre kirchlich verfasster oder beeinflusster Religion, nicht um alternative Formen von Frömmigkeit. II. Vorgeschichte: eine trikonfessionelle Region im Alten Reich Im rechtsrheinischen Bayern – künftig kurz Bayern – gab es Protestanten in relevanter Zahl, schließlich ein Viertel der Einwohner, erst seit Anfang des 19. Jahrhunderts.7 Im Untergang des Alten Reiches und durch die napoleonischen Kriege gewann Kurbayern, ein Land ausschließlicher Katholizität, lutherische Territorien des Fränkischen und des Schwäbischen Reichskreises, deren politische Räson und gesellschaftliche Identität gleichfalls in der Konfession gründeten: die Markgraftümer Ansbach und Bayreuth, mehrere Grafschaften, Reichsstädte, voran Nürnberg, zahlreiche Reichsritterherrschaften sowie ein paar Kleinstterritorien in Ober- und Niederbayern. Die Bikonfessionalität wurde ein bis heute wirksamer Grundzug des

4 Ranke , S. V; „Die Morgenröthe, protestantisches Kirchenblatt für denkende Leser aller Klassen“, hg. von Friedrich Theodor Frantz, Landau 1846 – 1848, 1. 4. 1848, zit. nach Scherer, Kirche, S. 110 f. 5 Unter diesem Titel dokumentiert und anlysiert Haan die für den Sonderstatus der Pfalz grundlegenden Entscheidungen des Ministeriums Montgelas 1815 – 1817, bes, S. 28 – 36. 6 Zum Aussagewert der Physikatsberichte grundsätzlich Reder, S. 439 – 445. 7 Beiträge zur Statistik 1, S. 28.

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neuen Bayern, vor allem in Franken; er wird hier jedoch nicht weiter verfolgt.8 Dass die Markgrafen Reformierte, vorwiegend Hugenotten, mit den Lutheranern gleichgestellt sowie Katholiken, die durch Geschäfte oder Dienst in ihre Länder kamen, Toleranz gewährt hatten, wog wenig; beide Gruppen waren sehr klein, die Katholiken zudem minderberechtigt.9 Gleichen Status hatten Lutheraner und Katholiken lediglich in einigen Reichsstädten, voran Augsburg, in einer Reihe fränkischer Kondominatsdörfer, wo das Herrschaftsgemenge bis in die Siedlungen reichte, und durch das Simultaneum in drei kleineren Territorien gehabt.10 Die Regel war das Nebeneinander konfessioneller Territorialgesellschaften gewesen, die, auch wenn zum Teil verzahnt, starke Kulturhorizonte zogen. In der Pfalz hatte man andere Erfahrungen. Das nach dem Wiener Kongress zum bayerischen Rheinkreis gewordene Gebiet – es umfasste, obwohl mit 7,3 Prozent der Staatsfläche der kleinste Kreis, 44 Territorien und Territoriensplitter von 35 Herrschaften des Alten Reiches11 – war konfessionell durchmischt gewesen wie im Reich nur noch die Herzogtümer Jülich-Berg-Kleve-Mark am Niederrhein, mit häufig bis auf die lokale Ebene bi- oder trikonfessionellen Territorien. Weitgehend altkirchlich hatten sich nur kleinere Gebiete gehalten: in der Vorderpfalz das, was von den Hochstiften Speyer und Worms an Bayern gekommen war, ein Deutschordensgebiet um Oberlustadt und die Probstei Weißenburg sowie im Südwesten die von der Leyen-Herrschaft Blieskastel. Die meisten Territorien hatten Luthers Reformation, dann jedoch den Calvinismus angenommen, aber waren bald gemischt geworden. Das Herzogtum Zweibrücken hatte zeitweise wieder eine lutherische Herrschaft gehabt und in der Kurpfalz hatte der irenische Karl Ludwig – der bereits eine Vereinigung beider Bekenntnisse anstrebte12 – zum Wiederaufbau nach dem Dreißigjährigen Krieg Lutheraner angeworben. Das war auch theologisch vorbereitet: Gerade von der durch die lutherischen Territorien im Reich bedrängten Kurpfalz aus hatten Reformierte seit dem späten 16. Jahrhundert mit dem Integrationsbegriff „Protestanten“ beansprucht, trotz unterschiedlicher Bekenntnisschriften aufgrund gemeinsamer Fundamentalartikel gleichfalls zu den „Augsburgischen Konfessionsverwandten“ zu gehören.13 Auch in kleinen Herrschaften wie Landstuhl – Reichsritter Sickingen – waren durch den Wechsel von der lutherischen zu einer reformierten Linie oder 8 Spindler / Diepolder, Karten 28b, 34, 35, S. 94, 104 – 108; Simon, Kirche, S. 11 – 15, Karte 2; Böttcher, Entstehung, S. 1 – 3. Zur Bikonfessionalität Frankens jetzt der konzise Problemabriss von Seiderer. 9 Brandmüller; Endres, Staat, S. 484 – 490; Sparn, Kirchenleitung, S. 129 f. 10 Reichsstädte: Augsburg und Dinkelsbühl waren paritätisch, die lutherischen Städte Regensburg, Memmingen, Lindau von geistlichen Herrschaften oder Klöstern durchbrochen, Kempten war in Reichsstadt und Stiftsstadt geteilt. Simultaneum: Herzogtum Sulzbach, Grafschaften Schwarzenberg und Wertheim. Spindler / Diepolder, S. 94; Francois; Wappmann, bes. S. 77 ff., 249 ff.; Endres, Staat, S. 476 f. 11 Alter, Pfalzatlas, Textbd. III, S. 1456 f., Karten 112 – 115. 12 Benrath, Kirchenvereinigung, S. 12 – 18. 13 Witt, bes. S. 257 ff.

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wie in der lutherischen Grafschaft Leiningen durch die Aufnahme andersgläubiger Protestanten in den Verheerungen des Pfälzischen Krieges 1689 die Konfessionen vermischt worden. Mancherorts lebten zudem schon seit dem 16. Jahrhundert glaubensvertriebene Wallonen und Mennoniten.14 Doch am folgenreichsten war das Eindringen katholischer Gemeinden gewesen. Ludwig XIV. hatte sie während jenes Kriegs im zeitweise okkupierten Westteil des Zweibrücker und des kurpfälzischen Territoriums, im besetzten Teil der Kurpfalz sowie in weiteren Herrschaften oktroyiert und im Frieden von Rijswijk – gegen die Reichsverfassung – samt Simultaneum gesichert; die seit 1690 regierende katholische Linie Pfalz-Neuburg hatte sie dann mit Hilfe der Jesuiten weiter vermehrt. Auch waren die bisher dominierenden Reformierten politisch und gesellschaftlich gedrückt worden, behielten allerdings immerhin einen Teil ihres Kirchenguts. Da hingegen die Lutheraner, die sich, als ihre Zahl wuchs, vom reformierten Kirchenwesen trennen konnten, leer ausgingen, hatte ihr erbittertes Ringen um Gleichstellung auch die Protestanten entzweit.15 So war die Bevölkerung auf engem Raum dreifach und konfliktreich und in der katholischen Sakrallandschaft – Feldkreuze, Kapellen, Wallfahrten – auch ostentativ durch den „Fundamentalvorgang“ der Konfessionalisierung16 gegangen. In diesem Raum behielt daher das Bekenntnis auch nach dem Konfessionellen Zeitalter einen Bedeutungsüberhang und polarisierte mehr als meist sonst im Reich kulturell, sozial, politisch. Die vielerorts vom Vieh-, Waren- und Grundstückshandel lebenden Juden beeinflussten den innerchristlichen Dissens offenbar kaum.17 Diese Konstellation wurde durch die Aufklärung, die in der Pfalz wie allgemein an den Ufern des Rheins eine rege Öffentlichkeit schuf und Resonanz bis unter die einfachen Leute fand18, erheblich verändert: Reformierte und Lutheraner kamen sich trotz der institutionellen Konflikte religiös näher, seit von den Universitäten eine neue Theologie für einen mit der Vernunft versöhnten Glauben wirkte. Er sollte vor allem zu tugendhaftem Leben für die „Verbesserung“ der ,Welt‘ anleiten. Das drängte in beiden Kirchen bekenntnisspezifische Dogmen und Riten zurück, die Gottesdienste glichen sich an, ja in Pfalz-Zweibrücken war geplant, Katechismus und 14 Überblick bei Braubach, S. 234 – 236; Heyen, S. 31 – 94; Schaab, Kurpfalz Bd. 2; Schindling / Ziegler; Warmbrunn, Pfalz-Zweibrücken. Zur konfessionellen Topographie detailliert Medicus, 1.–3. Abtheilung; zur Raumbildung durch Konfession vgl. Wolgast, bes. S. 170 – 172; Kohnle, S. 173 – 177. Zu Landstuhl z. B. Pfarrbuch Großbundenbach: Zentralarchiv der Evangelischen Kirche der Pfalz Speyer [ZASP], Abt. 5, 280. 15 Mayer, S. 157 – 211; Medicus, S. 78 – 81, 100 – 102; von Raumer; Schaab, Kurpfalz, S. 149 ff.; Hans, Religionsklausel; von Aretin; Warmbrunn, Simultaneen; Warmbrunn, Vorherrschaft; Maesel; Benrath, Kirchenvereinigung, S. 18 – 23; Schaab, Katholiken; Wiegand. 16 Schilling, S. 6; Rödel. 17 Anschaulich zur Gegenreformation z. B. Benrath, Kirchen. – Zur Vielfalt z .B. Otterberg, wo 1832 1080 Katholiken, 2301 Protestanten, 48 Mennoniten, 84 Juden lebten (Pfarrbuch Otterberg: ZASP Abt. 5, 691). 18 Dichte Studien über Ideen, Gesellschaften, Journale in Kreutz, Aufklärung.

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Gesangbuch zu vereinheitlichen, und Pfarrer vertraten sich manchmal gegenseitig. So erfuhren Lutheraner und Reformierte in den vielen gemischten Orten protestantische Gemeinsamkeiten und konnten ihren Umgang von Glaubensdivergenzen entlasten.19 Umso mehr, als alle religiöse und das hieß konfessionelle Orientierung überhaupt vom säkularen Aufklärungswissen der Journale, Bücher, Lesegesellschaften, das sehr zunahm, zurückgedrängt wurde. Das brachte die Protestanten auch den Katholiken näher, zumal sich deren Religionsstil durch aufgeklärte Bischöfe gleichfalls zu verändern begann, besonders die für Reformierte sehr befremdende barocke Sinnlichkeit in Kirche und frommem Brauch beschnitten wurde. Dennoch war das Eindringen der Katholiken in einem verheerenden Krieg unvergessen. Und ihre Prädominanz erbitterte in der Kurpfalz unvermindert, ja stieg durch Eingriffe der katholischen Herrschaft in die Selbstverwaltung der reformierten Kirche noch.20 So trennte Katholiken und Protestanten, auch wenn sie vielerorts in Nachbarschaft und Arbeit praktisch verbunden waren, doch Wesentliches – von den Heiratskreisen bis zu kulturellen Traditionen, die bereits in typischen Vornamen aufschienen. In den mannigfachen Konflikten um Simultankirchen äußerte sich das nur zugespitzt.21 Die Konstellation des 19. Jahrhunderts, in der die Protestanten vereint gegen die katholische Sphäre standen, zeichnete sich bereits ab. III. Umbruch: Kirchenverfassung und Kirchenleben unter Franzosen und in Montgelas-Bayern 1. Kirchenbildung nach der Revolution oder durch Reform Um 1800 näherten sich links des Rheins Reformierte und Lutheraner rascher, als dies aufgeklärte Köpfe hätten bewirken können. Zwar hatte in den größeren Territorien schon der forcierte Herrschaftsausbau des 18. Jahrhunderts, als die „Polizey“ in die kirchliche Gesinnungsprägung der Untertanen eingedrungen war, mentale Muster überformt.22 Aber erst die tiefe Erschütterung der vertrauten Lebenswelt während der zwei Jahrzehnte unter der Gewalt Frankreichs – ab 1792 im wechselvollen Kriegstheater zwischen den Revolutionsarmeen und ihren monarchischen Gegnern, seit 1797 in der Republik, dann im Empire – löste Bekenntnisschranken auf.23 Denn mit der Feudalherrschaft gingen Fürstenregiment und Adelspatronat über die Kirchen unter; zugleich brach der Vorrang der Katholiken in der Kurpfalz ab. Nicht we19

Jung, Gottesdienst, S. 46 – 66, bes. 63; Benrath, Pfalz I, S. 328. Zur Unterdrückung tradierter Zeichen und Riten Stamer, S. 156 ff. (einseitig aufklärungskritisch); ein präzises Beispiel für Motive, Mittel und Grenzen der Einschränkung frommen Brauchs aus dem nahen Kurtrier Heinz, Ende. Benrath, Kirchenvereinigung, S. 18 ff. 21 Warmbrunn, Vorherrschaft, S. 118 f. 22 Schunk, S. 21 ff.; Benrath, Kirchenvereinigung, S. 18 ff. 23 Die im Vergleich zum rechtsrheinischen Bayern auffallende kulturelle Nivellierung sahen noch Mitte des 19. Jahrhunderts Kantonsärzte als Folge der Umbruchszeit, z. B. in Kirchheimbolanden (Schmidt, Sonderberichte, S. 401 f.). 20

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nige Pfarrer und Presbyter begeisterten sich zunächst mit Bürgern und Bauern für das Freiheits- und Gleichheitsversprechen der Revolution, besonders im Umkreis der Mainzer Republik und des Landauer Jakobinerclubs; ja, einige exponierten sich bei lokalen Unruhen.24 Allerdings verging vielen die Befreiungseuphorie durch den Besatzer-„Zwang zur Freiheit“ und besonders mit den Kriegsverheerungen: 1793/94, in der „schrecklichsten Plünderungszeit“25, wurden Pfarrer vertrieben, Kirchen dem Vernunftkult übergeben, Glocken, das wirksamste Medium der Gemeindeidentität26, geraubt, so dass es vielerorts kaum mehr Kirchenleben und Schulbildung gab. Das trug wesentlich zu einer breiten „Entzivilisierung“ bei.27 Aber die Gemeinden lernten auch, da sie im Zerfall von Staatsmacht und Eigentumsordnung jahrelang auf sich verwiesen waren, eine Selbstverfügung, aus der sich die „partizipatorische Struktur“ der pfälzischen Kirche im 19. Jahrhundert mit erklärt. Viele Pfarrer verloren an Autorität, da sie nach dem Verlust des Zehnts und der Pfarrgüter von ihren Gemeinden notdürftig unterhalten werden mussten. Weil nicht wenige Menschen trotz der Bedrängnisse an den Ideen von 1789 festhielten, bahnte sich eine breite liberale Gesinnung an, für die nicht zuletzt „politisierende Pfarrer“ wirkten. Außerdem nährten scharfe Auseinandersetzungen zwischen Anhängern der französischen Herrschaft und widerstrebenden Gruppen, denen vor allem die kalvinistische Widerstandslehre Antrieb gab, eine Konfliktbereitschaft, welche auch im Religiösen bis über die Mitte des 19. Jahrhunderts virulent bleiben sollte.28 In mehrfacher Weise wurde so die Umbrucherfahrung der 1790er Jahre zukunftsprägend. Ein geregeltes Kirchenleben kehrte erst unter Napoleon wieder. Nach der Räson des modernen paritätischen Staates – der die Lutheraner auch materiell mit den Reformierten gleichstellte – wurden über die territoriale und lokale Vielfalt mit den Départements, hier großenteils Donnersberg, zwei einheitliche, schematisch in die Gemeindeverbände der consistoires gegliederte Kirchen gelegt.29 Dass sie dem religiösen Blick in diesem geographisch wie kulturell offenen Gebiet ohne Zentrale gleichförmige Ordnungsstrukturen einprägten, trug nicht wenig zu einer rheinischen Regionalidentität bei, die dann politisch auf Rheinbayern umgrenzt wurde: Auch die 24 Allgemein Alter, Pfalzatlas, Textbd. III, S. 1458 – 1467, Karte 112 (Ludwig Schütte, Franz Dumont); Kreutz, Freiheitsbaum; Überblicksskizze bei Hartmann, S. 456 – 459; Schunk, Kap. III, der eindrucksvoll die mentale Dimension aufschließt; zu Zweibrücken Jung, Kirche, S. 4 – 48; präzise Abrisse bei Stüber, S. 46 (Erich Schunk), 48 (Michael Martin), 50 (Karl Scherer); Medicus, S. 109 ff.; Mayer, S. 211 – 216; Bonkhoff, Revolution. Die Unruhen speisten sich nicht selten aus alter lokaler Konfliktlatenz, etwa zwischen Konfessionen oder um die Jagd, die nun durch politische Schlagworte aufgereizt wurde. 25 Alter, Pfalzatlas, Textbd. III, S. 1464 (Zit.); Pfarrbuch Münchweiler 1867: ZASP Abt. 5, 610 (Zit.). 26 Die raumschaffende und gemeinschaftsbildende Funktion der Glocken lotet an Frankreich Corbin aus. 27 Schunk, S. 263 – 303 (Zit. 272). 28 Stüber, S, 46, 48 (Erich Schunk, Karl Scherer) (Zit.). Z. B. Benrath, Kirchen, S. 18 ff.; Bonkhoff, Quellen, S. 741 f.; Ruppert, Vereine, S. 140. 29 Medicus, S. 112 66 f.; Alter, Pfalzatlas, S. 1471 – 75.

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Neuformierung protestantischer Kirchenreligion bahnte den Horizont ,Pfalz‘ mit an.30 Da die Kirchen ohne wirksame Zentralinstanzen waren und auch die Bürokratie wenig eingriff, wenn sie nur ihr Interesse an der Religion – Anleitung zu Bürgertugend, Staatsloyalität und Napoleonverehrung – gesichert sah, wurden Gemeindeleben wie Pfarramt ungewöhnlich eigenständig.31 Zugleich lockerte sich die allgemeine Kirchenbindung sowohl durch die Einführung der Zivilehe und kommunaler Zivilstandsregister, die den Kirchen eine fundamentale Ordnungsfunktion nahm32, als auch infolge der ,verweltlichenden‘ Wirkung der französischen Verwaltung auf Einstellungen und Lebensformen. Innerhalb der Kirchen bildete sich eine neue Laienelite aus lokalen, in Revolution und Empire aufgestiegenen Notabeln, bürgerlichmittelständisch, aufgeklärt und vom Rechts- und Verwaltungssystem des Empires überzeugt. Dies hinderte sie freilich nicht, als Napoleons Militärdiktatur zunehmend drückte, ein Ende der ,Fremdherrschaft‘ zu ersehnen und sich einem frühen Nationalismus hinzugeben. In solche Ambivalenz – Affinität und Aversion – gerieten etwa auch die dem Grand Orient de France in Paris unterstellten Freimaurer in Worms, Frankenthal, Speyer, deren Kultur kräftig in die Kirchensphäre wirkte. Insgesamt wurde die Religion in dieser aus der Revolution formierten Kirche individueller, ,weltbezogener‘, auf gemeindliche Selbstbestimmung gestellt und damit auch politischer.33 Rechts des Rheins verlief die Kirchenbildung wesentlich anders. Zwar war sie gleichfalls durch Frankreichs Expansion ausgelöst: Vom Reichsdeputationshauptschluss über Napoleons Friedensdiktate bis zum Wiener Kongress addierten sich zwischen 1802/03 und 1814 90 lutherische Territorialkirchen zur „protestantischen Gesammtgemeinde“ des neuen Bayern. Aber das geschah legal durch Beschlüsse oder Verträge34 – so, wie Staatsbayern im Innern generell bei aller einschneidenden Modernisierung nicht revolutionär entstand, sondern, in wichtigen Elementen vom Reformabsolutismus des 18. Jahrhunderts vorbereitet, weiterhin durch das Monarchische Prinzip traditional legitimiert wurde und einen starken feudal-ständischen Überhang besaß.35 Den nun zusammenorganisierten Kirchen blieb denn auch eine 30

37.

Vgl. Haan, Hauptstaat, S. 16 ff.; Ortlepp; Kreutz, Identitätsbildung; Applegate, S. 33 –

31 Verfasst wurden beide Kirchen durch die Articles organiques des cultes protestants vom 18. Germinal X (8. 4. 1802). Alter, Pfalzatlas, Textbd. III, S. 1471 – 1475, Karte 113 (Volker Rödel); Stüber, S. 56 (Karl Scherer); Medicus, S. 112 f.; Mayer, S. 216 – 220; Jung, Kirche, S. 91 – 127; Schunk, S. 308 – 63. 32 Der Revolutionskalender hingegen, der christliche Zeitrechnung und Kirchenjahr ersetzte, galt nur bis 1805. 33 Stüber, S. 52. (Christine Lauer); Kreutz, Freiheitsbaum, S. 55 (Zit.); Schunk,S. 344 – 363; Cannawurf, S. 53 – 65; Fenske, Rheinbayern, S. 47 f.; Gollwitzer, Landschaft, S. 533 ff. – Vgl. z. B. für Neustadt Dotzauer. 34 Vgl. Anm. 6. Die Gesamtgemeinde konnte sich ab 1824 Kirche nennen; 1830 bestand sie aus 985 Pfarreien mit 1150 Geistlichen (Fuchs, S. 5). 35 Es entstand in einem Prozess ,gedrängter Evolution‘, gedrängt in dem doppelten Sinn von autoritär angetrieben und zeitlich zusammengedrängt. Vgl. Blessing, Evolution.

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erhebliche Kontinuität; sie gerieten, obgleich oft bedrängt, in keinen Umsturz wie – so ein Bayreuther Konsistorialrat – die „Schwestergemeinden im Rheinkreise“, die „weit Härteres … erfahren haben, als wir andern alle“.36 Die Gemeinden behielten mit Patron, Pfarrer, Kirchengut im Wesentlichen ihre Gestalt, die Landeskirche war mit Kirchenregiment, Konsistorialprinzip und Bekenntnisschriften grundsätzlich wie die bisherigen lutherischen Territorialkirchen verfasst. Und die acht reformierten Gemeinden wurden schlicht eingegliedert.37 Neu war allerdings der Rahmen: ein paritätischer Staat, der Katholiken, Lutheranern und Reformierten bürgerliche Gleichheit garantierte38, freilich katholisch dominiert war und einem katholischen König als summus episcopus unterstellte. Er verband – aufgrund des seit dem 18. Jahrhundert durchweg herrschenden Territorialismus‘ – mit der allgemeinen Kirchenhoheit auch die Kirchenleitung, welche in der universalen Römischen Kirche Papst und Bischöfe ausübten. Sie wirkte durch ein Oberkonsistorium im Innenministerium über Konsistorien bei den Kreisregierungen in Ansbach und Bayreuth und die Dekanate systematisch und gleichartig bis zu allen Pfarreien. Neben dem Kirchenregiment erhielten die Generalsynoden, in die beiden Konsistorialbezirke getrennt, als lediglich beratende, von einem Mitglied des Oberkonsistoriums „dirigierte“ Organe nur schwache Mitsprache.39 Es war eine von der Bürokratie rasch organisierte und von dem Theologen Friedrich Immanuel Niethammer mit großem Einsatz praktisch und spirituell ausgebaute Landeskirche, die eine heterogene Kirchenlandschaft vereinigen sollte. Ein Hauptmedium war ein aus den neueren territorialen Büchern 1814 sorgsam erstelltes Gesangbuch, das im Geist milder Aufklärung neben Liedern in deren Stil auch solche des 16. und 17. Jahrhunderts enthielt, freilich meist modern „verbessert“. Doch die Traditionsräume wuchsen nur allmählich zusammen.40 Denn schon die gewohnten Kirchenhorizonte differierten vom Markgraftum Ansbach mit 241 Pfarreien und dreistufiger Verwaltung bis zu Kleinstterritorien mit direktem Kirchenregiment eines Reichsritters über ein, zwei Pfarrer. Der Stil der Religiosität variierte mannigfach – räumlich nach territorialen Gesangbüchern, Katechismen, Agenden und Kulttraditionen, etwa bei der ganz unterschiedlich eingeführten Konfirmation, pastoral zwischen spätorthodoxen, pietistischen und aufgeklärten Mustern für Predigt, Liturgie und Kirchenzier.41 Ungleich, 36

Kaiser, Predigt, S. 6. Böttcher, S. 1 – 19; Henke, Anfänge; Heron, S. 581. Zu Nürnberg z. B. Geyer. bes. S. 124 – 131. 38 Das Verhältnis von individueller Religionsfreiheit und dem Recht zu öffentlicher Religionsausübung diskutiert allgemein für den Deutschen Bund de Wall, Religionsfreiheit. 39 Pfeiffer; Beck, S. 160 – 163; Link, Summepiskopat, S. 20 – 27; Böttcher, Summepiskopat; Blessing, Summus episcopus; Hübner, Konsistorium. Allg. vgl. Link, Territorialismus, sowie de Wall, Kirchenregiment. 40 Ausgewogen Keller; Henke, Niethammer. 41 Simon, Kirchengeschichte, S. 542 – 545 listet die zahlreichen Agenden, Gesangbücher und Katechismen auf, die in einer ,Verbesserungswelle‘ seit der Mitte des 18. Jahrhunderts neben ältere traten oder sie ersetzten; auch Symbolakte wie das Augustana-Jubiläum 1730 37

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oft von Ort zu Ort, war zudem der Usus beim Gottesdienstangebot wie bei Kirchenbesuch und Abendmahlsfrequenz, also das Wirkungspotential.42 Nicht wenige herkömmliche Formen hielten sich noch Jahrzehnte; der Einheitstalar etwa setzte sich erst nach der Jahrhundertmitte durch. Außerdem blieb die Staatskirche an der Basis durchlöchert. Denn in über einem Viertel der Pfarreien galt das Patronatsrecht von Adeligen oder Stadtmagistraten mit ihrem Einfluss auf das kirchliche Leben weiter.43 Obgleich die Spätaufklärung links und rechts des Rheins den großen Rahmen gab, entstanden aufgrund der jeweiligen Geschichte und durch das aktuelle politische Schicksal ganz unterschiedliche Kirchen, die in ihrem Religionsstil stark divergierten und nach innen und außen verschieden wirkten. 2. Die Union als Hort des Rationalismus Die Protestanten des Rheinkreises – knapp 55, 1825 dann gut 56 Prozent der Bewohner –, kamen also 1815/16 in zwei Konfessionen, 57 Prozent Reformierte, 43 Lutheraner, zu einer fast geschlossen lutherischen Landeskirche.44 Doch gegenüber deren Konglomerat hatte bei ihnen die gemeinsame Franzosenzeit in einem Maße Traditionen verdrängt, an eine überterritoriale Verfassung gewöhnt und gleichermaßen zu einer spezifischen Religiosität disponiert, dass strukturell wie mental eine Vereinigung nahelag, welche Theologen, Publizisten, auch Fürsten bereits seit dem 17. Jahrhundert angedacht, im 18. angestrebt hatten.45 Sie wurde zudem gesellschaftlich begünstigt. Denn in der überschaubaren Region, wo Pfarrer, Beamte, Honoratioren häufig verwandt oder befreundet waren, wirkte eine dichte bürgerliche Öffentlichkeit. Und bei den einfachen Leuten nahm mit der Erschütterung der gewohnten Verhältnisse das in engen Lebenswelten übliche Widerstreben gegen Neuerungen ab. So drängten Gemeinden zum Zusammenschluss der Konfessionen, als in Bayern erst die staatsgelenkte Angleichung innerhalb einer Konfession begann. Auch auf diesem Feld war Rheinbayern moderner. Zwar gab der Staat, als er 1816 Reformierte und Lutheraner in Gemeindeverbänden neu organisierte, durch ein paritätisches Konsistorium in Speyer eine Verwaltungsunion vor. Aber entscheidend wurde eine breite Vereinigungseuphorie in den Gemeinden, die – nach dem Vorbild mehrerer lokaler Zusammenschlüsse seit 1805 – vom Reformationsjubiläum 1817 ausging, das vielerorts bereits in ein gehatte man z. B. in den Markgraftümern Ansbach und Bayreuth ganz verschieden begangen. Fuchs, S. 5 – 11, 45 – 54; Blessing, Staat, S. 43 – 46. 42 Z. B. Pfarrbeschreibung des Bayreuther Kirchenkreises 1810/11, Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayerns (LAELKB) OKM 57 b; ebd. Kons. Bayreuth 1199 I und 4214 I. 43 Simon, Priesterrock; Fuchs, S. 5; Hense / Sepp. 44 Kolb, S. 6, Rudhart, Bd. 1, Beilage XXVIII. Detailliert zur Konfessionsverteilung von 1840 (vorher fehlen differenzierte Daten) bis 1910 Mayer, S. 61 – 68. 45 Vgl. Stüber, S. 42 (Werner Schwartz), Benrath, Pfalz I, S. 328. Allg. Beyer / Schäufele / Stiewe, S. 319 – 322.

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meinsames Abendmahl mündete.46 Sie nährte sich auch aus der allgemeinen Aufbruchsstimmung jener Jahre, in der das Friedensglück nach vielen Kriegsnöten, eine Beruhigung nach den politischen Umbrüchen und die Dankbarkeit über das Ende schwerer Hungersnot verschmolzen. Das weckte gleichgerichtete Zukunftshoffnungen und stärkte Gemeinsamkeiten.47 Zudem waren die Nachbarn Nassau und Preußen mit der Kirchenvereinigung vorangegangen, Preußen allerdings nur in einer vom König initiierten Verwaltungsunion. Es gab zahlreiche „spontane Unionen“48 wie etwa in Edenkoben „Eine und Ebendieselbe Religions-Gemeinde … die sich auf den reinen Sinn und Geist des Protestantismus gründet, wie solcher im Anfange der Reformation, nach dem Evangelium sich ausgesprochen hat“. Ein Tableau zum Reformationsfest in der Landauer Stiftskirche setzte dies ins Bild: Luther, Melanchthon, Zwingli und Calvin unter religiösen und säkularen Emblemen, unter Kreuz und Kelch, Lorbeerkranz und Lichtsymbol.49 Der allenthalben um homogene Strukturen bemühte Montgelasstaat nahm dies mit „besonderem Wohlgefallen“ auf50 und ließ 1818 eine allgemeine Befragung der Gemeinden zu, die, wenn auch uneinheitlich durchgeführt, eine starke Mehrheit für den Zusammenschluss ergab.51 Eine gemeinsame Generalsynode beschloss die „Wiedervereinigung beider bisher getrennten protestantischen Confessionen“ in der „Protestantisch-evangelisch-christlichen Kirche“ im Rheinkreis als Konsensunion, also in der weitest gehenden Form gemäß dem in der Kurpfalz seit dem 16. Jahrhundert gehegten Integrationsbegriff „Protestantismus“. Es gab zwar durchaus Widerstände von Pfarrern oder Gemeinden, teils aus Sorge um Einkünfte und Kirchengut, teils bei Lutheranern wegen der Preisgabe vertrauter Kultformen, die besonders beim Abendmahl glaubenswichtig schienen. Doch sie gingen im Konformitätsdruck dieser Bewegung unter.52 Nicht selten wurden zur Union Glocken gestiftet, die bei frommen und profanen Anlässen wieder einen Klangraum über die Gemeinden brei-

46 Ebd., S. 323 – 327. Medicus, S. 113 (unionskritisch, da neulutherischer Blick); Mayer, S. 232 ff. (liberal). 47 Berichte z. B. bei Schnauber / Bonkhoff, S. 16 – 19. 48 Stüber, S. 60 f. (Sonja Schnauber) (Zit. 60) mit Karte der Lokalunionen (gehäuft im Südosten und Westen). Vgl. Müller, Vorgeschichte, S. 345 ff., Anhang 59 – 93; Schnauber / Bonkhoff, S. 38 – 56. 49 Erklärung der beiden Konfessionen am 17. Dez. 1817, in: Pfarrbeschreibung Edenkoben 1836: ZASP Abt. 5, 159; Weber, Luther-Denkmäler, S. 201. Witt. 50 Amtsblatt der Regierung des Rheinkreises 1818, S. 148 ff. 51 Die Befragung wurde von den Kanzeln verkündet und nach Listen der Familienväter meist in den Rathäusern durchgeführt, z. B. Pfarrbeschreibung Herxheim 1833, ZASP Abt. 5, 33. Schnauber / Bonkhoff, S. 63 – 92. 52 Ebd. S. 57 – 63, 95 – 225; Bonkhoff, Geschichte 1818, S. 4 – 32; Stüber, S. 62 – 68 (Werner Seeling, Sonja Schnauber); Medicus, S. 114 – 120; Mayer. S. 240 – 44; Seeling; Schnauber, Personen; Sopp (anregend, doch nicht immer überzeugend). Anschaulich beschreibt Benrath, Beispiel den herausragenden Fall Speyer. Zur „Wiedervereinigung“ vgl. auch Wand, S. 52 ff.

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teten.53 Alle früheren Horizonte waren eingeebnet: Jedes der 15 Dekanate – die Stadtpfarrei Speyer unterstand direkt dem Konsistorium – umfasste Pfarreien beider Bekenntnisse, die im Alten Reich oft zu drei, vier oder mehr Herrschaften gehört hatten.54 Waldfischbach nördlich Pirmasens etwa bestand aus je zwei Orten der vorwiegend reformierten Kurpfalz, der lutherischen Grafschaft Hanau-Lichtenberg und der katholischen Herrschaft Gräfenstein.55 In der Landeskirche, die auch einschließlich der Pfalz zu fünf Sechsteln lutherisch und im bayerischen Teil konsistorial verfasst war, bildete diese presbyterial-synodale Union mit partizipatorischem und egalitärem Anspruch faktisch eine eigene Kirche. Ihre Meinungsführer legten die Vereinigungsurkunde so aus, dass nur die Generalsynode das Recht habe, „über kirchliche Lehren zu erkennen“ – Konsistorium und Oberkonsistorium seien lediglich „vollziehende Behörden“.56 Und in den Gemeinden übten die Presbyterien durch Finanzaufsicht und sittlich-religiöse Kontrolle eine wesentliche Mitbestimmung aus. Konfliktträchtig stand diese Union zwischen Kollegialismus und Territorialismus.57 Umso mehr, weil sie sich theologisch nur auf das Neue Testament und auf Vernunft und Gewissen gründete.58 Die Vorrede der Vereinigungsurkunde beschwor Freiheit und Fortschritt als Grundprinzipien des Protestantismus, zu dessen „innersten und heiligsten Wesen“ es gehöre, „immerfort auf der Bahn wohlgeprüfter Wahrheit und ächt religiöser Aufklärung, mit ungestörter Glaubensfreiheit muthig voranzuschreiten“. Um das Kirchenleben nicht durch starre Regeln zu beengen und die „Nachwelt“ an „unabänderliche Normen“ zu binden, verzichtete man auf die symbolischen Bücher, sah keine Agende mehr vor und löste die Pfarrer für ihre Predigten weitgehend von den Perikopen.59 Als das Oberkonsistorium, das mit lutherischem Blick eine Kirche ohne Bekenntnisschriften nicht akzeptieren konnte, im Namen des Königs Einspruch erhob, nahm die Generalssynode 1821 die symbolischen Bücher beider Konfessionen – Confessio Augustana, Luthers kleinen Katechismus und den Heidelberger Katechismus – „in gebührender Achtung“ auf, doch nicht als „Glaubensgrund“, ohne „bindende Verpflichtung auf den Buchstaben“. Vielen Gemeinden ging auch das zu weit; „keine protestantische Kirchenrechtsbehörde darf […] den Gemeinden ihr Glaubensbekenntnis vorschreiben, weil wir keine alleinlehrende infallible Hierarchie anerkennen“, so später der Heidelberger Theologe Hein53

Ihre Inschriften rühmten die Union, z. B. in der Kaiserslauterer Stiftskirche: „ZWEI PFEILER STREBEN ZU STARKEM BOGEN, ZWEI BEKENNTNISSE ZU EINEM SINN, UND DAS GANZE WARD ZUM TEMPEL ALS KÖSTLICHER GEWINN“ (Bonkhoff, Quellen, S. 805). 54 Liste aller Gemeindeverbände nach Dekanaten mit den Vorgängerterritorien bei Medicus, S. 127 – 135. 55 Pfarrbuch Waldfischbach: ZASP Abt. 5, 859, 860. 56 Kolb, S. 30. 57 Scherer, Verhältnis, S. 28 – 36; Link, Kollegialismus; Landau, S. 149 – 153. 58 Z. B. Edenkoben: „Die heilige Schrift … so wie deren Sinn der gesunden Vernunft erscheint, erkennen wir für die einzige Norm … unsers Glaubens und Lebens“ (wie Anm. 42). 59 Schnauber / Bonkhoff, S. 143 f.

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rich Paulus.60 Dieser Hauptvertreter des „frühliberalen Rationalismus“, der Christentum als eine „für jeden verständigen Menschen plausible Lebenshaltung“ mit praktischer, das heißt moralischer und auch politischer Wirkung lehrte, war unter Pfälzer Pfarrern die theologische Autorität.61 Wie leicht das Pathos geistiger Freiheit antikatholisch wirken konnte, zeigte unter anderem der feste Widerstand gegen die vom Montgelasregiment forcierte Simultanschule, da sie jene Freiheit hemme.62 Auch über die Ausgestaltung der Union stritt man mit dem Oberkonsistorium. Dieses vermisste am Katechismus, einem „froh-rationalistischen Werk“63, das gegen „Geistesknechtschaft“ die „ungestörte innere Glaubensfreiheit“ setzte und natürliche Vernunft und Moralerfahrung der Offenbarung vorzog, zentrale Lehren – Trinität, Rechtfertigung, Auferstehung, Jüngstes Gericht – sowie eine fromme Sprache. Auch wollte es keine Gottesdienste ohne eine verbindliche Ordnung hinnehmen, die freilich erst 1845 mit der Übernahme der badischen Agende kam. Nur die Einführung eines aufgeklärt-anthropozentrischen Gesangbuchs gelang bereits 1823. Wie seine Lieder sollten auch die „Kanzelreden“ zur „Verbesserung“ der tugendfähigen Menschen im Sinne Kants und nach dem Vorbild Jesu, eines edlen Menschen, anleiten. Das Abendmahl wurde von der Gnadenvermittlung zum Tugendappell und die Beichte zur „Vorbereitung“ durch sittliche Selbstprüfung. Riten und Kirchenraum sollten die „edle Simplicität“ zeigen, wie sie die Aufklärungsästhetik für alles Bedeutungsvolle vorschrieb.64 Insgesamt begründete das Reformationsjubiläum in der Pfalz eine, so Hans Fenske, „Hochburg des Rationalismus“65, während es in Bayern gerade Luthers Theologie wieder belebte und den Weg zu Restauration und Neuluthertum öffnete, worauf wir noch kommen. So scherte die protestantische Religionskultur in den beiden eben verbundenen Teilen Bayerns bereits eklatant auseinander.66 Die rationalistische Weltdeutung und Lebensanleitung der Union konnte nicht zuletzt durch die bayerische Pflichtvolksschule, wo Religion ein zentrales Fach war, und die Christenlehre der anschließenden Feiertagsschule in die Breite wirken. Beide prägten, auch wenn der Besuch vor allem auf dem Land noch weit in den Vor60 Ebd. S. 233 – 249 (Zit. 246; der Widerspruch gegen die „Aufnöthigung des Nichtbiblischen“ sei genuin protestantisch); Wand, S. 56; Stüber, S. 70 (Sonja Schnauber); Bonkhoff, Geschichte 1818, S. 33 – 40; Paulus, S. IX. 61 Graf, Paulus, S. 128 f. (Zit.). 62 Hermann Schneider, Streit; ders., Schule. Das 1817 in Kaiserslautern errichtete pfälzische Lehrerseminar war als einziges in Bayern zunächst simultan. 63 Blümlein, Katechismen, S. 135; Sopp, S. 30 f.. 64 Schnauber / Bonkhoff, S. 151, 249 – 253 (Zit.); Stoll-Rummel; Wand, S. 54 – 59 (Zit.). Vgl. Allg. Wagner, S. 170 f. 65 Grundlegend Scherer, Kirchengeschichte sowie Fenske, Rationalismus (Zit. S. 240); jüngst dazu Ruppert, Konfessionen; vgl. auch Mayer, S. 246 – 252. 66 Keller, S. 40 f. (es erschienen mehrere Schriften von oder über Luther, u. a. eine populäre Biographie in hoher Auflage); grundlegend Henke, Anfänge; Blessing, Staat, S. 103; Laube, Kap. C passim. Vgl. allg. Mehlhausen; Kantzenbach / Mehlhausen; Fischer.

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märz lückenhaft war, doch nachhaltig; für die meisten Menschen gab es noch kaum konkurrierende Einflüsse jenseits der Erfahrung in der eigenen Lebenswelt.67 Günstig dafür war eine pragmatische Mentalität nicht nur unter den Gebildeten, die der praxisorientierten Spätaufklärung folgten, sondern auch unter den einfachen Leuten. Vielen waren durch eine meist arbeitsintensive Landwirtschaft – Weinbau in der Vorderpfalz, „ganz ungewöhnlich beschwerlicher“ Ackerbau im Bergland 68 – und durch die Erfahrungen in Kriegen und Nöten einen kargen „Materialismus“ gewohnt.69 Den Bezirksärzten erschienen die Protestanten nüchtern, ohne religiöse „Schwärmerei“, „nicht bigott“, während Katholiken kirchlicher und ritueller eingestellt und deshalb durch zeitraubende Gottesdienste und Wallfahrten oft auch rückständiger seien.70 Dass Ärzte dennoch „Aberglauben“ tadelten, das heißt ein vor aller kirchlichen Prägung lebhaft verbreitetes Vertrauen in magische Abwehrriten gegen alltägliche Gefahren, besonders Krankheiten von Mensch und Vieh, widersprach dem nicht.71 Überhaupt könne man, so ein Arzt, „Aberglauben“ kaum von den auch in einer aufgeklärten Religiosität irrationalen Elementen abgrenzen.72 Die Umbruchzeit, als Seelsorge und Schule vielerorts unterbrochen und der „frivole“, „irreligiöse Sinn“ der Franzosen eine Anleitung zu Säkularismus und Hedonismus gewesen waren, hatte „Glauben und Vertrauen zu Gott“ untergraben. Nicht wenige verstörte die Theodizeefrage, warum er all die Übel zuließ.73 Doch in den 1830er Jahren vermerkten Pfarrer eine Verbesserung kirchengemäßen Verhaltens. Die gleichmäßige Ordnung der Friedenszeit sowie die Wissens- und Normenvermittlung in der Schule wirkten zusammen mit dem Kampf der Obrigkeit gegen Tanz- und Spielsucht, der Arbeitsfleiß und die Sittlichkeit allgemein fördere. Besonders im vorwiegend noch traditional lebenden „Mittelstand“ der Bauern und Handwerker befriedigten Kirchlichkeit und Moral. Aber gute Gesinnung und Tugend wurden meist auch den Gebildeten zugebilligt, die kaum in die Kirche kamen und Lebensdeutung, Erbauung, Trost in einem je individuellen Sinnraum aus humanen Ideen, Kunstharmonie und Natursentiment suchten. Das drückten unter anderem die antikisierenden

67 Von 26 bis 32 Schulstunden fielen 6 auf Religion. Die Lehrer mussten klare Kenntnis der „Grundlehren christlicher Moral und Religion“ und „genaue Bekanntschaft mit der Bibel“ besitzen (zit. nach Landgraf, S. 30). Zur Feiertagsschule Hermann Schneider, Christenlehre. 68 Pfarrbuch Rockenhausen 1866: ZSAP Abt. 5, 736. 69 Schmidt, Sonderberichte, S. 83 Dürkheim, 218 Germersheim, 194 Göllheim, 423 Landau, 441 Landstuhl, 573 Speyer, 647 – 49 Winnweiler. 70 Schmidt, Sonderberichte, S. 153 Frankenthal, 218 Germersheim, 333 Grünstadt, 368 Kaiserslautern, 398 Kirchheimbolanden, 528 Obermoschel, 540 f. Otterberg, 699 f. Wolfstein. 71 Schmidt, Sonderberichte, S. 23 Bergzabern, 60 Dahn, 153 Frankenthal, 310 f. Göllheim, 348 Homburg, 399 Kirchheimbolanden, 452 Landstuhl, 548 Otterberg, 574 Speyer, 700 Wolfstein. 72 Ebd. S. 647 Winnweiler. 73 Pfarrbuch Otterberg 1832, Pfarrbeschreibung Herxheim 1833, Pfarrbuch Speyer 1837: ZASP Abt. 5, 691, 330, 813.

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Vergänglichkeitssymbole vieler Gräber aus.74 Lediglich an der Unterschicht, die zu allen Zeiten und unter allen Leitbildern den Ordnungsinstitutionen selten genügt, störten „geistige Rohheit und sittliche Verderbtheit“.75 Besonders auf letztere konzentrierte sich stets die Kritik geistlicher wie weltlicher Autoritäten, da die Unmoral mit den unehelichen Geburten belegbar, ja seit dem 19. Jahrhundert statistisch messbar schien. Mitschuld gaben Kirchenmänner aber auch dem säkularen Staat. Er fördere geradezu „wilde Ehen“, weil junge Männer oft Jahre auf den Militärfreischein, die Voraussetzung zur Heirat, warten mussten, und er schade auch dem Gottesdienstbesuch, indem er Jahrmärkte utilitaristisch auf die Sonntage verlege. Insgesamt aber vertrauten diese Aufklärungsgeistlichen mit ihrem harmonischen Welt- und Menschenbild der natürlichen Religiosität und Moralfähigkeit und hofften auf Fortschritte durch Bildung.76 IV. Divergenz: expansiver Rationalismus und offensive Neuorthodoxie 1. Konträre Entwicklung der Kirchenreligion Die pfälzische Union hatte eine auf die ,Rheinischen Institutionen‘ fokussierte politische Dimension. Das auf dem ganzen linken Rheinufer weiter geltende französische Recht – Staatsbürgergleichheit, Zivilehe, der Code civil mit freier Ansässigmachung und Verfügung über Grundeigentum sowie Gewerbe- und Handelsfreiheit – samt der Gerichtsverfassung erschien als die „eigentliche Verfassung“ der Pfalz.77 In diesem Recht, zusammen mit der von der Verwaltung getrennten Justiz, in der eine Reihe napoleonischer Richter weiter amtierte, und mit der Notablenversammlung des Landrats, gründete ein fortschrittsstolzes Eigenbewusstsein, das auch die Pfälzer Abgeordneten im bayerischen Landtag demonstrierten78. Einen Hauptfaktor dafür, eine stetig erfahrbare Vergemeinschaftung, bildete in der protestantischen Mehrheit die auf religiöse Emanzipation und bürgerliche Partizipation gestellte Union; ihre Identitätsfunktion für die Region wurde in unterschiedlichen Formen rege kultiviert. Umso mehr, da sie nach langem Konfessionenzwist als „schöne 74 Zu dieser „Todesverklärung“ nach französischen Vorbildern, die „religiöse Wahrheiten“ verdränge, Jöckle. 75 Pfarrbuch Speyer 1837: ZASP Abt. 5, 813. 76 Pfarrbeschreibung Edenkoben 1836, Pfarrbeschreibung Herxheim 1833, Pfarrbuch Speyer 1837: ebd. 159, 330, 813. 77 Zur politischen Rolle der Institutionen noch immer grundlegend Faber, S. 110 – 262 (Zit. S. 383); Scherer, Verhältnis, S. 13 – 15. Montgelas sah, dass der Rheinkreis mit seiner Umbrucherfahrung nicht mehr „entnapoleonisiert“ werden konnte; er leitete vielmehr eine „Palatinisierung“ Bayerns ein, die jedoch nach seinem Sturz abbrach (Haan, S. 30 ff.). Zur Modernität der Pfalz und zu ihrem Reformpotential für Bayern allgemein Rumschöttel, Pfalz und ders., Ansbach. 78 Kreutz, Identitätsbildung, S. 224 ff.; Götschmann, bes. S. 57; Schreibmüller, S.132 – 139.

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Sühne für all das Elend, was die Pfalz durch kirchliche Verirrungen hat dulden müssen“, errungen sei, wie 1845 Ludwig Häusser in der Geschichte der Pfalz schrieb.79 Dieses Eigenbewusstsein sträubte sich gegen die politische Einpassung in Bayern, zumal als Ludwig I. nach der Revolution in Frankreich 1830 einen hochkonservativen Kurs einschlug. Auch aus der Kirchensphäre kam Protest – Pfarrer beteiligten sich 1832 am Hambacher Fest der frühliberalen Opposition –, der durchaus zu der von einer Zeitungs-„Hochflut“ und sozialer Unruhe erregten prärevolutionären Sensibilität beitrug.80 Weil die Union mit ihrer vorrangig reformierten Theologie, Verfassung und Erscheinung dem Zeitgeist populärer Spätaufklärung besonders nahestand, fand gerade sie im Alltag einer beschleunigt modernisierten Region ihre Resonanz. Und sie beglaubigte ihrerseits den progressiven Bürgergeist mit der Kirchenautorität. So spiegelte und stärkte sie zugleich die egalitären und libertären Leittendenzen und trug dadurch wesentlich zum Bild der auch in Öffentlichkeit und politischer Kultur fortschrittlichen Pfalz mit ihrer beweglichen Breitenmentalität bei.81 In Bayern wurde diese Kirche zur strukturellen „Herausforderung“82 – und zum Vorbild der Protestanten, die auf eine Fortführung der Montgelas-Reformen drängten und auf eine liberalere Verfassung ohne feudale Vorrechte und mit weniger Königsmacht.83 Dass sie dies bis 1848 nicht erreichten, lag auch am fränkischen Luthertum. Ihm fehlte ein politisch wirksamer Selbstbestimmungswille, da kein äußerer Umbruch die vom Territorialismus des 17. / 18. Jahrhunderts eingeübte Verfügbarkeit für die Obrigkeit erschüttert hatte.84 Nur eine Verletzung wesentlicher Glaubensformen weckte vorübergehend begrenzten Widerstand wie der ,Kniebeugungserlass‘ Ludwigs I. 1838, der dem gesamten, konfessionell gemischten Militär eine katholische Devotionsgeste vor der konsekrierten Hostie verordnete.85 Der liberalen Opposition floss hier keine religiöse Potenz länger zu – vor allem auch, weil sich die rechtsrheinische Kirche ideell vom Liberalismus entfernte. Zunächst herrschte zwar noch die aufgeklärte Moralreligion des „freien Bekenntnisses“ vor, die, wie das „ruhmwürdige Beispiel“ in Rheinbayern am besten zeige, durch stetes Streben „nach Vollkommenheit, Tugend und Seligkeit“ in „ein besseres, glück79 Häusser, Bd. 1, S. XIV. Zur Identitätsbildung in der ersten Jahrhunderthälfte Applegate, S. 32 – 46. 80 Zink / Kimmel; Stüber, S. 74 (Gabriele Stüber); Cornelia Foerster, S. 164, 170; Schreibmüller, S. 154 (Zit.); Alter, Pfalzatlas, Textbd. III, S. 1695 – 1750, Karten 130 – 132 (Joachim Kermann, Rose Kermann); von Thadden; Schieder, Liberalismus; Kermann / Nestler / Schiffmann. 81 Dazu ex negativo z. B. 1837 Friedrich Blaul, in: Bonkhoff, Quellen, S. 881 – 885. 82 Haan, S. 15 ff. (Zit. 15). 83 Vgl. u. a. Haan, S. 36 ff.; Zimmermann , S. 136 f. 84 Zum Territorialismus, der in den Markgraftümern ähnlich wie etwa in der Reichsstadt Nürnberg gewirkt hatte, zuletzt Sparn, Kirchenleitung, S. 125 f.; ders., ,Christliche Politik‘, S. 52 – 56; allg. Link, Territorialismus. 85 Gollwitzer, Ludwig I., S. 595 ff.

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licheres Zeitalter“ führe. Der Kabinettsprediger der lutherischen Kurfürstin, Ludwig Friedrich Schmidt, Münchens erster protestantischer Pfarrer und bald Konsistorialrat, hoffte 1800, dass das neue Jahrhundert mit Vernunft und Bildung „fortbaue am Glücke und an der Vollendung des Menschgeschlechtes“. Denn „Die Vorsehung erzieht den Menschen zur immer höhern Vollkommenheit“86. So manche Ältere predigten allerdings noch spätorthodox mit biblischer Sprache über „unser ganzes Leben“ als eine „Vorbereitung auf die Ewigkeit“, mahnten stetes „ernstliches Gebet“ an und forderten zuerst „Religiosität“, dann „Sittlichkeit“.87 Solche Tradition berührte sich nun mit einer neuen Richtung, die „Wider das heitere Christenthum der Rationalisten“ anging.88 Nach Anstößen durch das Lutherjubiläum 1817 begann in den 1820er Jahren ein grundsätzlicher Wandel durch – wie ein hoher Geistlicher beklagte – „unerwartete neue Kämpfe zwischen Licht und Finsternis, zwischen Freimuth und Sclavensinn“. Eine „frömmelnde Schwärmerei“; ja „alte Waffen des Aberglaubens und der Verfinsterung“ würden „thätiges Christenthum“, „gesunden Menschenverstand und richtiges Gefühl“ bedrängen.89 Die lutherische Kirchensphäre öffnete sich weit dem konservativen Aufbruch, den, vereinfacht gesagt, die epochale geistige Wende von der Aufklärung zur Romantik ausgelöst hatte. Als sich im Bürgertum vor allem Junge von den Leitideen Vernunft und Fortschritt, denen sie letztlich auch die Verheerung Europas durch die Revolution und Napoleons Kriege zuschrieben, wieder zu Traditionen und Autoritäten strebten, erhielt eine Heilsreligion hohen Wert. Sie drang in die bayerische Landeskirche besonders kräftig ein, da Ludwig I. alle Restauration förderte und dafür auch seine Rechte als summus episcopus energisch nutzte.90 Vorbereitet durch neupietistische Erweckungskreise, in denen der antirationalistisch-poetische Glaubensbegriff des Philosophen Johann Georg Hamann umging, formierte sich die religiöse Rückbesinnung in einem Neuluthertum, das seit den 1830er Jahren die Erlanger Theologische Fakultät einnahm. Die künftigen Pfarrer Bayerns, von denen jeder dort einmal studiert haben musste, hörten zunehmend eine auf die biblische Offenbarung und persönliche Heilserfahrung gegründete, entschieden kirchliche Theologie. Aus Morallehrern sollten wieder Seelsorgepriester werden, die weniger zur Verbesserung der ,Welt‘ anleiteten als biblisch ,positiv‘ von Sünde, Reue und Gnade predigten, auf die Heilsnotwendigkeit der Sakramente pochten und dies durch Choräle des 16. und 17. Jahrhunderts einsingen ließen. Sie konzentrierten sich mit der Zwei-Reiche-Lehre verstärkt auf ihre Kirchenfunktion, 86

Kaiser, Predigt, S. 6 – 8; Schmidt, Predigten, S. 112, 116. Tretzel, S. 8 f., 12. Der Stadtpfarrer und Dekan in Weiden mahnte: „Trachtet nach dem, was droben ist, und nicht … nach dem, was auf Erden ist“. 88 Heinrich Bomhard, Wider das heitere Christenthum der Rationalisten, in: Homiletischliturgisches Correspondenzblatt 1827, Nr. 15, abgedruckt in Beyschlag, S. 207. 89 Kaiser, Predigt, S. 19 – 21. 90 Vgl. u. a. Moisy; Gollwitzer, Staatsmann, S. 52 ff.; Blessing, Ludwig I.; ders., Summus episcopus, S. 607 – 612. – Da der Zustand vor der Aufklärung aufgrund von deren Wirkung einen neuen Sinn und teilweise veränderte Formen erhielt, war es keine bloße Reaktion. 87

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legten für eine sinnenhaft-emotionale Gemeinschaft im Gottesdienst wieder Wert auf Liturgie, Kirchenzier und Kirchenfeiern und erweiterten ihre Seelsorge durch Bibelstunden, Andachten und fromme Traktate.91 Bestimmt von der augustinisch pessimistischen Anthropologie Luthers und Gegner der säkularen Moderne, waren sie politisch konservativ und stützten den restaurativen Patrimonialismus der Staatsführung.92 Beim Augustana-Jubiläum 1830 und besonders beim Luthergedenken 1846 exponierte sich dieses Neuluthertum auch öffentlich.93 2. Die Pfalz im Kampf zwischen Rationalisten und ,Positiven‘ Durch die Restauration in Bayern wuchs der Abstand zur Union. Zwar rückten auch hier ,positive‘ Pfarrer nach, denen meist der reformierte Christian Krafft in Erlangen supranaturalistische Theologie eindringlich vermittelt hatte.94 Aber der Rationalismus blieb stark und bei Älteren, darunter den Dekanen, beherrschend. Noch während der 1830er Jahre hatte fast die Hälfte der Pfarrer außer in Erlangen, das zu besuchen auch für Pfälzer Pflicht war, weiter an den in der vorbayerischen Zeit meistbesuchten reformierten Fakultäten studiert: Heidelberg, wo der Rationalismus durchweg, oder Utrecht, wo er damals herrschte.95 Ein Symptom war, dass das Augustana-Jubiläum 1830 schlicht ignoriert wurde, was rechts des Rheins entrüstete.96 Viele Pfarrer fühlten sich nicht nur vom hochkonservativen Münchener Kurs in Kirche und Staat bedrückt. Sie fürchteten um die Geltung der Union und deren regionalen Gemeinwert, zumal Bayerns Profil im Zug der von der Restauration entbundenen Rekonfessionalisierung allgemein und durch die einseitige Kirchen- und Kulturpolitik Ludwigs I. in besonderem Maß katholischer wurde.97 Alltäglichen Reibungen zwischen den Konfessionen um Mischehen oder die Rechte in Simultaneen – etwa wer welche Glocke wann läuten dürfe – fiel ein erhöhtes Konfliktpotential zu. Eine mancherorts schon erreichte aufgeklärte „Duldung“ wurde wieder übertönt.98 91

Keller, S. 32 – 51; Kantzenbach, Geist, S. 140 – 158; Beyschlag, S. 14 – 82; Weigelt; z. B. Hohenberger, S. 316 – 325; Blessing, Staat, S. 100 – 106. Ein Indiz für die rasche Ausbreitung war z. B., dass fast 5000 Geistliche und Bürger die neuorthodoxe Sammlung von Linde / Wagner subskribierten (ebd. Bd. 1, XX). 92 Weil die herrschende Ordnung gottgewollt sei, schien es Wilhelm Lehmus in seiner Predigt am Königs-Geburtstag (in: Brandt, Bd. 2, 2. Abt., S. 261 ff.) „tausendmal besser, Unrecht leiden als Unrecht thun“. 93 Fuchs, bes. S. 55 ff.; LAELKB OKM 1716; Laube, Kap. C passim. 94 Kantzenbach, S. 89 ff. 95 Utrecht zog durch einen Stipendienfond für Pfälzer an: Wand, § 58, 1. Zu den Studienorten Blessing, Staat, S. 315, Anm. 391; z. B. Pfarrbuch Otterberg 1832: ZASP Abt. 5, 691. 96 Fuchs, S. 52. 97 Scherer, Kirchengeschichte. Zum Topos katholischer Rückständigkeit z. B. Schmidt, Sonderberichte, S. 452 Landstuhl. 98 Der Streit im Simultaneum endete nicht selten vor Gericht, z. B. Pfarrbeschreibung Herxheim 1833, ZASP Abt.5, 330; Pfarrbeschreibung Edenkoben 1836, ebd. 159. Zur „Dul-

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Um ihre Autorität in der unruhigen Pfalz zu stärken, wollte die Staatsregierung über die Pfarrer, die am dichtesten verbreiteten Meinungsführer, der liberalen Opposition das Wasser abgraben. Dazu musste die Unionskirche neu aausgerichtet werden. Deshalb ging das Oberkonsistorium – dessen Präsident seit 1828 Friedrich Roth war, ein von Hamann bewegter, durch Erweckungsfrömmigkeit und Lutherrestauration geprägter Staatsbeamter – scharf gegen das Speyrer Konsistorium vor, in dem nur Rationalisten saßen. Der geistig führende Johann Friedrich Butenschön, zusammen mit Georg Friedrich Wilhelm Schultz der ,Vater‘ der Union, war Anhänger der Französischen Revolution gewesen und nun entschiedener Frühliberaler. 1833 wurden drei der vier Räte, deren teilweise nachlässige Amtsführung einen Vorwand bot, durch konservative ersetzt.99 Ihr Kopf war der Pfälzer Isaak Rust, der sich als reformierter Pfarrer und Professor in Erlangen vom Rationalismus der Neuorthodoxie zugewandt hatte100 und mit dem Eifer des Bekehrten die Religiosität zu erneuern suchte. Musterpredigten, eine Katechismus-Revision, „Wiederbelebung der Hausandacht“101 und lokale, an den Nürnberger Central-Bibelverein geknüpfte Bibelvereine wiesen den neuen Weg. Die Geistlichen, auch Dekane, wurden überwacht, einige Rationalisten abgesetzt, ,Positive‘ überall gefördert und alle Kandidaten vor ihrer Anstellung auf Staatstreue geprüft. Dagegen sammelte sich breiter Protest. Schließlich suchten zwei Drittel der Pfarrer und der weltlichen Synodalen mit einer Petition beim Landtag Hilfe gegen die „Verletzung der constitutionellen Rechte“. Doch das blieb trotz Unterstützung durch prominente Abgeordnete vergeblich.102 Rust konnte auf den wachsenden Kreis von Restaurationspfarrern bauen, häufig Lutheraner, die aus Bayern, aber auch von weiter her kamen. In Otterberg etwa folgten auf zwei Pfälzer ein Sachse und ein in Kempten Geborener, in Edenkoben kam nach einem Pfälzer ein Franke.103 Denn während es in der bayerischen Kirche seit den 1820er Jahren zu viele Kandidaten gab, war in der Pfalz der Akademikernachwuchs generell zu schwach. Weil München ihre Kulturinstanzen insgesamt wenig förderte – dung“, z. B. der Rücksicht auf Feiertage der anderen durch bessere Kleidung und keine laute Arbeit, Schmidt, Sonderberichte, S. 645 Winnweiler. 99 Zum Kirchenmann Roth Kantzenbach, Geist, S. 303 – 314 (er hatte 1816/17 mit Niethammer eine Luther-Auswahl in 3 Bdn herausgegeben), zum Bildungsbürger eindringlich Habermas, S. 130 ff. Müller, Butenschön; Mayer, S. 237 f.; Schnauber, Personen; dies., Umbildung; Schnauber / Bonkhoff, Geschichte 1818, S. 269 – 292; Strutz (verkennt den theologisch-politischen Grunddissens); LAELKB OKM, 3545. 100 Stüber, S. 76 f. (Karl Scherer); Bonkhoff, Geschichte, S. 69 ff.; ders., Rust; Schnauber / Bonkhoff, S. 292 – 336; Mayer, S. 255. 101 Zur Hausandacht Wand, S. 120 (Zit.). Rasch entstanden Bibelvereine vom vorderpfälzischen Wachenheim, wo jedes Brautpaar eine Bibel erhielt, bis Otterberg im Nordpfälzer Bergland. Pfarrbuch Wachenheim 1866: ZASP Abt, 5, 854; Pfarrbuch Otterberg 1832 – 1853: ebd. 691. Vgl. Landgraf, S. 67 – 69. 102 Anonym, Kirche, S. 33; Kolb, S. 30 f. und 38 spricht von “Ketzerinquisition“; Scherer, Kirchengeschichte, S. 149 f.; Scherer, Verhältnis, S. 32 – 40; Ruppert, Konfessionen, S. 260 – 262. 103 Pfarrbuch Otterberg 1832 – 1853: ZASP Abt. 5, 159, 691; Pfarrbeschreibung Edenkoben 1836, ebd. 159.

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so gab es zunächst nur zwei Gymnasien in Speyer und Zweibrücken –, wurde das Bildungspotential einer Bevölkerung nicht ausgeschöpft, die Ärzten besonders in der Vorderpfalz „sehr geweckt“ erschien.104 Speziell vom Theologiestudium hielt nun auch manche der unionsfremde Restaurationskurs ab, überhaupt „das schroffe Auseinandergehen der verschiedenen protestantischen-theologischen Parteien“.105 Die Befremdung der Unionspatrioten stieg, als einige der zugewanderten Pfarrer das Abendmahl in lutherischer Weise lehrten und praktizierten. Auch schlug der lutherische Konsistorialpräsident, ein Jurist aus Ansbach, die Bitte um Beitritt zur Union rundweg ab, da sie – rechtlich korrekt – nur eine Verbindung zweier Konfessionen sei.106 In dieser Kräfteverschiebung spielte die Erweckungsbewegung noch kaum eine Rolle; sie kam, anders als in Bayern, über einige lokale Zirkel nach Herrnhuter Art nicht hinaus, weil die Kirchenleitung hemmte. Denn Rust misstraute wie die Regierung allen freien Kräften und setzte für eine Wende allein auf die hierarchische Pfarrerkirche. Dabei hatte er sichtlich Erfolg, personell wie bei der erstrebten religiösen Belebung. Dennoch scheiterte der apodiktische Mann. Als er den Rationalisten das Christentum absprach und den eingangs zitierten Pfarrer Frantz, der mit Lichtfreunden und Deutschkatholiken umging und ihn öffentlich scharf angriff, suspendierte, wuchs der innerkirchliche Widerstand zu einem allgemeinen gegen die „Rückschrittspartei“107. Es ging, da die religiöse Disziplinierung die Pfalz ja zugleich politisch zähmen und mental ,einbayern‘ sollte, um geistige und bürgerliche Freiheit, die „dem pfäffischen Geiste aller Confessionen um vieles Blut endlich abgerungen“ worden sei.108 Um das von Frantz im Aufschwung der Meinungspresse 1844 gegründete „Protestantische Kirchenblatt“ – ab 1846 programmatisch „Die Morgenröthe“ – bildete sich aus Kirchenmännern und Bürgern die ,Frantzische Partey‘. Dank der Zensur rasch bekannt, wurde das Blatt zum wichtigsten Identitätsmedium der fortschrittlichen Pfalz neben der radikalliberalen „Neuen Speyrer Zeitung“ Georg Friedrich Kolbs.109 Dieser gab dem Widerstand gegen „Mystizismus und Pietismus“ in einer religiös-politischen Kampfschrift das Motto: „Dumm machen lassen wir uns nicht, / Wir wissen, daß wir’s werden sollen. / Vernunft heißt das von Gott uns angezünd’te Licht, / Das

104 Schmidt, Sonderberichte, S. 22 Bergzabern, 36 Blieskastel, 441 Landstuhl, 560 Pirmasens, 573 Speyer. Zum Topos der „raschen Fassungskraft“ Riehl, S. 118. – Erst in der 2. Jahrhunderthälfte entstanden Gymnasien (teils aus Progymnasien) in Kaiserslautern, Landau, Neustadt und Ludwigshafen. 105 Fenske, Rationalismus, S. 241 f.; Wand, S. 115 (Zit.). Im zweiten Jahrhundertdrittel kam bei den Neubesetzungen etwa ein Viertel der Pfarrer von außerhalb (Kimmel / Kuby). 106 Mayer, S. 254 f. 107 Kolb, S. 31 (Zit.) – Zu Frantz vgl. Friedel, S. 144 – 147. 108 Häusser, Bd. 1, S. XIV. 109 Das Kirchenblatt wurde von vermögenden Liberalen mitfinanziert. Stüber, S. 78 – 81 (Karl Scherer / Gabriele Stüber); Scherer, Kirchengeschichte, S. 148 ff., 153 ff.; Schmidt, ,Morgenröthe‘; Scherer, Parteien.

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sie auslöschen wollen.“110 Ein edler Deist schien allemal besser als ein Frömmler. Als beide Zeitungen und zwei Versammlungen in Edenkoben 1846 und Winzingen 1847 Rust wegen Gewissenszwang und Amtsterror mit so breitem Echo angriffen, dass man in München um die öffentliche Ruhe fürchtete, wurde er aus Speyer abberufen, fand freilich als Pfalzreferent im Oberkonsistorium erneut Einfluss.111 Doch die ,Positiven‘ wehrten sich nun gleichfalls öffentlich gegen den religiösen Monopolanspruch der Rationalisten: Ab 1846 kämpfte Pfarrer Johannes Schiller, ein energischer Regensburger, mit einem Blatt „Evangelium und Kirche“ – ab 1849 „Evangelischer Kirchenbote“ –, einem Kalender „Der Sickinger Bote“ und Bibel-Kolportage besonders um die Landbevölkerung. Seit 1848 betrieb er im Anschluss an Wicherns Centralverein für Innere Mission eine umfangreiche Schriftenagitation.112 So rangen zwei durch moderne Massenkommunikation mobilisierte kirchliche ,Parteien‘ auch weltanschaulich-politisch um die pfälzischen Protestanten. Letztlich ging es um das rechte Christentum: zeitgemäß modern oder zeitlos orthodox? Gemeinden, in die ein Erneuerungspfarrer kam, gerieten unter einen ungewohnt strengen Blick. Der Pfarrer von Otterberg beklagte 1832 nicht nur die geringe Kirchlichkeit „namentlich der höchsten und niedrigsten Stände“ und eine „täglich mehr überhand“ nehmende „Völlerei und Unzucht“. Selbst da, wo er Gottesdienstbesuch, Fleiß und „äußere Ehrbarkeit“ anerkannte, sah er nur oberflächlichen Glauben; die Zeit schien ihm insgesamt deplorabel: politischer Aufruhr, „tolle Ausgelassenheit“, „Demoralisierung des Volkes“, „wüstes Treiben“. Zehn Jahre später fand er die Gemeinde durch seine „positive Verkündigung“ zwar „gebessert“, doch keineswegs genug.113 Der aufgeklärten, in zeitgemäßer Bildungssprache gelehrten Tugendreligion mit ihrem Glücksversprechen trat eine ernste Heilsreligion in feierlich alltagsentrücktem Bibelton entgegen. Gewiss, von allen Pfarrern wurde im Amt vieles gleichartig wahrgenommen und behandelt. Doch seit den 1830er Jahren lassen ihre Berichte zunehmend zwei Protestantismen erkennen, die erheblich zur gespaltenen Kultur der Pfalz beitrugen. Als im März 1848 über Nacht freie Meinung und unbeschränkte Vereinigung in Zeitungen, Vereinen, Versammlungen, Petitionen, Wahlen möglich wurde und bei den Protestanten Radikalliberale und Demokraten die Szene beherrschten – nur Männer der Linken kamen in die Frankfurter Nationalversammlung und den Bayerischen Landtag – 114, trugen auch Geistliche die politische Opposition mit. Nicht wenige gin110

Kolb, Titelblatt (zitiert den Anakreontiker Johann Gleim), S. 21. Georg Friedrich Kolb war 1848/49 Bürgermeister von Speyer sowie demokratischer Abgeordneter in der Paulskirche, 1848 – 53 und 1863 – 71 MdL, 1868/69 Mitglied des Zollparlaments (Krautkrämer; Fenske, in: Rothenberger u. a., Bd. 2, S. 64 – 66). 111 Bonkhoff, Geschichte 1818, S. 78 – 107. 112 Ebd. S. 87 ff.; Stöcker, Schiller. 113 Pfarrbuch Otterberg 1832 und 1843: ZASP Abt. 5, 691; Pfarrbuch Zweibrücken 1865, ebd. 948. 114 Zur Presse plastisch Nestler, S. 79 – 104; zu den Vereinen, voran Volksverein/Märzverein, und den Wahlen umfassend und detailliert – Kreis-, Kantons- und Ortsebene – Ruppert,

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gen in die Volksvereine, zwei ließen sich Ende 1848 in den Reformlandtag wählen, einige nahmen im Frühsommer 1849 sogar aktiv an dem von der Reichverfassungskampagne ausgelösten Aufstand teil. Die inzwischen stattliche Gruppe ,Positiver‘ wurde mit dem konservativen Lager abgedrängt. Auf einer außerordentlichen Generalsynode im Herbst 1848, die erstmals halb statt nur zu einem Drittel aus weltlichen Mitgliedern bestand, gewannen die Rationalisten durch ihr Übergewicht in den Gemeinden die Mehrheit. Sie suchten die Kirche im Gleichsinn mit dem politischen Aufbruch umzuformen: ein demokratisches Wahlrecht, nach dem unter anderem die Gemeinden ihre Presbyterien selbst bestimmten, eine rein rationalistische Verfassung ohne Erwähnung symbolischer Bücher sowie, um diese Kirchenform gegen das Oberkonsistorium zu sichern, eine Trennung von der lutherischen Landeskirche.115 Auch kirchlich schien das in der ,Frantzischen Partey‘ verdichtete pfälzische Eigenbewusstsein siegreich, die ,positive‘ Überfremdung der Union gebrochen. Es war ein Triumph, dass der zum Märtyrer verklärte Frantz wieder eingesetzt wurde, während in München Präsident Roth und Rust aus der Kirchenleitung ausschieden; letzterer gewann freilich als Referent für die Union im Kultusministerium bald wiederum Einfluss.116 Vor allem kapitulierten Regierung und Oberkonsistorium vor dem mit Massenversammlungen demonstrierten Separatismus: Das Konsistorium Speyer wurde selbstständig und dem König direkt unterstellt.117 Diese Emanzipation blieb. Deshalb konnten nun unter anderem die künftigen Pfarrer überall studieren118. Zwar gingen viele weiterhin nach Erlangen, aber meist auch, nicht wenige nur mehr an andere Universitäten. Das nahm zu, als die Eisenbahn die Mobilität sehr erweiterte, so dass dann um 1900 drei oder vier Studienorte die Regel waren – am häufigsten neben Erlangen wie früher Utrecht und Heidelberg, dazu das nun deutsche Straßburg, aber auch die Reichshauptstadt Berlin, wo es alle theologischen Richtungen gab.119 Dieses breite Spektrum bewahrte die

Vereine; zu den Abgeordneten Kermann, Abgeordnete und Ruppert, Vereine, S. 226 – 242. Allg. Überblick bei Hartmann, S. 464 – 468. 115 Stüber, S. 82 (Gabriele Stüber); eingehend Scherer, Revolutionsjahre; Zink / Kimmel; Ruppert, Vereine, S. 227 f., 230 sowie jetzt Ruppert, Konfessionen, S. 265 – 303, wo die Rolle von Protestanten und Katholiken vergleichend in die politische Bewegung 1848 / 49 eingeordnet wird. 116 Bonkhoff, Rust. 117 Wand, S. 90 – 92; Mayer, S. 265 – 269. 118 Folglich ging die jährliche Kreiskollekte für Theologiestudenten nicht mehr nach Erlangen, sondern wurde vom Konsistorium Speyer verteilt. Wand, S 452, 146. 119 So hatten z. B. von den 5 Pfarrern Großbundenbachs zwischen 1860 und 1894 5 in Erlangen, 2, beide Pfarrersöhne, in Heidelberg, je 1 in Tübingen und in Basel studiert (Pfarrbuch Großbundenbach 1895/96: ZASP Abt. 5, 281). – Von den 33 Kandidaten z. B. der Aufnahmejahre 1908 bis 1911 hatten 6 an 2, 8 an 3, 18, also über die Hälfte, an 4, 1 gar an 6 Universitäten studiert und zwar in Erlangen 22, Straßburg 20, Utrecht 16, Berlin 15 Heidelberg 13, München 7, Tübingen 6, Halle und Greifswald je 3, Jena 2 und Leipzig, Göttingen, Marburg, Basel und Zürich je 1 (Schematismus 1912, S. 72 – 76).

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kleine Kirche vor „theologischer Inzucht“120 und erhielt die liberal-konservative Spannung, während in Landeskirchen mit eigener Fakultät deren Richtung überwog oder gar herrschte wie in Bayern. Die im Fahrtwind der Revolution von den Rationalisten entworfene Kirchenform währte allerdings nur kurz. Nachdem 1849 die von Bayern abgefallene Pfalz rasch wieder unterworfen war und seit 1850 – mit einem Schub bayerischer Beamter – eine scharfe Repression erfuhr,121 wurde auch die Kirche diszipliniert. Gut drei Viertel der Pfarrer sahen sich, da sie den von der Provisorischen Regierung verlangten Eid auf die Reichsverfassung geschworen hatten, als Sympathisanten des Aufstands gebrandmarkt, obwohl selbst die Mehrheit der ,Frantzischen Partey‘ ihn zu verhindern gesucht hatte. Die eben noch Zukunftsfrohen waren gelähmt, die „Morgenröthe“ durfte nicht mehr erscheinen, manche Pfarrer wurden suspendiert – Frantz nun endgültig – und zum Teil strafverfolgt, was mehrere in die USA trieb. Außerdem verwarfen Gutachten von dreizehn theologischen Fakultäten die neue Kirchenverfassung. Die Niederlage war tief. 122 Dagegen sahen sich die ,Positiven‘, die zum Teil, Schiller voran, laut gegen den Abfall von München protestiert hatten – so wie meist der katholische Klerus –, von Gott, dem Herrn der Geschichte, bestätigt. Sie bekämpften nun scharf die Folgen der „Schandjahre 1848 u. 1849 mit ihrer gotteswidrigen Revolution“, die der flache „Rationalismus vulgaris“ mitverursacht habe. Ihr Kreis wuchs deutlich, nicht zuletzt durch Anpassungsdruck und Karriereerwartungen. Auch die Erweckungsbewegung, die in der allgemeinen Erregung 1848 Zulauf gefunden hatte, wurde nun als antiliberale Kraft von Kirche und Staat gefördert und griff lebhaft aus. Schiller führte sie der konservativen Kirchenpartei zu und gewann sie für die Innere und Äußere Mission, die mit Festen und massenhaft verteilten Erbauungsschriften für die „Förderung christlicher Erkenntnis und wahren Glaubens“ warb.123 1853 nahm eine von den ,Positiven‘ beherrschte Generalsynode die progressive Reform weitgehend zurück, beschränkte in den Synoden die weltlichen Mitglieder wieder auf ein Drittel und ließ den Gemeinden für ihre Presbyter – deren religiös-moralische Haltung schärfer geprüft wurde – nur ein Vorschlagsrecht zum Konsistorium.124 Im Zug der umfassenden Reaktionspolitik Max II. kam August Ebrard, wie Rust reformierter Pfarrer und Professor in Erlangen, als Konsistorialrat nach Speyer, um die Union erneut restaurativ auszurichten und ,einzubayern‘. Auch er begünstigte 120

Schowalter, S. 159. Zum Aufstand und zur ,Antwort‘ Münchens eingehend, mit Quellen, Busley; zur Reaktionszeit Ziegler, Jahre und ders., Reaktion. 122 Scherer, Revolutionsjahre, S. 144 – 150; Ziegler, Jahre, S. 315 – 325 ; Bonkhoff, Geschichte 1818, bes. S. 117; Zink / Kimmel; Schnauber / Bonkhoff, S. 338 – 386, Hans, Disziplinierung; Meinhard / Paul; Ruppert, Konfessionen, S. 297 – 301. 123 Stüber, S. 88 (Gesine Parzich); Ziegler, Jahre, S. 326 – 336; Benrath, Erweckungsbewegung, S. 48 – 59; Pfarrbeschreibung Otterberg 1853: ZASP Abt. 5, 692 (Zit.); Pfarrbuch Rockenhausen 1866, ebd. 737 (Zit.); Pfarrbeschreibung Herxheim 1866, ebd. 331(Zit.). 124 Mayer, S. 272 ff.; Medicus, S. 124; Rausch, S. 99 – 101. 121

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,positive‘ Pfarrer, die Mission, die konservative Presse und drückte Widerständige, aber suchte, milder als Rust, doch Verständigung. So konnte er eine „Synthese des Lutherischen und des Heidelberger Katechismus“ als Lehrbuch durchsetzen, das vom alten rationalistischen Katechismus wie „in eine andere Glaubenswelt“ führte.125 Vor allem gab er mit Melanchthons Confessio Augustana variata von 1540, die auch Calvinisten unterschrieben hatten, der Union erstmals die von den ,Positiven‘ stets vermisste Bekenntnisbindung; das wertete sie bei anderen Landeskirchen theologisch sehr auf.126 Nach über zwanzig Jahren Streit schien der pfälzische Protestantismus befriedet. Aber das trog. 1857 wollte Ebrard auch das Aufklärungs-Gesangbuch, das Ausdruck einer glaubensarmen Zeit sei, in Text und Musik überholt, durch eines im ,positiven‘ Stil mit vielen Chorälen des 16. und 17. Jahrhunderts ersetzen. Die Pfarrer stimmten zwar meist zu – einige Gegner wurden quiesziert –, aber in den Gemeinden erhob sich stürmischer Protest. Gesangbücher berühren Kirchenmitglieder, auch wenn sie wenig kirchlich sind, generell am stärksten: Aus ihnen sollen sie singen, ob häufig oder selten, aus ihnen müssen ihre Kinder in der Schule Lieder auswendig lernen.127 Viele sahen in dem Buch einen reaktionären Angriff auf den Geist der pfälzischen Union: eine Sprache aus finsteren Zeiten, lutherisches Übergewicht und, besonders abschreckend, „katholische“ Züge, nicht zuletzt durch mehrere auch in der Römischen Kirche gebrauchte Lieder. Als ,katholisch’ störte ja schon, weil dem Priesterornat zu ähnlich, der 1843 aus Bayern anstatt des Predigermantels reformierter Tradition eingeführte Talar. Mehrere Pfarrergenerationen reformierten Sinnes hatten den Gemeinden mit dem Aufklärungsleitbild eines nüchternen Tugendglaubens eine verschärfte Abgrenzung vom äußerlichen, zudem verschwenderischen katholischen Religionsstil eingeübt. Dabei konnten ihnen auch lange vertraute Zeichen und Riten, etwa Kerzenlicht im Advent, als „unprotestantisch“ vergällt werden.128 Da es solcher Frömmigkeit widersprach, wurde das neue Gesangbuch breit zurückgewiesen: Eltern verboten ihren Kindern das Lernen neuer Lieder, Arme gaben gratis verteilte Exemplare zurück, Gottesdienste wurden boykottiert, ja Pfarrer bedroht.129 Aus der glücklichen „Übereinstimmung“ am Beginn der Union sei, so eine Flugschrift 1858, durch fortwährenden Zwang zu unprotestantischen Lehren und Texten – „rückwärts um ein paar 100 Jahre“ zur „Knechtschaft der Gewissen“ – ein „unseliger Hader“ geworden.130 Ebrard hatte den Bogen überspannt.

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Bonkhoff, Ebrard; Fenske, Monarchie, S. 28 f.; Ziegler, Reaktion, S. 238 ff. Wand, S. 55 f.; Blümlein, S. 135 f. (Zit.); Bonkhoff, Confessio. 127 Medicus, S. 124 ff.; Mayer, S. 124 ff.; Fenske, Rationalismus, S. 249 ff. 128 Den Mantel hatte die Vereinigungsurkunde 1818 als „alleinige Amtstracht“ geboten. Wand, S. 61. – Zu einem Konflikt um eine Adventsbeleuchtung in einer Dorfkirche an der Haardt Kuhn / Stüber. 129 Schmidt, Sonderberichte, S. 402 Kirchheimbolanden. 130 Anonym, Kirche, S. 3, 29, 35, 37 (Zit.). 126

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Der Streit erhielt rasch eine allgemeinere Dimension, da ihn die politische Opposition, die in der Reaktionszeit nicht frei agieren konnte, wie im Vormärz als Stellvertreterkonflikt nutzte. Es war schwer zu sagen, ob „die Gesangbuchagitation mehr ein politisches oder ein blos kirchliches Ziel verfolge“.131 Als die wieder mobilisierten Rationalisten für die Synoden erneut eine Parität von Geistlichen und Laien forderten, die ihnen eine ständige Mehrheit gesichert und so den neuorthodoxen Kurs beendet hätte, wurde Ebrard hart. Er sprach ihnen wie Rust den christlichen Glauben ab, suspendierte den führenden Gesangbuchgegner Pfarrer Konrad Schmitt und wollte das Buch oktroyieren, was die Öffentlichkeit so erregte, Schulen so beunruhigte, dass die Kreisregierung die Einführung unterband und den Gemeinden überließ. Diese lehnten sie meist ab. Ebrard, im Konsistorium isoliert und mit dem Regierungspräsidenten überworfen, kehrte resigniert nach Erlangen zurück.132 Auch wenn wie in Speyer ein streng ,positiver‘ Pfarrer – der die Stadt als „kirchlichste“ der Pfalz rühmte – und ein konservatives Presbyterium auf dem neuen Buch beharrten, setzte sich schließlich dennoch das alte meist wieder durch, hier 1871. Dass Speyrer Bürger dafür auch am Grab seines Verfassers, des Konsistorialrats Schultz, demonstrierten, zeigt, wie sehr dieses Buch für den Gründungssinn der Union stand.133 Wer diesen Geist vertrat, nannte sich nach der Jahrhundertmitte zunehmend liberal. Der alte, gegen den Supranaturalismus auf eine kommune Ethik gerichtete Rationalismus wurde von einer liberalen Theologie abgelöst, die zur Versöhnung von Glauben und Vernunft stärker auf die individuelle Erfahrung setzte, im Sinne Schleiermachers von einer vorrationalen Evidenz der inneren Religiosität ausging und wieder mehr über Gottesbild und Christologie sprach. Solche Vermittlungstheologie, die sich vorsichtig auch metaphysischer Deutung öffnete, vertraten im nahen Heidelberg Daniel Schenkel und besonders Richard Rothe, nach dessen Bürgertheologie Bildung das Reich Gottes im Sittlichen verwirklichen sollte.134 Die ,Positiven‘, für die nur ein Offenbarungsglauben mit nicht verhandelbaren Dogmen galt, hielten allerdings auch dies kaum mehr für evangelisches Christentum. Der religiöse Grunddissens über die Stellung zur Moderne blieb. 3. Durchbruch des Neuluthertums in Bayern Die rechtsrheinische Kirche kam um die Jahrhundertmitte aus der Sicht des Oberkonsistoriums, der Erlanger Fakultät und zahlreicher Pfarrer gewissermaßen zu sich

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Pfarrbuch Otterberg 1866/84/95: ZASP Abt. 5, 691. Wand, S. 61; Mayer, S. 278 – 282; Fenske, Rationalismus, S. 262 f.; Kuby, S. 183 – 191. 133 Pfarrbeschreibung Speyer 1837 u. 1897: ebd. 813, 815; zu Schultz Schnauber, Personen. 134 Fenske, Rationalismus, S. 257 f., 265; Bonkhoff, Geschichte 1861, S. 35 ff. (wie der Band über die Zeit 1818 – 1861 wertet auch dieser im ,positiven‘ Sinn); Borggrefe, S. 75 ff.; Schenkel; RGG Bd. 4, Sp. 646 – 649 (Friedrich Wilhelm Graf), 881 (Alf Christophersen); Wagner, Universalintegration. 132

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selbst.135 Wie das Neuluthertum vordrang, wurde in der Revolution 1848 offenkundig. Auch wenn sich nicht alles schlicht in progressiv und konservativ trennen ließ – unter anderem stellten sich Hochlutheraner um einer freieren Kirche willen gegen die Staatsmacht –, war nicht nur die gottgewollte Obrigkeit für die allermeisten selbstverständlich. Viele sahen auch wie der eingangs zitierte Konsistorialrat Ranke jede Auflehnung als verderbliche Sünde und mit dem Sieg der Gegenrevolution wieder die rechte Ordnung hergestellt.136 Wer dagegen die Märzbewegung für eine Chance zu mehr Freiheit und Einheit der deutschen Nation hielt wie der gemäßigt liberale Bamberger Dekan Christoph Bauer, der in der Paulskirche eine beachtete Rolle spielte137, und andere meist ältere, noch von der Aufklärung geprägte Männer, stand nun klar in der Defensive. Im Nachmärz entfaltete sich dann vor allem durch Christian Thomasius und Johann Christian Hofmann die „relativ einheitliche“, von „Erweckungstraditionen und mildem Konfessionalismus“ bestimmte, nicht zuletzt durch Hamanns „Biblische Betrachtungen“ inspirierte konservative Erlanger Erfahrungstheologie, die im deutschen Luthertum eine herausragende Rolle gewann und Studenten aus dem gesamten Sprachraum und darüber hinaus anzog138. Sie wurde für die bayerischen Pfarrer bis in das 20. Jahrhundert bestimmend. Denn der frühere Erlanger Theologieprofessor Adolf Harleß richtete auch die Kirchenleitung energisch in diesem Sinn aus. 1852 hatte König Max II. den Dresdener Oberhofprediger als ersten Nichtjuristen an die Spitze berufen – für seine Politik der Revolutionsprävention und zur Beruhigung der innerkirchlichen Erregung, die von den Separationsdrohungen des Löhe-Kreises ausging.139 Mit bischofsgleichem Führungsstil prägte Harleß, scharf gegen die Nachhut der Spätaufklärung wie gegen moderne Bürgerreligiosität, den Geist und die faktische Verfassung der Kirche zu einer Bekenntniskirche, der „Evangelisch-lutherischen Kirche rechts des Rheins“. So hieß sie, seit 1853 die reformierten Gemeinden in eine Teilselbständigkeit mit eigener Synode und Moderamen entlassen waren.140 Sie entzog sich denn auch einem deutschen Kirchenbund mit Reformierten und Unierten und initiierte stattdessen 1867 eine lockere „Konferenz“ der lutherischen Kirchen.141 135

Keller, passim; Hein, Bekenntnis, S. 45 ff. Grundlegend und differenziert Magen; Blessing, Politik, S. 79 – 82; allg. Siemann. Als Ludwig I. die ,Märzforderungen‘ bewilligt hatte, gab es Dankgottesdienste: Port z. B. rief dabei zu christlicher „Demuth“ auf. 137 Er gehörte der Deputation an, die dem preußischen König die Kaiserkrone anbot, und fungierte zuletzt als 1. Vizepräsident (Best / Weege, S. 90). Vgl. Homrichhausen, bes. S. 94 – 100. 138 Graf, Theologie, S. 121 – 130, Zit. 122; Beyschlag, S. 21 – 32 (Hamann der „entscheidende Initiator“(32)), 58 – 119. 139 Magen, S. 257 ff., 280 ff.; Heckel, S. 71 – 136; Hein, Harleß; Beyschlag, S. 33 – 57. 140 Beyschlag, S. 51 f.; Haas, S. 54 ff. Seit 1851 erschien in Erlangen ein eigenes Organ, die ,Reformierte (ab 1854 Neue Reformierte) Kirchenzeitung‘. 141 Kantzenbach, Geist, S. 368 f. 136

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Doch bald löste die dynamische Führung, der die Generalsynode meist folgte und die durch Visitationen, Schriften und Kirchenpresse142 breit wirkte, scharfe Konflikte aus. Denn 1854 wurde, wie in der Pfalz, ein Gesangbuch mit dem Schwerpunkt auf Chorälen der Reformation und der Orthodoxie eingeführt; auch hier schien das Buch von 1814 ganz veraltet, ja, so Harleß polemisch, eine „Gesangbuchs-Schande“.143 Muster zur Erneuerung des lutherischen Chorals übten das 1854 gegründete Institut für Kirchenmusik und die Universitätsgottesdienste in Erlangen ein, seit 1856 leitete ein „Agendenkern“ die liturgische Wiederbelebung nach Ordnungen des 16. und 17. Jahrhunderts an. Für die Katechese wurde das Nürnberger „Kinderlehrbüchlein“ von 1628 zum Vorbild. Auch sollten Privatbeichte und Kirchenzucht, die seit der Aufklärung kaum mehr als Disziplinierungsmittel fungierten, erneuert sowie Mischehen erschwert werden.144 Dagegen protestierten in einer Reihe von Städten, Nürnberg und Augsburg voran, Massenpetitionen im Geist aufgeklärt-individueller Bürgerreligion und erregten die liberale Öffentlichkeit. Aber auch unter einfachen Leuten – wo nur ganz Alte einst Vertrautes wiedererkannten – wehrten sich zunächst viele, manchmal bis zum Gottesdienstboykott und zur Abendmahlsverweigerung. Gerade in kirchlich eifrigen Gemeinden wollte man vor allem nicht von dem um 1800 eingeführten, inzwischen als ,rechtgläubig‘ verinnerlichten Gesang lassen, „an welchem sich unsere Väter lange Zeit erbaut haben“. Geschicktere Pfarrer konnten, indem sie alte und neue Lieder mischten, auch die Zugkraft eines vom Lehrer gut geschulten Kirchenchors nutzten, ,einschleichend‘ Terrain gewinnen.145 Lokale Unruhe erregten manche missionarisch orthodoxen Kirchenmänner auch durch eine sozial verletzende Glaubensstrenge, wenn sie etwa bei der Trauung ,gefallene‘ Bräute demütigten, ja einem ,Kirchenverächter‘ das christliche Begräbnis verweigerten. In Nördlingen pochte der empörte Kirchenvorstand, dem der Pfarrer nach der Beschwerde „modernen Protestantismus“ vorwarf, auf seinen ganz „mit der Heiligen Schrift in Einklang“ stehenden Glauben, wie er „uns von unseren Seelsorgern … in unserer Jugend gelehrt wurde“.146 Der vielstimmige Protest, der sich nicht zuletzt in den 1851 eingeführten Kirchenvorständen formierte, rief die Regierung auf den Plan. Da sie wenige Jahre nach der Revolution um die Loyalität im politisch und öko142

Die 1838 von Harleß gegründete ,Zeitschrift für Protestantismus und Kirche‘ wurde rasch eine führende Stimme im deutschen Luthertum. 143 Das wies der greise Konsistorialrat Ludwig Friedrich Schmidt, einer seiner Verfasser, verletzt, doch vornehm zurück. Schmidt, Gesangbuchfrage (Zit. S. 8). 144 Keller, S. 66 – 68; Friedrich, S. 97 – 113; Green, S. 51 – 70. 145 In Nürnberg sammelte der ,Fränkische Kurier‘, das führende liberale Blatt Nordbayerns, 1856 für eine Eingabe an den König gegen eine Verschärfung kirchlicher Kontrolle rund 7000 Unterschriften (Simon, Kirchengeschichte, S. 644). Zur Vorgeschichte des neuen Gesangbuchs Anonym, Gesangbuchsangelegenheit und – „Zur Vermittlung der Gegensätze“ – Keppel. Zu Widerständen von der Nürnberger Lokalschulkommission (beruft sich auf den „Widerwillen gegen das neue Gesangbuch“ in der Stadt) bis zum Pfarrdorf Hüttenheim bei Marktbreit, wo ein kompromissloser Pfarrer Tumulte erregte, HStAM MK 39296 (Zit.). Z. B. LAELKB Kons. Bayreuth 2651 II; ebd. Kons. Ansb. 4612 II, 4475 II, 4617 II. Blessing, Staat, S. 148 f. 146 Schriftwechsel Kirchenvorstand Nördlingen, Oberkonsistorium und Kultusministerium 7.1., 24.3., 9. 6. 1858, in: BHStA MK 39277.

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nomisch wichtigen Bürgertum wie um die Ruhe auf dem Land fürchtete und Max II. sehr auf religiösen Frieden achtete, unterband er selbst einen Teil der Maßnahmen.147 Es war evident, dass der forcierte neuorthodoxe Kurs den paritätischen Staat wachsam machte und die an eine eher kommode Kirchenreligion gewohnte Bevölkerungsmehrheit herausforderte. Doch anders als in der Pfalz setzte sich dieser Kurs innerhalb der von der Staatsräson gezogenen Grenzen großenteils durch; vor allem das neue Gesangbuch konnte landesweit eingeführt werden. Im Vergleich mit anderen Landeskirchen geschah die Neuorientierung – auch wenn eine neue Agende erst 1879 zustande kam – bemerkenswert zügig. Denn kirchlich schöpfte Harleß die generell hohe Amtsautorität lutherischer Konsistorien voll aus und hatte den Rückhalt der Mehrheit der Pfarrer.148 Gesellschaftlich bot der noch hohe Anteil traditionaler Lebenswelten, in denen Kirchlichkeit für die meisten fester Brauch war, breite Resonanz. Wo allerdings resistente parochiale Traditionen und liberaler Bürgergeist zusammenwirkten wie in den Kirchen Nürnbergs, blieb, da eine Gleichrichtung durch Agende und die vom Oberkonsistorium vorgegebenen Episteln und Evangelien nicht durchschlug, „eine große Freiheit“ der Gottesdienstformen.149 Verstärkt wurde das neulutherische Profil der Landeskirche durch den Missionspionier Pfarrer Wilhelm Löhe in Neuendettelsau. Dieser Hochlutheraner übte seit den 1850er Jahren – nachdem seine Separation abgewendet war – nachhaltigen Einfluss aus, pastoraltheologisch und vor allem mit karitativen Einrichtungen von weitgreifender Wirkung.150 Anders als die von Wichern in lutherischen, reformierten und Unionskirchen gleichermaßen inspirierte Mission prägte seine streng konfessionell im Sinn eines „sakramentalen Luthertums“, wofür auch die Liturgie nach dem Vorbild der Orthodoxie und mit pietistischen Tönen sehr aufgewertet wurde. Gegner nannten dies mystisch und ,katholisierend‘.151 Streitbar gegen alle Vermischung mit Reformierten, setzte der Löhe-Kreis unter anderem dem überkonfessionellen Gustav-Adolf-Verein, der in der Pfalz wie in den meisten Landeskirchen die Diasporahilfe organisierte, den Lutherischen Gotteskasten entgegen. Alle in Anstalten und Vereinen formierte Sozialarbeit gewann durch die Erosion sozialer Bindungen – bedingt durch Pauperismus, Urbanisierung, Industrialisierung – praktisch wie spirituell rasch an Bedeutung für die Kirchenwirkung. In Bayern hatte dabei Löhes scharf neulutherische Mission, da sie am zahlenstärksten war, besonderes Gewicht.152 147 Keller, S. 66 f.; Heckel, S. 81 – 110; Blessing, Politik, S. 82 – 84. BHStA MK 39277 und 39296. 148 Opp, S. 190; Friedrich, S. 97 – 102, 108 f. 149 Merkel, S. 43 (u. a. stand „Die bayerische Agende … nur auf dem Papier“). 150 Vgl. u. a. Geiger; Schoenauer; Stempel-de Fallois sowie die erhellende Problemskizze von Rößler. Zur Mission auch Günther, Amtshandbuch IV, S. 438 – 443. Eine Zwischenbilanz der Forschung jetzt in Blaufuß. 151 Jenner; Bärsch; Keller, S. 57 – 60 (Zit. 58). 152 Organ des Löhe-Kreises war der ,Freimund‘. Zum Gustav-Adolf-Verein Günther, Amtshandbuch Bd. IV, S. 447 – 453; Plitt, bes. S. 25 – 31, 45 – 51 („Gegner im eigenen

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V. Verfestigung: Kirchensphären im Dauerkonflikt um die Moderne 1. Gespaltener Protestantismus im politischen Spannungsfeld der Pfalz Während die bayerische Kirche einheitlicher wurde, auch das in der Konfessionsfrage divergierende Feld der Verbände und Vereine insgesamt neuorthodox-konservativ war, blieb die pfälzische Union, unter deren Geistlichen der ,positive‘ Flügel stark, ja zeitweise zur Mehrheit wurde, weltanschaulich gespalten. Das spiegeln die Pfarrbeschreibungen der 1860er Jahre. Offenkundig liberale Männer sahen in der „religiös-sittlichen“ Lage, die bereits ihre Vorgänger in den 1830er Jahren für günstiger als zu Beginn des Jahrhunderts gehalten hatten, eine weitere Verbesserung. Inzwischen hatte die Pflichtvolksschule ein halbes Jahrhundert gewirkt, und die von den Erschütterungen um 1800 irritierte Generation war meist abgetreten. Auch wenn man nicht schönte wie in Waldfischbach, wo die Religion als „heilige Sache sehr geachtet“ sei – „selbst in den Wirthshäusern wagt man nicht darüber zu scherzen“ –, wurden mehr religiöses Wissen und vor allem auf dem Land ein guter, ja „sehr fleißiger“ Gottesdienstbesuch gelobt, gab es teilweise auch noch Hausfrömmigkeit mit Gebeten und Erbauungsbüchern „an Winterabenden“, war die Spendenbereitschaft erfreulich. Ebenso erschien die Moral, etwa in Großbundenbach, „im Ganzen gut“, vor allem Fleiß und Sparsamkeit. Wenngleich bei den Klagen die Topoi mangelnde „Ehrbarkeit und Züchtigkeit“ der Jugend und „Schwachheit des Fleisches“ in der Unterschicht obenan standen, erkannten doch manche Pfarrer angesichts des ausgreifenden Pauperismus mehr als früher, dass auch widrige Lebensumstände Abweichungen von kirchlichen Leitbildern erklären können. Armut treibe zum Betteln und in den Branntwein, Arbeitszwang halte oft vom Gottesdienst, ja schon von der Schule ab, ein krasses Besitzgefälle provoziere lokalen Streit. Und der Vergnügungsdrang sei oft die Kompensation verbreiteter Versagungen, ob im Pfarrdorf Herxheim oder im rapide wachsenden Ludwigshafen, wo das „genußsüchtige Leben“ Mannheims anzog.153 Angesichts der ganz auf die Gesinnung abgestellten kirchenoffiziellen Ethik ist bemerkenswert, wie klar zum Beispiel der Pfarrer von Münchweiler sah, dass in einem abstumpfenden Arbeitsleben von Jugend an, oft fern der Heimat und unter Menschen „niedriger Bildung und Gesittung“, die kirchlich erwartete Frömmigkeit kaum gedeihen konnte. Er spannte denn auch seine „Erwartungen nicht zu hoch“ – es habe immer gute und schlechte Christen gegeben, „das menschliche Herz ist dasselbe geblieben“ –, freute Lager!“); Steinlein, Hauptverein. Zum Lutherischen Gotteskasten mit dem Zweck, „die in der Zerstreuung lebenden Glaubensgenossen in und außerhalb Bayerns in ihrer kirchlichen Not zu unterstützen“, Amtshandbuch Bd. IV, S. 454 – 456; Schmidt, Gotteskasten; Beck, S. 179 – 182. 153 Pfarrbuch Waldfischbach 1865: ZASP Abt. 5 859, Pfarrbuch Großbundenbach 1853: ebd. 280, Pfarrbuch Wachenheim 1866: ebd. 854, Pfarrbuch Rockenhausen 1866: ebd. 736, Pfarrbuch Otterberg 1832 – 1910: ebd. 691, Pfarrbeschreibung Herxheim 1866/94: ebd. 331, Pfarrbuch Ludwigshafen I 1870: ebd. 523.

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sich, wo er Fleiß, gutes Eheleben und rege Kirchlichkeit sah, ärgerte sich durchaus über Schwächen, hoffte aber doch insgesamt auf Einsicht und Sitte. Auch die vielbeklagten illegitimen Kinder würden ja meist durch eine Ehe legitimiert.154 Für eine „sittliche Hebung“ setzten freilich auch solche Geistliche wie seit dem 18. Jahrhundert in erster Linie auf vernünftige Bildung durch Schule, Kirche, gute Schriften und auf strengere Gesetze; soziale Reformen kamen noch kaum in den Blick. Nach wie vor bedauert, aber hingenommen wurde, dass „sog. Gebildete“ – Beamte, Ärzte, Advokaten, Kaufleute – und nach ihrem Vorbild ländliche Honoratioren sich von der Kirche fernhielten. Diesen Geistlichen ging es weniger um die zur Heilsvermittlung nötige Kirchlichkeit als um christliche Tugend und Soziabilität in der ,Welt‘.155 ,Positive‘ Kirchenmänner dagegen bewerteten den „religiös-sittlichen“ Zustand streng nach dem Gesinnungsideal eines „innerlichen religiösen Ergriffenseins“. Sie geißelten nicht nur „wilde Ehen“, schlechte Kindererziehung, Streiten und Fluchen, sondern sahen – wie der Pfarrer von Lauterecken auf den umliegenden Dörfern – selbst in einem löblichen Kirchenbesuch nur bloßes „Gewohnheitschristentum“, „das mit dem Kirchenrock an- und abgelegt wird“. Auch im kirchenfleißigen und arbeitsamen Bauern- und Handwerkerdorf Rockenhausen, eine „ruhige,…friedfertige und rechtlich gesinnte Gemeinde“, in der fast niemand das Abendmahl mied, vermisste der Geistliche wegen unehelicher Geburten in „Familien niederen Standes“, generationenaltem „Familienhaß“ und manch‘ äußerer Unordnung Gewissensfrömmigkeit. Bessern könne die Menschen keine Bildung, die bloß den säkularen Zeitgeist verbreite, sondern nur kirchliche Anleitung zur Bekehrung durch das „Wort Gottes in seiner ewigen Wahrheit“.156 Hart klagten diese Kirchenmänner denn auch über indifferente Bürger und ihre Nachahmer, die kaum eine Kirche betraten, nach der Konfirmation nie mehr zum Abendmahl gingen und über Kirchenfromme spotteten. Zwar sei, so einer in Zweibrücken, der Kirchenhass der Franzosenzeit abgeebbt. Aber unter Gebildeten grassiere eine „Afteraufklärung“, die einfachen Menschen das „böse Beispiel“ für die „irreligiöse, oft antichristliche Zeitströmung“ gebe. Diese rühre nicht zuletzt, wie der Pfarrer von Otterberg klagte, von der „rationalistischen Verflachung“ auf den Kanzeln. Seit den „Schandjahren“ 1848/49 verbreite sich dieser Geist mit „teuflischer Leidenschaft“ durch die liberalen Blätter und nähre unter den einfachen Leuten statt „höherer Interessen“ nur Materialismus: „der Mammon ist ihr Gott“.157 Doch trotz der zahlreichen ,positiven‘, bibel-„treuen und gläubigen Pfarrer“ hielt sich in der Bevölkerung offenbar – wenn man Physikatsberichten folgt – häufig die 154 Pfarrbeschreibung Herxheim 1866/94: ZASP Abt. 5 331, Pfarrbuch Ludwigshafen I 1870/1896/1910: ebd. 532, Pfarrbuch Großbundenbach 1853: ebd. 280, Pfarrbuch Münchweiler 1867/1895/96/1910: ebd. 610. 155 Z. B. Pfarrbuch Ludwigshafen 1870/1896/1910: ZASP Abt. 5 523. 156 Pfarrbuch Lauterecken 1896: ZASP Abt. 5 500, Pfarrbuch Rockenhausen 1866: ebd. 736. 157 Pfarrbuch Zweibrücken 1865: ZASP Abt. 5 948, Pfarrbuch Otterberg 1832 – 1910: ebd. 691, Pfarrbeschreibung Herxheim 1866/1894: ebd. 331.

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seit der Zeit um 1800 vorherrschende Einstellung: ein alltagstauglicher popularer Rationalismus, der nicht allzu sehr mit Sündenbuße und der Sorge um ewiges Heil beschwerte. Zwar erschienen manche Gemeinden, die durch einen lange amtierenden oder mehrere aufeinander folgende Seelsorger Erneuerungseifer erfahren hatten, überwiegend orthodox gesinnt. Viele aber wehrten die strengen Glaubenserwartungen ab, ja, widerstrebten überhaupt „geistlicher Bevormundung“. Die Autorität, die der Stand nicht zuletzt durch die äußere Ohnmacht in den 1790er Jahren eingebüßt hatte, kehrte offenbar nur langsam zurück; an der breiten Verweigerung des neuen Gesangbuchs wurde das nur besonders sichtbar. Den meist säkular gesinnten Ärzten, die nicht allein in medizinisch-hygienischer Sicht auf nützlichen Fortschritt drangen, gefiel dagegen die nüchterne, „praktische Frömmigkeit“ der Pfälzer, „die im Leben ihre guten Früchte zeigt“. Zwei allerdings, die bezeichnenderweise aus dem Rechtsrheinischen kamen, bedauerten, dass statt der „Glaubensinnigkeit der Vorfahren“ nur mehr „Vernunftsreligion“ herrsche.158 Die verbreitete Bürgerdistanz zum Kurs der Kirche zeigte sich auch, als in den 1860 / 70er Jahren gegen deren Beharren auf der Konfessionsschule nicht wenige Städte Simultanschulen forderten, da diese besser seien und zudem Toleranz lehrten. Neun konnten sie tatsächlich ,ertrotzen‘.159 Wie wirksam der eingeschliffene Rationalismus blieb, zeigt der enorme Erfolg des Pfälzischen Protestantenvereins. 1858 im Gesangbuchstreit gegründet, angeleitet durch die Heidelberger Professoren Rothe und Schenkel und propagiert in der Zeitschrift „Union“, erreichte er mit seinem Kampf für den Fortschritt in Kirche, Kultur und Politik schon nach drei Jahren rund 18.000 Mitglieder – drei Viertel des gesamten Deutschen Protestantenvereins von 1863. Er wurde als größter aller pfälzischen Vereine des 19. Jahrhunderts zum „Sammelbecken des politischen Liberalismus“.160 Mit dem Ziel einer liberalen deutschen Nationalkirche, gegründet auf protestantische Freiheit, kämpfte er gegen die vernunftwidrige Orthodoxie, den ultramontanen Katholizismus und alle „Finsterlinge“. Zuvörderst sollte in der Kirche die 1848 bereits erreichte Demokratie wiederhergestellt werden. Das gelang, als die Liberalen durch die Dynamik des Vereins in den 1860er Jahren wieder die Oberhand im öffentlichen Kirchenbild und die Mehrheit in den Synoden gewannen und das zwischen 1861 und 1863 neu und erstmals aus beiden Richtungen besetzte Konsistorium zusammen mit einer Mittelgruppe unter den Geistlichen den Ausgleich suchte. So erreichten die Laien 1863 in Diözesan- wie Generalsynoden erneut die Parität, die Gemeinden konnten ihre Presbyterien wieder wählen, erst indirekt, ab 1876 di-

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Schmidt, Sonderberichte, S. 333 Grünstadt, 398 f. Kirchheimbolanden, 501 f. Neustadt, 528 Obermoschel, 548 f. Otterberg, 699 f. Wolfstein; Pfarrbuch Otterberg 1866/1872/1884/ 1895: ZASP Abt. 5, 692. 159 Hermann Schneider, Schule, S. 257 – 263. 160 Fenske, Monarchie, S. 29.

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rekt und geheim, und diese bestimmten seit 1878 faktisch auch die Pfarrer, indem das Konsistorium meist ihrem Votum folgte.161 Möglich wurde diese Wende nicht nur, weil der Druck der Münchener Reaktionspolitik gewichen war. Der Einfluss der Liberalen in Landtag, Presse und meinungsbildenden Kreisen des Königreichs stieg durch einen neuen Zeitgeist rasch: Umwälzende Vorgänge – die stürmische Entfaltung von Wissenschaft und Technik, der Aufbruch in die Industrie, das Drängen auf einen liberalen Nationalstaat – trieben einen mächtigen Fortschrittseifer an, der im nachmärzlichen Sinn für „Realpolitik“ pragmatischer und damit wirksamer geworden war. Aber auch die ,Positiven‘ behielten im Zug der 1848/49 formierten und von der Reaktion gestärkten antirevolutionären Kreise durchaus Gewicht, vor allem unter den Geistlichen, da neben Erlangen nun auch Utrecht mit einer gemäßigten Orthodoxie prägte. So herrschte, wie schon die beiden nebeneinander gültigen Gesangbücher demonstrierten, ein Dauerdissens. Zum Beispiel sahen die ,Positiven‘ bei dem Katechismus, den die Liberalen 1869 durchsetzten, wiederum Grundlehren des Bibelglaubens wie Trinität, göttliche Natur Christi, Sünde und Versöhnung vernachlässigt.162. Zwei Lager um den Protestantenverein und um den von Schiller im Gesangbuchstreit 1858 gegründeten Evangelischen Verein für die Pfalz standen sich mit „Union“ und „Kirchenbote“, mit Flugschriften und Versammlungen gegenüber.163 Warnten die einen, „Die unirte Kirche ist kein Tummelplatz für ein Freikirchenthum“, so folgte die Mehrheit in den Gemeinden der vom alten Gesangbuch eingeübten Moralreligion, die „des Menschen wahren Werth“ in „Vernunft und Freyheit“ und dem „Gefühl von Recht und Unrecht“ sah.164 Der Grundkonflikt des 19. Jahrhunderts zwischen Fortschrittsglauben und Traditionsvertrauen – der erst gegen dessen Ende vom Klassenkampf der Industriegesellschaft zurückgedrängt wurde – ging mitten durch den Pfälzer Protestantismus. Nur langsam begann seit den späten 1860er Jahren seine Schärfe zu nachzulassen. Wie unterschiedlich beide Richtungen auch anthropologisch dachten, sah man nicht zuletzt am Umgang mit Armen und Schwachen. Während Liberale deren Lage nach wie vor meist durch Bildung und Selbsthilfe bessern wollten, organisierten ,positive‘ Kreise wie überall tatkräftig Fürsorge. Mit einer in der bürgerlichen Gefühlskultur des 18. Jahrhunderts erregten, oft durch Erweckungselan beflügelten Sensibilität suchten sie karitativ und missionarisch Nöte zu mildern, die vor allem in den unteren Schichten bedrängten und, wie 1848, sogar die herrschende Ordnung bedrohen konnten. Pfarrer Schiller hatte bereits 1851 ein Rettungshaus für gefährdete Knaben in Haßloch initiiert. Und 1859 kam die neue Bewegung der Mutterhausdia161 Ebd., S. 263; Bonkhoff, Geschichte 1861, S. 27 – 34; Wand, S. 65 – 78, 172 – 179 (zur Pfarrstellenbesetzung wird betont, dass Presbyterien kein „förmliches Wahlrecht“ haben). 162 Blümlein, Katechismus, S. 137 – 142; zur Rolle im Schulunterricht Landgraf. 163 Stüber, S. 88, 90 (Gesine Parzich, Gottfried Müller); Fenske, Rationalismus, S. 264 f.; Blümlein, S. 137 – 147 (Zit.145). 164 Medicus, S. 126; Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch für protestantischevangelische Christen, Zweibrücken 1823, Lied Nr. 1, zit. nach Bonkhoff, Bildatlas Bd. I, S. 405.

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konie, die professionelle Hilfe für Arme, Behinderte, Kranke mit Glaubensappellen verband, durch die Diakonissenanstalt Speyer in die Pfalz. Bald entstanden Stationen von Ludwigshafen bis Zweibrücken, von Bergzabern bis Kirchheimbolanden.165 Da solch Innere Mission Dankbarkeit schuf und Frömmigkeit beleben konnte, gewannen die ,Positiven‘ neuen Einfluss jenseits der Kirchenmauern.166 Der Protestantenverein hingegen engagierte sich für protestantische Selbsthilfe durch den Gustav-AdolfVerein. 1832/1841 in Leipzig und Darmstadt zu Sammlungen für den Kirchenbau in der Diaspora gegründet, wurde dieser Verein zunächst von Ludwig I. aus dem Königreich ausgeschlossen. Seit 1848 zugelassen, fand er gerade in Rheinbayern mit einer Selbstbehauptungsaura gegen katholische Übermacht rasch Resonanz. Er verbreitete sich in Haupt- und Zweigvereinen vom Rhein über die Haardt bis ins Nordpfälzer Bergland und wurde durch Sammlungen und jährliche Feste mit „zahlreichen Teilnehmern“ eine Säule der Konfessionskultur, ja zum besonderen „Freund der protestantischen Bevölkerung“. Ein erster großer Auftritt 1852 im üppig geschmückten Kaiserslautern, mit Festzug, Illumination und Feuerwerk, zog auch als Bekenntnisdemonstration mehrere Tausend aus der ganzen Pfalz und von weiter her an. Durch seinen breiten Erfolg begünstigte der Gustav-Adolf-Verein eine pragmatische Annäherung der Lager; schon von den beiden Speyrer Pfarrern, die ihn in die Pfalz gebracht hatten, war der eine liberal gewesen, 1848 Mitglied des demokratischen Volksvereins und den Deutschkatholiken nahe, der andere ,positiv‘ und für die Diakonie engagiert.167 Die Spaltung wurde auch dadurch allmählich überbrückt, dass beide Protestantismen auf zwei Zeitströmungen ähnlich reagierten. Der erstarkende Ultramontanismus reizte die alte Aversion gegen ,das Katholische‘ auf, indem Liberale die Geistesfreiheit, ,Positive‘ den evangelischen Glauben bedroht meinten.168 Und der im Aufschwung der liberalen Öffentlichkeit zur protestantischen Leitidee gesteigerte Nationalismus fand in der von Frankreich mehrfach bedrängten Grenzregion besonders Resonanz.169 Auf beides kommen wir zurück.

165 1898 gab es 26 Diakonissenstationen (Bayerisches Jahrbuch 1899, S. 290). Stüber, S. 88, 92 (Gesine Parzich, Karl-Gerhard Wien); Schwartz, Diakonissen; Bonkhoff, Geschichte 1861, S. 63 – 69, 186 f.; Stöcker, Unterstützungs-Verein. Allg. breiter Überblick bei Röper / Jüllig. 166 Götzelmann; Borggrefe, Herausforderungen. 167 Gollwitzer, Ludwig I., S. 594 f.; http:/gaw-pfalz.de (Zugriff 06. 07. 2015); Borggrefe, Liberal, S. 79 f. Pfarrbuch Rockenhausen 1866: ZASP Abt. 5, 736 (Zit.), Pfarrbuch Ludwigshafen I. 1896: ebd. 523, Pfarrbuch Lauterecken 1896: ebd. 500, Pfarrbuch Speyer 1897/ 1910: ebd. 815, Pfarrbuch Otterberg 1910 : ebd. 693 (Zit.), Pfarrbeschreibung Edenkoben 1911: ebd. 610, Pfarrbuch Wachenheim 1895: ebd. 855. 168 Pfarrbuch Großbundenbach 1895/96: ZASP Abt. 5, 281; Pfarrbuch Rockenhausen 1895/96: ebd. 737. 169 Z. B. Pfarrbeschreibung Waldfischbach 1912: ZASP 860.

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2. Erfolg und Grenzen der Restauration in Bayern Wesentlich unterschied sich der Protestantismus beiderseits des Rheins auch durch die Reichweite der inneren Konflikte. In der Pfalz, wo kirchlicher und politischer Liberalismus verschmolzen, ging der religiöse Dissens unmittelbar in die öffentlichen Weltanschauungskonflikte um die allgemeine Ordnung über. In Bayern dagegen blieb er weitgehend ein interner Kampf um Glaubensrichtung und Kirchensinn. Denn die über zwei Jahrhunderte in Konfessionsstaaten eingehegten Lutheraner hatten keine Selbstbehauptung gelernt wie die Reformierten in der katholisch regierten Kurpfalz. Außerdem wirkte ihre Konfessionskultur weder in der aufgeklärten noch in der neuorthodoxen Form als ein Faktor regionaler Identität wie die Union, die für den neuen politischen Raum Pfalz Kohäsionskraft weit über das Religiöse hinaus entfaltet hatte. In den ehemaligen Reichsstädten kam zwar der Konfession noch ein gewisser öffentlicher Identitätseffekt zu, zumal als sich liberale Bürgerkreise gegen das Neuluthertum auflehnten. Aber selbst in Nürnberg und Augsburg hatte das nur mehr lokalpolitische Bedeutung.170 Auch der von Ludwig I. erregte lutherische Selbstbehauptungswillen im „evangelischen Frankenland“ war, da nicht organisiert, nach der Beilegung der ,Kniebeugungs-Affäre‘ wieder verebbt. Erst 1872 formierte sich im Kirchenumkreis mit der Konservativen Partei ein politischer Protestantismus gegen „irreligiösen Liberalismus“ und die „Anmaßungen des Ultramontanismus“. Er gewann jedoch nur ein Fünftel der protestantischen Wähler, vorwiegend in agrarisch-kleingewerblichen Orten, wo der Pfarrer viel galt. Bei der Mehrheit, die weiterhin liberal oder zunehmend sozialdemokratisch stimmte, war die Kirchenreligion für die weltanschaulich-politische Orientierung sekundär.171 Durchdrungen vom neulutherischen Stil wurde mit zunehmender Gewöhnung vor allem die traditionale Lebenswelt einfacher Leute auf dem Land und in kleineren Städten mit ihrer hohen Kirchlichkeit.172 Doch auch unter Bürgern nahm ihn nicht nur die konservative Minderheit an, die schon im Vormärz den Fortschrittsglauben abgewehrt hatte. Andere, die sich mit der romantisch-konservativen Wende vom aufgeklärt-liberalen Geist ihres Herkunftsmilieus abgewandt hatten, öffneten sich ebenfalls dieser Heilsreligion, manche durch eine Art Erweckung.173 Wo Frömmigkeit sich derart ,erneuerte‘, sanken Gottesdienstbesuch und Abendmahlsfrequenz nicht 170

Zu Nürnberg u. a. Merkel, passim; zu Augsburg Möller, S. 245 – 260. Gollwitzer, Ludwig I., S. 595 – 598; Heckel, S. 337 – 398; Luthardt, S. 288 ff.; Blessing, Politik, S. 77, 88 (Zit.) f.; Kittel; Thränhardt, S. 63 – 67, 90 f. 172 Zum Predigttyp z. B. die Sammlung von Dittmar, zur Katechese Steger, zu Erbauungsbüchern Ullmann, Sondermann oder die populäre Predigtsammlung von Brandt „für den schlichten Bürger und Landmann“ (bis zur 6. Auflage bereits 180 000 Exemplare). Weit verbreitet waren auch die ,Alten Tröster‘, voran Johann Fried(e)rich Starck, Tägliches Handbuch in guten wie in bösen Tagen, Frankfurt a. M. 1728 (über 60 Aufl.). 173 Ein frühes Beispiel war der Nürnberger Großkaufmann und 2. Bürgermeister Johann Merkel (+ 1838), der vom jungen Löhe „aus dem überkommenen Rationalismus und aus seiner Begeisterung für die Freimaurerei zu einem streng konfessionell gerichteten Glauben“ unter „innerem Kampf“ bekehrt wurde (Merkel, S. 15). 171

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weiter oder stiegen wieder, lebten Gebet und Erbauungslektüre auf, entstanden in Bibelstunden und Missionskränzchen Kerngruppen einer neuen religiösen Intensität. Riten, die den Kreis des Kirchenjahrs versinnlichten, kehrten zurück. Und in den Häusern sahen Pfarrer wieder öfter Kreuze, gedruckte oder gestickte Bibelsprüche und, dank der nun günstigen Massendruckgraphik, Lutherbilder an der Wand – alles alltägliche Mahnungen zum rechten Glauben. Ja, fromme Gewohnheiten wie der jahrzehntelang nur mehr schüchterne Brauch, beim Gebetläuten im Wirtshaus zu schweigen und auf Gassen und Flur das Haupt zu entblößen, belebte sich wieder.174 Gestärkt wurde solche Frömmigkeit offenbar durch das Gemeinschaftsbedürfnis in der Diaspora, wo Sakramente und Riten einen erhöhten Identifikationswert besaßen.175 Förderlich für die Aufwertung konnte auch das Vorbild von Beamten wirken: Unter ihnen war gegenüber der Zeit, als Ludwig I. den meist aufgeklärt Gesinnten den Gottesdienstbesuch verordnet hatte, mit einer neuen Generation durchaus wieder eine gewisse Kirchlichkeit häufiger geworden. Doch die neuorthodoxe religiöse Belebung hatte ihren Preis. Ein Großteil des Bürgertums, der kulturell, politisch und / oder aus Wirtschaftsinteressen liberal blieb, entfremdete sich auf Dauer dieser Kirche. Denn sie wurde nicht nur zu einem Kristallisationspunkt restaurativer Ordnung um ,Thron und Altar‘, sondern schien auch geistige Freiheit zu hemmen, die Formen zivilen Umgangs zu entwerten und insgesamt zu entmündigen. Daher suchte man zwar zu den Übergangsriten von der Taufe bis zum Begräbnis den festlichen Kirchenkult; Orientierung und Lebensanleitung gewann man hingegen in einer individuellen, zur ,Welt‘ offenen Religiosität, die keiner geistlichen Vermittlung bedurfte.176 Aber auch unter den einfachen Leuten erreichte die Kirche eine wachsende Zahl nicht mehr. Während Pfarrer in Städten, die sich noch wenig veränderten wie Ansbach oder Memmingen, befriedigt feststellten „Ein ganz verkommenes Proletariat giebt es hier nicht“, wurde die Arbeits- und Lebenswelt vieler Menschen in überfüllten (Heim)Gewerbeorten, etwa im Fichtelgebirge, so vom Pauperismus untergraben oder an den frühen Industriestandorten wie Augsburg, Nürnberg, Fürth so vom sozioökonomischen Wandel erfasst, dass Brauchbindungen, an denen auch die Kirchlichkeit hing, schwanden. Dort sahen die Kirchenmänner eine „ausgeprägte Unkirchlichkeit, bisweilen sogar Widerkirchlichkeit“ und einen Verfall kirchengemäßer Moral um sich greifen.177 Selbst eine innerkirchlich durchschlagende und in der Bevölkerung relativ erfolgreiche Erneue174 Abendmahlsstatistik bei Hölscher, Datenatlas Bd. 3, S. 135 – 226. Zum Aussagewert der Kirchenstatistik grundsätzlich Hölscher, Möglichkeiten. Der Gottesdienstbesuch ist nicht statistisch erfasst; wir haben nur einzelne Aussagen, oft wertend, in Pfarrberichten. Blessing, Staat, S. 104 ff., 145 ff. Z. B. LAELKB Kons. Ansb. 1939 II, 4471 I, 4475 II, 4611 I, Kons. Bayr. 1199 I, 1939 II, 2651 I, II, 4214 II, III. 175 Z. B. Anonym, Festgabe Waldsassen. 176 Z. B. LAELKB Kons. Ansb. 4471 II, 4930 II; Pfarrbeschreibung Altdorf. Blessing, Staat, S. 154 – 157. 177 Z. B. LAELKB Kons. Ansb. 4471 II (Zit.), 4617 II, Kons. Bayr. 1199 II, 2097 II, Dek. Fürth 24 I (Zit.), Pfarrbeschreibung Fürth-Poppenreuth.

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rung fand nur schwache Resonanz oder scheiterte, wo ihr Religionsmodell wesentliche soziokulturelle Umstände nicht mehr traf. VI. Wachsende Fremdbestimmung: Kirchenmilieus im Modernisierungsschub 1. Innerer Kompromiss und äußerer Konflikt im pfälzischen Nationalprotestantismus Seit dem späten 19. Jahrhundert wurde der Dissens über die Moderne in der pfälzischen Kirche durch „Überdeckung der Gegensätze“ zu einem eher „stillen Kampf“ um interne Macht, pastorale Wirkung und gesellschaftliche Rolle.178 Kurs und öffentliches Bild der Kirche prägten vornehmlich die Liberalen; sie hielten auf den Generalsynoden mit dem Großteil der weltlichen Mitglieder ein halbes Jahrhundert lang die Mehrheit, seit den späten 1870er Jahren meist sogar zwei Drittel. Auf der Gemeindeebene hingegen war die ,positive‘ Richtung breit präsent, da sie unter den Pfarrern jahrzehntelang überwog und diese offenbar durch einen seit langem wieder reputierlichen Lebensstandard Geltung zurückgewonnen hatten, auch nur mehr selten die provozierende Schärfe der frühen Restaurationskohorte zeigten.179 Wie weit sie freilich gegen den verbreiteten Popularrationalismus wirken konnten, ist, da lokal durchaus verschieden bedingt, weder allgemein zu sagen noch überhaupt hinreichend zu belegen. Um 1900 begann dieser Einfluss wohl zu sinken. Denn die nachrückenden Pfarrer folgten nun mehrheitlich der liberalen Theologie, die in der deutschen Universitätslandschaft stark geworden war wie zum Beispiel im nahen Straßburg, wo Heinrich Julius Holtzmann drei Jahrzehnte historisch-kritisch Neues Testament lehrte und sich für den Protestantenverein engagierte.180 Hinzu kam die Wirkung einer mit dem sozioökonomischen Entwicklungsschub seit den 1890er Jahren verstärkten kulturellen Modernisierung auf die Kirchen. So wurde kurz vor 1914 gut die Hälfte der rund 300 Pfarrer als liberal eingeschätzt; die einflussreichen Dekane waren freilich noch meist ,positiv‘.181 Weil unter Vermittlung des mit Gemäßigten beider Richtungen besetzten Konsistoriums seit einer neuen Agende 1879 immer wieder bemerkenswerte Kompromisse zustande kamen – von der Konfirmationsverpflichtung ohne Apostolikum über die Regelung der Schulaufsicht bis zur Kirchensteuer –, konnten vor dem Ersten Weltkrieg die Generalsynoden alle wichtigen Probleme einvernehmlich lösten.182 Nun endlich gelang auch eine Verständigung in der 178

Fenske, Rationalismus, S. 265 (Zit.); Mayer, S. 288 (Zit.). Genauen Einblick in Pfarrhäuser der Jahrhundertmitte bieten z. B. ein Haushaltsbuch im Nachlass von Georg Friedrich Blaul und ein Hausbuch von Louis Mühlhäuser, beide im ZASP. Überblicke bei Parzich und Kratz. 180 Jacobs; Merk; Bonkhoff, 1861, S. 54. 181 Schowalter, S. 162 f. 182 Schowalter, S. 160. Als Agende wurde wie schon 1845 die badische übernommen. – Dem Widerstand der Liberalen gegen das Apostolikum, das zu eng binde, gaben schließlich 179

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Gesangbuchfrage, nachdem noch in den 1880er Jahren die Nachwirkung des erbitterten Streits von 1857 ein neues Buch verhindert hatte – obwohl das ganz überwiegend benutzte von 1823 allseits als zu „seicht“ und religiös wie ästhetisch veraltet galt. 1905, später als in jeder anderen deutschen Landeskirche, wurde es abgelöst durch ein Buch mit Liedern vom 16. bis zum 19. Jahrhundert.183 Der Annäherung von Liberalen und ,Positiven‘ half es sehr, dass – wie bereits für die 1860er Jahre erwähnt – beide gleichgerichtet auf zeitmächtig formierte Gesinnungen reagierten. Als der Nationalismus, der hier seit dem frühen 19. Jahrhundert rege war, nach dem Sieg und der Reichsgründung 1871 die protestantische Bürgerkultur mehr denn je durchdrang, wich auch die gewisse Distanz, welche Neuorthodoxe allenthalben zum Zeitgeist hielten184, der allgemeinen Begeisterung über den deutschen Triumph unter Preußens Führung. Die Liberalen waren, wie die „Union“ zeigt, meist schon nach dessen Sieg im Deutschen Krieg 1866 von Gegnern Bismarcks, der ja im Kampf mit der liberalen Fraktion im preußischen Landtag die Verfassung gebrochen hatte, rasch zu Anhängern geworden; die ersehnte Einheit erwarteten sie jetzt nur mehr von ihm.185 Preußens Siegernimbus wirkte allenthalben. Zum Beispiel wich beim Kriegsausbruch 1870 in Rechtenbach an der Elsässer Grenze jede Furcht vor einem neuen französischen Einfall, sobald preußische Truppen – „ungemein beruhigend“ – eintrafen.186 Ein integraler Nationalprotestantismus, wie ihn der Pfälzische Protestantenverein schon über ein Jahrzehnt propagierte, beherrschte nun vom meinungsführenden Bürgertum aus den Großteil der protestantischen Bevölkerung. Die Nationalliberale Partei, geführt durch Großunternehmer wie den Weinmagnaten Jordan und Buhl, war mit ihrem „Pfälzer Kurier“ bis zur Jahrhundertwende die Partei der protestantischen Pfalz und machte sie zu einer Hochburg der Bismarck-Verehrung.187 Mit dieser Orientierung verband sich ein lebhafter pfälzischer Patriotismus, den der 1869 gegründete Historische Verein und dann um die Jahrhundertwende die Heimatbewegung verbreiteten, zu einem ausgeprägt „föderalen Nationalismus“.188 Daher formierte sich die im engen Zusammenwirken von Pro(Generalsynode 1901) die ,Positiven‘ nach, weil die Konfirmanden für ein feierliches Credo zu jung seien (Hermann Schneider, Konfirmationsfrage). 183 Fenske, Rationalismus, S. 266 – 268; Bonkhoff, 1861, S. 168 f.; Wand, S. 61 f. Bereits 1867 hegte die Regierung die „Erwartung“, dass ein besonnenes, unparteiliches Zusammenwirken von Kirchenbehörden und Synoden die Angelegenheit bald „einem befriedigenden … Ziele“ zuführen könne (62). 184 Dazu, als ,zeitlose‘ theologische Forderung, Slenczka. 185 Fenske, Monarchie, S. 30 – 33; z. B. Scherer, Kritik. 186 Hans, Schwarz-rot-gold, S. 175. („Jedermann war überzeugt“ dass der Feind rasch ins Land käme und „wie früher so oft, auch diesmal der heimatliche Boden den Schauplatz für die Kriegsgreuel abgeben werde.“) 187 Fenske, Monarchie, S. 33 – 36; z. B. Hans, Pfarrer Wambsganss, S. 161. Bismarck wurde 1892 in Kissingen durch eine Massendeputation geehrt, am 80. Geburtstag 1896 machten ihn 23 Städte zum Ehrenbürger. Zu den Deidesheimer Millionären Franz Buhl und Ludwig Jordan Hesselmann, S. 149 – 204, passim. 188 Applegate, S. 43 – 130. Zum „föderalen Nationalismus“ grundsätzlich Langewiesche.

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testantismus, Liberalismus und Nationalismus seit den 1860er Jahren abgedrängte katholische Kultur umso dichter in einem wehrhaften Milieu. In der Szenerie öffentlicher Verehrung durch Denkmäler und Feiern, mit denen die großen Gesinnungsgruppen wetteiferten, stand der nationalprotestantische Kult voran. Scharen pilgerten zum Reformationsdenkmal von 1868 im nahen Worms mit dem zum deutschen Heros stilisierten, ,entkonfessionalisierten‘ Luther, dessen „Ein feste Burg ist unser Gott“ zum „nationalen und konfessionellen Kampflied“ geworden war189. 1883 feierte man in Stadt und Land den 400. Geburtstag des „gewaltigen Predigers für Wahrheit, Recht und Licht“, des Bannerträgers deutscher Freiheit und Bürgen deutscher Zukunft: Gottesdienste, Festzüge und Freudenfeuer, „Lutherbüchlein“, Lutherbilder, „Lutherbretzeln“ und mancherorts die Pflanzung von Lutherlinden für eine lange memoria.190 Auch spendeten sehr viele Pfälzer für die 1903 eingeweihte Reformationsgedächtniskirche in Speyer, „ein Denkmal des Weltprotestantismus wie des deutschen Nationalprotestantismus“191. Zwingli ehrte man 1884 zu seinem 400. Geburtstag als Streiter für „evangelische Wahrheit und … protestantische Freiheit“, aber mit weit weniger Aufwand und Echo, obwohl doch die reformierte Komponente in der Union überwog: Er war kein deutscher Held. Noch mehr auf das Religiöse beschränkt blieben die Gedenkgottesdienste für Calvin 1909 – unter dem Vermächtnis „Alles aus Gnade zu Gottes Ehre“ –, für Paul Gerhardt 1907 oder für Wichern 1908192, die alle nicht zu nationalen Leitfiguren taugten. Einig waren sich Liberale und ,Positive‘ auch in der Deutung der Ereignisse von 1870/71. „Gott [hat] an unserem Volke Großes gethan“ und ihm nach der Züchtigung als dem besseren, weil frömmeren Volk den Sieg und ein neues Reich beschert. Der Krieg wurde zum nationalen und protestantischen Bekenntnisappell, von den Sondergottesdiensten und Buß- und Bettagen am Beginn über die Siegeseuphorie, die vom Bürgertum in alle Schichten strahlte, bis zum Erinnerungskult mit Sedanfest und Kriegerdenkmälern in den Kirchen.193 Unter nationalprotestantischem Blick wuchs der Ultramontanismus zur schweren Bedrohung, als die Zentrumspartei an Gewicht gewann, Bismarcks Kulturkampf 189

Dienst (Zit. S. 440) zeigt am Choral fünf Typen des „protestantisches Identitätssignals“; Fischer, Kap. 1. Zum Luther-Denkmal ebd. S. 41 – 52; Reuter, S. 197 – 202. Zu seiner touristischen Wahrnehmung Baedeker, S. 37 („wohl die charaktervollste plastische Darstellung des Reformators“). 190 Z. B. Pfarrbuch Otterberg 1866/84/95: ZASP Abt. 5, 692; Pfarrbuch Waldfischbach 1912: ebd. 860 (Zit.); Pfarrbeschreibung Speyer 1897/1910: ebd. 815. 191 Reuter, S. 202 – 210 (Zit. 205). Bei der Einweihung 1903 war „die ganze evang. Welt diesseits u. jenseits des Ozeans vertreten, Fürst u. Volk, … Lutheraner u. Reformierte u. Unierte, Männer der kirchlichen Rechten u. Linken“ (Pfarrbuch Speyer 1897/1910 ZASP Abt. 5, 815); Böcher (Monument des „protestantisch-kirchlichen“ wie des „deutsch-nationalen Selbstgefühls“ (S. 25)); Stüber, S. 98 f. (Heinrich Thalmann); Baedeker, S. 41. 192 Z. B. Pfarrbuch Wachenheim: ZASP Abt. 5, 856; Pfarrbeschreibung Speyer 1897/1910: ebd. 815 (Zit.); Pfarrbuch Waldfischbach: ebd. 860 (Zit.). 193 Z. B. Pfarrbuch Otterberg 1866/84/95: ZASP Abt. 5, 691 (Zit.); Pfarrbeschreibung Speyer 1897/1910: ebd., 815 (Zit.); Pfarrbuch Wachenheim 1866 (Nachtrag): ebd., 854.

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gegen die Römische Kirche auslief und das katholische Milieu stetig erstarkte. Vereine und Zeitungen, Massenwallfahrten und große Versammlungen, neue Orden für Caritas und Erziehung, die ihren Dienst auch Protestanten anboten, im Umfeld eines romanisierten Kirchenstils, den man für mystisch und grell hielt – all das provozierte einen Gestus geistiger Überlegenheit und Ängste zugleich. 1910 löste die scharfe Reformationskritik der antimodernistischen Borromäus-Enzyklika empörte Kundgebungen für Konfession und Kulturfreiheit aus; in Speyer etwa strömten rund 8000 zu einer „Protestation“ wie 1529 zusammen.194 Zwar verzeichnen die Pfarrbücher kaum Antiultramontanismus, denn ihr vom Staat verordnetes Themenschema enthielt entsprechend dessen paritätischer Räson schlicht keine Rubrik ,Konfessionskonflikte‘. Aber gelegentlich scheinen solche durchaus auf wie etwa in Otterberg, dessen Pfarrer über „Hass und Verbissenheit“ klagte, weil unter anderem am Vorabend der Lutherfeier 1883, als die Stadt „in schönstem Festschmuck prangte“, „einzelne Katholiken … Gegenschriften über Luther … mit dem gehässigsten Inhalt“ verbreiteten.195 Solche Eindrücke feuerten die Bekenntnisvereine an. Der Protestantenverein, der nach dem Verebben des Gesangbuchstreits an Wucht und Mitgliedern verloren hatte, forcierte um 1900 mit populären Vorträgen und Familienabenden seine ,kulturkämpferische‘ Mission: „Man muß das Volk aufsuchen, wo man es findet“.196 Der Gustav-Adolf-Verein blieb so populär, dass er vor dem Ersten Weltkrieg mit rund 76.000 Mitgliedern über 15 Prozent der Protestanten erfasste, weit mehr als im deutschen Durchschnitt. Seine Sammlungen und Feste – Höhepunkt war 1894 mit „außerordentlichem Zudrang“ der 300. Geburtstag des „Retters der deutschen Protestanten“ – übten besonders den einfachen Leuten protestantische Selbstbehauptung ein.197 Und gegen die ultramontane Öffentlichkeit, besonders den Volksverein für das katholische Deutschland, mobilisierte seit 1888 der kulturprotestantische Evangelische Bund zur „Wahrung deutsch-protestantischer Interessen“ mit Kundgebungen, Massenpublikationen und Lobbyismus in Presse und Parlamenten für eine protestantische Kulturhegemonie. Obwohl das Konsistorium wegen seiner antikatholischen Polemik reserviert blieb und in diesem Gesinnungsfeld auch bereits GustavAdolf-Verein und Protestantenverein wirkten, gewann der Bund mit seiner primär politischen Absicht bis 1913 immerhin knapp zwei Prozent der Protestanten, liberale vor allem, aber auch ,positive‘. Er drang bis in kleinere Orte besonders der Vorder-

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Pfarrbeschreibung Speyer 1897/1910: ZASP Abt. 5, 815. Pfarrbuch Otterberg 1866/84/95: ZASP Abt. 5, 692. 196 Pfarrbeschreibung Kirchheimbolanden 1895/1990: ZASP Abt. 5, 438 (Zit.); Pfarrbuch Ludwigshafen I 1870/96/1910: ebd. 523; Ludwigshafen II 1896/1912: ebd. 525. Vgl. Fenske, Lutherbild. 197 Pfarrbuch Ludwigshafen I 1870/96/1910: ZASP Abt. 5, 523; Pfarrbuch Lauterecken 1896: ebd. 500; Pfarrbeschreibung Edenkoben 1911: ebd. 160; Pfarrbuch Otterberg 1910: ebd. 693; Pfarrbuch Wachenheim 1895: ebd. 855 (Zit.). 195

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pfalz mit ihrer engen Stadt-Land-Kommunikation. So wurde die Pfalz nach Baden und Hessen zur Hochburg.198 Gefährlicher noch als die ,schwarze‘ schien die ,rote‘ Gefahr, die „sozialistische Verhetzung zur Irreligiosität“. Seit mit der Industrialisierung Ideologie und Organisation der Sozialdemokratie eingedrungen waren, ob in Ludwigshafener Fabriken, beim Bahnbau im Lautertal oder unter Heimarbeitern um die Schuhstadt Pirmasens, kämpften ,positive‘ und liberale Pfarrer gleichermaßen gegen ihren Materialismus, der Christentum und Nation bedrohe. Mochten die einen dem seichten Rationalismus in der Kirche eine Mitschuld geben, die anderen einem Mangel an christlicher Kultur199 – beide gründeten zur Abwehr ab 1891 kirchliche Arbeitervereine. Diese sollten im Zusammenwirken mit den Arbeitgebern bei Arbeitern und Gesellen vor allem protestantisches Bewusstsein und „vaterländische Gesinnung“ stärken. Doch als auch wirtschaftlich-soziale Arbeiterinteressen artikuliert wurden und für einen Teil die Verbindung zu den – vorwiegend katholischen – Christlichen Gewerkschaften nahelag, kam es zu heftigen Konflikten und Abspaltungen, auch mit antikatholischen Tönen. Es blieb vorwiegend bei geselliger Gesinnungspflege unter geistlicher Leitung, nicht zuletzt, weil liberale Pfarrer der (Wirtschafts)Bürgerwelt nahestanden. Da die Freien und auch die Christlichen Gewerkschaften mit sichtlichem Erfolg für eine bessere Lage kämpften, ging der zunächst auf knapp 8000 Mitglieder angewachsene Verband der Arbeitervereine bis 1910 wieder zurück auf rund 2700 Mitglieder in 31 Vereinen meist in kleineren Städten, davon nur ein Drittel Arbeiter – knapp vier Prozent der männlichen protestantischen Arbeiter in der Pfalz.200. Während die katholische Kirche einen Teil der entstehenden Arbeiterklasse halten konnte, entglitt sie der protestantischen weitgehend. Ihre Pfarrer standen häufig durch bürgerlichen Habitus der industriellen Unterschicht fern, sahen mit einem von der christlichen Nation beherrschten Weltbild die Brisanz der Sozialen Frage weniger als Priester der Papstkirche und wären auch durch ihre enge Staatsbindung in einer Interessenvertreterrolle gehemmt gewesen.201 Aber auch wenn die Pfarrer der Lage der Arbeiter kaum gerecht wurden, öffnete sich der Blick mehr als bisher für wirtschaftliche-soziale Realitäten, die ihre Rolle zunehmend bedrängten. Zwar amtierten nicht wenige auch um 1900 noch in stabilen 198 Pfarrbuch Speyer 1897/1910: ZASP Abt. 5, 815; Pfarrbuch Ludwigshafen I 1870/96/ 1910: ebd. 523; Pfarrbeschreibung Edenkoben 1911: ebd., 160; Pfarrbuch Otterberg 1910 ebd. 693. Kuntz; Müller-Dreier, S. 86 – 90, 105 – 107, 549 – 560. 199 Pfarrbuch Kirchheimbolanden 1895/1909: ZASP Abt. 5, 438; Pfarrbuch Waldfischbach 1912: ebd. 860; Pfarrbeschreibung Edenkoben 1911: ebd, 160; Pfarrbuch Münchweiler 1867/ 1895/96/1910: ebd. 610; Pfarrbuch Ludwigshafen II 1896/1911: ebd. 525 (Zit.); Pfarrbuch Lauterecken 1896: ebd. 500. 200 Z. B. Pfarrbuch Otterberg 1910: ZASP Abt. 5, 693 (Zit.). Hier waren Familienabende mit Vorträgen über religiöse, patriotische, kulturhistorische Themen „ziemlich besucht“, doch nicht nur von Arbeitern. Paul; Denk, S. 35 – 46; Schneider, S. 184 – 196. 201 Die durch die Autorität der Sozialenzyklika Leos XIII. verbindliche katholische Soziallehre bestimmte den pastoralen Blick gewiss stärker als Beschlüsse des Evangelisch-Sozialen Kongresses.

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Landgemeinden wie Großbundenbach bei Zweibrücken. Hier hielt nur die Ernte vom Gottesdienst ab, niemand mied das Abendmahl, so manche lasen in alten Erbauungsbüchern und die meisten verhielten sich auch christlich, abgesehen von der konventionellen Klage über das „Herumschweifen“ der Jugend und vom Branntweinsaufen einiger Alter.202 Kirchlichkeit und Moral konnten befriedigen, auch wenn sie wie eh und je mehr Brauch als Gewissensreligiosität waren. Dagegen sahen sich Pfarrer in den größeren Städten – von Zweibrücken über Kaiserslautern bis Speyer und besonders Ludwigshafen, das von 1500 Einwohnern 1853 auf über 83.000 1910 extrem wuchs – durch den sozialen Wandel herausgefordert. Obgleich es auch „brave, ehrbare Familien … christliche Zucht und Sitte“ gab, gingen doch kirchengemäße Sitte und Frömmigkeit vor allem in den stark gemischten Arbeiterquartieren sehr zurück. Wo Überfüllung und hohe Mobilität, entfremdete Arbeit, kommerzialisierte Freizeit, Brauchverlust und der Einfluss der Massenpresse zusammenwirkten, sahen die Kirchenmänner ihrem Einfluss den Boden entzogen: eine „die Häuslichkeit zerrüttende“ Wohnungsnot, voran der „Krebsschaden“ der Schlafgänger, der zu freie Umgang der Geschlechter in der Fabrik, Zwang zur Sonntagsarbeit, Mischehen, in denen sich beide ihrer Konfession entwöhnten, und der „Spott für alles Religiöse“ in den vielgelesenen sozialdemokratischen Blättern.203 Auch in Kleinstädten wie Edenkoben, Kirchheimbolanden oder Otterberg kamen Teile der Unterschicht solchen Zuständen nahe.204 Ja, diese drangen bis in Landgemeinden wie Waldfischbach im Heimgewerbegürtel um die Schuhstadt Pirmasens. Dort sah der Pfarrer nur noch wenige Familien „von christlichem Geist durchweht“ – viele hatten weder Bibel noch ein frommes Bild, kaum jemand las eine Kirchenzeitung –, bereits die Hälfte der einstigen Kleinbauern und Waldarbeiter schien ihm religiös gleichgültig.205 Es waren vor allem die Männer, die in eine kirchenferne Religiosität entglitten, welche aus der Alltagserfahrung gespeiste Daseinsdeutung mit sozial kommunen Werten und häufig überkommenem ,Aberglauben‘ verband. Oder sie fanden in einem einfachen Sozialismus eine Weltanschauung mit innerweltlichem Erlösungsversprechen. Zwar war dies eine Entwicklung mit vielen individuellen Übergängen. Nicht wenige Frauen blieben kirchentreu, selbst manche Männer, die der Sozialdemokratie anhingen; andere gingen zumindest mit ihren Frauen gelegentlich zum Abendmahl. Aber die Entkirchlichungstendenz war so klar, dass Pfarrer heftig klagten oder resignierten. Nur wenige sahen auch günstige Folgen der Fabrikarbeit mit Lohn und Disziplin: weniger Bettel und Kleinkriminalität, eine Gewöhnung an Ordnung als Basis aller christli-

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Pfarrbuch Großbundenbach 1895/96: ZASP Abt. 5, 281. Pfarrbuch Speyer 1897/1910: ZASP Abt. 5, 815; Pfarrbuch Zweibrücken 1865: ebd. 948; Pfarrbuch Ludwigshafen I 1870/1896/1910: ebd. 523; Pfarrbuch Ludwigshafen II 1896/1911: ebd. 525 (Zit.). 204 Pfarrbeschreibung Edenkoben 1911: ebd. 160; Pfarrbuch Kirchheimbolanden 1895/ 1909: ebd. 438; Pfarrbuch Otterberg 1866/84/95: ebd. 692. 205 Pfarrbuch Waldfischbach 1912: ZASP Abt. 5, 860. 203

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chen Tugenden und Einübung einer neuen Selbsthilfe durch Konsumvereine, die „den kleinen Mann fester auf die eigenen Füße stelle“.206 Obgleich ,positive‘ Pfarrer, wie gewohnt, düsterer als liberale im Rückgang der Kirchenwirkung einen allgemeinen Niedergang sahen, „die ganze antichristliche Strömung unserer Tage“207, handelte man über alle theologischen Unterschiede hinweg ähnlich. Übergroße Stadtpfarreien, deren Seelenzahl die Geistlichen weit überforderte, wurden zu Gemeinden ausgebaut, indem Diakonissen, Jugendleiter und andere ehrenamtliche Helfer pastorale Teilfunktionen übernahmen. Bibelstunden, Kirchenblätter, Vereine sollten gegen weltliche Einflüsse durch ihren Zweck, etwa den Kirchengesang208, und durch den Umgang bei Familienabenden, Feiern und Ausflügen eine fromme Lebensführung einüben. Nach 1900 wurden häufig auch eigene Jugendabteilungen eingerichtet, weil „vor allem für die religiöse Erziehung der Jugend etwas geschehen muß“.209 Den Menschen, die in Vorstädten und Arbeiterquartieren ohne ein soziales Netz lebten, wollte die von Vereinen getragene Diakonie mit Leibsorge – Krankenpflege, Armenfürsorge, Kinderbetreuung – und Seelsorge den Wert des Christentums direkt vermitteln. Das fand nun auch bei liberalen Geistlichen, Presbytern und Spendern so Resonanz, dass beide Richtungen gemeinsam Missionsfeste feierten und die Kollekte teilten.210 Ähnlich war es in den Trägervereinen von Rettungshäusern, Fürsorgeheimen, einer Arbeiterkolonie, wo die Kirche „Mund der Armen“ sein wollte, sowie im Gustav-Adolf-Verein, im Evangelischen Bund und im Evangelischen Erziehungsverein. Deshalb traten die allermeisten Geistlichen auch einem Standesverein bei – und gehörten doch zugleich zwei Richtungsvereinen an.211 Auch im Kirchenumfeld blieb der religiöse Dissens gegenwärtig, belastete manche praktische Arbeit – etwa wenn ,positive‘ Diakonissen und Schwestern des Protestantenvereins aufeinandertrafen –, aber wurde dennoch vom Kompromisswil-

206 Pfarrbeschreibung Edenkoben 1911: ZASP Abt. 5, 160; Pfarrbuch Münchweiler 1867/ 1895/6/1910: ebd. 610; Pfarrbuch Otterberg 1910: ebd. 693 (der Pfarrer begrüßte sehr, dass nach dem Untergang der seit dem 16. Jahrhundert blühenden Weberei im Vormärz 1856 eine Leinen- und Zwirnfabrik wieder Arbeit brachte); Pfarrbuch Wachenheim 1895: ebd. 855 (Zit.). 207 Pfarrbuch Ludwigshafen I 1870/1896/1910: ZASP Abt. 5, 523 (Zit.); ähnlich Pfarrbuch Otterberg 1910: ebd. 693; Pfarrbeschreibung Kirchheimbolanden. ebd. 438. 208 1854/55 entstanden die ersten Kirchenchöre in Zweibrücken und Speyer, auch als Reaktion auf die katholischen Cäcilienvereine, seit 1880 gab es einen pfälzischen Dachverband, der im Folgejahr mit Hessen, Württemberg und Baden einen südwestdeutscher Zusammenschluss bildete. Dazu Melchior. 209 Pfarrbuch Ludwigshafen II 1896/1911: ZASP Abt. 5, 525. 210 Pfarrbuch Ludwigshafen I 1870/1896/1910: ZASP Abt.5, 523; Ludwigshafen II 1896/ 1911: ebd. 525 (Zit.), wo der Verein für Innere Mission 1911 mit ca. 1100 Mitgl. ein eigenes Haus mit Missionar und 7 Diakonissen unterhielt. Für kleine Städte z. B. Pfarrbeschreibung Edenkoben 1911: ebd. 160, wo 3 Diakonissen wirkten. 211 Pfarrbuch Ludwigshafen I 1870/1896/1910: ZASP Abt.5, 523 (Zit.); Pfarrbeschreibung Speyer 1897/1910: ebd. 815. Schowalter, S. 161.

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len überwölbt. Daher erschien Anfang des 20. Jahrhunderts das Verhältnis „der ,Richtungen‘ von den Synoden bis in das Gemeindeleben ein ganz erträgliches“.212 Das wurde innerkirchlich möglich, weil in der auf religiöse Freiheit gestellten Unionskirche jenseits des Grundkonflikts um Christentum und Moderne dogmatische Traditionen bei den Liberalen verpönt, aber auch bei den ,Positiven‘ nicht sehr ausgeprägt waren. Der Bevölkerung war Glaubensstreit großenteils fremd; der „Durchschnittspfälzer“ wollte, selbst wenn er sich in Kirchenverwaltung oder kirchlichen Vereinen praktisch engagierte, nicht „als kirchlich frommer Mann“ gelten wie „Mucker“ und „Pietisten“. All diejenigen, die kaum mehr am „inneren Leben der Kirche“ teilnahmen wie in den Städten die Mehrheit, erwarteten von Pfarrern sowieso nur mehr einen Service möglichst ohne alle „kirchlichen Ordnungen“, etwa auch Taufen und Trauungen in Privaträumen oder im Hotel: „Der Pfarrer kommt ins Haus“.213 Zudem verblasste die einst wichtige öffentliche Funktion einer liberalen Union als proprium der Pfalz, als wesentliches Element der Regionalidentität. Denn der Drang zu pfälzischer Selbstbehauptung ließ im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts merklich nach. Der Einpassungsdruck aus München war schon während der 1860er Jahre gewichen, ja, Bayern kam nun seinerseits der moderneren Pfalz rechtlich mit Reformen und politisch durch liberal-gouvernementale Regierungen entgegen. Dann hatte Bayerns Eintritt ins Reich den Abstand an nationaler ,Qualität‘ und Gesinnung, für die in der Pfalz der Nationalprotestantismus ein Hauptfaktor war, vermindert. Und schließlich beschleunigten Verkehrsausbau, Industrialisierung und die Expansion der Märkte, Medien und Staatsfunktionen die innerbayerische Vernetzung und gegenseitige Gewöhnung so, dass Befremdendes wich und alte Spannungen verklangen. Die nun real und im öffentlichen Selbstbild gelungene Integration der Pfalz in Bayern führte zu einer weitgehenden Versöhnung pfälzischer, bayerischer und deutscher Identität; deren einstige Widersprüche entspannten sich – wie bereits früher in Franken und Schwaben – in eine mehrfache Loyalität, demonstriert von einer ausgreifenden Szenerie aus Denkmälern, Gedenkfesten, populärer Literatur.214 Das wirkte auch auf das Verhältnis beider protestantischer Kirchen, die sich nun, bei aller Distanz, nicht nur in ihrer Verschiedenheit achteten, sondern freundlicher als je seit dem Vormärz miteinander umgingen. Während also innerhalb der Unionskirche die gewohnten Glaubensprofile an Bedeutung verloren und die Geltung aller Kirchenreligion besonders in den Städten abnahm, drang gerade hier die intensive Erweckungsreligiosität der Gemeinschaftsbewegung rasch vor. 1912 betrieben wohl schon 70 – 80.000 ,Stundenleute‘ in lokalen Missionsvereinen mit 20 eigenen Versammlungshäusern eine hoch engagierte Laienseelsorge hauptsächlich in den kirchenfernen unteren Schichten: Evangelisation, 212

Ebd. S. 160 ff. gedrängt eine konzise, abwägende Darstellung der inneren Lage (Zit. 161). 213 Ebd., Zit. S. 163 und 165. 214 Wünschel, S. 149 – 161 (anregend und materialreich, die Interpretation greift freilich teilweise zu kurz).

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Bibelkurse, Jugendarbeit. Pfarrer wie in Ludwigshafen lobten zwar den Eifer, beklagten jedoch die Absonderung von der Kirche, fast wie eine „Sekte“, und einen oft exaltiertem Stil, der bis zu Visionen ging.215 Offenkundig genügte vor allem dort, wo sich tradierte Bindungen auflösten, weder die ,positive’ Seelsorge noch gar das vorherrschende liberale Gewohnheitschristentum allen Glaubensbedürfnissen. Letzteres verlor nicht nur an die von der Sozialdemokratie vermittelte materialistische Weltanschauung massenhaft Geltung, sondern wurde zugleich von pietistischer Spiritualität bedrängt. So beschleunigte die vom soziokulturellen Wandel bedingte Entkirchlichung innerhalb der Kirche den zweckrationalen Ausgleich zwischen den Protestantismen, bewirkte jedoch andererseits neben ihr einen antimodernen religiösen Aufbruch. 2. Bayerns Neuluthertum zwischen Kontinuität, liberaler Alternative und Geltungsschwund Anfang des 20. Jahrhunderts wurde auch die seit langem nahezu geschlossene bayerische Kirche vom innerprotestantischen Konflikt erfasst. Angesichts einer seit den 1890er Jahren beschleunigten Modernisierung und ,Verreichung‘ Bayerns – Industrialisierungsschub, Durchbruch der Klassengesellschaft, offensive Reformkultur und politischer Demokratisierungsdruck – hielten manche Geistliche ihr Neuluthertum nicht mehr für angemessen, während sich die Mehrheit mit der nach wie vor hohen messbaren Kirchlichkeit beruhigte. Die Abendmahlsfrequenz, in Dekanaten aggregiert, betrug auch um 1900, wie in keiner anderen großen Landeskirche, häufig über 80, teils sogar über 150, sonst über 50 und nur in Ausnahmen unter 50 Prozent. Sie hatte nach einem gewissen Rückgang während der 1870er Jahre sogar wieder zugenommen, als die seit der Jahrhundertmitte ,positiv‘ sozialisierten Generationen nachgerückt waren. Gerade mit Blick auf die Pfalz, wo von den 17 Dekanaten 11 unter 50 und nur 6 über 50 Prozent aufwiesen, doch keines über 80, beharrte man auf einer Überlegenheit über jede liberale Religiosität.216 Auch das Verhältnis zum Staat befriedigte, da die Generalsynode seit 1881 nicht mehr nur beraten, sondern beschränkt mitbestimmen konnte und Prinzregent Luitpold den Summepiskopat „in betonter Freundlichkeit handhabte“.217 Andererseits nahm das Echo der Kirche in den rasch wachsenden Ballungsräumen dramatisch ab. Zugleich ließ die innerkirchliche Orientierungskraft nach, seit die lange herausragende Erlanger Theologie im deutschen Protestantismus an Bedeutung verlor und das unter Harleß gestal-

215 Pfarrbuch Ludwigshafen I 1870/1896/1910: ZASP Abt.5, 523 (Zit.); Ludwigshafen II 1896/1911: ebd. 525. Schowalter, S.163. 216 Hölscher, Datenatlas Bd. 3, S. 132 – 136, Bd. 4, S. 340 – 344; Blessing, Staat; S. 371 f.; Beck, S. 244 – 248. 217 Beyschlag, S. 140 – 142; Link, Summepiskopat, S. 51 – 54 (Zit. 53); Keller, S. 67; Seitz, S. 141 – 143.

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tungsstarke Oberkonsistorium das Erbe staatskonform verwaltete.218 In dieser Situation versprach die liberale Theologie Hoffnung. Ausgangspunkt wurde Nürnberg, Bayerns größte protestantische Stadt, wo viele Bürger kirchenfern waren, aber auch eine weltoffene melanchthonische Glaubenstradition bestand, und wo Arbeiter bereits die Mehrheit bildeten und sehr viele der Sozialdemokratie folgten. Christian Geyer und Friedrich Rittelmeyer fanden, indem sie in Gottesdiensten, Vorträgen, Predigtsammlungen und der Zeitschrift „Christentum und Gegenwart“ Christentum und säkulare Kultur attraktiv verbanden, im Bürgertum erstaunliches Echo. Und Männer aus ihrem Umkreis gewannen in der Arbeiterjugend Anhang.219 Das ermutigte bayernweit wohl etwa hundert meist jüngere Geistliche – von den insgesamt gut tausend220 –, in solch „freier Theologie“ mit lebhaftem Beifall nicht weniger Stadtgemeinden eine zukunftsfähige Kirchenreligion zu suchen. Für ,Positive‘ war das allerdings Kulturprotestantismus, eine seichte „Anpassung an einen bourgeoisen Fortschrittsoptimismus“. Er gebe das Bekenntnis preis und ziehe Jesus als bloßen Propheten, als „weisen und gütigen Nazarener“ „ins Weltlich-Zeitliche“ herab statt ihn – so wurde ,positiv‘ definiert – als „abschließende Gotteserfahrung“ anzuerkennen. Seit ein „Ansbacher Ausschuß“ konservativer Geistlicher für den in Bayern allein gültigen „evangelischen“ Glauben Erlanger Prägung die Nürnberger scharf angriff und sich auch Laien gegeneinander organisierten, wühlte ein fundamentaler Konflikt auf Kanzeln, in der Presse, mit Massenversammlungen die Kirche auf.221 Er trat zwar 1914 in den Hintergrund, da der Krieg durch neue pastorale Aufgaben und eine Welle nationaler Solidarisierung alle verband, aber war im Wesentlichen bereits entschieden. Denn der neue, theologisch wie im Amt starke Oberkonsistorialpräsident Hermann Bezzel, ein von Hamann beeinflusster und Löhe verpflichteter Mann, hatte sich offen gegen die Liberalen gestellt.222 Das war zweifellos im Sinn der Mehrheit der Pfarrer, die an der Erlanger Prägung festhielt, in welcher moderne Kritik kaum, Vermittlungstheologie nur wenig vorkam; sie sollte mit einem in den 1920er Jahren wieder gewonnenen Rang die Landeskirche im Wesentlichen bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bestimmen.

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Graf, Theologie, S. 133 – 135; Kolde, S. 12; Blessing, Staat, S. 251 f., 256 f. Beck, S. 232 – 234; Merkel, S. 18 – 34; Rossmeissl; Loewenich; Trillhaas. Die Zeitschrift übertraf mit ihrer Auflage von 4000 Ex. rasch alle anderen Kirchenblätter, das Predigtbuch Gott und die Seele. Ein Jahrgang Predigten, Ulm 1906, wurde viel gelesen und diskutiert (Merkel, S. 27). 220 Personalstand 1912. 221 Graf; Kulturprotestantismus, S. 232 (Zit.); Simon, S. 673 – 675, Blessing, Staat, S. 251 – 253; Radner, S. 192 – 194 (der zeitlose „Wahrheitskern“ des Luthertums sei die Beziehung zu Gott durch Sünde, Sühneopfer und Gnade im Zeichen des Kreuzes, Christi Gottesnatur, in der „das Jenseits hineinreicht in das Diesseits“ und seine „Menschwerdung, Opfertod … Auferstehung“); Stählin, S. 58 f. 222 Er hat sie freilich auch in der Kirche gehalten. Rupprecht; zur Theologie Seitz, Bezzel und konzentriert Seitz, „Herunterlassung“. 219

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Religiosität und Moral der Bevölkerung entsprachen der Kirchennorm offenbar breiter als in der Pfalz. In vielen Dörfern und Kleinstädten, auch in vitalen Kerngemeinden größerer Städte gingen die meisten allsonntäglich zum Gottesdienst und ein-, zweimal im Jahr zum Abendmahl, hielten am Morgen-, Mittags- und Abendgebet fest, lasen in Erbauungsbüchern, waren konfessionsbewusst und folgten im Verhalten grundsätzlich kirchlichen Regeln, wie auch immer sich der Einzelne konkret verhielt.223 Doch wo mit der Industrialisierung eine heterogene Bevölkerung ohne Brauch und Kontrolle einer eingewöhnten Gemeinschaft anwuchs, verlor die Kirche nicht anders als unter solchen Verhältnissen in der Pfalz vor allem Männer der unteren Schichten, die häufig in einem einfachen Sozialismus neue Daseinsplausibilität und Zukunftshoffnung fanden.224 Im Bürgertum, wo im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht wenige, sicher mehr als in der Pfalz, individuell wieder kirchlich geworden waren, gewann gegen Jahrhundertende die Moderne durch Wissenschaft, Technik, Kapitalismus derart kulturelle Macht, dass gerade die konservativ-konfessionelle bayerische Kirche zunehmend popularphilosophische Religionskritik traf. Auch hier suchten immer weniger bei ihr die Lebensorientierung, sondern nutzten sie nur mehr für ihre Übergangsriten und schrieben ihr die Disziplinierung des ,Volks‘ zu.225 Selbst die aufsehenerregende religiöse Belebung durch die liberalen Nürnberger Prediger brachte keine Kirchenbindung herkömmlicher Art zurück: Weder stieg die bürgerliche Abendmahlsfrequenz dauerhaft noch verlor die Sozialdemokratie signifikant Wähler. Auch mit partiell neuen Mitteln konnte die konventionell verfasste Kirche einem breiten Wandel der Lebensbedingungen, der ihr soziale und mentale Grundlagen entzog, sichtlich nicht mehr widerstehen.226 Mit der Entkirchlichung schwand allerdings keineswegs die protestantische Identität. Gerade liberale Bürgerkreise lernten, seit Bayern im Reich war, vom protestantischen Norden einen hochfahrenden Anspruch auf säkulare Kulturhegemonie. Daher erregte der Ultramontanismus Indifferente nicht weniger als Kirchenfromme – die einen als geistige Bevormundung, die andern als konfessionelle Überwältigung. Bisher hatte es unter bayerischen Lutheranern nicht die scharfen antikatholischen Affekte wie in der Union gegeben. Man war von keiner alten Konfrontation geprägt, weit weniger in häufige Konflikte wie um Simultaneen verstrickt und zudem 223 Ein zeitgenössisches Gesamturteil mit strengem Blick bei Beck, S. 237 – 285; Blessing, Staat, S. 256 f.; Kirchlich-statist. Tabelle 1896, Dekanate Dinkelsbühl, Rothenburg, Öttingen, Kreuzwertheim, Kitzingen, Sulzbach/Oberpfalz, Weiden/Oberpfalz: LAELKB OKM, 377; z. B. Pfarrbeschreibungen Langenzenn, Münchsteinach, Katzwang, Altdorf, Nürnberg/St. Sebald, Erlangen/Altstadt: LAELKB. 224 Dekanate Naila, Wunsiedel, Münchberg, Hof, Bayreuth, Nürnberg, Augsburg: ebd.; Pfarrbeschreibung Altdorf, Fürth-Poppenreuth: LAELKB. 225 Z. B. Kirchlich-statist. Tabelle 1896, Dekanat Nürnberg: LAELKB OKM 377. 226 In Nürnberg/St. Sebald, wo Christian Geyers Hauptgottesdienste überfüllt waren, lag die Abendmahlsfrequenz mit durchschnittlich (1901 – 1910) 20 % der Konfirmierten (es waren noch weniger Personen, da aus der Kerngemeinde viele zweimal jährlich teilnahmen, also doppelt zählten) nicht höher als in den Arbeitervorstädten. 1785 hatte sie 127, 1815 noch 71, 1845 59, 1870 nur mehr 29 % betragen (Pfarrbeschreibung Nürnberg/St.Sebald: LAELKB).

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eine schwache Minderheit. Doch Anfang des 20. Jahrhunderts glaubten Meinungsführer den Spielraum der Konfession bedroht, ja, fast wie unter Ludwig I. die faktische Parität. Nicht nur weil, wie erwähnt, die Römische Kirche mit Antimodernismus und Disziplinierung interner Kritiker, auch bayerischer Theologen, ihren Glaubensanspruch verschärfte und weil das katholische Milieu weiter erstarkte.227 Man sah sich nun auch politisch in der Defensive. Denn die Mehrheitspartei Zentrum, der die in Liberale, Konservative und den Bund der Landwirte zersplitterten Protestanten wenig entgegensetzen konnten, wuchs weiter durch die Demokratisierung des Wahlrechts – die sie, wie man bitter wahrnahm, im taktischen Bündnis mit den Sozialdemokraten erreicht hatte. 1912 gewann sie mit Georg Hertling, dem ersten Parteimann als Ministerpräsident, auch bestimmenden Einfluss auf die Regierung. Zudem wurde im selben Jahr der als dezidiert katholisch bekannte Prinz Ludwig Prinzregent und bald König.228 Und katholische Blätter drangen darauf, den 1817 im Konkordat fixierten, doch vom Religionsedikt neutralisierten Vorrang der Katholiken in Bayern endlich zu realisieren. Als die neue Regierung das im Kulturkampf erlassene Jesuitenverbot lockerte, ja, katholische Presse und Katholikentag seine Aufhebung forderten, gab es einen Sturm der Entrüstung: Die Jesuiten provozierten „in den Tiefen evangelischen Lebensbewußtseins“ Hochkirchliche wie kirchenferne Bildungsbürger, die ihnen gleichermaßen die „Gegenreformation mit all ihren Bedrückungen und Schrecken“ besonders zuschrieben.229 Wie seit über einem halben Jahrhundert nicht mehr litt nun auch in Bayern das Verhältnis zwischen den Konfessionskulturen über das Kirchenmilieu hinaus. Der Antiultramontanismus stimulierte auch den Nationalismus, der bisher in der konservativ-lutherischen Sphäre gedämpfter gewirkt hatte als in der Union mit ihrem starken liberal-nationalen Horizont. Ja, es kam zu völkischen Tönen wie in einem Gedicht, das 1913 im ,Jahrbuch für die Landeskirche‘, einem Organ der ,positiven‘ Richtung, das „Kämpfen und Schaffen“ geistesstarker Recken aus „Germanias Norden“ mit dem Licht der Reformation beschwor, statt „Weihrauchstreuen, Knien und Fasten“: „Nimmer soll’s dir, Rom, dir, Jude glücken, / Diese deutsche Christusflamme zu ersticken, / Und an diesem heil’gen, deutschen Wesen / Wird dereinst die ganze Welt genesen.“230 Doch so sehr sich der bayerische Protestantismus in Weltbild und Zeitbild dem ,moderneren‘ der Pfalz näherte, der im kulturellen Haupttrend des Reiches lag, religiös bewahrte er andere Strukturen ,langer Dauer‘. Theologisch-pastoral herrschte die neulutherische Tradition entschieden vor, die Frömmigkeit der Kirchentreuen blieb daher meist ,positiv‘, auch im Vereinswesen überwog diese Richtung. Gerade an ihm sah man den Unterschied. Trotz des wachsenden Antiultramontanismus fand 227

Vgl. u. a. Weiß ,bes. S. 135 ff., 315 ff. Zur innenpolitischen Umschichtung, die in Hertlings Berufung mündete, noch immer grundlegend Möckl, bes. S. 479 ff.; Weigand; zum ,schwarzen‘ Image Ludwigs III. Strobl. 229 Steinlein, Lage, S. 135 ff. (Zit. 137, 139). 230 Ebd. S. 213 f. 228

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der in der Pfalz erfolgreiche Evangelische Bund außer in nationalliberalen Bürgerkreisen weniger Echo, ja, wurde von der Kirchenleitung praktisch ignoriert, weil er als liberal-unionistischer Agent einer Reichskirche galt und mit seiner antikatholischen Polemik Hof und Regierung missfiel. Auch der Gustav-Adolf-Verein wurde – so sehr ihn isolierte Protestanten in „hülfsbedürftiger Lage“ wie im oberpfälzischen Waldsassen durch deutschlandweite Unterstützung als „Wohltäter“ erlebten231 – nicht annähernd so populär wie am Rhein, da er vielen als zu wenig lutherisch galt.232 Mehr als nationalprotestantische Vereine haben diakonische mit ihren Einrichtungen bayerische Gemeinden geprägt. Vor allem Löhes Neuendettelsau – wo der Evangelische Bund eine „Religion zwischen Luther und Loyola“ argwöhnte233 – war im letzten Jahrhundertdrittel als Ausbildungsort hunderter Diakonissen für den Geist der Landeskirche kaum weniger wichtig geworden als die Erlanger Theologische Fakultät. In Anstalten oder als Gemeindeschwestern suchten diese Frauen mit professioneller Kranken-, Alten- und Behindertenpflege, Kinder- und Jugendbetreuung, Armen- und Randgruppenfürsorge zugleich Glauben zu fördern oder zu wecken – in einem „stetigen stillen Dienst“ unter Kreuzen und frommen Bildern, mit Bibelsprüchen, Liedern, Traktaten und regem Lutherkult. Dieser Einfluss neben der Seelsorge des Pfarrers und seiner Mitwirkung an der staatlichen Armenpflege kann kaum überschätzt werden.234 Zwar war die kirchliche Sozialarbeit mit ihrer Doppelstruktur aus lokalen Vereinen und Diakonissen- und Diakonenhäusern vielerorts nach dem gemeinprotestantischen Modell Wicherns organisiert; durchgeführt aber wurde sie großenteils von Augsburger und, doppelt so zahlreich, Neuendettelsauer Diakonissen.235 So strahlte der hochkirchliche, doch ,erwecklich‘ getönte, 231 Als „Pflegekind“ des Vereins kam das neu errichtete Vikariat mit über 150 Seelen zu Betsaal und Schule (Anonym, Festgabe Waldsassen, Zit. S. 7 f.). 232 Müller-Dreier, bes. S. 544 f. (1903 z. B. versicherte das Oberkonsistorium dem Kultusministerium, dass es gegenüber dem Evang. Bund die „Zurückhaltung … beibehalten“ und sich, wie auch die Konsistorien, an keinem seiner Landesfeste beteiligt habe (545)); Fikenscher, bes. S. 176 ff. (der Bund agiere, da die Amtskirche „zum Teil abgebraucht“ sei und zunehmend bedrängt werde, für den „volkskirchlichen Gedanken“, für „evangelische und deutsche Art“ als „fortgesetzte Reformation“ ); Merkel, S. 15 ( Im liberalen Klima Nürnbergs war beim Gottesdienst der Generalversammlung des Bundes 1899 die Lorenzkirche „gedrängt voll“); Plitt (der Gustav-Adolf-Verein musste immer wieder versichern, dass sich seine „universelle Tendenz … das weite Herz“ mit dem konfessionell-lutherischen Prinzip „wohl vermitteln lasse“ (S. 48)). 233 Fikenscher, S. 182. 234 Braun; Jenner; Schmuhl / Winkler; Blessing, Staat, S. 257 – 261; Blessing, Zentrum; z. B. LAELKB Windsheim Pfarrakt 107 (Zit.). Zum Pfarrer in der Armenpflege Wolf. Zum Leitziel: „Aber alles was wir treiben / einem Ziele nur geweiht! … Daß in Wort und Wandel / Unser Glaube sich erweist!“ (Festgedicht zum 50jährigen Stiftungsfest des Evang. Handwerkervereins München, in: 54. Jahresbericht Handwerkerverein 1901/02, S. 27: LAELKB OKM 2700). 235 Die zahlreichen lokalen Missionsvereine wurden von Karl Buckrucker mühsam koordiniert; seine Bedeutung für die Diakonie hat Krauss, bes. S. 123 – 167, wieder bewusst gemacht hat. Z. B. LAELKB Nürnberg / St. Lorenz 244. Zur Diakonie umfassend Flierl, bes. S. 81 – 90.

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hochlutherische und streng konservative Geist Löhes breit in Gemeinden und betreute Gruppen. Die pfälzischen Diakonissen aus dem Mutterhaus Speyer wirkten bei gleicher Funktion und karitativer Grundhaltung spirituell anders: gemeinprotestantisch, weniger pietistisch und distanzierter zur katholischen Sphäre.236 Anders als in der Pfalz formierte sich auch die Betreuung von Gesellen und Arbeitern durch den neulutherischen Impetus zur Mission bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aus dieser heraus in Arbeitervereine; als „Hilfstruppen der Kirche“ hatten sie, von Pfarrern geführt, eine dezidiert „kirchliche Aufgabe“. Daher blieben sie noch mehr als die pfälzischen im Zirkel „christlicher Charakterbildung“, bis um 1910 auch die „soziale Hebung des Arbeiterstandes“ zusammen mit den Christlichen Gewerkschaften partiell eine gewisse Geltung erhielt. Arbeiter waren vor dem Ersten Weltkrieg gleichfalls lediglich ein Viertel der rund 15 000 Mitglieder – sogar nur 2,5 Prozent der erwachsenen protestantischen Arbeiter Bayerns. Nach längerer Zunahme stagnierten und überalterten auch diese Vereine, nicht zuletzt durch die Konkurrenz erbaulicher Jünglingsvereine. Allerdings wirkten größere nicht selten durch ihre stattlichen Häuser mit Saal, Bücherei, Bewirtung über sich hinaus, indem sie, auch für andere Gruppen offen, zum Zentrum des Gemeindelebens wurden.237 Aber das Ziel einer Wiederverchristlichung wurde mit dem Leitbild „Friede zwischen … Arbeitgebern und Arbeitnehmern“, dem Gesinnungsappell für König und Nation und der Abwehr der Sozialdemokratie bei denen kaum mehr erreicht, die in rasch wachsender Zahl als ,Klasse für sich‘ selbstorganisiert um materiellen Fortschritt und Gleichberechtigung rangen – gegen die herrschende Ordnung, an die sich das protestantische Kirchenmilieu eng band. 238 VII. Eine ,modernere‘ Kirchenreligion Bereits die Ausgangslage des in der bayerischen Landeskirche verfassten Protestantismus war unterschiedlich: linksrheinisch zwei Konfessionen, oft durchmischt, nach einem allgemeinen Umbruch, rechtsrheinisch fast nur Lutheraner mit erheblichen Kontinuitäten. Hier setzte sich in der vom Staat konsistorial-episkopal organisierten Kirche seit dem Vormärz theologisch und institutionell ein konservatives Neuluthertum durch, das mit hoher Kirchlichkeit bis weit ins 20. Jahrhundert herrschte; ein nach 1900 aufkommender Kulturprotestantismus wurde abgedrängt. In der Pfalz dagegen etablierte sich nach der Vereinigung beider Konfessionen ,von unten‘ in aufgeklärtem Geist und mit reformierter Prävalenz ein entschiedener Rationalismus, der möglichst synodal-presbyterial verfasst sein sollte. Fortschrittsgläubig, ,weltoffen‘ und auch politisch liberal engagiert, prägte er ungewöhnlich 236

Götzelmann, Kap. 4 und 5. In München z. B das großzügige Haus des Handwerkervereins in der Mathildenstraße nahe der Matthäuskirche, bei dem auch ein Hospiz Fremde beherbergte (Anzeige in Jahrbuch, 13. Jg. (1913)). 238 Denk, S. 23 – 35; Beck, S. 232 – 237 (Zit. 237); Quartalmitteilungen / Mitteilungen 1904 – 1907 (Zit. 1905 Sept. S. 1, Dez. S. 1 und 2, 1907 Nov. S. 4). 237

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dauerhaft den Grundzug der Union, die für die Pfalz zum wichtigen Integrations- und Identitätsfaktor wurde. Seit konservative bayerische Regierungen eine kirchliche Restauration forcierten, um auch dadurch die eigenwillige Region stärker einzupassen, bestimmte der Gegensatz von Neuorthodoxie und ,freier‘ Union – die im Fahrtwind der Revolution 1848/49 vorübergehend ein radikal liberales Religionsmodell verwirklichte – die Kirche. Dieser Dissens über Glauben und Moderne wirkte auch so in die politische Öffentlichkeit, dass er wesentlich zur kulturellen Spaltung der Pfalz beitrug. Erst um die Jahrhundertwende gelang ein pragmatischer Vergleich. Weil der herrschende Zeitgeist die liberale Richtung stärkte, zudem die pfälzische Kirche seit 1849 selbstständig war, blieb die Distanz zum bayerischen Neuluthertum groß. Beider Umgang entspannte sich jedoch gleichfalls, als sich im späten 19. Jahrhundert die Landesteile allgemein strukturell annäherten und zunehmend vernetzten. Auch die gesellschaftliche Rolle der Kirchenreligion differierte. Zwar war ihr Verlauf an sich ähnlich: Von einem relativ hohen oder einem seit der Wende von der Spätaufklärung zu Romantik und Restauration wieder steigenden Stand aus sank sie seit dem späteren 19. Jahrhundert zunehmend. In der Bürgerwelt wurde ihre statische Welterklärung und Lebensregelung aufgrund von Popularphilosophien, Wissenschaften und der materiellen Steigerung im Industriekapitalismus durch Fortschrittsdynamik und Individualisierung bedrängt. Bei den einfachen Leuten der Mittel- und Unterschicht verlor sie Verbindlichkeit, sobald einschneidende Umweltveränderungen gewohnte Kulturmuster entwerteten. Aber dieser Prozess scheint die Pfalz, wo eine breitere Aufklärungstradition, die Folgen des Umbruchs und ein flächigerer Wirtschaftswandel zusammentrafen, früher und stärker erfasst zu haben. Vor allem auch, weil ihm die in der Kirche dominante Richtung weniger als in Bayern widerstand: Sie leitete mehr zu Moral und Soziabilität an als zu den Heilsmitteln und Riten, die für das Neuluthertum so essentiell waren, dass man nur durch sie fromm sein konnte. Erst wenn alternative Weltdeutungen, voran der Sozialismus mit seinem Heilsversprechen, als Deutungs- und Hoffnungsäquivalent in den Unterschichten Kirchenglauben aller Art verdrängten, glich sich die kollektive Orientierung links und rechts des Rheins an. Für die Mehrheit aber besaß hier wie dort die christliche Konfession weiterhin eine Grundgeltung. Innerhalb dieser fällt jedoch in der Pfalz zum einen ein Nationalprotestantismus auf, der sich als liberaler Wertekonsens in bürgerlicher Lebenswelt konstituierte und mit dem stärkeren Strang der Kirchenreligion gegen die ,Positiven‘ amalgamierte, aber nicht mehr kirchlich sein musste. Er spielte hier eine erhebliche Rolle, ja wirkte, verbunden mit einem gleichzeitig ,inszenierten‘ pfälzischen Patriotismus, als maßgebliche Zivilreligion in der Politischen Kultur.239 In Bayern, wo die herrschende Kirchenlehre einen solchen Glauben als kulturprotestantisch abwehrte, blieb er lange, bis um 1900, auf liberale, meist kirchenferne Stadtbürgerkreise beschränkt. Das trug nicht unerheblich zur abweichenden Öffentlichkeit und zur eigengeprägten Mentalität bei, welche die Pfalz auch behielt, als ihre Sonderstellung im 239

Zum Begriff Zivilreligion Schieder; Gebhardt.

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Königreich während des letzten Jahrhundertdrittels rechtlich, politisch und kulturell abnahm. Zum andern wurde der gesamtgesellschaftliche Bedeutungsverlust, den jede Kirchenreligion im allgemeinen Modernisierungsprozess erlitt, an der für die Moderne aufgeschlossenen Union früher und stärker sichtbar. Hier war evidenter, dass die im Konfessionellen Zeitalter entfaltete, von der Restauration noch einmal partiell belebte ,überschießende‘ Potenz, über die Glaubensbildung hinaus Gesellschaft und Herrschaft Leitlinien vorzugeben, zerfiel und dass sich die Kirchenreligion nun selbst dem gesellschaftlichen Wandel anpassen, auf ihn reagieren musste. Aber hier wurde auch deutlicher, wie religiöse Grundmuster vielfältig in die säkulare Ethik eingehen und so durchaus in einem christlich grundierten Habitus allgemein weiterwirken konnten. Insgesamt erscheinen Kirche und Kirchenreligion, obgleich ein neuorthodoxer Flügel stark war, entschieden ,moderner‘ als im neulutherischen Bayern – auch im schärferen Widerpart zur antimodernistischen Römischen Kirche. Sie trugen, weil sie durch ein Bündel von Faktoren aus der andersartigen rheinischen Geschichte zu dem aus bayerischer Sicht anderen der beiden Protestantismen des deutschen 19. Jahrhunderts gravitierten, wesentlich zum ,Eigen-Sinn‘ der Pfalz bei.

Archivalien und Literatur Abkürzungen BHStA

Bayerisches Hauptstaatsarchiv München

BPfKG

Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde

LAELKB Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayerns RGG

Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 41998 – 2007

TRE

Theologische Realenzyklopädie, Berlin 1977 – 2004

ZASP

Zentralarchiv der Evangelischen Kirche der Pfalz

ZBKG

Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte

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Werner K. Blessing

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Zwischen bayerischem Staatskirchentum und Milieubildung. Strukturelle Rahmenbedingungen und spezifische Eigenheiten des Pfälzer Katholizismus Von Klaus Unterburger, Regensburg Die Pfalz, das Bistum Speyer, galt in kirchlicher Hinsicht im 19. Jahrhundert als die „schwierigste Diözese Bayerns“.1 Auch nach Regierungspräsident Georg Gustav von Hohe (1800 – 1872, 1850 – 1866) 1851 sei „der Mangel an kirchlichem Sinn in der Pfalz größer als irgendwo. Die Entfremdung vom kirchlichen Leben fresse wie ein Krebsschaden um sich“.2 Eine Denkschrift für Bischof Ehrler, die um 1880 abgefasst wurde, sah als Ursache hierfür den „Liberalismus“ an, der in der Pfalz viel stärker als in den anderen bayerischen Kreisen dominiere.3 Wilhelm Heinrich Riehl (1823 – 1897) führte 1857 aus: „Es ist jetzt Mode, die Pfälzer schlechtweg für religiös oberflächlich, indifferent, in kirchlicher Auflösung und Zersetzung begriffen zu halten. Dieser Ansicht begegnet man namentlich oft bei streng katholischen Altbayern. Viele Pfälzer zahlen es jenen dann heim, indem sie die Altbayern, eben auch so obenhin, für eingefrorene Kirchenmänner ansehen, deren Schädel mit der Nebelkappe der Verdummung bedeckt sei.“4 Die Pfälzer seien zwar religiös, ein besonders kirchliches Volk könne man sie aber, so Riehl, nicht nennen.5 „Selbst der kirchlich gesinnte Pfälzer steht eifrig auf der Wacht gegen Übergriffe des Kirchenregiments. Die protestantische Kirche bewegt sich hier in weit freieren Formen als im jenseitigen Bayern, und der Katholicismus ist von protestantischen Elementen so vielfach berührt und durchdrungen, daß er sich gar nicht zu einer starren Konsequenz entfalten kann. … jetzt hat kein Kreis des Königreichs Bayern weniger Klöster und Ordensgeistliche als die Pfalz, auch die Zahl der Kleriker im Allgemeinen ist hier sowohl absolut als im Vergleich zur Volkszahl niedriger als in irgend einer anderen bayerischen Provinz; dagegen stellt sich die Zahl der deutschen Schulen und verwandter Lehranstalten höher als in Altbayern.“6 1

Stamer, S. 175. Stamer, S. 223. 3 Stamer, S. 148 f. – Nach Debus, Ehrler, 209, spiegelt die Denkschrift relativ exakt die Denkungsart des Bischofs selbst und könnte deshalb eine von ihm veranlasste Auftragsarbeit sein. 4 Riehl, S. 370. 5 Riehl, S. 401. 6 Riehl, S. 378. 2

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Diese zeitgenössischen Urteile lassen es lohnend erscheinen, die katholischkirchlichen Zustände im links- und rechtsrheinischen Bayern systematischer miteinander zu vergleichen, näherhin das Zusammenwirken von lokalen Gegebenheiten und Prägungen, bayerisch-staatlicher Kirchenpolitik und kirchlich-hierarchischen Zielsetzungen und Handlungsoptionen. In den folgenden Ausführungen soll deshalb (I.) in einem ersten Schritt die durch die historische Entwicklung bedingte andersartige konfessionelle und kirchenrechtliche Situation der Pfalz vor der Eingliederung in das bayerische Königreich analysiert werden. Ein zweiter Teil (II.) soll das kirchenpolitische Ringen zwischen Monarchie, ministerialer und lokaler Bürokratie und katholischer Hierarchie, soweit es das Bistum Speyer anging, skizzieren. Wie positionierte man sich im Widerstreit zwischen Konkordat und Religionsedikt, welche Handlungsstrategien mit Bezug auf die besondere Situation der Pfälzer Katholiken verfolgten die jeweiligen Akteure. Ein dritter Abschnitt (III.) soll schließlich noch kurz nach den Eigenheiten der Ausbildung eines katholischen Milieus in der Pfalz fragen und dabei besonders prüfen, ob sich die dortigen Strukturen und Mechanismen auf eine signifikante Weise von den übrigen bayerischen Diözesen unterschieden haben.

I. Historische, konfessionelle und rechtliche Voraussetzungen der katholischen Kirche in der Rheinprovinz Die spezifische Ausgangslage der katholischen Kirche in der bayerischen Rheinprovinz ergab sich aus der Konfessionsgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts, dann aus der eigentümlichen, von den rechtrheinischen Gebieten sich unterscheidenden Geschichte im Zeitalter der französischen Revolution und Napoleons. Hierdurch war es zu einer vom rechtsrheinischen Bayern distinkten konfessionell-religiösen Sonderentwicklung gekommen: (1) Zunächst sind hier die partiellen, späten und mitunter erzwungenen Rekatholisierungen in der Kurpfalz durch französische und kurfürstliche Maßnahmen zu nennen.7 Dies bedingte nicht nur eine Konfessionsverteilung, nach der knapp 60 % Protestanten rund 40 % Katholiken gegenüber standen. Wichtiger noch war die relativ homogene Verteilung der Konfessionen im gesamten Gebiet. Es gab keine klar voneinander geschiedenen konfessionellen Regionen, sondern jede Konfession lebte überall. Tendenziell war zwar der Norden etwas protestantischer, der Süden etwas katholischer geprägt, dennoch war es charakteristisch, dass am selben Ort oder zumindest in unmittelbarer Nachbarschaft seit Jahrzehnten Katholiken, Reformierte und Lutheraner zusammenlebten.8 Hinzu gab es über die gesamte Pfalz verteilt eine relativ mitgliederstarke mennonitische Kirche und einen relativ hohen Anteil von Menschen jüdischen Glaubens.9 Eine Folge der späten Zwangsrekatholisierun7

Schaab; Ammerich, Formen; Warmbrunn. Stamer, S. 136 – 146. 9 Krüger; Kuby; Stamer, S. 137. 8

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gen war, dass in der Pfalz eine große Anzahl von Kirchen und Friedhöfen simultan genutzt wurde. Zum anderen scheint man, anders als in seit dem 16. Jahrhundert gemischtkonfessionellen Territorien, weniger Zeit gehabt zu haben, stabile, interiorisierte konfessionelle Identitäten auszubilden, die ein pragmatisches Zusammenleben ohne Konflikt ermöglichten.10 Für das 18. Jahrhundert kann die Pfalz das Territorium par excellence für religiös-konfessionelle Reibungen und Auseinandersetzungen gelten, die am Regensburger Reichstag durch das „Corpus Evangelicorum“ öffentlich gemacht wurden.11 Durch dieses noch im 18. Jahrhundert konfliktreiche Zusammenleben am selben Ort scheint schließlich bei einem Teil der Bevölkerung zwar vielleicht keine Akonfessionalität, aber eine gewisse innere Distanz zu den Gehorsamsansprüchen kirchlicher Obrigkeiten induziert worden zu sein. (2) Die linksrheinische Pfalz stand zudem faktisch seit den Revolutionskriegen unter französischer Besatzung und wurde in die französische Republik und dann in das napoleonische Reich integriert. Dies hatte nicht nur einen lange im 19. Jahrhundert nachwirkenden französischen und republikanischen Einfluss zur Folge.12 Juridisch war das alte Bistum Speyer aufgelöst. Der überwiegende Teil des heutigen Speyerer Bistums gehörte zum Departement Donnersberg mit dem Bistum Mainz, der südliche Teil aber zu Straßburg und kleinere westliche Anteile zu den Bistümern Metz und Trier. Auch kirchlich gesehen wirkte französischer Einfluss, besonders, wie zu zeigen sein wird, über das Elsass und Mainz, intensiv auf das pfälzische Gebiet ein. Die Verschiebung von Zugehörigkeiten und Grenzen im kirchlichen und staatlichen Bereich konnte schwerlich zu intensiven und konstanten überlokalen Identifikationen führen. Zu der Orientierung an Frankreich konnte so im Laufe des 19. Jahrhunderts eine im Vergleich zum übrigen Bayern wesentlich stärker hervortretende Ausrichtung an Preußen und an der deutschen, auch kleindeutschen Nationalbewegung führen, was für die bayerische Monarchie eine Herausforderung sein musste.13 (3) Eine weitere Folge waren die Unterschiede im Prozess der Säkularisationen und kirchenrechtlichen Neuordnung im Vergleich zu den rechtsrheinischen Ländern. Zur Aufhebung der Klöster und der Dotationen der Bischofskirchen kam es links und rechts des Rheins. Das Pfarrvermögen, die Kirchenstiftungen, wurden freilich im rechtsrheinischen Bayern unangetastet gelassen, wo es sich nicht gerade um Klosterpfarreien handelte. Dies hatte zur Folge, dass die primäre Einnahmequelle des Klerus im 19. Jahrhundert zunächst die Pfarrpfründe blieb. Anders im französischen Rechtsbereich, wo auch die Pfarreien enteignet worden waren und den Pfarrern – die Pfarreigrenzen sollten mit den politischen Gemeindegrenzen übereinstimmen – ein staatliches Gehalt gezahlt werden sollte. In der Pfalz wurde freilich diese Enteignung nicht vollständig durchgeführt, ja im Lauf der Jahre als schwer praktikabel ge10

Volkland. Brachwitz, S. 64 – 72 u. ö. 12 Stamer, S. 87. 13 Zu den neuen Grenzen: Ammerich, Wiedererrichtung, v. a. S. 213 f.

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stoppt.14 Die Schulen gingen ebenfalls an die politischen Gemeinden über. Schließlich war eine weitere wichtige, vom französischen Recht geprägte Sonderentwicklung darin zu sehen, dass die Führung der Geburten-, Ehe- und Todesmatrikel den politischen Gemeinden auferlegt wurde, mithin es also in der Pfalz, anders als im rechtsrheinischen Bayern, die Zivilehe gab.15 Diese Faktoren – enges Zusammenleben der Konfessionen, mehrmalige Verschiebung von Grenzen und herrschaftlichen Identifikationspunkten sowie die rechtlichen Sonderentwicklungen – waren für Monarchie, Bürokratie und Hierarchie Herausforderungen, die nach 1816 Politik, Verwaltung und Seelsorgestrategien prägten, was es im Folgenden darzustellen gilt. II. Das kirchenpolitische Ringen zwischen Monarchie, Bürokratie und Hierarchie im 19. Jahrhundert Den kirchenpolitischen Rahmen bildeten auch für das Bistum Speyer im 19. Jahrhundert natürlich das Konkordat von 1817 und das mit der Verfassung von 1818 veröffentlichte Religionsedikt. Zielte ersteres in der Interpretation der Kurie darauf, der katholischen Kirche eine exklusiv-privilegierte, durch den Staat finanziell abgesicherte Stellung einzuräumen, ansonsten aber einen Freiraum zu schaffen und die traditionelle Kirchenorganisation zugunsten eines straff hierarchisch-modernisierten Modells unter Papst und Bischöfen gemäß den Postulaten des kanonischen Rechts zu ersetzen, so stand hinter dem Religionsedikt das Modell einer aufgeklärt-toleranten Parität zwischen den Konfessionen und einer staatlichen Oberhoheit über den äußeren Kirchenbereich.16 Diese wurde zwar naturrechtlich begründet, hatte aber ihre Wurzeln ebenso in einer jahrhundertealten Tradition, in der Kirchenhoheitsrechte selbstverständlicher Teil der Herrschaft weltlicher Machthaber waren. Damit waren die langfristig wirksamen strategischen Optionen und Tendenzen gegeben: Ziel von Papst und Bischöfen war es, erstmals in der Diözese bzw. überdiözesan eine klare effektive Beziehung der Ober- und Unterordnung und des Gehorsams aufzurichten; in dieser Perspektive erschienen die Speyerer Pfarrer als viel zu selbständig; die bischöfliche Diözesangewalt musste aufgerichtet und gestärkt werden. Der Liberalismus war hingegen meist bei den Beamten, namentlich den protestantischen Beamten, zu Hause; er wollte der Verfassung von 1818 Geltung verschaffen und die staatliche Hoheit auch gegenüber den Konfessionen durchsetzen; die Regierungspräsidenten verfolgten in der Pfalz in der Regel eine Politik dieses konstitutionellen Liberalismus.17

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Stamer, S. 32 – 36. Ebd., S. 38 – 41. 16 Hausberger. 17 Schineller. 15

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Der Monarchie schließlich musste es um Akzeptanz und Loyalität zu tun sein. Das wittelsbachische Königtum sollte auch als Bezugspunkt des pfälzischen Identitätsbewusstseins interiorisiert werden. Ob dies eher mittels liberaler Bürokratie und starkem Staat als Garant der bürgerlichen Freiheit oder mittels der konservativen Macht der Kirchen, gerade der katholischen Kirche, als monarchisch-loyalem Faktor geschehen sollte, dies wechselte je nach Situation und Regent. Die entscheidenden Streitpunkte in der Auslegung von Konkordat und Religionsedikt waren somit jene Bereiche, bei denen man Einfluss auf die frühen und grundlegendsten Sozialisationsfaktoren nehmen konnte, mithin Eherecht und Schule, die das Konkordat selbst nicht nannte, dazu die Priesterausbildung (Artikel V).18 Die Frage des Plazet (Artikel XII)19 war hingegen eher Symbolpolitik im Streit um kirchliche Autonomie und staatliche Kontrolle, während den vom Konkordat, Artikel IX20, festgeschriebe-

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„In jeder Diöcese sollen die bischöflichen Seminarien erhalten, und mit einer hinreichenden Dotation in Gütern und ständigen Fonds versehen werden; in jenen Diöcesen aber, in welchen solche Anstalten nicht vorhanden sind, sollen sie ehestens mit einer Dotation der nämlichen Art hergestellt werden. In die Seminarien werden jene Candidaten aufgenommen und darin nach Vorschrift des heiligen Conciliums von Trient gebildet und unterrichtet, deren Aufnahme die Erzbischöfe und Bischöfe nach dem Bedürfnisse oder Nutzen der Diöcese für gut finden werden. Die innere Einrichtung, der Unterricht, die Leitung und die Verwaltung der Seminarien werden nach den canonischen Formen der vollkommen freyen Aufsicht der Erzbischöfe und Bischöfe untergeben. Die Vorsteher und Lehrer in diesen Seminarien werden von den Erzbischöfen und Bischöfen ernannt, und, so wie es für sie nöthig oder nützlich erachten sollten, auch wieder entfernt werden. Da den Bischöfen obliegt, über die Glaubens- und Sittenlehre zu wachen, so werden sie in Ausübung dieser Amtspflicht auch in Beziehung auf die öffentlichen Schulen keineswegs gehindert werden.“ Bayerisches Konkordat von 1817, Artikel 5. 19 „In Leitung der Diöcesen sind die Erzbischöfe und Bischöfe befugt, alles dasjenige auszuüben, was ihnen vermöge ihres Hirtenamtes Kraft der Erklärung oder Anordnung der canonischen Satzungen nach der gegenwärtigen und vom heiligen Stuhle bestätigten KirchenDisciplin zusteht, und insbesondere: … e) Nach Erforderniß des geistlichen Hirtenamts sich dem Clerus und dem Volke der Diöcese mitzutheilen, und ihren Unterricht und ihre Anordnungen in kirchlichen Gegenständen frey kund zu machen; übrigens bleibt die Communication der Bischöfe, des Clerus und des Volkes mit dem heiligen Stuhle in geistlichen Dingen und kirchlichen Angelegenheiten völlig frey; …“. Bayerisches Konkordat von 1817, Artikel 12. 20 „Seine Heiligkeit werden in Erwägung der aus gegenwärtiger Uebereinkunft für die Angelegenheiten der Kirche und der Religion hervorgehenden Vortheile Seiner Majestät dem Könige Maximilian Joseph und Seinen Katholischen Nachfolgern durch apostolische Briefe, welche sogleich nach der Ratification dieser Uebereinkunft ausgefertigt werden sollen, auf ewige Zeiten das Indult verleihen, zu den erledigten erzbischöflichen und bischöflichen Stühlen im Königreiche Baiern würdige und taugliche Geistliche zu ernennen, welche die nach den canonischen Satzungen dazu erforderlichen Eigenschaften besitzen. Denselben wird Seine Heiligkeit nach den gewöhnlichen Formen die canonische Einsetzung ertheilen. Ehe sie aber diese erhalten haben, sollen sie sich auf keine Weise in die Leitung oder Verwaltung der Kirchen, zu welchen sie ernannt sind, einmischen können. Die Annaten und Canzley-Taxen werden nach dem Maaßstabe der jährlichen Einkünfte eines jeden Bischofs von Neuem festgesetzt werden.“ Bayerisches Konkordat von 1817, Artikel 9.

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nen staatlichen Bischofsernennungen und den staatlichen Präsentationen auf die Mehrzahl der Pfarreien (Artikel XI)21 ein erhebliches Gewicht zukommen musste. (1) Eines der im 19. Jahrhundert zwischen Kirche und Staat umstrittensten Felder war bekanntlich das Eherecht. Seit dem Trienter Konzil hatte die Kirche die Eheleute verpflichtet, vor dem Pfarrer und zwei Zeugen zu heiraten; ansonsten lebte man im Stand der Sünde zusammen. Die Kirche hatte so ein Druckmittel, um bei konfessionell gemischten Ehen die katholische Kindererziehung zu erzwingen, freilich ein zweischneidiges Instrument, riskierte man doch andererseits, dass dann ein großer Teil nicht der Formpflicht Genüge tat und damit nach damaligem Verständnis sein Seelenheil gefährdete, sich jedenfalls die kirchliche Bindung lockerte. Dies war in der Pfalz mit der französischen Zivilehengesetzgebung umso mehr der Fall. Der Mainzer Bischof Joseph Ludwig Colmar (1760 – 1818, ab 1802 Bischof von Mainz) und dann sein Speyrer Nachfolger Matthäus Georg Chandelle (1745 – 1826, ab 1818 Bischof von Speyer) folgten deshalb dem Grundsatz, möglichst alle Ehen im kirchlichen Sinn gültig zu machen, also auch nachträglich noch die Dimissorien, die von der Formpflicht entbanden, auszustellen und diese auch dann nicht zu verweigern, wenn die Versuche der katholischen Geistlichen, die katholische Kindererziehung zu erreichen, keinen Erfolg haben sollten.22 Bischof Johann Martin Manl (1766 – 1835, 1827 – 1835 Bischof von Speyer) wollte diese Praxis zwar einschränken, aber in Ausnahmefällen beibehalten.23 Für die Pfalz musste also die plötzliche Verschärfung der päpstlich-kurialen Haltung 1832/3324 enorme Konsequenzen nach sich ziehen; bekanntlich war es dem bayerischen König dann aber diplomatisch gelungen, den Papst zu einer Zurücknahme des neuen Rigorismus zu bewegen und mit der sog. „passiven Abstinenz“ eine Lösung zuzugestehen, die der Formpflicht auch bei nichtkatholischer Erziehung des Nachwuchses genügte. War so die bishe21 „Der König von Baiern wird auf allen Pfarreyen, Curat- und einfache Beneficien präsentiren, auf welche Seine Vorfahren die Herzoge und Churfürsten aus gültigem PatronatsRechte, es mag sich dieses nun auf Dotation, Fundation oder Bauführung gründen, präsentirt haben. Außerdem werden Seine Majestät zu allen jenen Beneficien präsentiren, zu welchen geistliche Corporationen, die gegenwärtig nicht mehr bestehen, präsentiren. Die Unterthanen Seiner Majestät, welche sich im rechtmäßigen Besitze des Patronats-Rechts nach obigen Titeln befinden, werden ferner zu den Pfarreyen oder Curat- und einfachen Beneficien die unter ihrem Patronats-Rechte stehen, präsentiren. Die Erzbischöfe und Bischöfe aber werden den präsentirten Geistlichen, wenn sie die erforderlichen Eigenschaften besitzen, nach vorgängiger Prüfung über Wissenschaft und Sitten, welche die Bischöfe selbst vorzunehmen haben, wenn es sich um Pfarreyen oder Curat-Benefizien handelt, die canonische Einsetzung ertheilen. Uebrigens muß die Präsentation zu allen diesen Beneficien innerhalb der nach den canonischen Vorschriften bestimmten Zeit geschehen, außerdem werden sie frey von den Erzbischöfen und Bischöfen vergeben werden. Alle übrige Pfarreyen, Curat- und einfachen Beneficien, welche die vorigen Bischöfe der nunmehrigen acht Kirchen in Baiern frey besetzt haben, werden von den Erzbischöfen und Bischöfen an Personen, die von Seiner Majestät genehmigt werden, frey vergeben.“ Bayerisches Konkordat von 1817, Artikel 11. 22 Stamer, S. 118 – 120. 23 Ebd. S. 120. 24 Hacker, S. 87 f.

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rige Praxis faktisch doch bestätigt worden, so machte sich hier in der bayerischen Kirche allgemein, aber auch in der Speyerer Bistumsleitung, eine Frontlinie bemerkbar, die die folgenden Jahrzehnte prägen sollte. Während der größere Teil des Speyerer Domkapitels eher betagt und phlegmatisch war, gab es mit Johannes Geissel (1796 – 1864, 1837 – 1841 Bischof von Speyer, dann Koadjutor und ab 1845 Erzbischof von Köln) und Nikolaus Weis (1796 – 1869, ab 1842 Bischof von Speyer) zwei junge, überaus rührige Domherren, die scharf ihre eigenen Bischöfe angriffen. Besonders Weis wollte einen kompromisslosen Standpunkt in der Mischehenfrage durchsetzen.25 (2) Neben dem Eherecht wurde die Frage der konfessionellen Schulbildung zum Schibboleth des Katholizismus im 19. Jahrhundert. Die konfessionelle Durchmischung der Pfalz und das französische Recht führten dazu, dass viele Gemeinden simultane, christliche Gemeinschaftsschulen einführen wollten, dabei gefördert von der Regierung.26 Dieser Praxis konnte sich das bischöfliche Ordinariat, wo wirklich praktische Notwendigkeiten dafür sprachen, nicht verweigern. Der Konflikt entzündete sich aber an der Lehrerbildung, für die es unter Schulrat Friedrich von Butenschön (1764 – 1842) nur eine einzige Anstalt in Kaiserslautern gab, die als protestantisch-rationalistisch galt. Der von Nikolaus Weis herausgegebene „Katholik“ führte dagegen scharfe Angriffe.27 Bischof Geissel gelang es endlich, dass die Regierung ein zweites, katholisches Lehrerseminar 1839 in Speyer errichtete.28 In der Schulfrage unterschied sich die Pfalz damit vom übrigen Bayern darin, dass die Gemeinschaftsschule sehr viel häufiger vorkam; die Gymnasien und Lyzeen waren in der Pfalz ohnehin konfessionell gemischt. Wie im Eherecht brachte auch in der Schulfrage die liberal-konstitutionelle Politik des bayerischen Staates in den 1860er und 1870er Jahren für die Pfalz keine grundsätzliche Neuerung, da Zivilehe und kommunale Schule dort bereits rechtlich längst bestanden. Faktisch führte die Kulturkampfzeit jedoch zur Errichtung von einer beträchtlichen Anzahl neuer Simultanschulen.29 (3) Neben Ehe und Schule war die Theologenausbildung das wichtigste Konfliktfeld zwischen Staat und Kirche im 19. Jahrhundert. Das bayerische Konkordat sah das Recht der Bischöfe auf die Gründung eines Seminars vor, bei dem nach strengkirchlichem Verständnis der Staat nur ein einziges Recht haben sollte, nämlich dasselbe zu bezahlen.30 Die staatliche Politik hatte hingegen das Interesse, ihren Einfluss auf Inhalte und Niveau der Priesterausbildung zu behalten. Sie orientierte sich an den Universitäten mit ihren wissenschaftlichen Ansprüchen; auf diese Weise wollte man die wissenschaftlichen und allgemeinbildenden Standards in der Klerikerausbildung gewahrt wissen, so dass die katholischen Priester wissensmäßig mit den Gebildeten 25

Stamer, S. 84. Ebd. S. 252 – 254. 27 Schreiben; zum Ganzen: Stamer, S. 127 – 133. 28 Remling, S. 94 – 97; Pfülf, Geissel I, S. 54 f. 29 Königstein, S. 54 – 60; Stamer, S. 251 – 255, 261 – 263. 30 Vgl. Artikel 5 des Konkordats, Anm. 18.

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in Kontakt standen und von diesen ernstgenommen wurden, gegenüber den protestantischen Theologen zudem nicht allzu sehr abfielen und vor allem davor bewahrt würden, in eine staatsfeindliche Gegengesellschaft abzudriften. Das bayerische Kompromissmodell war deshalb, neben den katholisch theologischen Fakultäten in München und Würzburg sogenannte staatliche Lyzeen zu errichten mit stärkerer bischöflicher Rechtsstellung und ohne Promotionsrecht, die aber an den Universitätsfakultäten orientiert blieben und von diesen ihre Professoren ausgebildet bekamen.31 Seminare waren hier nur jene kirchlichen Einrichtungen, an denen die Alumnen während ihrer Studienzeit wohnten. Gegen dieses Modell, das auf einen gebildeten und universitär-staatlich integrierten Klerus setzte, entwickelten ultrakirchliche, von den romanischen Ländern geprägte Protagonisten das Gegenmodell des „totalen Seminars“, das allein der bischöflichen Kontrolle unterstand, bei dem der Kontakt zu weltlichen Studierenden ausgeschaltet werden sollte und die Dozenten jederzeit durch den Bischof absetzbar waren. Der bekannteste Exponent dieser Richtung war Bischof August Graf Reisach (1800 – 1869, 1836 – 1846 Bischof von Eichstätt, 1846 – 1856 Erzbischof von München, dann Kurienkardinal) in Eichstätt, der während der restaurativen Abel-Zeit vom König nominiert und dann befördert worden war, der aber später dann in Bayern unhaltbar wurde.32 In Speyer gab es die besondere Situation, dass aus finanziellen Gründen, anders als in allen anderen bayerischen Diözesen, kein eigenes Lyzeum errichtet worden war. Eine Folge der relativ schwachen institutionellen Infrastruktur in der Klerikerausbildung war auch die niedrige Zahl von Geistlichen bezogen auf die Zahl der katholischen Einwohner. Wichtigste Ausbildungsstätte für den Speyerer Priesternachwuchs wurde in den ersten Jahren deshalb das 1804 im ehemaligen Augustinerkloster gegründete Priesterseminar in Mainz, das selbst anfangs nur als Notlösung galt, nachdem die Mainzer Universität untergegangen war. Dies hatte nicht nur eine einseitige und wissenschaftlich weitgehend ungenügende Ausbildung zur Folge: Das einzige Fach, das wirklich extensiv gelehrt wurde, war die Dogmatik, die der Regens Bruno Franz Leopold Liebermann (1759 – 1844) unterrichtete. Biblische Exegese kam gar nicht vor, da sie ja in der Dogmatik mit gelehrt werde. Als Dozenten wurden meist Neupriester eingeteilt.33 In Mainz machte sich bei den wichtigsten Propagandisten zudem von Anfang an eine nach Frankreich und die französische, antirevolutionäre Kirche hin orientierte Ausrichtung geltend. Dies bedingte, dass man dort bald aus der Not eine Tugend machte und das rein kirchliche, vom Bischof allein abhängige Seminar als die Ideallösung stilisierte, was sich nicht nur im späteren Kampf gegen die theologische Fakultät in Gießen niederschlug, sondern eben auch in der Prägung wichtiger Exponenten der Speyerer Bischofskirche, allen voran von Nikolaus Weis. Dass Bischof Chandelle seine Seminaristen 1825 aus Mainz abzog, machte ihn bei dem durch das Mainzer Seminar geprägten Klerus, allen voran bei Weis, umso verhasster. 1827 wurde auf dem Gelände des ehemaligen Dominikanerklosters ein Priesterseminar in Speyer für 31

Müller. Garhammer. 33 Stamer, S. 25 f.; Lenhart. 32

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das an das auswärtige Fachstudium anschließende Pastoraljahr eröffnet.34 Weis hatte sich als Domkapitular einer Anfrage, ob er bereit sei, an einem staatlichen Lyzeum in Speyer Vorlesungen zu übernehmen, verweigert. 1840 gründete Bischof Geissel ein Knabenseminar in Speyer, das er mit dem dortigen Gymnasium verband. Auf Empfehlung seines Freundes Geissel, der bei König Ludwig I. in hohem Kurs stand und der nach dem Mischehenstreit die Kölner Erzdiözese übernehmen musste, wurde Weis dann 1842 bis zu seinem Tod 1869 Speyerer Bischof. In der Frage des Theologiestudiums war er dabei immer mehr von der Haltung des 1857 von ihm zum Domkapitular ernannten Wilhelm Molitor (1819 – 1880) abhängig, eines scharfen Gegners aller theologischen staatlichen Universitätsfakultäten. Eng mit Reisach verbunden, ja in dessen „Schlepptau“ stehend35, verdächtigte er sogar die katholischkonservative „Augsburger Postzeitung“ als unkirchlich, hasste aber insbesondere die theologische Fakultät in München.36 Molitor betätigte sich auch als Schriftsteller und Dichter, unter anderem (zum Domeinweihungsfest 1861) des Marienlieds „O Königin voll Herrlichkeit“37, war die treibende Kraft, dass Weis 1864 eigenmächtig in Speyer ein Seminar zur Theologenausbildung errichtete, bei dem der Staat außen vor bleiben sollte. Gerichtet war diese Gründung vor allem gegen die Münchener Theologische Fakultät und im besonderen Ignaz von Döllinger (1799 – 1890).38 Die bayerische Regierung verbot dessen Eröffnung und ließ es, als man sich darüber hinwegsetzte, polizeilich schließen. Als 1872 der Münchener Professor und Benediktiner Daniel Bonifaz Haneberg (1816 – 1876) Bischof wurde und das von Weis verbotene Studium in München wieder ermöglichte, stellte sich Molitor offen gegen ihn.39 In der Frage der für die Identifikation mit der Monarchie wichtigen Bischofsernennungen und in der Handhabung des königlichen Plazets spiegelten sich auch in Speyer die allgemeinen Tendenzen der bayerischen Kirchenpolitik. Was die Bischöfe anging, so war die für das königliche Nominationsrecht elementare Informationsgewinnung ein Problem. Neigte man zu Münchener bzw. im rechtsrheinischen Bayern bekannten Klerikern, so hatten diese mit Akzeptanzproblemen in der Pfalz zu kämpfen. In der restaurativen Phase des Ministeriums Abel konnten Geissel und dann Weis Bischof werden; unter letzterem kam es zu zahlreichen Konflikten mit der staatlichen Politik, als diese wieder stärker den Grundsätzen des konstitutionellen Liberalismus folgte.40 In der Kulturkampfzeit kam es nicht nur zu den Auseinandersetzungen um das königliche Plazet für kirchliche Erlasse, sondern auch zu einer zweijährigen Vakanz, als der Papst die Bestätigung für den Münchener Stiftsdekan von 34

Wetzler, S. 52 – 55. Garhammer, S. 168. 36 Stamer, S. 237, 240 – 242, 267 f., 274, 331 f. 37 Steegmüller, S. 161. 38 Weis, S. 139 – 142; Königstein, S. 36 – 44; Bischof, S. 116 – 120. 39 Stamer, S. 332. 40 Ebd. S. 234 – 255. 35

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St. Cajetan als vom König nominierten Speyerer Bischof verweigerte.41 Nach dem Ende der Ära Johann Lutz und mit dem in der Folge immer mehr wachsenden Einfluss der katholisch-konservativen Patrioten- bzw. Zentrumspartei kam es schließlich auch in Speyer zu einer immer engeren Identifikation von Kirche und Monarchie. In kirchlicher Hinsicht kam es im 19. Jahrhundert zu einer umfassenden Neuausrichtung in verfassungsrechtlicher wie in spiritueller Hinsicht. Die Einrichtung des Generalvikariats drängte auch in Speyer kollegiale Formen der Diözesanleitung zurück. Auf geradezu revolutionäre Weise gelang es den Bischöfen, die über Jahrhunderte in relativer Eigenständigkeit agierenden Pfarrer in stärkere Abhängigkeit zu bringen. Hierzu diente nicht nur das Pastoralseminar in Speyer, sondern man profitierte auch von der Aufhebung zahlreicher Pfarrpfründen aus der französischen Periode. Im Vergleich zu den übrigen bayerischen Diözesen konnten die Bischöfe eine relativ große Anzahl von Pfarreien selbst besetzen, nach dem Kompromiss von 1851 rund 40 %, auch wenn Bischof Weis sogar alle Pfarrer hatte selbst ernennen wollen.42 In den Anfangsjahren des neuen Bistums gab es zudem neben den regulären Pfarreien eine größere Zahl von Hilfspfarreien, deren Inhaber nicht nur schlechter bezahlt, sondern auch jederzeit vom Bischof abberufbar waren. Auch die Einführung von Dekanaten war mit dem Versuch verbunden, einen stärkeren bischöflichen Einfluss auf die Seelsorger durchzusetzen.43 Eine neue, spirituelle, „ultramontane“ Prägung sollte durch Priesterexerzitien und Volksmissionen bewerkstelligt werden; auch hier dürfte französischer Einfluss wichtig geworden sein.44 Geissel, der unter seinem Klerus eine eiserne Disziplin aufrichten wollte und unangemeldet zu Visitationen, bei denen er die Laien und Dritte über die Pfarrer anonym ausfragte, erschien, verordnete vielfach Strafexerzitien.45 Alle drei Jahre mussten Priester regulär Exerzitien machen, Bischof Ehrler schrieb dann sogar jährliche Exerzitien vor.46 Bei den Volksmissionen sollten die vier letzten Dinge den Pfarrangehörigen vor Augen gestellt und so flächendeckend Generalbeichten erreicht werden. Spezialisiert darauf hatten sich vor allem die Jesuiten, die Redemptoristen und die Franziskaner. Bischof Weis gelang es, dass alle drei Gemeinschaften in seinem Bistum zahlreiche Volksmissionen abhielten; mit den Jesuiten wurden im Kulturkampf dann auch die Redemptoristen als Exponenten einer extrem ultramontanen Frömmigkeit verboten.47 Unter Weis wurde auch die Marienverehrung auf eine intensive Weise propagiert, so die Wallfahrt nach Maria Rosenberg bei Waldfischbach, die zwei Jahrzehnte vorher noch vom bayerischen Staat verboten

41

Ebd. S. 271 f., 277; Rummel, S. 94 f. Ammerich, Landesherrliche Präsentation. 43 Ders., Entwicklung, S. 247 – 254. 44 Stamer, S. 105. 45 Ebd. S. 174 f. 46 Ebd. S. 333 f. 47 Ebd. S. 209 – 214. 42

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worden war.48 Als Papst Pius IX. die Weltkirche befragte, ob mit der Lehre von der „Unbefleckten Empfängnis Mariens“ ein neues Mariendogma aufgestellt werden sollte, urteilte das Domkapitel gemäß dem Gutachten von Adolf Bruno Würschmitt (1790 – 1851), dies sei weder opportun, noch geraten. Weis drehte dies einfach um und bat den Papst um die Dogmatisierung.49 Dieser vielfach in Europa zu konstatierenden Ultramontanisierung von Kirchenverfassung und Spiritualität korrespondierte in Speyer ein relativ starker Erfolg antiultramontaner Protestströmungen, so in der Revolution 1848 des Deutschkatholizismus, nachdem Johannes Ronge (1813 – 1887) schon 1845 in der Pfalz gepredigt hatte, dann auch nach 1870 der Altkatholiken; freilich konnten beide Bewegungen auch in der Pfalz keine Massenbasis erringen.50 Bischof Weis wandte sich am Dreikönigstag 1849 gegen die Deutschkatholiken in einem Hirtenschreiben. Die Altkatholiken hatten aus dem Klerus selbst kaum (ein Kaplan und ein Franziskaner aus Oggersheim) Zustrom; in Nußdorf überließen ihnen die Protestanten die Simultankirche, was in den Augen der ultramontanen Katholiken einer sakrilegischen Entweihung des Gotteshauses gleichkam.51 III. Das katholische Milieu in der Pfalz – Strukturen und Eigentümlichkeiten Aus dem Gesagten ergibt sich, dass Klerus und Kirche auch in der Pfalz von der Ultramontanisierung erfasst wurden, die in den deutschen Territorien zur Ausbildung eines katholischen Milieus geführt hat. Dessen eigentümliche Strukturen sollen im Folgenden skizziert werden. Vereine, katholische Presse, katholische Parteien und sozialkaritative Orden formten und organisierten die Lebenswelt eines erheblichen Teils der Katholiken und veränderten diese. War man in der Pfalz hier mehr oder weniger erfolgreich als im rechtsrheinischen Bayern, war man hier Vorreiter oder Nachzügler, gibt es Pfälzer Besonderheiten? (1) Vorsichtige Anfänge des katholischen Vereinswesens gab es auch in der Pfalz bereits in den 1830er Jahren unter der Ägide des bayerischen Königs, so eines Vereins zur Verbreitung „guter Literatur“ und des Ludwig Missions-Vereins, der wegen der vielen pfälzischen Auswanderer nach Nordamerika dort einige Bedeutung erlangte.52 Der eigentliche Startschuss für die Vereins- und Milieubildung waren dann aber die Märzfreiheiten von 1848. Die Piusvereine für religiöse Freiheit wurden 48

Matheis. Stamer, S. 235 f.; Weis, S. 142 f. 50 Friedel; Stamer, S. 182 – 188; zum Deutschkatholizismus in der benachbarten oberrheinischen Kirchenprovinz vgl. Holzem; zum Altkatholizismus: Königstein, 73 – 103; Stamer, S. 243 – 249. 51 Königstein, 91. 52 Stamer, S. 289. – Der Ludwig-Missionsverein war in den altbayerischen Diözesen und im Bistum Augsburg aber stärker verankert als in Franken und in der Pfalz. Mathäser, S. 440 f. 49

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in der Pfalz sofort propagiert, stießen allerdings auf zögerliches Interesse.53 In der Frühzeit konnten neben dem Bonifatiusverein für die Katholiken in der Diaspora vor allem Adolf Kolpings (1813 – 1865) Gesellenverein und der von Bischof Weis besonders propagierte Kindermissionsverein Bedeutung erlangen.54 Erst die Zeit um die Jahrhundertwende sah dann den Siegeszug der katholischen Berufs- und Standesvereine. Trotz fehlender Universität waren die katholischen Studentenverbindungen in der Pfalz stark. Bedeutsam wurden der katholische Lehrerverein, die Männerund Jünglingsvereine, im 20. Jahrhundert der katholischen Frauenbund.55 Der, wenn auch späte und partielle, Erfolg des Vereinswesens in der Pfalz im Vergleich zum übrigen Bayern ist vor allem am Volksverein abzulesen, der eine Art Überverein über den Sozialkatholizismus bilden und Schulungsarbeit leisten sollte: er hatte in der Diözese Speyer etwa so viele Mitglieder wie in allen anderen bayerischen Bistümern zusammen.56 (2) Schwierig gestaltete sich der Aufbau einer katholischen Presse in der Pfalz. Bereits 1849 erschien als diözesane Wochenzeitschrift der „Christliche Pilger“, hinter dem Domvikar Franz Hällmeyer (1814 – 1880) stand, der vom Mainzer Kreis geprägt war.57 Die Landschaft der Tageszeitungen war hingegen lokal zersplittert und überwiegend, wie der „Pfälzische Kurier“, nationalliberal und antiklerikal orientiert. Ein Zeichen der Distanz zum bayerischen Katholizismus ist es, dass die überregional-ultramontane „Augsburger Postzeitung“ in der Pfalz kaum Leser gewinnen konnte. Die wichtigste katholische Tageszeitung wurde die 1868 gegründete „Rheinpfalz“, hinter der Domkapitular Molitor stand und der er einen integralistischen Kurs aufdrückte. So wurde ihr in den 1880er Jahren von der „Pfälzischen Zeitung“ Eugen Jägers der Rang abgelaufen, die anfangs überkonfessionell-konservativ eingestellt war, sich nun aber als Zeitung des Katholizismus profilierte.58 (3) Auch in Bezug auf den politischen Katholizismus nahm die Pfalz im Vergleich zum rechtsrheinischen Bayern eine eigene Entwicklung, wo sich die konservativen Kräfte bekanntlich in der Patriotenpartei formierten, die gegen die kleindeutsche Lösung und für die Bewahrung der bayerischen Souveränität stand.59 Dominierte im restlichen Bayern also die Frontlinie Eigenstaatlichkeit/deutscher Nationalstaat zunächst die Parteibildung, so war es in der Pfalz wie auch sonst in Westdeutschland der Gegensatz katholisch-liberal, der zur Gründung der Zentrumspartei führte.60 Im 53

Stamer, S. 198 – 204, 290. Stamer, S. 289, 291 f. 55 Ebd. S. 292 – 295. 56 Debus, S. 211; Stamer, S. 327. 57 Stamer, S. 301 – 303. 58 Ebd., S. 303 – 309. 59 Hartmannsgruber. 60 „Das altliberal-konservative und das katholische Element in der Pfalz sammelte sich bei Wahlen zunächst um ,konservative‘, nach 1871 dann bald um Zentrums-Komitees; die Parteibezeichnung ,bayerisch-patriotisch‘ ist hier nicht anzutreffen. Bereits im Dezember 1881, fünf Jahre vor der entsprechenden Umbenennung der Patriotenpartei, konstituierte sich in 54

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rechtsrheinischen Bayern hatten sich die Patrioten bekanntlich erst 1887 in bayerische Zentrumspartei umbenannt. Die konfessionellen Verhältnisse und das Wahlrecht bedingten, dass die Pfalz im 19. Jahrhundert als liberale Bastion galt; erst die Reformen zu Beginn des 20. Jahrhunderts ermöglichten es, dass pfälzische Zentrumsabgeordnete in den Landtag einzogen. (4) Auch das Ordens- und Kongregationswesen der Pfalz hatte im 19. Jahrhundert eine eigene Prägung. Im Bistum Speyer wirkten zunächst überhaupt keine Orden mehr. 1828 wurde der Dominikanerinnenkonvent in St. Magdalena in Speyer wieder errichtet.61 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war es vor allem die Mädchenerziehung, die weibliche Religiosengemeinschaften als nützlich erschienen ließ. Aber die Ansiedlung der neu gegründeten „Armen Schulschwestern“ in der Pfalz misslang und auch hier gab es deshalb eine pfälzische Eigenlösung: Die Dominikanerinnen von St. Magdalena, die seit 1839 eine höhere Mädchenschule betrieben, bildeten dominikanische Drittordensschwestern aus, die als Lehrerinnen dann in der Pfalz die katholische Mädchenerziehung übernehmen konnten.62 Bischof Weis war vor allem an der Ansiedlung der Redemptoristen als ultramontanem Seelsorgeorden interessiert; eine Ansiedlung bei der wiedererstehenden Marienwallfahrt in Oggersheim ließ sich aber nicht durchsetzen; immerhin ermöglichte König Ludwig dort 1845 durch eine großzügige Stiftung die Ansiedlung von Franziskanerminoriten.63 Zahlreich waren seit etwa 1850 in der Pfalz hingegen die Neugründungen von Niederlassung von Kongregationen, die sich um die Krankenpflege und die Kleinkinderbewahrung/-erziehung kümmerten. Aus dem benachbarten Elsass gründeten die Niederbronner Schwestern einige Niederlassungen, so auch in Pirmasens, wo Pfarrer Paul Nardini (1821 – 1862) wirkte.64 Mitte der 1850er Jahre erhoben die staatlichen Behörden Einspruch wegen der „französischen“ Herkunft dieser Schwestern; sie mussten (vorübergehend) in ihre Heimat zurückkehren, während Nardini in Pirmasens mit seinem Pfarrkind Barbara Schwarz (1823 – 1892) eine franziskanische Drittordensgemeinschaft gründete, die schnell anwuchs und bekanntlich 1869 das Kloster Mallersdorf in Niederbayern als Mutterhaus kaufte.65 Auch die Niederbronner Schwestern breiteten sich wieder in der Pfalz aus, 1879 wurde die Bestimmung aus dem Jahre 1855 offiziell zurückgenommenen; sie wurden von den Speyerer Bi-

Neustadt a. d. H. der ,Pfälzische Zentrumsverein‘. Die Gründe für diese Disparität der Parteientwicklung sind an dieser Stelle nur anzureißen: Ein altbayerischer Patriotismus oder gar Partikularismus spielte in der Pfalz naturgemäß keine Rolle. Ein eingesessenes und selbstbewußtes Bauerntum hatte sich wegen des Systems der Realerbteilungen kaum erhalten, ebenso fehlte seit den napoleonischen Reformen ein (katholischer) Adel …“. Hinzu komme, dass die Katholiken überall in der Minderheit gewesen seien. Ebd. S. 3 f. 61 Festschrift S. 71 – 77; Herrmann, S. 60 – 72. 62 Ebd.; Stamer, S. 165, 214 f. 63 Stamer, S. 177 f.; Weis, S. 135 f. 64 Pfleger, S. 236 f. 65 Schranz.

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schöfen protegiert und gefördert.66 1859 war in Landstuhl eine Diözesanwaisenanstalt errichtet worden, die die von Clara Fey (1815 – 1894) in Aachen gegründeten „Schwestern vom Armen Kinde Jesu“ leiteten.67 Fazit Zum Schluss des Aufsatzes soll versucht werden, die Ergebnisse zusammenzuführen. Welche Strategien verfolgten die bayerische Regierung und die kirchliche Hierarchie in Bezug auf die Pfälzer Katholiken, durch welche Strukturen und Eigenheiten zeichneten sich diese aus? (1) Die Pfalz war im 19. Jahrhundert von München nicht nur räumlich ein Stück weiter entfernt als die übrigen Landesteile. Die Monarchie tat sich auch ein Stück weit schwerer, Akzeptanz und Identifikation zu generieren, in kirchlicher Hinsicht hatten die Konfessionsgeschichte und die Veränderungen in der Franzosenzeit traditionale Bollwerke der Kirchenherrschaft wie die homogene katholische Gemeinde, die pfarrliche Konfessionsschule und den exklusiven Einfluss der Kirche auf Ehe und Reproduktion bereits ein Stück weit unterminiert. Hinzu kam, dass man sich in München schwerer beim Gewinnen von Informationen tat, etwa wenn der König einen Bischof ernennen sollte. Doch auch der Nuntius Francesco Serra-Cassano (1783 – 1850, Nuntius in München 1818 – 1826) glaubte noch nach fast 10-jährigem Wirken, dass Toul die Nachbardiözese von Speyer sei.68 (2) Der Einfluss des Liberalismus und des Protestantismus in der Pfalz und die ländlich-kleinstädtische Struktur, dazu die wirtschaftlichen Schwierigkeiten bedingten es, dass es kaum ein Milieu gebildeter katholischer Laien gab, die öffentlich für die Interessen der Kirche eintraten. So agierte der Pfälzer Klerus selbst früh apologetisch und politisch, was wiederum als Gegenreaktion einem verbreiteten Antiklerikalismus Nahrung gab. Das Fehlen einer Hochschule und einer theologischen Fakultät hatten zur Folge, dass Theologie und katholische Intellektualität in der Speyerer Diözese kaum Einfluss gewannen.69 (3) Die Konfessionsstruktur und der im Vergleich zum restlichen Bayern stärkere Umbruch in Bezug auf traditionelle Bindungen, dazu der durch die Lage und den Einfluss der Mainzer Seminars früh vorhandene französische Einfluss haben in der Pfalz zu einer intensiveren Form der Milieubildung und Ultramontanisierung geführt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war der Kirchenbesuch im Bistum Speyer signifikant niedriger als in den stärker traditionellen altbayerischen Diözesen. Die Zahl der Kommunionen pro Kirchenbesuch lag aber höher, ein Zeichen, dass dort moderne seelsorgliche Strukturen des Milieus früher und stärker wirkten. Pfälzische Eigenhei66

Pfleger, S. 245 – 249. Pfülf, M. Clara Fey, S. 234 – 237. 68 Stamer, S. 86 f. 69 Ebd. S. 150. 67

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ten generierten hier durchaus partielle Modernisierung, zugleich verstärkten sie aber auch einen Antiklerikalismus, der eine Brücke zu einer weiteren Säkularisierung werden konnte.70 Literatur Ammerich, Hans: Zur Entwicklung der Pfarreiorganisation im Bistum Speyer im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 44 (1992), S. 247 – 268. Ammerich, Hans: Formen und Wege der katholischen Reform in den Diözesen Speyer und Straßburg. Klerusreform und Seelsorgereform, in: Volker Press u. a. (Hrsg.), Barock am Oberrhein (= Oberrheinische Studien 4), Karlsruhe 1985, S. 291 – 327. Ammerich, Hans: Landesherrliche Präsentation oder freie bischöfliche Verleihung? Ein Beitrag zu den Unstimmigkeiten zwischen dem bayerischen Staat und dem Bistum Speyer wegen der Besetzung der Pfarreien während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 36 (1984), S. 255 – 295. Ammerich, Hans: Die Wiedererrichtung des Bistums Speyer 1817/21, in: Ders. (Hrsg.), Das Bayerische Konkordat 1817, Weißenhorn 2000, 203 – 230. Bischof, Franz Xaver: Theologie und Geschichte. Iganz von Döllinger (1799 – 1890) in der zweiten Hälfte seines Lebens (= Münchener Kirchenhistorische Studien 9), Stuttgart/Berlin/Köln 1997. Brachwitz, Peter: Die Autorität des Sichtbaren. Religionsgravamina im Reich des 18. Jahrhunderts (= Pluralisierung & Autorität 23), Berlin/New York 2011. Debus, Karl Heinz: Joseph Georg von Ehrler, Bischof von Speyer (1878 – 1905), in: Hans Ammerich (Hrsg.), Lebensbilder der Bischöfe von Speyer seit der Wiedererrichtung des Bistums Speyer 1817/21. FS Anton Schlembach, Speyer 1992, S. 193 – 223. Festschrift zum 700 jährigen Jubiläum des St. Magdalenenkloster zu Speyer a. Rh. 1228 – 1928, Regensburg [1928]. Friedel, Heinz: Der Deutschkatholizismus in seinem Verhältnis zum Pfälzischen Protestantismus, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 30 (1963), S. 144 – 154. Garhammer, Erich: Seminaridee und Klerusbildung bei Karl August Graf von Reisach. Eine pastoralgeschichtliche Studie zum Ultramontanismus des 19. Jahrhunderts (= Münchener Kirchenhistorische Studien 5), Stuttgart/Berlin/Köln 1990. Hacker, Rupert: Die Beziehungen zwischen Bayern und dem Hl. Stuhl in der Regierungszeit Ludwigs I. (1825 – 1848) (= Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 27), Tübingen 1967. 70 Speyer ähnelte in diesen Statistiken hingegen eher der Diözese Würzburg. Im Kriegsjahr 1915 sind etwa im Bistum Speyer 234.088 von 441.792 der Katholiken ihrer Osterpflicht nachgekommen; die Gesamtzahl der Kommunionen lag bei 4.293.757; zum Vergleich: Bistum Würzburg 306.853 von 586.343, bei 6.376.557 Kommunionen; im Bistum Regensburg 651.692 zu 892.700 bei 9.479.447; in der Diözese Passau 253.464 zu 351.677 bei 4.087.971. Krose, S. 440 – 477.

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Hartmannsgruber, Friedrich: Die bayerische Patriotenpartei 1868 – 1887 (= Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 82), München 1986. Hausberger, Karl: Staat und Kirche nach der Säkularisation. Zur bayerischen Konkordatspolitik im frühen 19. Jahrhundert, (= Münchener Theologische Studien. Hist. Abt. 23), St. Ottilien 1983. Herrmann, Adele: 750 Jahre Kloster Sankt Magdalena Speyer 1228 – 1978, Speyer 1978. Holzem, Andreas: Kirchenreform und Sektenstiftung. Deutschkatholiken, Reformkatholiken und Ultramontane am Oberrhein 1844 – 1866 (= VKZG.B 65), Paderborn u. a. 1994. Königstein, Ulrich: Kulturkampf im Bistum Speyer. Eine regionalgeschichtliche Untersuchung (= Saarbrücker theologische Forschungen 7), Frankfurt am Main u. a. 2000. Krose, Hermann Anton: Kirchliches Handbuch für das katholische Deutschland. Nebst Mitteilungen der amtlichen Zentralstelle für kirchliche Statistik. V: 1914 – 1916, Freiburg i. Br. 1916. Krüger, Günther: Die Täufer – eine Spurensuche, in: Klaus Bümlein/Marc Lienhard (Hg.), Kirchengeschichte am Oberrhein: ökumenisch und grenzüberschreitend (= Veröffentlichungen des Vereins für Pfälzische Kirchengeschichte 30), Ubstadt/Weiher u. a. 2013, S. 174 – 179. Kuby, Alfred Hans (Hrsg.): Pfälzisches Judentum – Gestern und heute. Beiträge zur Regionalgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Neustadt an der Weinstraße 1992. Lenhart, Ludwig: Die erste Mainzer Theologenschule des 19. Jahrhunderts (1805 bis 1830). Ein kirchen- und geistesgeschichtlicher Durchblick, Mainz 1956. Mathäser, Willibald: Der Ludwig-Missionsverein in der Zeit König Ludwigs I. von Bayern. Festgabe zur ersten Jahrhundertfeier des bayerischen Missionswerkes, München 1939. Matheis, Eugen: Maria Rosenberg im Wandel der Zeiten, Waldfischbach 21964. Müller, Rainer A.: Akademische Ausbildung zwischen Staat und Kirche. Das bayerische Lyzealwesen 1773 – 1849. I: Darstellung, II: Quellen (= Quellen und Forschungen aus dem Gebiet der Geschichte. NF 7), Paderborn/München/Wien/Zürich 1986. Pfleger, Lucian: Die Kongregation vom Allerheiligsten Heilande, genannte „Niederbronner Schwestern“. Ein Beitrag zur christlichen Liebestätigkeit in der neuesten Zeit, Freiburg i. Br. 1921. Pfülf, Otto: Cardinal von Geissel. Aus seinem handschriftlichen Nachlaß geschildert. I-II, Freiburg i. Br. 1895/96. Pfülf, Otto: M. Clara Fey vom armen Kinde Jesus und ihre Stiftung 1815 – 1894, Freiburg i. Br. 2 1913. Remling, Franz Xaver: Cardinal von Geissel, Speyer 1873. Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Pfälzer. Ein rheinisches Volksbild, Stuttgart/Augsburg 1857. Rummel, Fritz Freiherr von: Das Ministerium Lutz und seine Gegner 1871 – 1882. Ein Kampf um Staatskirchentum, Reichstreue und Parlamentsherrschaft in Bayern, München 1935. Schaab, Meinrad: Die Wiederherrstellung des Katholizismus in der Kurpfalz im 17. und 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 114 (1966), S. 147 – 207.

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Das Schulwesen der Pfalz 1816 – 1918 Von Lenelotte Möller, Speyer I. Grundzüge des bayerischen Bildungssystems im 19. Jahrhundert1 Die bayerische Schulpolitik im 19. Jahrhundert gliedert sich, wenn man sie nach den prägenden Kräften einteilt, in zwei Abschnitte: In den ersten Jahrzehnten bis zum Tod König Maximilians II. 1864 befassten sich die Könige höchstpersönlich und intensiv mit dem Bildungswesen. Nach der Amtsübernahme des jungen Königs Ludwig II. dagegen waren es mehr die jeweils dominierenden Parteien, die die Bildungspolitik in Bayern gestalteten. Beide Personengruppen, die Könige wie die Politiker, schwankten dabei stark zwischen den verschiedenen Idealen des Bildungswesens: zwischen Philanthropinismus und Neuhumanismus, der Bevorzugung der höheren Bildung und den Bemühungen um die Elementarbildung, der stärkeren Aufgliederung und der Reduzierung der Schulformen. Bis 1849 wurde das Schulwesen ausschließlich durch Verordnungen geregelt, dann wurde erstmals ein Gesetz verabschiedet; es betraf die Verheiratung und die Residenzpflicht der Lehrer. Ein umfassendes Schulgesetz, das die bisherigen Bestimmungen zusammenfasste, kam allerdings auch noch Ende der 60-er Jahre nach langen Debatten nicht zustande. 1. Reformen Montgelas’ Die Reformen Montgelas’, die am Anfang der bayerischen Schulpolitik des 19. Jahrhunderts standen, wurden von ihm selbst in einem Memoire von 1796 beschrieben: Darin fordert der Verfasser eine gute Lehrerbildung und die Befolgung der Schulpflicht. Das bisherige Niveau der Volksbildung in der Kurpfalz und noch mehr in Bayern beklagte er als viel zu niedrig. Montgelas beabsichtigte, den Bildungsstand der gesamten Bevölkerung zu verbessern, noch ohne die Sorge zu haben, dass besser gebildete Bürger vielleicht mehr Mitsprache fordern könnten. Die Reform begann mit einem Edikt von 1799, das viele klösterliche Lateinschulen in Realschulen umwandelte. Die größere Anschaulichkeit des Unterrichts und die stärker am Lebensalltag der Schüler orientierten Themen trugen den Forderungen 1 Die Ausführungen dieses ersten Abschnitts beruhen im Wesentlichen auf den Darstellungen Max Liedtkes und Irmgard Bocks zum Bayerischen Bildungswesen im 19. Jahrhundert: Liedtke, Gesamtdarstellung und Bock, Gesamtdarstellung, in: Liedtke, Handbuch.

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der Aufklärung an die Schulen Rechnung. Die Realinstitute konnten sich aber nur langsam neben den klassischen Gymnasien Akzeptanz verschaffen. Die grundlegendere Reform folgte 1802: Schulpflicht (eigentlich Unterrichtspflicht, im Folgenden aber verallgemeinernd Schulpflicht genannt) wurde nun nachdrücklicher als bisher betont und sollte wenigstens vom sechsten bis zum zwölften Lebensjahr andauern, für alle Geschlechter und Konfessionen, ganzjährig, außer in der Erntezeit. Mädchen besuchten in Bayern dabei nach 1817 etwa viermal so häufig wie Jungen Klosterschulen. Abgeschlossen werden sollte die Schulzeit mit einer Prüfung am Ende, das Zeugnis wurde zur Bedingung für die staatliche Heiratserlaubnis. Im folgenden Jahr wurde auch die Sonntagsschulpflicht eingeführt. 2. Widerstände und konfessionelle Unterschiede Die Schulaufsicht nahmen staatliche Mittelbehörden wahr, später die Kreisscholarchen (ehrenamtlich) und die lokalen Schulkommissionen. Die Durchsetzung der Schulpflicht stellte für die Behörden eine harte Arbeit dar und zog sich Jahrzehnte lang hin. Im Wege standen ihr Lehrermangel, fehlende Schulhäuser und zu weite Schulwege, zu hohes Schulgeld und die Haltung der Eltern, die die Arbeitskraft ihrer Kinder beanspruchten und Bildung für nutzlos hielten. So richteten sich die Ferien in Stadt und Land denn auch nach regionalen Bedürfnissen. Bei denen, die ihre Kinder zum Unterricht schickten, gingen die Katholiken bis zum zwölften Lebensjahr, die Evangelischen freiwillig meist bis zum vierzehnten in die Schule. Das Menschenbild der Aufklärung, das den staatlichen Verordnungen zugrunde lag, war utilitaristisch und zielte auf die „Brauchbarkeit“ der herangebildeten Personen. Aus dieser Absicht ergab sich im Laufe des Jahrhunderts auch eine zunehmende Aufgliederung der Schulen in verschiedene Fachrichtungen. Trotz Einbeziehung der katholischen und evangelischen Pfarrer in die Schulaufsicht gab es von kirchlicher Seite massive Widerstände gegen diese neue Politik; einflussreichster Gegner war Johann Michael Sailer (1751 – 1832), der Erzieher Ludwigs I. und Professor in Ingolstadt bzw. Landshut. Kritisiert wurden vor allem die Radikalität des Wechsels, die Schwächung der Philologie zugunsten der Sachkunde sowie die befürchtete Entkonfessionalisierung der Mittelschulen (Gymnasien). 3. Abkehr vom radikalen Reformkurs Erreicht wurde in nur wenigen Jahren eine deutliche Änderung der bisherigen Linie. Nach dem Konkordat von 1817 wurden aufgrund von Art. VII viele Klöster wiedererrichtet und mit Erziehungsaufgaben betraut: bei den Männern weniger Jesuiten, dafür stärker die Benediktiner, so z. B. die Abteien Ottobeuren, Schäftlarn, Scheyern, Weltenburg; bei den Frauen entstanden wieder oder neu Schulen der Englischen Fräulein, der Ursulinen, der Dominikanerinnen, auch der Franziskanerinnen und Benediktinerinnen, der Armen Schulschwestern und der Salesianerinnen.

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Die Dominanz der alten Sprachen in den Gymnasien wurde wiederhergestellt und diese Schulart durch die Einrichtung einer eigenen Lehrerbildung verbessert, und zwar organisiert von Friedrich Wilhelm Thiersch (1784 – 1860). Ab 1809 wurde der Besuch des Gymnasiums mit einem Absolutorium als Abschlussprüfung beendet. Nach zuerst fortschrittlichen Signalen Ludwigs I. in der Schulpolitik, änderte er seinen Kurs unter dem Einfluss der Kritiker und erst recht nach den Eindrücken des Hambacher Festes. Die Schulordnung von 1830 war schon klar neuhumanistisch geprägt: mehr Griechisch und Latein (64 %, später 56 %) als in Preußen (46 %), weniger dagegen als in Sachsen und Württemberg. Dazu kam aber in Bayern auch Hebräisch; Französisch wurde im rechtsrheinischen Bayern nur privat und gegen Bezahlung unterrichtet. Deutsch, Biologie, Physik und Chemie fehlten am Gymnasium. Immerhin wurden aus der Phase der aufklärerischen Schulpolitik die langjährige Schulpflicht und die staatliche Aufsicht, die nunmehr beim Innenministerium lag, beibehalten. Ziel der Reform von 1830 unter Ludwig I. war die Sicherung der Monarchie durch eine religiös dominierte Erziehung und traditionelle Bildung. Über die Ernennung von Gymnasialdirektoren entschied daher auch der König persönlich. Die neue Richtung äußerte sich ebenso in den Bestimmungen für den Primarbereich. Am 4. April 1836 wurden alle nicht für die Landwirtschaft relevanten Sachthemen aus dem Lehrkanon und der Lehrerbildung (!) verbannt, gestärkt wurden der Religionsunterricht und das Thema bayerische Geschichte. Die Methodik des Unterrichts war nur sehr schwach ausgebildet. 4. Veränderungen unter Maximilian II. Ein erneuter Umschwung der Schulpolitik zeichnete sich unter König Maximilian II. ab. Ihm lag besonders die gymnasiale Bildung am Herzen: Er begründete die Aufnahme begabter Studenten ins Maximilianeum und ließ 1864 die Realgymnasien einführen. Die Schwäbische Lehrerwitwen- und Waisenkasse unterstützte er mit 16000 fl. aus seinen privaten Mitteln. Die Werktagsschulpflicht verlängerte er 1856 auf sieben Jahre. Die Lehrer blieben Gemeindeangestellte, erhielten aber ab 1861 höhere Bezüge, Vereine unterstützten berufsunfähig gewordene Kollegen und deren Familien. Die Volksschullehrerbildung in den sogenannten Präparandenanstalten blieb aber bei der radikalen Beschränkung auf die Fächer Lesen, Schreiben, Rechnen sowie Religion und Gesang. Pädagogische Bücher höheren Anspruchs (so von Adolph Diesterweg2, Gustav Friedrich Dinter3 und Heinrich Stephani4, die freilich auch alle evan-

2 Z. B. Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer. Bearbeitet und herausgegeben von F. A. W. Diesterweg. 4. Auflage. Baedeker, Essen 1850 – 1851.

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gelisch waren) wurden verboten. Gymnasien und Universitäten wurden 1851/52 von weniger als 1 % der Bevölkerung (1871 1,2 %) besucht. 5. Entwicklung ab 1866 Nach dem Tod Max‘ II. ging aufgrund des Desinteresses Ludwigs II. die Kontrolle des Schulwesens auf die jeweils regierenden Parteien über. Das 1866 eingeführte Lehrerbildungsnormativ für das Volksschulwesen blieb in Bayern grundlegend bis 1958. Es stärkte die Sachfächer Geschichte, Geographie und Naturkunde. Gleichzeitig wurde der kirchliche Einfluss auf die Mitsprache bei Bestellung des Seminarleiters beschränkt. Die Einzelheiten des Unterrichts wurden in Kreislehrplänen festgelegt. Anschaulichkeit, Induktion, Themenwechsel und Übung als wichtige Bestandteile des Lernens waren allgemein anerkannte Lehrmethoden, noch nicht dagegen Prinzipien wie Kreativität und Problemlösungsstrategien. Die Volksschulen waren mehrheitlich Konfessionsschulen, davon gab es in Bayern 1870/71 4893 katholische, 1938 evangelische, 124 israelitische und 61 gemischte, von den letzten beiden Gruppen die meisten in der Pfalz. Für die Sachkosten der Schule (Bau, Unterhaltung, Heizung und dergleichen) waren die Gemeinden zuständig, die im Bedarfsfall vom Staat unterstützt wurden. Der Schulbesuch musste mit Ausnahmen für besonders begabte Schüler von den Eltern bezahlt werden. Die Angleichung der Besoldung der Lehrer mit Verwaltungsbeamten des entsprechenden Ranges erfolgte erst 1872 und damit lange nach der Verbesserung ihrer Qualifikation. 6. Lehrerinnen und Mädchenschulen Die Frauen unter den Lehrkräften machten noch bis zur Jahrhundertmitte etwa 5 % aus, eine Ausbildungsanstalt für sie gab es z. B. in München, aber nur phasenweise, anderswo gar nicht oder nur auf privater Basis. Die beste Qualifikation unter den Frauen besaßen wohl die Ordenslehrerinnen, die allerdings die Hälfte des Gehaltes der weltlichen Lehrerinnen bezogen, letztere etwa drei Viertel des Gehaltes der männlichen Lehrer. Von einem Frauenkloster getragen wurden in der Regel auch die Höheren Schulen für Mädchen, die freilich nicht auf die Universität vorbereiteten. Durch die weiblichen Lehrorden, die seit Jahrhunderten als einzige einen über die Elementarbildung hinausgehenden Unterricht angeboten hatten, hatten bei den Katholiken die Mädchen die besseren Möglichkeiten. Initiativen des städtischen Bürgertums führten 3 Z. B.: Die vorzüglichsten Regeln der Pädagogik, Methodik und Schulmeisterklugheit, als Leitfaden beym Unterrichte künftiger Lehrer in Bürger- und Landschulen bestimmt, Leipzig 1806. 4 Z. B.: Kurzer Unterricht in der leichtesten und kürzesten Methode, Kindern das Lesen zu lehren. Erlangen 1803; Ausführliche Beschreibung einer einfachen Lesemethode, Erlangen 1814; Ausführliche Beschreibung der genetischen Schreibmethode. Erlangen 1815; Ausführliche Anweisung zum Rechenunterrichte. Nürnberg 1815.

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erst im 19. Jahrhundert zu entsprechenden privaten oder öffentlichen Einrichtungen für evangelische Kandidatinnen mit vergleichbarem Niveau. Die höheren Schulen für Mädchen waren bisweilen mit einem Lehrerinnenseminar verbunden. 1898 legte erstmals ein Mädchen als Externe die Reifeprüfung an einem bayerischen Gymnasium ab, und zwar in Nürnberg. 7. Höheres Schulwesen In den Lateinschulen und Gymnasien wurden ab den 1860-er Jahren naturwissenschaftliche Kurse eingeführt, 1874 wurde die Gymnasialzeit auf neun Jahre verlängert. Damit einher ging die gegenseitige Anerkennung der Reifeprüfungen der Länder und eine Entwertung des Lyzeums. Gestärkt wurden innerhalb des Gymnasiums die Fächer Deutsch und Naturwissenschaften. Immer wichtiger wurden neben den humanistischen die Realgymnasien, ferner auch die Gewerbe- und Handelsschulen, auch wenn sie lange nicht als ebenbürtig betrachtet wurden. Die Realgymnasien berechtigten zum Universitätsstudium bestimmter Fächer. Die Real- und Gewerbeschulen bereiteten auf ein Gewerbe oder den Besuch eines Realgymnasiums vor, die Oberrealschulen auf die Offizierslaufbahn oder technische Verwaltungsberufe, mit einer Zusatzprüfung in Latein auf das Medizin- oder Pharmaziestudium. Von der 1868 eingeführten Industrieschule, die nicht mit der des 18. Jahrhunderts vergleichbar war, sondern je eine mechanisch-technische, eine chemisch-technische und eine bautechnisch-technische Abteilung hatte, konnte man in die Technische Hochschule übergehen. Am Ende des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl berufsspezifischer Fachschulen rasant, allerdings mehr zur Weiterbildung als zur Ausbildung. Zu diesen ist im weiteren Sinne z. B. auch die Landwirtschaftliche Centralschule Weihenstephan zu rechnen. Außerdem gab es außerhalb der Hochschulen Schulen für Kunst, Musik und Kriegshandwerk. Nach der zunehmenden Aufsplitterung von Schularten und Abschlüssen folgte am Ende des 19. Jahrhunderts aber wieder das Bestreben nach Überschaubarkeit und Vereinheitlichung, vor allem im Sekundarbereich. Extrem langsam wurden die Bildungsmöglichkeiten für Mädchen denen für Jungen angenähert. 1905 wurde die bayerische Schulaufsicht noch einmal neu geordnet: Die Landesschulkommission unter Leitung des Ministers beaufsichtigte nun die Gymnasien und Kunstgewerbeschulen, die Kreisschulkommissionen das Volks- und Fortbildungsschulwesen, die Lehrerseminare und höheren weiblichen Bildungsanstalten, die Lokal- oder Bezirksschulkommissionen die Volksschulen.5

5

Bock, S. 408.

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II. Die Situation in der Pfalz 1815 Der Aufsplitterung der späteren Rheinpfalz in über 40 Territorien vor der Französischen Revolution entsprach das uneinheitliche Schulwesen: Es war nach bis zu vier Konfessionen gegliedert wie z. B. in Frankenthal. Kirchliche Schulen bestanden neben städtischen, staatlichen und privaten, die Lehrpläne und Unterrichtsinhalte sowie alle anderen Bestimmungen wiesen allenfalls gemeinsame Tendenzen auf. 1. Vielfalt in den Territorien vor 1792 Während sich die einen Schulen, etwa die ehemaligen Jesuitenschulen durch den Trägerwechsel nicht selten im Niedergang befanden, erlebten andere ihre große Blüte wie z. B. das Gymnasium in Zweibrücken, wo vom Herzog auch die Einrichtung von Lehrerseminaren für die Elementarschulen veranlasst wurde.6 Die älteste noch bestehende lateinische Schule auf pfälzischem Gebiet war 1436 in dem nunmehr französischen Landau entstanden. In Speyer existierte neben dem reichsstädtischen lutherischen Gymnasium (gegründet 1540) ein katholisches der Jesuiten, später von Weltpriestern, Franziskanern und Augustinern geführt. Außer den erwähnten besaßen ferner auch das kurpfälzische Neustadt und Grünstadt ein Gymnasium. Ehrlich bemüht um das niedere Schulwesen war der vorletzte Fürstbischof August von Limburg-Stirum, während z. B. in Kirchheimbolanden langwierige Streitigkeiten um ein Schulbuch ausgetragen wurden. Philanthropine führten eine mehr (in Frankenthal für Mädchen) oder weniger (in Heidesheim für Jungen) solide Existenz und lockten gar Schüler/innen aus dem Ausland in die spätere Rheinpfalz.7 2. Unter Einfluss der Französischen Revolution Dieser Vielfalt bereitete 1792 die Eroberung der Pfalz durch französische Revolutionstruppen ein jähes Ende. Viele Schulen wurden geschlossen, die Pfarrer, die die Schulaufsicht ausgeübt hatten, wurden vertrieben, die Klöster, die Schulen unterhalten hatten, wurden aufgelöst und enteignet. So stellte die französische Neuordnung zwar eine Vereinheitlichung, gleichzeitig aber auch einen deutlichen Niedergang dar. Gemäß dem französischen Schulsystem wurden die Gymnasien in Zweibrücken, Speyer, Neustadt und Grünstadt zu Écoles Secondaires umgewandelt, die einzige höhere humanistische Schule, Lycée genannt, befand sich nun in Mainz. Das niedere Schulwesen wurde zwar von der konfessionellen Zersplitterung befreit, litt aber heftig unter der militärischen Verwendung von Schulhäusern, unter noch schlechterer Lehrerbesoldung und -ausbildung als bisher sowie unter der Aufweichung der Schul6 7

Fritz, S. 13 – 15. Möller, Mädchenbildung, S. 145.

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pflicht.8 In französischer Zeit entstanden neue, kleine und entsprechend kurzlebige Privatinstitute. Immerhin gab es bis 1813 ein privates Lehrerseminar in Otterberg.9 Die gemeinsame Verwaltung der Pfalz durch Bayern und Österreich von 1814 bis 1816 brachte dem Schulwesen aus Geldmangel keine wesentlichen Verbesserungen. In den Dorfschulen, in denen fast keine ausgebildeten Lehrer mehr unterrichteten, wurden die Geistlichen wieder als Schulaufsicht eingesetzt, weil sie als einzige die fachliche Qualifikation dazu besaßen.10 3. Übergang in das Königreich Bayern Beim Übergang der Pfalz in das Königreich Bayern war daher ein Neuaufbau des Schulwesens erforderlich. Für dessen Organisation war relevant, dass in der Pfalz eine andere konfessionelle Aufteilung herrschte als im bayerischen Kernland: Es gab eine evangelische Mehrheit, namentlich nach der Vereinigung aller lutherischen und reformierten Gemeinden in einer unierten Landeskirche 1818, es gab eine relativ große Zahl von Gemeinden, die mehrere Konfessionswechsel mitgemacht hatten und daher gemischt waren, und es gab einen höheren Anteil an Juden, deren absolute Zahl öfter eigene Elementarschulen möglich machte. III. Die Entwicklung in der Pfalz im 19. Jahrhundert Die Ära Montgelas war zwar schon fast zu Ende, als die Pfalz am 30. April 1816 ein Kreis im Königreich wurde.11 Dennoch standen die Anfänge auch hier unter liberalen Vorzeichen. Als Kreisschulrat reorganisierte und beaufsichtigte Johann Friedrich Butenschoen12 ab 1816 das gesamte pfälzische Schulwesen. Der Organisationsplan, den er 1816 verfasste und im folgenden Jahr ergänzte, berücksichtigte die Organisation des Schulwesens (z. B. Schultypen), die Verteilung der Schulen, die Ausbildung und die Besoldung der Lehrer.13 1. Elementarschulwesen Im Elementarschulwesen war 1816 die Lage am schlimmsten. Um die im ganzen Königreich geltende Schulpflicht überhaupt durchsetzen zu können, mussten dringend Lehrer ausgebildet werden. Bei einer Prüfung von 400 Lehrern im August 1818 in Speyer bestanden nur 15 mit der zweitbesten Note „gut“, 105 mit „hinlänglich befähigt“. Andere wurden aufgefordert, die Prüfung nach gründlicher Vorberei8

Schmitt, F., S. 116 f. Fritz, S. 15 – 17. 10 Schmitt, F., S. 118 f. 11 Liedtke, Gesamtdarstellung, hier S. 26 f. 12 Zu seiner Person vgl. Müller, sowie Bümlein. 13 Bümlein, S. 61.

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tung in ein oder zwei Jahren zu wiederholen.14 Das Lehrerseminar, dessen Notwendigkeit hier überdeutlich zu Tage trat, war zu diesem Zeitpunkt bereits gegründet und zwar in Kaiserslautern. Es stand Kandidaten beider Konfessionen offen.15 Eine stetig wachsende Zahl von Kandidaten und die Sorge um die Benachteiligung katholischer Schüler führten 1839 zur Gründung eines eigenen Seminars in Speyer. 1857 mussten alle Lehrerseminare mit einer Übungsschule verbunden werden.16 Von 1817 bis 1863 verdoppelte sich die Zahl der Lehrerstellen fast von 844 auf 1517,17 danach wuchs sie langsamer. 1873 waren von den in ganz Bayern angestellten Lehrkräften in Volksschulen 15,1 % in der Pfalz angestellt, bei einem Anteil der Pfälzer an der Gesamtbevölkerung von 12,7 %.18 Mit dem Übergang der Pfalz an Bayern begann erstmals eine langfristige und für das ganze Gebiet der Pfalz einheitliche Schulpolitik. In den einzelnen Orten wurden Lokalschulinspektionen, bestehend aus Bürgermeister, einem Gemeinderatsmitglied und den Pfarrern eingerichtet, die den äußeren Zustand der Schulen, die Regelmäßigkeit des Schulbesuches und die Disziplin überwachten. Aufsicht über den Religionsunterricht übten die Kirchen aus. Die Schulpflicht gemäß der bayerischen Verordnung von 1802 wurde 1817 auch für den Rheinkreis erlassen.19 Regelmäßig forderten weitere Verordnungen die Einhaltung der Schulpflicht. Eine Schwierigkeit bei ihrer Durchsetzung in der Pfalz war, dass andere als Geldstrafen nach dem immer noch geltenden französischen Recht nicht erlaubt, Geldstrafen aber bei ohnehin armen Familien nicht vollstreckbar waren. Sonntagsschulen waren in der Pfalz extrem schwach besucht, wurden an manchen Orten gar nicht erst eingerichtet.20 Als 1825 die bayerischen Kreisschulräte durch Kreisscholarchen ersetzt wurden,21 wurde Butenschoen, dessen Auffassungen nicht mehr in die neue Schulpolitik unter König Ludwig I. passten, in den Ruhestand versetzt. Mangels eines geeigneten Nachfolgers blieb er aber mit beschränkten Rechten bis 1827 im Amt.22 Kreisscholarch wurde 1832 Georg Jäger, Direktor der Studienanstalt in Speyer,23 ein Kritiker Butenschoens und Gegner liberaler Strömungen. Der Aufsicht der Kreisscholarchen unterstanden auch private Schulanstalten. 14

Strutz, S. 204. Amtsblatt des Rheinkreises 1817, S. 365 ff. 16 Fritz, S. 105. 17 Geib, S. 570. 18 Bevölkerungsanteil der Pfälzer an der bayerischen Gesamtbevölkerung bei der Volkszählung 1871: 12,7 %, vgl. Beamten-Verzeichnis, S. LVIII; Lehrkräfte in bayerischen Volksschulen insgesamt: 10529, vgl. Bock, Gesamtdarstellung, S. 410; Lehrkräfte in der Pfalz 1873: 1591, vgl. Beamtenverzeichnis, S. 92. 19 Amtsblatt 1817, S. 365 ff. 20 Geib, S. 568. 21 Liedtke, Gesamtdarstellung, S. 37. 22 Müller, S. 89. 23 Schmitt, J. J. H., S. 621. 15

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Erstmals wurden 1861 dienstunfähig gewordene Lehrer über die Armenhilfe hinaus abgesichert.24 In der Pfalz hatten die tatsächlichen Lehrergehälter zuvor lange nicht die festgesetzten Mindestbeträge erreicht.25 Zur Unterstützung der im Falle des frühen Todes eines Lehrers besonders schlecht abgesicherten Kinder wurde 1869, später als in anderen bayerischen Kreisen, die Gründung des Pfälzischen Lehrerwaisenstifts beschlossen.26 Die Einführung des 7. Pflichtschuljahres in Bayern 1856 bedeutete für die Pfalz eher eine Bestätigung der bestehenden Praxis als eine Neuerung. Gewünscht von Pfarrern und Lehrern, wurde in mehreren Stufen um 1900 in der Pfalz, zunächst fakultativ, dann obligatorisch in den Städten das 8. Schuljahr eingeführt. In kleineren Städten, auf dem Land und verpflichtend für Mädchen geschah dies aber erst nach 1918.27 Die Volksschulen wurden von Gemeinden getragen und finanziert. 1817 bis 1827 wurden in der Pfalz über 300 neue Schulhäuser errichtet, 1850 – 1855 180 000 fl. für Schulgebäude ausgegeben. In der Stadt Ludwigshafen entfiel in der Zeit von 1871 bis 1914 ein Viertel der städtischen Ausgaben auf das Schulwesen, das damit den größten Etatposten ausmachte.28 Wo es die Schülerzahl erlaubte, wurde der Unterricht konfessionell getrennt gehalten. Dabei gab es auch israelitische Schulen, deren Zahl von 28 (1837) auf 60 (1867) stieg und die ein hohes Ansehen besaßen. Wo israelitische Schulen existierten, war ein Rabbiner Mitglied der Lokalschulkommission.29 Der Anteil dieser Schulen war weit höher als in Bayern, selbst höher als in der Landeshauptstadt München. 2. Mädchenschulen und Lehrerinnen Ein dem Angebot für Jungen vergleichbares höheres Schulwesen gab es in dieser Zeit für Mädchen nicht; namentlich die klassischen Sprachen waren ihnen – wie die Berufe, die diese Bildung voraussetzten – verwehrt. Schulen allerdings, die für sie eine über die Elementarbildung hinausgehende Bildung anboten, existierten durchaus. In diesem Sinne ist im 19. Jahrhundert höhere Bildung für Mädchen zu verstehen. 1816 existierten noch aus französischer Zeit einige Privatinstitute, die eine höhere Bildung anboten. Qualität und Lebensdauer dieser Schulen waren jedoch in der Regel an einzelne Lehrkräfte geknüpft. In Empfindung dieses Mangels wurden bereits 1816 zwei Schulen gegründet, die auf Dauer angelegt waren und sich um qualifizierte Lehrkräfte bemühten (und in 24

Liedtke, Gesamtdarstellung, S. 44. Geib, S. 571. 26 Lehrerwaisenstift. 27 Kern, S. 101. 28 Hippel, S. 616. 29 Geib, S 570.

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Nachfolgeeinrichtungen noch heute bestehen): eine private höhere Mädchenschule im Kloster St. Magdalena in Speyer in Trägerschaft des einzigen Klosters, das aus der reichen mittelalterlichen Klosterlandschaft der Pfalz noch übrig geblieben war und schon 1304 in der Klosterchronik erstmals die Aufnahme von Mädchen zur Unterweisung verzeichnete, sowie eine städtische höhere Mädchenschule in Frankenthal (jetzt Karolinengymnasium). Weitere Schulen entstanden unter anderem in Kaiserslautern 1827, Neustadt 1836, Speyer (evangelisch) 1841, Grünstadt 1845, Landau 1858 und 1870, Pirmasens 1870, Ludwigshafen 1875.30 Zwei ursprünglich private Institute wurden von Orden übernommen (1896 eines in Landau von den Englischen Fräulein, 1907 eines in Kaiserslautern von den Dillinger Franziskanerinnen), um den Fortbestand der Einrichtungen sicherzustellen. Der Fächerkanon dieser Schulen umfasste in der Regel neben den Grundfächern Rechnen und Deutsche Sprache, Religion und moderne Fremdsprachen, künstlerische Fächer wie Musik, Zeichnen und Handarbeit auf gehobenem Niveau, außerdem Geographie, Geschichte, Naturlehre, gegen Ende des Jahrhunderts auch Turnen. Die erste einheitliche Schulordnung für Höhere Mädchenschulen in Bayern wurde 1911 erlassen, später als in anderen deutschen Ländern.31 Zur Ausbildung von Lehrerinnen, die sich von derjenigen der Lehrer nur dadurch unterschied, dass statt Landwirtschaft, Gemeindeschreiberei und niederem Kirchendienst hier Handarbeit und Französisch gelehrt wurden, eröffnete 1841 das Kloster St. Magdalena in Speyer ein Lehrerinnenseminar, das zunächst Ordenslehrerinnen, später auch weltliche Lehrerinnen ausbildete. Obwohl der Stadtrat im Kulturkampf die Arbeit in der Mädchenvolksschule der Dominikanerinnen durch Gehaltsentzug, Schließungsanträge und Beschlagnahmung der Schulmöbel erschwerte, startete St. Magdalena im Laufe des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Offensive in der Mädchenbildung: Die 1816 gegründete private Mädchenschule mit gehobenem Bildungsanspruch wurde 1838 zur höheren Töchterschule mit Internat ausgebaut, 1841 entstand die erwähnte Lehrerinnenbildungsanstalt, 1852 wurde auf Wunsch des Bischofs das Institut der Armen Schulschwestern gegründet, 1895 eine Frauenarbeitsschule, 1911 eine Handelsschule. Weitere Gründungen und Übernahmen folgten bis zum Ende der Weimarer Republik.32 1903 wurde vom Stadtrat in Kaiserslautern ein Seminar für evangelische Lehramtskandidatinnen gegründet.33 Lehrerinnen durften nicht verheiratet sein,34 was ihnen unter anderem bis weit ins 20. Jahrhundert hinein im Volksmund als Berufsbezeichnung den Namen „Fräulein“ einbrachte.

30

Möller, Mädchenschulen, S. 299. Bock, S. 437 einschl. Anm. 68. 32 Möller, Mädchenerziehung, S. 18 f. 33 Gutbrodt, S. 140. 34 Stingl, S. 454.

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3. Das Höhere Schulwesen Bei der Neuordnung des höheren Schulwesens der Pfalz wurden 1817 eine vollständige Studienanstalt mit Lyzealklasse (Speyer), ein Gymnasium (Zweibrücken), drei Progymnasien (Kaiserslautern, Frankenthal, Landau) eingerichtet. Die Speyerer Anstalt umfasste eine Lateinschule, ein Progymnasium, je mit Unter- und Oberklasse, ein Gymnasium mit Unter-, Mittel- und Oberklasse und eine Lyzealklasse als Vorbereitung auf das Studium, aus der sich das Lyzeum mit einem zweijährigen philosophischen Kurs entwickelte. Es folgten häufig Umstrukturierungen: 1824 wurden die Anstalten in Speyer und Zweibrücken jeweils in zwei Vorbereitungsklassen, fünf Gymnasialklassen und eine Lyzealklasse gegliedert, 1830 wiederum fielen die Lyzeen weg und die beiden Gymnasien wurden in Gymnasium und Lateinschule mit je vier Klassen geordnet. 1839 erhielt in Speyer wieder ein zweijähriges Lyzeum, das ab 1847 wiederum einjährig geführt wurde. Ab den 1840er Jahren wurden sogar die Fächer Geschichte und Hebräisch nach Konfessionen getrennt unterrichtet.35 Unterrichtsfächer waren in Speyer (außer in der Lyzealklasse) 1820: Latein, Griechisch, Deutsch, Französisch, Mathematik, Geschichte, Geographie, Religion, Naturgeschichte, Zeichnen, Musik; 1870/71: ordentliche Fächer: Latein, Griechisch, Deutsch, Französisch, Mathematik, Geschichte, Geographie, Religion; außerordentliche Fächer: Hebräisch, Stenographie, Naturgeschichte, Zeichnen, Kalligraphie, Gesang und Turnen; 1912/13: Pflichtfächer: Latein, Griechisch, Deutsch, Französisch, Mathematik und Physik, Religion, Geschichte, Geographie, Naturkunde, Kunst, Turnen; Wahlfächer: Hebräisch, Englisch, Italienisch, Stenographie, Musik.36 Erster Schulleiter der Speyerer Anstalt in bayerischer Zeit war Georg Jäger, der sie von 1817 bis 1862 leitete. Unterbrochen wurde seine Amtszeit nur, als er während der Revolution 1848 für kurze Zeit abgesetzt wurde. Wieder in sein Amt zurückgekehrt, erhielt er 1850 Sitz und Stimme bei der Kreisregierung und blieb bis 1863 Kreisscholarch. Nach einer im gesamten bayerischen Schulwesen einzigartigen Wirksamkeit starb Georg von Jäger einen Monat nach seiner Pensionierung 85jährig in Speyer.37 Die Gründung des Bischöflichen Konvikts in Speyer 1839 führte dazu, dass das dortige Gymnasium nicht mehr nur von späteren evangelischen Pfarrern, sondern nun auch von vielen zukünftigen Priestern des Bistums Speyer besucht wurde. Die Schule, inzwischen „Königliches Humanistisches Gymnasium“ genannt, erhielt 1902 ein eigenes Gebäude, das bewusst neben dem anschließend gebauten Historischen Museum der Pfalz platziert wurde. Die Zahl der Lehrer und Schüler entwickelte sich von 1825/26: 18 zu 214 bis 1915/16: 31 zu 304.38

35

Geib, S. 558. Jahresberichte 1820, 1871, 1913. 37 Loos, S. 71. 38 Jahresberichte 1826, 1916. 36

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Die Schule in Grünstadt wurde 1819 in ein Progymnasium umgewandelt.39 In den vier Progymnasien und den beiden Lateinischen Vorbereitungsschulen, die 1826/27 bestanden, wurden 326 Schüler von 16 Lehrern unterrichtet.40 Die Konzentration der humanistischen Schulen auf das Gebiet zwischen Rhein und Haardt (von Zweibrücken und Kaiserslautern abgesehen) entsprach einerseits der Schultradition der betreffenden Städte, andererseits dem größeren Bedarf im städtischen Raum. Wer aus dem ländlichen Raum stammte, wohnte für die Dauer des Besuchs eines Gymnasiums in einem Internat oder in einer privaten Pension. Durch die Schulordnung von 1830 wurden die Progymnasien und die Lateinischen Vorbereitungsschulen in Lateinschulen umgewandelt und verloren um 1830 viele Schüler zugunsten der Gewerbeschulen, deren praktische Ausrichtung von vielen Eltern geschätzt wurde. Deswegen verband die Regierung mit den Lateinschulen in den Städten, in denen nicht zugleich Gewerbeschulen bestanden, Realkurse, was zu einem erneuten Anstieg der Schülerzahlen und zur Gründung weiterer Lateinschulen, jetzt auch verstärkt in den bisher benachteiligten Regionen führte: Annweiler, Blieskastel, Bergzabern, Edenkoben, Homburg, Kirchheimbolanden, Kusel und Pirmasens.41 Bis 1874 gab es zwölf Lateinschulen mit Realkursen.42 Je ein Lateinschüler kam auf 720 Katholiken, auf 540 Protestanten und auf 290 Juden; dies wurde auf die im Vergleich zu den Katholiken besseren Vermögensverhältnisse der Protestanten und auf ihre höhere Konzentration in den Städten zurückgeführt.43 Obwohl 1893 in unmittelbarer Nachbarschaft der Pfalz, nämlich in Karlsruhe das erste echte Mädchengymnasium eröffnet worden war (mit Latein, erstes eigenes Abitur 1899), dauerte es noch bis 1919, dass Mädchen in Bayern an höheren Lehranstalten zugelassen wurden.44 Die erste Absolutorialprüfung einer Frau in der Kreishauptstadt Speyer fand 1922 statt.45 4. Beruflich orientierte Schulen Bei den Fortbildungsschulen, die mit der Zeit an die Stelle von Sonntagsschulen traten, sind die Volksfortbildungsschulen mit den Fächern Religionslehre, deutsche Sprache, Stilübungen, Geschäftsaufsatz, Rechnen, Zeichnen, Bossieren (Bildhauerei) und Modellieren, Arithmetik, Naturlehre, Chemie, Gewerbematerialkunde, Gewerbliche Buchführung und praktische Übungen für einzelne Gewerbe von den auf bestimmte Berufe vorbereitenden Gewerbefortbildungsschulen oder Gewerbeschu-

39

Geib, S. 557. Geib, S. 560. 41 Geib, S. 559. 42 Beamtenverzeichnis, S. 57 – 93. 43 Geib, S. 561. 44 Bock, S. 437. 45 Bellmann / Schleicher-Landgraf, S. 104. 40

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len zu unterscheiden, wobei die zuletzt genannten im Laufe der Zeit immer mehr bevorzugt wurden.46 Den technischen und wirtschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts Rechnung tragend, wurden 1825 in Speyer und 1833 in Landau, Kaiserslautern und Zweibrücken, später noch in anderen Orten Gewerbeschulen verschiedener Ausrichtungen gegründet, von denen die in Kaiserslautern als Kreisgewerbeschule die wichtigste war. Sie umfasste neben einer technischen eine landwirtschaftliche, eine besondere landwirtschaftliche und eine kaufmännische Abteilung.47 Auch an den Gewerbeschulen entsprach die Verteilung der Schüler auf Konfessionen nicht deren Anteil an der Bevölkerung. Ein Gewerbeschüler kam auf 2100 Katholiken, auf 1150 Protestanten und auf 330 Juden.48 1877 wurden die Kreisgewerbeschulen Bayerns, so auch die in Kaiserslautern, in Realschulen umgewandelt, die sechs Klassen umfassten und Schüler ab der bestandenen vierten Volksschulklasse aufnahmen. Die 1868 nach Plänen des Leiters der Kreisgewerbeschule gegründete Technische Fortbildungsschule wurde 1872 in eine Industrieschule verwandelt.49 1907 wurde die mit einer Industrieschule verbundenen Realschulen in Oberrealschulen umgewandelt. Das betraf in der Pfalz die entsprechenden Einrichtungen in Kaiserslautern und Ludwigshafen, die jetzt gleichberechtigt neben den Humanistischen und den Realgymnasien Bayerns bestanden.50 5. Eine frühe Schule für Behinderte in Frankenthal In Frankenthal nahm 1825 Augustin Violet51 als erster Taubstummenlehrer der Pfalz seinen Unterricht auf, den die Gehörlosen zunächst noch gemeinsam mit anderen Behinderten und Kranken der Armenanstalt erhielten. Violet hatte das Lehrerseminar in Kaiserslautern und ein Fachstudium in Freising absolviert. Die Frankenthaler Schule, später nach ihrem ersten Lehrer benannt, gehört zu den ältesten ihrer Art in Deutschland, litt aber viele Jahre unter schlechter Ausstattung. Erst 1884 wurde sie aus der Kreis-Kranken- und Pflegeanstalt herausgelöst, 1895 erhielt sie einen eigenen Neubau. 1886 wurde für diese Schule eine siebenjährige Schulpflicht eingeführt. Aus ihr ist das heutige Pfalzinstitut für Hören und Kommunikation hervorgegangen.

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Bock, S. 414 – 416. Geib, S. 562. 48 Geib, S. 564. 49 Bock, S. 433. 50 Stich, S. 2. 51 Huther und Breiner. 47

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IV. Fazit Will man die Entwicklung des Schulwesens in der Pfalz von 1817 bis 1918 bewerten, so muss man die zweifellos beeindruckenden Fortschritte freilich vor dem Hintergrund der Gesamtentwicklung in Mitteleuropa und Bayern sehen. Bildung wurde in diesem Jahrhundert zur öffentlichen Aufgabe. Niemals zuvor war so vielen Menschen die Chance eines Schulbesuchs zuteil geworden wie in dieser Zeit. Neben der Förderung der Besten, die es mustergültig auch schon in Klosterschulen und Universitäten gegeben hatte, besonders bei den Jesuiten, galt nun das Interesse der Bildungspolitik mehr oder weniger auch der breiten Mehrheit der Kinder. 1. Leistungen der bayerischen Zeit Als die Pfalz 1816 ein Kreis Bayerns wurde, befand sich das Schulwesen, das über Jahrhunderte über 40 verschiedenen Territorien angehörte und in der Besatzungszeit vernachlässigt worden war, in einer nahezu hoffnungslosen Verfassung und musste von Grund auf neu organisiert werden. Es gelangen aber insbesondere dort, wo es über die Elementarschule hinausging, auch Anknüpfungen an ältere Traditionen, so bei den Gymnasien (Speyer, Zweibrücken, Landau, Grünstadt) und z. B. in Frankenthal mit der Errichtung der Karolinenschule. Hier waren zwar weder Personal noch Zielgruppe oder Niveau identisch, aber erkennbar ist gerade im freiwilligen Bereich der Mädchenschule durchaus das Bewusstsein, ein wichtiger Schulstandort gewesen zu sein und dies nicht vergessen zu wollen. Die Leistung des 19. Jahrhunderts war eine enorme Aufbauarbeit, die insbesondere auch in den Gemeinden geleistet wurde. Die in dieser Zeit errichteten Schulhäuser sind mancherorts noch in Benutzung. Die neu entstehenden, wieder verschwindenden und in kurzen Abständen immer wieder reformierten Schultypen des bayerischen Staates schlugen sich auch in Neugründungen, Veränderungen und Schließungen von Schulen in der Pfalz nieder. Eine Ausnahmerolle hatte die Pfalz aufgrund der Fortgeltung des französischen Rechts und der Nähe zu Frankreich. Diese schlug sich in der Praxis der Schulpflicht und im Lehrplan bei den Fremdsprachen nieder. Ebenfalls unterschied sie sich durch einen weit höheren Anteil an Protestanten und Juden, die nicht selten eigene Volksschulen besaßen und tendenziell spezifische Vorlieben für Schularten zeigten.Personell gab es vor allem im Bereich der Gymnasien und Lateinschulen Verflechtungen durch Lehrerkarrieren, die von Bayern in die Pfalz führten und umgekehrt. Der Einfluss pfälzischer Kräfte auf das gesamte Schulwesen Bayerns darf gewiss nicht allzu hoch veranschlagt werden. Die Einführung des 8. Schuljahres in Volksschulen z. B. kam nicht aufgrund der frühen pfälzischen Eingaben zustande, sondern ist Einflüssen aus dem Kernland zu verdanken. Aus königlich-bayerischen Gymnasien der Pfalz gingen auch Personen hervor, die an der LMU München Karriere

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machten (Edgar Dacqué, Eduard Eichmann) oder es in der bayerischen Verwaltung bis zum Minister (Andreas Grieser, Heinrich von Schneider, Karl Stützel, Franz Matt, Albert Decker) brachten. Attraktiv ist bis heute die Möglichkeit pfälzischer Gymnasiasten, ins Maximilianeum aufgenommen zu werden. 2. Gewinn und Verlust Fragt man nach Gewinnern und Verlierern innerhalb der Pfalz, so gehört auf die Seite der Gewinner gewiss die Stadt Kaiserslautern, die zwar mit der Kameral-Hohen Schule schon zuvor einen Glanzpunkt pfälzischer Bildungsgeschichte aufzuweisen hatte, dieselbe aber ja durch eigenes Zutun nach Heidelberg verloren hatte und nun doch wieder Bildungszentrum für einen größeren Raum geworden war. Gewonnen hat auch Speyer. Das alte reichsstädtische Gymnasium des 18. Jahrhunderts, das gewiss auch unter dem Geldmangel seines Trägers gelitten hatte, hatte mit den Rektoren in den letzten Jahrzehnten seines Bestehens ein trauriges Bild abgegeben,52 wurde aber nun wegen des Ranges der Stadt Speyer als Hauptstadt als einzige Studienanstalt der Pfalz weitergeführt bzw. wiederbegründet. Die Bildungsoffensive der Dominikanerinnen von St. Magdalena, die immerhin 1841 eine entsprechende evangelische Reaktion nach sich zog, setzte auch für die Frauen in dieser Stadt einen Anfangspunkt höherer Bildungsmöglichkeiten. Weniger als zuvor hatte Zweibrücken nun aufzuweisen. Nach der Spätblüte des Gymnasiums am Ende des 18. Jahrhunderts musste sich die ehemalige Residenzstadt und „Wiege der Könige“ mit einem Gymnasium bescheiden, dessen Schüler zur Vorbereitung auf die Universität wenigstens zeitweise nach Speyer gehen mussten. Die neu errichteten Volksschulen und Lateinschulen sowie die zentrale Aufsicht über Lehrerbildung und Lehrer stellte viele kleinere Städte und Dörfer weit besser als vorher. Heute noch sichtbar sind viele in bayerischer Zeit entstandene Schulgebäude mit guter Bausubstanz und an vorzüglichen Standorten in den Innenstädten bzw. im Kern pfälzischer Dörfer. Literatur 110 Jahre Pfälzisches Lehrerwaisenstift. Werden und Wirken. Hrsg. vom Pfälzischen Lehrerwaisenstift. Kaiserslautern 1979. Amtsblatt des Rheinkreises 1817. Beamten-Verzeichnis und Statistik des Königlich Bayerischen Regierungs-Bezirkes der Pfalz. Hrsg. v. Friedrich Gilardone. Speyer 1874. Bellmann, Inge / Schleicher-Landgraf, Elisabeth: Elisabeth Schleicher erzählt, in: Gymnasium am Kaiserdom (Hrsg.): Festschrift zum 450jährigen Jubiläum. Speyer 1990, S. 104 – 110. 52

Darauf deuten z. B. Briefe im Bestand „Disziplinarfälle“. StadtASp 1 A 509.

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Pfälzische Kulturlandschaft oder pfälzische Provinz? Die kulturelle Entwicklung der bayerischen Pfalz 1816 bis 1913 Von Jürgen Vorderstemann, Speyer Die an Bayern und an den aus der Pfalz-Zweibrücker Wittelsbacher-Linie stammenden Max I. Joseph gekommene „überrheinische Provinz“ Pfalz entspricht nicht den früheren wittelsbachischen Besitzungen. Das zunächst als 8. bayerischer Kreis „Bayerischer Rheinkreis“, ab 1838 „Pfalz“ genannte Gebiet enthält Stücke der alten Kurpfalz und des Herzogtums Zweibrücken, dazu das nassauische Kirchheimbolanden, das hessen-darmstädtische Pirmasens und die Reichsstädte Landau und Speyer. Diese neue Pfalz vereint den Besitz von 44 Herrschaften vor 1792. Davon waren 20 Besitzungen Kondominien, Besitzungen mit mehreren Herren, gewesen.1 „Die Liebe zur pfälzischen Heimat“ – schreibt Adalbert von Bayern – „gab schließlich den Ausschlag“ für die Akzeptanz des Münchner Vertrags von 1816 zwischen Bayern und Österreich, durch den die Pfalz bayerisch wurde. „Das für unsere Familie so bedeutsame Zweibrücken wurde unserem Hause zurückgegeben.“2 Max I. Joseph und sein Sohn Ludwig hatten gehofft, nach dem Tode des badischen Großherzogs durch „Heimfall“ seines Territoriums die Pfalz mit Bayern verbinden zu können, aber diese Hoffnungen hatten sich nicht erfüllt. Darüber hinaus ist aber an Pfalzliebe beim ersten bayerischen König nichts zu bemerken, und er hat den neuen Landesteil auch nie besucht. Eine echte Zuneigung zwischen Pfälzern und Bayern blieb lange Zeit eher ein Wunschbild. Schon Montgelas hatte erkannt: „Die pfalzbayerischen Provinzen, […] deren Bewohner nach Sitten, Begabung (génie) und Anschauungen völlig verschieden sind, könnten niemals nach denselben Grundsätzen regiert, vom gleichen Geiste erfüllt, zu einem gemeinsamen Ziel geführt werden. Die Bewohner des einen dieser Gebiete hassen die des anderen“.3 Diese Einstellung, die politisch-gesellschaftliche und auch die abgesonderte Lage der Pfalz haben sich auf ihre Kulturlandschaft ausgewirkt. Hans-Jürgen Wünschel benennt eine Kulturgeschichte der Pfalz als Desiderat und fragt nach den „Kennzeichen für pfälzische Heimat, die gegenüber der altbayerischen, fränkischen und 1

Angaben nach Albert Becker, Pfälzer Volkskunde, S. 4 f. Genauer bei Frey: 1. Theil, S. 74 – 79. 2 Adalbert von Bayern, S. 327. 3 Weis, S. 342. Übersetzung von Weis aus Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Abt. II Geh. Staatsarchiv, Kasten schwarz 7789.

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schwäbischen Kultur sich absetzen“.4 Das von Max Spindler begründete „Handbuch der bayerischen Geschichte“5 weist zwar im Band 4/1 ein kurzes Kapitel „Bildungswesen, Wissenschaft, Kunstpflege“ auf, aber rein auf Bayern bezogen und ohne ein Wort über die Pfalz. Im 2. Teilband, der Literatur und Kunst ausführlicher behandelt, fehlt die Pfalz ebenso. Erst im 2012 erschienenen 2. Band der rheinland-pfälzischen Landesdarstellung „Kreuz – Rad – Löwe“6 findet sich eine von Monika Storm verfasste Überblicks-Darstellung von „Bildung und Wissenschaft“, in der aber der nördliche Teil des Bundeslandes eine genauere Behandlung erfährt. Am intensivsten hat sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts Albert Becker in verschiedenen Aufsätzen mit der Problematik der Kultur in der bayerischen Pfalz befasst. In der ersten wirklich bedeutenden Pfalzbeschreibung „Träume und Schäume vom Rhein“ von 1838 bedauert Friedrich Blaul den geistigen Zustand der Pfalz. „An Talent fehlt es weniger als irgendwo, jedoch an Lust, Liebe und Beharrlichkeit zur Verfolgung wissenschaftlicher Zwecke“. Über den geistigen Interessen liege es „wie ein bleierner Schlaf“. Es herrsche ein Materialismus, der „Reichtum für wahre Bildung“ halte, und was nichts eintrage, gelte nichts. Auch beklagt er den Mangel an Kunstwerken und rechtem Sinn dafür. „Es fehlt an Anstalten, an Mustern und vor allem an Protektoren, Gönnern und Liebhabern derselben.“7 Ähnliche Urteile über die Pfälzer fanden sich schon bei Schiller und finden sich überraschenderweise auch bei dem zweiten Generalkommissär von Stichaner: „Die Poesie, die ihrer Natur nach auf Gebildete und minder Gebildete rascher einwirkt als die anderen Künste, scheint nichtsdestoweniger in Rheinbayern keinen sehr bedeutenden Eingang gefunden zu haben. ,Das sind lauter Sachen, die nichts eintragen‘ würden sich […] die meisten vernehmen lassen […].“8 Ganz anders urteilt 1841 Karl Geib in seinem „Reise-Handbuch durch alle Theile der königlich Bayerischen Pfalz“: „Daß auch der Sinn für geistige Bildung hier so gut als irgendwo heimisch sey, beweiset schon der regsame, helle Geist und die lebhafte Phantasie des Rheinpfälzers, und wenn bereits in früherer Zeit, […], tüchtige Männer in jedem Fach aus diesem Land hervorgegangen sind, so möchte des jetzt um so häufiger der Fall seyn, wo durch Vermehrung und Vervollkommnung zweckmäßiger Anstalten, das Studium der ernsteren Wissenschaften und zugleich der Anbau schöner Literatur und Kunst, noch eifriger und gründlicher betrieben werden.“9 Gemeinsam an den Urteilen ist die Betonung der Aufgabe von Staat oder Mäzenen, Kunst und Kultur institutionell zu fördern. In welchem Maße dies von 1816 bis 1913 geschehen ist, soll nun, mit Seitenblicken auf das Kernland Bayern, untersucht werden. 4

Wünschel, S. 159. Handbuch der bayerischen Geschichte. Bd. 4/1, 2003, S. 89 – 92. Vgl. auch Bd. 4/2, 2007, S. 537 f. und S. 617 – 655. 6 Storm, S. 621 – 662. 7 Blaul, S. 440 ff. 8 Albert Becker, Pfälzer Geistesleben, S. 3. Das Stichaner-Zitat leider ohne Quellenangabe. 9 Geib, S. 6 – 7. 5

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Das noch stark von Ruinen der vergangenen Kriege geprägte Speyer war zur Kreishauptstadt gewählt worden, doch noch 1857 sah sie Riehl „nur als Hauptstadt der Vorderpfälzer; die Westricher behaupten ihrerseits, Zweibrücken, […], sei mindestens ebenso gut die Hauptstadt der Pfalz. Der wahre städtische Schwerpunkt für den größten Teil der Vorderpfalz ist aber nicht einmal Speyer, sondern Mannheim; für die Donnersbergregion Mainz; für das bayerische Nahegebiet Kreuznach und Bingen, für die Gegend von Langenkandel Karlsruhe.“10 Die neu geschaffene bayerische Pfalz trägt nach Riehl das Motto „Vielgestaltung ohne Einheit“11 an der Stirn. Speyer hatte zu Beginn der bayerischen Epoche nur um die 5000 Einwohner, gleich groß waren Zweibrücken und Landau, dann folgten Frankenthal mit ca. 4500 und Kaiserslautern mit ca. 2500 Einwohnern12. Man muss von dem historischen Herrschafts-Flickenteppich und der noch heute spürbaren Orientierung auf die Zentren der Nachbarregionen ausgehen, wenn man die kulturelle Entwicklung der Pfalz ins Auge nimmt. Die Epoche des ersten bayerischen Königs Max I. Joseph ist von der Konsolidierung des neu zusammengefügten Staates und dem Aufbau der Verwaltung geprägt. Kulturelle Fragen standen nicht im Vordergrund. „Er kümmerte sich kaum, ob ihn spätere Historiker als Freund und Gönner von Kunst und Wissenschaft feiern möchten; er las wenig und kaufte höchstens dann und wann für sein geliebtes ,Schloß Tegernsee‘ einen alten Holländer oder eine kleine Biedermeier-Landschaft.“13 Es liegt nahe, dass bei Begründung des neuen Landesteils Bedarf nach einem Archiv für den Niederschlag der Verwaltung bestand. Daher wurde zum 1. 1. 1817 in Speyer, dem Sitz der Bayerischen Kreisregierung, das Königlich bayerische Kreisarchiv (heute Landesarchiv Speyer) eingerichtet. Es wurde zunächst nur im Erdgeschoss des ehemaligen Deutschen Schulhauses untergebracht, das in keinem guten Zustand war; ein eigenes Gebäude erhielt es erst 1902.14 Ab September 1816 hatte der ehemalige Mainzer Klubist und erste Archivvorstand in Speyer (bis 1819), Joseph Schlemmer, die einschlägigen Akten aus Mainz nach Speyer überführt und vorläufig geordnet. Der ihm nachfolgende Peter Gayer war bis zu seinem Tode 1836 der erste hauptamtliche Archivar, machte sich um die Sicherung, Neuordnung und Verzeichnung der Bestände verdient und spielte auch eine wichtige Rolle bei der Begründung des Historischen Vereins der Pfalz.15 Ältere Archivalienbestände waren kaum enthalten, „auch nicht bei den rund zehn Territorien, deren Verwaltungshauptort dem späteren Sprengel des Landesarchivs angehört“.16

10

Riehl, S. 16. Riehl, S. 17. 12 Angabe nach Albert Becker, Pfälzer Geistesleben S. 8. 13 Hubensteiner, S. 363. 14 Warmbrunn, S. 45 f. 15 Schreiber, S. 24 und 35. 16 Rödel, S. 124. 11

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Bayern hatte an Universitäten Landshut, 1826 nach München überführt, Erlangen und Würzburg aufzuweisen, dazu die Akademie der Wissenschaften und die der Künste. In der Pfalz war nichts Vergleichbares. Die kurpfälzische Mannheimer Akademie gab es seit 1803 nicht mehr; ihre Sammlungen waren nach München transferiert worden. Heidelberg mit Universität und Akademie waren jetzt badisch. So war es für den Rheinkreis angesichts einer isolierten Lage nicht leicht, in kultureller Hinsicht gegenüber dem übrigen bayerischen Territorium zu bestehen. Dazu galt es zunächst, das Unterrichtswesen neu zu ordnen und ihm auch materielle Grundlagen zu verschaffen. Da die Geschichte des Schulwesens ein eigenes Thema ist17, wird hier nur soweit auf sie eingegangen, als sie für diese Untersuchung von Belang ist. Schon 1817 wurde in Speyer das Lyceum mit Gymnasium und Progymnasium begründet, in Zweibrücken ein weiteres Gymnasium in der Nachfolge des alten. Beiden wurden Bibliotheken angegliedert, in denen man in Speyer die Bibliothek des früheren städtischen Gymnasiums, des katholischen Gymnasiums und des Jesuitenkollegs, die Zweite Domkapitelsbibliothek und die zweite Stadtbibliothek vereinigte, in Zweibrücken die herzoglichen Sammlungen, die Bibliothek des früheren Gymnasiums und die Bibliothek der herzoglichen Rentkammer. Unter dem seit 1817 amtierenden zweiten Generalkommissär Joseph von Stichaner war der entscheidende Mann Johann Friedrich Butenschoen, ehemals Jakobiner, dann im Departement Donnersberg einer der beiden Inspektoren des öffentlichen Unterrichts, jetzt bairischer Regierungs- und Kreisschulrat18. Aus Zweibrücken hatte man sich schon 1816 mit der Bitte an die Bayerische Regierung gewandt, „dass es hochderselben gefallen möge, diese Bibliothek ungeteilt in der Stadt zu lassen, für welche sie von den durchlauchtigsten Landesfürsten bestimmt gewesen sei, und sie wieder dem Gebrauch der Professoren und übrigen Königlichen Beamten zu eröffnen“.19 In der Antwort verwies man auf den Butenschoen erteilten Auftrag, ergänzend wurde um eine Aufstellung der Verluste der Bibliothek an Handschriften gebeten, um später Restitutionsforderungen geltend machen zu können. In Speyer war Butenschoens Schwiegersohn August Ferdinand Milster unter dem Rektor Georg Jäger, der sich sehr für die Bibliothek einsetzte, der erste Speyerer Bibliothekar, der 1849 aus der Erinnerung berichtet, dass Butenschoen die in den Zeiten „der französischen Occupation aus verschiedenen Gegenden der Pfalz zusammengerafften, zum Teil verschleuderten, zum Teil aber nach Landau in die Festung verschleppten Büchersammlungen im Jahre 1817 aufsuchte, und was er noch auf den Speichern öffentlicher Gebäude und selbst bei Privaten vorfand und von diesen willig an ihn abgetreten wurde“.20 Daraus kann man sehen, dass es sich bei den Beständen noch nicht um eine solide Basis für wissenschaftliche For17

Dazu der Beitrag von Lenelotte Möller. Zu Butenschoens Biographie s. Bümlein. 19 Zitiert nach Buttmann, S. 41 f. 20 Zitiert nach Grünenwald, S. 60.

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schung handeln konnte, sondern dass noch Werke zu vervollständigen, fachliche Lücken zu schließen waren und es auch organisatorischer und finanzieller Absicherung bedurfte. 1825 wurde ein erster Entwurf einer Benutzungsordnung der „Kgl. Lycealund Kreisbibliothek Speyer“ vorgelegt, die außer den Lehrern „auch anderen Personen von Stand“ zugänglich sein sollte. Schon 1820 gab es einen Regierungserlass, der die Erstellung eines Katalogs forderte, und am 1. Februar 1828 dann ganz deutlich: „Man hat beschlossen die Kataloge der Bibliotheken an den Studienanstalten Speyer und Zweibrücken drucken zu lassen.“21 Der Speyerer Katalog erschien am 6. August 1828, in Neuauflage 1866, der Zweibrücker dann 1829 bzw. 1871. Es wurden auch Provenienzverzeichnisse gefordert, die Milster in Speyer aber nie geliefert hat, sei es aus Arbeitsüberlastung oder weil er Restitutionsansprüchen vorbeugen wollte. Was im Rheinkreise an Buchgut die Kriege überstanden hatte und mit gewöhnlich knappen Mitteln und durch private Schenkungen ergänzt wurde, konnte sich natürlich in keiner Weise mit dem messen, was im bayerischen Kernland zu Verfügung stand. Die Kgl. Hof- und Staatsbibliothek war die größte in Deutschland, daneben gab es in München noch die Universitätsbibliothek. Zu diesen kamen die beiden Universitätsbibliotheken in Erlangen und Würzburg und die Bibliotheken der ehemals freien Reichsstädte (Regensburg, Augsburg, Nürnberg) und die ehemaligen Hofbibliotheken sowie die der ehemals geistlichen Territorien (z. B. Bamberg). In seiner Organisation war Bayern mit seinem System von Kreisbibliotheken, einem von Joseph Christoph Frh. von Aretin errichteten frühen System eines Bibliotheksnetzes, das fortschrittlichste deutsche Bibliotheksland, bis gegen Ende des Jahrhunderts Preußen nachzog. Der Staatsbibliothek war der größte Teil des säkularisierten Buchbesitzes zugeflossen, von Doppelstücken profitierten die weiteren Bibliotheken Bayerns. An dieser Entwicklung hatte der Rheinkreis keinen Anteil. Zwar bekam die Speyerer Gymnasialbibliothek 1840 das Pflichtexemplarrecht für die Pfalz, neben dem ersten der Staatsbibliothek, womit sie faktisch zu einer Kreisbibliothek aufgewertet wurde, aber Bitten um Etaterhöhungen verhallten ungehört. Ihr trotzdem kontinuierlicher Ausbau durch die Schulleitung hatte die Folge, dass im 19. Jahrhundert alle Pläne, daneben eine wirkliche öffentliche Kreisbibliothek zu schaffen, scheiterten.22 So lehnte der Kreisausschuss 1825 einen ersten Versuch Milsters ab, die Lycealbibliothek mit entsprechender Dotierung zur Kreisbibliothek erheben zu lassen. 1820 war sie mit einer „Verordnung betreffend den öffentlichen Gebrauch der Bibliothek zu Speyer“ von Stichaner eröffnet worden, ab 1828 durften Bücher auch von nicht in Speyer wohnenden Gelehrten, Beamten und Geistlichen ausgeliehen werden.23 Gelehrte wie der Archäologe Anselm Feuerbach und später der Begründer der Keltistik, Johann Kaspar Zeuss, klagten über die Schwierigkeiten bei der wissen-

21

Ebd. S. 64. Jung, S. 12. 23 Der Abriss folgt der Darstellung von Jung, S. 15 – 19, die ihrerseits auf Grünenwald fußt.

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schaftlichen Arbeit24. Ein Vorschlag von 1827, einen Bücherleihverkehr zwischen Heidelberg und Speyer einzurichten, wurde von der Regierung des Rheinkreises abgelehnt.25 1835 wurde nach einem Artikel in der „Neuen Speyerer Zeitung“ die Frage nochmals diskutiert und die Kreisregierung aufgefordert, entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Eine Beteiligung des Bayerischen Staates war zwar nicht in Aussicht gestellt worden, ließ sich aber aus dem Tenor schließen. Nur nahm die Kreisregierung diese Chance nicht wahr und begnügte sich damit, einen Teil der Taxgelder für die Konzession von Buchdruckern und –händlern dem Bibliotheksetat zuzuschlagen. Ein weiterer Anlauf erfolgte 1872. Die Kreisregierung prüfte eine in der „Pfälzischen Post“, Kaiserslautern26, vorgebrachte Initiative unter Anforderung von Gutachten der Universitätsbibliotheken München und Heidelberg. Der erforderliche hohe Mittelaufwand ließ auch diesen Plan scheitern, und man verwies darauf, dass die UB Heidelberg gern pfälzischen Bücherwünschen nachkommen werde. 1906 drängten der Literarische Verein der Pfalz und der Historische Verein der Pfalz – zu beiden später – nochmals, aber erfolglos auf die Gründung einer Kreisbibliothek. So muss man feststellen, dass sich die Literaturversorgung in der abseits gelegenen Rheinpfalz in 100 Jahren nur graduell verbessert hatte und keine gute Grundlage für wissenschaftliche Tätigkeiten bot. Damit stand die Pfalz gegenüber dem bayerischen Kernland deutlich zurück. Erst nach dem 1. Weltkrieg wurde 1918 ein „Ausschuss zur Schaffung einer pfälzischen Kreisbibliothek“ gebildet, aus dessen Arbeit schließlich die 1921 gegründete und 1923 eröffnete Pfälzische Landesbibliothek hervorging, die aber nicht, wie die anderen wissenschaftlichen Bibliotheken des Landes, dem Staatsministerium für Unterricht und Kultus, sondern dem Kreis zugeordnet war und die demzufolge auch nicht das Pflichtexemplarrecht bekam, das bei der Speyerer Gymnasialbibliothek blieb.27 Die Gründung wurde nicht so sehr durch die wissenschaftliche Notlage der Pfalz motiviert als durch die politische Notwendigkeit, der französischen Kulturoffensive im pfälzischen Raum zu begegnen. Ludwig I. hatte nicht nur ein dynastisches, sondern ein durchaus emotionales Verhältnis zur Pfalz und bezeichnete sich gern als „Pfälzer Blut“. In seinem Gedicht „Elegie an meine frühe Lebenszeit“ schrieb er:„Aufenthalt meiner Jugend, Pfalz, dich lieb ich und Euch Pfälzer, wie Ihr mich!“. Für ihn waren drei Bildungsmächte entscheidend: Religion, Geschichte und Kunst. „Mit ihrer Stärkung konnten verläßliche Grundpfeiler für eine stabile Einheit von Volk und Monarchie errichtet wer-

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Zeuss musste oft nach Heidelberg, Karlsruhe und Darmstadt reisen, um an die benötigte Literatur zu kommen. Vgl. Hablitzl, S. 89. 25 Albert Becker, Hundert Jahre Pfälzer Geschichtsforschung, S. 32. – Die Ausführungen zur Vereinsgeschichte folgen, einschließlich der Quellenzitate, dieser Darstellung. 26 Pfälzische Post 1872, Nr. 18 vom 9.6. 27 Dazu Jung, S. 52 f.

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den“28. Der Kunst gab er dabei sogar die Führungsrolle, Bildung und Öffentlichkeit29 waren ihm die entscheidenden Gesichtspunkte für seine Museums-, Denkstätten- und Kirchenbauten. München wurde durch ihn zur Kunststadt, und Kunst und Kunstgewerbe prosperierten, so dass München einen starken Sog auf die Kunstschaffenden ausübte. Die sichtbarsten kulturellen Investitionen seiner Herrschaft in der Pfalz waren die Errichtung der Villa Ludwigshöhe (vollendet 1852), die er alle zwei Jahre im Sommer für zwei Monate besuchte, und der Wiederaufbau und die Ausmalung des Speyerer Doms 1846 – 1853 sowie die Wiedererrichtung seines Westwerks ab 1854, wobei aber nicht das denkmalpflegerische Interesse im Vordergrund stand, sondern die Absicht, „durch eine neue Schöpfung die Ehre Gottes, den Triumph der Künste und seinen Nachruhm zu erhöhen“30 und den pfälzisch-bayerischen Dom als Nationaldenkmal gegenüber dem preußischen Kölner Dom zu positionieren. Nach seiner Abdankung unterstütze er die Baumaßnahmen noch aus seinen Mitteln. Abgesehen von den genannten Prestigebauten in Edenkoben und Speyer waren in der Provinz nicht die erstklassigen Architekten Friedrich Gärtner oder Leo von Klenze tätig, den Baumeistern in der Provinz standen aber Musterpläne für alle Bauaufgaben zur Verfügung. Entwürfe wichtiger Bauten mussten der obersten Baubehörde vorgelegt werden und wurden gegebenenfalls verändert. Die Beamten des bayerischen Bauamts in Speyer hatten sich um Gemeinde- und Schulhäuser, aber auch um sakrale Bauten zu kümmern. Für die Pfalz war 1824 zum 25. Regierungsjubiläum von Max I. Joseph in Speyer eine Bau- und Erwerbsschule zur Ausbildung des Handwerkernachwuchses eingerichtet worden31, um Qualität bei der Bauausführung zu sichern. Ludwigs Bemühen um Anknüpfung an historische Traditionen zeigte sich auch in der Umbenennung der bayerischen Kreise entsprechend ihren historischen Kernen; der Bayerische Rheinkreis wurde wieder zur Pfalz, und der König führte auch wieder gern den Titel des Pfalzgrafen bei Rhein. Am 29. Mai 1827 erließ er von Perugia aus einen Kabinettsbefehl, in dem er seine Behörden aufforderte, die in seinem Reiche vorhandenen historischen Denkmale nicht länger verwahrlosen zu lassen, sondern für ihre Erhaltung zu sorgen und sie summarisch zu verzeichnen. In der Historie sah er ein „spezifisches Gegengewicht wider revolutionäre Neuerung und wider ungeduldiges Experimentieren“. 1830 war zu Ansbach ein Historischer Verein begründet worden, worauf an alle Kreisregierungen die Aufforderung erging, es diesem nachzutun. Der Generalkommissär Joseph von Stichaner konnte daraufhin berichten, dass im Rheinkreis „schon seit einiger Zeit ein kleiner Verein still und prunklos“ in gefordertem Sinne wirke.32 In seinem Bericht an den König vom 30. Mai 1830 weist 28

Büttner, S. 314. Ebd. S. 319. 30 Vgl. Zink, S. 15 und Remling, Bd. 2, S. 226. 31 Jöckle, Kreishauptstadt Speyer, S. 11. 32 Albert Becker, Hundert Jahre Pfälzer Geschichtsforschung, S. 7 bzw. 11.

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er gleich darauf hin, dass „itzt das Land fast aller Materialien zu einer Geschichte“ entbehre, die römischen Monumente nach Mannheim gewandert, die Archive über den Rhein verschleppt, die Büchersammlungen fast verschwunden seien, „dem Lande ist beinahe nichts übrig geblieben als was noch die Erde bedeckt“ und „das dürre Holz aufzulesen, was nach der allgemeinen Plünderung des Landes Freund und Feind übriggelassen“ hatten.33 Die Hinwendung Ludwigs zur Vergangenheit war nicht nur romantischem Geist geschuldet, der König versprach sich auch über die Förderung der Heimatgeschichte hinaus eine Stärkung des Landesbewusstseins. Die Amtszeit von Stichaner war für die pfälzische Geschichtsforschung ein Glücksfall, denn dieser war schon 1808 mit wissenschaftlichen Arbeiten hervorgetreten und war Konservator der Altertümer bei der Akademie gewesen. Ludwigs Aufforderung „bedeutete für Stichaner also nur die Weisung das künftig auch amtlich zu vertreten, wozu ihn schon die eigene Neigung […] gedrängt hatte“.34 Im „Intelligenzblatt des Rheinkreises“, für das er auch weitere renommierte Historiker wie z. B. Johann Georg Lehmann heranzog, veröffentlichte er 43 Aufsätze, z. T. mit Zeichnungen der Funde. Ab 1831 entfiel leider diese pfälzische Publikationsmöglichkeit, und die Arbeiten erschienen in der Münchner Zeitschrift „Das Inland“. Schon im Bericht von 1830 an Ludwig I. hatte Stichaner erwähnt, dass neben dem Dom 1825/26 ein Antiquarium für die Funde der Zwanzigerjahre errichtet worden sei. Bau und Unterhaltung hatte er aus dem Gewinn des Amts- und Intelligenzblattes finanziert, bis das Ministerium diese Verwendung 1832 untersagte. Man kann diesen Bau als Keimzelle des Historischen Museums der Pfalz betrachten.35 Am 9. Juni erfolgte dann der Aufruf zur Gründung des Historischen Vereins, der u. a. unterschrieben ist von Stichaner, von Butenschoen und vom späteren Kölner Erzbischof und Kardinal Johannes Geissel. Die Ereignisse um das Hambacher Fest wirkten sich für den Historischen Verein nicht günstig aus. Die Staatsregierung in München hatte Bedenken, „in einem politisch so aufgeregten Lande wie der [sic!) Rheinkreis, […], die Konstituierung eines Historischen Vereins besonders zu betreiben, da das Historische leicht außer acht gelassen werden dürfte und man sich des Vereins leicht zu politischen Diatriben […] bedienen könnte“.36 Aus München war also derzeit keine Förderung zu erwarten, und Stichaner wurde 1834 durch den Frh. von Stengel abgelöst, der zwar den Vorsitz übernahm, sich aber nicht im gleichen Maße wie sein Vorgänger engagierte. Im Oktober 1835 erfolgte ein Kgl. Erlass, der die Historischen Vereine Bayerns an das Innenministerium anband und eine wissenschaftliche Anbindung der Kreisvereine an die Akademie durch unmittelbare Korrespondenz forderte. In der Akademie hatte die 33

Ebd., S. 10. Ebd., S. 17. 35 Zu Stichaner ebd., S. 14 – 18. 36 Randbemerkung des Referenten Friedrich Frhn. v. Zu Rhein auf Stichaners Verwaltungsbericht vom 18. Februar 1834, s. Albert Becker, Hundert Jahre Pfälzer Geschichtsforschung, S. 46 ff. 34

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Pfalz in dem Heidelberger Historiker Ludwig Häusser einen engagierten Fürsprecher. „Es entsprach dem besonderen Wunsch des Königs, wenn die Kommission der rheinpfälzischen Geschichte […] besondere Aufmerksamkeit zuwandte.“37 Die Akademie war jedoch sehr zurückhaltend im Verkehr mit den Vereinen, und diese blieben letztlich, auch finanziell, doch auf ihre eigenen Kräfte angewiesen. Bis 1837 hatte der Verein, der 1828 nur 28 Mitglieder in der ganzen Pfalz zählte, eher den Charakter einer Arbeitsgemeinschaft, bis nach Aufforderung durch den Regierungspräsidenten Karl von Wrede der Rektor des Lyceums, Georg Jäger, den Anstoß zu einem erweiterten Verein gab und alle Landkommissariate zum Beitritt einlud. 1839 zählte der Verein schon 541 Mitglieder. Die neue Satzung vom 19. Oktober 1841 definiert noch einmal die Aufgaben des Aufspürens, Bewahrens und landesgeschichtlicher Aufarbeitung, das Sammlungsprofil und die Ämterverteilung im Verein, dessen Präsident immer der Regierungspräsident ist. Zum ersten Mal wird hier die Vereinsbibliothek erwähnt, die sich aus Ankäufen, Schriftentausch und Schenkungen zusammensetzte und deren Katalog 1874 604 Nummern umfasste.38 Das Umfeld der 1848er Revolution war dem Verein wiederum nicht günstig. 1848/49 gab es so viele Austritte, dass er faktisch erlosch, und Georg Jäger berichtete der Regierung, dass es sogar zweifelhaft sei, „ob ein erneuter Anlauf zur Wiederbelebung des Historischen Vereins in der Pfalz einen erwünschten Erfolg haben werde.“ Und er fügt, in unserm Zusammenhang besonders interessant, hinzu: „Auch dürfte der Mangel einer bedeutenderen, an Schätzen der Wissenschaft und Kunst einigermaßen hervorragenden Stadt, die als Mittelpunkt geistigen Lebens sich geltend zu machen vermöchte, es erklären, wenn die Pfalz, […], zurücksteht.39 Das politische Klima der Folgezeit brachte es mit sich, das der Verein lange Zeit wenig Zuzug hatte und nur im Stillen wirkte. Hinzu kam, dass nach 1836, dem Todesjahr des Archivars Peter Gayer, der sich auch im Historischen Verein sehr stark engagiert hatte, das Kreisarchiv durch häufige Personalwechsel in einen Dornröschenschlaf verfiel, bis 1868 mit Ludwig Schandein40 zum ersten Mal ein gelernter Archivar diese Stelle übernahm. 1864 berichtete der Regierungspräsident von Hohe, „daß z. Zt. ein historischer Verein für die Pfalz nicht bestehe“.41 Hatte Ludwig I. sein Hauptinteresse der Architektur und der Kunst zugewandt, führte sein Nachfolger Maximilian II. dies zwar fort, war aber mehr wissenschaftlich orientiert. Er ließ sich von Fachleuten beraten und umgab sich auch gern privat mit Gelehrten wie Justus Liebig und Dichtern, die sich im Kreise der „Krokodile“42 vereinigt hatten und einen klassizistischen Idealismus vertraten (Geibel, Heyse, Boden37

Ebd., S. 127. Die Bibliothek kam nach Vereinsbeschluss vom 11. 2. 1921 an die neu gegründete Pfälzische Landesbibliohtek, vgl. Jung, S. 55. 39 Ebd., S. 103. 40 Zu seiner Biographie s. Post, Ludwig Schandein. 41 Ebd., S. 135. 42 Die Krokodile. Hg. von Johannes Maar, Stuttgart 1987. 38

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stedt), zum Ärger der Altbayern aber meist „Nordlichter“ waren. Er modernisierte die Münchner Universität, gab der Akademie der Wissenschaften 1858 ihre Historische Kommission und hatte 1852 die Stiftung Maximilianeum für Hochbegabte geschaffen, zu der noch heute auch Pfälzer Studenten Zutritt haben.43 Im Unterschied zu seinem Vater war Maximilian II. die Pfalz ein Landesteil wie andere auch; er kam nur selten dorthin und hatte schon 1846, noch als Kronprinz, auf den Ausbau der Maxburg bei Hambach verzichtet. Immerhin hatte er 1851 eine offizielle Pfalzreise nach Speyer und Zweibrücken unternommen, um die Wogen der Unzufriedenheit zu glätten und die Pfalz wieder enger an Bayern heranzuführen. Außer für Poesie und Geschichte interessierte er sich für volkskundliche Fragen, und Wilhelm Heinrich Riehl, Professor für Kulturgeschichte und Statistik in München und einer der Berater des Königs, erhielt den Auftrag zu einer wissenschaftlichen Erforschung der bayerischen Volkskultur und damit auch der geschichtlichen, statistischen und ethnographischen Beschreibung der Pfalz. Im Vorwort seines 1857 veröffentlichten Werks „Die Pfälzer. Ein rheinisches Volksbild“ schreibt er: „Die Begrenzung des Stoffes ist nicht meine Wahl; sie ist hervorgegangen aus dem mir von seiner Majestät dem Könige Max von Bayern übertragenen Thema einer ethnographischen Charakteristik der bayerischen Rheinpfalz, und nur die von jenem Förderer des Volksstudiums mit fürstlicher Freigebigkeit zur Verfügung gestellten Mittel gestatteten mir, das Land während dreier Jahre in vielen Fußwanderungen ausgiebig zu bereisen.“44 Die Bemühungen des Historischen Vereins in der ersten Jahrhunderthälfte finden bei ihm wenig Resonanz, er spricht vom „archäologischen Dilettantismus“ in der Pfalz.45 Wenngleich ein solcher Dilettantismus wohl oft mit von der Partie gewesen sein mag, übersieht Riehl doch die wissenschaftlichen Leistungen der pfälzischen Historiker, die unter ungünstigen Bedingungen erbracht wurden. Hier seien stellvertretend nur Johann Georg Lehmann, Franz Xaver Remling, Johann Michael Frey und Johann von Geissel genannt. Geissel, Lehmann und Remling wurden auch korrespondierende Mitglieder der Akademie. Sie waren insofern gegenüber ihren Kollegen in der weiteren Pfalz begünstigt, als sie in Speyer auf das Kreisarchiv und die beiden Kirchenarchive zurückgreifen konnten. Der Zweibrücker Philipp Kasimir Heintz war schon 1819 als Oberkonsistorialrat nach München gegangen, war auch Akademiemitglied, förderte den jungen Historischen Verein von dort aus und publizierte bis in die 30er Jahre Forschungen zur Geschichte von Pfalz-Zweibrücken. Unter den Professoren des Speyerer Lyceums waren Wissenschaftler von Rang, die aber meist bald die Pfalz verließen, so der Archäologe Anselm Feuerbach, Verfasser von „Der Vatikanische Apoll“ und Vater des Malers, der aus privaten Gründen, aber auch wegen der schlechten wissenschaftlichen Arbeitsbedingungen einem Ruf an die Freiburger Universität folgte, sowie der schon erwähnte Johann Kaspar Zeuss, der die „Traditiones Wizenburgenses“ herausgab, korrespondierendes Mitglied der 43

Zu Maximilian II. vgl. Merz, Max II. Riehl, S. 10. 45 Riehl, S. 126. 44

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Bayerischen Akademie und später Professor in München wurde. Den Orientalisten Friedrich Neumann hielt es auch nicht in Speyer. Nach Orientreisen ging er als Professor an die Münchener Universität. Der Altphilologe Karl Halm wurde in der Hauptstadt Professor und außerdem Direktor der Staatsbibliothek. Nur der Mathematiker und Physiker Friedrich Magnus Schwerd, auch ein Schwiegersohn Butenschoens, blieb in Speyer und verfolgte neben dem Schuldienst seine geodätischen und astronomischen Forschungen. Ihm hatte der bayerische Staat schon in den 1820er Jahren ein eigenes Observatorium bewilligt. Die Jahresberichte der Gymnasien des deutschsprachigen Raumes, die ab 1825 unter den Schulbibliotheken ausgetauscht wurden, boten fachübergreifend Raum für wissenschaftliche Aufsätze unterschiedlichen Ranges zu Geschichte, Sprache und Literatur, aber auch zur Mathematik und den Naturwissenschaften.46 In der Pfalz gab es, und das ist ja auch heute noch so, kaum herausragende Verlage für Wissenschaftsliteratur. Insofern war das Pflichtexemplar keine große Unterstützung. Buchhandlungen gab es nur wenige, und die Lesegesellschaften bezogen ihre Bücher und Zeitschriften meist von außerhalb der Pfalz. Staatliche Unterstützung für pfälzische historische Publikationen blieb oft aus. Ein Jahr nach Riehls epochemachendem Buch erschien mit August Beckers „Die Pfalz und die Pfälzer“ ein weiteres volkskundliches Werk, diesmal von einem pfälzischen Autor mit entsprechender Innensicht und Detailkenntnissen, das aber im Absatz unter dem Erfolg des vorgenannten gelitten hat. Becker hat sich 1857 im Vorwort zu seinem von Riehl unterschiedlichem Ansatz geäußert: „Als Pfälzer kam mir die Aufgabe, die ich übernahm, wohl zu, und wenn Riehl im Auftrag des Königs Max die Pfälzer in jüngster Zeit zum Gegenstand seiner kulturhistorischen Forschungen nahm, um an ihnen seine volkswirtschaftlichen Ideen kristallisieren zu lassen, so ist unser Buch daneben wohl nicht überflüssig geworden, da es, nur das Tatsächliche im Auge, die Pfalz und die Pfälzer einfach darstellen und sie nicht zu Objekten einer systematischen kulturgeschichtlichen Doktrin machen will.“47 Trotz dieser kritischen Anmerkung Beckers muss Riehl ihn als Volkskundler geschätzt haben, denn als König Maximilian den Plan zu dem Sammelwerk „Bavaria. Landes- und Volkskunde des Königreichs Bayern“ fasste und Riehl mit der Leitung beauftragte, hat er ihn 1862 über den Verlag Cotta mit den Abschnitten „Haus und Wohnung, Sagen, Volkssitten, Volkstracht, Nahrung“ beauftragen wollen.48 Becker scheint aber abgelehnt oder nicht geliefert zu haben, denn den Part schrieb – mög46 Vgl. Kössler, Verzeichnis von Programm-Abhandlungen deutscher, österreichischer und schweizerischer Schulen. 47 August Becker, Die Pfalz und die Pfälzer, S. VII. 48 Vorderstemann, August Becker, S. 57, Nr. 116. Die Passage im Brief von Rudolph Oldenbourg, Cotta’sche Buchhandlung in München, vom 7. 8. 1862 lautet: „Laut uns von der Redaktion der ,Bavaria‘ zugegangenen Mitteilung haben Eur. Wohlgeboren für die Abteilung ,Pfalz‘ der Bavaria folgende Abschnitte zu bearbeiten übernommen: Haus und Wohnung, Sagen, Volkssitten, Volkstracht, Nahrung. Die Einlieferung des Manuskripts wird bis Anfang Juni 1863 erbeten.“

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licherweise auf Empfehlung von Riehl – im Pfalzband der „Bavaria“49 der pfälzische Kreisarchivar Ludwig Schandein, der durch seine frühere Lehrertätigkeit in der Pfalz volkskundliche Anschauung mitbrachte. Auch für die übrigen Teile wurden pfälzische Autoren herangezogen. Die Jahre der Herrschaft Ludwigs II. 1864 – 1886 bringen für die Pfalz keine kulturellen Impulse, er hat die Provinz auch nie betreten. Wie man weiß, konzentrierte er sich im Wesentlichen auf den Bau seiner Schlösser und die Förderung Richard Wagners. Immerhin spendete er 1878 5000 Mark zur geplanten Errichtung der Speyerer Gedächtniskirche der Protestation. Der Beitrag des katholischen Königs „galt wohl weniger der protestantischen Kirche als dem Bau als Kulturdenkmal“50. Nichtsdestoweniger suchte man in der Pfalz an alte Bemühungen zur Geschichtsforschung anzuknüpfen. Der Nachfolger Hohes als Regierungspräsident, Sigmund von Peufer, unternahm Schritte, den erloschenen Historischen Verein wieder zu beleben. In einem Aufruf vom Januar 1869 schrieb er: „Ein historischer Verein der Pfalz hatte schon vor Jahren erfolgreich gewirkt; in den jenseitigen Schwesterprovinzen wie in unserer nächsten Umgebung […]. Nur unsere ,gottgesegnete’ Pfalz steht beschämt noch zurück!“51 Motor der Erneuerung war dann als Vereinssekretär Ludwig Schandein, der schon im März 1869 berichten konnte, dass man schon wieder über 500 Mitglieder habe und nach Ostern wohl schon über 600.52 Am 3. April konnte sich der neue Verein mit neuer Satzung konstituieren. Eine wesentliche und einflussreiche Neuerung war dann die Publikation der „Mitteilungen des Historischen Vereins“ ab 1870. Im selben Jahr gelang es, das Historische Museum der Pfalz zu begründen. Der Landrat bewilligte dazu 1870 die Summe von 100 Gulden zur Förderung, die bis 1885 auf 1000 Mark stieg. Die Sammlungen der verschiedenen Eigentümer (Kreis, Stadt Speyer, Historischer Verein, Private) verblieben in deren Eigentum und fanden Aufnahme in Räumen des Speyerer Realgymnasiums. 1887 wurde vom bayerischen Staatsministerium für Kirchen- und Schulangelegenheiten für die einzelne Kreise die Inventarisierung der in öffentlichem Besitz befindlichen Kunstdenkmälern angeordnet, doch „die infolge der zahlreichen Verheerungen an Kunstdenkmäler ziemlich arme Pfalz hatte […] gegenüber den reichen Kunstschätzen des jenseitigen Bayerns wenig Anziehungskraft“53, so dass erst 1921 damit begonnen wurde. Kulturpolitische Großtaten Bayerns in der Pfalz lassen sich auch in der Prinzregentenzeit, die gern als die „goldene“ angesehen wird, nicht erkennen, auch wenn Luitpold oft die Pfalz besucht hat, zuerst 1886 nach seinem Amtsantritt. Er hat sich erfolgreich bemüht, „die geographische und mentale Distanz zwischen 49

Bavaria Bd. IV/2, München 1867. Dellwing, S. 12. 51 Albert Becker, Hundert Jahre Pfälzer Geschichtsforschung, S. 136. 52 Ebd., S. 139. 53 Ebd., S. 293 f. 50

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Haupt- und Nebenland zu überbrücken“54 und war beim Volk außerordentlich beliebt. Davon zeugen sein Reiterstandbild auf dem Rathausplatz in Landau und der Leopoldsturm beim Hermersberger Hof, ein Luitpoldbrunnen in Ludwigshafen usw. Luitpold galt als kunstsinnig und war Präsident der Akademie der Künste, förderte die Kunst aber auch eigenständig. Er war der Moderne gegenüber zwar reserviert, aber tolerant. Seine 1891 gegründete Prinzregent-Luitpold-Stiftung förderte vor allem die Stilrichtung des Historismus.55 „München leuchtete“56 in seiner Zeit und konkurrierte in kultureller Hinsicht mit Berlin, aber wie stand es in der Pfalz? Die Liberalisierung der bayerischen Innenpolitik seit 1859 und die Aufhebung der isolierten Lage der Pfalz nach der Reichsgründung 1871 brachten es mit sich, dass die Spannungen zwischen Haupt- und Nebenland abnahmen. Durch die Annektierung von Elsass und Lothringen war die Pfalz kein Grenzland mehr, es gab nun bessere Eisenbahnverbindungen und auch Rheinbrücken. Der Aufschwung und die Industrialisierung der Gründerzeit machten sich bemerkbar. Das schlug sich auch im kulturellen Bereich in Baumaßnahmen nieder. 1892 hatte der Kreisarchivar Mayerhofer in einem Bericht auf die unzureichende Unterbringung der Archivalien hingewiesen und einen Neubau angeregt. 1899 kam man darauf zurück, und der aus Speyer stammende Oberbaurat Georg Maxon wurde mit der Planung beauftragt. Der 1902 übergebene Archivneubau zählte dann zu den schönsten und modernsten im Deutschen Reich.57 Der Neubau des Speyerer Gymnasiums brachte 1902 auch eine für die damalige Zeit befriedigende Lösung der Unterbringung der Bibliothek58. Doch schon 1907 stießen die Räumlichkeiten an ihre Grenzen, als Georg von Neumayer, Direktor der Hamburger Seewarte und dann Ruheständler in Neustadt, seine Bibliothek als Geschenk anbot und damit die Kreisregierung wie auch das Staatsministerium in München in nicht geringe Verlegenheit setzte.59 Der Bestand wurde dann dort zwar untergebracht, erfuhr aber keine Bearbeitung, weil er dem Historischen Verein und nicht dem Lande geschenkt worden sei. So lautete die Stellungnahme des Staatsministeriums in München. Vom Regierungspräsidenten wurden nicht einmal die Transportkosten übernommen. Wie in Speyer fand auch in Zweibrücken die Bibliothek in dem 1900 neu errichteten Gymnasiumsbau eine angemessenere Bleibe.60 Insgesamt blieb jedoch die Bibliothekssituation in der Pfalz bis nach dem Ersten Weltkrieg unbefriedigend. Glücklicher verlief die Entwicklung des schon 1869 gegründeten Historischen Museums. Seit 1892 war ein Neubau im Gespräch, 1894 wurde in einer Denkschrift 54

Schwarzmüller, S. 29. Kunst und Kultur in der Zeit Prinzregent Luitpolds, aus: www.koenigreichbayern.hdbg.de, Aufrufdatum 3. 12. 2013, S. 3. 56 Thomas Mann in „Gladius Dei“ (1902). 57 Warmbrunn, S. 48. 58 Hildenbrand, S. 29. 59 Jung, S. 16 und S. 64 – 66. 60 Hubert-Reichling, S. 267. 55

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auf die Notwendigkeit einer sachgerechten Unterbringung der Sammlungen hingewiesen: „Dieser reiche Schatz wurde für die Pfalz und Bayern erworben, ohne dass die Staatskasse auch nur irgendwelchen Aufwand zu leisten gehabt hätte.“61 Eine Bürgerinitiative führte 1898 zu einem „Bauverein Historisches Museum der Pfalz“, für den der Münchner Architekt Gabriel von Seidel, den man während der Wiederherstellung der Kaisergruft dafür interessieren konnte, ein schlossartiges Museumsgebäude am Domplatz entwarf, das mit seinen Sammlungen 1910 eröffnet werden konnte. Die Stadt Speyer hatte den Bauplatz gestellt, der Landrat der Pfalz und die Staatsregierung hatten Zuschüsse bewilligt. Die Öffnung der Kaisergräber und die Neufassung der Grablegen im Speyerer Dom in den Jahren 1900 bis1906 war zunächst keine bayerische Initiative. Auf einen Aufsatz des Speyerer Gymnasialprofessors Johann Praun62 von 1899 war für den Kaiser Franz Joseph der österreichische Gesandte beim Prinzregenten vorstellig geworden, der daraufhin über den Regierungspräsidenten von Welser bei Bischof von Ehrler sondierte, wie dieser zu einer Öffnung der Gräber stehe. Da die Kostenfrage so geklärt wurde, dass nicht die Diözese, sondern der Staat die Kosten tragen würde, konnten die Grabungen und dann die weiteren Baumaßnahmen ausgeführt werden. Die Kosten für die Neugestaltung der Vorhalle übernahm der Kaiser.63 Es fällt auf, dass sich der bayerische Staat in der Kulturförderung der Pfalz insgesamt immer stark zurückgehalten hat. Nun hängt kulturelles Leben nicht allein von staatlicher Förderung ab. Die Pfälzer in ihrem abgelegenen Landesteil haben ihre entsprechenden Bedürfnisse auch mit privaten Initiativen zu erfüllen gesucht. Neben dem Historischen Verein, der durch seinen Vorsitzenden, den Regierungspräsidenten, eng an den Staat gebunden war, war 1840 auf Anregung des Botanikers Carl Heinrich Schultz mit der „Pollichia“ in Dürkheim eine naturforschende Gesellschaft mit eigener Sammlung von 25 Naturkundlern gegründet worden. 1872 hatte der Regierungspräsident von Braun die Gründung einer Gewerbeschule und eines Gewerbemuseums in Kaiserslautern beim König und dem zuständigen Ministerium vorgeschlagen. 1876 realisierte ein Gewerbemuseums-Verein mit städtischer Unterstützung und Zuschüssen vom Landrat das Gewerbemuseum mit angegliederter Bibliothek64, aus dem die heutige Pfalzgalerie und die Pfalzbibliothek hervorgingen. Im Historischen Verein befürchtete man eine „nicht angenehme Konkurrenz“.65

61 Albert Becker, Hundert Jahre Pfälzer Geschichtsforschung, S. 224, Anm. 120 und Schineller, S. 5. Zum Bau selbst vgl. Schmitt-Sperber. 62 Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins N. F. [53] =14. 1899, H. 3, S. 381 – 427. 63 Angaben nach Baumann, S. 7 – 8. Zum Wiener Einfluss auf die Gestaltung der DomVorhalle s. Zink, S. 137 – 143. 64 Rapp, S. 100 ff. – Für den 25. Jan. 1882 vermerkt das Inspektionstagebuch des Regierungspräsidenten einen Zuschuss von 25 000 Mark für das Gewerbemuseum, vgl. Die Inspektionsreisen der pfälzischen Regierungspräsidenten, S. 152. 65 Albert Becker, Hundert Jahre Pfälzer Geschichtsforschung, S. 169.

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Auch gab es in verschiedenen Städten der Pfalz schon seit Ende des 18. bzw. Anfang des 19. Jahrhunderts Lesegesellschaften66, die der Bildung dienen wollten und auch Journale über Mode, Reisen, Kultur, Literatur, Landwirtschaft und Politik abonniert hatten. In der Ära Metternich und um das Hambacher Fest ist zu beobachten, dass die politischen Zeitungen sehr vorsichtig gehandhabt werden; verdächtige Blätter werden abbestellt, aber einige Mitglieder, gerade in Neustadt, gehören auch zu den Hambachern. Die Lesegesellschaften als gefährliche Brutstätte des Geistes werden von der Staatsgewalt kritisch beobachtet. Im Laufe des Jahrhunderts allerdings entwickeln sich diese Vereinigungen immer stärker zu gutbürgerlichen Vereinen, manchmal vereinigt mit schon bestehenden „Harmonia-“ oder „Casino“-Gesellschaften. Hier spielten Lesen und Bildung nur noch eine untergeordnete Rolle. Typisch ist die Satzung der Casino-Gesellschaft Zweibrücken, die sich in § 1 als „eine geschlossene Gesellschaft zum Zwecke der Unterhaltung und des geselligen Vergnügens“ definiert. „Zur Erreichung dieser Zwecke sollten eine Anzahl Zeitungen und andere Schriften, eine Bibliothek, Billards, Tanzunterhaltungen und Bälle, sowie sonstige gesellige Veranstaltungen dienen.“67 In Kaiserslautern wurde immerhin schon 1839 vom Stadtrat eine öffentliche Bibliothek gegründet. Daneben entstanden in der 2. Hälfte des Jahrhunderts in unterschiedlichen Trägerschaften Volksbibliotheken; 1909/10 gab es davon in der Pfalz insgesamt 205.68 Man organisierte sich auch in Theatergesellschaften, wie z. B. gerade in Zweibrücken69, das bereits in herzoglicher Zeit ein Hoftheater gehabt hatte. Dort gab es seit 1821 wechselnde Theatervereinsgründungen. Gespielt wurde von Laiendarstellern oder auswärtigen Schauspieldirektionen. 1865 wurde dann vom Regierungspräsidium die „Erste Pfälzische Theatergesellschaft“ mit Direktion in Zweibrücken konzessioniert, die aber nach einem Jahr aufgab. Es folgte 1870 ein Verein für gesellige Unterhaltung, der 1879 gar ein eigenes Theater mieten konnte – die Stadt hatte keine eigenen Verpflichtungen übernommen. Vorher hatte es einen ständigen Wechsel von Lokalitäten gegeben. „Damals wurde deutlich, daß Zweibrücken bei seiner Bevölkerungszahl […] nicht groß genug war, um […] ein eigenes festes Theater in seinen Mauern auf Dauer zu ernähren“.70 Für die wünschenswerte Einrichtung eines Landestheaters fehlten die verkehrstechnischen Voraussetzungen. 1905/06 gab es eine Zusammenarbeit mit dem Stadttheater Kaiserslautern, von 1908 an ein DreiStädte-Theater (Pirmasens, Kaiserslautern, Zweibrücken), 1912/13 scheiterte ein Städtebund-Theater Kaiserslautern, Saarbrücken, Zweibrücken.71 In Frankenthal spielte seit 1851 im Theatersaal des Philanthropins eine Wormser Theatergesell66 Zu pfälzischen Lesegesellschaften vgl. Vorderstemann: Bildung als bürgerliche Selbstdarstellung. 67 Satzungen der Casino-Gesellschaft Zweibrücken. Zweibrücken 1893. 68 Storm, S. 653. 69 Vgl. hierzu Bregel, S. 192, 195, 213, 372 sowie Gilcher, Es fehlte nur noch ein Theater!, S. 32. 70 Bregel, S. 213. 71 Bregel, S. 372.

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schaft, die sich „Königlich concessioniertes Theater in Frankenthal“ nannte.72 Andere Städte kamen durch bürgerliche Initiativen wenigstens zu repräsentativen Veranstaltungsstätten. Das durch den Weinhandel aufgeblühte Neustadt errichtete aus „ächtem Bürgersinn“73 1873 seinen Saalbau für unterschiedliche kulturelle Veranstaltungen. Der Architekt des Neorenaissancebaus, Albert Geul, kam wieder aus München und war Professor am dortigen Polytechnikum. Speyer bekam seinen Stadtsaal 1887. Hier hatte es im Rahmen der „Harmonie-Gesellschaft“ schon seit etwa 1817 eine Theatergesellschaft bzw. einen „Musikalisch-dramatischen Verein“ gegeben74. Ein besonderes Beispiel privaten Mäzenatentums ist die Landauer Festhalle, 1905 – 1907 erbaut, die zum großen Teil von dem zunächst anonym gebliebenen August Ludowici, Ziegelfabrikant aus Jockgrim, finanziert wurde. Sie zählt zu den bedeutendsten Festspiel- und Theaterbauten des Jugendstils im deutschen Südwesten.75 Bayern dagegen hatte laut Brockhaus gegen Ende des Jahrhunderts insgesamt 17 Theater76, davon nur eines in der Pfalz, eben in Kaiserslautern, der mit 39 000 Einwohnern (1895) größten Stadt der Pfalz, das auf dem Weg war, ein kulturelles Zentrum zu werden77. Hier gab es für das Theater zwar ab 1861 zunächst nur eine Holzhalle, doch ab 1867 wurde ein Neubau mit 1200 Plätzen mit privaten Mitteln eines Mäzens erbaut. 1897 übernahm die Stadt das Theater78. 1867 wurde ein genossenschaftliches Stadtorchester gegründet, das ab 1905 einen ständigen städtischen Zuschuss erhielt. Gesangvereine in der Nachfolge von Zelters Singakademie in Berlin gab es in den pfälzischen Städten wie im übrigen Deutschland; sie wurden von der gehobenen Bürgerschaft getragen. 1827 und 1860 fanden in Kaiserslautern zentrale Sängerfeste statt, durch Notenhändler und Hersteller von Musikinstrumenten wurde die Stadt ein musikalisches Zentrum. Doch „Bitten an die bayerischen Landesherren, in dieser doch so musikalischen Region des Königreiches mit einem Konservatorium für die ordentliche Ausbildung so vieler Begabungen zu sorgen, verhallten ungehört“.79 In der bildenden Kunst konnte sich in der Pfalz kein Zentrum etablieren, und es gab auch keine Förderungsmöglichkeiten. Deshalb ging Heinrich Bürkel nach München, Ludwig Serr aus Rhodt unter Rietburg nach Paris und später nach Heidelberg, Johann Martin Bernatz – er wurde später ein gesuchter Expeditionsmaler – aus Speyer nach München, Hans Purrmann aus Speyer über Karlsruhe, München und Berlin nach Paris, Albert Weisgerber aus St. Ingbert über Frankfurt nach München. Der ge72

Nestler, S. 524. Neustadter Zeitung Nr. 264 vom 11. Dez. 1873. 74 [Heuser], S. 5. 75 Martin, S. 29 f. 76 Brockhaus, 14. Aufl., Bd. 2, S. 564. 77 Keddigkeit, S. 122. 78 Gilcher, Es fehlte nur noch ein Theater!, S. 31. 79 Gilcher, 125 Jahre Orchester des Pfalzbaus, S. 91. 73

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bürtige Bayer Max Slevogt, der 1908 den Prinzregenten porträtierte und oft bei ihm zu Gast war, war zwar oft in der Pfalz und malte hiesige Landschaften, aber er ließ sich erst 1914 hier endgültig nieder.80 In der Pfalz hatte man das Fehlen eines günstigen Nährbodens für die Kunst schon 1845 empfunden, und nach Resolutionen von Blaul, Serr u. a. hatte Regierungspräsident Franz Alwens 1848 zur Bildung eines „Pfälzischen Kunstvereins“ aufgerufen. Die Münchner Maler Schraudolph und Schwarzmann, die wegen der Domausmalung in Speyer weilten, unterstützten die Gründung und wollten die Kontakte zu den Münchner Künstlern herstellen. Doch erst 1867 wurde der Verein wirklich gegründet, und wie im Historischen Verein legte die Satzung den Regierungspräsidenten als Vorsitzenden fest.81 Ähnlich ungünstig sah es bei der schönen Literatur aus. Zwar wurde 1878 der „Pfälzische Schriftstellerverein“ gegründet, doch Wolfgang Diehl hat nachgewiesen, dass die Sage von der Vereinsgründung „als Ausdruck mächtig geistig-kultureller Regungen“ eine „reine Geschichtsklitterung“ war. „Tatsächlich bemühte sich im Literarischen Verein ein gutes Dutzend pfälzischer Autoren und Literaturfreunde, […], in schwerer Zeit ein etwas breiteres Wirkungsfeld in der Öffentlichkeit zu bekommen.“82 Als wichtigste wissenschaftliche wie schöngeistige Zeitschrift gab es die „Palatina“, das Beiblatt zur „Pfälzer Zeitung“. Autoren, die bleibend in die deutsche Literaturgeschichte eingingen, finden sich in der Pfalz nicht, die meisten haben nur regionale Bedeutung oder sind Dialektdichter, deren Werk die pfälzische Identität unterstreicht.83 Die bedeutendsten Schriftsteller der Pfalz waren August Becker und Martin Greif aus Speyer, der aber schon in seiner Schulzeit aus Speyer nach München zog. Sein Werk ist geprägt von „staatstreuem Konservativismus“, seine historischen Dramen dienten „der Identifikation des Volkes mit den Herrschern“84. August Becker ging als Neunzehnjähriger 1847 nach München, blieb aber in seinem Schaffen in seinen Romanen, Erzählungen und volkskundlichen Arbeiten der Pfalz treu. Als Redakteur der öffiziösen „Isar-Zeitung“ engagierte er sich 1860 bis 1864 für die neue liberale Regierung. Auf seinen Schlüsselroman „Vervehmt“ in der Übergangszeit von Maximilian II. auf Ludwig II. hin lobte man ihn weg nach Eisenach. Seine Versuche, in die Pfalz zurückzukehren und dort literarisch Fuß zu fassen, scheiterten. Obwohl, wie er schreibt, „ich der einzige Pfälzer bin, der sich in Deutschland literarischen Ruhm errungen“, fand er in der Heimat keine Resonanz, und außer einer kurzen Durchreise 1872 und 1874 „habe ich die Pfalz seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr gesehen“ […] und „mit Pfälzern keine Berührungspunkte mehr gefunden.“85 Überregionalen Erfolg hatte kurzfristig noch Hippolyt August Schaufert, dessen Dramen am Burgtheater in Wien aufgeführt wurden. Bezeichnen80

Vgl. dazu Paas, Max Slevogt und die Pfalz. Jöckle, Kleine Chronik des Kunstvereins, S. 10 – 15. 82 Diehl, S. 12 f. 83 Einen Überblick geben Paulus / Renner, S. 247 – 259. 84 Sprengel, S. 441. 85 Vorderstemann, August Becker, S. 82, Nr. 211 und S. 101, Nr. 285.

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derweise behandelt das „Handbuch der Literatur in Bayern“86 nur die Literatur in München und in den fränkischen und schwäbischen Landesteilen. Noch 1928 urteilte Faber-Kaltenbach in seiner Darstellung der Rheinpfälzischen Literatur: „Die Flucht besserer Geister von pfälzischer Heimatscholle war und ist der ,Fluch‘ pfälzischer Literatur!“87 Es hat nach alldem den Anschein, als sei es mit der Kultur in der Pfalz im behandelten Zeitraum nicht sehr gut bestellt gewesen. Man muss aber die politischen und sozialen Umstände bedenken, auch die abgelegene Situation des Kreises, um zu einem gerechten Urteil zu kommen. Die ehemaligen Residenz- und Reichsstädte in Bayern hatten eine ungestörtere Tradition, München als Hauptstadt ohnehin eine größere Förderung. Die entlegene Provinz erreichten die Initiativen und Förderungen nur in abgeschwächter Intensität, und sie konnte ihre Talente auch nicht in gleichem Maße fördern. Die wirtschaftlichen Verhältnisse blieben bis zur Jahrhundertmitte schwierig, und Revolutions- wie Restaurationszeiten standen einer kontinuierlichen kulturellen Entwicklung im Wege. August Becker und, wie zitiert, andere haben, vielleicht etwas ungerecht, den Volkscharakter für diesen Mangel mit verantwortlich gemacht. Es fehlte aber in der Pfalz ganz einfach das kulturelle Zentrum. Keine der pfälzischen Städte konnte eine solche Rolle übernehmen, und so blickte man noch oft über den Rhein auf die alten Verbindungen nach Mannheim und Heidelberg. Immerhin wurde in gewissem Maße mangelndes staatliches Engagement durch private Initiativen und Mäzenatentum kompensiert. Große Bauten wie das Historische Museum in Speyer verdanken sich privater Initiative, genau so wie die bereits erwähnte Gedächtniskirche in Speyer, deren Gründungsverein sich schon 1853 konstituiert hatte. Viele einheimische Talente aber wanderten ab und machten außerhalb ihrer Heimat Karriere. Besonders die Hauptstadt München übte eine starke Anziehungskraft aus. Doch die alte Aversion zwischen Bayern und Pfälzern blieb noch lange bestehen. Erst nach der Reichsgründung und besonders unter dem Prinzregenten standen die Pfälzer loyaler zum Königshaus. Der wirtschaftliche Aufschwung der Gründerzeit begünstigte zwar die weitere Entwicklung des kulturellen Lebens in der Pfalz, doch grundsätzlich änderte sich nichts, und es hat den Anschein, dass man in München auch wenig an Verbesserungen der dortigen kulturellen Infrastruktur interessiert war. Damit war die Pfalz immer mit dem Odium der Zurückgebliebenen behaftet, was umgekehrt leicht in eine Neigung zur kompensatorischen Selbstbespiegelung umschlug. Albert Beckers Fazit von 1916 nach 100 Jahren Zugehörigkeit zum Königreich Bayern ist auch nach erneuter Betrachtung nichts hinzuzufügen: „Gewiß wird ein Talent oder gar ein Genie seinen Weg auch aus der Pfalz hinaus in die Welt finden, aber eine der Welt näher gerückte Bühne erleichterte ihm doch wesentlich den dornenvollen Weg […], an einem Vorort aber, der dieses Sprungbrett abgeben konnte

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Wittmann, S. 235 – 252. Faber-Kaltenbach, S. 128.

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[…] hat es der Pfalz seit ihrer politischen Gründung vor hundert Jahren leider gefehlt.“88 Literatur Baumann, Jakob: Die Öffnung der Kaisergräber im Dom zu Speyer. Speyer 91978. Bayern, Adalbert von: Die Wittelsbacher. München 1979. Becker, Albert: Hundert Jahre Pfälzer Geschichtsforschung 1827 – 1927. Festschrift zur Erinnerung an die Begründung des Historischen Vereins der Pfalz. Speyer 1927 (Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 47). Becker, Albert: Pfälzer Volkskunde. Bonn und Leipzig 1925, Reprint Frankfurt a. M.1979. Becker, Albert: Pfälzer Geistesleben im letzten Jahrhundert. Vortrag zur pfälzisch-bayerischen Jahrhundertfeier 1916, in: Mitteilungen des Literarischen Vereins der Pfalz, H. 4. 1916, S. 3 – 32. Becker, August: Die Pfalz und die Pfälzer. Bearb. von Oskar Bischoff. Im Gedächtnisjahr 1958. Neustadt/Weinstraße und Landau 1958. Blaul, Friedrich: Träume und Schäume vom Rhein. In Reisebildern aus Rheinbayern und den angrenzenden Ländern. Aus den Papieren eines Müden. Vollst. Neuausgabe nach der Erstausgabe von 1838. Ludwigshafen 2007. Bregel, Kurt: Die Geschichte des Theaters in Zweibrücken. Diss. Mainz 1956. Der große Brockhaus. 14. Aufl., Bd. 2, Leipzig [u. a.] 1898, Art. Bayern, Geistige Kultur, S. 564. Bümlein, Klaus: Johann Friedrich Butenschoen, in: Pfälzer Lebensbilder, 8. Bd. Hrsg. von Hartmut Harthausen. Speyer 2014, S. 45 – 80. Buttmann, Rudolf: Geschichte der Gymnasialbibliothek zu Zweibrücken. Programm des Kgl. humanist. Gymnasiums Zweibrücken 1897/98. Zweibrücken 1898. Büttner, Frank: Ludwig I. Kunstförderung und Kunstpolitik, in: Die Herrscher Bayerns. 25 historische Porträts von Tassilo III. bis Ludwig III. Hrsg. von Alois Schmid und Katharina Weigand. München 2001, S. 310 – 329. Dellwing, Herbert: Die Gedächtniskirche der Protestation zu Speyer. Speyer 1979. Die Inspektionsreisen der pfälzischen Regierungspräsidenten 1867 – 1891, bearb. von Andreas Imhoff. Neustadt an der Weinstraße 2011. Die Krokodile. Ein Münchner Dichterkreis. Texte und Dokumente. Hg. von Johannes Maar, Stuttgart 1987. Diehl, Wolfgang: Heimat, Provinz und Region im Spiegel der Literatur. 125 Jahre Literarischer Verein der Pfalz. Landau 2003. Faber-Kaltenbach, Jakob: Rheinpfälzische Literatur in Hinblick auf die Pfalz und die ehemals kurpfälzischen Gebiete […]. Grundriß ihrer Geschichte bis 1925. Kaiserslautern 1928. 88

Ebd., S. 23.

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Pfälzische Kulturlandschaft oder pfälzische Provinz?

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