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German Pages 214 Year 2015
Wiebke Ohlendorf, André Reichart, Gunnar Schmidtchen (Hg.) Wissenschaft meets Pop
Edition Kulturwissenschaft | Band 71
Wiebke Ohlendorf, André Reichart, Gunnar Schmidtchen (Hg.)
Wissenschaft meets Pop Eine interdisziplinäre Annäherung an die Populärkultur
Der Band wird finanziert vom Institut für Germanistik, Abteilung Linguistik und Mediävistik und dem Präsidium der Technischen Universität Carolo Wilhelmina zu Braunschweig. Für diese finanzielle Unterstützung bedanken wir uns ebenso, wie wir Timo Zappi für die Unterstützung bei der Manuskripterstellung danken.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Wiebke Ohlendorf Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3100-5 PDF-ISBN 978-3-8394-3100-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort
Wiebke Ohlendorf, André Reichart, Gunnar Schmidtchen | 7 Der Vampir-Mythos in Literatur, Film und Alltagskultur
Sonja Brandes | 13 Artus: Krieger – König – Kunstfigur
Wiebke Ohlendorf | 33 Necronomicon – Das Buch, das nicht sein durfte
André Reichart | 61 Murder by Death – Klischees und Stereotypen im/über den Kriminalroman
Gunnar Schmidtchen | 91 Das Narrativ und das Erleben: Strategien zur medialen Inszenierung von Echtzeit
Christian Stein | 119 Feuer und Eis. Physikalische Eschatologie oder das Ende der Welt
Alexander Strahl | 139 „nuqneH?" – Zur Eleganz der klingonischen Sprache
Katja Wermbter | 159 The Shining Code: Stanley Kubricks kodiertes Geständnis über die Apollo-Mondlandungsfilme
Timo Zappi | 187 Autorinnen und Autoren | 209
Vorwort W IEBKE O HLENDORF , A NDRÉ R EICHART , G UNNAR S CHMIDTCHEN Much to learn, you still have. YODA/STAR WARS EPISODE II
Auch der akademische Elfenbeinturm verfügt mittlerweile über Flachbildschirme und Breitbandanschluss. Moderne Medien halten Einzug in die angestaubte Studierstube der Wissenschaftler und neben den traditionellen Papierbergen und Bücherstapeln liegt ein E-Book-Reader. Die Wissenschaften öffnen sich für Themen und Bereiche, die noch vor 20 Jahren als trivial und populär verschrien waren. Angesichts der steigenden Qualität von Medien und Unterhaltung mit populärkulturellen Inhalten besteht aber kein Grund, diese vom wissenschaftlichen Diskurs auszuschließen. Die Betrachtung und Analyse derartiger Phänomene geht über die reine Akzeptanz weit hinaus und erkennt den Eigenwert der Werke auch dann an, wenn sie nicht der klassischen Vorstellung von Hochkultur entsprechen; sie stellt sie sogar in den Mittelpunkt vieler Arbeiten. Die im deutschsprachigen Raum stark durch Adorno1 geprägte Unterscheidung in U- und E-Kultur wird möglicherweise in einem historischen Moment etabliert, in dem sie sich be-
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Vgl. Sven KRAMER: Benjamin und Adorno über Kunst in der Massenkultur. In: Massenkulturen. Kritische Theorien im interkulturellen Vergleich. Hrsg. von Rodrigo Duarte, Oliver Fahle und Gerhard Schweppenhäuser. Münster: LIT Verlag 2003. S.39ff. – Hierzu paradigmatisch und anschaulich zugleich Adornos Stellungnahme aus einem Interview zur Popmusik der Hippie-Bewegung: https://www.youtube.com/watch?v=Xd7Fhaji8ow [03.05.15].
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reits in einem Auflösungsprozess befindet. Vielmehr scheint heute das populäre Feld jenes zu sein, das das Material bereitstellt, aus dem sich andere kulturelle Bereiche generieren. Wenn in der Gesellschaft die Trennung an einigen Stellen aufrechterhalten und vehement verteidigt wird, sie womöglich auch essenzielle kulturelle Funktionen besitzt, so lässt sich doch an den Erzeugnissen selbst ihre hohe intermediale Abhängigkeit voneinander zeigen. Dies ist auch der Ansatz der hier versammelten Beiträge. Es geht nicht um eine diskursive Begründung des U-Kulturellen als E-Kulturelles oder umgekehrt, sondern es geht um die Verflechtungen und Überschneidungen beider unter dem Aspekt ihrer Abhängigkeit zur Wissenschaft. Diese Abhängigkeit ist zweierlei. Zum einen werden wissenschaftliche Inhalte populär umgesetzt, zum anderen beschäftigt sich die Wissenschaft mit populären Phänomenen. Im letzteren Fall wird sie direkt oder indirekt zu einer gesteigerten gesellschaftlichen Reputation des Populären beitragen. Angesichts globalisierter Wissenschafts- und Unterhaltungsmärkte bietet sich die Chance, die Themen als interkulturelle und -disziplinäre Vernetzung der einzelnen Inhalte und Herangehensweisen zu nutzen. So unterschiedlich die Beiträge dabei auch sein mögen, sie haben alle gemeinsam, dass sie sich aufgeschlossen einer qualitativen (Ab-)Wertung ihres Untersuchungsgegenstandes entgegenstellen. Das Populäre ist elementarer Bestandteil der Kultur, seine Rezeption mehr als zu anderen Zeiten kollektiv. Die daraus resultierende Wirkungsmacht auf unterschiedliche Bereiche und nicht zuletzt auch Bildung und Wissenschaft darf nicht zu niedrig angesetzt werden. Die Chancen, die sich daraus ergeben, werden im didaktischen Bereich bereits genutzt, wenn Unterrichtsstoff an Schulen oder Hochschulen medial2 aufgearbeitet und damit erschlossen wird. Die Suche nach wissenschaftlichen Grundlagen in populären Themen ist in der Forschungslandschaft weniger präsent, auch wenn sie in den letzten Jahren stetig zunimmt. Durch den individuellen Ansatz der beteiligten Disziplinen kann und will die Auswahl der hier präsentierten Untersuchungen keine Gesamtbetrachtung der Schnittstellen von (vermeintlicher) Hoch- und Populärkultur bie-
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Medial meint hier nicht allein die technische Aufbereitung von bereits vorhandenen Inhalten mittels audiovisueller Transposition oder den Einbezug neuer Technologien, sondern speziell die Nutzung populärkultureller Inhalte, Topoi, Figuren oder auch Fehlvorstellungen als Ansatz- oder auch Kritikpunkt im schulischen Unterricht.
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ten, sondern versammelt einschlägige Einzelfallanalysen. Diese verstehen sich als Exempel dafür, wie die jeweiligen Fachdisziplinen zum Verständnis populärer Phänomene beitragen können. Der gemeinsame Gegenstand schafft die Vernetzung und die Möglichkeit der einzelnen Fächer, interdisziplinär auf Ergebnisse zurückgreifen zu können. Der Ansatz trägt letztlich damit dem zuvor dargestellten Umstand Rechnung, dass die Durchdringung weiter Teile der Kultur bereits vorliegt. Diese Gedanken standen 2011 am Beginn der Planungen zu einer interdisziplinären Vortragsreihe für den akademischen Nachwuchs der TU Braunschweig, die sich mit Themen befasst, die außerhalb curricularer Vorgaben stehen. Auf der breiten Basis der wissenschaftlichen Ausbildung und des fächerspezifischen Methodenkatalogs ist so auch eine fundierte Auseinandersetzung mit scheinbar rein populären Themen möglich, ohne in Oberflächlichkeiten abzugleiten. Es ist umso erfreulicher, dass die Beiträge des nun daraus resultierenden Bandes die Reibungspunkte dieser potentiellen Widersprüche auch in die gedruckte Form übertragen, um dem Charakter der dahinterstehenden Idee gerecht zu werden. In diesem Sinne geht Sonja Brandes dem divergenten Image des Vampirs nach, indem sie die vielfältigen Ursprünge des „Vampir-Mythos“ im Volksglauben beleuchtet, bevor sie seine Genese durch die Literatur und den Film anhand einschlägiger Vertreter wie Nosferatu, Dracula oder schließlich Edward Cullen untersucht. Die Charaktere unterscheiden sich dabei nicht nur in ihrer Varianz der als stereotyp vampirisch angesehen Eigenschaften, sondern auch in der Ausprägung bzw. Tilgung ihrer Monstrosität. In einem weiteren Schritt zeigt der Beitrag die Rückübertragung des medialen Vampirs in subkulturelle Bereiche, wobei er sich mit den Elementen des Volksglaubens mischt und zum ‚Vampyr‘ wird. In „Artus: Krieger – König – Kunstfigur“ verfolgt Wiebke Ohlendorf den Weg der Figur des König Artus’, indem sie einige der historischen Grundlagen nachvollzieht und die fiktionale literarische und filmische Entwicklung nachzeichnet. Hierbei bezieht sie neben lateinischen Quellen wie der Historia Brittonum, mythologische wie das Mabinogion und literarische Artus-Adaptionen (Parzival, Tristan) ein, um diese mit filmischen Interpretationen, insbesondere Excalibur und King Arthur, zu vergleichen. Dabei geht sie davon aus, dass filmische und literarische Adaptionen ähnliche Strukturelemente aufweisen, aber in ihrer Entwicklung andere Schwerpunk-
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te gesetzt haben. Werden in der Literatur die zugrundeliegenden genealogischen Elemente zusammengeführt, so werden im Film eher die Einzelelemente, -legenden oder möglichen Ursprünge in den Fokus gestellt. „Necronomicon – Das Buch, das nicht sein durfte.“ Obwohl es ein rein literarisch-fiktives Konstrukt des Autors H.P. Lovecraft ist, hat sich das Necronomicon als Buch inzwischen zu einem tatsächlichen, kulturellen Gegenstand entwickelt. André Reicharts Beitrag skizziert den Wandel von der Idee über die Aufladung mit Bedeutung bis hin zu den faktischen Umsetzungen. Diese finden sich losgelöst von ihrem eigentlichen Ursprung unter anderem als Requisit oder Chiffre in Filmen, Videospielen und okkulter Subkultur. Die jeweilige Funktion beeinflusst die Realisationsform des Konstrukts und so stellt sich die Frage, ob es für die Poetologie Lovecrafts besser gewesen wäre, wenn das Necronomicon eine Idee geblieben wäre. Gunnar Schmidtchen beschäftigt sich in seiner Untersuchung „Murder by Death – Klischees und Stereotypen im/über den Kriminalroman“ mit dem Kriminalroman und dessen gängigen Klischees auf der Werk- wie auf der Rezipientenebene. Das Analysekorpus dazu bildet der Film „Eine Leiche zum Dessert“ (orig. Murder by Death), der als Persiflage die Konzentration von Stereotypen durch die formalen und zeitlichen Grenzen des Kinofilms noch deutlicher zutage treten lässt. Der Film geht mit der genreeigenen, vermeintlich statischen Struktur kreativ und selbstironisch um. Dass diese Klischees, vom klassischen Doyle- oder Christie-Krimi ausgehend, auch heute noch aktuell sind, zeigt entweder die Widerstandsfähigkeit eines solchen oder die einem Genre wie dem Krimi inhärente Statik und Unflexibilität. Der Untersuchungsgegenstand Christian Steins ist das Erzählen von und in Echtzeit. In „Das Narrativ und das Erleben“ zeigt er die unterschiedlichen Arten von Echtzeit auf und zieht Parallelen zwischen den Analysekategorien der Erzähltheorie nach Genette und den Mechanismen der zeitlichen Inszenierung in der TV-Serie 24. Die Zeit des titelgebenden Tages wird durch eine mitlaufende Uhr demonstriert, mit der der Zuschauer fortwährend die Dringlichkeit der aktuellen Bedrohung vermittelt bekommt. Um Echtzeit nicht langweilig werden zu lassen, wird der Zuschauer konstant durch den Einsatz von Split Screens und einer eingeblendeten Digitaluhr an diese erinnert und ein künstlicher Zeitdruck erzeugt. Zusätzlich wird die Spannung permanent auf einem sehr hohen Niveau gehalten, indem systematisch schnell zwischen den verschiedenen Handlungssträngen mit je
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eigener Spannungskurve iteriert wird. Der Beitrag stellt abschließend die Frage nach dem Gelingen dieses Inszenierungsschemas und möglicher Abnutzungserscheinungen. Dass die Erde dem Untergang geweiht ist, lässt sich wohl kaum von der Hand weisen. Alexander Strahl geht in „Feuer und Eis – Physikalische Eschatologie oder das Ende der Welt“ den möglichen Szenarien vom Ende des Fusionsprozesses innerhalb der Sonne, Asteroideneinschlägen, dem atomaren Overkill und der Invasion durch Außerirdische mit physikalischen Modellen nach, um festzustellen, dass der Menschheit bzw. der Erde tatsächlich kein immerwährendes Leben beschieden ist. Dazu zeichnet er die Entstehungsprozesse unseres Universums unter Betrachtung verschiedenster Theorien (Big Bang, steady state oder doch zyklisch) nach, verschafft einen Überblick über die Zusammensetzung des Alls (Dunkle Materie, MACHOs und WIMPs etc.), um dann mögliche Zukünfte über die nächsten Billionen Jahre und die folgenden Grundfragen zu ergründen. Die mythologischen Fragestellungen vergleichen abschließend die Ansichten aus Christentum, Islam und Hinduismus mit denen aus der Physik. Starke und mutige Krieger bevölkern das Universum von Star Trek. Mit der Komplexität der Sprache eines dieser Völker beschäftigt sich Katja Wermbter in ihrem Beitrag ‚nuqneH?‘ – Zur Eleganz der klingonischen Sprache“. In diesem gibt sie einen kurzen Überblick über Morphologie, Syntax, Pragmatik und die Rezeption des Klingonen-Phänomens. Das Klingonische als agglutinierende Sprache bietet die Möglichkeit, in nur wenigen Worten mittels einer Vielzahl an Affixen auch komplexere Sachverhalte zu kommunizieren, sodass diese Sprache trotz einer hart und aggressiv klingenden Verlautlichung einer gewissen Eleganz nicht entbehrt. Dies weist Katja Wembter u.a. durch einen Vergleich der Adverbialsatzstrukturen im Deutschen und Klingonischen nach. Das Apollo-Programm der NASA und die erste Mondlandung 1969 sind bereits in der gesellschaftspolitisch unsteten zeitgenössischen Wahrnehmung Gegenstand diverser Verschwörungstheorien. Timo Zappi widmet sich einer dieser Überlegungen in „The Shining Code: Stanley Kubricks kodiertes Geständnis über die Apollo-Mondlandungsfilme“. Basis sind die aktuellen Videoproduktionen The Shining Code 2.0 und Room 237, in denen anhand der komplexen und psychologisch durchwirkten Inszenierungen des amerikanischen Regisseurs Kodierungen in sein Werk The Shining (1980) gelesen werden, die auf seine Beteiligung bei einer Fälschung der
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Mondlandungsfilme hindeuten sollen. Der Beitrag betrachtet diese Theorien kritisch und kontrastiert sie mit anderen Interpretationsansätzen. Die Zusammenstellung dieser Beiträge bietet einen Einblick in die vielfältigen Interessen- und Forschungsgebiete, die den wissenschaftlichen Nachwuchs an der TU Braunschweig neben dem akademischen Alltag auszeichnet. Es zeigt, dass die Beschäftigung mit der Populärkultur die wissenschaftliche Arbeit nicht einschränkt, sondern sie im Gegenteil erweitert und durch kreative Blickwinkel bereichert. Da das zugrundeliegende Projekt weiter fortbesteht und neue Personen, Themen und Untersuchungsgegenstände hinzukommen, lässt sich im Sinne Yodas schlussfolgern: Es ist und bleibt noch viel zu lernen. Die Herausgeber bedanken sich bei allen Beiträgern und Korrekturlesern des Sammelbandes sowie allen, die Unterstützung in faktischer und mentaler Form geboten haben. Darunter fallen auch Timo Zappi, der uns bei der Erstellung des Manuskripts unterstützt hat und der transcript-Verlag, der bereit war, diese Nachwuchspublikation in seine Edition Kulturwissenschaft aufzunehmen. Ein besonderer Dank gilt der freundlichen Betreuung durch Carolin Bierschenk. Für die Finanzierung danken wir dem Präsidium der Technischen Universität Carolo Wilhelmina zu Braunschweig und der Abteilung Linguistik und Mediävistik des Instituts für Germanistik – namentlich Herrn Prof. Dr. Martin Neef.
Braunschweig und Fukuoka, Juni 2015
Der Vampir-Mythos in Literatur, Film und Alltagskultur S ONJA B RANDES
This paper outlines at first in an ethnological approach the basis of the myth and folk beliefs regarding the vampire and follows its way from urban legend to known authors like Bram Stoker and films like Interview with the Vampire and compares the TV series True Blood with Stephenie Meyers Twilight trilogy. Concluding with a consideration of the “Vampyr” subculture this article shows the impact this creature had and has on culture and human beings themselves. Wenn es für eine Sache in dieser Welt eine wohlbelegte Zeugenschaft gibt, dann ist es die Existenz der Vampire. Nichts fehlt: Weder die offiziellen Berichte noch die beeideten Erklärungen; die juristische Beweislast könnte kaum erdrückender sein. Und trotz allem, wen gibt es, der an Vampire glaubt? JEAN-JACQUES ROUSSEAU
D ER M YTHOS
UND SEINE
ADAPTION
Wenn von Vampiren die Rede ist, dann scheint zunächst jedem klar zu sein, um was es dabei geht, ohne dass es einer größeren Erklärung bedarf. Wenn sich die Vorstellungen im Detail unterscheiden mögen, dann würde den-
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noch ein Merkmal unstrittig als Voraussetzung angegeben werden. Denn neben dem Bluttrinken, der Abneigung gegen Knoblauch und christliche Symbole, der Lichtunverträglichkeit sowie der Fähigkeit andere Gestalten annehmen zu können, muss ein Vampir vor allem eines sein: Untot. Das Verständnis des Begriffes in der Alltagskultur ist hauptsächlich ein medial geprägtes. Der Ursprung ist jedoch weitaus älter und geht zurück bis in die vorchristliche Zeit. En detail betrachtet handelt es sich um einen komplexen Mythos, der weltweit tief im Volksglauben verwurzelt ist und demzufolge vielfältige kulturelle Unterschiede aufweist.1 Seit dem 18. Jahrhundert ist der Mythos ein wiederkehrendes Motiv in der Literatur und später auch im Film. Das kollektive Wissen darüber ist seit Bram Stokers Roman Dracula2 vor allem ein literarisch geprägtes. Die meisten späteren medialen Inszenierungen der Vampir-Figur arbeiten sich an dieser Vorlage ab. Dabei haben die enthaltsamen und moralisch verantwortungsbewussten Vampire in Stephenie Meyers Twilight-Trilogie kaum noch etwas mit dem ungezügelten, sexualisierten und bedrohlichen Typus des Romans von Stoker gemein. Als popkulturelles Phänomen abseits von Literatur und Film findet der Mythos außerdem Eingang in subkulturelle Strömungen, bei denen die Verinnerlichung so weit gehen kann, dass Mitglieder derselben sich selbst für Vampire halten. Um nachzuzeichnen, auf welche Details sich die Anhänger derartiger Subkulturen beziehen, möchte ich zunächst kurz aufzeigen, welche Ausprägungen der Vampir-Glaube aus ethnologischer Sicht in Europa im Verlauf der letzten Jahrhunderte erfahren hat.
D ER V AMPIR -G LAUBE
AUS ETHNOLOGISCHER
S ICHT
Die Quellenlage im Rahmen von volkskundlichen Studien zum VampirMythos ist mehr als günstig. In Dorfchroniken, Zeitungsartikeln, Berichten von Ärzten etc. findet sich ein schier unüberschaubares Material, das kaum zu bewältigen ist. Dass sich der Vampir-Glaube oder zumindest Rituale, die damit in Zusammenhang stehen, in manchen Gegenden bis heute aufrecht erhalten haben, wird von Historikern immer wieder bestätigt. Der Glaube
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BORRMANN: 1998: 23-59.
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STOKER 2011 [1897].
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an Untote hat vor allem in vielen Teilen Osteuropas bis heute eine Relevanz, so wie diese Gegenden insgesamt noch stärker von abergläubischen Vorstellungen geprägt sind.3 Auch wenn es immer wieder Dokumentationen gibt, die die mögliche Sensationsgier des Publikums befriedigen und Graböffnungen bzw. posthume Exekutionen zeigen, bedeutet das nicht, dass derartiges an der Tagesordnung steht. Riten, die vermeintlichen Vampiren das Handwerk legen sollen, sind oft weitaus unspektakulärer als dargestellt.4 In Einzelfällen gibt es aber nach wie vor Exhumationen und es kann davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer weitaus höher ist als die Fälle, die der Polizei gemeldet werden. In früheren Zeiten waren derartige Praktiken gang und gäbe und hatten sicherlich eine wichtige Funktion in Hinblick darauf, den Tod fassbar, begreifbar sowie erklärbar zu machen. Heutzutage steht ein solcher Umgang mit Leichen unter Strafe. Der Vampir in Gestalt des Grafen Dracula in Stokers Roman ist eine Mischung verschiedener Mythen, die diesem Bild als Vorläufer dienen und die sich um Verstorbene ranken, bei denen geglaubt wurde, sie befänden sich in einer Art Zwischenreich, das nicht dem Leben aber auch nicht dem Tod zuzuordnen ist. Claude Lecouteux hat in seiner Studie zahlreiche Berichte ausgewertet, in denen es um Erscheinungsweisen von so bezeichneten Untoten geht.5 Für den Vampir, wie er bei Stoker repräsentiert ist, ist vor allem der Mythos des Wiedergängers eine wichtige Prägung. Der Begriff des Wiedergängers ist allerdings unscharf und bezieht sich zunächst auf nicht näher festgelegte, meist jedoch körperliche Erscheinungen von Toten. Für eine
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Vgl. MAYSENHÖLDER 2012. [10.01.2015].
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Die 2011 erschienene ZDF-Dokumentation von Marvin Entholt Dracula lebt! Das Vermächtnis des Grafen. ist ein Beispiel für eine besonders reißerische Darstellung des sich bis heute erhaltenen Volksglaubens. Gefilmt werden Graböffnungen und zu Wort kommen Menschen, die posthume Exekutionen vorgenommen haben. Der Südosteuropaforscher Peter Mario Kreuter bestätigt in einem Interview im Jahr 2012, dass es auch heute noch vereinzelt Graböffnungen gibt. Er verweist aber auch darauf, dass es häufiger symbolische Handlungen sind, die am Grab des Untoten vorgenommen werden und dass dies bereits als genügend empfunden wird. Vgl.: MAYSENHÖLDER 2012. [15.03.2015].
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Vgl.: LECOUTEUX 2008.
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vermeintliche Rückkehr aus dem Totenreich kann es unterschiedliche Gründe geben. Meistens wird diese jedoch mit Unheil und Tod in Verbindung gebracht, da die Seele des Verstorbenen keine Ruhe findet, dieser sich möglicherweise für ein erlittenes Unrecht rächen will oder schlichtweg seine Angehörigen zu sich in das Jenseits holen möchte. Hier wird bereits eine erste Abhängigkeit derartiger Mythen von den kulturellen Gegebenheiten deutlich, in denen sie entstehen. Die Vorstellung des Wiedergängers kann sich nur in Kulturkreisen etablieren, in denen normalerweise Erdbestattungen vorgenommen werden, denn der Tote muss sich seines Körpers bemächtigen können. Damit im Zusammenhang stehen auch die Überzeugungen, man könne dem Treiben eines Vampirs dadurch ein Ende bereiten, indem man seinen Körper durch Verbrennung, durch Abschlagen des Kopfes oder durch das Pfählen mit einem Holzpflock zerstört.6 Vorstellungen von Wiedergängern innerhalb des Volksglaubens lassen sich noch differenzieren, womit die Grundlage für die mediale Adaption weiter konkretisiert werden kann. Viele Untote versehren die Lebenden, auf die sie es abgesehen haben, nicht direkt, z.B. durch das Aussaugen von Blut. In zahlreichen abergläubischen Vorstellungen sind es eher Formen eines unsichtbaren Energieentzugs, der den Untoten zugeschrieben wird. Eine lange Zeit weit verbreitete Form war beispielsweise der Aufhocker, der lebenden Personen auf den Rücken springt und von diesen getragen werden muss. Der Träger wird immer schwächer, verliert nach und nach seine Lebenskraft, bricht schließlich zusammen und stirbt.7 Dabei kann der Wiedergänger in dieser speziellen Form neben seiner eigenen körperlichen Gestalt auch die eines Tieres annehmen.8 Eine ebenso verbreitete Form ist der Neuntöter. In diesem Fall kehrt der Tote zurück und holt in kürzerer Zeit neun Lebende, meistens Angehörige, zu sich ins Totenreich. Weitere damit verwandte Formen sind z.B. der Rufer, der Klopfer oder der Würger. Letzterer ist am ehesten vergleichbar mit dem Aufhocker, da er den Lebenden Energie entzieht, indem er sie würgt.9 Beim Klopfer und Rufer wird der Tod der Lebenden lediglich dadurch ausgelöst, dass der Verstorbene an ihre
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Vgl.: LECOUTEUX 2008: 74-101.
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Vgl.: LECOUTEUX 2008: 90.
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Vgl.: LECOUTEUX 2008: 100-101.
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Vgl.: LECOUTEUX 2008: 92-94.
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Tür klopft bzw. sie bei ihrem Namen ruft.10 Auch wenn die Untoten in diesen Fällen nicht für alle sichtbar sind, dann sind sie es jedoch meistens für die Betroffenen und in jedem Fall sind die Handlungen, die sie vollführen, körperlich spürbar (Atemnot, Schwäche). Während die eben genannten Typen der Wiedergänger mit dem Gedanken verknüpft sind, dass der Tote in diesem Fall sein Grab verlässt und lebende Personen aufsucht, gibt es beim Typ des Nachzehrers jedoch ebenso die Vorstellung, dass lebenden Personen mittels telepathischer Fähigkeiten die Lebensenergie entzogen wird. Der Nachzehrer ist demzufolge eine Art passiver Vampir, der in seinem Grab verweilt, aus Hunger sein Leichentuch verzehrt und mittels Energieübertragung durch diese Handlung die Energie Lebender stark schwächt, bis diese selbst sterben.11 Kultur- und mentalitätsgeschichtlich geben derartige Auffassungen vielfältige Auskünfte. Sie sind ein Erklärungsmodell für ansonsten nur schwer fassbare Vorgänge. So kann zum Beispiel beobachtet werden, dass Berichte über Erscheinungen von Untoten besonders dann verstärkt auftreten, wenn es in einem Ort eine hohe Zahl von Todesfällen innerhalb kürzerer Zeit gab, z.B. durch Krankheiten und Seuchen. Im Stummfilm Nosferatu von 1922 wird dies aufgegriffen, denn das Schiff Empusa, mit dem Graf Orlock von Transsilvanien nach Wisborg reist, kommt ohne seine Besatzung im Hafen an. Im Logbuch des Kapitäns wird von einer mysteriösen Krankheit berichtet, die sich nach und nach auf die gesamte Schiffsmannschaft ausgebreitet hat.12 Unterstützt wurden derartige Vermutungen zudem noch durch das, was man bei posthumen Graböffnungen vorgefunden hat. Es erschien äußerst verdächtig, wenn die Toten kaum Verwesungsspuren aufwiesen, wohl genährt erschienen und wenn es zudem noch so schien, als ob Zähne, Haare und Fingernägel weitergewachsen wären. Die Vermutung, man habe es mit einem Nachzehrer zu tun, schien sich auch dadurch zu bestätigen, dass Kau- und Schmatzgeräusche aus dem Grab zu hören waren. Es handelt sich hierbei durchaus um richtige Beobachtungen und allein schon die Überprüfung bestimmter Annahmen durch die Graböffnung sowie die Untersuchung des Leichnams zeugt zumindest von einer durchaus
10 Vgl.: LECOUTEUX 2008: 74-79. 11 Vgl.: LECOUTEUX 2008: 95-100. 12 Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens 1922.
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skeptischen Grundhaltung und der Suche nach wissenschaftlicher Erklärung. Aufgrund mangelnder Kenntnisse über Verwesungsvorgänge wurden dann derartige Ergebnisse letztlich doch in einen spekulativen Gesamtzusammenhang eingeordnet. Jedoch gibt es auch schon frühe Bemühungen einer wissenschaftlichen Erklärung derartiger Phänomene. Der Theologe Michael Ranft veröffentlicht 1728 sein berühmtes Tractat von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern.13 Zwar verwirft er nicht von vornherein den VampirGlauben als Aberglauben, sondern er stellt dennoch Überlegungen an, dass verlangsamte Verwesungsprozesse etwas mit chemischen Prozessen oder der Beschaffenheit des Bodens zu tun haben können und dass die vermeintlichen Kau- und Schmatzgeräusche, die aus den Gräbern zu hören sind, durch Tiereinflüsse entstehen. Plötzlich und massenhaft auftretende Sterbefälle seien durch Krankheiten und Seuchen zu erklären.14 Mittlerweile sind diese Phänomene forensisch erforscht und lassen sich ausnahmslos erklären. Die Beobachtung des Zusammenhangs zwischen unverwesten Leichen und massenhaft auftretenden Krankheitsfällen ist nicht falsch. Ein Interview mit Peter Mario Kreuter in der Welt von 200815 verweist darauf, dass Wissenschaftler in Kiel das Phänomen der so genannten Wachsleichen untersuchen. In besonders festen und nassen Böden kann es vorkommen, dass die Särge luftdicht abgeschlossen sind. Ohne Sauerstoff setzt der Verwesungsprozess der Leiche nicht ein. Die Folge ist, dass die Hautfette der Leiche verhärten und den Körper mit einer wachsartigen Schutzschicht überziehen. Derartige Leichen können theoretisch jahrhundertelang unversehrt bleiben. Ein Problem stellen die Wachsleichen dar, da die Bakterien des Toten und oft auch Medikamentenrückstände Böden und Grundwasser stark belasten.16 Der Anblick einer Wachsleiche kann durchaus den Eindruck erwecken, dass hier nicht nur eine fehlende Verwesung vorliegt, sondern dass der Leichnam sogar verjüngt ist. Zudem vermehren sich nach Eintritt des Todes die Bakterien und verändern die chemische Struktur und Farbe des Blutes, wodurch eine Veränderung der Gesichtsfarbe entstehen kann. Beim Wach-
13 RANFT 1734. 14 RANFT 1734. 15 Wenn Leichen einfach nicht verwesen 2009. [29.04.2015] 16 Wenn Leichen einfach nicht verwesen 2009. [29.04.2015]
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sen der Bakterien werden zudem Gase freigesetzt die den Körper aufblähen und wohlgenährt erscheinen lassen. Indem die Gase einen derartig hohen Druck aufbauen, dass sie auch wieder aus dem Körper entweichen müssen, entsteht eine hörbare Verflüchtigung dieser Substanzen. Zähne und Fingernägel erscheinen schlichtweg deshalb länger, weil sich die Haut, die diese umgibt zurückzieht. Haare scheinen gewachsen zu sein, weil die starr gewordenen Muskeln diese aufrichten. Die Leichenstarre, die kurz nach dem Tod eintritt, verschwindet nach einigen Tagen wieder. Indem der Körper in sich zusammenfällt entstehen sichtbare Bewegungen, die auch hörbar sein können.17 Letztlich verdeutlichen diese Vorstellungen von Untoten auch den Umgang mit dem Fremden und Verbannten innerhalb einer Gemeinschaft. Denn zu Vampiren wurden der Vorstellung nach vor allem jene, die einen vorzeitigen Tod starben. Bei einem natürlichen Tod hat nach der Volksauffassung ein nach christlichen Geboten lebender Mensch nichts zu befürchten. Das Heilsversprechen erfüllt sich, die Seele kann den Körper vollständig verlassen und wird in das Himmelreich überführt. Stirbt man aber vor der Zeit, beispielsweise durch Mord, Suizid oder Exekution, bleibt die Seele ruhelos. Sie ist dann nach christlicher Vorstellung weder im Himmel oder in der Hölle, noch hat sie vollständigen Anteil am diesseitigen Leben. Vor allem der Tod durch Selbsttötung oder Hinrichtung verweist darauf, möglicherweise im Leben christliche Regeln missachtet zu haben. So wurden z.B. Menschen, die auf derartige Weise ums Leben gekommen sind, außerhalb des Gemeinschaftsfriedhofs auf dem freien Feld begraben. Es überrascht nicht, dass es genau diese Gräber waren, in denen man Untote vermutete.18 Ab 1730 beginnen herrschende Obrigkeiten die zahlreichen Graböffnungen kritisch zu beäugen. In Österreich-Ungarn gibt es einen Erlass durch Maria Theresia, in dem das ausdrückliche Verbot posthumer Exekutionen festgeschrieben wird. Dies bildet die Grundlage für die zukünftige juristische Verfolgung von Grabschändungen.19
17 BENECKE 2010. 18 Vgl.: LECOUTEUX 2008: 40-74. 19 HAMBERGER 1992:85f.
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IN
L ITERATUR
UND
F ILM
Der folgende Überblick soll die wichtigsten Adaptionen des VampirMotivs in Literatur und Film zusammentragen. Es geht dabei nicht um eine erneute Interpretation, sondern lediglich darum, in Erinnerung zu rufen, welche Verarbeitungen des Mythos vor allem populär geworden sind. Dass dies in dem hier vorgegebenen Rahmen nicht auf Vollständigkeit beruhen kann, versteht sich von selbst. Ich beschränke mich daher auf die Beispiele, die mir besonders prägend erscheinen und die wichtig sind, um im letzten Kapitel Vampirismus als subkulturelle Strömung begreifen zu können. Die populärste und eingängigste literarische Darstellung des Mythos wurde 1897 durch Bram Stoker20 geleistet, auch wenn dies nicht die erste beachtenswerte Verarbeitung ist. 1819 erscheint die Erzählung The Vampyre von John William Polidori, einem Freund, Reisebegleiter und Arzt von Lord Byron. Zunächst wird die Erzählung unter Byrons Namen publiziert und erst später wird bekannt, dass der Stoff aus der Feder von Polidori stammt. Als Lord Ruthven tritt der Vampir hier als düsterer, blasser aber eleganter Edelmann mit guten Manieren auf – ein Bild, dass für die spätere Literatur und den Film prägend sein wird.21 Gut ein halbes Jahrhundert später erscheint die Novelle Carmilla von Sheridan le Fanu. Es geht dabei um die Begegnung einer jungen Frau mit einem weiblichen Vampir, wobei die Erzählung durchaus homoerotische Züge trägt. Wegweisend ist die Novelle aber vor allem deshalb, da hier Versatzstücke aus der bis dahin bekannten wissenschaftlichen Vampirliteratur und aus amtlichen Berichten von Militärärzten aufgegriffen werden. Ebenso tritt hier schon die Figur des forschenden Vampirfachmanns auf, der ebenso von Stoker als van Helsing eingesetzt wird und der in der Folge der medialen Verarbeitung des Mythos nicht wegzudenken ist.22 Diese beiden literarischen Vorbilder werden schließlich bei Stoker weiterentwickelt. Der Roman ist als Genremix konstruiert. Er ist zugleich Abenteuer-, Liebes-, Reise- und Schauerroman. Erzähltechnisch besteht er aus unterschiedlichen Versatzstücken, wie z.B. Tagebucheinträgen, Zeitungsberichten und Mitschriften von Phonographenaufnahmen. Damit
20 STOKER 2011 [1897]. 21 POLIDORI 1819. 22 LE FANU 1872.
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greift Stoker in fiktiver Form das auf, was außerfiktional bei der Dokumentation von Vampirerscheinungen ebenso als Quellenmaterial gesichert wurde.23 Filmisch aufgegriffen wurde der Stoker-Stoff 1922 im Stummfilm Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens von Friedrich Wilhelm Murnau.24 Zwar weicht Murnau teilweise von den Inhalten Stokers ab, in den Grundzügen bleibt die Handlung und Motivik jedoch erhalten. Das Remake als Tonfilm von 1979 mit Klaus Kinski in der Hauptrolle verändert lediglich die charakterliche Disposition der Vampire, doch darauf wird noch näher eingegangen.25 Nicht näher benannt denke ich die zahlreichen Verfilmungen des Mythos mit Christopher Lee v.a. in den 70er Jahren mit, die alle weitestgehend das gleiche Prinzip verfolgen und den Typus aus Stokers Roman übernehmen. Weiterhin als prägend sehe ich den 1976 erschienenen Roman Interview mit einem Vampir von Anne Rice an, welcher 1994 unter Miteinbeziehung der Autorin verfilmt wurde und einen erneuten VampirBoom ausgelöst hat.26 Die eben genannten Umsetzungen des medialen Vampir-Stereotyps zeichnen sich alle dadurch aus, dass sie aus ihren Gräbern auferstehen, um den Lebenden das Blut auszusaugen. Sie unterscheiden sich lediglich in Details. Bram Stokers Vampir verträgt im Gegensatz zu den anderen Tageslicht, die Vampire in Interview mit einem Vampir sind resistent gegen Knoblauch und beispielsweise Lestat kann nicht ohne weiteres getötet werden. Auch als er verbrennt und von Louis und Claudia im Sumpf versenkt wird, taucht er später wieder auf. Noch markanter sind die Unterschiede hinsichtlich der psychischen Disposition der Vampire. Während Stokers Vampir im viktorianischen England des ausgehenden 19. Jahrhunderts als Verkörperung des Bösen und der entfesselten Erotik einen Einbruch in die geordnete Welt darstellt, ist in der Verfilmung des Nosferatu von Murnau die expressionistische Handschrift des Filmemachers nicht von der Hand zu weisen. Die seltsam gekleidete androgyne Gestalt, die gleichermaßen hässlich und faszinierend ist, ist wohl neben dem Gentleman in Anzug und
23 Vgl.: STOKER 2011 [1897]. - Vgl.: STEINHAUER: 2011: 64-67. 24 Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens 1922 25 Nosferatu. Phantom der Nacht 1979. 26 RICE 1976. - Verfilmung: Interview with the Vampire 1994. - Eine gute Übersicht über filmische Adaptionen gibt: KÖPPL 1998.
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Umhang die bekannteste Verbildlichung des Vampirs. Kinski schlägt dann als Vampir deutlich melancholische Töne an. Er ist nicht nur Verkörperung des Bösen, sondern regt auch zur Empfindung von Mitleid an, da er an seinem Dasein leidet und daran, dass er einsam ein abgeschiedenes Leben außerhalb der Gesellschaft führen muss.27 Der melancholische Ton verstärkt sich beim Protagonisten Louis in Interview mit einem Vampir. Und hier kommen ebenfalls moralische Bedenken dazu. Louis wird in einem Moment größter Verzweiflung von Lestat vor die Wahl gestellt ein Vampir zu werden. Er entscheidet sich dafür und nach dem anfänglichen Gefühl des Neugeborenseins wird er seines Lebens als Unsterblicher überdrüssig und leidet ebenso wie Nosferatu. Sein Leiden manifestiert sich in der Sehnsucht nach dem Sonnenlicht, das er im Lauf der Zeit lediglich im Kino zu sehen bekommt. Gezeigt wird ausgerechnet die Szene, in der Nosferatu durch das Sonnenlicht umkommt. Louis hat moralische Bedenken seinen Opfern gegenüber und will niemandem antun, was er erleben musste. Nur widerwillig und aus Schuldgefühlen geht er beispielsweise auf die Bitte von Claudia, dem Mächen, das er im Kindesalter zum Vampir gemacht hat ein, ihr eine Gefährtin zu geben. Ein Beispiel für eine aktuelle Adaption der Motivik ist True Blood.28 Dabei handelt es sich um eine Fernsehserie, die auf der Buchreihe Sookie Stackhouse der Autorin Charlaine Harris basiert. Sie wird erstmals 2008 in den USA ausgestrahlt und ist ab 2009 auch im deutschen Fernsehen zu sehen. Benannt ist die Buchreihe nach der Protagonistin, einer Kellnerin in einem kleinen Ort in den Südstaaten der USA, die telepathische Fähigkeiten hat. Sie geht eine Liebesbeziehung mit dem im gleichen Ort ansässigen Vampir Bill Compton ein. Anders als in bisher aufgeführten Romanen und Filmen besteht jedoch seitens Bill Comptons kein Interesse, Sookie ebenfalls zum Vampir zu machen. Handlungsgrundlage für die Serie und die friedliche Koexistenz ist ein von Japanern entwickeltes synthetisches Blut, das die Vampire konsumieren und das es ihnen ermöglicht in Gemeinschaft mit den Menschen zusammenzuleben, ohne dass diese ihnen als Nahrungsgrundlage dienen müssen. Dadurch können sie sich in die Gesellschaft der Lebenden integrieren und müssen kein Dasein als Ausgestoßene führen. Dennoch gibt es im Verlauf der Serie von einzelnen Personen oder Anhän-
27 BORRMANN 1998: 218-254. 28 True Blood 2008-2014.
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gern christlicher religiöser Gruppen immer wieder Vorbehalte gegenüber den Vampiren. Nicht zuletzt auch dadurch, weil einige Mitglieder der Vampir-Gesellschaft sozusagen zum ‚alten Weg‘ zurückkehren und sich wieder von Menschen nähren wollen. Die Vampire sind die einzigen, die immun sind gegen Sookies Fähigkeit, Gedanken lesen zu können. Durch ihre Beziehung zu Bill Compton erhält Sookie dennoch einen umfangreichen Einblick in die Gesellschaft der Vampire. Neben dem moralischen Aspekt, sich nicht von Menschen ernähren zu wollen, weisen die Vampire in True Blood jedoch hauptsächlich Varianten des klassischen Mythos auf: Getötet werden können Sie durch Sonnenlicht oder das Pfählen, telepathische und hypnotische Fähigkeiten, können fliegen und sich besonders schnell bewegen. Ebenso wie bei Stoker können sie menschliche Behausungen nur betreten, wenn sie vom Besitzer dazu eingeladen werden. Trinken Mensch und Vampir Blut voneinander sind sie mental verbunden und können teilhaben an der Gefühlswelt des jeweils anderen. Ein interessantes Spiel mit dem Motiv des Blutes ist, dass hier nicht nur das Menschenblut den Vampiren zur Nahrung dienen kann, sondern dass umgekehrt auch das Vampirblut bei den Menschen äußerst begehrt ist. Es wirkt wie eine Droge, ruft ekstatische Zustände hervor und kann abhängig machen. Darüber hinaus ist es ein Wundheilmittel, das binnen Sekunden wirkt und darüber hinaus auch dafür eingesetzt wird, die eigene Potenz und Attraktivität zu steigern. Es wirkt gewissermaßen als Droge und als Medizin gleichermaßen. Auch wenn moralische Bedenken hinsichtlich des Bluttrinkens eine große Rolle spielen, wird der Vampir bei True Blood dennoch hauptsächlich als ein sexualisiertes Wesen dargestellt. Allerdings wird hier weniger die subtile Verführung durch den Gentleman-Vampir zum Thema gemacht, wie er z.B. bei Stoker dargestellt wird, sondern in vielen Szenen der Serie geht es oft ohne Umschweife drastisch zur Sache. Ganz anders wird diese Situation bei Twilight29 inszeniert und es kann die Frage in den Raum gestellt werden, was Edward Cullen und die anderen Untoten eigentlich noch zu Vampiren macht? Nicht nur schadet ihm das Sonnenlicht nicht, seine Haut funkelt magisch anziehend. Auch Holzpflö-
29 MEYER 2005 - 2008.- Twilight 2008; The Twilight Saga: New Moon 2009; The Twilight Saga: Eclipse 2010; The Twilight Saga: Beaking Dawn. Part 1 and 2 2011-2012.
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cke und Feuer helfen hier nicht, solange der Körper des Vampirs in einem Stück verbleibt. In Twilight muss der Vampir zerstückelt und verbrannt werden. Sind die Einzelteile ansonsten unversehrt, kann der Vampir auch wieder zusammengesetzt werden, so mehrfach vorkommend in Biss zum ersten Sonnenstrahl (einem Spinn-off-Roman zur Buchreihe, der 2010 erschienen ist).30 Ihren Blutdurst haben die Cullens unter Kontrolle. Sie verzichten auf den menschlichen Lebenssaft und ernähren sich ausschließlich von Tierblut. Neben den eben benannten Triebverzichten ist der Vampir hier auch ein völlig entsexualisiertes Wesen. Obwohl Bella den Wunsch hat zum Vampir zu werden und der Blutdurst bei Edward dennoch latent vorhanden ist, weigert er sich zunächst sie zum Vampir zu machen. Auch der Sex wird, wohlgemerkt von Edward, nicht von Bella, in die Ehe verlagert. Bella scheint von dem Gedanken einer Hochzeit nicht besonders angetan zu sein. Sie sucht lediglich nach einem Weg, um für immer mit Edward verbunden zu sein. Edward, der 1918 zur Zeit der Spanischen Grippe zum Vampir gemacht wurde, vertritt hierbei eher altmodische Ansichten. Im 3. Teil der Film-Saga beklagt er sich bei Bella darüber, dass die modernen Zeiten derartig kompliziert sind und lamentiert über die Sittlichkeit und Moral aus seiner Lebenszeit. Er hätte Bella unter Anwesenheit einer Anstandsdame ausgeführt, vorher ihren Vater um Erlaubnis gefragt und sich höchstens ein, zwei Küsse gestohlen. Die Kontrolle des Blutdurstes kann bei Twilight insofern gleichgesetzt werden mit der Kontrolle des Geschlechtstriebs insgesamt. Hierbei ist der Verweis entscheidend, dass Stephenie Meyer, die Autorin der Buchreihe, Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ist, was nach eigener Aussage großen Einfluss auf ihr Leben und Schreiben hat. Die Anhänger dieser Glaubensgemeinschaft leben konsequent mormonisch. Die Lehre in Bezug auf den gelebten Glauben hebt sittliche Werte wie Treue, Tugendhaftigkeit und besonders auch Keuschheit hervor. Es besteht das Ideal einer Ehe als ewige Gemeinschaft, die den Tod überdauert und selbstverständlich bedeutet das auch, dass Sexualität komplett in die Ehe verlagert wird. Edward definiert sich als Figur hauptsächlich über die Exklusivität seiner Liebe zu Bella. Die Handlung hängt sich weniger an der Besonderheit auf, dass Edward ein Vampir ist, sondern mehr an der Tatsache der gefähr-
30 MEYER 2010.
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deten und in gewisser Weise verbotenen Liebe, die trotz aller Hindernisse aufgrund einer undurchtrennbaren Verbindung, die von Edward und Bella gesucht wird, bestehen bleibt. Es stellt sich die Frage, warum die Figur Edwards dann unbedingt als ein Vampir angelegt sein muss. Natürlich muss er anders als andere Menschen sein, sonst würde die Geschichte nicht funktionieren. Aber warum dann ausgerechnet ein Vampir, wenn vom Vampir eigentlich kaum noch definierende Eigenschaften übrig sind, außer Schönheit, blasser Haut, Unsterblichkeit und einem dermaßen stark domestizierten Blutdurst, dass man ihn fast schon nicht mehr als Kriterium anführen kann. Denkbar wäre auch einfach ein Superheld wie Spiderman, dem seine besonderen Fähigkeiten im Zusammenhang mit seiner Liebesbeziehung ebenfalls Probleme bereiten. Möglicherweise geht hierbei die Faszination davon aus, dass ein bestimmtes kulturelles Wissen über den Vampir, wie er in Literatur und Film bisher dargestellt wurde mitgetragen wird. Allein der Hinweis, dass es sich bei Edward um einen Vampir handelt genügt vielleicht, um eine gedankliche Assoziationskette auszulösen, die das Motiv dann doch wieder zurückbindet an das exotisch-erotische und gleichzeitig todbringende Wesen, mit dem der Mythos behaftet ist. Was die Vampire aus True Blood mit den Twilight-Vampiren verbindet ist die Affinität dazu, unter Menschen leben zu wollen, ohne ihnen zu schaden. Während die asketischen Vampire in Twilight jedoch in jeglicher Hinsicht abstinent sind, bleibt der Vampir in True Blood ein triebgesteuertes, ungezügeltes Wesen, das sich gegebenenfalls mit Ersatzblut verhilft. Gebissen wird weiterhin und auch die Faszination an der Verbindung von Sexualität und Tod bleibt erhalten. Demzufolge ist die True Blood-Buchreihe und -Serie zu lesen als eine Geschichte über Befreiung von Repression. Der Vampir bleibt, was er ist, aber dadurch, dass er eine Wahlmöglichkeit erhält, kann er den Weg in die Gesellschaft nehmen, ohne mit dem Makel des Ausgestoßenen, Bedrohlichen markiert zu sein.
G ELEBTER V AMPIRISMUS Im Sinne eines weitgefassten Begriffes gibt es innerhalb der Alltagskultur außerdem vielfältige Formen eines gelebten Vampirismus. Es gibt FashionVampire, Rollenspieler und Vampyre. Bei letzteren ist als erstes Unter-
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scheidungsmerkmal die Schreibweise mit ‚Y‘ auffällig. Und schließlich lässt sich Vampirismus auch klinisch erfassen als Krankheitsbild und als spezielle psychische Störung. Fashion-Vampire wollen lediglich ein äußeres Erscheinungsbild haben, das dem entspricht, was medial über das Äußere eines Vampirs vermittelt wird. Ein anachronistischer Kleidungsstil, entsprechendes Makeup und geschliffene oder aufgesetzte Eckzähne gehören in diesem Sinne zum Kleidungsbild. Teilnehmer von Live-Action- oder Pen-and-Paper Rollenspielen nehmen innerhalb eines vorgegebenen Settings Charaktereigenschaften der Figur, die sie verkörpern an und bekommen Punkte, wenn sie sich dementsprechend im Spiel verhalten. Vor allem bei Live-Rollenspiel-Sessions erfordert dies auch sich entsprechend zu kleiden und zu agieren. Vampyre grenzen sich stark davon ab. Bei ihnen handelt es sich um Angehörige einer subkulturellen Strömung, die es in Form von organisierter Gruppenbildung etwa seit den 80er Jahren gibt. Vampyre separieren sich insofern gesellschaftlich, als dass sie behaupten ein großes Verlangen danach zu haben menschliches Blut zu konsumieren. Um dieses Verlangen zu stillen, gibt es im näheren Umfeld der Vampyre Donoren (Spender). Dabei handelt es sich um Personen, die den Vampyren erlauben, ihr Blut zu sich zu nehmen. Dies geschieht - anders als bei literarischen und filmischen Vorlagen - in der Regel durch das Setzen einer Butterfly-Kanüle. Getrunken wird nur eine geringe Menge des Blutes. Alles andere wäre für den menschlichen Organismus auf beiden Seiten nur wenig verträglich.31 Beschrieben wird der Drang als unkontrollierbar und als etwas, was sehr viel stärker ist als ein bloßes Interesse. Zahlreiche Vampyre berichten von Entzugserscheinungen, die seelisch und körperlich spürbar sind, wenn sie dem Drang Blut zu trinken länger nicht nachkommen können. Berichtet wird dann in diesem Zusammenhang von körperlicher Schwäche, Nervosität, Unruhe, Zittern, Kreislaufproblemen etc.32 Weiterhin behaupten Vampyre bei sich eine stärkere Leistungsfähigkeit während der Nachtzeit beobachten zu können. Bei einigen geht dies so weit, dass sie jegliche Tätigkeit am Tag ablehnen. Im Extremfall berichten
31 Vgl. BENECKE 2009: 29-51. – Ders. 2005: 285-319. – Vgl: http://www.nexusnoctis.de/ [02.01.2015]. – http://www.vampir-club.de/lexikon/unterschiedvam pir.php [02.01.2015]. – R AMSLAND 1998. 32 Vgl. BENECKE 2010: 51-57.
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manche Vampyre von einer Lichtunverträglichkeit. Hierbei heißt es, Aktivität zur Tageszeit wäre stark Energie raubend und verursache körperliches Unwohlsein. Vor allem Sonnenlicht würde zur körperlicher Ermattung und Müdigkeit führen. Manche geben an, dass sich tatsächlich allergische Reaktionen auf der Haut einstellen, wenn sie die Haut der Sonne aussetzen.33 Ein einheitliches Bild der Subkultur lässt sich kaum festmachen und es existieren innerhalb dieser unterschiedliche Einstellungen zu den einzelnen Faktoren. Viele beschreiben das Bedürfnis nach Blutkonsum als starkes Verlangen oder Zwang, andere wieder sehen es als besonderes Ereignis an, das nicht unbedingt notwendig für das eigene Wohlbefinden gegeben sein muss, das aber trotzdem gern zelebriert wird, wenn es sich ergibt. Stark divergent sind in diesem Zusammenhang auch die Ansichten darüber, ob es sich beim Blutkonsum um einen sexuellen Akt handelt. So gibt es durchaus Personen, die eine erotische Zuneigung zu ihren Spendern spüren. Andere jedoch lehnen eine derartige Verbindung von Erotik und Blutkonsum kategorisch ab. Erstere berichten davon, dass oft auch schon die Vorstellung des pulsierenden Blutes unter der Haut dazu führt, dass sie sich sexuell zu jemandem hingezogen fühlen. Manche belassen es bei der Vorstellung, andere verspüren den Drang das Blut dann tatsächlich auch trinken zu wollen. Eine besondere Ausprägung innerhalb der Subkultur manifestiert sich bei denjenigen, die im übertragenen Sinne Vampirismus dahingehend praktizieren, dass sie lediglich die Energie von anderen Personen aufnehmen und für sich nutzen.34 Allen gemein ist das Gefühl der ‚normalen‘ Gesellschaft nicht anzugehören. Durch die Verlagerung des Tages- und Nachtrhythmus findet per se schon ein Rückzug aus dem sozialen Leben statt. Ebenso wird mit dem Trinken von Blut in sehr deutlicher Form ein gesellschaftliches Tabu gebrochen. Allein schon das Berühren fremder Haut stellt eine stark intime Handlung dar. Wird die Haut dann zusätzlich als Grenze noch durchbrochen und dem Körper das Blut als lebenserhaltendes Element entzogen, dann stellt dies als Akt noch einmal eine starke Steigerung dar. Die Vampyre organisieren sich demzufolge als eigene soziale Gruppe und in zahlreichen Städten gibt es Hangouts, wo sich Vampire und auch Spender treffen. Allen gemein ist außerdem, dass sie einer Art Ehrenkodex folgen, der mit
33 Vgl. BENECKE 2010: 128-132. 34 Vgl. BENECKE 2010: 50-51, 126-127. - BENECKE 2009: 29-49.
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safe, sane, consensual abgekürzt werden könnte. Das bedeutet, dass jeweilige Handlungen nur in Einverständnis mit den Spendern geschehen und dass außerdem darauf geachtet wird, gesundheitliche Vorschriften einzuhalten (seelisch und körperlich). Das Bluttrinken durch Beißen wird nicht nur abgelehnt, weil es besonders schmerzhaft wäre, sondern vor allem auch, weil die Blutentnahme durch die Kanüle hygienischer ist. All die eben genannten Phänomene könnte man auch klinisch erklären, was die Angehörigen der Subkultur jedoch größtenteils ablehnen. Zwar gibt es im ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme)35 keinen Eintrag, der das Zusammenspiel der Faktoren als eigenes Phänomen betrachtet, jedoch könnten die einzelnen Elemente festgelegten psychischen Störungsbildern zugeordnet werden (Neurosen, Depressionen, Persönlichkeitsstörungen). Als Begriff ist Vampirismus im DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) unter der Kategorie Paraphilie aufgeführt. Als Voraussetzung muss Folgendes erfüllt sein: „Über einen Zeitraum von mindestens sechs Monaten wiederkehrende intensive sexuell erregende Phantasien, sexuell dranghafte Bedürfnisse oder Verhaltensweisen, die sich auf Blut beziehen. Die Person hat auf diese sexuell dranghaften Phantasien oder Bedürfnisse mit einer nicht einwilligungsfähigen oder -willigen Person gehandelt, oder die Phantasien, sexuell dranghaften Bedürfnisse oder Verhaltensweisen verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.“36
Selbst die Vampyre, die im Bluttrinken einen sexuellen Akt sehen, würden durch die Befolgung des safe, sane, consensual-Kodexes nicht darunter fallen. Außerdem ist die Kategorisierung als Paraphilie bei vielen nicht zutreffend, da sie den Blutkonsum eben ausdrücklich nicht als sexuelle Handlung werten.37 Bei denjenigen, die von einem nicht kontrollierbaren Drang sprechen, Blut zu sich nehmen zu wollen und Entzugserscheinungen feststellen, wenn sie dem nicht nachkommen, würde am ehesten das Konzept einer Zwangs-
35 http://www.icd-code.de/icd/code/F00-F99.html [10.01.2015]. 36 FALKAI & WITTCHEN 2015. 37 Vgl.: BENECKE 2010: 50-51.
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handlung greifen. Das heißt, der Zwang an sich kann durchaus irrational sein, genauso wie es irrational ist 20-mal nachzusehen, ob der Herd ausgeschaltet ist, 100-mal täglich zu duschen, oder Panik vor Spinnen zu haben. Die körperlichen Begleitsymptome hingegen sind nicht eingebildet, sondern sind tatsächlich existent und beobachtbar. Das heißt: Kategorisiert man das Bluttrinken als Zwangshandlung, dann ist es durchaus plausibel, dass die aufgeführten Entzugserscheinungen eintreten.38 Zwangshandlungen stehen häufiger in Zusammenhang mit anderen psychischen Krankheitsbildern wie z.B. generalisierten Angststörungen oder Depressionen. Der Rückzug aus der Gesellschaft und das Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit, das in der Subkultur beschrieben wird, könnten eben einfach auf eines dieser Störungsbilder verweisen. So kann sich eine soziale Phobie manifestieren als Angst vor dem Tag, da hier die Wahrscheinlichkeit größer ist mit anderen Menschen in Kontakt zu treten als zur Nachtzeit. Depressive Menschen berichten, dass sie morgens eine regelrechte Panik haben, wenn sie aufstehen müssen und ihre alltägliche Arbeit verrichten sollen. Bei vielen äußert sich dies vor allem zu Beginn des Tages auch durch körperliche Symptome wie Kopfschmerzen, Kreislaufprobleme, Zittern, Magenschmerzen, Schweißausbrüche, extreme Müdigkeit und durch seelische Symptome wie Nervosität, Angst und Niedergeschlagenheit. Die Angst vor dem Tag und das Gefühl am Tag weniger gut zurechtzukommen als zur Nachtzeit kann schlichtweg auch auf die Angst verweisen sich den damit verbundenen Tätigkeiten und sozialen Begegnungen entziehen zu wollen.
F AZIT Auch wenn man Vampirismus in dieser Form als psychisches Störungsbild begreift, dann ist immerhin interessant, dass es international eine hohe Anzahl von Personen gibt, die das Zusammenspiel all dieser Faktoren bei sich beobachten, sodass es Bestrebungen gibt, dies als eigenständiges klinisches Phänomen anzusehen. Und es sind eben jene Faktoren, die für die literarische und filmische Verarbeitung des Vampir-Mythos bestimmend geworden sind: Der Rückzug aus der Gesellschaft, die Unverträglichkeit von Ta-
38 BENECKE 2009: 51-59. - RAMSLAND 2002: 101-128. - SCHOTT 2008: 35-51.
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geslicht, der Drang Blut zu trinken und dadurch einen Energiezuwachs zu erfahren. Auch der Aufbau eines feeding circles, in dem Vampyre freiwillige Spender finden, erinnert an Filme wie Blade39 oder an die Serie True Blood. Allerdings ist hierbei anzumerken, dass durchaus auch die Möglichkeit besteht, dass der Einsatz dieses filmischen Motivs umgekehrt von der Vampyr-Subkultur beeinflusst worden ist. Denn zur Entstehungszeit beider Filme ist die Gruppenbildung innerhalb der Subkultur bereits seit einigen Jahren existent. Selbst die Vampyre, die kein Blut konsumieren, sondern angeben, anderen Menschen lediglich Energie zu entziehen, erinnern an die Motive des Aufhockers oder des Nachzehrers. Viele Vampyre behaupten außerdem einen hohen IQ zu besitzen, der von der Außenwelt ebenso wahrgenommen wird, wie die ihnen eigene Andersartigkeit. Damit verbunden ist quasi eine Art Übermensch-Mythos, der sich auch bei den Protagonisten der hier vorgestellten Filme und Romane zeigt. Ob man es als psychische Besonderheit oder als psychische Störung abhandelt, mag dahingestellt sein, aber interessant ist, dass es sich dabei um einen gefühlten und gelebten Zustand handelt, der hauptsächlich medial vermittelt ist. Erst dadurch kann die Zusammengehörigkeit der Faktoren überhaupt wahrgenommen werden.
L ITERATUR BEGEMANN, Christian, Britta Herrmann und Harald Neumeyer: Dracula Unbound. Kulturwissenschaftliche Lektüren des Vampirs. Berlin, Wien 2008. BENECKE, Mark: Vampire unter uns! Band 1. Rudolstadt 2009. BENECKE, Mark: Vampire unter uns! Band 2. Remda-Teichel 2010. BERTSCHIK, Julia und Christa Agnes Tuczay (Hg.): Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Tübingen 2005. BORRMANN, Norbert: Vampirismus oder die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Kreuzlingen, München 1998. FALKAI, Peter und Hans-Ulrich WITTICH: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5. Göttingen 2015.
39 Blade 1998.
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HAMBERGER, Klaus: Mortus non mordet. Dokumente zum Vampirismus. 1689-1791. Wien 1992 KÖPPL, Rainer M.: 100 Jahre Dracula. Wien, Köln, Weimar 1998. LECOUTEUX, Claude: Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos. Düsseldorf 2008. LE FANU, Joseph Sheridan: Carmilla. A Critical Edition. New York 2013. MEYER, Stephenie: Twilight. New York 2005. DIES.: New Moon. New York 2006. DIES.: Eclipse. New York 2007. DIES.: Breaking Dawn. New York 2008. DIES.: The short second life of Bree Tanner. New York 2010. RAMSLAND, Katherine: Piercing the Darkness. New York 1998. RAMSLAND, Katherine: The Science of Vampires. New York 2002. RANFT, Michael: Tractat von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern, Worin die wahre Beschaffenheit derer Hungarischen Vampyrs und Blut-Sauger gezeigt. Leipzig 1734. RICE, Anne: Interview with the vampire. New York 1976. STEINHAUER, Eric W.: Vampyrologie für Bibliothekare. Eine kulturwissenschaftliche Lektüre des Vampirs. Hagen-Berchum 2011. STOKER, Bram: Dracula. London 2011 [1897]. MAYSENHÖLDER, Fabian im Interview mit Peter Mario Kreuter. http://www.n-tv.de/wissen/Vampire-saugen-kein-Blutarticle5784581.html [10.01.2015]. Filme Blade. R: Stephen Norrington. USA 1998. Bram Stokerʼs Dracula. R: Francis Ford Coppola. USA 1992. Interview with the Vampire. R: Neil Jordan. USA 1994. Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens. R: Friedrich W. Murnau. D 1922. Nosferatu. Phantom der Nacht. R: Werner Herzog. Deutschland 1979. True Blood. R: Alan Ball u.a.. USA 2008-2014 (Serie). Twilight. R: Catherine Hardwicke. USA 2008. The Twilight Saga: New Moon. R: Chris Weitz. USA 2009. The Twilight Saga: Eclipse. R: David Slade. USA 2010. The Twilight Saga: Beaking Dawn. Part 1 and 2. R: Bill Condon. 2011 2012.
Artus Krieger – König – Kunstfigur W IEBKE O HLENDORF
The saga of King Arthur is a well known theme in popular culture. In literature, film, and modern media we can find divergent versions of the most important characters and stories. The paper follows a possible historical base and the medieval adaptations, then focuses on movies with an Arthurian core. The main thesis is that there is a similar but reverse structure in the development of both literature and film. All elements of form and content can be found in Thomas Malory’s Le Morte Darthur (1485) and John Boorman’s Excalibur (1981).
ANNÄHERUNG Die Sage um König Artus1 ist aus der Populärkultur nicht mehr wegzudenken. Spätestens mit der Entstehung einer Parodie2 oder einer Bearbeitung durch die Disney Company3 wird vom Rezipienten ein Grad an Bekanntheit
1
Alle Namen der Sage variieren, bedingt durch ihren texteigenen Zusammenhang. Für diese Untersuchung werden die Schreibungen des jeweils untersuchten Werkes verwendet. Eine Ausnahme bildet Artus, der durchgängig im literarischen Kontext mit der lateinischen (Artus), im filmischen mit der englischen Version (Arthur) bezeichnet wird, da diese vornehmlich im englischsprachigen Raum entstehen.
2
Die Ritter der Kokosnuss 1975.
3
Die Hexe und der Zauberer 1963.
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vorausgesetzt, der unverzichtbar ist, um die entsprechenden Filme in ihrer Wirkung zu erfassen. Die Geschichten und Mythen um den britischen König aber scheinen schon seit Jahrhunderten einen populärkulturellen Charakter zu haben. Das Interesse am Stoff bleibt über die Jahrhunderte der Überlieferung hinweg ungebrochen. So vielfältig die Figur des Artus’ dadurch wird, so weitläufig sind auch die Bearbeitungen des Stoffs. Diese Entwicklung von den Entstehungen bis zum multimedialen Phänomen ist bereits diverse Male nachgezeichnet worden, wobei besonders die Suche nach dem Ursprung und einer realen Figur von großer Faszination zu sein scheint.4 Für diesen Beitrag wird eine zielgerichtete Auswahl der Texte getroffen, die frühen Anlagen des populärkulturellen Charakters werden untersucht und dabei wird besonders die Struktur der Entwicklung nachvollzogen. Dazu ist ein Überblick über die Figur des Artus’ im Wandel von ca. 1200 Jahren notwendig, der aber einige Versionen außen vor lässt. Die literarische Rezeption ab dem 15. Jh. trägt inhaltlich und strukturell nur bedingt etwas zur Fragestellung bei. Den Beginn macht eine Spurensuche nach dem Ursprung der Mythenbildung um König Artus, um dann in einem zweiten Schritt thematische und formelle Parallelen dazu in der Rezeption durch den Film aufzuzeigen. Die visuelle Präsenz von Film und Fernsehen prägt mit großer Sicherheit die Vorstellungen, mit denen ein jeder die Figur König Artus individuell verbindet. Als Kind hat man vielleicht die DisneyVersion gesehen, oder es ist die Verkörperung durch Sean Connery eingängig, der ihn als weisen und gütigen Herrscher interpretiert, der der Leidtragende in der verhängnisvollen Dreiecksbeziehung mit Guinevere und Lanzelot ist.5 Dem einen oder anderen wird die farbenfrohe, saubere Hollywoodverfilmung der 50er Jahre durch Richard Thorpe6 oder als Kontrast dazu King Arthur7 bekannt sein; eine um visuelle Authentizität bemühte und darum ungleich düsterere und im wahrsten Sinne des Wortes morastiger gestaltete Version. Der inhaltliche Fokus der Verfilmungen liegt je auf anderen Schwerpunkten, die aber alle in der Sage und der Figur angelegt
4
Zur Genese der Figur und des Stoffs mit unterschiedlichen Schwerpunkten vgl. u.a.: CASTLEDEN 2000, LITTLETON & MALCOR 2000, HIGHAM 2002, WOLF 2009.
5
Der erste Ritter (zitiert als DeR) 1995.
6
Die Ritter der Tafelrunde (zitiert als DRdT) 1953.
7
King Arthur (zitiert als KA) 2004.
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sind, weshalb der Blick auf den historischen Ursprung nicht zu vermeiden und sogar lohnenswert für die Analyse der modernen Rezeption ist.
S PURENSUCHE : D ER ‚ HISTORISCHE ‘ ARTUS Der Blick auf eine mögliche reale Quelle hinter der Figur des Artus’ ergibt unterschiedliche Hinweise, ohne jedoch eine einzelne Person allein zu isolieren. Die Suche geht zurück bis in das von den Römern besetzte Britannien, also in die Zeit von 43 bis 440 n. Chr., und überschreitet zwangsläufig die Grenzen von Geschichtsschreibung und Fiktion. Von den Ereignissen dieser Zeit berichtet unter anderem die Historia Brittonum.8 Sie wird dem keltischen Mönch Nennius zugeschrieben und auf ca. 830 n. Chr. datiert.9 Der Prolog gibt die Vorgabe, dass der Text eine Sammlung verschiedener Quellen ist, die in Latein zusammengefasst werden. Nennius zählt die Ursprünge auf, die er in den Annalen der Römer, den Chroniken der heiligen Väter, den Annalen der Schotten und Sachsen und den alten Bräuchen seiner eigenen Kultur findet.10 Die Historia listet u.a. ausführliche Genealogien auf, um die Herkunft und Legitimation der britischen Herrschaft zu klären, die demzufolge von Brutus und damit von Aeneas abstammen.11 Über den Umweg der römischen Könige können die Briten sich auf göttliche und royale trojanische Werte berufen, weil ihre familiären Verbindungen in direkter Linie über Aeneas zu Aphrodite reichen. Der Nachfahre Brutus ist der Erste, der die britischen Inseln ansteuert und schließlich auch mit seinen Gefolgsleuten bevölkert. Die Historia erklärt mit diesem Gründungsmythos die Namensgebung der ‚Briten‘ und gibt dafür noch eine weitere Deutungsmöglichkeit. Diese entstammt biblischen Traditionen und geht auf die drei Söhne Noahs zurück, die nach der Sintflut die Welt neu mit Leben füllen. Jafet ist für Europa zuständig und von ihm stammt wiederum ein Brutus als Namensgeber ab.12 Wie der Ursprung auch nun erklärbar
8
NENNIUS 2012.
9
KLAWES 2012: 7.
10 Vgl. NENNIUS 2012: 13. 11 Vgl. NENNIUS 2012: II.10. 12 Vgl. NENNIUS 2012: II.17-18.
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ist, die Berufung auf Autoritäten stützt die eigene Argumentation und macht sie für kritische Frager unumstößlich. Die eigentliche Autoritätsfigur dieser Untersuchung aber ist noch nicht in das Geschehen eingebunden, weshalb sich die Frage stellt, warum diese Informationen überhaupt für die Auseinandersetzung mit Artus wichtig sind. Zum einen zeigen sie, dass schon zu diesem frühen Zeitpunkt der Mythenbildung eine Streuung von Quellen und Informationen einsetzt, die charakteristisch für die weitere Entwicklung werden und bleiben wird. Zum anderen wird in der Historia ein Mann namens Artus erwähnt. Um diese Erwähnung einzuordnen, ist es wichtig, den vom Text aufgespannten geschichtlichen Rahmen zu betrachten. Mit der Besiedlung der Inseln gehen Konflikte einher und die Nachfahren des Brutus’ müssen sich gegen die Invasion der Schotten aus dem Westen und der Pikten aus dem Norden behaupten. Schließlich kommen Mitte des 4. Jh. noch die Einfälle der Sachsen hinzu. Die Verteidigung funktioniert mit römischer, militärischer Unterstützung und mit der Hilfe der steinernen Grenzen des Hadrians- und Antoniuswalls. Als die Sachsenkönige Horsa und Hengist auf den Inseln landen, werden sie vom dort herrschenden Vortigern freundlich empfangen, der ihnen zudem mit Kent eine der fruchtbarsten Regionen überlässt.13 Mit Vortigern zeichnet Nennius eine recht unglücklich agierende und schwache Figur. Er beschreibt ihn als einen „trägen König“14, der die Interessen seines Landes nicht konsequent vertritt. Die anschließend beginnende Auflehnung gegen die Sachsenherrschaft zieht Friedensverhandlungen nach sich. Diese werden aber blutig beendet, indem die unbewaffneten Briten regelrecht abgeschlachtet werden.15 In den darauf folgenden zwölf Schlachten, die inzwischen schon in der folgenden Generation ausgetragen werden, wird endlich ein Mann namens Artus16 als ein Gegner Octhas erwähnt, dem Sohn Hengists und nun Anführer der Sachsen: „In jenen Tagen kämpfte Arthur gegen sie mit den Königen der Brittonen; er selbst war der Anführer
13 Vgl. NENNIUS 2012: II, 36. 14 NENNIUS 2012: II, 37. 15 NENNIUS 2012: II, 46. 16 WOLF weist darauf hin, dass es im schwer zu datierenden, altkymrischen Y Gododdin bereits einen ‚Artus‘ gibt, der aber nur als „Vergleichsfolie für die Besten“ (WOLF 2009: 19) genutzt wird und nicht am Geschehen teilnimmt.
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der Krieger.“17 Der dux bellorum, ist an allen Schlachten beteiligt und zeichnet sich als robuster und erfolgreicher Krieger aus. So trägt „Arthur das Bild der heiligen Maria, der ewigen Jungfrau, auf seinen Schultern“, was dazu führt, dass „die Heiden […] an jenem Tag in die Flucht geschlagen“ werden, die als „ein großes Blutbad“ endet.18 Weil sie in der späteren Entwicklung der Artussage noch eine Rolle spielen wird, sei auch auf die letzte Auseinandersetzung hingewiesen. Es ist „der zwölfte Krieg […] auf dem Berg Badonis, in dem an einem Tag 960 Männer bei einem Angriff Arthurs“19 getötet werden. Diese und die vorangehenden Schlachten zeichnen Artus als Krieger und Anführer aus, der zudem die Kämpfe lebend übersteht. Die eigentliche Textstelle, die über seine Taten berichtet, ist verhältnismäßig kurz angesichts der Relevanz für die Untersuchung. Es lässt sich an ihr erkennen, dass das Wissen über die Figur beim zeitgenössischen Rezipienten offenbar vorauszusetzen ist. Artus erhält keine große Einführung, sondern wird wie ein selbstverständlicher Bestandteil der Ereignisse genannt. Man kann also davon ausgehen, dass die Anlage der Figur oder die Handlungen selbst schon älter sind. Da die Historia auf ca. 830 n. Chr. datiert ist und sich die arthurischen Ereignisse, die sie schildert, in der Mitte des 5. Jahrhunderts ereignet haben sollen, bleibt eine Überlieferungslücke von vier Jahrhunderten. In dieser Zeit kann sich am Inhalt der Geschichte viel verändern. Chronologisch als die erste antike Quelle ist Gildas’ De Excidio Britonnium zu nennen, deren Verschriftlichungszeit der tatsächlichen Handlungszeit am nächsten kommt.20 Allerdings wird hier der Name ‚Artus‘ nicht genannt. Seine basalen Eigenschaften und die Ereignisse um das Schlachtendutzend finden sich aber in einer anderen Person und deren Umfeld wieder: Ambrosius Aurelianus. Ähnliches ist in der Historia ecclesiastica gentis Anglorum des Beda Venerabilis (8. Jh.) zu beobachten, der „streckenweise […] wortgetreu die Aufzeichnungen von Gildas“21 abschreibt. Es würde also naheliegen, eine
17 NENNIUS 2012: II, 56. 18 NENNIUS 2012: II, 56. 19 NENNIUS 2012: II, 56. 20 Gildas wird als „Augenzeuge“ (z.B. WOLF 2009: 18) benannt. Die Annales Cambriae geben sein Todesjahr mit 570 an. Vgl. NENNIUS 1980: 45. 21 WOLF 2009: 19.
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übereinstimmende Identität mit oder zumindest ein Vorbild für Artus darin zu sehen. Neben Nennius’ Geschichtsschreibung sind die Annales Cambriae ein wichtiger Beleg für das Auftreten Artus’. Sie berichten über einen ähnlichen zeitlichen Rahmen (447-954), werden aber später verschriftlicht und geben zwei Zeugnisse über Artus unter Angabe der für Chroniken üblichen Jahreszahl ab: „516 The Battle of Badon, in which Arthur carried the Cross of our Lord Jesus Christ for three days and three nights on his shoulders [i.e. shield] and the Britons were the victors. […] 537 The battle of Camlann, in which Arthur and Medraut fell: and there was plague in Britain and Ireland.“22
Der Ablauf der kriegsentscheidenden Schlacht ist recht ähnlich, aber die Information über den Tod des Heerführers knapp 20 Jahre später ist eine neue. Auffällig auch die Nennung des zweiten Mannes Medraut23 und die Pestwelle direkt nach dem Tod des Anführers, die schon einen Eindruck seiner Relevanz für das Land erahnen lässt. Ob die lateinische Basis der Mythenbildung nun mit Artus oder Ambrosius zu verbinden ist, erscheint für die Charakteranlage zunächst noch nicht relevant. Beiden wird in den jeweiligen Quellen die Beteiligung an der Schlacht von Badon Hill zugeschrieben, an der eindrucksvoll verdeutlicht werden kann, dass es zu diesem Zeitpunkt in erster Linie um die kriegerischen Fähigkeiten und Führungsstärke des Artus’ geht. Eine weitere lateinische Quelle für den Artusstoff ist die Historia regum Britanniae Geoffreys of Monmouth, die im Kontext der lateinischen Tradition hier zwar schon erwähnt werden soll, chronologisch aber noch nicht an der Reihe ist. Vorher ist es notwendig, auf den Einfluss der zweiten Basis einzugehen: der keltischen Mythologie. Hier ist das Problem der Überlieferung greifbarer als in der römischen Geschichtsschreibung, bei der man den Wahrheitsgehalt anzweifeln kann, aber immerhin einen schriftlich fixierten Text hat. Dies ist in der vorwiegend mündlichen keltischen Tradition kaum der Fall und wenn, dann sind die Texte weit nach ihrer Entstehung verschriftlicht. Beim Mabinogion handelt es sich um eine Sammlung von elf
22 NENNIUS 1980: 45. 23 Durch die Variation der Namen wird daraus später ‚Mordred‘, der beim Untergang des Arturischen Königreiches eine wichtige Rolle einnimmt.
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Prosatexten, die in zwei Handschriften aus der Mitte des 14. bis zum Beginn des 15. Jh. überliefert sind.24 Die Sammlung ist in der heutigen Form in drei thematische Bereiche unterteilt, von denen zwei zur Annäherung an die Figur des Artus’ beitragen. Die weite zeitliche Spanne der Aufzeichnungen führt dazu, dass die drei letzten Texte Owein, or The Countess of the Fountain, Peredur, Son of Evrawg und Gereint and Eneid inhaltlich direkte Bezüge zu späteren Artusromanen aufweisen.25 Da sie aus diesem Grund aber deutlich später entstanden sein müssen, sind sie für eine Analyse weniger aussagekräftig und stattdessen nur die älteren Werke des Mabinogion interessant. Dies sind zwei Erzählungen, deren keltisch mythologische Grundlage noch deutliche Spuren erkennen lässt: How Culhwuch Won Olwen und The Dream of Rhonabwy. Artus tritt in beiden Texten eher als Randfigur auf, was sich für die spätere Entwicklung schon als wegweisend darstellt. „Arthur, in what is probably his earliest appearance in Welsh prose, has a disappointingly minor role; already established as the great king of the British, he displays little personality.“26
Diese kleine Rolle in How Culhwuch Won Olwen beschreibt die Unterstützung bei einer relativ klassischen Brautwerbungsgeschichte. Culhwuch, ein Cousin Artus’, möchte um Olwen, die Tochter des Riesen Ysbaddaden, werben. Der junge Mann bekommt vierzig Aufgaben, die er erfüllen muss, um die Tochter zu gewinnen. Diese sind traditioneller Weise eigentlich unlösbar, aber da Culhwuch die Unterstützung seines königlichen Verwandten und dessen Rittern erhält, gelingt es schließlich doch. Artus selbst herrscht über eine Gruppe magisch begabter Krieger, unter denen bereits so bekannte Figuren wie Kai und Gawein27 zu finden sind. Ebenso nennt der Anfüh-
24 Das White Book of Rhydderch wird auf 1325-1400 (vgl. The National Library of Wales: Peniarth MS 4) und das Red Book of Hergest auf nach 1382 datiert (vgl. Early Manuscripts at Oxford Universitiy: MS 111). 25 Iwein, Parzival und Erec. 26 GANTZ in: The Mabinogion: 134. 27 Gawein tritt hier in der Namensform ‚Gwalchmei son of Gwyar‘ auf.
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rer den Namen seiner Frau Gwenhwyfar und seines Schwerts Caledfwlch28, die also beide ebenfalls zum ursprünglichen Kern der keltischen Artusgeschichten gehören. The Dream of Rhonabwy berichtet über den titelgebenden Krieger, der in einer Herberge einschläft. In seinem Traum treffen er und seine Begleiter an einem See auf ein Lager Artus’ mit einigen bekannten Rittern, die sich auf eine anstehende Schlacht vorbereiten. „[T]he emperor Arthur“29, wie es hier heißt, wird begleitet von Kai, dem schönsten Mann des Königreichs und, Owain dem Sohn Uriens.30 Für die bevorstehende Auseinandersetzung („the Battle of Baddon“31) wird auch ein konkreter Gegner genannt: „Osla Big Knife“32, der als Octha schon aus den lateinischen Quellen bekannt ist. Da vor allem Culhwuchs Brautwerbung nur mit etlichen übernatürlichen Handlungen zu bewältigen ist, aber auch der Traum erst durch die Magie eines gelben Ochsenfells als Schlaffläche zustande kommt, kann daraus gefolgert werden, dass das mythische und vielleicht phantastische Element der Artussage diesen Ursprung hat. Das Werk trägt außerdem dazu bei, dass sich Artus vom reinen Krieger bzw. Anführer in der Schlacht zu einer königlichen oder sogar kaiserlichen Vorbildfigur entwickelt. Auffällig ist, dass sowohl in der lateinischen als auch in der keltischen Tradition Artus bei aller Relevanz nie als eigentliche Hauptfigur fungiert. Die verschiedenen Bestandteile der beginnenden Mythenbildung fügt 1130/36 Geoffrey of Monmouth in der Historia regum Britanniae zusammen. Grundsätzlich ist ihm dieselbe Absicht zu unterstellen, wie auch Nennius, also die Geschichte Britanniens bzw. hier von dessen Königen zu schreiben, aber auch er geht über historisch belegbare Fakten hinaus. Die Basis bietet erneut die genealogische Verbindung des Brutus’ zwischen Troja und Britannien, die sich somit als Gründungsmythos etabliert hat. Das Land erlebt bei Geoffrey den Höhepunkt seiner Macht mit der Herrschaft König Artus’. Er übernimmt als junger Mann das Reich von seinem
28 Excalibur. Die Hintergründe über die Entstehung des Schwertes und wie es zum König gelangt, haben einen eigenen Sagenkreis entwickelt (Stichwort: Schwert im Stein, die Dame im See), der hier aber nicht weiter thematisiert werden soll. 29 The Mabinogion: 180. 30 Vgl. The Mabinogion: 184f. 31 The Mabinogion: 183. 32 The Mabinogion: 183.
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Vater Uther Pandragon (Drachenkopf) und eint die zerstrittenen Regionen. Die von Merlin magisch unterstützte Zeugung des Titelhelden ist von jetzt an Bestandteil seiner Sage. Uther verbringt eine Nacht mit Ygerna, nachdem er die Gestalt ihres Ehemanns angenommen hat. „And upon that same night was the most renowned Arthur conceived, that was not only famous in after years, but as well worthy of all the fame he did achieve by his surpassing prowess.“33
So kündigt Geoffrey die ruhmreiche und außergewöhnliche Zukunft an, deren Anlage er schon in den ungewöhnlichen Bedingungen seiner Zeugung andeutet. Die Geschichte über die Elterngeneration und die damit einhergehende Dramatisierung der Abstammung werden ein fester Bestandteil der Artussage, wenn sie auch noch weitere Veränderungen erfahren.34 Der Antritt seines Erbes geschieht bei Geoffrey aber recht unmagisch: „After the death of Uther Pendragon, the barons of Britain did come together from the divers provinces unto the City of Silchester, and did bear on hand Dubric, Archbishop of Caerleon, that he should crown as King, Arthur, the late King’s son.“35
Als König ist er schließlich mit Guinevere verheiratet und Herrscher an einem prachtvoll, vorbildlich geführten Hof. Er schafft die britische Unabhängigkeit gegen die römische Besatzung und erobert andere europäische Gebiete wie Norwegen, die Normandie und die Bretagne, die er dann von seinen Gefolgsleuten beherrschen lässt. Er hätte auch Rom erobert, aber durch die lange Abwesenheit im Kernland versucht sein Neffe Mordred, die Herrschaft und den Platz an Guineveres Seite zu übernehmen.36 In der anschließenden Schlacht werden viele der 6666 Artusritter getötet und auch Mordred stirbt:
33 Historia regum Britanniae: VIII, 19. 34 Artus wird hier mit einer Schwester gemeinsam in der Familie aufgezogen. Die medial beliebte Version, dass das Kind nach der Geburt als Tribut an Merlin gegeben werden muss, kommt erst in den weiteren Bearbeitungen hinzu. Vgl. Historia regum Britanniae: VIII, 20. 35 Historia regum Britanniae: IX, 1. 36 Vgl. Historia regum Britanniae: X, 13.
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„Even the renowned King Arthur himself was wounded deadly, and was borne thende unto the Isle of Avallon for the healing of his wounds, where he gave up the crown of Britain unto his kindsman, Constantine, son of Cador, Duke of Cornwall, in the year of the Incarnation of Our Lord five hundred and forty-two.“37
Neben den antiken und keltischen Grundlagen der Artussage muss inzwischen ein neuer Aspekt in die Analyse einbezogen werden: die aktuelle politische Situation zu Geoffreys Zeiten. 1066 erobern die Normannen unter William dem Eroberer die britischen Inseln und ab diesem Zeitpunkt gibt es eine erneute Machtverschiebung, die sich auch auf die Kultur auswirkt. Wieder ist es nötig, eine neue Herrschaft zu legitimieren, und mit der Historia versucht Geoffrey genau dies. Um das in einen argumentativen Bezug zu bringen, ist ein kurzer Blick auf die Folge der englischen Königswürde notwendig. Heinrich I. von England stirbt 1135 ohne männlichen Thronfolger, sein einziger legitimer Sohn stirbt bei einem Schiffsuntergang und er setzt die Tochter Mathilde als Erbin ein. König wird jedoch der Neffe Stephan von Blois. Damit ist die polare Konstellation für den sog. englischen Bürgerkrieg von 1139-1154 gegeben, in dessen Phase der Unsicherheit hinein Geoffrey seine Historia schreibt. Indem er sie führenden normannischen Adligen und vor allem Stephan selbst widmet, folgt er dem Prinzip der nationalen Identitätsfindung und Festigung des englischen Königs durch eine schriftliche Genealogie. Diese kann sich hier – neben der schon bekannten Ableitung von Troja – mit Artus auch auf eine lokal britische Heldenfigur berufen. Die Sage um König Artus bekommt durch ihre inzwischen fast untrennbar verbundene Mischung aus historisch Überliefertem, literarisch Ergänztem und nun dem Anspruch der Herrscherlegitimation eine neue Form, die ihre eigenen Inhalte hinzufügt. Auffällig ist dabei, dass sich offenbar jeder Autor seine benötigten Aspekte selbst heraussuchen kann und Artus damit als Identifikationsfigur zeit- und funktionsübergreifend ideal einzusetzen ist. Da dieses produktive Prinzip noch nicht ganz ausgereizt ist, kommen weitere Elemente hinzu. Wace überträgt 1155 mit dem Roman de Brut die Vorlage Geoffreys in das Französische. Er ist im Umkreis des englischen Hofes zu verorten und schreibt das Werk für Heinrich II. und dessen Frau Eleonore von Aquitani-
37 Historia regum Britanniae: XI, 2.
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en. Wace beschreibt den König als eine Vorbildfigur des feudal-höfischen Herrschers: „Ich will euch Artus’ Eigenschaften nennen […]: Er war ein Ritter mit allen dazu gehörenden Eigenschaften, war stolz gesinnt und liebte den Ruhm; gegen Leute, die ihm hochfahrend begegneten, war er hochfahrend, gegen Demütige milde und zum Mitleid geneigt. Stark und kühn, liebte er es, Eroberungszüge zu unternehmen; er war freigiebig mit Geschenken und nicht kleinlich, wenn ein Bedürftiger ihn bat, versagte er seine Hilfe nicht, sofern er die Möglichkeit hatte zu helfen. […] er sorgte dafür, daß man ihm auf höfische Art diente, und zeigte immer ein sehr adliges Benehmen. Solange er lebte und herrschte, übertraf er alle anderen Fürsten an höfischem Benehmen und edler Gesinnung, Körperkraft und Freigiebigkeit.“38
Wace erkennt außerdem das erzählerische Prinzip, das in der Genese des Stoffes prägend ist, und erklärt es damit, dass die Figur des Artus’ so höfisch und wunderbar ist, dass sich bereits fabelhafte Legenden um ihn ranken müssen: „Das ist alles nicht ganz gelogen und nicht ganz die Wahrheit, nicht alles Unsinn, aber auch nicht alles mit Sicherheit verbürgt. Die Erzähler haben so viel erzählt und die Fabulisten so viel gefabelt, um ihre Geschichten damit auszuschmücken, daß sich jetzt alles wie eine erfundene Fabel ausnimmt.“39
Auch wenn Wace mit dieser Feststellung zum ersten Mal auf einer Metaebene die texteigene Glorifizierung reflektiert, kann auch er offenbar nicht widerstehen, dem Stoff neue Komponenten hinzuzufügen, die das Sagenhafte vorantreiben. So nennt er erstmals die Tafelrunde und erweitert zudem den Avalonmythos, der bereits bei Geoffrey im Bereich des Phantastischen lag, um die Hoffnung auf Wiederkehr des großen Königs: „Artus selbst wurde tödlich verwundet, wenn die Erzählung nicht lügt; nach Avalon ließ er sich tragen, um seine Wunden zu heilen. Dort ist er noch; die Briten warten auf ihn […]; von dort soll er wiederkommen, denn er kann noch weiterleben.“40
38 Le Roman de Brut: 470-490. 39 Le Roman de Brut: 1250. 40 Le Roman de Brut: 4700-4710.
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Zwei der aus den modernen populären Bearbeitungen wohl bekanntesten Bestandteile der Artussage werden interessanterweise erst relativ spät durch den von Chrétien de Troyes zum Ende des 12. Jhs. begründeten Artusroman zum Stoff hinzugefügt.41 Die Eifersuchtsszenerie der Dreiecksbeziehung um Lanzelot, Guinevere und Artus deutet sich thematisch schon früh in dem Verrat durch Mordred an. Lanzelot als Person kommt aber erst durch die französischen Bearbeitungen Chrétiens hinzu, die die zerstörerische Liebesbeziehung ergänzen und Land und Frau der Kontrolle des Königs entziehen. Die deutsche Adaption Ulrichs von Zatzikhoven (Lanzelet um 1200) übernimmt den Ehebruch nicht. Weitere Artusromane wie Hartmanns von Aue Erec (1180/90) oder auch der Parzival (1200/10) Wolframs von Eschenbach zeigen nicht mehr das Handeln des Königs, sondern stellen die jeweiligen Ritter aus dem Umkreis der Tafelrunde in den Mittelpunkt. Der Vorteil für die Autoren ist, dass es einerseits ein festes immer wiederkehrendes Personeninventar gibt, das bereits beim Rezipienten etabliert ist, und andererseits die personellen Ergänzungen nahezu unbegrenzt erscheinen, indem jeder der Helden eine eigene Geschichte innerhalb dieses Erzählrahmens bekommt. Die zweite Thematik, die erst mit dieser Gattung hinzukommt, ist die der Gralssuche, die den christlich-heilsbringenden Inhalt über den Perceval in die französische bzw. über Parzival in die deutsche Literatur einführt. Im Laufe dieser Entwicklung des Artusromans wird die Rolle des Artus’ von einer aktiven zu einer passiven, die gleichzeitig eine normativ wertende Funktion erhält. Nur die besten Ritter werden in die Tafelrunde aufgenommen und von diesen handeln die jeweiligen Romane um die arthurischen Helden. Im Tristan Gottfrieds von Straßburg (1205/10), der mit in den erweiterten Umkreis Artus’ gehört, hat sich diese normgebende Funktion schon so weit von den eigentlichen Ansprüchen entfernt, dass der König als Richter auch schon mal als Helfer bei einem Meineid fungieren kann. Die der Untreue beschuldigte Isolde schwört in der Anwesenheit und mit
41 Dies gilt auch, wenn die letzten drei Erzählungen des Mabinogions als Quelle der Chrétienʼschen Romane gelten können. Die lange Zeitspanne der Verschriftlichung der Sagen macht es möglich, dass sie sich mit dem sich parallel entwickelnden Artusstoff gegenseitig beeinflussen können. So kann die von Wace eingeführte Tafelrunde in den keltischen Sammelhandschriften auftauchen, ohne dass dies ein Anachronismus wäre.
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der moralischen Unterstützung des Königs, dass sie nie einen anderen Mann umarmt habe als ihren Ehemann – und jenen Pilger, der sie kurz zuvor über eine morastige Stelle gehoben hatte, mit ihr gestürzt war und mit dem sie in einer Art Umarmung zu Boden gefallen war. Dass dieser Mann der verkleidete Geliebte Tristan ist, scheint dem moralischen Anspruch der Artusgesellschaft dabei irrelevant. Als vorläufiger Höhepunkt der stofflichen Weiterentwicklung manifestieren sich all diese Elemente in Sir Thomas Malorys Le Morte Darthur.42 Das Werk greift die divergierenden Elemente der Artussage auf und bietet eine Basis für die weiteren Bearbeitungen der literarischen Genese. Aus diesem Grund bildet das Werk auch den Abschluss der historisch literarischen Spurensuche. Weil aber die Recherche nach einem Ursprung trotz der künstlerisch-literarischen Weiterentwicklung allein nicht die Faszination erklären kann, soll es im Folgenden um die Rezeption des Artusstoffs im Film gehen. Denn „Menschen sind fasziniert von einem Stück der Geschichte, das sie nicht kennen, vom dunklen Zeitalter, das sie erhellen wollen. Die Historiker sollen das, soweit sie können, tun, aber sie sollten dem literarischen Arthur seinen außergewöhnlichen Reichtum dabei nicht nehmen. […] Den Arthur, der uns interessiert, finden wir in der Literatur – den Arthur, der in den Utopien lebt, die wir mit der Tafelrunde und der bewundernswerten Geschicklichkeit und Kunstfertigkeit des Rittertums in Verbindung bringen. Nicht in einer Arthurfigur, die im 6. Jh. vielleicht in einer Lehmhütte gelebt hat.“43
Inwieweit diese spätantike Lehmhütte in der einen oder anderen Form vielleicht noch für die Faszination am sagenbehafteten König interessant werden kann, zeigt sich nun im zweiten Teil dieser Untersuchung, die sich anhand einiger ausgewählter Beispiele mit den filmischen Umsetzungen auseinandersetzt.
42 Die hier verwendete Ausgabe geht auf den Erstdruck von William Caxton von 1485 zurück. Vgl. MARTIN: 1011. 43 Bonnie Wheeler. In: Die Legende von König Artus 2004.
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ARTUS
ALS
F ILMHELD
Die Ritter der Tafelrunde von 1953 setzt inhaltliche Prioritäten in der ritterlich-höfischen Liebesbeziehung zwischen Lancelot und Guinevere, was sich allein schon in der Besetzung durch die Schauspieler zeigt44 und sicherlich auch der Publikumserwartung der Zeit geschuldet ist. Auch wird der Plot des Films aus der erzählerischen Perspektive Lancelots berichtet, der als Ritter in schimmernder Rüstung am Hof Arthurs freundliche Aufnahme findet. Er begegnet der Königin und beide entwickeln Gefühle füreinander, ohne dass Lancelot weiß, um wen es sich bei ihr handelt. Erst nach seiner Ankunft bei Hofe und beim Treueschwur vor dem König folgt die Aufklärung der Identitäten: Arthur:
„Und nun huldigt eurer Königin! Genevra, dieser Ritter ist mein Banner, Schwert und Schild.“
Guinevere:
„Das ist der Ritter, der rechtzeitig kam zu meiner Rettung...“
Arthur:
„Lancelot?“
Guinevere:
„... doch zu spät zu meiner Vermählung!“45
Obwohl die Königin hier eine für Lancelot recht eindeutige, für die Allgemeinheit eher unbedeutende Aussage zu ihren Gefühlen macht, bleibt die Umsetzung dieser im Film zunächst sehr dezent. Besonders vielsagend sind die heimlichen Blicke, wie sich am folgenden Beispiel während des Treueschwurs der Tafelrundenritter verdeutlichen lässt: Arthur: „Mit Gottes Gnade gelobe ich, mein Leben dieser Bruderschaft zu weihen. Im Namen des Herren und im Namen meiner Ritterschaft schwöre ich, Kampf zu führen gegen alle Übeltäter […]. Ich will den Schwachen helfen, die Frauen beschützen und barmherzig sein zu allen Menschen. Ich werde nie mein Wort brechen, noch jemals einen Verrat begehen. Ich werde beharrlich sein in der Freundschaft und treu in der Liebe. All das schwöre ich beim Heft meines Schwertes.“46
44 Robert Taylor als Lancelot und Ava Gardener als Guinevere. 45 DRdT 1953: 0:43:53-0:44:14. 46 DRdT 1953: 0:45:23-0:46:08.
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Explizit bei der Erwähnung der Liebe wird ein – für den Zuschauer sehr offensichtlicher – Blickwechsel inszeniert: Lancelot blickt zur Balustrade und sieht die dort im Mittelpunkt ihrer Damen sitzende Guinevere an. Diese blickt daraufhin sichtbar aufgewühlt zu Boden. Für die Liebesgeschichte ist diese Verfilmung ebenso prägend für seine Nachfolger wie die visuelle Inszenierung der edlen Ritter in schimmernder Rüstung und bunten Gewändern an sich.47 Die klassische Gut-Böse-Konstellation zeigt sich in der Konzentration auf den Helden Lancelot. Seine unglückliche Liebe zur Königin ist der Grund, warum das arthurische Reich schließlich am doppelten Verrat zerbricht.48 Im Gegensatz zu anderen Beispielen bleibt die Liebe hier in erster Linie ideell. Anders wird dies im zweiten Beispiel dargestellt, das sich auf diesen zwischenmenschlichen Teil der Artussage konzentriert. 1995 inszeniert Regisseur Jerry Zucker mit Der erste Ritter49 ebenfalls die verbotene Liebesbeziehung, passt sie aber an die zeitgenössischen Zuschauererwartungen an. Indem Arthur und Guinevere eine arrangierte Ehe verbindet und ein deutlicher Altersunterschied trennt, fügt er eine weitere Rechtfertigung hinzu, warum die Liebe zwischen der Königin und dem ersten Ritter die eigentlich legitime sein muss. Die Gefühle der beiden sind vor dem Hintergrund der modernen Vorstellung von individueller Selbstverantwortung des Glücks im Kontrast zur gesellschaftlich konventionalisierten Verantwortung dargestellt. Der Zuschauer mag zwar Mitgefühl für den hintergangenen König haben, die gelenkte Sympathie liegt aber sicherlich beim heimlichen Paar. Die Positionierung des Films im Kontext der populären Kultur wird sehr eindringlich durch die Produktbeschreibung der Amazon Redaktion zum Film deutlich, in der klar formuliert wird, worum es in erster Linie gehen soll: „Sean Connery dürfte der erhabenste König Arthur der Filmgeschichte sein, Richard Gere der bestaussehendste Lancelot.“50 Auch visuell bietet der Film keine wesentlich neue Sichtweise. Die
47 Die Tradition geht zurück auf die Ivanhoe-Verfilmung Richard Thorpes von 1952 – ebenfalls mit Robert Taylor in der Rolle des Titelhelden. 48 Lancelot verrät Arthur einerseits auf der persönlichen Ebene durch den Ehebruch und andererseits auf der politischen Ebene in seiner Rolle als erster Ritter des Landes. Die Autorität des Königs ist damit zweifach geschwächt. 49 DeR 1995. 50 Zitiert aus einer nicht mehr aktuellen Produktbeschreibung für die DVD. amazon.de [28.06.2011].
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Ritter werden in all der metallisch-glänzenden Pracht dargestellt, wie Thorpe es in den 50er Jahren für das Genre vorgibt, selbst wenn die Umsetzung von Maske und Frisur sicherlich der Zeit geschuldet variieren. Die inhaltlich recht reduzierte Handlung lässt sich noch mit einem über den höfischen Fokus hinausgehenden Grund erklären. Der erste Ritter sucht eine vermeintlich neue Perspektive des Erzählens, denn er hat vierzehn Jahre nach Excalibur51 Premiere. Dieser bietet 1981 einen ambitionierten, um Vollständigkeit bemühten Blick auf den Artusstoff und kann als ein inhaltlicher Höhepunkt der medialen Umsetzungen gelten. Regisseur und Drehbuchautor John Boorman widmet sich mit vielen erzählerischen Nebenschauplätzen einem großen Bestandteil des bekannten Personals und erschafft somit ein Gesamtbild. Als roter Faden kann dabei die Bildung eines vereinten Königreiches aus den verfeindeten Herrschaftsgebieten unter Arthur, der prunkvolle Höhepunkt der Macht mit der Burg Camelot und schließlich der Zerfall des Reiches durch die Verbindung der Schicksale von Land und König gelten.52 Um diese Chronik für den Zuschauer nachvollziehbar zu machen, wird er mit der Vorgeschichte der Eltern Arthurs und den ungewöhnlichen Umständen seiner Zeugung bekannt gemacht, die zugleich auch die Grundlage für die Feindschaften der Halbgeschwister Arthur und Morgana bilden. Im ersten Handlungsteil führt die Figur des Merlin durch die Handlung, denn er kann als Ratgeber des Vaters und des Sohnes eine erzählerische Kontinuität bieten. Auch das titelgebende Schwert ist eine Konstante, dessen Legenden hier kombiniert werden. Es wird zunächst von der Dame im See an Uther übergeben, dieser stößt es in seinen letzten Lebensminuten in einen Stein, wo es sein Sohn und damit rechtmäßiger Erbe schließlich herausziehen kann. Der Film betont die übernatürlichen Eigenschaften der Waffe, indem es mit der Anderswelt Avalons in Verbindung gebracht wird und damit immer auf der Seite des ‚Guten‘ steht. Außerdem wird es durch filmische und musikalische Mittel hervorgehoben, die den Habitus des Besonderen unterstützen. Wenn Merlin
51 Excalibur 1981. 52 Dies machen auch die erläuternden Titel zu Beginn des Films deutlich: „The Dark Ages. The Land Was Divided And Without A King. Out Of Those Lost Centuries Rose A Legend... Of The Sorcerer, Merlin, Of The Coming Of A King, Of The Sword Of Power... Excalibur.“ Excalibur 1981: 00:00:2400:00:46. (Orthographie im Original)
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zum ersten Mal für Uther um die Waffe bittet, erscheint aus dem ruhigen und glatten See ein Arm, der das Schwert empor reckt.53 Die Beleuchtung setzt die Szene in ein grünes Licht, das von der Klinge reflektiert wird und sie in der ansonsten dunklen und nebeligen Seelandschaft visuell betont. Grün wird auch im Verlauf des Films die Farbe der Macht sein, die sich in vielen, durch natürliche Beleuchtung nicht erklärbaren Lichtflecken zeigt. Mit Siegfrieds Trauermarsch aus Richard Wagners Götterdämmerung unterlegt, erhält die Szene eine zusätzlich dramatische Komponente. Natürlich kann auch in dieser Umsetzung nicht die Liebesbeziehung zwischen Lancelot und Guenevere fehlen, die sich hier tatsächlich eher in körperlicher Form ausdrückt. Interessanterweise geschieht der eigentliche Ehebruch erst nach dem bestandenen Gottesurteilskampf, sodass es scheint, als wäre ein derartiger Freispruch erst der Anreiz für die Beziehung.54 Nichtsdestotrotz wird auch hier mit dezenteren Gesten gearbeitet, bspw., indem Guenevere während des Kusses mit Arthur anlässlich der Hochzeitszeremonie die Augen nicht nur starr geöffnet hält, was auf eine geringere emotionale Involviertheit hindeuten könnte, sondern danach auch direkt ein Schnitt auf den anwesenden Lancelot folgt. Auch wenn sie sich aufgrund der Anordnung der Figuren nicht direkt ansehen können, wird dem Zuschauer eine Verbindung suggeriert.55 Mit dem Ehe- bzw. Treuebruch der beiden beginnt auch der Verfall des Königreichs, der zudem mit der Entmachtung Merlins durch Morgana einhergeht. Diese Szenen werden in einer Parallelmontage verbunden, die als Wendepunkt die Auffindung des Liebespaares durch Arthur und die Niederlage Merlins zeigt. So ruft der entsetzte Lancelot nach dem Erwachen und der Entdeckung Excaliburs, das zwischen dem Paar im Boden steckt: „The King without the sword! The Land without the King!“56 Erst mit dieser Schwächung kann es zwischen Morgana und Arthur zur Zeugung eines inzestuösen Sohnes kommen, der in einer verzerrten Wiederaufnahme der arthurischen Vorgeschichte als Werkzeug der Rache den Niedergang des Königreichs verstärken wird. Dies ist die Folie, vor der die Gralssuche projiziert wird, um deren Relevanz für den König und das Land zu demonstrie-
53 Vgl. Excalibur 1981: 00:03:21-00:03:38. 54 Vgl. Excalibur 1981: 01:20:30-01:01:22 und 01:23:56-01:29:01. 55 Vgl. Excalibur 1981: 01:00:38-01:00:48. 56 Excalibur 1981: 01:28:44.
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ren. Einzig wenn Arthur aus dem Gral trinkt, kann dem Niedergang des Reiches etwas entgegengesetzt werden.57 Perceval ist in seiner anfänglich unhöfischen Narrenrolle bereits eingeführt worden, als er mit den bloßen Händen Kaninchen fängt. Er wird von Lancelot an den blühenden Hof Camelots mitgenommen. Das gibt dem Regisseur die Gelegenheit, mit dem staunenden Blick des Neuankömmlings die Tafelrunde zu zeigen58 und zugleich auch Wolframs Romanvorlage als Storyline in die Filmhandlung einzubeziehen. Mit dem Gral zeigt sich erneut die Symbiose von König und Land, wenn der erfolgreiche Perceval zum dahinsiechenden König gelangt, um ihn aus dem Kelch trinken zu lassen. Das Geheimnis des Grals erklärt die Machtverhältnisse mit dem folgenden Dialog zwischen beiden: Perceval: „You and the land are one, drink!“ Arthur:
„I’m wasting away. I cannot die. I cannot live.“
Perceval: „Drink from the chalice and you will be reborn - and the land with you.“59
Die folgende Genesung beider ist visuell und musikalisch ebenso symbolisch wie plakativ umgesetzt. Auf personaler Ebene färbt sich Arthurs fahle Gesichtsfarbe zunächst wieder rosig, er verliert seine tiefen Falten und auf übergeordneter Ebene reiten die Ritter schließlich zu den Klängen der Orff’schen O Fortuna durch ein parallel wieder ergrünendes Land mit erblühenden Obstbäumen und Wiesen in die letzte entscheidende Schlacht.60 Stilistisch und inhaltlich ist Excalibur für eine lange Zeit das Maß aller Dinge. Ähnlich wie Malory nimmt John Boormann in der Regie, dem Drehbuch und der Produktion alle vorhandenen Strömungen auf, die die Artussage über die Jahrhunderte hin ausgeprägt hat, und setzt sie in einer dramaturgisch kaum zu überbietenden Art und Weise um. Dass die Filmindustrie Ähnliches zu empfinden scheint, lässt sich an den Nachfolgern erkennen. Excalibur führt zwar zu einem gesteigerten Interesse am Thema, keiner der folgenden Filme schafft es aber, einen derartigen Gesamteindruck zu vermitteln, weshalb eine Aufsplittung in die einzelnen Elemente der Sage einsetzt. Das zeigt sich im schon erwähnten Ersten Ritter, der trotz
57 Vgl. Excalibur 1981: 01:31:41-01:32:38. 58 Vgl. Excalibur 1981: 01:01:48-01:00:51 und 01:04:12-01:05:25. 59 Excalibur 1981: 01:49:43-01:49:55. 60 Excalibur 1981: 01:50:05-01:52:05.
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Staraufgebot seinem Vorgänger erzählerisch weit unterlegen ist. Lange nach Excalibur bemühen sich die Produktionen, der Geschichte etwas Neues abzugewinnen und das geschieht in zwei zeitlichen Phasen. Die keltischen Elemente, die sich in der Konzentration auf die spirituellen Inhalte bemerkbar machen, werden mit überraschender Konsequenz eher für TV-Verfilmungen produziert. Der Dreiteiler Merlin61 wird auf der DVD-Hülle mit dem Slogan beworben, es handele sich bei dem Film um „The most magical adventure of all time“62, was einerseits auf den mythologischen Anteil der Artussage hinweist und andererseits auf die generelle Legendenbildung. Denn es verdeutlicht, dass nicht nur der König selbst, sondern auch die beteiligten Personen zum Stoff gehören und auch vom kulturgeschichtlichen Ruhm profitieren. Dass Merlin als Figur ebenso eine eigene Entstehungsgeschichte und literarische Tradition vorweisen kann, wie teils auch Excalibur, ist dabei nicht relevant. Im Gegenteil, ist daran erneut die Sogwirkung der Artussage ersichtlich, mit der sich neue Erzählelemente anfügen. Dass das Interesse am Zauberer als zentrale Figur damit nicht erloschen ist, zeigt die britische Serie Merlin63. Die Transformationsfähigkeit des Stoffs beweist sich darin, dass die Rahmenhandlung eher auf dem Interessengebiet des Coming-Of-Age-Zielpublikums liegt und das Personal entsprechend angepasst ist.64 In ähnlicher Weise geschieht dies mit dem Zweiteiler Die Nebel von Avalon (2001), mit dem die gleichnamige Romanvorlage Marion Zimmer Bradleys von 1983 und deren weibliche Perspektive auf den Stoff verfilmt wird. Dies setzt die ungebrochene und durch zeitgenössische Magie- und Fantasythemen65 neu entfachte Faszination am Übernatürlichen fort und ergänzt durch Morgain als Zentrum des Erzählens neue Sichtweisen auf das
61 Merlin 1998. 62 http://www.imdb.com/title/tt0130414/ [22.01.2015]. 63 http://www.imdb.com/title/tt1199099/ [03.03.2015]. 64 So wird beispielsweise aus König Arthur ein Prinz, der sich seinem Vater gegenüber behaupten muss, und Guinevere kurz zu ‚Gwen‘. Ähnliches geschieht zeitgleich auch in der Serie Camelot, die allerdings nur eine Staffel umfasst (2011). 65 Um die Jahrtausendwende beginnt die Harry Potter-Serie und es entstehen die Herr der Ringe-Verfilmungen, die jeweils großen Einfluss auf die Inhalte und Visualität der populärkulturellen Medien haben.
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Geschehen. Einerseits gerät damit die Rolle der Frauen in der Artussage in den Fokus, andererseits der geschichtliche Konflikt von ‚alter‘, vorchristlicher Religion und der Christianisierung, die sich in den gegensätzlichen Charakteren Morgains und Gwenhwyfars manifestieren. Im Anschluss an die thematische Orientierung am Mythischen lässt sich anhand zweier Umsetzungen die Verknüpfung mit den lateinischen Ursprungstexten feststellen. Anachronistisch sei kurz Die letzte Legion erwähnt, der 2007 eine Brücke zwischen dem Ende des Weströmischen Reiches (Einblendung „Rom, 460 n. Chr.“66) und dem dortigen Herrschergeschlecht zu den britischen Inseln schlägt. Der Film nimmt damit die lateinische Geschichtsschreibung auf und konstruiert eine ähnliche Genealogie. Auf dem deutschen Kinoplakat wird mit dem Slogan „Vor King Arthur war Excalibur“67 geworben, was einerseits auf die inhaltliche Struktur anspielt, die das Schwert Caesars als Excalibur identifiziert, und andererseits als ein Hinweis auf die erste filmische Interpretation der römischen Verbindung fungiert. Die Bruckheimer-Produktion King Arthur68 erzählt mit einer visuell bewusst realistisch gehaltenen Inszenierung die Geschichte des römischen Kriegsherren als Anführer einer Gruppe berittener sarmatischer Krieger. Die theoretische Basis ist die anthropologische These C. Scott Littletons und Linda A. Malcors, dass die wesentlichen Grundlagen der Artussage aus Nomadenvölkern der zentralasiatischen Steppe stammen.69 Diese sarmatischen Reiter werden von den römischen Truppen inkludiert. Auf einer Metaebene wird der Zuschauer mit dieser Überlegung vertraut gemacht, die zugleich suggerieren soll, dass der Film auf historischen Fakten beruht: „Historians agree that the classical 15th century tale of King Arthur and his Knights rose from a real hero who lived a thousand years earlier in a period often called the Dark Ages. Recently discovered archeological evidence sheds light on his true identity.“70
66 Die letzte Legion 2007: 00:02:13. 67 http://www.imdb.com/media/rm402428928/tt0462396 [22.01.2015]. 68 KA 2004. 69 Vgl. LITTLETON & MALCOR 2000. 70 KA 2004: 00:00:25.
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Auf diese Weise vorbereitet, erfährt der Rezipient die persönliche Sicht der Dinge aus der Perspektive Lancelots, der ein Nachfahre jener sarmatischen Krieger ist und den Film aus dem Off kommentiert. Der Film folgt dieser Grundidee konsequent und verbindet sie zudem beim genauen Hinsehen mit vielen der vorhandenen Sagen als Charakterisierung. Vor allem bei den Rittern der Tafelrunde erfordert dies ein Akzeptieren der These, was vermutlich einige der bis dato üblichen Sehgewohnheiten irritiert. So kommentiert der Filmkomponist Hans Zimmer die Inszenierung des Kriegerpersonals, das sich in einer Art V-Formation mit Arthur an der Spitze formiert und damit dem Zuschauer Assoziationen zu anderen Filmhelden anbietet.71 „Es ist kein Rock ’n’ Roll, aber ich wollte Artus und seine Ritter zu einer Art Motorrad-Gang machen. Ihnen haftet das bekannte saubere Image an. Alles dreht sich um Artus, das Zentrum der Figurenkonstellation […].“72
Zimmer unterstützt damit die diesem Aufsatz zugrunde liegende Theorie, dass Artus und seine Ritter auch zur Entstehungszeit ihrer Sagen schon Teil einer populärkulturellen Unterhaltung waren. Die Ritter, die sich um ihren Anführer gruppieren, tragen bekannte Namen, aber berufen sich eher auf literarische Grundlagen denn auf filmische Vorgänger. So sind Lancelot, Tristan, Gawain und Galahad dem Kinozuschauer noch vertraut, bei Bors und Dagonet, deren Figuren in erster Linie über Malory bekannt sind, ist dies vermutlich weniger der Fall. Auch die Inszenierung der Charaktere ist nicht mit denen vergleichbar, die aus der filmischen oder literarischen Tradition bekannt sind. Die Ritter haben ihre individuellen Eigenschaften und folgen auch optisch keiner einheitlichen Rüstung oder Kleidung. Die Inszenierung ihrer Verschiedenartigkeit zeigt sich am offensichtlichsten in den Waffen und der daraus resultierenden Kampftechnik.73 So sind Galahad und Gawain durch ihre Bewaffnung mit Lanze, Schwert und teilweise der
71 Z.B. Die sieben Samurai 1954, Die glorreichen Sieben 1960, Easy Rider 1969. 72 Hans Zimmer in: Blood on the Land. The Making of a King. In: KA 2004: Extras. 15:42-16:00. 73 Als Beispiel kann ein Überfall der Pikten auf einen römischen Wagen gelten, der von Arthur und seinen Kriegern beschützt wird. Die Szene steht am Beginn des Films und stellt dem Zuschauer die jeweiligen Personen durch ihr Verhalten im Kampf exemplarisch vor. KA 2004: 00:07:16-00:12:56.
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Stachelkeule am ehesten dem Typus des höfischen Ritters zuzuordnen. Bors trägt außerdem kleine Messer in beiden Händen und Dagonet arbeitet im Nahkampf mit Kopfstößen. Tristan ist in dieser Hinsicht sicherlich die interessanteste Figur, denn seine Ausrüstung unterscheidet sich gravierend: er nutzt einen Reflexbogen, dessen Form typisch für die Reiterbögen aus den eurasischen Nomadenvölkern ist. Außerdem trägt er arabisch anmutende Tätowierungen unter den Augen, einen langen Mantel und wird von einem Jagdfalken begleitet. Wenn er im Nahkampf eine Stichwaffe benutzen muss, dann unterstützt diese seinen andersartig anmutenden Charakter. Sein Schwert hat eine gebogene Klinge, wie sie im britischen Kulturkreis dieser Zeit nicht üblich ist. Auch sie verweist auf einen östlich-orientalischen Einfluss. Im Kontrast dazu ist ein zeitlich eher passendes Kurzschwert bei seinem piktischen Gegner zu finden, was ihn auch in dieser Hinsicht hervorhebt. Auch die Erzählerfigur Lancelot wird als besonders betont. Er kämpft beidhändig mit zwei Schwertern, was als Idee bereits bei Malory zu finden ist. Hier bestimmt Merlin, als der ebenfalls zweischwertig kämpfende Ritter Balin stirbt, dass nur der beste Ritter diese Schwerter beerben kann, und das ist Lancelot.74 Aber auch ohne dieses Wissen wird dem Rezipienten die Figur des Lancelot als wichtig markiert, weil er dem Verlauf des Films durch seinen Blickwinkel folgt. Um jeden Zweifel auszuräumen, wird seine Positionierung innerhalb der Gruppe verdeutlicht, indem er seinem Kommandanten Artorius75 nicht nur aus Hierarchiegründen folgt, sondern ihm auch freundschaftlich verbunden ist und sie sich vor wichtigen Entscheidungen beratend austauschen.76 Der Titelheld Arthur wird als typisch römischer Feldherr in Rüstung dargestellt. Seine volle Autorität wird aber erst zum Ende des Films mit der entscheidenden Schlacht gegen die Sachsen demonstriert, wenn er auf einem Hügel, wie ein Prätorianer gerüstet mit einem römischen Kammhelm,
74 Vgl. MALORY 2006: 1,18-19. „Merlin antwortete: ‚Niemand soll dieses Schwert schwingen, als der beste Ritter der Welt, und das wird Lancelot sein […].‘“ MALORY 2006: 1,19. 75 Lancelot: „Unser römischer Befehlshaber trug den Namen Artorius, oder … Arthur.“ KA 2004: 00:03:42-00:03:47. 76 Z.B. KA 2004: 00:31:00-00:33:50.
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Rüstung und im Wind flatternder Adlerstandarte, auf seinem Pferd sitzt und das Schlachtfeld betrachtet.77 Die Handlung des Films wird zu Beginn auf 452 n. Chr. datiert, womit er in den Kontext der Sachsenkriege gestellt wird. Arthur und seine Krieger müssen sich in den Angriffen der Pikten, unter denen sich auch Merlin und Guinevere befinden, und der Sachsen unter den Anführern Cerdic und Cynric behaupten. Arthurs vermittelnde Position wird auch darin deutlich, dass er nicht nur visuell als Römer inszeniert wird, sondern ein Christ und gleichzeitig ein toleranter Philanthrop ist.78 Die Gegner sind nicht wie in der höfischen Vorstellung als Verräter im eigenen Umkreis zu finden, sondern werden ganz nach der antiken Überlieferung von den sächsischen Eroberern dargestellt und anhand eines typischen Feindschemas eingeführt. Die Eroberer gehen nicht nur äußerst brutal vor, die Inszenierung stellt sie zudem stereotypisch als blonde ‚Germanen‘ dar und schreckt dabei auch nicht vor rassistischem Gedankengut zurück. So rettet der Anführer der Sachsen vermeintlich eine Frau vor der Vergewaltigung durch einen seiner Krieger. Dies geschieht aber nicht aus Mitgefühl, denn Cerdic weist seine Männer an: „Hände weg von ihren Weibern! Wir mischen uns nicht mit ihnen. Welche Art Nachkommenschaft würde das erzeugen? Schwache Wesen, halbe Menschen“,79 bevor er dem Vergewaltiger den Kopf abschlägt. Um diese Charakterisierung noch weiter zu bestärken, hebt er das Kinn der vorerst geretteten Frau an, nachdem sie sich bei ihm bedanken will, wendet sich dann ab und fordert seine Krieger auf, sie ebenfalls zu töten.80 Neben diesem inhaltlichen Schwerpunkt der eindeutigen Polarisierung von Freund und Feind zeigt sich in den Kampfszenen ein weiteres Konzept des Filmes: Die Idee der Authentizität hat nichts mehr mit den bunt gekleideten Rittern der 50er Jahre gemeinsam. Regisseur Fuqua hat zudem auf eine filmische Technik gesetzt, die mit vielen kleinen Kameras – befestigt an Schwertern und Pferden oder im Boden eingegraben – eine Nähe zum
77 Vgl. KA 2004: 01:33:32-01:34:38. 78 Vgl. KA 2004: 00:17:45-00:18:15 (Beschreibung Roms); 00:21:38-00:21:54 (Religiöse Toleranz: „Sie halten fest an dem Glauben ihrer Vorväter, ich stelle das nicht in Frage.“). 79 KA 2004: 00:34:21-00:35:05. 80 Vgl. KA 2004: 00:35:16-00:35:21.
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Geschehen schafft, die besonders bei den Schlachten zum Einsatz kommt.81 Das geschieht zugegebenermaßen sehr oft und ausführlich, trägt aber zu einer eindringlichen Visualität des Filmes ebenso bei wie die verdunkelnden Filter, die gedeckten Farben und der ‚matschige‘ Eindruck der Landschaft, der an eben jene bereits erwähnte spätantike Lehmhütte denken lässt. Der Film bewegt sich interpretatorisch auf zwei Ebenen. Einerseits eröffnet er eine für die medialen Umsetzungen neue Sicht auf die Artussage, die das Bedürfnis nach der Suche eines Ursprungs von der akademischen in die populärkulturelle Welt überträgt. Dass dies auch hier funktionieren kann, beweist der finanzielle Erfolg des Films.82 Andererseits zeigt sich das Bündnis der verschiedenen Stämme auf den britischen Inseln mit den alten Besetzern gegen die Bedrohung durch die neuen. Darin kann durchaus ein außerfilmischer, politischer Bezug gesehen werden, der in der unmittelbaren Post-9/11-Ära bei einer amerikanisch-britischen Blockbusterproduktion kaum zufällig sein wird. So folgt nach der letzten und gemeinsam geschlagenen Schlacht gegen die Sachsen eigentlich ‚nur‘ die Vermählung Arthurs und Guineveres. Durch die Worte Merlins, der die Zeremonie leitet, wird aber die globale Bedeutung deutlich, die zum einen darauf abzielt, den Frieden zwischen Pikten und Briten zu gewährleisten: „Arthur, Guinevere! Unsere Völker sind eins. So wie ihr.“83 Die Hochzeit geht zum anderen damit einher, dass Arthur vom Rang des römischen Feldherren in den des britischen Königs erhoben wird84 und er diese neue Rolle beginnt, indem er seine neuen Untertanen dazu aufruft, sie „sollen vom heutigen Tag Zeugnis davon ablegen, dass alle Britannier nun vereint sind und zusammen derselben Sache dienen.“85 Um welche Sache es sich dabei handelt, fasst die Stimme Lancelots zusammen: „Zweihundert Jahre lang waren wir Ritter für ein Land zu Felde gezogen, das nicht das unsere war. Aber an jenem Tage am Mons Badonicus kämpften und starben wir für eine größere Sache: Für
81 Vgl. Blood on the Land. The Making of a King. In: KA 2004: Extras. 12:4813:03. 82 Vgl. Box office for KA 2004 http://www.imdb.com/title/tt0349683/business [24.01.2015]. 83 KA 2004: 02:05:50-02:06:10. 84 Vgl. KA 2004: 02:06:35-02:06:37. 85 KA 2004: 02:06:45-02:07:02.
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die Freiheit.“86Auch wenn dieser Filmschluss erwartungsgemäß dramatisch und pathetisch klingt – eine Kritik, die man dem Film auch generell vorwerfen kann – so zeigt er doch einmal wieder die in der Artussage angelegte Freiheit der Interpretation. Denn der Film setzt das um, was der Sage um Artus schon immer eigen ist: er nimmt neue Erkenntnisse und Elemente auf, bringt sie in einen vorhandenen Zusammenhang, um beides gemeinsam neu zu interpretieren. So kann die „Sarmatian-Connection“ einerseits das Publikum auf die Mischung römisch-antiker bzw. nordiranischer Überlieferung hinweisen und diese andererseits mit einer relativ modernen Heldenfigur verbinden. Mit dieser Konzentration auf ältere Quellen gerät Arthur in den Mittelpunkt des Interesses, auch wenn die Geschichte eigentlich die Lancelots ist.
S CHLUSSWORTE Das erzählerische Prinzip des klassischen mittelalterlichen Artusromans stellt die Ritter der Tafelrunde in den Mittelpunkt und nicht den König selbst. Diese Eigenschaft übernimmt die filmische Rezeption nicht oder nur sehr reduziert.87 Das ist besonders auffällig, weil im Roman genau mit jenen festen Größen gearbeitet wird, anhand derer sich die Helden positionieren müssen. Kai als höfischer aber zwiespältiger oder Gawein als vorbildhafter Charakter können im Film so keine Vergleichsfolie bieten. Durch die filmische Fixierung auf Arthur erscheint das aber auch unnötig, denn seine Figur ist durch seine Überlieferungsgeschichte derartig facettenreich gestaltet, dass sie genug Settings für diverse Interpretationen anbietet. Das, was mit Malory im 15. Jh. geschieht, also eine Sammlung aller wichtigen, bis dahin entstandenen Elemente des Königs und der umgebenden Figuren und Sagen, geschieht in der filmgeschichtlichen Entwicklung in einer umgekehrten Reihenfolge. Kann man Le Morte Darthur als vorläufigen Endpunkt der mündlichen und schriftlichen Überlieferung bezeichnen, so übernimmt dies für das Genre Film Excalibur. Die Aufsplittung in
86 KA 2004: 02:05:01-01:05:11. 87 So ist Parzival als Protagonist nahezu ausschließlich über die Wagner-Rezeption zu finden. (Eine Ausnahme mag der französische Perceval le Gallois von 1978 bilden, der aber einen eher kleinen Wirkungskreis besitzt.)
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seine genealogischen Einzelteile erfolgt dann bis heute nach verschiedenen Schwerpunkten bzw. der gesellschaftlichen Interessenlage. Insofern können als Fazit für diese Untersuchung die letzten Worte Lancelots dienen, denn sie erfassen die Eigenart der Sage ungeachtet ihrer jeweiligen Ausprägung: „Der Tod der Ritter, die ihr Leben im Kampf hingaben, war kein Grund für tränenreiche Klagen, denn ihre Namen werden nicht vergessen. Von Generation zu Generation wird diese größte Legende Englands überliefert. Die Sage von Artorius Rex – King Arthur.“88
L ITERATUR Primärliteratur HARTMANN VON AUE: Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung von Thomas Cramer. Frankfurt am Main: Fischer, 2003. HARTMANN VON AUE: Iwein. Mhd./Nhd. Hrsg. und übers. von Rüdiger Krohn. Komm. von Mireille Schnyder. Reclam: Stuttgart, 2012. GEOFFREY OF MONMOUTH: History of the Kings of Britain. Translated by Sebastian Evans. Revised by Charles W. Dunn. Harmondsworth: Penguin Books, 1966. LANGOSCH, Karl & Wolf-Dieter LANGE (Hgg.): König Artus und seine Tafelrunde. Stuttgart: Reclam, 1980. MALORY, Sir Thomas: Die Geschichten von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde. Übertr. von Helmut Findeisen auf der Grundlage der Lachmannschen Übers. Mit einem Nachw. von Walter Martin. Mit Ill. von Aubrey Beardsley. Frankfurt am Main u.a.: Insel, 2006. NENNIUS: Britsh History and The Welsh annals. Edited and translated by John Morris. London and Chichester: Phillimore, 1980. NENNIUS: Historia Brittonum. Zweisprachige Ausgabe Lateinisch-Deutsch. Übersetzt, eingeleitet u. erläutert von Günter Klawes. Wiesbaden: Marix, 2012.
88 KA 2004: 02:07:41-02:08:58.
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The Mabinogion. Translated with an introduction by Jeffrey Gantz. Harmondsworth: Penguin Books, 1976. The Red Book of Hergest. Early Manuscripts at Oxford Universitiy: MS 111 [http://image.ox.ac.uk/] [15.01.15]. The White Book of Rhydderch. The National Library of Wales: Peniarth MS 4 [http://www.llgc.org.uk] [15.01.15]. WACE: Le Roman de Brut. In: LANGOSCH & LANGE 1980. S. 72-161. WOLFRAM VON ESCHENBACH: Parzival. [Text und Übersetzung]. Mittelhochdt. Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit Einführungen zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der ‚Parzival‘-Interpretation von Bernd Schirok. Berlin u.a.: DeGruyter, 2003. Filme und Serien Camelot D 2012 (Serie). Der erste Ritter [orig. First Knight]. Regie: Jerry Zucker. USA 1995. Die Hexe und der Zauberer [orig. The Sword in the Stone]. Regie: Wolfgang Reitherman. USA 1963. Die letzte Legion [orig. The Last Legion]. Regie: Doug Lefler. UK u.a. 2007. Die Nebel von Avalon [orig. The Mists of Avalon]. Regie: Uli Edel. USA u.a. 2001 (TV-Film). Die Ritter der Kokosnuß [orig. Monty Python and the Holy Grail]. Regie: Terry Gilliam und Terry Jones. UK 1975. Die Ritter der Tafelrunde [orig. Knights of the Round Table]. Regie: Richard Thorpe. USA/UK 1953. Excalibur. Regie: John Boorman. USA/UK 1981. King Arthur (Director’s Cut). Regie: Antoine Fuqua. USA/UK 2004. Merlin – Die neuen Abenteuer [orig.: Merlin]. UK 2008-2012 (Serie). Merlin. Regie: Steve Barron. USA/GB 1998 (TV-Film). Perceval le Gallois Regie: Eric Rohmer. F u.a.1978.
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Sekundärliteratur Blood on the Land. The Making of a King. In: KA 2004: Extras. CASTLEDEN, Rodney: King Arthur. The truth behind the legend. London u.a.: Routledge, 2003 [2000]. Die Legende von König Artus. (orig. Quest for King Arthur). Regie: Don Campbell. TV-Documentary USA 2004. HIGHAM, Nicholas J.: King Arthur. Myth-making and history. London, New York: Routledge, 2002. IMDb.com KLAWES, Günter: Einleitung. In: NENNIUS 2012. S. 7-10. LITTLETON, C. Scott & MALCOR, Linda A.: From Scythia to Camelot. A Radical Reassessment of the Legends of King Arthur the Knights of the Round Table and the Holy Grail. London, New York: Garland, 2000 [1994]. MARTIN, Walter: Nachwort. In: Malory 2006. S. 1011-1057. WOLF, Jürgen: Auf der Suche nach König Artus. Mythos und Wahrheit. Darmstadt: WBG, 2009.
Necronomicon Das Buch, das nicht sein durfte A NDRÉ R EICHART
A fictional grimoire called the Necronomicon invented by H.P. Lovecraft has had a strange career. Starting as a part of a plot inventory it developed into a distinctive mark for the Lovecraft fandom, became the cipher for a whole era of the American horror film and turned into a real magic book. This development and the functional changes of the Necronomicon depending on the particular cultural environments are the topics of the article.
Kennen Sie das Necronomicon oder wissen Sie von dem Necronomicon? Bereits in dieser kleinen Verschiebung der Formulierung liegt die gesamte Faszination für dieses Buch. Einmal für dieses Phänomen sensibilisiert, werden Sie das Necronomicon an den unterschiedlichsten Stellen in der Populärkultur wiederfinden. Es sind unzählige kleine Referenzen, Andeutungen, Übernahmen oder Parodien, gleich einer Spur aus Brotkrumen. Aber genau wie diese, führt auch diese Spur zu einer leeren Stelle. Einmal den Weg zu Ende beschritten, bietet sich Ihnen nichts. Vielleicht ist diese Leere so unerträglich, dass es dort etwas geben muss.
H ISTORISCHE S PUREN
EINES VERBOTENEN
B UCHES
Dabei hat dieses Buch alles, was es benötigt, um ein wirklich echtes Buch zu sein. So besitzt es etwa eine Geschichte, die von seiner Macht, seiner
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Faszination und den Gefahren, die von ihm ausgehen, erzählt. Fragmentarisch skizziert und unprätentiös rau ist sie zusammengetragen, kaum Ausschmückungen enthält sie in ihrer ersten Fassung.1 Im Jahre 738 n. Chr. soll der arabische Poet Abdul Alhazred ein Buch namens Al Azif in Damaskus fertiggestellt haben. Es ist das Ergebnis einer 10-jährigen Wanderung durch die Wüste Roba el Ehaliyeh im Süden Arabiens. Laut seines Biographen Ebn Khallikan aus dem 12. Jahrhundert behauptete der aus dem Sanaa im Yemen stammende Autor des Buches, er habe während der Wanderung das sagenumwobene Irem, die Stadt der Säulen, gesehen. Zudem will er in den Ruinen einer namenlosen Wüstenstadt Artefakte und Zeugnisse einer Kultur gefunden haben, die weit älter sei als jegliche menschliche Zivilisation. Diese Geheimnisse und Zaubersprüche habe nun Abdul Alhazred, den viele deswegen den wahnsinnigen Araber nennen würden, im Buch Al Azif niedergeschrieben. Lange Zeit zirkuliert das Buch in geheimen Kreisen und Bruderschaften, bis es schließlich 950 von Theodorus Philetas ins Griechische übersetzt wird, wobei er ihm jenen Titel gibt, unter dem es bis heute bekannt ist: Necronomicon. 1050 erlässt der Patriarch Michael (von Konstantinopel) ein Gesetz, das das Necronomicon verbietet und vorsieht, jegliche im Umlauf befindliche Kopie zu verbrennen. Dies ist möglicherweise der Grund, weshalb für fast zweihundert Jahre keine weiteren Zeugnisse über die Schrift existieren, bis im Jahre 1228 Olaus Wormius schließlich eine lateinische Übersetzung aus dem Griechischen anfertigt. Doch bereits kurz nach dem Erscheinen ächtet 1232 Papst Gregor der IX. den lateinischen und den griechischen Text und seit dieser Zeit gilt auch das arabische Original als endgültig verschollen. Obwohl das Necronomicon auf den Index der Kirche gesetzt wird, schafft es das Dokument dennoch einmal im 15. und ein weiteres Mal im 17. Jahrhundert in den Druck. Im Jahr 1571 fertigt zudem der Hofmagier der Königin Elizabeth, John Dee, eine Abschrift des griechischen Textes an, die aber fragmentarisch bleibt. Die letzte Kopie des griechischen Textes ist möglicherweise endgültig bei einem Brand in Salem Anfang des 20. Jahrhunderts vernichtet worden, wenngleich sich Gerüchten zufolge ein weiteres Exemplar im Privatbesitz der Familie Pickmann in Nordamerika bis zum Verschwinden Richard Pickmanns 1926 befunden haben soll. Fünf Exemplare des lateinischen Textes existieren jeweils im British Museum unter
1
Vgl. LOVECRAFT 2003: 303-305.
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Verschluss und in der Bibliothèque Nationale in Paris, in der Widener Library in Harvard, in der Bibliothek der Miskatonic Universität in Arkham und in der Bibliothek der Universität zu Buenos Aires. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass zahlreiche weitere Exemplare im Verborgenen noch vorhanden sind. Über den Inhalt des Buches ist viel spekuliert worden. Dank eines Verweises ist belegt, dass es mindestens 751 Seiten umfassen muss. Außerdem enthält es eine dämonische Kosmologie. Es schildert die Geschichte, Herkunft und Hierarchie von Gottheiten, die als die „Großen Alten“ bezeichnet werden. Zudem beinhaltet es magische Anweisungen und Zauberformeln, Beschwörungsformeln und Rituale sowie Informationen über Kultstätten und Portale in andere Dimensionen. Das Necronomicon selbst ist mit vielen Gerüchten stigmatisiert, die unter anderem besagen, dass das Lesen des Buches zum Wahnsinn führen könne.2 Doch das Buch Necronomicon und alles, was an Informationen zu seiner Entstehung und seinem Inhalt eingangs zu lesen war, beruhen auf den Erzählungen und Schriften des inzwischen weltbekannten amerikanischen Horrorgeschichten-Autors Howard Phillips Lovecraft.3 Es ist seine Erfindung, seine Requisite, die er eigens für jene Erzählwelt seiner Geschichten kreiert, die sich von denen seiner Zeitgenossen durch eine beklemmende Homogenität unterscheidet. Das Necronomicon spielt in diesem Kosmos Lovecrafts eine wichtige – wenn auch keine zentrale – Rolle, als Teil einer in Ansätzen geschlossenen fiktiven Mythologie,4 auf die in Bruchstücken und nie vollständig erklärt in den Geschichten immer wieder Bezug genommen wird. Es ist zu Beginn also ein Element für eine phantastische Welt, das sicherlich nicht untypisch
2 3
Vgl. LOVECRAFT 2003: 303-305. Tatsächlich ließe sich die fiktive Historie des Grimoire noch komplexer darstellen, nähme man die Ergänzungen der Autoren hinzu, die in der Nachfolge Lovecrafts das Necronomicon in ihren Texten, Filmen und Computerspielen mit verwenden. Um die Geschichte klein und anschaulich zu halten, sind hier nur die von Lovecraft erdachten Daten erwähnt. Vgl. HARMS 2008: 341-359.
4
Der von Lovecraft initiierte und dann von Schriftstellerkollegen, darunter besonders August Derleth, weitergeführte aber auch stark veränderte CthulhuMythos hat vielleicht eine noch größere Relevanz für die Populärkultur als das Necronomicon selbst. Vgl. JOSHI 2007: 97ff.
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für phantastische Erzählungen allgemein ist. Vielmehr ist es wohl eher prototypisch für eine judäo-christliche Kultur, die ihren Ursprung auf Wort und Schrift konzentriert und diesen Ursprung nur ehrfürchtig das Buch der Bücher nennt. Bereits in The Nameless City findet sich ein Hinweis auf den Verfasser, den wahnsinnigen Araber Abdul Alhazred,5 und ein Jahr später wird es in The Hound dann erstmalig als Necronomicon erwähnt.6 Von da an durchzieht jenes Kitab (arabisch: Buch) eine Vielzahl der Erzählungen Lovecrafts.7 Gegen Ende 1927 verfasst Lovecraft eine kurze Geschichte des Necronomicons, möglicherweise auch, um sich nicht in den Erzählungen zu widersprechen. Diese wird erstmals posthum 1967 in Necronomicon: A Study von Mark Owings und Jack Chalker veröffentlicht.8 Die Präsentation des Buches oder eine Referenz auf dieses kann ganz unterschiedlich und je nach benötigter Funktion ausfallen. An einer Passage aus der Erzählung The Case of Charles Dexter Ward lässt sich jedoch eine für Lovecraft essentielle poetologische Strategie veranschaulichen, die in diesem Kontext nicht unerheblich für das Phänomen ‚Necronomicon‘ ist: „The bizarre collection, besides a host of standard works which Mr. Merritt was not too alarmed to envy, embraced nearly all the cabbalists, daemonologists, and magicians known to man; and was a treasure-house of lore in the doubtful realms of alchemy and astrology. Hermes Trismegistus in Mesnard’s edition, the Turba Philosophorum, Geber’s Liber Investigationis, and Artephius’ Key of Wisdom all were there; […] Mediaeval Jews and Arabs were represented in profusion, and Mr. Merritt turned pale when, upon taking down a fine volume conspicuously labelled as the Qanoon-e-Islam, he found it was in truth the forbidden Necronomicon of the mad Arab Abdul Alhazred […].“9
Als Requisite im okkulten Interieur befindet sich das Necronomicon in historischer Gesellschaft. Die meisten der aufgeführten Werke existieren wirk-
5
LOVECRAFT 1921.
6
LOVECRAFT 1922.
7
Es existiert in mindestens 19 Erzählungen ein Bezug zum Buch, darunter The Call of the Cthulhu (1926), At the Mountains of Madness (1931), The Shadow out of Time (1935) und The Haunter of the Dark (1936).
8
OWINGS 1967.
9
LOVECRAFT 1999: 161.
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lich und auch das ‚Versteck‘ das Buches selbst, seine Tarnung als „Qanoon-e-Islam“, verweist auf eine tatsächliche Publikation.10 Hier erscheint eine spielerische Inszenierung zwischen Fiktionalem und Faktualem, indem jenes phantastische Buch in die Reihe von historischen Werken eingegliedert wird. Eine Strategie, die Dan Clore für essentiell bei Lovecraft hält und die er mit dem Verfahren einer absichtlichen Falschmeldung (Hoax) vergleicht. Sie basiert auf der Idee, eine phantastische Geschichte (Weird Tale) glaubwürdig zu gestalten, indem man sie im Gebrauch der Worte und in ihrem Aufbau eher einem Bericht annähert. Dagegen versucht die frühere Poetik etwa von Edgar Allen Poe, mit den Mitteln der Sprache selbst, also nach den ästhetischen Regeln phantastischen Erzählens, Spannung und Grauen zu erzeugen.11 Glaubwürdigkeit und Wirkung der Erzählung und damit vor allem das Hervorrufen von Schrecken und Schaudern sind in dieser Auffassung untrennbar verbunden. Tatsächlich kommt der Begriff Hoax bei Lovecraft in seiner wichtigsten poetologischen Schrift Supernatural Horror in Literature nicht vor.12 Clore stützt sich auf ein Schreiben an Clark Ashton Smith vom 17. Oktober 1930, in dem Lovecraft mit dieser Bezeichnung sein Konstruktionsprinzip zusammenfasst.13 Die durch ihre Paratexte von den faktualen Texten getrennte Schauerliteratur, konstituiert sich durch ihre jeweils epochal veränderlichen Schreibkonventionen. Lovecrafts Vorschlag für die neue Poetologie des Unheimlichen besteht nun in einer gezielten Mimikry. Nicht mit Wortwahl, Duktus oder Rhythmus, wie noch bei Edgar A. Poe, soll das Schauerliche erreicht werden, sondern durch die Annäherung an einen rationalen und damit reflektierten, aufgeklärten Diskurs, dem das Metaphysische fremd ist. Die Mittel zur Erzeugung des Unheimlichen sind die Mittel des objektiven Berichts. Gerade die Plausibilisierung des Unmöglichen soll die vernünftig gefestigte Weltanschauung erschüttern. Die Konzeption der Weird Tale als Hoax ist hierbei laut Clore ein essentielles Strukturprinzip seiner Poetologie.
10 SHARĪF 1832. 11 CLORE 2001: o.S. 12 LOVECRAFT 1927. 13 CLORE 2001: o.S.
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In diesem Sinne verschiebt sich an einer Stelle aus The Haunter of the Dark das Spiel mit wirklichen Werken oder für existent erklärten um eine weitere Nuance: „In a rear vestry room beside the apse Blake found a rotting desk and ceiling-high shelves of mildewed, disintegrating books. Here for the first time he received a positive shock of objective horror, for the titles of those books told him much. […] He had himself read many of them—a Latin version of the abhorred Necronomicon, the sinister Liber Ivonis, the infamous Cultes des Goules of Comte d’Erlette, the Unaussprechlichen Kulten of von Junzt, and old Ludvig Prinn’s hellish De Vermis Mysteriis. But there were others he had known merely by reputation or not at all— the Pnakotic Manuscripts, the Book of Dzyan, and a crumbling volume in wholly unidentifiable characters yet with certain symbols and diagrams shudderingly recognisable to the occult student.“14
In diesem Fall wird in geschickter Weise und sicherlich auch nicht ohne Ironie die Problematik des Fiktionalen und Faktualen in den Text verwoben. Handelt es sich doch bei allen anderen Werken mit den klangvollen Namen, unter anderem das schon bekannte Necronomicon, um reine Erfindungen, so referiert „The Book of Dzyan“15 auf eine ganz ernst gemeinte Schöpfung. Dieses Buch wird nicht zuerst in einer Erzählung erwähnt, sondern von Madame Blavatsky in The Secret Doctrine (1888), wo sie behauptet, es selbst in Tibet gesehen zu haben und dass es seitdem eine der Grundlagen für ihr metaphysisches Weltbild darstelle.16 Blavatsky, eine Theosophin des 19. Jahrhunderts, genießt auch zu Lovecrafts Lebzeit noch eine hohe Popularität.17 Die Einreihung dieses Grundlagenwerks unter die anderen Werke darf hier sicherlich nicht als Authentifizierungsstrategie, sondern als ironische Positionierung Lovecrafts verstanden werden, der einer ent-
14 LOVECRAFT 1936: 1. 15 Eigentlich Stanzas of Dzyan. – Vgl. GOODRICK-CLARKE 2008: 223. 16 Vgl. GOODRICK-CLARKE 2008: 223. 17 Helena Petrovna Blavatsky (1831-1891) bildet mit ihrer komplexen und kohärenten Neuinterpretation der bis dahin wichtigen esoterischen Traditionen die Grundlage für das okkulte Denken nicht nur im anglo-amerikanischen Raum des 20. Jahrhunderts. – Vgl. GOODRICK-CLARKE 2008: 225ff.; DOERINGMANTEUFFEL 2008: 194ff.
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scheidenden esoterischen Strömung ihren Platz in der phantastischen Erzählung zuweist. Noch eine andere Praxis offenbart sich in diesem Zitat, denn die übrigen Bücher, ausgenommen das Necronomicon natürlich, sind Erfindungen von Schriftstellerkollegen, die mit Lovecraft in Kontakt stehen.18 Lovecraft übernimmt nicht nur phantastische Bücher von seinen Kollegen und vice versa, sondern es findet auch ein reger Austausch von phantastischen Wesen statt, so dass Schöpfungen eines Autoren in Erzählungen anderer Schriftsteller ebenfalls erscheinen. Gerade Lovecraft erhofft sich von den Bezügen der einzelnen Texte untereinander, indem Wesen aus einer fremden Welt bei verschiedenen Autoren Erwähnung finden, die Schaffung eines virtuellen Kosmos. Dieser soll einem artifiziellen Mythos gleich als Hintergrund zu den unterschiedlichen Werken dienen, wobei der Kosmos zwar immer wieder durchscheint, aber nie wirklich greifbar wird.19 Lovecraft spricht hier auch von ‚Hintergrundmaterial‘; also ist letztlich die Konstruktion eines diegetischen Kosmos’, an dem die einzelnen diegetischen Welten wiederum partizipieren, das Ziel. Entscheidend hierbei ist, dass aber diese Verbindungen Andeutungen bleiben, dass nie vollständig erschöpfend beschrieben wird, sondern dass das Dargestellte in einer Ambiguität verbleibt.20 Diese Technik der intertextuellen Verweise kann einen Effekt produzieren, den ich als pseudo-textexterne Referenz bezeichnen möchte. Sie suggeriert, dass die unterschiedlichen Autoren auf etwas verweisen, das nicht Teil der diegetischen Welt (oder eines anderen Textes) sei, sondern dessen Ursprung außerhalb des Textes läge. Was im Grunde hier geschieht, ist, dass fiktionale Quellen anderen fiktionalen Quellen attestieren, faktuale Informationen zu transportieren, indem sie die Elemente als gegeben behandeln.21 Dies geschieht nicht explizit, sondern es ist der Rezipient, der seine Rückschlüsse zieht, dadurch dass
18 Vgl. JOSHI 2007: 101. 19 Vgl. JOSHI 2007: 115. 20 Massimo Berruti bezeichnet dieses Vorgehen als „cosmic hint“ und stellt heraus, dass die Ambiguität ganz essentiell für die Konzeption der Erzählungen Lovecrafts ist. Letztlich zielt sie auf das Konzept ab, eine Kooperation des Lesers mit dem Text zu provozieren, indem dieser Rückschlüsse über das Präsentierte anstellt, Fehlendes so selber ergänzt. Vgl.: BERRUTI 2004: 364ff. 21 CLORE 2001: o.S.
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a) er an verschiedenen Stellen auf die Elemente trifft und b) sie nicht zum kollektiven Vorstellungsschatz der erfundenen Dinge gehören, wie das etwa bei Drachen und Einhörnern der Fall wäre. Im Sinne der Plausibilitätsforderung Lovecrafts ist es stattdessen durchaus möglich, dass es ein solches Zauberbuch geben könnte. Es handelt sich hierbei um eine indirekte, intertextuelle Authentifizierungsstrategie, die vor allem deshalb wirkmächtig ist, weil der Rezipient scheinbar zufällig durch das Lesen verschiedener Geschichten von unterschiedlichen Autoren immer auf dasselbe Element stößt. Das inzwischen starke und umfangreiche Fandom zu Lovecrafts Schriften, seinen Erfindungen und dem mit ihm assoziierten Cthulhu-Mythos hebt deshalb folgerichtig dieses Spiel der Verweise und Authentifizierungen auf eine weitere mediale Ebene. Mit Hilfe des Mediums Internet wird die Grenze zwischen Faktualem und Fiktionalem erneut in Frage gestellt. Der Einfallsreichtum der Fans scheint dabei ebenso groß, wie ihre Bereitschaft mit Aufwand die Ideen umzusetzen. So erhält etwa die fiktionale Miscatonic Universität eine eigene Internetpräsenz. Die ehemals rein diegetischen Elemente, wie das Wesen Cthulhu, der Ort Arkham oder die Miskatonic Universität, sind nun zugleich auch Erkennungszeichen derjenigen, die an der phantastischen Welt lovecraftscher Prägung teilhaben. Die vorrangige Funktion dieser Insignien, Motive und Anspielungen ist sicherlich die Förderung einer Zusammengehörigkeit der Fans untereinander. Deshalb kann man auf der Internetseite (und nicht nur dort) T-Shirts, Tassen oder Diplome der Universität erwerben, um sich damit gleichsam aber auch für andere Gleichgesinnte zu erkennen geben zu können. Die Praxis des Verweises unterschiedlicher fiktionaler Texte (im weiteren Sinne) aufeinander, um wiederum einen fiktionalen Ausgangstext zu beglaubigen, möchte ich als zirkulären Hoax bezeichnen. Ein (Peripher-)Effekt kann sein, dass Schauder erzeugt wird, wenn sich beim spielerischen Überprüfen einzelner Elemente einer Horrorgeschichte zur großen Überraschung herausstellt, dass nun jene Universität nebst Buch vermeintlich tatsächlich existieren. Wo nun doch möglich ist, was nicht möglich sein kann, vertauschen Elemente ihren Platz und finden sich an Orten wieder, wo sie nicht hingehören. Die wichtige Separation zwischen dem Natürlichen und dem Unnatürlichen ist kurzzeitig erschüttert. Die Technik stellt eine inter- und paratextuelle Authentifizierungsstrategie dar. Sie verbleibt solange ein zirkulärer Hoax, wie die untereinander auf sich verwei-
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senden Quellen als fiktional ausgewiesen sind. Tritt hingegen eine Quelle hinzu, die selbst als faktual ausgewiesen ist, bekommt das Phänomen eine andere Qualität und ist dann kein zirkulärer Hoax mehr.22
D IE
DURCHWOBENE
P OPULÄRKULTUR
Es ist nicht möglich, sämtliche Zitate, Verweise und Anspielungen zu nennen, die sich auf das Necronomicon beziehen. Die lediglich exemplarisch im Folgenden herausgegriffenen sollen veranschaulichen, dass in vielen Medientypen der Populärkultur eine Verwendung stattfindet.23 Die einzelnen Beispiele lassen sich grundsätzlich unterteilen in jene Bezüge, die eine Referenz zu Lovecraft beinhalten, und solche, die diese tilgen, bzw. ein Wissen um diese Verbindung voraussetzen, ohne sie explizit anzuführen. In der deutschsprachigen Literatur spielt das Necronomicon eine größere Rolle in der Serie Der Hexer – Die phantastischen Abenteuer des Robert Craven, etwa in Band 31 Die Macht des Necronomicon. Auch die Folgepublikationen zu dieser Reihe, eingeschlossen der Magier-Zyklus, der 1989 veröffentlicht wird, partizipieren nicht nur am lovecraftschen CthulhuMythos, sondern binden auch das Necronomicon aktiv mit ein. Die Verbindung zu Lovecraft bleibt ganz präsent, der Protagonist des Magier-Zyklus, Robert Craven II., macht sich mit Lovecraft selbst auf den Weg, um das
22 Möglicherweise passiert sie dann die Grenze zur Urban Legend. Die Trennung zwischen klar als fiktional und klar als faktual ausgewiesenen Texten ist an dieser Stelle eine idealisierte Annahme, an der sich aber selbst in ihrer Abstraktion die Problematik des Folgenden illustrieren lässt. Vgl. GROEBEN & DUTT 2011: 65f. 23 Umfangreiche, aber nicht vollständige Listen finden sich bereits im WikipediaEintrag zum Necronomicon, ebenso wie auf der speziell Lovecrafts Werken gewidmeten Seite von Donovan K. Loucks, S. T. Joshi und David E. Schultz: http://www.hplovecraft.com/popcult/ [12.10.11] und im auf den Cthulhu-Mythos spezialisierten Wiki http://www.yog-sothoth.com/wiki/index.php/The_Ne cronomicon_in_Popular_Culture [03.05.12].
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Buch wiederzufinden.24 Darauf basierend erscheint 2003 von Michael Nagula Das Necronomicon des Robert Craven.25 Ein Beispiel für eine vollständig losgelöste Verwendung ist der bereits 1977 veröffentlichte Kunstbildband mit dem Titel Necronomicon I des Schweizer Künstlers H.R. Giger,26 der damit den Begriff vor allem nach dem Erfolg des Films Alien weiter popularisiert.27 Auch im Medium des Computer- und Konsolenspiels hat das Necronomicon Einzug gefunden und ebenso hier in beiderlei Verwendungsform, als mit Lovecraft in Verbindung gesetzt oder von diesem losgelöst als eigenständiges Motiv. Im Spiel Necronomicon von FTP Soft ist es nicht nur titelgebend, sondern der Spieler wird auf die Suche nach dem besagten Buch geschickt. Auch im PC-Titel Scratches von Nucleosys darf die Verwendung sicherlich als Hommage verstanden werden, da gleich zu Beginn des Adventures Hinweise zu den Geschichten Lovecrafts gefunden werden können. Hingegen verwendet das Spiel Castlevania: Legacy of Darkness (1999) auf der N64 von Nintendo und Teil der erfolgreichen CastlevaniaSerie von Konami das Necronomicon lediglich als Dekoration für sein Start-Menü. Es gibt keinen direkten Bezug zu Lovecraft und das Buch wird innerhalb des Spiels auch nicht wieder aufgegriffen. Da aber das Spiel einen hohen Bekanntheitsgrad in Japan genießt, belegt es damit auch das Wissen um diesen Begriff dort. Manchmal beziehen sich Anspielungen nicht mehr auf die ursprüngliche Quelle, sondern referieren auf eine bereits entlehnte Verwendung. So kann es dem Spieler in Quest for Glory 4 (1993) gleich am Anfang widerfahren, dass er von einem in Menschenhaut gefassten Buch verschlungen wird. Selbiges passiert beinahe dem Protagonisten des Filmes Evil Dead III bei der Entdeckung des Necronomicons. Ein analoges Ereignis aber existiert in den Erzählungen Lovecrafts nicht.
24 HOHLBEIN 1999. 25 NAGULA 2003. 26 GIGER 1977. 27 Giger entwirft für Ridley Scott Szenen-Designs, aber vor allem das Monster im Film.
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V ON DER R EQUISITE
ZUR
C HIFFRE
Es ist fraglich, ob die reine Verbreitung über phantastische Literatur und die Weiterverarbeitung durch ihre Rezipienten ausreichend ist, um die Popularität zu erklären, die das Necronomicon heute besitzt. Wenngleich sie auch nicht unterschätzt werden darf und sie das nun Folgende bedingt, halte ich eine weitere populärkulturelle Entwicklung für mindestens ebenso relevant. Die Verwendung des Buchs im Spiel Quest for Glory 4 zeigt, dass offensichtlich nicht nur literarische, sondern auch eine filmische Repräsentation in die Entwicklung einzubeziehen ist. Anhand der Entwicklung der Verwendung des Necronomicons im amerikanischen Horrorfilm lässt sich sowohl der Prozess der Loslösung von seinem ursprünglichen Kontext veranschaulichen als auch die Zunahme der Popularität des Begriffes Necronomicon, der wiederum über diesen Prozess zusätzliche kulturelle Funktionen erhält. Lovecrafts Erzählungen als Vorlagen oder Inspirationen für Drehbücher haben längst einen Stellenwert erlangt, der vergleichbar ist mit dem der Werke des Science-Fiction-Autors Phillip K. Dick. Berücksichtigt man die Filme, die von Lovecrafts Erzählungen inspiriert oder an diese angelehnt sind, ergibt sich eine Liste mit bis zu 45 Filmen. Die IMDb verlinkt den Autor 2008 sogar mit über 70, inzwischen mit 137 Filmen, was vor allem mit den vielen Independent- und Kurzfilmen zusammenhängt, deren Regisseure offensichtlich eine hohe Affinität zu den Werken Lovecrafts zeigen.28 Anhand der Verwendung des Necronomicons innerhalb des Genres des amerikanischen Horrorfilms lassen sich die verschiedenen Strategien der medialen und intermedialen Übernahme veranschaulichen, die sich in den anderen Medien ebenso wiederfinden. Ein in dieser Hinsicht wichtiges Werk ist Sam Raimis Autorenfilm Evil Dead II – Dead by Dawn.29 Bereits im Vorgänger Evil Dead spielt das Necronomicon als Beschwörungsbuch dunkler Mächte eine wichtige Rolle, wenngleich es dort den Titel „Naturom Demonto“ trägt.30 Jedoch verweist es über eine Vielzahl von Anspielungen auf die Erfindungen Lovecrafts.31
28 http://www.imdb.com/name/nm0522454/ [20.11.2014]. 29 RAIMI 1987. 30 RAIMI 1981. 31 Vgl. MITCHEL 2001: 105.
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Die Evil- Dead Trilogie markiert vermutlich den Höhepunkt der Popularität des Necronomicons für den amerikanischen Horrorfilm und sie ist darüber hinaus maßgeblich stilbildend für die Horrorfilmästhetik der 80er Jahre. Die beiden ersten Teile basieren direkt auf Raimis filmischer Vorstudie Within the Woods.32 Sie besitzen nahezu identische Plots, die nur mit immer besseren Mitteln umgesetzt werden konnten, da von Film zu Film mehr Budget zur Verfügung stand. Hierbei ist interessant, dass in Within the Woods noch ein Indianer-Friedhof für die Revokation der Toten, in den folgenden Versionen aber das besagte Buch der Toten verantwortlich ist. Within the Woods weist überdies deutliche Parallelen zu dem früheren, ebenfalls für Fan-Kreise wichtigen Film Equinox von Jack Woods auf, der ebenso das Necronomicon in seinen Film einbindet.33 In jedem Fall bedeutet es, dass Raimi bei Evil Dead II bereits auf eine gut informierte Fangemeinde vertrauen konnte. Die Technik der pseudo-textexternen Referenz wird strukturell übernommen, indem das Objekt im neuen Zeichensystem weiterverwendet wird, ohne einen direkten Verweis als Zitat kenntlich zu machen. Das Buch als wiederkehrende Requisite, die abgelöst von seinem ursprünglichen Kontext existiert, entspricht dem Austausch der einzelnen diegetischen Elemente des Schriftstellerkreises um Lovecraft. Rezipienten, die das Vorwissen nicht teilen, können den Ursprung nicht rekonstruieren. Der Effekt jedoch bleibt derselbe: die Etablierung der indirekten Authentifizierungsstrategie durch eine angenommene außerfilmische Quelle. Die Art der Verwendung ist paradigmatisch für einen Prozess, der bei diesen Filmen bereits abgeschlossen ist, denn es ist hier von seinem Ursprungskontext befreit und fungiert frei als Accessoire, Plot-Geber oder lediglich als Requisite eines Genres. Die bisher genannten Filme sind aber nicht die erstmalige Verwendung des Buches. Die Verwendung im kommerziellen Film beginnt mit der Entdeckung der Schriften Howard Phillips Lovecrafts für die Filmindustrie. Die Voraussetzungen hierfür sind die Edition und Publikation seiner Werke durch August Derleth. 1963 inszeniert Roger Corman The Haunted Palace (dt. Die Folterkammer des Hexenjägers),34 der allerdings auf Betreiben des
32 RAIMI 1978. 33 WOODS 1970. 34 CORMAN 1963.
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AIP-Vertriebs als Verfilmung des Gedichtes Haunted Palace von Poe läuft. Dem liegen wirtschaftliche Überlegungen zu Grunde, da das Studio bereits zuvor mit Corman-Verfilmungen von Poe-Erzählungen viel Geld verdient hatte.35 Der Film orientiert sich aber relativ strikt am Handlungsverlauf der Erzählung The Case of Charles Dexter Ward und kann somit als erste Produktion, basierend auf einer Lovecraft-Erzählung, sowie die erste Verwendung des Necronomicons gelten.36 Roger Corman selbst wollte es als Lovecraft-Verfilmung ausgewiesen wissen und im Abspann ist auch ein Vermerk diesbezüglich zu finden.37 Sieben Jahre später besitzt der Name Lovecraft offenbar mehr Zugkraft, denn The Dunwich Horror wird als Romanverfilmung beworben. Dass dies bereits 1968 für den Begriff Necronomicon in Kreisen der Filmverleiher gegolten hat, zeigt der in diesem Jahr im deutschen Verleih erscheinende spanische Film Succubus von Jesus Franco unter dem Titel Necronomicon – Geträumte Sünden. Da zwar ein Buch als Plot-Geber fungiert, aber nicht explizit als Necronomicon bezeichnet wird und ansonsten auch keinerlei Parallelen zu einer Erzählung Lovecrafts vorliegen, kann hier von einer erhofften Werbewirkung ausgegangen werden. Seit Raimis erstem Teil der Serie erscheinen weitere Filme, in denen das Necronomicon Bestandteil der Handlung ist, die sich wiederum teilweise an Lovecrafts Erzählungen orientieren oder zumindest auf seine Autorschaft verweisen, wie The Unnamable (1988), The Unnamable II (1992) und Forever Evil (1987).38 Mit der 1996 erstmalig und von dort an unregelmäßig erscheinenden Aufsatzsammlung Necronomicon: the journal of horror and erotic cinema, herausgegeben von Andy Black, in der essayistische bis filmtheoretische Abhandlungen um das Genre Horrorfilm zusammengefasst werden, avanciert das Necronomicon zu einer Chiffre für eine Epoche des Films.39 Der Begriff vereinigt das Obskure, Groteske und Schreckliche und fungiert als Inbegriff der Ästhetik des amerikanischen
35 Vgl. SMITH 2005: 41f. 36 Sicherlich muss hierbei weiter geprüft werden, ob es sich um die erste Nennung in einem Film handelt, nach bisheriger Auswertung der zur Verfügung stehenden Quellen hat es aber diesen Anschein. 37 Vgl. SMITH 2005: 41f. 38 GONCE 2003c: 243. 39 BLACK 1996.
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Horrorfilms, der im Wechselspiel von Einfluss und Beeinflussung sich wiederum auf Independent-Horrorfilme außerhalb von Nordamerika überträgt. Nicht weil die Schriftenreihe den Begriff hinsichtlich dieser Aspekte weiter ausdifferenziert, sondern weil er bereits als paradigmatisch gilt und deshalb von der Sammlung im Titel mit dieser Funktion verwendet wird, übernimmt er die Funktion einer Chiffre. Raimi setzt auch den Endpunkt der euphorischen Verwendungsphase im Film. Ich gehe davon aus, dass jede motivische Entwicklung eine Phase der Stagnation und damit einen vorübergehenden Höhepunkt erreicht hat, wenn eine Parodie auf diese entsteht. Für eine Parodie ist es nötig, ein klares Muster mit einem hohen Wiedererkennungswert und einem entsprechenden Bekanntheitsgrad so verfremden zu können, dass daraus Komik entstehen kann. Dies ist weder die einzige, noch die absolute Form der Parodie, aber eine ihrer nötigen Voraussetzungen. Es bedeutet nicht, dass damit das Ende einer bestimmten motivischen Verwendung, ihr Wiederaufleben oder eine Weiterentwicklung folgen müsste. Es ist lediglich ein Indikator für einen bestimmten Bekanntheits- und Reflexionsgrad eines verwendeten Musters. All dies ist aus cineastischer Sicht in Tanz der Teufel III - Armee der Finsternis (Evil Dead 3 - Army of Darkness) gegeben.40 Das Necronomicon als eigenständiges Element im Sujet des Horrorfilms scheint eine derart inflationäre Verwendung erfahren zu haben, dass Raimi dies ironisch aufgreift, wenn er seinen Protagonisten Ash wiederum nach dem legendären Buch suchen lässt, dieser aber drei Necronomicons findet, von denen zwei sich als gefährliche Fälschungen herausstellen. Der Film, der mit sehr vielen genrespezifischen Querverweisen arbeitet, wirkt durch seine derb grotesken komischen Elemente wie eine Abrechnung mit den bisherigen (und damit auch seinen eigenen) Horrorfilmen.
F AKTUALE B ROTKRUMEN Wenn Raimi seinen Helden drei Necronomicons finden lässt, nimmt er möglicherweise noch ein anderes Phänomen in seinen Film mit auf, denn der offensichtlich fiktive Ursprung hält das Necronomicon nicht davon ab
40 RAIMI 1992.
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zu existieren. Nach all den bisherigen Referenzen und seiner Popularität mag es aus heutiger Sicht auch gar nicht verwundern, dass früher oder später jemand der Versuchung erliegen musste, dieses Werk aus dem Reich der Phantasie in die tatsächliche Alltagswelt zu holen. Würde es bei der bloßen Schaffung eines Buches bleiben, wäre an diesem Punkt das Resümee zu ziehen, dass die Erfindungen und Motive Lovecrafts, ähnlich wie die Tolkiens, ihren Platz über den Film und die an ihn angebundene MerchandiseMaschinerie innerhalb der populären Kultur erhalten hätten. Monika Schmitz-Emans zeigt die Parallelen der Praktiken, fiktive Artefakte als Fanartikel zu reproduzieren, bei der Rezeption der Werke Tolkiens, Rowlings und Lovecrafts auf.41 Zwar könnte man dann dem Necronomicon eine gewisse Vorläuferfunktion attestieren, es würde aber keinen nennenswerten qualitativen Unterschied zu den nachfolgenden Artefakten aus anderen Fandoms geben, die bestrebt sind, Teile ihrer favorisierten Welt als greifbare Gegenstände in ihrer Lebenswelt zu etablieren. Tatsächlich liegen die Umstände im Fall des Necronomicons komplexer. Das hat auch damit zu tun, dass die Referenzen auf das Buch eine viel längere Tradition haben und so tiefer greifende Zweifel hinsichtlich einer vielleicht doch möglichen Existenz der Schrift schüren konnten. Denn bevor es publiziert wird, existiert bereits eine Rezension zu ihm. Noch zu Lovecrafts Lebzeiten behandelt die „Faraday Rezension“ das Al Azif als tatsächlich existierendes Buch. Der von Donald Wolfheim verfasste Artikel bespricht in einer kleinen Lokalzeitung von Connecticut die Übersetzung des Olaf-WormiusManuskripts durch W.T. Faraday und ist dort vermutlich zwischen 19341936 publiziert worden. Obwohl Wolfheim mit Lovecraft in Kontakt steht, und ihn wohl auch bewundert, schickt nicht er selbst den Zeitungsausschnitt an Lovecraft, sondern Willis Conover, in dessen Zusammenstellung der Korrespondenz Auszüge aus diesem nachzulesen sind.42 Es bleibt nicht bloß bei Rezensionen, denn am 7. Juli 1945 fragt ein New Yorker Antiquar bei seinen Kollegen die Bücher Necronomicon, Unaussprechliche Kulte und Mycroftʼs Commentaries on Witchcraft an. Ob es sich hierbei um einen Scherz handelt oder der Antiquar auf eine tatsächliche Anfrage reagiert, lässt sich nicht rekonstruieren.
41 SCHMITZ-EMANS 2005: 203. 42 HARMS 2003: 30.
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In den Seminarbibliotheken der Universitäten in Berkeley und Yale grassieren in den 1970ern fingierte Katalogkarten, die das Vorhandensein eines Necronomicons in der Bibliothek verzeichnen. Dass es diese Tradition offensichtlich auch im deutschsprachigen Raum gibt, zeigt ein Eintrag im Gemeinsamen Verbundkatalog GVK, bei dem zu vermuten ist, dass eine solche Karte den Weg in die Digitalisierung geschafft hat. Dass es sich dabei mit großer Wahrscheinlichkeit um eine fingierte Karte handelt, lässt sich z. B. an dem Umfang von 834 Seiten und am Übersetzer Guerau Bernat dʼAlp erkennen. Keine bisher bekannte Ausgabe des Necronomicons weist einen derartigen Umfang auf, auch der Übersetzer erscheint nur in diesem Eintrag.43 Bereits bei diesen Quellen ist jener entscheidende anfangs beschriebene Sprung geleistet bei der der Paratext des fiktionalen Textes diesen nicht mehr als fiktional ausweist. Während bei der Rezension ein Dementi im Nachhinein möglich ist, damit die vorhergehende Quelle wieder als Hoax markiert werden kann, ist dies bei den Katalogkarten der Bibliothek nicht mehr möglich. Ihre Umgebung und die dazu befindlichen dispositiven Strukturen markieren die Karte als grundsätzlich faktualen Informationsträger. So kann auch mein Rückschluss auf Grund der vorherigen Informationen nie ausschließen, dass nicht doch, ob Fälschung oder nicht, eine Ausgabe dieser Art existiert hat und entwendet worden ist. Zumal inzwischen eine Vielzahl von Exemplaren produziert wurde und weiterhin produziert wird, von denen wenigstens die wichtigsten und belegbaren hier kurz vorgestellt werden sollen. Die Necronomicon-Veröffentlichungen lassen sich dabei in zwei Gruppen einteilen: Die eine Gruppe ist die der Fan-KunstPublikationen, die eigentlich für einen Kreis von Kennern der Erzählungen Lovecrafts gedacht sind und phantasievoll und spielerisch mit seinem Universum arbeiten. Sie enthalten meist versteckte Hinweise darauf, dass es sich bei ihnen um einen Spaß handelt, die aber denen, die mit dem Kult um Lovecraft nicht vertraut sind, verborgen bleiben. Die andere Gruppe bildet die der okkulten Schriften, die sich als Magie- und Ritual-Bücher konstituieren und auf eine praktische Anwendung ausgelegt sind. Sie folgen der Tradition magischer Schriften, wie sie seit der Etablierung des Buchmarktes im 18. Jahrhundert, orientiert am jeweiligen Erwartungshorizont der
43 http://gso.gbv.de/DB=2.1/PPNSET?PPN=420424075 [20.11.2014].
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Nachfragenden, produziert werden.44 Ein florierender und wirtschaftsrelevanter Markt für derartige okkulte Literatur besteht auch zu Zeiten Lovecrafts.45 Zum Teil ähnlich wie bei Merchandise-Produkten erzeugt die Logik des Marktes, in diesem Fall ein Interesse der Kundschaft und die daraus resultierende Nachfrage, die vermeintlich authentischen Schriften selbst. Der Zweck jedoch ist ein ganz anderer. Im ersten Fall sind die Merchandise-Produkte eine Weiterführung des fiktionalen Ursprungs, bei der die Welt eines Romans oder eines Films aus einer medialen Umgebung heraus bis in Gegenstände des Alltags erweitert wird. Die Motivation hierfür ist gar nicht so entscheidend, sondern dass die Gegenstände auf ihren fiktionalen Ursprung weiter verweisen. Das Phantastische soll nicht real werden, sondern das Reale einen Hauch des Phantastischen erhalten. Im zweiten Fall wird der fiktionale Ursprung als Indiz für etwas Reales genommen, das in das Fiktionale eingedrungen ist.
ES
SIND IHRER VIELE
…
Das voraussichtlich erste in eigenständiger Buchform publizierte Necronomicon erscheint1973 unter dem Titel Al Azif: The Necronomicon allerdings in der sehr niedrigen Auflagenzahl von 348 Exemplaren. Das De-CampNecronomicon enthält den Abdruck pseudo-arabischer Kaligraphieseiten, die zum Beginn und Ende der Seiten stark variieren, in der Mitte aber nur noch Unterscheidungen in den letzten Zeichen aufweisen.Darüber hinaus wiederholen sich die Seiten. L. Sprague de Camp hat zuvor eine Biographie46 über H.P. Lovecraft verfasst und wurde von George Scithers gebeten, die Einleitung zu dem Buch zu schreiben, dessen Seiten von Robert Dills gestaltet worden waren. De Camp erfindet basierend auf einer tatsächlich von ihm unternommen Reise in den Irak eine Episode, wie das Manuskript ihm von einem irakischen Regierungsbeamten zugespielt worden sein soll. Damit ist das wirklich Interessante der Veröffentlichung der im Verhältnis schmalere Kommentar und vermeintliche Paratext zum eigentlichen Textterm Necronomicon. Das De-Camp-Necronomicon hebt die Funktion
44 BACHTER 2006: 5f.; DOERING-MANTEUFFEL 2008: 19f. und 130f. 45 DAVIS 2009: 232-261. 46 SPRAGUE DE CAMP 1975.
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des Elementes des ‚verbotenen Buches‘ in den Erzählungen Lovecrafts auf eine metatextuelle Ebene unter der Einbindung der Möglichkeiten des Mediums Buch. Der vermeintliche Text verbleibt ‚unleserlich‘, der Inhalt lüftet sein Geheimnis nicht, lediglich der Kommentar, die Aussagen über den unleserlichen Text, produzieren seine Wirkung. Damit bleibt die für Lovecraft so entscheidende Ambiguität gewahrt. Lediglich in der Imagination des Lesers etabliert sich eine vage Vorstellung der Dinge, die womöglich in dem Zauberbuch enthalten sein könnten. Da Paratext und Pseudo-Paratext Verweise auf die Schriften Lovecrafts liefern, ist dieses Necronomicon ein Exemplar der Fan-Kunst, das seinen phantastischen Ursprung nicht verschleiern will. Harms macht den kommerziellen Erfolg des Buches für die Folgepublikationen verantwortlich.47 Bis heute ist Al Azif in einer Wiederauflage von Wildside Press im Handel erhältlich. 1977 wird dann das für die okkulte Szene wichtigste Necronomicon veröffentlicht: das sogenannte Simon-Necronomicon48, das auch abschätzig als ‚Simonomicon‘ bezeichnet wird. Ebenfalls zunächst in einer geringen Auflage von 666 in Leder und 1275 in Stoff gebundenen Exemplaren, folgt 1980 eine zweite Ausgabe im Avon-Verlag, die bis heute im Handel erhältlich ist. Wer der eigentliche Verfasser ist, lässt sich nicht mehr mit absoluter Sicherheit klären. Zumindest darf der Besitzer des Okkultbuchladens Magickal Childe in New York, Herman Slater, als Initiator gelten. Zu seinen Lebzeiten hat er seine Beteiligung an diesem Buch allerdings abgestritten. Im amerikanischen Original wird behauptet, die Rekonstruktion sumerischer49 und mesopotamischer Rituale in einem Manuskript vorgefunden zu haben, das den Herausgebern durch einen dubiosen Priester zugespielt worden sein soll und den Titel Necronomicon trug. Kommentar und Herausgebereinführung schaffen erneut den Nimbus um ein nun lesbares Manuskript, das weit umfangreicher ist als das zuvor veröffentlichte De-Camp-
47 HARMS 2003: 34f. 48 SIMON 1980. Zuerst veröffentlicht 1977 (New York: Schlangekraft). 49 Sumer ist nicht zufällig gewählt, sondern seinerzeit der Inbegriff der mythischen Urquelle magischer Kultur. So wird etwa in dem Film Der Exorzist von 1973 das Böse aus einer Ausgrabungsstelle im Nordirak eingeschleppt. Das SimonNecronomicon selbst enthält mehrfach einen direkten Bezug auf den Film und verwendet den Gott Pazuzu ebenfalls als Äquivalent für Satan. – SIMON 1980: xxxvii.
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Necronomicon. Dennoch wird auch dieses Manuskript als unvollständig und daher inkonsistent bezeichnet. Zudem befinde es sich auch nicht mehr im Besitz des Verlages und es wird gebeten, von Anfragen bezüglich einer Einsicht in das Dokument abzusehen. Hierüber sei man allerdings auch erleichtert, da der Besitz der Schrift sich als lebensgefährlich herausgestellt habe.50 Im vorangestellten Essay findet sich eine Schilderung der Umstände, die zu der Drucklegung des Necronomicons geführt haben sollen; unter anderem wird die Figur des Simon dort kurz umrissen.51 Der weitaus größere Teil beschäftigt sich mit den angeblichen Parallelen zwischen dem Cthulhu-Mythos bei Lovecraft und dem alten sumerischen Götterglauben. Des Weiteren findet ein Vergleich zwischen einzelnen übernatürlichen Elementen der Erzählungen Lovecrafts, zentralen Wesenheiten bei Crowley und dem sumerischen Götterhimmel statt, der schließlich in einer tabellarischen Gegenüberstellung mündet. Mit der Schaffung des Simon-Necronomicons erlangt das Phänomen eine neue Qualität. Waren es bis jetzt verunsichernde Scherze unter mehr oder minder eingeweihten Kennern der Materie, deren Verbreitung und Popularität sich in Grenzen hielt, ist das Simon-Necronomicon nicht nur bis heute weiterhin in Druck, sondern hat auch unter den Neo-Okkultisten eine Eigendynamik erreicht, die sogar durch die Diskreditierung der Schrift als Fälschung nicht aufgehalten worden ist.52 Vieles spricht dafür, dass eine okkulte Gemeinde die Nachfrage und Notwendigkeit der Existenz dieser Schrift bereits vor dem tatsächlichen Erscheinen etabliert hat. So heißt es im Vorwort des Necronomicons in der Aufzählung all jener, denen es gewidmet ist: „Sixth, to all those patient Pagans and Friends of the Craft who waited, and waited for the eventual publication of this tome with baited breath … and something on the stove.“53
50 SIMON 1980: li. 51 SIMON 1980: xi. 52 Das Simon-Necronomicon provoziert noch zwei Folgepublikationen, nämlich The Necronomicon Spellbook und Gates of the Necronomicon, die ebenfalls unter dem Pseudonym ‚Simon‘ veröffentlicht werden. 53 SIMON 1980: Acknowledgments o. S.
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Nur scheint in diesen Zeilen ebenfalls ein Hauch von Ironie durch, wenn ein recht stereotypes Bild evoziert wird von dem Zaubermeister mit dem obligatorischen Hexenkessel über der Feuerstelle. Es ist nicht auszuschließen, dass hier ein Hinweis auf den eigentlichen Ursprung des scheinbar essentiellen magischen Werks zu finden ist. So unterstellt auch Alan Cabal bei Herman Slater eine Kombination aus ideologischer Frustration und pragmatischem Geschäftssinn als eigentliche Motivation für die Schaffung des Buches: „No doubt he’d grown weary of explaining to customers that H.P. Lovecraft’s fabled forbidden tome was a fiction, a plot device for great horror stories and nothing more. He was savvy enough to sell leftover chicken bones as human finger bones to wannabe necromancers, so he surely knew that the market for a ‚ genuine‘ Necronomicon could be huge–with the right packaging.“54
Das Gerücht um und der Wunsch nach seiner Existenz manifestieren sich möglicherweise in direkter Folge zu den Schriften Lovecrafts. Bereits beim De-Camp-Necronomicon weist Harms darauf hin, dass, wenngleich in erheblich geringerem Maße als beim Simon-Necronomicon, ernsthafte Versuche einer Übersetzung des Manuskripts und damit die Akzeptanz seiner Authentizität bestanden hätten.55 Dieser subkulturelle Bereich des Okkulten strukturiert sich aber unter anderen Prämissen und, mindestens in den schriftlich produzierten Aussagen, auch über andere Realitätsbegriffe als der Bereich des Fandoms. Als Folge hiervon wird das Necronomicon nach Simon nicht wegen seiner Konsistenz zum lovecraftschen Pantheon akzeptiert, sondern weil es als Vorlage für magische Rituale verwendet werden kann und somit eine Übereinstimmung mit bestimmten Vorstellungen von Magie in diesem subkulturellen Bereich existiert. Auf Grund der zahlreichen Auseinandersetzungen mit dem SimonNecronomicon kann hier nicht im Detail auf die komplexe Problematik der Rezeption eingegangen werden. Harms und Gonce widmen dem Phänomen ein eigenes Kapitel.56 In einem weiteren arbeitet Gonce auch akribisch die Diskrepanzen, sowohl in historischer als auch magischer Hinsicht, heraus,
54 CABAL 2003: o. S. 55 HARMS 2003: 35. 56 GONCE 2003b: 173-196.
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die im Dokument zu finden sind.57 Für ihn ist somit klar, dass es sich hierbei um eine Fälschung handeln muss. Bezeichnenderweise ist der Aufwand, den er zur Stützung seiner These betreibt, beträchtlich. Er sieht sich tatsächlich in eine Diskussion verstrickt, in der er mit guten und umfangreichen Belegen seine Argumentation stützen muss. Es hat sich ein Diskursfeld um das Objekt Necronomicon etabliert, das eine einfache Diskreditierung als Fälschung nicht mehr zulässt, sondern bereits Hermetisierungspraktiken entwickelt hat, die das Objekt vor einem diskursexternen dekonstruierenden Zugriff schützen. Weder scheint der Hinweis auf seine fragwürdige Entstehung noch auf seinen offensichtlich fiktionalen Ursprung allein auszureichen. Gonces Auseinandersetzungen, ja eigentlich die gesamte Publikation The Necronomicon Files, darf hierbei als paradigmatisch für die diskursive Verflechtung der Behandlung des Phänomens angesehen werden. Philologische wie magische Argumentationspraktiken stehen gleichberechtigt nebeneinander. Der – auch magisch verstandene – Kosmos, der dem diegetischen Universum Lovecrafts unterstellt wird, bleibt unhinterfragt bestehen; eine seiner medialen Ausprägungen hingegen wird als Fälschung markiert. So steht bei Gonce nicht die Möglichkeit von Magie oder die Existenz von funktionierenden Ritualbüchern zur Disposition, lediglich die Authentizität des Necronomicons wird abgelehnt. Bereits ein Jahr nach dem Erscheinen des Simon-Necronomicons wird das Hay-Necronomicon58 veröffentlicht. Es besteht aus verschiedenen Aufsätzen zu Lovecraft und dem Necronomicon-Phänomen. Das Kernstück bildet eine Sammlung von Ritualen und Zauberformeln, die alle angeblich aus einem Schriftstück von John Dee stammen, dem Hofmagier Königin Elizabeths I. Die Zaubersprüche und Rituale dieser Ausgabe haben nicht im selben Maße wie die des Simon-Necronomicons eine Übernahme in die okkulten Kreise gefunden. So sind es kurioserweise vor allem die Annahmen zum Entstehungsprozess und der historischen Tradition des Necronomicons, die eklektisch teilweise zur Verifikation des Simon-Necronomicons aus dem Hay-Necronomicon entlehnt werden. Weitere Elemente, die eine Tradierung erfahren haben, sind das „Zeichen der Älteren“ und das „Siegel von Yog-Sothoth“, die dann auch in okkulten Zusammenhängen reproduziert werden.
57 GONCE 2003a: 127-172. 58 HAY: 1978.
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Wie bereits eingangs erwähnt, ist es nicht möglich, in diesem Rahmen alle publizierten Necronomicons aufzuführen. Wichtig wäre aber, herauszustellen, dass es kein singuläres anglo-amerikanisches Phänomen darstellt. Es existieren Necronomicons im Spanischen, Italienischen, Französischen, Schwedischen, Niederländischen, Dänischen und Slowenischen. Bei vielen handelt es sich jedoch um Übertragungen der bereits vorgestellten Versionen. 1980 erscheint auch bereits die deutschsprachige Umsetzung des Simon-Necronomicons im Schikowski Verlag Berlin.59 Ein Verlag, der wie viele Verlage, die Necronomicons publizieren, fast ausschließlich okkulte Schriften druckt. Es wird zusammen mit der Schrift Lesser Key of Salomon, die hier den Titel Goetia trägt, von McGregor Mathers herausgegeben. Obwohl sicherlich die hohe Zeit der Popularität vorbei ist und kein neues Necronomicon mehr die Aufmerksamkeit erlangen wird, wie sie dem Simon-Necronomicon zu Teil wurde, hört die Produktion neuer nicht auf. Eines der ambitioniertesten Projekte wird derzeit von Joshua Free betrieben, der nach eigenen Angaben die korrupten und falschen Teile des Simon-Necronomicons richtigstellen will.60 Im August 2011 wird von Free bzw. der Gruppe um ihn das bis jetzt seitenstärkste Necronomicon veröffentlicht, das sogenannte Necronomicon Anunnaki Legacy Edition, welches 820 Seiten umfasst. Derzeit werden insgesamt zwölf Bücher angeboten, die ‚Necronomicon‘ im Titel tragen.61
D ER W ILLE
ZUM
G LAUBEN
Dass das Phantastische das Okkulte beeinflusst und vice versa, ist seit der Aufklärung sicherlich nicht ungewöhnlich, ordnet sie doch die Magie und den Aberglauben genau dieser Sphäre zu. Somit ist auch die Übernahme von Elementen aus der Fantasyliteratur, wie Owen Dawis anmerkt, kein Novum, sondern eine Erweiterung: „The merging of fact and fiction had always been an integral aspect of the grimoire tradition, and in the twentieth century this was given a new twist with the genre of
59 GREGORIUS 1980. 60 http://necrogate.com/page/2/ [04.01.2015]. 61 http://www.amazon.com/Joshua-Free/e/B001K7VFO2 [04.01.2015].
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literary fantasy not only being influenced by the magical tradition but also inspiring the creation of new grimoires.“62
Davis sieht als direkten Vorläufer des Necronomicons, wenngleich es keine vergleichbare Popularität erreicht, das Sigsand Manuskript an, auf dessen Erfinder, W. H. Hodgson, auch Lovecraft in seiner Abhandlung Supernatural Horror in Literature Bezug nimmt. Das Necronomicon ist insofern unterschiedlich zu diesem, als es selbst und auch Teile seines Inhalts aus einer literarischen Quelle stammen. Dennoch wird es als tatsächliches Zauberbuch und Kultgegenstand akzeptiert. Gerade die früheren Necronomicons tilgen die eigentliche Herkunft aus den Schriften Lovecrafts nicht, sondern versuchen produktiv damit umzugehen. Das Necronomicon initiiert jedoch keinen Kult, wohingegen die Wicca-Bewegung sich auf Hodgsons Sigsand Manuskript, auch Book of Shadows genannt, beruft. Vielmehr wird es von bestehenden okkulten Strömungen vereinnahmt. Dass das Necronomicon als tatsächliches Grimoire von Neookkultisten akzeptiert wurde und wird, bedarf einer komplexen Legitimationsstrategie, die m.E. direkt aus einer modernen Magievorstellung resultiert, bzw. nur mit dieser möglich ist. Denn auch in den okkulten Kreisen wird immer wieder darauf hingewiesen, dass das Necronomicon kein überliefertes Werk darstelle, sondern frei erfunden sei. Robert Stockhammer zeigt in seiner Monographie, wie der Magiebegriff für die Moderne von der Ethnologie in Zusammenarbeit mit der Linguistik vermeintlich wiederentdeckt, tatsächlich aber neu konstituiert wird. In der Hoffnung, bei der Erforschung der melanesisch-polynesischen Kultur auf den Ursprung des Prädikationsprozesses gestoßen zu sein, wird anhand der syntagmatischen wie paradigmatischen Omnipotenz des Begriffs Mana ein semiotisches Modell entworfen, das die Verschiebung des Zeichenbegriffs und seiner Verwendung gegenüber dem sprachlichen Zeichenbegriff skizziert. Denn Mana besitzt in seiner Verwendung keine eigene Semantik, sondern weist den Sprechakt als magisch aus. D.h. die Fähigkeit der sprachlichen Rekurrenz auf sich selbst wird in diesem Zusammenhang als Rudiment einer noch nicht terminierten, abstrakten Stellvertreterfunktion angesehen, die dem Wort noch ganz seine weltschaffende Macht einräumt. Sein Ursprung ist die magische Benennungsvorstellung, die sich
62 DAVIS 2009: 262.
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in der Zivilisation nur noch in der Poesie erhalten habe. Zurecht merkt Stockhammer an, dass dieses Magiekonzept an einem schriftsprachlichen Problembewusstsein ausgerichtet ist und durch ein zeichentheoretisches Erkenntnisinteresse entsteht. Es ist aber genau diese Vorstellung, die Eingang in die sich neu formierende okkultistische Bewegung um 1900 findet und deshalb nicht zwangsläufig eine Weiterentwicklung der Magievorstellung aus dem 18. Jahrhundert darstellt, sondern vielmehr sich an die Hoffnung anschließt, eine urtümliche Magie wiederentdeckt zu haben.63 Ganz anders hundert Jahre zuvor, als es um die praktische Abwehr von Flüchen und Geistern bei der Schatzsuche geht. Auch findet kein Bezug zu eventuellen Abhängigkeiten von einem Mikro- zu einem Makrokosmos statt, die sowohl für die Gnosis, als auch für die Alchemie entscheidend wären. Es ist die Sprache, die essentiell in die Mitte gerückt wird, die angesichts der epochalen Verunsicherung in ihrer ursprünglichen, nun verlorenen Macht der Prädikation schließlich auch die ursprüngliche Magievorstellung darstellen muss. Bis heute ist diese Vorstellung von Magie aktuell und sowohl der Aspekt der Poesie als auch der Weltbeeinflussung durch Gedanken finden sich in neueren Veröffentlichungen zur Darstellung der und Einführung in die Magie.64 Die Magiekonzeption wird letztlich als Axiomatik vorausgesetzt, wenn es um die Auslegung und den Kommentar der verschiedenen Necronomicons geht. Denn mit der Wahrnehmung des Necronomicons als Zauberbuch entsteht das Feld der Paratexte und Kommentare. Das Entstehen eines Auslegungsdiskurses stärkt aber zwangsläufig die kulturell zugewiesene Funktion als Zauberbuch. So verfassen 1997 Tahuti (Necronomicon Revelations: Guide to the Necronomicon) und Moloch (The Necronomicon Workbook: Inner Teachings of the Necronomicon) ebenfalls anwendungsorientierte Anleitungen für den Umgang mit dieser ‚gefährlichen‘ Schrift. Für den deutschsprachigen Raum ist es W. H. Müller, der sich immer wieder auch esoterisch mit dem Buch auseinandersetzt. Zu seinen Arbeiten zählen die deutschsprachige Umsetzung des Hay-Necronomicons, die Abhandlung Lovecraft – Schatzmeister des Verbotenen (1993) und sein magischer Essay Necronomicon – Dem Tod einen Namen geben (2004). Dabei setzen sich die einzelnen Autoren auch mit dem Vorwurf der Fälschung
63 STOCKHAMMER 2000: besonders 15ff. und Kapitel 5, 21-28. 64 Vgl. FRATER 2003: 22; CAVENDISH 1980: 10.
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auseinander und entwickeln unterschiedliche Rechtfertigungsstrategien, z. B., dass es einen sumerischen oder mesopotamischen Kern gebe, dass Erfolge auch mit einer falschen Quelle erzielt werden könnten, solange das magische Potential nur hoch genug sei.65 Ein Ansatz, der dabei häufig verfolgt wird und paradigmatisch für die moderne Magievorstellung ist, legt den Bereich der Imagination mit dem der Magie zusammen.66 Imagination, Phantasie und Magie werden gleichbedeutend, der qualitative Unterschied ihrer Verwendung liegt nur noch im bewussten oder unbewussten Umgang mit dieser Quelle. Auch im bisher aufwendigsten Versuch, der Necronomicon Gnosis von Asenath Mason, ist das Necronomicon und seine Macht nur Ausdruck der Teilhabe an einer imaginativen Sphäre.67 Mason versucht eine eklektische Konkordanz nicht nur aus dem Hay- und Simon-Necronomicon zu schaffen, sondern will diese darüber hinaus mit dem Cthulhu-Mythos und den Erzählungen Lovecrafts sowie mit einigen Nachfolgererzählungen harmonisieren. Zusätzlich – und das ist möglicherweise ein noch spannenderer Aspekt – rekonstruiert Mason die Vorstellung von Magie und Magiewirkung so, wie sie in den Schriften Lovecrafts dargestellt wird, und entwickelt auf dieser basierend eigene Rituale. Das Ziel der necronomiconischen Praxis ist das Partizipieren an der imaginativen Sphäre, Akasha-Feld bei Mason genannt, aus der jegliche Inspiration stamme, um über sich selbst und damit auch über den Kosmos Wissen zu sammeln.68 In den Abhandlungen wird eine Argumentation entworfen, die sich einem antimetaphysischen oder naturalistischen Diskurs entgegenstellt. Dabei versucht der magische Diskurs nicht die Magie vom Phantastischen abzugrenzen, sondern weist dem Phantastischen eine realitätskonstituierende Macht zu. Etwas, das, von einem streng konstruktivistischen Standpunkt aus, zumindest theoretisch legitim ist. Der Wille zum Glauben schafft das Faktische. Beim Phänomen des Necronomicons ist es der Kultgegenstand, der als Referenz und als Mittel dient, sich zum einen eine Welt zu schaffen und sie sich zum anderen hierüber wieder anzueignen und zu beherrschen. Was sich in diesen Texten herausbildet, und dies ungeachtet der Intention
65 KONSTATINOS 1995: 121. 66 MÜLLER 2005: 34. 67 MASON 2007: 15. 68 MASON 2007: 20.
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der Autoren, ist der Wille zum Glauben. Dieser hermetisiert sich, ausgehend von der Vorstellung, dass real ist, was unser Geist schafft, gegen jegliche Vorwürfe der Fälschung. Das Phantastische wird als Sphäre der Magie ausgewiesen und der Zugang des Künstlers ist dem Zugang des Magiers vergleichbar. Während jener unbewusst und unreflektiert darauf zugreift, weil er nicht die Initiation zum Zauberfähigen durchlaufen hat, ist diesem ganz bewusst, welche Kräfte und welches Potential in der phantastischen Sphäre liegen. Die Kraft des Geistes als Weltenkonstrukteur wird insofern wörtlich genommen, als alles möglich ist, wenn der Wille stark genug ist, es zu manifestieren. Inwieweit die Bereitschaft auf Seiten des Senders wie des Empfängers besteht, den Weltenentwurf als wahr anzusehen, liegt nicht mehr im Bereich der Literaturwissenschaft. Die Aussagen der Auslegungstexte, die Reaktionen und Diskussionen in Briefen, E-Mails und Foren legen nahe, dass sehr wohl eine Bereitschaft existiert, den Diskurs als wahrheitsschaffend anzuerkennen. Nicht alles ist ironisch gebrochen, nicht immer geht es um eine Selbstinszenierung oder einen Scherz. Aber an dieser Stelle muss das Staffelholz an die Soziologie übergeben werden.
E RKENNUNGSZEICHEN , C HIFFRE , S HIBBOLETH Was ich hier versucht habe zu zeigen, ist, wie ein literarisches Element eine kulturelle Wirkmächtigkeit entwickelt hat und in verschiedenen Kontexten mit unterschiedlichen Funktionen belegt wurde. Am Anfang ist es ein erzählerisches Element, das letztlich Kulminationspunkt einer Poetologie ist, die halb spielerisch die Grenzen des Faktualen und Fiktionalen strapaziert. Entscheidend ist, dass das Necronomicon seine Wirkung durch eine Ambiguität erhält. Es ist, um auf den Titel dieses Artikels zurückzukommen, notwendig für Lovecrafts Konzeption, dass das Buch und sein Inhalt gerade nicht konkret werden, sondern allein in der Vorstellung des Lesers sich manifestieren. Der Fandom um Lovecraft führt diese Poetologie, gepaart mit der Konzeption der Falschmeldung als Ideal der modernen Schauergeschichte in anderen Medientypen fort. Das Necronomicon ist hier ein Erkennungszeichen für Zugehörige des Fandoms, die sich mit seiner Verwendung oder in Referenz auf dieses untereinander zu erkennen geben können. Durch dieses Fandom wird letztlich das Necronomicon in das Genre des
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Horrorfilms übertragen. Seine dortige Verwendung löst es weiter vom ursprünglichen Kontext ab, seine inflationäre Verwendung schafft schließlich die Voraussetzung, um zur Chiffre zu avancieren, die jene Ära des Horrorfilms zusammenfasst, die mit ihm assoziiert ist. Es ist Subsumierung der Atmosphäre, des Stils und des Impetus zugleich. Sie weist auch die Nähe zur tatsächlichen okkulten Strömung aus, an der die Sujets der Horrorfilme partizipieren. Das Okkulte kann und soll, marktstrategisch oder nicht, den Nimbus für die Filme liefern; dies geschieht nicht zuletzt auch als Teil einer Authentifizierungsstrategie, die wiederum dazu dient, Schrecken und Schauder zu erzeugen. Durch die Nähe zu diesen beiden anderen Feldern übernimmt das Necronomicon in der okkulten Subkultur die Funktion eines Shibboleth. Zwar wird es zum Teil als magiemächtig akzeptiert, aber es sind nur Spuren in den Werken erhalten und diese müssen rekonstruiert, der Umgang mit ihnen trainiert werden. Der Unerfahrene, der Uninitiierte gibt sich zu erkennen, wenn er behauptet, mit diesen Büchern Magie zu praktizieren. Er zeigt, dass er den angelagerten Diskurs aus Auslegung, Kritik und Kommentar nicht rezipiert hat. Er ist aus der Populärkultur gekommen, hat sich Inspirationen aus Film, Computerspiel oder Literatur geholt, aber er ist nicht wirklich in die Materie der Zauberei eingedrungen. Gerade im letzten Fall ist die Diskussionsmacht faszinierend. Vielleicht ist es zu gewagt, zu unterstellen, dass man hier einem religionsbildenden Prozess über die Schulter blickt. Sicher aber sind die Texte um das Necronomicon und seine Magie Beleg für ihre eigene These: Der Wille zum Glauben schafft Welten, auch gegen die Macht des offiziellen wahrheitsstiftenden Diskurses.
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Murder by Death Klischees und Stereotypen im/über den Kriminalroman G UNNAR S CHMIDTCHEN
Crime fiction is one of the best-selling literary genres. It is hardly surprising that the genre itself has to face certain prejudices, stereotypes and clichés. Before the 1960s an academic approach towards crime fiction was unthinkable and the genre still has the stigma of low or light fiction, provoking statements like “It’s always the same”. This paper focuses on these early but still common clichés and tries to explain where they come from, considering the most stereotyped aspects: the crime scene, the circumstances of the crime as well as the investigation process, the characters, the culprit, and the reader himself.
E INLEITUNG Der Topos der Vergänglichkeit und des Sterbens ist nicht erst seit dem Barock in der Literatur ein gängiges Motiv. Spannender und unterhaltsamer erscheint dagegen etwas, das sowohl die justizielle Realität als auch die literarische Fiktion wirklich in Atem hält. Was die literarische Welt angeht, ist dieser Atem erst seit ca. 170 Jahren in Form eines eigens dafür ‚geschaffenen‘ Genres vorhanden: der Mord. Mordmethoden gibt es viele: Ersticken, Erdrosseln, Vergiften, Erdolchen, Erschießen oder Zerquetschen… Jede Art, einen unliebsamen Menschen um die Ecke zu bringen, hat ihre Vor- und Nachteile und wird ausschweifend von den klassischen Autoren der Kriminalliteratur eingesetzt.
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Den literarischen Mord gibt es wahrscheinlich seit Anbeginn der Literatur: Kain ermordet Abel (1. Mose 4, Vers 8), Hagen erschlägt Siegfried (Das Nibelungenlied, 16. Aventiure) und in Shakespeares Tragödien steht am Ende oft genug so gut wie keine der Figuren mehr aufrecht (bspw. Hamlet). Umso erstaunlicher ist es, dass erst recht spät ein eigenes Genre entstanden ist, das sich direkt mit Kriminalität und zu Beginn vor allem mit dem Mord beschäftigt. Die klassischen Vertreter dieses Genres werden in dem vorliegenden Aufsatz behandelt und dabei einige der Klischees, die sich über die Jahrzehnte entwickelt haben, betrachtet. Zu Beginn sollen einige Definitionen und die Terminologie des Kriminalromans kurz erläutert werden, um anschließend die genreeigenen Klischees und Vorurteile untersuchen zu können. Inwiefern diese auf dem klassischen Kriminalroman aufbauenden Klischees auch auf den modernen Krimi anzuwenden sind, soll am Ende kurz betrachtet werden.
T ERMINOLOGIE UND G ESCHICHTE DER K RIMINALLITERATUR Was ist ein Krimi? Als Buchhändler oder auch Buchkäufer ist die Antwort recht simpel. Wo „Krimi“ oder „Kriminalroman“ als Paratext auf den Buchdeckel gedruckt steht, muss wohl auch ein Krimi drinstecken. Schaut man sich in den mittlerweile überall vorhandenen Krimiabteilungen der Buchhändler um, findet man in diesen Ecken aber auch Gattungsangaben wie „Thriller“ oder etwas differenzierter „Psychothriller“ oder „Agententhriller“. Ein „Thriller“ muss also anscheinend auch zum Krimi gehören, aber als Terminus trotzdem nicht zwingend synonym verwendbar sein. Vor allem in den 60er und 70er Jahren hat sich die Literaturwissenschaft verstärkt mit dem Thema der Kriminalliteratur auseinandergesetzt und versucht zu definieren, was einen Krimi ausmacht, was enthalten und wie er aufgebaut sein muss. Nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Krimiautoren selbst haben Essays und Aufsätze verfasst über die „Typologie des Kriminalromans“1, die „Anatomie des Detektivromans“2, die „Spielre-
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TODOROV1998 [1966]: 208-215.
2
ALEWYN 1998 [1968/1971]: 52-72.
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geln des Kriminalromans“3, „Die Kunst der Detektivgeschichte“4 oder „Der Kriminalroman oder: Wie sich der Verstand aus der Welt zurückzieht, um seine Spiele zu spielen, und wie darin dennoch die Probleme der Gesellschaft behandelt werden“5. Diese Liste wäre beliebig erweiterbar, sind die Meinungen, Definitionen und Terminologien doch ebenso zahlreich wie die Aufsätze hierzu.6 Trotzdem lässt sich viel Gemeinsames finden, verwenden die Autoren doch oft nur unterschiedliche Terminologien oder weisen unterschiedliche Foki auf. Nusser hat die gängigsten in einem Einführungswerk zur Kriminalliteratur zusammengefasst und daraus eine Definition erstellt, die eine solide Arbeitsbasis bietet.7 Allerdings stößt auch diese an bestimmten Stellen an ihre Grenzen. Nusser unterscheidet im ersten Schritt die Kriminal- von der Verbrechensliteratur. In der Kriminalgeschichte geht es um die Beschreibung der Aufdeckung eines Verbrechens, der Überführung des Täters und der damit verbundenen Anstrengungen und dem Vorgehen des Ermittlers. In der Verbrechensliteratur stehen Ursprung, Wirkung und Sinn des Verbrechens im Mittelpunkt. Die Motivation des Täters spielt eine bedeutende Rolle.8 Hier ist bereits eine Einschränkung zu machen. Nusser bezieht sich auf die klassische Kriminalliteratur, für die diese Definition durchaus zutreffend ist. Betrachtet man allerdings den modernen Krimi, so muss einem unweigerlich auffallen, dass verstärkt die Motivation und die Hintergründe des Täters fokussiert werden. Auch überschneidet sich in dieser Definition die Verbrechensliteratur mit dem Thriller. Die Klischees und Vorurteile basieren aber auf dem klassischen Schema, sodass diese Definitionen vorerst bestehen bleiben und mit ihnen gearbeitet werden kann. In Kürze: Im Krimi geht es um ein Verbrechen, in den meisten Fällen Mord,9 das von einem
3
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4
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5
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6
Umfassende Anthologien bieten hierzu VOGT 1971 und in veränderter Form VOGT 1998. Des Weiteren ŽMEGAČ 1971; BUCHLOH & BECKER 1977.
7
Vgl. NUSSER 2009.
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Vgl. NUSSER 2009: 1-2.
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Hier findet sich der erste Unterschied zwischen dem populären Begründer des Genres, Doyle, und seiner marktkräftigsten Nachfolgerin Agatha Christie sowie deren KollegInnen, wie Sayers oder Chesterton. Sherlock Holmes löst etwa
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Ermittler aufgeklärt wird, wobei die Ermittlung und Überführung im Mittelpunkt stehen. Diese Definition umfasst aber noch nicht den Paratext auf den Buchdeckeln. Was ist der Unterschied zwischen Krimi, Thriller und Detektivgeschichte, die sich im Titel einiger der vorhin angesprochenen Aufsätze finden? „Krimi“ ist ein Überbegriff, der, wiederum im klassischen Sinn, zwei Unterkategorien subsumiert: Die Detektivgeschichte und den Thriller oder, um wirklich bei den Klassikern zu bleiben, die hard-boiled novel.10 Historisch gesehen hat alles mit der klassischen Detektivgeschichte begonnen, wie man sie wahrscheinlich, in welcher medialen Verarbeitung auch immer, von Sir Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes kennt. Der eigentliche Begründer, so wird er zumindest in der Sekundärliteratur betrachtet, ist aber Edgar Allen Poe mit Der Doppelmord in der Rue Morgue und seinem Ermittler Auguste Dupin. Populär und massenwirksam hat die Detektivgeschichte aber erst Doyle gemacht. Am Beginn der hard-boiled novel stehen zwei Autoren: Raymond Chandler mit seinem Ermittler Philip Marlowe und Dashiell Hammett mit dem Privatdetektiv Sam Spade. Der Ansatz der beiden Subgenres könnte kein gegensätzlicherer sein. Wo die Detektivgeschichte etwas abgehoben und surreal wirkt, versucht die hard-boiled novel so weit wie möglich die harte Realität widerzuspiegeln. Am Beispiel der unterschiedlichen Detektivfiguren kann der Unterschied am einfachsten verdeutlicht werden. Sherlock Holmes und andere der Zunft klassischer Ermittlerfiguren der Detektivgeschichte, könnte man wie folgt beschreiben: „Ein Bilderbuchdetektiv konfrontiert uns zu Beginn der Geschichte mit einem Mord, und am Ende hat er ihn aufgeklärt. Er befreit uns von Schuld. Er nimmt uns die Ungewissheit. Er hält den Tod auf Abstand.“11
Ein klassischer Detektiv löst immer den Fall, nichts kann ihn aufhalten. Er lässt den Leser glauben, dass ‚das Gute‘ stets siegt, dass er sich keine Sorgen machen muss: Verbrechen werden aufgedeckt und die Täter ihrer ge-
ebenso häufig Mordrätsel wie anders geartete Aufträge, die an ihn herangetragen werden. Marple und Poirot beschäftigen sich fast ausschließlich mit Morden. 10 Vgl. NUSSER 2009: 2-4. 11 SUMMERSCALE 2008: 386.
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rechten Strafe zugeführt. Während seiner Arbeit bleibt er ganz Gentleman. Sein deduktives Vorgehen bei der Aufklärung des Falles erscheint dem Leser häufig als realitätsfern und lässt den Detektiv übermenschlich in seinen kognitiven Fähigkeiten erscheinen. Anders ist die Figurenzeichnung in der hard-boiled novel: „Er [gemeint ist hier Sam Spade in Der Malteser Falke, Anm. GS] ist ein skrupelloser Schurke und ein herzloser Betrüger. Er ist selbst beinahe ein Krimineller, so daß zwischen ihm und den Verbrechern […] kaum ein Unterschied besteht. […] Der Privatdetektiv ist sowohl eine romantische als auch eine düstere Figur.“12
Der ‚abgebrühte‘ Privatdetektiv ist einfach ein Mensch. Er hat wenig Übermenschliches, geschweige denn Übernatürliches an sich. Er hat physische und/oder psychische Fehler, weiß selbst oft bis zum Ende nicht, wer der Täter ist, agiert eher intuitiv denn rational und manchmal kann er am Ende den Täter doch nicht überführen. Die Realität schlägt hart zu und landet oft genug Treffer beim Ermittler und beim Leser. In diesem Subgenre ist es vorbei mit den friedlichen Landmorden, bei denen die Täter sich nur allzu gern nach der Beweisführung von der Polizei abführen lassen.13 Hier wird in dreckigen Straßen gekämpft und in einer Spelunke ‚einer um die Ecke gebracht‘. Das Gute sieht hier ziemlich schlecht aus, denn der Privatdetektiv als die vermeintliche Personifikation dieses Guten steht mit einem Fuß auf der dunklen Seite. Die Welt am Ende der hard-boiled novel kehrt nicht wieder zum status quo vor dem Mord zurück: Sie bleibt dunkel und bedrückend. Der grundlegendste Unterschied der beiden Subgenres besteht aber in der Konzeption der Chronologie der Erzählung. Während die Detektivgeschichte rückwärtsgerichtet erzählt und versucht, den am Beginn verübten Mord, die damit verbundenen Motive und den eigentlichen Tathergang zu rekonstruieren, wird in der hard-boiled novel vorwärtsgerichtet erzählt. Der Mord wurde bereits begangen, kann aber auch noch in der Zukunft liegen.
12 MAUGHAM 1977 [1952]: 293. 13 Eine Renaissance erlebt dieses Setting in den vor allem im deutschsprachigen Raum in den letzten fünfzehn Jahren aufgekommenen Regionalkrimis, die nach der ‚Skandinavien-Krimi-Schwemme‘ die nächste große ‚Pandemie‘ im Genre markieren.
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Ist der Mord bereits begangen worden, ist der Täter meist schon früh bekannt, der Tathergang recht simpel und die einzige Aufgabe des Ermittlers ist die Verfolgung und Überwältigung des Täters, meist unter Einsatz von Gewalt und den obligatorischen Verfolgungsjagden. Steht das Verbrechen noch aus, ist trotzdem meist die Vorgehensweise und vielleicht auch der Täter bekannt und das Verbrechen muss verhindert werden. Hierfür haben sich im Deutschen die Begriffe „Rätselspannung“ und „Zukunftsspannung“14 oder auch „Bedrohungsspannung“15 eingebürgert. Das Englische kennt in diesem Zusammenhang vor allem die Begriffe „thrill“ und „suspense“. Die Rätselspannung zielt auf die Auflösung des Rätsels, die Erklärung bereits erzählter Handlung, während die Zukunftsspannung den Fokus auf den nächsten Einzelschritt der Handlung legt. Für die klassische Detektivgeschichte hat sich vor allem deswegen in der englischsprachigen Literatur der Begriff des „Whodunit“ als Genrebezeichnung verbreitet. Weitere Unterschiede in der Konzeption der beiden Subgenres sollen an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt, sondern nur stichwortartig erwähnt werden. Zu ihnen zählen die Wahl und Ausgestaltung des Handlungsortes, die Größe und Konstanz des Figurenensembles und das deduktiv-intellektuelle Vorgehen des Protagonisten der Detektivgeschichte gegenüber dem actionbetonten physisch-gewalttätigen Vorgehen des Ermittlers im Thriller. Diese konzeptuellen Anlagen korrespondieren dann mit dem Charakter der entsprechenden Ermittlerfigur. Betont werden muss an dieser Stelle noch, dass es sich bei diesen Definitionen um Idealtypen der beiden Subgenres handelt. Überschneidungen und Mischformen sind auch in der Anfangszeit des Genres durchaus vorhanden gewesen. Für eine Betrachtung der das Genre konstituierenden Elemente ist aber eine Reduktion auf diese Idealtypen notwendig. Aus der gezeigten Liste der ‚Eigenschaften‘ eines Krimis lässt sich schon ablesen, welche Richtung die dem Genre vorgeworfenen oder angedichteten Klischees und Vorurteile einschlagen. Kurz könnte man den Vorwurf formulieren: Es ist ja immer das Gleiche! Eine kurze Stellungnahme dazu könnte sein: Ja! Bertolt Brecht bemerkt zu diesem Vorwurf:
14 SUERBAUM 1998 [1967]: 89. 15 ENGEL 2008.
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„Die Tatsache, daß ein Charakteristikum des Kriminalromans in der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt, verleiht dem ganzen Genre sogar das ästhetische Niveau. Es ist eines der Merkmale eines kultivierten Literaturzweigs. […] Es gibt eine Menge von Schemata für den Kriminalroman, wichtig ist nur, daß es Schemata sind.“16
Die ständige Variation eines einzelnen Schemas, das ‚Auswalzen‘ bereits bekannter Sujets und Plots, die gleichen Figurenensembles und Orte sind also nach Brecht keineswegs die Schwäche des Krimis, sondern im Gegenteil seine originäre Stärke. Dies sei als Präambel den folgenden Klischees vorangestellt, unter der sie zu deuten sind.
D ER D ETECTION C LUB Der Detection Club wurde 1928 unter anderem von Agatha Christie und Dorothy L. Sayers in London gegründet und ist bis heute eine Vereinigung von Mystery- und Krimiautoren. Aktuelle weltweit bekannte Autoren sind unter anderem Val McDermid, Ian Rankin, Ruth Rendell und Ann Granger. Jedes neue Mitglied muss auf die „Ten Rules for a good detective story“ von Father Ronald A. Knox aus dem Jahr 1929 schwören, die hier in Auszügen wiedergegeben sind: „1. Der Täter muss jemand sein, der ziemlich früh in der Geschichte erwähnt wird, aber es darf keine Person sein, deren Gedanken der Leser hat folgen dürfen. 6. Kein Zufall darf jemals dem Detektiv zu Hilfe kommen […]. 7. Der Detektiv darf nicht selbst das Verbrechen begehen. 8. Der Detektiv darf nicht auf irgendwelche Anhaltspunkte stoßen, die nicht sofort dem Leser zur Prüfung vorgelegt werden. 9. Der dümmliche Freund des Detektivs, der Watson, darf keinen einzigen Gedanken, der ihm durch den Kopf geht, verbergen; seine Intelligenz muss ein wenig, aber nur ein ganz klein wenig unterhalb der des Durchschnittslesers liegen.“17
16 BRECHT 1998 [1938/1940]: 33. 17 KNOX 1977 [1929]: 191-192.
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Diese Regeln sind keineswegs unumstößliche Gebote, auch wenn Knox es gern so gesehen hätte. Agatha Christie selbst hat jede einzelne Regel mindestens einmal gebrochen. In seinen Regeln beschreibt Knox einen „guten Detektivroman“. „Gut“ meint in diesem Fall für ihn vor allem „fair“. In seinem Vorwort sagt er: „Wie beim Akrostichon, wie beim Kreuzworträtselwettbewerb kann ein ehrenvoller Sieg nur errungen werden, wenn die Lösungshilfen ‚fair‘ waren.“18 Unter anderem diese Regeln haben, egal ob sich nun jemand daran gehalten hat oder nicht, zu den vielen Klischees über den Krimi geführt, die sich heute beobachten lassen und die sich alle auf das Grundmuster der Schema-Literatur beziehen. Knox versuchte mit seinen Regeln eben dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wenn er verbot, dass bspw. auch keine Doppelgänger, Chinesen oder unbekannte Gifte erlaubt seien (Regeln 4, 5, 10). Egal, ob Thriller oder Detektivgeschichte, Roman oder Kurzgeschichte, alt oder neu, alles gründet sich in diesen Stereotypen auf der klassischen Detektivgeschichte.
K LISCHEE #1: D ER L ESER Der Mord ist in unserer Welt allgegenwärtig, nicht nur in der literarischen Form. Der Mord gilt in nahezu allen Kulturen als inhuman und wird entsprechend geächtet und geahndet. Es wird aber immer nur derjenige bestraft, der den Mord begeht oder daran beteiligt ist; in der Rechtssprache spricht man im letzteren Fall auch von „Beihilfe zum Mord“. Aber ist das ‚sich darüber Erfreuen‘, ‚es mit Spannung verfolgen‘ vielleicht genauso schlimm? Der Rhetoriklehrer und Apologet Lactantius sagt dazu in der Übersetzung von Thomas de Quincey: „Wenn schon unsere bloße Anwesenheit bei einem Mord den Verdacht der Mitschuld auf uns wälzen kann, so folgt daraus mit unerbitterlicher Logik, dass die Hand des Beifall spendenden Zuschauers bei einem Schaumord im Amphitheater nicht minder blutbefleckt ist als die Hand desjenigen, der unten in der Arena den tödlichen Streich führt. Wem Blutvergießen ein Schauspiel ist, der macht sich zum Mitschuldigen des Mörders und wer dabei gar die Hand zum Beifall rührt oder Prei-
18 KNOX 1977 [1929]: 191.
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se an die Mörder austeilt, den müsste man eigentlich der Beihilfe zum Mord bezichtigen.“19
Dies kennt man noch heute in abgeschwächter Form, wenn die Menschen zu Boxkämpfen drängen. Noch immer erfreuen sich die Massen daran, ‚Gladiatoren‘ gegeneinander antreten zu sehen und je mehr Blut fließt, desto besser. Abstrahiert man dieses Geschehen und diese Aussagen aber ein wenig, so könnte man Lactantius’ Anklage theoretisch auch gegen den literarischen Mord anführen, wohlgemerkt in seiner ästhetisierten nicht rein deskriptiven Form. Macht man sich als gespannter und erfreuter Leser mitschuldig? So könnte man Lactantius’ Meinung auf die heutige Situation versuchen zu übertragen. Obwohl nur fiktives Blut fließt, erfreut sich der Krimileser, wenn es fließt, und beim Thriller, wenn es zudem grausam hervorgerufen und möglichst detailliert beschrieben wird. John Dickson Carr lässt seinen Ermittler Dr. Fell in seinem klassischen Detektivroman Der verschlossene Raum explizit Position dazu beziehen, wie es in einem Krimi ablaufen soll: „Ich liebe es, wenn meine Morde zahlreich, blutrünstig und grotesk sind.“20 Eine ähnliche Position bezieht der Redner in de Quinceys zweitem Teil seines Werkes Der Mord als schöne Kunst betrachtet: „In unserem Zeitalter jedoch, dass die Meisterleistungen begnadeter Mordkünstler gesehen hat, muss auch die kritische Würdigung ihrer Taten einen höheren Anspruch haben, denn Praxis und Theorie müssen pari passu vorwärts schreiten. Man beginnt allmählich einzusehen, dass zur künstlerischen Vollendung einer Mordtat doch etwas mehr gehört […]. Scharfsinnige Berechnung, meine Herren, feinsinnige Verteilung von Licht und Schatten, kurzum ein entwickeltes, künstlerisches Empfinden, das sind die unerlässlichen Vorbedingungen zu einer solchen Tat.“21
De Quincey hat diese vermeintlich originalen Mitschriften von verschiedenen Sitzungen einer Londoner Vereinigung von Mordliebhabern veröffentlicht. Die Zitate von Lactantius entstammen dem Vorwort zu dieser Sammlung, in dem sich de Quincey von dieser Vereinigung distanziert und sagt,
19 DE QUINCEY 2004 [1827/1857]: 12-13. 20 CARR 1993 [1935]: 195 21 DE QUINCEY 2004 [1827/1857]: 15.
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dass er durch die Veröffentlichung der Protokolle die Öffentlichkeit auf deren niedere Machenschaften und ihre geringe Moral aufmerksam machen möchte. Die Mordliebhaber treffen sich, um sich gegenseitig von ästhetisch wertvollen Morden zu erzählen. In seiner Aussage beschreibt der Redner unintendiert genau das, was Krimiautoren machen: die Konstruktion und Konzeption, die Ästhetisierung eines Verbrechens und die „feinsinnige Verteilung von Licht und Schatten“. „Im Übrigen aber hat jedes Ding zwei Seiten. Den Mord zum Beispiel kann man einesteils von der moralischen und meiner Meinung nach schwächeren Seite betrachten […], man kann ihn andererseits aber auch ästhetisch würdigen, das heißt mit Rücksicht auf den künstlerischen Geschmack.“22
Der ‚gemeine‘ Krimileser verhält sich wie ein Mitglied des Clubs der Mordliebhaber. Er verdrängt die justizielle Realität und erfreut sich an der ästhetischen Seite des Mordes. Ernst Bloch gibt weiteren Aufschluss über den stereotypen Rezipienten: „Die Lage ist doch zu gemütlich, in der Detektivgeschichten am liebsten genossen werden. Im bequemen Sessel, unter der abendlichen Stehlampe, mit Tee, Rum und Tabak, persönlich gut gesichert und ruhevoll in gefährliche Dinge vertieft, die flach sind.“23
Der Krimileser ist also ein recht gut situierter, fest im Leben verankerter Typ Mensch, der sich nach getaner Arbeit bei Suchtmitteln verschiedenster Couleur, die Aufregung, die er in seinem tristen Leben sucht, durch die Detektivgeschichte zu befriedigen versucht. Nicht nur wird damit der Krimi stereotypisiert, sondern auch dessen Leser. Wenn sich alle Leser so sehr ähneln, erscheint ganz klar, dass sich auch die Krimis ähneln müssen. Der von Bloch beschriebene Rezipient scheint, gemütlich in seinem Sessel sitzend, nichts Neues, sondern Althergebrachtes zu wünschen. Er möchte überrascht und überrumpelt werden, aber doch bitte in der Konzeption, die er schon gewohnt ist.
22 DE QUINCEY 2004 [1827/1857]: 16. 23 BLOCH 1998 [1960/1965]: 38.
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D IE P ERSIFLAGE M URDER BY D EATH Murder by Death oder in der deutschen Fassung Eine Leiche zum Dessert kam 1976 nach der Idee und dem Drehbuch von Neil Simon in die Kinos.24 In diesem Film findet sich ein fast ungeschlagenes Ensemble der zu dieser Zeit hochkarätigsten Komödien-Schauspieler: Peter Sellers, David Niven, Peter Falk, Maggie Smith, Eileen Brennan und Alec Guinness. Außerdem Truman Capote, der als realer Schriftsteller seiner Figur im Film eine besondere Inter- bzw. Transmedialität und Anspielungsmöglichkeiten verleiht. Der Millionär Lionel Twain (Truman Capote) lädt die fünf berühmtesten lebenden Detektive zu einem Essen und zur titelgebenden „Leiche zum Dessert“ ein. Im Verlauf des Abends sterben (oder sterben nicht) einige Bedienstete sowie der Gastgeber selbst. Jeder ist verdächtig, alle haben ein Motiv und keiner ein Alibi. Am Ende steht die vermeintliche Auflösung, wie sie einer Detektivgeschichte oder zumindest einer Persiflage auf das Genre gebührt. Murder by Death ist eine der besten Persiflagen auf die Gattung und damit perfekt geeignet, um zu veranschaulichen, welche Klischees und Vorurteile es über den Krimi gibt. Diese Filmpersiflage soll im Folgenden als Schablone dienen, mithilfe derer die Klischees über die Kriminalliteratur vorgestellt werden.
K LISCHEE #2: D IE F IGUREN Jeder Schauspieler persifliert in Murder by Death mit seiner gespielten Figur eine literarische oder filmisch-literarische Vorlage. Inspektor Sidney Wang aus Catalina basiert auf der Figur des Charlie Chan, eines chinesisch-hawaiianischen Detektivs erschaffen von Earl Derr Biggers.25 Sein schlechtes und sehr komisches Englisch, seine diversen adoptierten Söhne, seine ständigen chinesischen Glückskeksweisheiten und seine etwas esoterisch östliche Logik werden hier von Peter Sellers persifliert.
24 Eine Leiche zum Dessert [orig. Murder by Death] 2003. Zitiert als ELzD 2003. 25 Bspw. BIGGERS 1986 [1929].
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Dick und Dora Charleston aus New York, Palm Beach sind ein begütertes Pärchen, das nur aus Spaß Verbrechen löst und ständig mit einem Drink in der Hand zu sehen ist. Sie basieren auf den Figuren Nick und Nora Charles aus Dashiell Hammetts Der dünne Mann26. Die Grundlage für Murder by Death bieten vor allem die filmischen Figuren der insgesamt sechs Verfilmungen mit William Powell und Myrna Loy.27 Milo Perrier und sein Chauffeur Marcel stehen für Agatha Christies wohlbeleibten, genusssüchtigen Belgier mit den Allüren eines Franzosen und der überdrehten Sorge um sein Aussehen, Hercule Poirot, begleitet von seinem Partner und Biographen Hastings.28 Jessica Marbles stellt wiederum einen Charakter aus den Werken Christies dar: Miss Jane Marple aus St. Mary Mead, England.29 Die Persiflage dieses Charakters basiert erneut mehr auf der Filmfigur, dargestellt durch Margaret Rutherford in den 60ern, die wenig mit der Romanvorlage Christies gemein hat.30 Als letztes ergänzen noch Sam Diamond und seine Sekretärin Tess Skeffington als Hommage an Sam Spade und Effie Perine aus Dashiell Hammetts Der Malteser Falke31 die Runde der Ermittler. Der schießwütige, aufbrausende und chauvinistische Raufbold aus San Francisco agiert immer nach dem Motto: Erst schießen und wenn am Ende noch jemand steht, werden ihm ein paar Fragen gestellt. Die Figuren werden in ihren Charaktereigenschaften wunderbar übertrieben, einzelne Aspekte herausgearbeitet und persifliert, sodass die Stereotypen, denen die Charaktere unterliegen, in jeder einzelnen Szene heraus-
26 HAMMETT 2004 [1934]. 27 Die komplette Dünner Mann Collection. 2005 [1934-47]. Hammett schrieb nur einen Roman mit diesen beiden Protagonisten, der im Vergleich zu seinen anderen hard-boiled novels deutliche Komikelemente enthält. Gerade diese Elemente wurden dann in den filmischen Adaptionen aufgenommen. 28 Bspw. CHRISTIE 2009 [1926]. 29 Bspw. CHRISTIE 2008 [1932]. 30 Agatha Christie Collection. 2009 [1961-64]. Christies Miss Marple ist um einiges subtiler und zurückhaltender als die Rutherfordsche Interpretation der Romanfigur. 31 HAMMETT 1974 [1930].
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stechen. Hier ist ein weiteres Klischee zu erkennen. Die Charaktere eines Krimis, sowohl die Ermittlerfigur als auch die Nebenfiguren, sind oft holzschnittartig und in ihren Eigenschaften und ihrem Handeln sehr eingeschränkt dargestellt. Sie haben extrem hervorstechende Charakterzüge und Eigenheiten, die wenig Spielraum für komplexe Psychologisierungen lassen. So scheint es bei einzelnen Autoren ein festes Personal zu geben, aus dem für jeden einzelnen Roman wie aus einem Karteikasten ausgewählt wird: so die ‚Jungfrau in Nöten‘, die ‚femme fatale‘, der ‚grobschlächtige Bodyguard‘, der ‚korrupte Anwalt‘ oder der ‚egozentrische Arzt‘. Die Figuren sind zwischen den Romanen fast beliebig austauschbar.
K LISCHEE #3: D ER O RT Nicht der Mord an sich, seine Ausübung und Planung, die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit seines Erfolges oder die Umsetzbarkeit in der Realität, sondern der Ort des Geschehens ist für die klassische Detektivgeschichte das am stärksten stereotype Moment. Bensonmum: „Mister Twain, wie Sie bald feststellen werden, zieht eine Atmosphäre vor, die ist ähm… eigenartig.“32
Damit kann Mister Twain eindeutig zu den klassischen Autoren der Detektivgeschichte gezählt werden, denn eigenartig sind deren Handlungsorte oft genug. Es ist Nacht und natürlich wütet draußen ein ungemütliches Wetter. Es regnet, es blitzt, es donnert, auch wenn es nur von innen diesen Anschein macht. Über eine Wettermaschine, die vor den Fenstern angebracht ist, lässt der Gastgeber den Anschein erwecken, dass die Stimmung draußen zu der schaurigen Stimmung im Haus passt. Die Atmosphäre ist düster und lädt – dem Klischee nach – geradezu zu einem Mord ein. Das Haus ist alt und abgelegen und fällt langsam auseinander. Die Türen quietschen und bei jedem Schritt knarzt es verräterisch. Die Brücke, über die man zum Haus gelangt, ist einsturzgefährdet, womit bereits die Anfahrt zu einer mörderischen Herausforderung wird. Die Uhren funktionieren nicht, sodass den
32 ELzD 2003: 00:12:31-00:12:32. (Orig. „Mister Twain, as you will soon discover, prefers his atmosphere murky.“)
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Gästen jegliches Zeitgefühl verloren geht und auch eine genaue Bestimmung des Mordzeitpunktes erschwert wird. All diese Aspekte sind eine klischeehafte Inszenierung durch den Mörder/Gastgeber. Auch der schauerliche Nebel rund um das Haus ist künstlich. Die ‚schreckliche‘ Umgebung wird durch die makaberen Schrei- und Stöhnsignale noch verschärft, die statt einer Türklingel oder eines Essensgongs verwendet werden. Natürlich dürfen auch Geheimgänge und Gucklöcher in den Gemälden nicht im Gesamtbild dieses künstlichen Mordhauses fehlen. Wirklich beeindruckt sind die Gäste jedoch nicht, schließlich verdienen sie ihr Geld mit solcherlei Herausforderungen. Murder by Death stellt hiermit das Klischee-Haus der klassischen Kriminalliteratur zur Verfügung. Mysteriöses Mobiliar (Uhren, denen die Zeiger fehlen; Zimmer, die es doppelt zu geben scheint; durchschnittene Telefonleitungen usw.), versteckte Gänge und Hinweise, wohin man auch schaut. Ganz in der Tradition bspw. Agatha Christies auf die Spitze getrieben, wird das Ganze dadurch, dass der Gastgeber das gesamte Haus absperrt und verriegelt. Daraus ergibt sich das Extrembeispiel des klassischen Handlungsortes: der locked room. Die Rolle des Autors übernehmen im Film schwarz behandschuhte Hände. Sie nehmen sich eine eigentlich angenehme Atmosphäre, die den Leser bzw. Betrachter im Normalfall nicht schockieren oder irgendwie irritieren würde, und verändern Kleinigkeiten, um diese schaurige Atmosphäre zu erzeugen. Hier wird in Murder by Death wieder überspitzt und das sinnbildliche Arrangieren einer Szenerie aus der Metaebene auf der internen Ebene des Werkes konkretisiert.33 Die wenigsten Autoren gestalten ihre Schauplätze aber mit so einfachen und stumpfen Mitteln. In den meisten Fällen wird die bedrückende Atmosphäre anders, nämlich über den Mord selbst hervorgerufen. Durch die Kontrastierung eines aristokratischen gut geführten Hauses mit dem Mord an einem Menschen wird die düstere Atmosphäre in den Romanen hergestellt. Nichts an der Einrichtung oder dem Haus an sich deutet auf so etwas Niederes wie Mord hin. Dass dieser dann doch dort geschieht, soll den Leser irritieren. Eine Leiche gehört den Erwartungen gemäß nicht in eine solche Umgebung des mindestens bürgerli-
33 Interessant ist hier die Besetzung, wenn man davon ausgeht, dass der Gastgeber Twain diese Vorkehrungen vornimmt. Der Schriftsteller Truman Capote spielt eine Figur, die handelt, als wäre sie ein Schriftsteller, indem sie das Setting für die kommende Handlung ‚ihrer‘ Figuren vorbereitet bzw. erschafft.
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chen Wohlstandes. Im Verlauf einer Kriminalerzählung wird die Atmosphäre durch die Beschreibung der Charaktere und deren Motive für den Mord vertieft. Ein Haus, in dem jeder einzelne einen Grund hatte, einen Mord zu begehen, bildet für sich schon ein düsteres Ambiente, da muss ein Autor nicht mehr viel nachhelfen. Hass und Misstrauen, Neid, Gier und alle abgründigen menschlichen Emotionen bilden die vorherrschende düstere Stimmung. Denkt man an spannende und besonders interessante Orte im Krimi, fällt in den meisten Fällen als erstes der Name der Queen of Crime Agatha Christie. Sie hat das Schema des locked room bis zur Perfektion oder eben bis zum Exzess getrieben. Seien es ein Waggon in einer Eisenbahn, eine entlegene Insel, ein Flugzeug oder einfach die verschlossene Bibliothek im englischen Herrensitz auf dem Lande; liest man die Romane Agatha Christies, wird einem augenblicklich klar, woher die Idee für das Spiel Cluedo kam, dessen Grundgedanke die klassische Detektivgeschichte auf ein Spielbrett transponiert.34 Ein Verbrechen in einem abgeschlossenen Raum stattfinden zu lassen hat natürlich seine Gründe im Spannungsaufbau. Durch den begrenzten Raum und den begrenzten Personenkreis, der Zugang zu diesem hat, ist eine ‚Verrätselung‘ des Geschehens für den Autor sehr viel einfacher. Alle Hinweise und Indizien liegen auf engstem Raum zusammen. Die Parameter des Verbrechens bleiben konstant, sodass die Schlussfolgerungen des Detektivs schnell, nämlich auf meistens nicht mehr als 200 Seiten, und folgerichtig erscheinen können. Gleichzeitig werden dem Leser alle wichtigen Informationen geliefert, ohne weitläufige Beschreibungen beifügen zu müssen. So wird das viel zitierte „fair play“ zwischen Autor und Leser eingehalten. Der locked room bietet dem Leser immer wieder ein spannendes Erlebnis, wenn am Ende das schier Unmögliche doch aufgeklärt wird und man erkennt, wie die Tat begangen werden konnte. John Dickson Carr hat in Der verschlossene Raum ein ganzes Kapitel in Form einer ‚Vorlesung‘ diesem Konzept gewidmet und sieben Kategorien vorgeschlagen; an dieser Stelle seien exemplarisch drei aufgeführt:
34 Eine später erschienene Filmpersiflage nimmt sich dezidiert dem Prinzip von Cluedo an: Alle Mörder sind schon da [orig. Clue] 2005 [1985].
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3. Der Mord wurde durch eine mechanische Vorrichtung begangen, die vor dem Abschließen bereits in den Raum gebracht worden war. 5. Der Mord war begangen, ehe der Raum verschlossen wurde – der Eindruck, dass der Ermordete noch in dem verschlossenen Raum gelebt hat, wurde durch technische Mittel, z.B. Grammophon usw., erweckt. 6. Der Mord wurde von außen begangen, aber die Möglichkeit dazu (z.B. Abschießen einer ungewöhnlichen Schusswaffe, Schleudern von Gift usw.) wurde übersehen.35
Diese Analysekategorien korrespondieren mit den nächsten Klischees, dem Ablauf des Mordes und der Ermittlungsweise.
K LISCHEE #4: D ER T ATHERGANG E RMITTLUNGSART
UND
DIE
Ist schon der Handlungsort verwinkelt und trickreich, so ist die Konzeption des Verbrechens, die Vorgehensweise des Mörders und damit auch die des Autors geradezu unglaublich. Am laufenden Band werden falsche Fährten gelegt und Ablenkungen eingebaut, damit der Leser auf keinen Fall vor den letzten zehn Seiten den Mörder entlarvt. Der Leser soll miträtseln und anhand der vom Detektiv angeführten Beweise und Gedankengänge versuchen, den Mörder noch vor diesem zu enttarnen und zu überführen. Dass dies schlussendlich eigentlich nicht gelingen kann, muss dabei dem Leser verborgen bleiben. Zu keinem Zeitpunkt darf er das Gefühl haben, dass ihm wichtige Informationen vorenthalten werden und in Folge des „fair play“ dürfen sie dies auch nicht. In den meisten Fällen werden die Hinweise aber so beiläufig erwähnt, dass sie ihm nicht auffallen und er erst am Schluss erkennt, was er alles übersehen hat. Hieraus resultiert der große Vorwurf, der sich, abgeleitet von der Konzeption der Detektivgeschichte, an das gesamte Genre richtet. Lionel Twain, der Gastgeber in Murder by Death, artikuliert in seinem finalen Monolog die Vorwürfe einer gesamten Leserschaft, die sich darüber aufregt, dass sie es wieder einmal nicht geschafft hat, das Whodunit zu lösen und am Ende geradezu vorgeführt wurde:
35 Vgl. CARR 1993 [1935]: 200-201.
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„Ihr Kriminalhelden seid so lange so clever gewesen, dass ihr euch inzwischen wie Götter vorkommt. Mit der billigsten Effekthascherei führt ihr eure Leser an der Nase herum. Ihr quält sie mit aus den Fingern gesogenen Schlüssen, die keinen Sinn haben. Noch auf den fünf letzten Seiten führt ihr Charaktere ein, die im ganzen Buch mit keinem Federstrich erwähnt wurden. Bei Ihnen [Jessica Marbles/Jane Marple, Anm. GS] gibt es nicht den verstecktesten Hinweis, Informationen werden zurückgehalten, damit nur keiner errät, wer der Täter ist.“36
Doch hier liegt die große Stärke der Detektivgeschichte: Trotz eines vorhandenen, nur schwach abwandelbaren Schemas gelingt es ihr, den Leser immer wieder zu verwirren und auf falsche Fährten zu leiten, was er paradoxerweise aber gerade erwartet. Denn in dem Moment, in dem er den Fall vor der offiziellen Verkündung der Lösung auflöst, wird der Krimi als ‚schlecht‘ deklariert, denn er hat sein Ziel nicht erfüllt. Den verärgerten Lesern muss man aber zugute halten, dass die Lösungen in einigen Fällen in der Realität kaum durchführbar erscheinen. Wiederum Carr lässt seinen Dr. Fell dazu kommentieren: „An dieser Stelle scheint nun der Hinweis angebracht, daß das Wort ‚unwahrscheinlich‘ das alleruntauglichste ist, wenn es darum geht, Detektivromane zu kritisieren. Ein Großteil unseres Vergnügens an Detektivromanen beruht doch geradezu auf dem Vergnügen am Unwahrscheinlichen.“37
Carr vergleicht in seinem Roman die Detektivgeschichte mit den Illusionen bei einer Zaubershow. Der Zuschauer bzw. Leser will hinters Licht geführt, überrascht, verblüfft und betrogen werden. Wird die Illusion doch einmal aufgelöst und vorgeführt, wie einfach doch das dahinterstehende Prinzip ist, ist der Zuschauer enttäuscht, weil dies ‚ja jeder bewerkstelligen könnte‘.
36 ELzD 2003: 01:26:13-01:26:39. - Twain zeigt hier ähnliche Ansprüche an einen guten Kriminalroman, wie es auch Knox oder Van Dine mit ihren Regelwerken postulierten. Damit zeigt sich wiederum eine Verknüpfung von inner- und außerliterarischer Welt bzw. eine Dreieckskonstellation aus Primärliteratur, Sekundärliteratur und filmischer Persiflage. 37 CARR 1993 [1935]: 196.
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Die Arbeit, die zu so einer Illusion notwendig ist, sehen sie aber nicht. Entsprechend verhält es sich bei der konstruierten Detektivgeschichte.38 Die Ermittlungsart der Detektive korreliert auf interessante Art mit der abwegigen Konzeption des Verbrechens. Ist die Vorgehensweise des Mörders schon undurchsichtig und bietet Platz für Klischees und Vorwürfe, so ist die Ermittlung dafür geradezu prädestiniert. Hercule Poirot, das literarische Original, verlässt sich hierbei auf seine „little grey cells“, Miss Marple hat ihr beschauliches St. Mary Mead so gut wie nie verlassen und erfasst die Situation einfach über Analogieschluss. Sam Spade schlägt zu, um anschließend noch ein paar Fragen zu stellen. Fernöstliche Weisheiten bieten Charlie Chan alles, was er braucht, um den Fall zu lösen. Alle haben gemein, dass sie, wenn sie etwas Entscheidendes zur Lösung des Falles herausfinden, es niemals rundheraus äußern würden. Sie behalten es bis zum Schluss für sich und platzen dann in einem kolossalen Ende damit heraus, damit alle Anwesenden sich von ihrer Überlegenheit überzeugen können. Wie sie darauf gekommen sind, ist auch nach ihrer Erklärung meistens nicht im Ganzen nachvollziehbar. Als wunderbares Beispiel dafür kann in Murder by Death die Herangehensweise Inspektor Wangs dienen. Er ist in der Lage, ein „uraltes, geschmackloses, farbloses und geruchloses orientalisches Kraut, was sofort tötet,“39 ohne Hilfsmittel zu identifizieren. Auch seine Herangehensweise zur Auffindung des Mörders erscheint bestechend einfach: Willie: „Paps. Was glaubst du wer der Mörder ist?“ Wang: „Muss erst überschlafen. Werde morgen Mörder kennen. Wenn aufwachen.“ Willie: „Und wenn du morgen nicht aufwachst?“ Wang: „Dann bist du gewesen.“40
So abwegig wie diese Eingebung im Schlaf kommen einem oft auch die Ansätze der Detektive in Kriminalromanen vor.
38 Vgl. CARR 1993 [1935]: 160-161. 39 ELzD 2003: 00:35:42-00:35:48. 40 ELzD 2003: 01:15:43-01:15:52.
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K LISCHEE #5: D ER T ÄTER Die Überführung des Täters wäre so einfach, wenn nicht jede Figur ein absolut maßgeschneidertes Motiv für den jeweiligen Mord hätte. Es ist auffällig, wie sich an einem abgelegenen Ort so viele Menschen versammeln können, die eine dermaßen große Antipathie gegen das Opfer hegen, um es zu töten. Gerade das Figurenensemble bei Christie könnte unwahrscheinlicher und mörderischer nicht sein. Ein besonderes Klischee hat sich mit der Zeit herausgearbeitet, das so unglaublich verbreitet und dabei so unwahrscheinlich ist, dass man es mittlerweile als Phraseologismus ansehen kann. Ein einzelner Satz scheint das gesamte Genre ad absurdum zu führen, in dem es im Kern um die Frage „Whodunit“ geht. Die Frage, die im letzten Kapitel geklärt werden soll, lautet: Ist es wirklich immer der Gärtner? Bei Agatha Christie gilt in den meisten Fällen, wer als Mörder am wenigsten verdächtig erscheint, wer als erstes auszuschließen ist, der ist mit aller größter Wahrscheinlichkeit der Täter. Dies gilt natürlich nicht immer, vor allem wenn es entgegen der Regel gleich mehrere Täter gibt. Im Falle von Inspektor Wangs Auflösung in Eine Leiche zum Dessert ist es der Butler und nicht der Gärtner. Muss es also eigentlich heißen: „Der Mörder ist immer der Butler“? Könnte es vielleicht auch das Dienstmädchen oder die Köchin oder der Chauffeur sein? Macht das einen Unterschied? Ist es in diesem Klischee wirklich wichtig, dass es der Gärtner war, oder ist es vielmehr so, dass man das Klischee auch verallgemeinern und daraus „Der Mörder ist immer ein Teil des Hauspersonals“ machen könnte? Was ist dem Krimileser so suspekt an den Bediensteten, dass er ihnen allen sogar einen Mord zutrauen würde und sie unter Generalverdacht stellt? Die Detektivgeschichte spielt seit Agatha Christie immer mindestens im gehobenen Bürgertum oder der Aristokratie. In der Konzeption kommt man damit nicht ohne das Hauspersonal aus; es gehört sozusagen zum Inventar. Und das ist auch schon der erste Punkt, der es verdächtig macht: es ist anwesend und zwar immer und überall. Es kennt jeden Winkel des Hauses, jeden Schleichweg und jede knarzende Diele, die es auf dem Weg zum Mord oder wieder davon weg verraten könnte. Es hat Zugang zu allen Räumlichkeiten und kennt jedes Versteck für eine Mordwaffe. Natürlich war es am Tatort, schließlich ist es dafür angestellt worden, immer dort zu sein, wo es gebraucht wird, ohne jedoch die Damen und Herren zu stören,
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indem es gesehen wird. Nicht umsonst gibt es Bedienstetenwege in großen Häusern, versteckte Gänge und Türen, durch die das Personal ungesehen in jeden Raum gelangen kann. „Wird ein Lakai durch Klingeln in den Salon gerufen, so begiebt er sich möglichst schnell dorthin und erwartet, in der Nähe der Thüre stehen bleibend, den Befehl. Ist das im Salon anwesende Mitglied der Herrschaft etwa momentan beschäftigt, so wartet er ruhig ab, bis er angeredet wird.“41
So sind die Bediensteten in vielen Fällen die letzten, die das Opfer lebendig gesehen haben, wenn sie ihnen beispielsweise ihren letzten Tee brachten und unbemerkt wieder verschwanden. Sie müssen es einfach gewesen sein, denn sie sind Proletarier. Kein Angehöriger der höheren Klassen könnte ein so schreckliches Verbrechen begehen wie Mord; die unteren Klassen aber stehen unter Generalverdacht. Soweit es die Gedankengänge des typischen (klassischen) Lesers betrifft. Aber ist es denn nun immer der Gärtner? Betrachtet man die Täter der Detektivromane, so hat Conan Doyle häufig noch die Klischees befeuert und die Middleclass oder ‚Niedrigeres‘ zum Täter gemacht. Seit Agatha Christie sind die Verbrecher meist in der Upperclass zu finden, was den klassischen Leser noch mehr erschüttert. Von Personen, wie bspw. Professoren, Ärzten, Juristen oder dergleichen, erwartet man solche Taten einfach nicht. Das erinnert an das dramatische Prinzip der Fallhöhe. Wirklich tragisch kann etwas nur sein, wenn die betreffende Person eine gehobene Stellung innehat und so der Sturz umso tiefer ist. Die Regeln einer Detektivgeschichte, die Knox formuliert hatte, wurden bereits erwähnt. Natürlich war er nicht der Einzige, der sich daran versuchte. S.S. Van Dine hat seinerseits sogar 20 Regeln aufgestellt, von denen die Regeln zehn und elf an dieser Stelle relevant sind: „10. Der Täter muss eine Person sein, die in der Geschichte eine mehr oder weniger bedeutende Rolle gespielt hat – eine Person also, die dem Leser vertraut ist und für die er sich interessiert.“42
41 HEINRICH XXVIII 1900. 42 VAN DINE 1971 [1946]: 144.
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Hier schließt Van Dine den Butler oder den Gärtner noch nicht vollkommen aus, auch wenn er implizit darauf bereits hinweist. Der Leser interessiere sich üblicherweise nicht für das Hauspersonal. „11. Der Autor darf keinen Diener zum Täter machen. Das hieße den Kern der Sache umgehen: die Lösung wäre zu einfach. Der Täter muss unzweifelhaft eine ehrenwerte Person sein – eine, die normalerweise über Verdacht erhaben ist.“43
Gärtner, Butler, Mägde, Zofen, Diener, Kutscher. Egal welchen Beruf sie ausüben, wenn sie nicht einer entsprechenden Schicht angehören, besitzen sie nach dieser Einschätzung keine Ehre, stehen automatisch unter Verdacht und gleichzeitig interessiert sich keiner für sie. Das einzig Gute ist: Ermordet haben sie vermutlich niemanden. Dieses Klischee kommt also aus dem simplen und schnellen Gedanken des Krimilesers, dass es nur ein ‚ehrloses‘ ‚unterklassiges‘ Individuum gewesen sein kann. Ist es in einem Krimi doch einmal der Gärtner, so stellt sich am Ende oft genug heraus, dass er eigentlich das uneheliche Kind des Opfers, ein verschmähter Liebhaber oder ein ehemaliger Geschäftskollege des Opfers war, der sich nur verkleidet und als Gärtner ausgegeben hat; in diesem Fall gehört er also eigentlich nicht der entsprechenden Klasse an. Reinhard Mey hat mit seinem Lied Der Mörder ist immer der Gärtner aus dem Jahr 1971 die ganze Thematik und den vielleicht abwegigen Schluss unter Bezug und Rückgriff auf einschlägige Figuren der Kriminalliteratur sehr gut zusammengefasst. Ob Mey wirklich der Verantwortliche für die Verbreitung dieser Phrase ist, wie es unter anderem Wikipedia behauptet, erscheint für den deutschsprachigen Raum als möglich, aber kaum überprüfbar.44
43 VAN DINE 1971[1946]: 144. 44 WIKIPEDIA: Reinhard Mey – Der Mörder ist immer der Gärtner.
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D ER K RIMI
HEUTE
Der heutige Krimi hat an vielen Stellen nicht mehr viel mit dem klassischen gemein, auch wenn sich der Großteil der Autoren immer noch an die siebte Regel von S.S. Van Dine hält: „7. Im Detektivroman muss es ganz einfach eine Leiche geben, und je toter sie ist, desto besser. Ein kleineres Verbrechen als Mord reicht einfach nicht aus. Dreihundert Seiten sind zu viel Aufhebens für etwas Geringeres. Schließlich müssen des Lesers Mühe und Energieaufwand belohnt werden.“45
Mord ist und bleibt eben ein Garant für einen Bestseller oder um es mit den Worten des Thriller-Autors Robert Wilson zu sagen: „The setting comes first, followed by the characters and I may start the ball rolling by killing someone.“46 Der Versuch, den aktuellen Kriminalroman in die beiden Subgenres Detektivgeschichte und Thriller zu pressen, gestaltet sich an vielen Stellen als schwierig. In den letzten Jahren und Jahrzehnten haben sich Mischformen dieser beiden klassischen Pole gebildet, die die besten oder auch einfach massenwirksamsten Aspekte beider miteinander verbinden.47 Der locked room ist in seiner extremen und klassischen Form fast nicht mehr zu finden. Aber das Grundprinzip der etwas abgeschotteten Tatumgebung bleibt bestehen, aus Rücksicht sowohl auf den weiterhin miträtselnden Leser als auch auf den konzipierenden Autor. Der Krimi versucht heute auf der Basis des Mordes, aktuelle gesellschaftliche, politische, soziale und soziologische Themen zu verarbeiten. Sei es Terrorismus, Menschenhandel, Hunger und Krankheiten, Rechts- oder Linksextremismus. Das ist auch eine Erklärung für den Wandel von 200 zu im Schnitt 400-600 Seiten Kriminalroman.48 Der Krimi in all seinen Unterkategorien und Schattierungen ist heute sehr viel mehr als die Klischees, die in diesem Aufsatz vorgestellt wurden. Auch diese aktuellen Entwicklungen sind keine komplette Neuerfindung des
45 VAN DINE 1971 [1946]: 144. 46 GAINES 2004. 47 Vgl. VOGT 2007: 39-54. 48 Der Thriller weitet dann sowohl die inhaltliche Schwerpunktsetzung auf die Psychologie und/oder Politik und den Umfang der Bücher noch mehr aus.
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Genres, sondern wieder ‚nur‘ eine Variation bereits bekannter Schemata. Doch gerade diese neue Variation ist es, die Krimileser wieder fesselt, es aber auch bereits ‚krimisozialisierten‘ Lesern möglich macht, sie mit Genuss zu lesen. Dies hat Brecht mit seiner Äußerung über das ästhetische Niveau des Genres durch sein Schema aufgezeigt. Gerade diese Gratwanderung zwischen Wandlung und Schema macht es dem Krimi möglich immer noch eines der prominentesten Produkte des Buchmarktes und mit Abstand das auflagenstärkste zu sein. In nur wenigen Genres ist es so gut möglich, ein ‚neu‘ aufgekommenes Sujet marktwirksam auszuschlachten und damit neue Klischees zu begünstigen. „Serienmörder sind immer gut. Nie zuvor gab es im Kriminalroman so viele absurde Serienkiller, so lächerliche Figuren und so peinliche Plots wie derzeit. […] Der Serienmörder ist geradezu das Symbol der literarischen Verkümmerung eines Genres. […] Und obwohl noch kein Kriminalpsychologe der Welt je solche Täter gesehen hat, bevölkern sie in Legionsstärke den zeitgenössischen Kriminalroman, eine Figur aberwitziger als die andere.“49
Bei den von Käppner genannten Serienkillern stehen klar die Motivation und die Ursachen für dessen Handeln im Vordergrund. Die typische Problematik ist bekannt: Schwere Kindheit, Vater schlägt Mutter, Mutter zündet Haus an, Kind wird Feuerwehrmann und Pyromane oder Vater vergewaltigt Kind, Kind flüchtet in Scheinwelt, bildet multiple Persönlichkeiten aus, die lustig mordend durch die Welt streifen.50 Hier stellen sich die Romane auch oft als Einführungswerke in die klinische Psychologie dar, mit seitenlangen Erklärungen darüber, dass es nicht mehr MPS – Multiple Persönlichkeiten Syndrom – sondern DIS – Dissoziative Identitätsstörung – heißt. Für die Ermittlung und Überführung des Täters sind diese Informationen nur scheinrelevant. Und diese Art von Täter und der daraus folgende Ermittlertyp sind fast wie eine Pandemie über die Kriminalliteratur und vor allem den Thriller hereingebrochen.
49 KÄPPNER 2011. 50 Dies sollen nur wenige stereotype Beispiele für geradezu inflationär gebrauchte Versatzstücke in Thriller-Plots sein.
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Nach der Auseinandersetzung mit den klassischen Klischees und den fast veralteten Stereotypen, soll ein Blick auf die neuen Klischees diesen Aufsatz abschließen. In BigBirds Big Blog heißt es u.a.: •
„Verschwörungen. Überall Verschwörungen! Wenns [sic] nicht die Illuminaten sind, sind es die Freimaurer oder religiöse Fanatiker.
•
Alternativ: Ein seit seiner Kindheit gestörter Täter (seltener: eine seit der Kindheit gestörte Täterin), der/die sonst unauffällig ist und dann urplötzlichlich [sic] (alternativ: durch einen bestimmten Auslöser) zum Serientäter wird.
•
Bei fehlender Handlung kann man gut die Landschaft oder die Lokalgewohnheiten beschreiben (wozu schließlich gibt es die skandinavischen Krimis oder die Deutsch-Regional-Krimis aus der Eiffel oder sonstwoher). […]
•
Generell gilt: Es ist meistens die Person der Täter, die schon vorkam, eine mittelwichtige Rolle gespielt hat und am wenigstens [sic] verdächtig ist, gerne auch mal jemand aus den Reihen der Polizei oder eine dem (ersten) Opfer nahestehende Person.“51
Dieser Blogeintrag soll stellvertretend für die Rezeption der breiten Leserschaft aufzeigen, dass es keinen Stillstand bezüglich der Klischeebildung bei Schemaliteratur zu geben scheint. Der letzte Punkt sticht nach den bereits getätigten Ausführungen besonders ins Auge. Wird auch das Ermittlerpersonal ausgewechselt, der Handlungsort verlegt und das Figurenensemble zeitgemäß etwas aufgefrischt, bleibt bei der Suche nach dem Täter anscheinend immer noch alles beim Alten.
S CHLUSSWORTE Es gibt Vorurteile über den Krimi und den Krimileser und beide gründen sich auf Schemata der klassischen Detektivgeschichte, obwohl sie in dieser Form heute eigentlich nicht mehr zu finden ist. Die meisten Klischees überspitzen durchaus vorhandene Charakteristika des Genres oder zeichnen die Gedanken und Schlussfolgerungen des Krimilesers nach, wie es im Fall des Gärtners geschieht. Angst sollte man also weniger vor seinem Hauspersonal
51 BIGBIRDS BIG BLOG 2009. Zuletzt eingesehen am 19.08.2014 von http://www. blogs.uni-osnabrueck.de/bigbird/2009/09/02/top-10-krimi-klischees/
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haben, sondern eher vor Ärzten und Anwälten. Es sollten geschlossene Räume gemieden werden und manchmal kann man einen Fall auch lösen, indem man darüber schläft. Der vorliegende Aufsatz kann weder alle Klischees hinreichend darstellen, geschweige denn die Hintergründe erschöpfend beleuchten, die zu seiner Popularität führen. Gerade die Vorwürfe, die die moderne Literaturkritik den aktuellen Romanen vorhält, können nur mit einer komparativen Betrachtung der von der Kritik gefeierten Romane verstanden werden. Der moderne Krimi stellt sich als Gesellschaftsroman dar, der auf textueller Ebene die globalisierte und industrialisierte Welt und vor allem eben den Menschen in dieser abbildet, mit all seinen Abhängigkeiten vom modernen Leben. Diese Abhängigkeit führt den an sich freien Menschen in eine alltägliche Routine, aus der er in reinstem Eskapismus fliehen kann. Die im Krimi behandelten Themen geben dem Rezipienten dann den letzten ‚Kick‘. Das Gefährliche, das er in seiner Alltagswelt so schmerzlich zu vermissen scheint, gibt ihm die existenzielle Angst, die der moderne Mensch nur noch selten zu erleiden hat. In Form des Krimis kann er diese aber wieder fühlen, ohne jedoch einer wirklichen Gefahr ausgesetzt zu sein. Der Krimi wird sich, qua Schemaliteratur, wahrscheinlich nie von seinen alten oder neuen Klischees losmachen können. Aber in diesen Klischees liegt nicht nur sein Erfolg, sondern eben auch seine Stärke.
L ITERATUR Primärliteratur CARR, John Dickson: Der geschlossene Raum. Köln: Du Mont, 1993 [1935]. CHRISTIE, Agatha: Alibi. 2. Aufl. Frankfurt a.M.: Fischer 2009 [1926]. CHRISTIE, Agatha: Der Dienstagabend-Club. Frankfurt a.M.: Fischer 2008 [1932]. DE QUINCEY, Thomas: Der Mord als schöne Kunst betrachtet. Berlin: Autorenhaus Verlag 2004 [1827/1854]. HAMMETT, Dashiell: Der Malteser Falke. 29. Aufl. Zürich: Diogenes 1974 [1930].
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HAMMETT, Dashiell: Der dünne Mann. 20. Aufl. Zürich: Diogenes 2004 [1934]. HEINRICH XXVIII Prinz Reuß zu Köstritz: Der korrekte Diener. Handbuch für Herrschaften und deren Diener. Berlin: Paul Parey 1900. Sekundärliteratur ALEWYN, Richard: Anatomie des Detektivromans. In: VOGT 1998 [1968/1971], S. 52-72. BIGBIRDS BIG BLOG: Top 10 Krimi Klischees. September 2009. http://www.blogs.uni-osnabrueck.de/bigbird/2009/09/02/top-10-krimiklischees/ [19.08.2014]. BLOCH, Ernst: Philosophische Ansicht des Detektivromans. In: VOGT 1998 [1960/1965], S. 38-51. BRECHT, Bertolt: Über die Popularität des Kriminalromans. In: VOGT 1998 [1938/1940], S. 33-37. BUCHLOH, Paul & BECKER, Jens (Hgg.): Der Detektiverzählung auf der Spur. Essays zur Form und Wertung der englischen Detektivliteratur. Darmstadt: WBG 1977. CAILLOIS, Roger: Der Kriminalroman oder: Wie sich der Verstand aus der Welt zurückzieht, um seine Spiele zu spielen, und wie darin dennoch die Probleme der Gesellschaft behandelt werden. In: VOGT 1998 [1941], S. 157-180. ENGEL, Patrick: Spannung in verschiedenen Grundtypen der Detektivliteratur. Trier: WVT 2008. FREEMAN, Austin: Die Kunst der Detektivgeschichte. In: BUCHLOH & BECKER 1977 [1924], S. 103-115. GAINES, Luan: Robert Wilson im Interview. CurledUp 2004. Zuletzt eingesehen am 19.08.2014 von http://www.curledup.com/intrw2.htm. HEISSENBÜTTEL, Helmut: Spielregeln des Kriminalromans. In: VOGT 1998 [1963/1966], S. 111-120. KÄPPNER, Joachim: Der Gärtner war’s. Online-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung Januar 2011. http://www.sueddeutsche.de/kultur/kriminalliteratur-der-gaertner-wars-1.985071 [19.08.2011] KNOX, Ronald A.: Zehn Regeln für einen guten Detektivroman. In: BUCHLOH & BECKER 1977 [1929], S. 191-192.
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Das Narrativ und das Erleben Strategien zur medialen Inszenierung von Echtzeit C HRISTIAN S TEIN
The research topic of this paper is the narration of real time and the narration in real time. It gives an overview of different types of real time and parallelises the analytical categories of narratology following Genette and the mechanisms of temporal orchestration in the TV show 24. By a ticking digital clock, split screens or iterating through different lines of action a high degree of tension is permanently maintained. The article concludes with an analysis of the narrative strategies necessary for a real time series and their limits. George Mason: „You have no idea what you’re getting yourself into.“ Jack Bauer: „Why don’t you explain it to me. You’ve got five seconds.“ 24 - TWENTY FOUR: 12:00 A.M.-1:00 A.M.
E CHTZEIT
UND ECHTE
Z EIT
Wenn von Echtzeit die Rede ist, können in der Regel drei verschiedene Dinge gemeint sein: Echtzeitsysteme, Zeitdeckung in Literatur und Film sowie das Echtzeitstrategiespiel. Während es im ersten Fall um Informationsübermittlung geht, handelt es sich in beiden anderen Fällen um inszenierte Echtzeit, die sich nicht notwendigerweise auf echte Zeit bezieht.
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Echtzeitsysteme Im Kontext der Informationstechnologie referiert Echtzeit auf informationstechnische Systeme, die in der Lage sind, mit nur sehr geringen Verzögerungen zu reagieren. Solche Systeme sind in der Regel reaktiv ausgelegt, d.h. sie reagieren auf Ereignisse oder Daten und verarbeiten bzw. visualisieren diese mehr oder weniger zeitgleich mit ihrem Erscheinen. Prominente allgemein bekannte Echtzeitsysteme sind beispielsweise das Global Positioning System (GPS), Online-Börsenhandel, Echtzeit-Auktions-Systeme, Echtzeit-Wetteranalyse und auch Kommunikationssysteme wie Chat, Messaging oder kollaborative Textbearbeitung. Mit zunehmender Digitalisierung und massiv gestiegenen Rechnerkapazitäten bzw. Übertragungsgeschwindigkeiten hält das Prinzip der Echtzeit auch in vielen Geschäftsbereichen Einzug: So sind im Marketing bereits seit längerem RealtimeDecision-Systeme bzw. Real-Time-Bidding Systeme im Einsatz, bei denen Entscheidungen maschinengestützt so schnell erfolgen, dass hier von Echtzeit die Rede sein kann. „Bei Nicht-Echtzeitsystemen kommt es ausschließlich auf die Korrektheit der Verarbeitung und der Ergebnisse an. Beispiele für Nicht-Echtzeitsysteme sind Systeme ohne Zeitbedingungen für betriebswirtschaftliche Kalkulationen, für mathematische Berechnungen, usw. Bei Echtzeitsystemen ist neben der Korrektheit der Ergebnisse genauso wichtig, dass Zeitbedingungen erfüllt werden. Gemäß DIN 44300 wird unter Echtzeitbetrieb bzw. Realzeitbetrieb der Betrieb eines Rechnersystems verstanden, bei dem Programme zur Verarbeitung anfallender Daten ständig betriebsbereit sind, so dass die Verarbeitungsergebnisse innerhalb einer vorgegebenen Zeitspanne abrufbar sind. Die anfallenden Daten oder Ereignisse können je nach Anwendungsfall nach einer zufälligen zeitlichen Verteilung oder zu bestimmten Zeitpunkten auftreten.“1
Echtzeitsysteme sind spätestens seit der Jahrtausendwende allgegenwärtig, breiten sich in mehr und mehr Bereiche aus und bestimmen Berufs- wie Privatleben in immer umfassenderer Weise mit. Entscheidend für die Wahrnehmung dieser Entwicklung ist dabei, dass relevante Information immer schneller und überall zur Verfügung steht und diese Information ei-
1
WÖRN / BRINKSCHULTE: 2005: 1.
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nen direkten Zusammenhang mit Entscheidungs- und Bewertungsprozessen aller Art hat. Die Verbindung von Echtzeitsystemen mit Situationen der Gegenwart ist damit ein allgemeines Phänomen von Alltagswahrnehmung, zumindest in Industriestaaten. Wie noch zu zeigen sein wird, ist das Erleben einer mit Echtzeitsystemen durchdrungenen Gegenwart auch relevant für Narrative, die diese Zeit und ihre Realitätswahrnehmung zum Gegenstand haben. Zeitdeckung In Literatur und Film versteht man unter Echtzeit die Übereinstimmung von dargestellter Zeitdauer und Erzähldauer. Die dargestellte Zeit liegt dabei im Unterschied zu Echtzeit-Systemen nicht möglichst nah an der Gegenwart, sondern befindet sich entweder fiktiv oder faktual in der Vergangenheit. Das bedeutet, dass die Narrative in Film und Literatur, die Echtzeit als Erzählstrategie nutzen, weniger einen Bezug zur Gegenwart aufweisen, sondern primär die Authentizität des Nacherlebens erhöhen sollen. Um das zu gewährleisten, muss auf viele Gestaltungselemente der Narration verzichtet werden. Wo normalerweise die Dramaturgie der Narration und die Relevanz der Ereignisse die Wahl des Umgangs mit Zeitdarstellung bestimmt, gilt nun ein striktes Echtzeitgebot, das nicht durchbrochen werden darf: Denn eine inkonsequent durchgehaltene Echtzeit wäre eben keine Echtzeit mehr.2 In der Literaturwissenschaft werden in der Regel Erzählzeit und erzählte Zeit unterschieden. In den meisten Fällen sind diese nicht deckungsgleich, so dass es häufig zu Zeitdehnungen bzw. Zeitraffungen kommt, die sich zudem noch abwechseln und unterschiedliche Zeitverhältnisse aufbauen können. Üblich sind hier Ellipsen (Zeitsprünge), Analepsen (Rückblenden) und Prolepsen (Vorausschauen) sowie Anachronien, die die Handlung nicht in ihrer zeitlichen Reihenfolge erzählen. Von Echtzeit ist nur dann die Rede, wenn Erzählzeit und erzählte Zeit nahezu gleich verlaufen, was auch als Zeitdeckung bezeichnet wird. In der Literatur ist das schwierig und nur
2
Einige Beispiele für Echtzeitanwendung in Filmen sind Zwölf Uhr mittags, Lola rennt, Gegen die Zeit oder 88 Minuten. Bei diesen Beispielen fällt bereits auf, dass Echtzeit und Geschwindigkeit nicht einfach angewendet, sondern zur zentralen, titelgebenden Eigenschaft erhoben werden.
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annähernd zu erreichen, da parallel ablaufende Prozesse medienbedingt nur seriell dargestellt werden können, Wort- und Satzverständnisse aus dem Kontext erschlossen werden und Lesegeschwindigkeiten stark variieren: „Die erzählte Zeit wird bestimmt als Kategorie, mit der die Dauer des beschriebenen Geschehens im Text erfasst wird. Die Erzählzeit bemißt sich hingegen durch die Dauer, die der Vorgang des Lesens einnimmt; da aber die individuellen Lesegeschwindigkeiten stark voneinander abweichen, ist es sinnvoll, diese Kategorie an der räumlichen Ausdehnung des Textes (also Seiten oder Zeilen) zu messen.“3
Auch, wenn es Ansätze gibt, hier genauer zu differenzieren, bleibt die Grundproblematik vor allem in Bezug auf Echtzeit in Literatur erhalten.4 Der im Naturalismus entwickelte Sekundenstil macht das Problem deutlich: Die vermeintlich sekundengenaue Erzählung von Sinneswahrnehmungen, Bildfolgen oder Bewegungen inkludiert dem eigenen Anspruch folgend das banale Detail genauso wie das bedeutsame und rückt den Leser so viel stärker in die Position des Beobachters, der sich selbst ein Bild schaffen muss.5 Dabei müssen die Zeitanforderungen der Dramaturgie mit denen der Echtzeit verbunden werden, ohne dass die Erzählung dabei zu langweilig wird, unlogische Sprünge entstehen oder Höhepunkte zu schnell verstreichen. Echtzeitstrategie Neben den Echtzeitsystemen und Echtzeit in Narrationen der Literatur oder des Films ist der dritte wesentliche mediale Anwendungskontext von Echtzeit das Echtzeitstrategiespiel. Bei dieser Form des Computer-Strategiespiels führen alle Spieler ihre Aktionen gleichzeitig mit einer gleichmäßig ablaufenden Zeit aus. Diese Form des Strategiespiels wurde mit dem Erscheinen des ersten Command & Conquer-Spiels 1995 populär. Bis dahin waren beinahe alle Strategiespiele rundenbasiert. In einem Echtzeitstrategiespiel kommandiert der Spieler typischerweise in einem Kriegsszenario
3 4
STEPATH 2006: 173. Gérard Genette beispielsweise unterscheidet das Verhältnis zwischen der Zeit der Erzählung und der Zeit der Geschichte in Ordnung, Dauer, Tempo und Frequenz. Vgl. GENETTE & LEWIN 1983: 61ff.
5
Vgl. MÜLLER 1968: 269–286.
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Einheiten, erkundet mit diesen ein zu Beginn noch unbekanntes Gebiet, baut Ressourcen ab und errichtet eine militärische Basis, um neue Einheiten produzieren zu können. Ziel ist es, den Gegner militärisch zu besiegen: „Strategy games involve command and control over an army in a world. Resources must be managed, and a strategic thinking is required to win. Some simulation games and real-time strategy games like Red Alert fall in this genre. The greatest challenge in real-time strategy games is the player’s limited capacity for attention.“6
Der Spieler steht dabei kontinuierlich unter Zeitdruck. Einheiten bewegen sich unterschiedlich schnell und benötigen unterschiedlich lange, um produziert zu werden. Der Spieler muss sich dabei meist entscheiden, ob er technologisch einfachere Einheiten früh und zahlreich produziert oder sich auf die Erforschung neuer Technologien konzentriert, um später einige höher entwickelte und mächtige Einheiten produzieren zu können. Häufig muss der Spieler priorisieren, welche Befehle er zuerst und in welcher Reihenfolge ausführt, da es immer wieder zu Situationen kommt, in denen eigentlich mehrere Aktionen gleichzeitig erforderlich sind, der Spieler diese aber nicht gleichzeitig ausführen kann. Jede Strategie ist eine Frage der Zeit und Schnelligkeit des Spielers. Wesentlich ist es auch, Informationen über die Vorgehensweise des Gegners zu erlangen. Wissen um dessen Strategie, Positionen von Einheiten und Basis sowie Truppenbewegungen sind entscheidend, so dass ein wesentlicher Teil des Spiels aus dem Erlangen eben dieser Informationen besteht. Wie der Spieler die ihm zur Verfügung stehende Zeit und Informationen nutzt, ist dabei der entscheidende Erfolgsfaktor. Echtzeitstrategiespiele werden nach spezifischen Spielmechaniken designt, die das Spiel unterhaltsam und spannend halten. Dazu gehören: • • • • •
Vermeidung von Längen und Sackgassen Kontinuierlicher Zeitdruck und Handlungsdruck Einstreuen von Hinweisen und Hindernissen, keine Antworten Linearität und Erwartbarkeit vermeiden Knappe Ergebnisse erzeugen Spannung
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CLANTON 1998: 1.
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• •
Verwirrung ohne Richtung vermeiden Frustration im richtigen Maß erzeugt Motivation7
Spielmechaniken wie diese sind darauf ausgerichtet, Spannung und Motivation für den Spieler aufrechtzuerhalten und die Kernmechanik des Spiels – Echtzeit – optimal einzusetzen. Dabei fällt auf, dass zu einem gelungenen Echtzeitstrategiespiel mehr gehört, als nur die Echtzeit selbst. Vielmehr dient das Prinzip der Echtzeit dazu, Spannungselemente zu erzeugen, die sich auch in nicht echtzeitbasierten Spielen bewährt haben. Generell dient Echtzeit sowohl in Literatur und Film als auch im Echtzeitstrategiespiel häufig einer stärkeren Integration des Rezipienten in die dargestellte Situation: Insbesondere Zeitdruck, Reaktionsgeschwindigkeit, Selektivität der Wahrnehmung und eine situative, notwendig unvollständige Konzeptualisierung der Szenerie sind als wesentliche Konstruktionsprinzipien in vielen Echtzeitinszenierungen zu finden. Fast überall, wo Echtzeitprinzipien zum Einsatz kommen, wird dabei Echtzeit als gesteigerte Intensität bzw. Geschwindigkeit inszeniert. Eine authentische Inszenierung von Echtzeit würde dagegen Elemente wie Langeweile, Wiederholung der gleichen Tätigkeit, längere Tätigkeitsdauer, fehlende Abwechslung oder die Pause bzw. Unterbrechung inkludieren müssen. All das geschieht in den dargestellten Formen nicht. Was als höhere Authentizität vorgestellt wird, ist in Wirklichkeit also nur eine andere Inszenierung, die sich nicht näher an der Realität befindet. Im Folgenden werden der Einfluss und die Parallelen der dargestellten Echtzeitinszenierungen auf eine Fernsehserie beleuchtet, die wie keine andere für die Inszenierung von Echtzeit steht: 24.
24 Kurz nach den Anschlägen des 11. September 2001 beginnt in den USA die Ausstrahlung einer experimentellen Serie, die das Prinzip der Echtzeit nicht nur zu ihrem Thema, sondern zu ihrem Titel gemacht hat: 24 (Twentyfour). Sie basiert auf dem Versuch, eine Handlung zu erzählen, die ohne jeden Zeitsprung vollständig in Echtzeit abläuft. Jede Folge hat dabei eine Lauf-
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CLANTON 1998: 2.
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zeit von ca. 42 Minuten und wird von vier Werbeblöcken unterbrochen, so dass die Gesamtzeit einer Folge bei genau einer Stunde liegt. Jede Staffel beinhaltet 24 Folgen und deckt damit den Zeitraum eines 24-Stunden-Tages in Echtzeit ab. Die Inszenierung von Echtzeit geht so weit, dass die Zeitspannen der Werbeeinblendungen der Fernsehausstrahlung ebenfalls berücksichtigt werden und die erzählte Zeit während dieser weiterläuft. Der Zuschauer wird darüber über eine charakteristische Digitaluhr informiert, die zu Beginn und am Ende jedes Werbeblocks eingeblendet wird. Für den Zuschauer ergibt sich damit eine Metanarration, im Rahmen derer er zwar in jeder Folge mehrfach den Blick auf die Handlung verliert, diese jedoch vermeintlich trotzdem weiterläuft. Damit erfolgt eine auch in der Rezeption direktere Ankopplung der Werbung an den Serieninhalt, da Werbezeit und erzählte Zeit deckungsgleich sind. In der Folge konnte der Sender FOX in Erstausstrahlungen von 24 mit die höchsten Werbepreise des US-Fernsehens einnehmen.8 Bereits an diesem Beispiel zeigt sich, dass es die Zeit selbst ist, die in dieser Serie inszeniert wird. Es scheint dem Zuschauer, als wäre es nicht länger die Handlung, die ihre eigene Zeitlichkeit erzeugt, sondern vielmehr die Zeit, die unablässig die Handlung vorantreibt. Der Drehbuchautor und Produzent Joel Surnow, der zentrale Erfinder von 24, wird später angeben, er habe eine Situation finden wollen, in denen den Figuren weder Zeit zum Schlafen noch zum Essen bleibt und persönliche und berufliche Probleme unaufhörlich kollidieren. Um eine solche Situation überhaupt inszenieren zu können, mussten Zeitknappheit und Zeitdruck so stark gesteigert werden, dass sämtliche ereignisarmen Zwischenphasen nahezu vollständig verschwinden würden.9 Surnow wählte dazu das Action-Genre, das immer schon mit schnellen Bewegungen und Veränderungen operiert und diese Geschwindigkeit visuell in sich schnell bewegende Körper umzusetzen versteht. Das gewählte Szenario trifft zum Zeitpunkt der ersten Staffel noch zufällig, später bewusst, den Zeitgeist der Terroranschläge des 11. Septembers: Terror und Terrorabwehr sowie das Verschwimmen der Grenzen zwischen beiden sind
8
STEINBERG 2008 [11.11.2014].
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MEYER 2007.
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die zentralen Handlungsträger der Serie. Der Intro-Monolog fasst die Kernelemente der Handlung zusammen: „Right now, terrorists are planning to assassinate a presidential candidate. My wife and daughter have been kidnapped... and people that I work with may be involved in both. I’m Federal Agent Jack Bauer, and this is the longest day of my life.“10
Der Hauptcharakter ist Jack Bauer, gespielt von Kiefer Sutherland, der Bundesagent der fiktiven Anti-Terror-Einheit CTU (Counter Terrorist Unit) ist. In allen Staffeln geht es um eine unmittelbare terroristische Bedrohung immensen Ausmaßes: Einen Anschlag auf den US-Präsidenten, eine Atombombe in Los Angeles, ein Anschlag auf die Bevölkerung mit tödlichen Viren, eine künstliche Kernschmelze in Atomkraftwerken, Nervengas, noch einmal nukleare Sprengsätze, biologische Waffen und schließlich eine schmutzige Bombe. Hinzu kommt, dass sowohl Bauer als auch andere zentrale Charaktere persönliche Krisen zu bewältigen haben, die häufig innere Konflikte bezüglich der Handlungsprioritäten und -optionen auslösen. So werden beispielsweise in der ersten Staffel Bauers Frau und Tochter entführt und mit dem Tode bedroht. Im Laufe der jeweils 24 Stunden tauchen ständig neue Informationen auf, die unmittelbare Handlung erforderlich machen. Visuelle Charakteristika Für den Zuschauer ist die Erzählung in Echtzeit im Fernsehkontext ungewohnt und theoretisch. Zwar übt die Besonderheit der Zeitlichkeit eine nachhaltige Faszination aus, sie muss dem Rezipienten jedoch ständig in Erinnerung gerufen werden. Dies erfolgt mithilfe der immer wieder eingeblendeten Digitaluhren und deren charakteristischem Sekunden-Piepton, die zusammen an eine Zeitbombe erinnern. Die Zeitbombe ist eine wichtige zugrunde liegende visuelle Metapher in 24, da sie den Zuschauer daran erinnert, dass Zeit in 24 als sehr knappes Gut zu verstehen und die Katastrophe von der Zeit abhängig ist. Zudem referiert sie auf das ethische Gedankenexperiment ticking time bomb scenario oder im deutschen Rettungsfol-
10 Einleitungsmonolog der meisten Episoden der ersten Staffel von 24, gesprochen von Kiefer Sutherland als Jack Bauer.
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ter-Szenario, das die Frage nach der Legitimität von Folter in akuten Bedrohungssituationen stellt und verhandelt: „The debate over torture is deeply embedded on the context of terrorism. Tickingtime-bomb cases, for example, make this link explicit by asking us to contemplate the torture of a detained terrorist in the hope of saving innocent lives. And interrogational torture was, at least in most enlightened societies, widely decried before 9/11; it is these terrorist attacks that have rejuvenated discussions about torture, particularly as pertains to alleviating future attacks.“11
So wird visuell bereits auf eine der immer wieder in 24 verhandelten ethischen Fragen verwiesen: Was darf man tun, wenn die Zeit knapp wird und die angenommenen Folgen katastrophal sind? Bob Cochran, zusammen mit Surnow der zweite Kreativkopf der Serie, stellt das als konzeptuelles Spannungselement hinter 24 dar, das nicht an Realität sondern an den Ängsten nach 9/11 orientiert ist: „Most terrorism experts will tell you that the ,ticking time bomb‘ situation never occurs in real life, or very rarely. But on our show it happens every week.“12
Ein weiteres visuelles Charakteristikum neben der Digitaluhr sind die häufig eingesetzten Split Screens. Sie dienen dazu, die Gleichzeitigkeit auseinanderliegender Handlungsstränge hervorzuheben. Häufig sind es dabei drei, gelegentlich sogar bis zu fünf Split Screens. Immer wieder wird auch die gleiche Szene aus unterschiedlichen Perspektiven gezeigt, so dass eine direkte Verbindung der Split Screens über die Gleichzeitigkeit hier offensichtlich erfahrbar wird. Der Split Screen erzeugt jedoch noch eine weitere Konnotation, die, ähnlich wie die Zeitbombenreferenz der Digitaluhr, einen inhaltlichen Bezug aufweist: Der typische und auch dem Zuschauer bekannte Anwendungsfall eines Split Screens ist der Überwachungsmonitor. Dieser vereint mehrere Kamerabilder auf einer Anzeigefläche. Übertragen wird zumeist live, also ebenfalls in Echtzeit. Der Beobachter eines solchen Überwachungs-Split-Screens wird damit in die Lage versetzte, physisch u.U. weit auseinanderliegende Bereiche simultan zu beobachten bzw.
11 Vgl. ALLHOFF 2012: 3. 12 MAYER 2007.
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gleichzeitig unterschiedliche Perspektiven auf einen Bereich einzunehmen. Die Anwesenheit vor Ort kann damit durch Technologie ersetzt werden, wenn es um die Kontrolle des Normalzustands geht bzw. um relevante Information. Die visuellen Charakteristika, die sich durch alle Folgen der Serie ziehen, nehmen damit eine doppelte Funktion ein: Kontinuierliche Erinnerung an das Echtzeitszenario und inhaltliche Referenz. Ohne diese häufigen Erinnerungen an die Echtzeit würde der Zuschauer diese vermutlich kaum noch wahrnehmen, da die Sehgewohnheit dramaturgische Elemente zur Steigerung von Spannung durch Zeitdruck nicht als Charakteristikum von Echtzeit wahrnimmt. Abbildung 1: Split Screen-Darstellung mit Timer
Ohnehin erzeugt die Echtzeit-Grundlage vielfache Probleme für die Inszenierung: So ist es zunächst erforderlich, verschiedene Handlungsstränge nebeneinanderherlaufen zu lassen. Nur so lassen sich die unvermeidlichen Phasen von Handlungsarmut – beispielsweise durch Ortswechsel oder länger andauernde Vorgänge – in den Hintergrund verschieben. Die Ortswechsel innerhalb eines Handlungsstrangs sind zudem stark begrenzt, da man in einer Echtzeitserie niemanden längere Fahrten oder Flüge unternehmen lassen kann. Um dennoch auf ausreichend unterschiedliche Szenarien zu
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kommen, verlagern sich die Ortswechsel auf die Kamerasprünge zwischen den Handlungssträngen. Der Zuschauer erfährt so eine für ihn gewohnte und für Actionserien typische visuelle Differenz in den Schauplätzen. Das macht es jedoch auch erforderlich, dass die meisten Schauplätze von bestimmten Charakteren dominiert werden, da die Charaktere nicht schnell genug wechseln können, ohne das Echtzeitparadigma zu brechen. Zehn Minuten Eindrücklich werden diese Problematiken bereits in den ersten zehn Minuten der ersten Folge. In der ersten Szene wird das Nachmittagslicht eines Städteüberblicks Kuala Lumpurs eingefangen. Dieses Bild bleibt in einem sich einengenden Split Screen zunächst im Blick, während auf einem zweiten Split Screen eine belebte Straßenszene im Inneren der Stadt zu sehen ist. Dann gerät eine Gestalt in den Blick, die sich offensichtlich verfolgt fühlt und mehrfach umdreht. Dieses Umdrehen wird erneut in zwei Split Screens gezeigt, jedoch aus zwei verschiedenen Perspektiven von vorne und hinten. In der Folge gelangt er gehetzt und schwitzend in einer Wohnung an und beginnt über einen Computer und eine Telefonverbindung eine Datenübertragung. Die nächste Kameraeinstellung zeigt einen Satelliten im Orbit, über den scheinbar die Kommunikation abgewickelt wird, und wechselt dann in die CTU Kommandozentrale in Los Angeles. Mit einem Städteüberblick über das mitternächtliche Los Angeles wird die lokale Zeit eingeblendet. Die Szene wechselt zu einem Abendempfang und die Musik ändert sich von schnellen elektronischen Klängen hin zu Klaviermusik. Die wird jedoch sofort durch ein klingelndes Mobiltelefon unterbrochen und es ist von einem geplanten Attentat auf den Präsidentschaftskandidaten die Rede, der kurz danach in einem weiteren Szenenwechsel sichtbar wird. All das passiert in den ersten zweieinhalb Minuten. In den folgenden acht Minuten wird der Präsidentschaftskandidat eingeführt, Bauer selbst erscheint mit Frau und 16-jähriger Tochter, ein Konflikt zwischen Tochter und Mutter wird offensichtlich, die Tochter verschwindet durchs Fenster aus ihrem Zimmer und fährt mit einer Freundin zu dubiosen Männern, um mit diesen zu feiern, der erste Notfalleinsatz der CTU beginnt, zwei Wege sind mit dem Auto zurückgelegt worden und vier Anrufe getätigt. Nach zehn Minuten sind die wesentlichen Handlungsstränge und Personen eingeführt, die
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Problematik klargestellt und vor allem der Zeitdruck spürbar gemacht worden. Abbildung 2: Typische Darstellung aus 24
Die in Abbildung 2 dargestellte Szene kombiniert anschaulich verschiedene charakteristische Elemente, die in 24 immer wieder auftreten. Zunächst sind drei synchron laufende Split Screens zu sehen, von denen zwei die gleiche Szene aus unterschiedlicher Kameraperspektive zeigen. Die gedoppelte Szene zeigt Jack Bauers Ehefrau Terri, die gerade mit Jack Bauer telefoniert. Dieser ist zusammen mit seiner Kollegin Nina Myers im Hauptquartier der CTU zu sehen. Das Telefonat dreht sich um die gemeinsame Tochter Kim, in deren Schublade Terri gerade drei Joints gefunden hat. Jack schlägt vor, Kims E-Mails zu kontrollieren, um ihren Aufenthaltsort herauszufinden. Terri erinnert ihn aber daran, dass Kim ihr eigenes Passwort erhalten hat, um das ihr entgegengebrachte Vertrauen zu signalisieren. Im Hintergrund des linken oberen Split Screens ist zudem eine computergenerierte Echtzeit-Kartendarstellung von Los Angeles zu sehen. Eine wichtige Zusatzinformation ist die, dass Jack eine Affäre mit Nina hatte, die das Vertrauen zwischen ihm und seiner Frau Terri erschüttert hat.
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Die in zwei Split Screens dargestellte Szene mit Terri dient der Erinnerung an die allgegenwärtige Gleichzeitigkeit zwischen allen Split Screens, die nicht immer so offensichtlich ist wie hier. Zudem verweist die Aufteilung darauf, dass Perspektive und Kontext unterschiedliche Interpretationen nahelegen: Der linke Split Screen zeigt Terri und Nina direkt untereinander und telefonisch bzw. visuell auf Jack fokussiert. Beide wirken angespannt und ernst, so dass diese Komposition ein Konkurrenzverhältnis nahelegt. Der rechte Split Screen dagegen zeigt die Tüte mit den gefundenen Joints und damit den primären Gegenstand des Gesprächs. Er nimmt die gesamte rechte Hälfte des Bildschirms ein. Die linke Hälfte des Bildschirms thematisiert somit das erschütterte Vertrauen zwischen Jack und Terri, das sich sowohl auf der persönlichen Ebene abspielt als auch in der Trennung von privaten und beruflichen Problemen sichtbar wird. Die rechte Hälfte thematisiert das erschütterte Vertrauen zwischen Mutter und Tochter. Der Konflikt dieser Ebenen zieht sich durch die gesamte Serie und erzeugt einen permanenten Entscheidungsdruck, da niemals die Zeit reicht, als dass Jack sich um alles gleichermaßen kümmern könnte. Ebenfalls gut sichtbar ist die Farbcodierung der Szenen: Während Szenen im CTU-Hauptquartier an den dunkleren Blautönen erkennbar sind, dominieren in den privaten Szenen meist wärmere Gelb- und Rottöne. Die Verbindung zwischen den Szenen schließlich erfolgt ebenfalls sehr charakteristisch per Telefon, dem technischen Medium für synchrone Kommunikation schlechthin. Dabei sind es dominierend Mobiltelefone oder schnurlose Geräte, die eine parallele Bewegung im physischen Raum ermöglichen. Zusätzlich zu diesen sind im CTU-Hauptquartier Unmengen an Computern und Bildschirmen zu sehen, die auf verschiedene Datenbanken und Satelliten zugreifen oder, wie hier im Hintergrund, eine Echtzeit-Karte mit Positionen und Routen zeigen. Jacks Vorschlag der Kontrolle von Kims E-Mail-Account zeigt damit die technischen Möglichkeiten der CTU auf und die generelle Denkweise dieser, bei der Information wichtiger ist als Privatheit. Das Vertrauen der Tochter gegenüber, symbolisiert durch das eigene Passwort, scheint jetzt bereits zu bröckeln und berufliche und private Sphären vermischen sich. Technologie Kommunikation wird in 24 als Schlüsseltechnologie vorgestellt, die die schnelle Folge von Ereignissen erst möglich macht, sie steuert und ver-
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schiedene Verbindungen zusammenführt. Jack Bauer telefoniert beinahe ständig mit der CTU Kommandozentrale, die ihrerseits über Zugriff auf eine Unzahl von Datenbanken, Satelliten, Kameras und Sensorik verfügt. Der Kampf gegen den Terror ist in 24 einer um die Informationsvorherrschaft. Die zahlreichen Actionsequenzen erscheinen in diesem Licht als das Ausagieren von Handlungsanweisungen, die die Summe der verfügbaren Informationen automatisch ergibt. Die Logik ist die der vorhandenen Information, nicht die ihrer Interpretation: „Der Computer lenkt. Er und seine beiden Helfer, das mobile Telefon und der Satellit, bilden so etwas wie eine digitale Trinität. Die Wahl des Wortes Trinität geschieht mit Bedacht. Der Computer, wie wir ihm in „24“ begegnen, verfügt nämlich über vier Merkmale, die man üblicherweise sonst nur Gott zuschreibt. Er ist zwar in der Zentrale ortsgebunden, doch er agiert, alle Distanzen im Zweifel überspringend, etwa mit dem Handy, ubiquitär. Er ist allgegenwärtig. Zugleich ist er allwissend. Er ist es, nicht die Phantasie der Akteure, der an den Brennpunkten der Handlung leuchtet. Wenn alle anderen am Ende ihrer Weisheit sind, weiß er allein noch eine Antwort.“13
Somit steuert die Informations- und Kommunikationstechnologie die Handlungen der Protagonisten, die wiederum fast immer darauf angelegt sind, mehr Informationen zu erlangen. In kaum einer anderen Serie wird Informations- und Kommunikationstechnologie ein solcher Stellenwert und eine solche mediale Präsenz eingeräumt. So bestimmend wie die verfügbare Information und deren Erweiterung für die Handlung ist, so sehr wird sie auch zum Steuerungsinstrument der Erzählung. Häufig erhält der Zuschauer Einblicke in Zusammenhänge, die den Protagonisten noch nicht bekannt sind, so dass ein Informationsvorsprung entsteht. Diese Einblicke werden aber auch immer wieder gezielt verwendet, um den Zuschauer zu täuschen und falsche Annahmen zu erzeugen. Auch die Charaktere unterliegen einer ununterbrochenen Folge von Täuschungen, die zu falschen Annahmen mit gefährlichen Auswirkungen führen. Damit wird der Suche nach mehr Information permanent die Frage nach deren Glaubwürdigkeit gegenübergestellt.
13 SCHNEIDER 2007: 34 [15. 04.2015].
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Menschlichkeit Während Information aus einer sehr technischen Perspektive inszeniert wird, ist die Frage nach deren Glaubwürdigkeit stark an die menschliche Komponente gebunden: Das betrifft zum einen das Vertrauen in die Aussagen und das Handeln anderer, zum anderen die Anwendung von Folter zur Informationsbeschaffung. So findet sich beinahe ständig ein Verräter im CTU-Hauptquartier, der gezielt Fehlinformationen streut oder die Gegenseite informiert. Ebenfalls sehr häufig besteht ein Verratsverdacht, der sich als haltlos entpuppt. In 24 ist es nicht die Technik die versagt, sondern die Menschen. So unmittelbar wie das Vertrauen in eine Person in Handlungen resultiert, so liegt doch auch ständig die Möglichkeit des Verrats in der Luft. Diese Möglichkeit wird auch dadurch immer wieder gezeigt, dass die einzelnen Charaktere häufig nicht die Berechtigung oder vor allem die Zeit haben, alle Informationen weiterzugeben oder zu erklären. In der ersten Folge der ersten Staffel findet sich dazu der charakteristische Dialog zwischen Nina Myers und Jack Bauer: Nina Myers: „You’re lying.“ Jack Bauer: „Yes I am. But you’re still going to have to trust me.“14
Die Lüge schließt hier das Vertrauen nicht aus und das Vertrauen nicht den Verrat. Garantien gibt es auch bei langjährigen Vertrauensverhältnissen nicht. Der Vertrauende erscheint als gleichermaßen integer wie naiv. Die Serie operiert dabei gezielt mit dem Aufbau von Vertrauen bzw. Misstrauen aus der Perspektive des Zuschauers und dem plötzlichen Bruch dieser Einschätzung. Vertrauen wird auch deshalb als inszenatorisches Mittel genutzt, weil es die Diskussion, Interpretation und Kontextualisierung von Information radikal abkürzt und den u.U. langwierigen Prozess einer Meinungsbildung auf deren Resultat verkürzt, das mit dem Siegel des Vertrauens legitimiert wird. Mit 89 Folterszenen in 6 Staffeln hat 24 zudem eine intensive Debatte um Folter und deren Darstellung geführt. In 24 wird sie zumeist als unangenehme Notwendigkeit dargestellt, um größeres Unheil zu verhindern. Der
14 24 - Twenty Four: 12:00 a.m.-1:00 a.m. (#1.1) (2001): 00:17:20.
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allgegenwärtige Zeitdruck im Angesicht der Katastrophe verhindert zudem kategorisch andere Methoden der Informationsgewinnung. Die Folterszenen in 24 haben einen nicht unerheblichen Einfluss auf die öffentliche Debatte zum Thema ausgeübt. So machte der britische Jurist Philippe Sands öffentlich, dass eine Diskussion von US-Regierungsvertretern zu neuen Verhörmethoden, die 2002 im Gefangenenlager Guantanamo stattfand, 24 als Inspirationsquelle nutzte. Auch in den öffentlichen Debatten der Zeit wurden immer wieder Vergleiche und veranschaulichende Bezüge zur Serie hergestellt. Immer wieder wurde dabei kritisiert, dass die häufige Darstellung einen Gewöhnungseffekt auf die Zuschauer habe, der Folter immer mehr als normales und legitimes Mittel erscheinen lasse. Als unmittelbare Auswirkung äußerte sich ein ehemals im Irak stationierter Vernehmungsspezialist, der von einer Inspirationswirkung der Serie für reale Verhöre sprach.15 Damit wird deutlich, dass die Inszenierung von Information, Anti-Terrorkampf und Folter nicht in der Serie endet, sondern sich an die Situationsbewertungen und Erfahrungen von Menschen anknüpft und umgekehrt auch eine prägende Wirkung auf diese entfalten kann.
I NSZENIERUNG VON E CHTZEIT Zu Beginn der deutschen Ausstrahlung der 5. Staffel von 24 thematisiert das FAZ-Feuilleton die Serie und deren Besonderheiten: „Doch dass es sich um etwas wirklich Neues handelt, bestätigt ein empfehlenswerter Selbstversuch, in dem der Zuschauer sein Sehverhalten ebenfalls dem Vierundzwanzig-Stunden-Prinzip annähert. „24“ ist eigentlich geschaffen für das Schauen am Stück. Erst dann entfaltet diese Idee von Realzeit in der Fiktion ihre volle Wirkung.“16
Dieser Annahme soll hier klar widersprochen werden: Wäre der geschilderte Versuch wirklich unternommen worden, hätte sich schnell gezeigt, dass er so nicht funktioniert: Die Echtzeit in 24 ist eine konsequent inszenierte
15 MAYER 2007. 16 SCHNEIDER 2007: 34. [15.04.2015].
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Echtzeit, die sich auf die Anforderungen des Formats der Fernsehserie, die Sehgewohnheiten der Zuschauer und ein konstant aufrechterhaltenes Spannungslevel ausrichtet. Für den Eindruck, den die Serie hinterlässt, sind die Zeit einer Folge und die Zwischenzeit zwischen zwei Folgen genauso entscheidend wie das Prinzip der Echtzeit. Der Zuschauer wird die Serie eben gerade nicht in Echtzeit erleben, sondern in Portionen von je einer Stunde, zwischen denen eine längere Zeit liegt. Diese eine Stunde gibt damit das Spannungsniveau vor, das gehalten werden muss. Der Versuch, die Serie tatsächlich am Stück zu rezipieren, erzeugt einen Spannungsdruck, der den Gewohnheiten des Zuschauers nicht mehr entspricht und die Wirkung der spannungserzeugenden Elemente abnutzt. Mit der Abnutzung dieser Elemente vermindert sich jedoch auch der gefühlte Zeitdruck. Trotz kontinuierlicher Erinnerung an die Echtzeit wird sie für den Zuschauer immer weniger spürbar und es entsteht der Eindruck einer komplexen Handlung, die sich trotz anhaltender Geschwindigkeit auch über einen längeren Zeitraum erstrecken könnte. Damit tritt eine paradoxe Situation ein: Je mehr sich die Rezeption der Zeitlichkeit der Serie annähert, desto schlechter funktioniert diese. Maximale Differenz Um in den 24 Stunden der Handlung so viel Spannung erzeugen zu können, dass diese eine ganze Staffel und damit für den Zuschauer mehrere Monate interessant bleibt, operiert 24 nach dem Prinzip der maximalen Differenz, die in den verschiedenen Handlungssträngen alternierend distribuiert ist. Die typischerweise sechs Handlungsstränge, zwischen denen gesprungen wird, verfolgen dabei jeweils eine eigene Dramaturgie mit eigenen Spannungsentwicklungen. Die Tensionsverläufe, also die Abfolge verschiedener Spannungs- und Entspannungsentwicklungen, sind dabei meist klassisch konstruiert. Sie nutzen verschiedene Techniken zum Aufbau von Spannung: • •
Surprise-Spannungssituationen, die aus einer überraschenden, akuten Bedrohungssituation entstehen und kurz anhalten Suspense-Spannungsbögen, die weiter gefasst sind und sich aus komplexeren Zusammenhänge ergeben, die erst erklärt werden müssen
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•
Mystery-Spannung, die auf dem Enträtseln ungeklärter Zusammenhänge basieren17
Alle Tensionsformen basieren dabei auf Spannungsdifferenz. Eine Spannung wird nur dann als Spannung wahrgenommen, wenn sie sich ändert. Daher ist meist auch von Spannungskurven die Rede. In einer konstanten Anspannungssituation wird ein spannungserzeugendes Element weniger stark wahrgenommen als aus einer Entspannungssituation heraus. Abbildung 3: Illustration alternierend distribuierter Spannungskurven verschiedener Handlungsstränge
Um vergleichsweise sehr viel Handlung in sehr wenig Zeit unterzubringen, wird ein konstant sehr hohes Spannungsniveau benötigt. Dabei werden die Spannungsniveaus der einzelnen Handlungsstränge so gegeneinander versetzt, dass diese zwar ihre eigenen Spannungskurven ausführen, jedoch immer Handlungsstränge mit gerade hohem Spannungsniveau existieren. So kann konstant eine sehr hohe Spannung gehalten werden, die benötigt wird, um Echtzeit nicht langweilig werden zu lassen. Dabei werden Spannungsdifferenzen möglichst groß angelegt, indem der größtmögliche Verrat geschieht und die größtmöglichen Verluste drohen und das Spiel mit dem sicher Geglaubten und sich als unsicher Offenbarenden durchgängig und immer wieder neu gespielt wird.
17 WULFF 2002: 563-566.
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Verschiedene Echtzeiten Die eingangs gezeigten Formen von Echtzeit – Echtzeitsysteme, Zeitdeckung in Literatur und Film und Echtzeitstrategiespiel – finden sich alle in der Inszenierung von 24 wieder. Der Effekt von Echtzeitsystemen auf den erlebten Alltag ist ein tragendes Element der Handlung in 24 und spiegelt sich vor allem in der verwendeten Hochtechnologie und dem impliziten Geschwindigkeitsgebot, das von dieser ausgeht, wieder. Jede Situation erfordert unmittelbare Handlung. Für das Durchdenken von Konsequenzen ist niemals Zeit, Handeln ist immer das geringere Übel gegenüber Nichthandeln und Reaktionsgeschwindigkeit und -entschlossenheit wird zur wichtigsten Kompetenz aller Handelnden erhoben. Digital-Technologie zeigt sich als das wichtigste Werkzeug zur Verbesserung dieser Kompetenz. Das Prinzip der Zeitdeckung in der Handlung wird selbst dann durchgehalten, wenn dadurch viele Handlungsverdichtungen unglaubwürdig erscheinen und greift kompensatorisch auf die parallelen Handlungsstränge zurück. Das Echtzeitstrategiespiel liefert die Gleichzeitigkeit der Handlung verschiedener Parteien, das Kriegsszenario, den unauflösbaren Zeitmangel und die essentielle Rolle der Information als Strategie. So konsequent, wie 24 auf all diesen Ebenen mit Echtzeit operiert und diese inszeniert, so klein ist in Wirklichkeit auch der Spielraum, das erfolgreich zu tun. Sowohl auf der Ebene des Inhalts, der Schnitttechnik, der Handlungsstränge, der gezeigten Technologien und emotionalen Spannungen als auch auf der der Anknüpfung an gesellschaftliche Diskurse, Ängste und Erfahrungen stellt 24 ein Spannungsniveau her, das Echtzeit tatsächlich unterhaltsam macht. Dabei gibt es kaum Spielräume: Dort wo das Spannungsniveau minimal geringer ausfällt, stellt sich sofort Kritik ein.18 Am Ende von acht Staffeln – als dem einzigen ernstzunehmenden Experiment einer Echtzeitserie – ist klar: Das Prinzip Echtzeit ist faszinierend. Echtzeit zu inszenieren ist jedoch schwierig und braucht viele Kniffe. Echtzeit als echte Zeit tatsächlich zu erleben dagegen, wäre einfach nur langweilig.
18 Die Kritik der New York Times z.B. stellt in dem Hochdruckszenario einen relativen Druckabfall fest, der die Zuschauer schnell zu langweilen beginne: „Last season, which introduced Jack’s father (James Cromwell) as a traitor and sadistic murderer, was by far the worst, losing steam – and viewers – long before it crawled to an anticlimactic conclusion.“ STANLEY 2009.
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Feuer und Eis Physikalische Eschatologie oder das Ende der Welt A LEXANDER S TRAHL
Since the astronomy develops theories about the universe and its existence form, it also deals with the end of the world of mankind. Considering this, the author of the articles refers to conceptions of the universe as a scientific eschatology. After giving an overview of the different models of the universe and its structure, he compares those with religious ideas of the end of the world. „Dann sah ich: Das Lamm öffnete das erste der sieben Siegel; und ich hörte das erste der vier Lebewesen wie mit Donnerstimme rufen: Komm!“ DIE OFFENBARUNG, 6,1
Der Begriff Eschatologie stammt vom gr. ESCHATOLOGIA, welches sich aus TA ÉSCHATA, ‚die äußersten/letzten Dinge‘ und -logie gr. LÓGOS ‚Lehre‘, ‚Sinn‘, ‚Rede‘, ‚Vernunft‘ zusammensetzt und somit als ‚Lehre von den letzten Dingen‘ verstanden werden kann. Ursprünglich wurde dieser nur in der christlichen Theologie verwendet, doch ist er mittlerweile auch bei anderen Endzeitvorstellungen gebräuchlich. Der hier gewählte Titel „Physikalische Eschatologie“ kann daher als „die natur-(wissenschaftliche) Lehre von den letzten Dingen“ verstanden werden. Da das Schicksal der Erde nur bedingt mit dem des Universums verknüpft ist, soll auf beide Eschatologien eingegangen werden.
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D AS E NDE
DER
E RDE
Für den Untergang der Menschheit mag es viele Möglichkeiten geben, doch welche gibt es für den Untergang der Erde aus kosmischer Sicht? Im Folgenden sind sieben Möglichkeiten dargestellt. Welche davon eintreffen wird, muss die Zukunft zeigen. Die Sonne geht aus Das Ende der Erde ist ein beliebtes Katastrophenszenario in der Filmbranche. Im Film Sunshine1 wird davon ausgegangen, dass der Fusionsprozess der Sonne zum Erliegen kommt. Somit wird ein Raumschiff gebaut, um die Sonne mittels einer Bombe neu zu starten. Problematisch daran ist, dass die Photonen ca. 10 Tausend bis 170 Tausend Jahre brauchen bis sie von der Erzeugung im Inneren der Sonne (nur 10% der Sonne betreibt Fusion) an die Oberfläche gelangen,2 da sie ständig absorbiert und emittiert werden. Dies bedeutet, dass man es viel zu spät merken und es auch nach einem möglichen Neustart wieder 10 Tausend bis 170 Tausend Jahre dauern würde, bis die Photonen vom Erzeugungsprozess an die Oberfläche gelangen könnten. Es ist nicht so abwegig, dass der Fusionsprozess zum Erliegen kommt, doch wird es andere Auswirkungen haben als jene in Sunshine. Das Ende der Sonne Die Sonne ist ca. 4,6 Milliarden Jahre alt und kann ihren Fusionsprozess ca. 11 Milliarden Jahren aufrechterhalten, dies bedeutet, dass sie in 6,4 Milliarden Jahre ausgehen wird. Allerdings nicht so wie eine Lampe, die man ausschaltet und die noch kurz nachleuchtet, sondern in einem grandiosen astronomischen Schauspiel. Dieses Ereignis wird die Erde nicht nur unbewohnbar machen, sondern völlig vernichten. Eigentlich würde der Fusionsstoff gute 100 Milliarden Jahre halten, da aber nur 10 % im Inneren der Sonne beteiligt sind, ist die Dauer, in der die Fusion der Sonne aufrecht erhalten werden kann, auf 1/10 vermindert. Ist der Wasserstoff in diesem Bereich verbraucht, reicht der Gasdruck nicht mehr aus, um die Aschereste
1
Sunshine 2007.
2
ODENWALD 2004.
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aus Helium gegen die Gravitationskraft zu halten. So drückt die Gravitation den Ascherest zusammen, wodurch die kernnahen Schichten so stark aufgeheizt werden, dass in ihnen der Fusionsprozess erneut gestartet wird. Dieser Prozess frisst sich weiter nach außen, wodurch der Kern immer weiter aufgeheizt und durch weiteres Helium noch stärker komprimiert wird. Die Leuchtkraft und der Durchmesser erhöhen sich dabei drastisch, resultierend in einem 200-fachen Durchmesser und einer 5000-mal stärkeren Leuchtkraft als heute3. In der Folge wird die Oberfläche etwas kühler und die Sonne bläht sich zu einem sogenannten roten Riesen auf. Der Radius des roten Riesen weitet sich ungefähr bis zur Erde aus, was diese vorher völlig ausdörrt und dann gänzlich vernichtet. Kurz danach wird die Sonne ihr Leben als normaler Stern aushauchen und die verbleibende Wasserstoffhülle in einem Nebel abstoßen. Übrig bleibt ein weißer Zwerg. Asteroideneinschlag Ein Einschlag von Meteoriten ist ebenfalls ein beliebtes Filmthema (z.B. Deep Impact4 oder Armageddon5). Dieses Szenario wirkt bedrohlicher und unmittelbarer, als das Ende der Sonne in 6,4 Milliarden Jahren. Aber stellt dies wirklich eine relevante und vor allem reale Bedrohung dar?6 Ja, denn der letzte sehr große Asteroideneinschlag war am 30. Juni 1908, es handelt sich um das Tunguska-Ereignis. Die Einschlagsenergie war so groß, dass auf einer Fläche von 2000 km2 60 Millionen Bäume entwurzelten.7 Durch die Folgen des Einschlages war es in den darauffolgenden Nächten in Europa so hell, dass man ohne Licht lesen konnte. Die dabei umgesetzte Energie entspricht in etwa jener Energie der größten jemals gezündeten Wasserstoffbombe, der Tsar-Bomba (AN602). Sie wurde am 30. Oktober 1961 auf der Insel Nowaja Semlja gezündet und hatte eine Stärke (je nach Quelle) von 50 bis 60 Megatonnen TNT-Äquivalent. Sie war ca. 4000 Mal so stark wie jene Atombombe (Little Boy), die auf Hiroshima abgeworfen wurde. Der nächste bedeutende Fasteinschlag wird am Freitag, dem 13. April 2029
3
SACKMANN et al. 1993.
4
Deep Impact 1998.
5
Armageddon 1998.
6
DURDA 2007.
7
NATURA 2006.
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stattfinden. Da kommt der Asteroid (2004 MN4 99942) Apophis der Erde sehr nahe.8 Die anfänglich angenommene Gefahr (Kollisionswahrscheinlichkeit von 2,7 % und einer Risikoeinstufung von 4 auf der Turiner Risikoskala) hat sich nach neueren Beobachtungen und Berechnungen als weniger dramatisch herausgestellt. So wird er 2029 lediglich über dem Ring der geostationären Satelliten (35786 km über dem Erdboden) vorbeifliegen. Der Durchmesser von Apophis beträgt 325±15 m, seine Masse 5·1010 kg und seine mittlere Geschwindigkeit 30728 km/s. Er hätte eine Aufschlagenergie von 850-900 Megatonnen TNT. Vergleichsweise kommt es bei einem Erdbeben der Stärke 8,0 zu einer Energiefreisetzung von 1000 Megatonnen TNT. Mögliche Folgen eines Einschlages sind vom Einschlagort abhängig. Bei einem Einschlag auf dem Festland ist der Bereich mit massiven Schäden unter 250 km Radius, wobei ein Aufschlag im offenen Meer zu massiven Tsunamis mit Wellenhöhen von 100 Metern führen würde. Die Einschlagenergie des Asteroiden für eine globale Zerstörung müsste 100 Mal größer sein. Der Name Apophis bezeichnet einen ägyptischen Gott der Auflösung, der Finsternis und des Chaos. Der Asteroid wurde jedoch nach einem Außerirdischen der Fernsehserie Stargate SG-1 benannt, da die Entdecker neben Fabrizio Bernardi, Dave Tholen und Roy Tucker, Fans der Serie sind. Overkill Der Overkill-Faktor gibt eigentlich die Häufigkeit an, mit der sich der Mensch durch Atombomben selbst vernichten könnte. Hier aber soll es als einzige menschlich-kosmologische Möglichkeit gelten, der Erde ein Ende zu setzen.
8
BRITT 2005.
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Abbildung 1: Anzahl der Atomwaffen auf der Welt9
Das Szenario hierzu ist, dass man durch das Sprengen sehr vieler Atombomben die Erde entweder unbewohnbar macht, ihre Bahn ändert oder ganz zum Bersten brächte. Die Abbildung 1 illustriert die Anzahl an Atomwaffen auf der Welt. Hierbei spielen lediglich die USA und Russland für die Gesamtzahl eine Rolle, alle anderen Länder weisen eine verschwindend geringe Anzahl an Atomwaffen auf. Man beachte das Maximum, welches fast bei 1984 (höchste Anzahl im Jahre 1986 mit 70481 Atomwaffen) liegt. Bei Orwell heißt es „Krieg bedeutet Frieden. Freiheit ist Sklaverei. Unwissenheit ist Stärke.“10 Im Vergleich zu unserer Welt sind es in der Dystopie von Orwell drei Supermächte (Ozeanien, Eurasien und Ostasien). Katapultierung in den außergalaktischen Raum Unser Sonnensystem bewegt sich mit hoher Geschwindigkeit (ca. 550 km/s) durch die Galaxie. Die gesamte Milchstraße (200-400 Milliarden
9
Grafik nach einer Tabelle von NORRRIS, KRISTENSEN 2006.
10 ORWELL 1948: 7.
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Sterne 200-400·109) wiederum bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von ca. 120 km/s auf die Andromeda-Galaxie (1 Billion Sterne 1·1012) zu, wodurch sich beide in einem Zeitraum von 2,5-5 Milliarden Jahren vereinigen werden. Falls die beiden Galaxien eine Größe von 1-Euro-Münzen hätten, würden sie ca. 90 cm auseinander sein.11 Hierbei könnte ein starkes Gravitationsfeld (z. B. Sonne oder Schwarzes Loch) der Erde so nah kommen, dass sie aus ihrer Bahn gerissen und in den leeren Raum katapultiert werden würde. Außerirdische Ein weiteres, oft in Science-Fiction Literatur verwendetes Szenario ist der physische Kontakt mit Außerirdischen. Falls dieser nicht friedlich verlaufen sollte, scheint es wahrscheinlich, dass die Menschheit wenig Chancen auf ein Weiterbestehen besäße. Auch wenn es der Menschheit in Literatur und Film meist gelingt zu überleben, so mutet dies bei einem wirklichen Eintreffen einer uns nicht wohlgesonnenen intelligenten außerirdischen Rasse eher unwahrscheinlich an. Eines der beeindruckendsten (fiktiven) Ereignisse einer Invasion stellt die Radioversion (62 min.) von Orson Wells Krieg der Welten12 dar. Sie wurde am 30. Oktober 1938 im Radio gespielt. Durch die neue Art und Weise der Inszenierung kam es bei vielen Zuhörern zu Irritationen, da es sich wie ein Bericht über eine Invasion vom Mars anhörte. Angebliche Live-Einblendungen lösten vor allem bei Zuhörern, die später dazugeschaltet hatten, Panik aus. Die Sendung wurde ohne Werbeunterbrechungen ausgestrahlt, was die Illusion einer Invasion noch zusätzlich unterstützte. Es gab angeblich über 12500 Zeitungsberichte zu jener Radiosendung. Wells wurde durch die Rezension in den Medien berühmt. Was sich immer wieder in der Erzählung zeigt, ist, dass sowohl strategisches Geschick, als auch technisch bessere Waffen den Sieg bringen und nicht unbedingt die Anzahl an Truppen. Technisch überlegen sind Außerirdische, die auf die Erde kommen, auf jeden Fall, da sie hierfür den interstellaren Raumflug beherrschen müssen. Aber was werden sie von den noch parasitär lebenden Menschen (die meisten sind Speziesisten und Techno-
11 HASINGER 2009: 31. 12 WELLS 1938.
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kraten)13 halten? Wir können nur hoffen, dass sie ein Stadium einer speziesistischen Gesellschaft schon überwunden haben. Ansonsten wird es uns nicht viel anders ergehen als den Indianern. Verminderung des Bahndrehimpulses Sollten alle diese Ereignisse nicht eintreten, ist das Ende der Erde trotzdem vorherbestimmt. Durch das stete Rotieren um die Sonne verliert die Erde, unter Abstrahlung von Gravitationswellen, an Bahndrehimpuls, so dass sie sich auf einer Spiralbahn auf die Sonne zubewegt und letztlich in diese stürzt.
D AS E NDE
DES
U NIVERSUMS
Das Schicksal des Universums ist unabhängig von der Zukunft der Erde, aber nicht minder interessant. In der folgenden Abbildung werden die verschiedenen Vorstellungen über den Anfang und das Ende des Universums zusammengefasst. Abbildung 2: Raum-Zeit-Struktur des Universums
13 STRAHL, PREISSLER 2014: 67.
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Die Abbildung 2 zeigt acht verschiedene Möglichkeiten, wobei nur sieben davon dargestellt werden können. Nimmt man nämlich an, dass das Universum unendlich groß ist, seit jeher besteht und nicht endet, kann dies nicht in dem Schaubild gezeigt werden. Die steady-state-Annahme kommt dieser Vorstellung am nächsten. Hier wird davon ausgegangen, dass das Universum räumlich endlich ist, aber schon immer bestand und für immer bestehen wird . Wenn man annimmt, dass es einen Startpunkt gab, so wird dieser meist als ‚Urknall‘ bezeichnet. Im Diagramm befindet er sich im Ursprung. Die Entwicklung nach dem Urknall kann vier verschiedene Verläufe nehmen. Drei davon sind offen und unterscheiden sich nur in dem Verhältnis zum Raum. Bei der asymptotischen Raumvorstellung dehnt sich der Raum zu einer Größe aus, die dann annähernd konstant bleibt . Falls dem nicht so ist, kann es eine konstante oder beschleunigte Vergrößerung des Raums geben. Bei der geschlossenen Vorstellung beschreibt das Universum erst eine Ausdehnung, die dann zum Erliegen kommt und sich letztlich wieder zusammenzieht. Der Raum hat irgendwann eine maximale Größe erreicht, schrumpft anschließend und endet in einem ‚Big Crunch‘ . Falls das Universum erneut entsteht, wird von einer zyklischen Vorstellung gesprochen . Als letzte Möglichkeit bleibt ein Universum ohne Anfang jedoch mit Ende . Im Laufe der Wissenschaftsgeschichte gab es verschiede Annahmen, wie das Universum startete und enden wird. 1948 wurde von Fred Hoyle, Hermann Bondi und Thomas Gold, die steady-state-Theorie14 veröffentlicht, die von einem Weltall ohne Urknall ausgeht. Kurze Zeit später veröffentlichten Ralph Alpher, (Hans Bethe) und George Gamow die Urknalltheorie (Alpher-Bethe-Gamow-Theorie)15. Hans Bethe steht hier in Klammern, weil er eigentlich nicht bei der ursprünglichen Ausarbeitung beteiligt war. Alpher und Gamow schrieben ihn jedoch ungefragt mit auf die Veröffentlichung, da sie so die αβγ-Theorie aufstellen konnten. Eigentlich in der Wissenschaftsethik eine Undenkbarkeit16: man denke nur, ich hätte Einstein als Mitautor für diesen Artikel genannt. Bethe fand den Wortwitz gelungen und beteiligte sich später sogar an der Ausarbeitung der Big Bang-Theorie. ‚Big Bang‘ ist eigentlich eine Verballhornung von Fred
14 BONDI, GOLD 1948 / HOYLE 1948. 15 ALPHER, BETHE, GAMOW 1948. 16 STRAHL 2014.
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Hoyle, der ein strikter Gegner der Urknall-Theorie war. Doch der Begriff erwies sich als so illustrativ, dass er sich schnell durchsetzte. Große Akzeptanz fand die Theorie durch die Entdeckung der Hintergrundstrahlung 1965 durch Arno Penzias und Robert Wilson. Schon 1948 sagten Alpher, Gamow und Herrmann voraus, dass es ein Nachleuchten aus dem Urknall geben müsse, welches aus allen Raumrichtungen gleich sein sollte. Sie schätzten diese auf 3 bis 10 Kelvin17, wohingegen Penzias und Wilson 2,725 K18 maßen. Die Hintergrundstrahlung, als Restleuchten des Urknalls, kann im analogen Rauschen (Schnee) beim Fernsehen gesehen und gehört werden. Das Universum ist nach heutigen Vorstellungen 13,7 Milliarden Jahre alt und etwa 40 Milliarden Lichtjahre oder 3,7•1026 Meter groß. Ein Lichtjahr entspricht einer Längeneinheit und keiner Zeiteinheit, wie oft fälschlich gedacht wird. So entspricht 1 Lj ca. 9,5 Billionen km = 9,5•1015 m. Wenn es einen Anfang hat, hat es auch ein Ende oder besteht es ewig? Um eine Voraussage treffen zu können, muss etwas genauer auf den Inhalt des Universums eingegangen werden. Hierbei wird das physikalische Prinzip vorausgesetzt: Die Physik ist an allen Raumpunkten und zu allen Zeitpunkten dieselbe. Ohne diese Voraussetzung kann keine Naturwissenschaft betrieben werden, gerade wenn man sich in die Tiefen und damit die Urzeiten des Alls begibt. Man bedenke, dass weit entfernte Objekte nicht in unmittelbarer Gleichzeitigkeit zu sehen sind, sondern ihr ausgestrahltes Licht Zeit benötigt, um in unser Auge zu gelangen. Der nächste Stern Proxima Centauri im System Alpha Centauri ist 4,2 Lichtjahre entfernt. So braucht das Licht, welches wir jetzt beobachten, 4,2 Jahre bis es zur Erde gelangt. Zum Vergleich: das Licht von der Sonne zur Erde benötigt 499 Sekunden. Jedoch sind nicht alle Bestandteile des uns bekannten Weltalls sichtbar, denn es besteht aus ziemlich sonderbaren Teilen, welche in Abbildung 3 aufgelistet sind.
17 ALPHER, HERMAN, GAMOW 1948. 18 PENZIAS, WILSON 1965.
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Abbildung 3: Energieinhalt des Universums
Die uns bekannten Bestandteile befinden sind auf Abbildung 3 ganz links und machen in etwa nur 5 % des Gesamtinhaltes des Universums aus. Doch aus was besteht der Rest und wieso nimmt man dessen Existenz an? Die Existenz von Dunkler Materie lässt sich zum Beispiel durch Gravitations-Linseneffekte ableiten, aber aus was sie besteht, ist noch unklar. Hierzu existieren mehrere Ideen; wie MACHOS (Massive Compact Halo Objects), WIMP (Weakly Interacting Massive Particle) oder Axionen. Beim Ersteren handelt es sich um schwere nicht sichtbare Himmelskörper in den Halos von Galaxien und beim Zweiten um Partikel, die nur wenig Wechselwirkung mit Materie haben, aber eine größere Masse als Neutrinos. Axionen haben keinen Spin, keine Ladung und reagieren nur über die schwache Wechselwirkung. Und was ist die Dunkle Energie? Antwort: Keine Ahnung! Sie ist bis heute völlig unbekannt. Aber wofür braucht man sie dann? Für die Erklärung der exponentiellen Expansion des Universums. Dadurch lässt sich in der Folge die Frage nach der Zukunft des Universums beantworten: Laut momentanem Erkenntnisstand wächst das Universum exponentiell und wird ewig bestehen. Der entscheidende Faktor, der dies beschreibt, ist der Dichteparameter des Universums Omega. Es ist bekannt, dass er bei 1,02 ± 0,02 liegt, woraus sich folgern lässt, dass wir in einem flachen Universum leben. Weiterhin ist bekannt, dass der Anteil an Materie im Universum nicht ausreicht, um Omega den Wert 1 zu geben. Somit muss es einen wei-
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teren Anteil geben. Materie hat dabei eine anziehende Wirkung und ihr Betrag ist Ωm = 0,3. Der Dunklen Energie wird eine abstoßende Wirkung nachgesagt, sie hat einen Anteil von ΩɅ = 0,719. Zusammen ergibt dies für Omega den Wert 1. Da die Dunkle Energie überwiegt, beschleunigt sich die Expansion des Universums und wird ewig fortlaufen. Der Mensch und das Universum Bevor beschrieben wird, was das Universum in der Zukunft erwartet, sollen die mittlerweile vier kosmischen Wenden aufgelistet werden, die sich durch die Kosmologie ergeben haben: 1. Kosmische Wende: Nikolaus Kopernikus zeigt 150920 bzw. 1543,21 dass die Erde nicht im Mittelpunkt des Sonnensystems steht. 2. Kosmische Wende: Harlow Shapley / Heber Doust Curtis zeigen 1915, dass das Sonnensystem nicht im Zentrum der Milchstraße liegt. 3. Kosmische Wende: Edwin Hubble zeigt 1923,22 dass noch nicht einmal die Milchstraße ausgezeichnet und einzigartig ist. 4. Kosmische Wende: 95% des Universums bestehen aus etwas völlig Anderem als wir (siehe Abbildung 3). Aus dieser Auflistung lässt sich nur eines schließen: Das Universum interessiert sich nicht für die Belange der Menschheit. Es ist nicht mit dem Schicksal der Menschheit verknüpft und es zeigt kein Erbarmen für die Menschheit. Die folgenden Zeiträume sind so unvorstellbar lang, dass sie mit menschlichen Maßstäben nicht darzustellen sind. Darüber hinaus wird der Mensch diese Ereignisse nie miterleben, da er die Bühne des Universums schon lange verlassen haben wird.
19 FASSBENDER et al. 2001. 20 KOPERNIKUS 1509. 21 KOPERNIKUS 1543. 22 HUBBLE 1925.
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Abbildung 4: Entwicklung des Universums
Falls das Universum ewig bestehen bleibt, hat es auch ewig Zeit. In für uns unvorstellbaren Zeiten wird es immer noch da sein, aber wie wird es aussehen? Grundlegend lässt sich die Entwicklung in vier Phasen einteilen.
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1. Phase bis ca. 1014 Jahre (Verglühen der Sonnen) In 100 Billionen Jahren werden die Sonnen ihren Brennstoff aufgebraucht haben und je nach Grundmasse unterschiedliche Enden erleiden: • • •
weiße Zwerge Neutronensterne Schwarze Löcher
Hierbei gilt, je größer der Stern, desto kürzer die Lebenserwartung. 2. Phase bis ca. 1019 Jahre (Galaxien verlieren Planeten und Sonnen) Durch Kollision, Verschmelzung, Auffressen oder Heiraten von Galaxien kommt es zur Annäherung großer Massen, wodurch Planeten und Sonnen entweder aus der Galaxie in den interstellaren Raum katapultiert werden oder in das im Mittelpunkt der Galaxie liegende Schwarze Loch stürzen. 3. Phase bis ca. 1039 Jahre (Protonenzerfall) Wenn davon ausgegangen wird, dass eigentlich ein Gleichgewicht zwischen Antimaterie und Materie herrschen sollte, aber im Universum nur Materie zu finden ist, so besäßen Protonen nach GUT (grand unified theory – Große vereinheitlichte Theorie) eine endliche Lebensdauer. Dies bedeutet, dass sich einer der Kernbausteine irgendwann verflüchtigt und zur Folge hat, dass sich die uns bekannte Materie auflöst. Hierdurch verschwinden letztlich die uns bekannten Strukturen, wie ausgebrannte Sterne, Planeten und atomare Gase aus dem Universum. 4. Phase ca. 10100 bis 10X Jahre (Schmelzen der Schwarzen Löcher) Eigentlich kann aus einem Schwarzen Loch nichts entweichen. Doch Stephen W. Hawking23 geht davon aus, dass am Ereignishorizont Vakuumfluktuationen entstehen, wodurch ein Schwarzes Loch Energie verliert. Sollte sich dies als richtig herausstellen, eine Frage, die der LHC (Large Hadron Collider am CERN bei Genf) klären soll, würden Schwarze Löcher extrem langsam zerstrahlen. Im Gegensatz zu den Sonnen gilt hier: umso größer das Schwarze Loch, umso älter wird es. Das X bei 10100 bis 10X Jahren bedeutet hier möglicherweise 10 hoch 10 hoch 100, also eine Zeit, die nicht vorstellbar und selbst mathematisch schwierig darstellbar ist. Doch wenn das Universum ewig besteht, hat es eben auch unendlich viel Zeit.
23 HAWKING 2001: 100ff.
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Nach diesen 10X Jahren wird sich jede Struktur aufgelöst haben. Was bleibt ist ein ‚Tohuwabohu‘ aus Strahlung und leichten Teilchen. Dieses ‚Tohuwabohu‘ wird nicht auf einem kleinen Raum verteilt sein, denn auch der Raum wird unvorstellbar groß. Um sich klar zu machen, wie unvorstellbar dies ist, hilft vielleicht folgende Überlegung: Nimmt man die momentane Massenverteilung im Universum als völlig homogen an, dann ist die Dichte in einem m3 ca. ein Proton (dies ist fast nicht vorstellbar). In 10100 Jahren wird die Dichte im Universum, falls es weiter exponentiell expandiert, nur noch ein Photon im 10200 Volumen des heutigen Universums sein (hier klinkt sich jedes Vorstellungsvermögen aus). Die Wellenlänge der Hintergrundstrahlung, die heute bei 1 mm liegt, wird dann bei 1040 Lichtjahren liegen (umso länger die Wellenlänge, umso geringer die Energie der Welle). Als Aussage kann dann nur noch gelten: Das Universum entstand aus dem Nichts und es bleibt am Ende nichts übrig. Und wenn es doch geschlossen ist? Hierfür muss die Gravitation die stärkste Kraft sein und die Ausdehnung nicht nur verlangsamen, sondern bis hin zum Stillstand bringen, um dann den Raum wieder zu verkleinern und in einem Big-Crunch verschwinden zu lassen. Geht man von einem Zeitraum von z. B. 50 Milliarden Jahren – zwischen Anfang und Ende – aus, so wird das Universum bei einem jetzigen Alter von 13,6 Milliarden Jahren seine maximale Ausdehnung in 11,4 Milliarden Jahren erreicht haben. Die Hintergrundstrahlung wird ihren minimalen Wert erreichen. Ab jetzt würde es zu einer Blauverschiebung kommen, da sich die Galaxien nicht mehr voneinander fortbewegen, sondern aufeinander zu. In der folgenden Kontraktion wird sich das Universum erwärmen und zwar zum Ende hin so stark, dass sich jedes materielle Gebilde, von Galaxien über Sterne bis hin zu Planeten und den Elementen selbst, auflösen und in Energie umgewandelt wird. Nach 36,4 Milliarden Jahren wird das Universum wieder die derzeitige Größe und Dichte haben. Ab etwa 1/5 der Größe des heutigen Universums werden die Galaxien verschmelzen und sich zu einer großen zusammenschließen. Wenn das Universum 1/100 der heutigen Größe hat, dann wird die mittlere Dichte des Universums so groß sein wie die mittlere Dichte einer heutigen Galaxie (1% des heutigen Universums bestehen aus Galaxien). Die Hintergrund-
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strahlung würde 0° C (273,15 K) betragen und Eis würde im gesamten Universum anfangen zu schmelzen. Jetzt sind nur noch 10 Millionen Jahre übrig. Wenn die Hintergrundstrahlung 100°C (373,15 K) erreicht, wird es mit absoluter Sicherheit zum Massensterben auf allen bewohnten Planeten des Universums kommen, da es kein flüssiges Wasser mehr geben wird, wobei die anwachsende kosmische Strahlung vermutlich schon längst alles Leben vernichtet haben dürfte. Langsam wird es viel zu eng im Universum und folglich beginnen viele Sterne, miteinander zu kollidieren. Falls sie dies überleben, kommt es ab ca. 4000 bis 6000 Kelvin Hintergrundstrahlung zum Verdampfen der Sterne, da jetzt ihre Oberflächen- und die Universumstemperatur ähnliche Werte annehmen. Feste Materie wird es ab jetzt nicht mehr geben. Wenn die Hintergrundstrahlung 10 Millionen Kelvin erreicht, wird der gesamte noch verbleibende Wasserstoff fusionieren, was die Erwärmung enorm beschleunigt. In den letzten 100 Tausend Jahren gibt es keine Atome mehr. Wenn das Universum 1/10000 der heutigen Größe erreicht hat, ist die Strahlungsdichte größer als die Materiendichte und es bleiben nur noch 10000 Jahre. Drei Minuten vor dem Schluss zerbersten die Atomkerne, wobei die Eisenkerne am beständigsten sind. In den letzten Sekunden gibt es keine Elemente mehr. Dies passiert außerhalb der schwarzen Löcher. Die schwarzen Löcher selbst reißen alles an sich, auch andere Löcher, bis am Ende ein riesiges Schwarzes Loch bleibt, in dem am endgültigen Ende letztlich auch Raum und Zeit verschwinden.
W ISSENSCHAFT
UND
M YTHOS
Die Menschheit beschäftigt sich nicht erst seit dem Zeitalter der Wissenschaft mit dem Ende der Welt. In fast jeder Kultur gibt es einen eigenständigen Schöpfungsmythos und meist auch eine eigene Eschatologie. Lassen sich physikalische Modelle und mythologische Vorstellungen vergleichen? Um die Kategorisierung einfacher zu gestalten, wurden die acht Möglichkeiten aus Abbildung 2 auf vier zusammengefasst. Steady-State steht für ein ewiges Universum, welches immer da war und immer bestehen wird, egal ob es räumlich endlich oder unendlich ist. Big Bang mit Kollaps steht für einen Anfang und ein Ende des Raumes, also für eine geschlossene Vorstellung. Zyklisch steht für eine geschlossene Vorstellung, die nach dem Kollabieren erneut startet. Big Bang mit Expansion steht für eine offe-
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ne Vorstellung, unabhängig davon, wie die Vergrößerung des Raums aussieht. Dass es widersprüchliche Vorstellungen in der Mythologie zum Anfang und Ende gibt, scheint einleuchtend und so zeigen sich in den einzelnen Mythologien auch verschiedene Denkweisen. So lässt sich z. B. im Christentum eigentlich durch Moses 1.1 und der Offenbarung des Johannes ein Big Bang mit offener Vorstellung ableiten. Doch in der Offenbarung 22,5 findet man: „Und es wird keine Nacht mehr geben, und sie brauchen keine Lampe und kein Sonnenlicht mehr; denn Gott der Herr wird sie erleuchten, und sie werden regieren von Ewigkeit zu Ewigkeit.“24
Der Begriff Ewigkeit heißt eben ewig, also ohne Anfang oder Ende, was einer Stready-State Vorstellung entspricht. Solche Widersprüche lassen sich ebenfalls in anderen Mythologien, wie z.B. der germanischen finden (Ginnungagap und Yggdrasil). Ginnungagap bezeichnet den Anfang, der durch das Aufeinandertreffen von Feuer (Muspellsheim) und Eis (Niflheim) entsteht. Interessant erscheint, dass 1/5 des Korans die Endzeit betrifft. Im Koran steht beispielsweise: 55:26-27: „Alle auf ihr [der Erde] sind vergänglich, aber es bleibt das Angesicht deines Herren voll Majestät und Ehre“ 77:8-10: „Und wenn die Sterne verlöschen und wenn der Himmel sich spaltet, und wenn die Berge zerstäuben [...]“ 25
Es kommt zum Jüngsten Gericht. Das Weltenende ist aber nur Übergang zu einer neuen Schöpfung. Dies scheint einer zyklischen Vorstellung zu entsprechen. Im Hinduismus wird das Ende durch die Kalki, dem letzten Avatar (Verkörperung) von Vishnu, eingeleitet bevor das Zeitalter zu einem Ende kommt und Shiva das Universum auflöst, um es nun erneut entstehen zu lassen. Ebenfalls eine zyklische Vorstellung. Insgesamt wurden 21 Mythologien untersucht und dabei 30 Vorstellungen abgeleitet.
24 OFF 22,5. 25 Der Koran.
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Abbildung 5: Anfang- und Endvorstellungen in der Mythologie (21 untersuche Mythologien, in denen 30 Vorstellungen vorkamen)
Vonseiten der Naturwissenschaft wird im Moment von einem Big-Bang mit Expansion ausgegangen, welcher sich in zehn Mythologien finden ließ.
ABSCHLUSSBEMERKUNG Obwohl der Anfang und das Ende der Erde, aber auch des Universums nichts mit unserem unmittelbaren Leben zu tun haben, ist es erstaunlich, dass jede Kultur ihre eigenen Vorstellungen dazu gefunden und dargestellt hat. Hierbei ist klar, dass die naturwissenschaftlichen und mythologischen Weltbilder nur schwer vergleichbar sind. Die Charakterisierung ist bewusst sehr grob und verallgemeinernd, um einen Überblick zu schaffen. Dabei hat sich gezeigt, dass es meist auf die Welt/Erde beschränkte Ideen waren, die hier aber in einen kosmologischen Zusammenhang gebracht wurden.
L ITERATUR ALPHER, R.A.; BETHE, H.; GAMOW, G.A. (1948): The Origin of Chemical Elements. Physical Review 73, p. 803-804.
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„nuqneH?“ Zur Eleganz der klingonischen Sprache K ATJA W ERMBTER
In 1984, with the third feature film of the Star Trek film series, the Klingons learned to speak. For the film Star Trek III: The Search for Spock the linguist Marc Okrand created an artificial language to enable the aliens on the screen to communicate in their own language. The following paper traces the history and popularity of Okrand’s invention and attempts to give an overview of the Klingon language and its – so to say – linguistic elegance.
E INLEITUNG nuqneH, tlHInganpu´ jup pab jup joq? ‚Sei gegrüßt, Freund der Klingonen und/oder Freund der Grammatik!‘
Ich glaube, Sie, jup, mit dieser Frage auf die höflichste Art der klingonischen Sprache begrüßt zu haben, denn mit jup habe ich Sie, werter Leser, als einen ‚Freund‘ der Klingonen bzw. als einen ‚Freund‘ der Grammatik bezeichnet. (1)
Kling.: nuq|neH Frage-PART. | wollen (V) (inkl. Nullpräfix ‚du/ihr‘) ‚Was willst du?‘ (Begrüßungsformel)
160 | K ATJA W ERMBTER
tlHIngan|pu´ |
jup
Klingone (N) | „Pluralsuffix für Lebensformen, |
Freund (N)
die sich einer (gesprochenen) Sprache bedienen“1 Gen. N1-N2-Verbindung (‚N2 von dem/der N1‘)2 ‚Freund der Klingonen‘ pab |
jup |
joq?
Grammatik (N) |
Freund (N) |
und/oder (Konj)
Gen. N1-N2-Verbindung ‚und/oder Freund der Grammatik‘3
Wörtlich übersetzt bedeutet nuqneH?: ‚Was willst du?‘ – eine Gesprächseinleitung, die in unseren Regionen wohl nicht den gängigen Höflichkeitsnormen entspricht, unter Klingonen aber durchaus üblich ist. Um also unter Terranern nicht sofort zu Beginn einer Konversation Missstimmung aufkommen zu lassen, ist es ratsam, die Frage nuqneH? allgemein mit hiesigen Begrüßungsformeln wie ‚Sei gegrüßt!‘ oder ‚Guten Tag!‘ zu übersetzen. Ich möchte jedoch an dieser Stelle bewusst bei der wörtlichen Übersetzung bleiben und die Frage an mich selbst und den vorliegenden Beitrag richten: (2) Kling.: nuqneH tej? ‚Was willst du, Wissenschaftler?‘4
1
OKRAND 1996: 24.
2
Vgl. OKRAND 1996: 33.
3
Meine KaF-Kenntnisse (Klingonisch-als-Fremdsprache-Kenntnisse) habe ich mir im Selbststudium ohne außerterrestrischen Aufenthalt angeeignet. Fehler in der klingonischen Wortbildung oder Syntax sind also nicht gänzlich auszuschließen. Hinweise und Verbesserungsvorschläge nehme ich entsprechend dankbar entgegen.
4
Die Übersetzungen erfolgen v.a. unter Zuhilfenahme des offiziellen Wörterbuchs nach Marc Okrand (OKRAND 1996). Durch die deutsche Übersetzung des Wörterbuchs sind Fehler oder Unzulänglichkeiten in Bezug auf das deutsche Sprachsystem nicht auszuschließen. Ich bemühe mich, Unklarheiten zu umgehen und wenn dies nicht möglich ist, sie zumindest anzusprechen und potentielle
NUQNEH
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Dieser Beitrag will einen bescheidenen Einblick in die klingonische (‚Bastel‘-)Sprache nach Dr. Marc Okrand geben. Zunächst wird der Versuch unternommen, den Lesern die primäre Sprechergruppe dieser Sprache, das klingonische Volk, näherzubringen, da wahrscheinlich bislang nur die wenigsten die Ehre hatten, den klingonischen Heimatplaneten Kronos (Qo´noS) zu bereisen. Im Anschluss werden Ursprung und Entstehungsgeschichte der klingonischen Sprache nachgezeichnet, um darauf aufbauend einen Einblick in die Grundlagen der klingonischen Sprache zu geben. Im Rahmen dieses Beitrags kann selbstverständlich nicht das gesamte Sprachsystem vorgestellt werden. So beschränke ich mich auf einen reduzierten Überblick über Morphologie, Syntax, Pragmatik und die Verschriftlichung des Klingonischen. Vertiefend möchte ich dann herausarbeiten, was ich unter jener im Titel angekündigten „Eleganz der klingonischen Sprache“ verstehe, um abschließend einen Blick auf die Rezeption des KlingonischPhänomens in der heutigen Populärkultur zu werfen.
D ER K LINGONE
AN UND FÜR SICH
Filmliebhaber werden sich an die folgende Filmeröffnungssequenz erinnern: Schwarze Leinwand, zu hören ist das panisch-keuchende Atmen einer Frau. In weißer Schrift wird der Satz eingeblendet: „Revenge is a dish best served cold.“, gefolgt von einer darunter stehenden zweiten Einblende: „– Old Klingon Proverb –“. Es handelt sich dabei nicht etwa um den Ausschnitt aus einem Film, in dem Klingonen in Erscheinung treten, sondern vielmehr um die Eröffnungssequenz des Quentin-Tarantino-Klassikers Kill Bill – Volume 15, der ansonsten nicht weiter auf die Klingonen oder ihre Sprache Bezug nimmt (wohl aber das Thema Rache zum Leitmotiv erklärt). Tatsächlich lässt sich das behauptete Sprichwort (‚proverb‘) auf den US-amerikanischen Science-Fiction-Film Star Trek II – The Wrath of
Fehlerquellen aufzudecken. Zusätzliche Übersetzungsfragen werden mit dem Übersetzungsprogramm mu´ HaqwI´ (‚Wortchirurg‘; online unter: http://chrisp. de/muhaqwi/) geklärt. Der Wortchirurg schlägt tej für die Bedeutung ‚scientist‘ vor. Eine feminin movierte Form ist offenbar nicht bekannt. 5
Kill Bill – Volume 1 2003: 00:00:02.
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Khan6 zurückführen, in dem der Bösewicht Khan es als klingonisches Sprichwort zitiert (in englischer Übersetzung natürlich). Interessanterweise ist das Sprichwort – ohne die Zuschreibung eines klingonischen Ursprungs – wesentlich älter als der Star-Trek-Film und kursiert (je nach Quelle) bereits seit ca. 170 Jahren durch die Literatur- und seit über 50 Jahren durch die Filmgeschichte.7 Den ersten Filmauftritt hatte das Sprichwort wohl 1949 in der britischen schwarzen Komödie Kind Hearts and Coronets8, in der es heißt: „Revenge is a dish which people of taste prefer to eat cold.“9 Doch die wohl populärste Erwähnung dieser Phrase findet sich in Mario Puzos 1969 erschienenem Roman The Godfather: „Revenge is a dish that tastes best when it is cold.“10 Man sieht: Die Klingonen kommen als zugeschriebene Urheber dieses Sprichworts erst sehr spät ins Spiel, nichtsdestoweniger existiert es auch im klingonischen (‚Pseudo-Original‘-) Wortlaut:11 (3)
Kling.: bortaS bIr jablu´DI ´reH QaQqu´nay ‚Rache ist ein Gericht, das am besten kalt serviert wird.‘
6 7
Star Trek II: The Wrath of Khan 1982. Diverse Internet-Quellen führen den französischen Roman Mathilde von Eugène Sue aus dem Jahr 1841 als wahrscheinlichsten Ursprung des Sprichworts an. Darin heißt es: „Et puis la vengeance se mange très-bien froide, comme on dit vulgirement... “ (Sue 1841: 53). Durch die englische Übersetzung 1846 gelangte die Phrase in die englische Sprache (vgl. MARTIN 1996-2014), was ein spannendes Paradoxon ergibt: Die (anfangs noch nicht gänzlich gefestigte) Phrase ist seit fast 170 Jahren in der englischen Sprache bekannt, was sie jedoch immer noch jünger erscheinen lässt als uns die Zuschreibung „Old Klingon Proverb“ weismachen will.
8
Kind Hearts and Coronets 1949.
9
Zitiert nach MARTIN 1996-2014.
10 PUZO 1969: 540. 11 Vgl. OKRAND 1996: 172.
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bortaS |
bIr |
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jab|lu´|DI´
Rache (N) | kalt sein (V) | servieren (V) | V-Suffix Typ 512 | V-Suffix Typ 9 | KONJ. falls/wenn ‚Wenn man kalte Rache serviert‘ reH |
QaQ|qu´|nay
immer (Adv) | gut sein (V) | V-Suffix Typ „Wanderer“ | Gericht/Speise (N) emphatische Äußerung ‚ist das Gericht immer sehr gut‘
Interessanterweise wandelt sich das im Englischen definitorische Sprichwort (revenge is...) in der klingonischen Übersetzung (oder: ‚Ursprung‘) zu einer Konditionalphrase (jablu´DI). Offenbar differenzieren Klingonen sehr subtil verschiedene Arten von Rache, was uns endlich zu der Frage führt, wie wir uns diese uns fremde (alien) Sprechergruppe vorzustellen haben. Klingonen sind eine fiktive, außerirdische, humanoide Spezies in den US-amerikanischen Science-Fiction-Fernsehserien und -Filmen der Marke Star Trek. Die von Gene Roddenberry entwickelte Star-Trek-Reihe thematisiert ursprünglich in positiv-utopischer Fiktion Sternenreisen im 23. und 24. Jahrhundert. Den Handlungsrahmen bildet dabei die „Vereinte Föderation der Planeten“ („United Federation of Planets“), welche verschiedene Raumschiff-Flotten ausschickt, um fremde Planeten und Spezies zu erkunden. Ihren ersten Fernsehauftritt hatten die Klingonen, entwickelt von Drehbuchautor Gene L. Coon, 1967 in der Originalserie Star Trek: The Original Series, in Episode 26 der ersten Staffel.13 In der Folge Errand of Mercy, die am 23. März 1967 erstmalig im USamerikanischen Fernsehen ausgestrahlt wurde, gerät die Besatzung des Raumschiffs USS Enterprise während der Erkundung des mittelalterlichen Planeten Organia in Konflikt mit dem kriegerischen Volk der Klingonen.
12 Zeigt an, „daß es sich bei dem Subjekt des Satzes um ein indefinites, unbekanntes und/oder ein allgemeines Konzept handelt.“ (OKRAND 1996: 42). 13 Star Trek – The Original Series, Season 1, Ep. 26. Nach einer exakteren Zählung handelt es sich um Episode 27, wenn man die ursprünglich nicht ausgestrahlte Pilotfolge als Episode 0 mitzählt.
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Nur ein beherztes Eingreifen der Bewohner von Organia führt zu einem vorläufigen Waffenstillstand zwischen den Klingonen und der Föderation. Seit diesem ersten Auftritt sind Klingonen nicht mehr aus der StarTrek-Welt wegzudenken: zunächst als wichtige Antagonisten, später als Alliierte der Föderation. Sie gehören heute zu den populärsten Spezies des Star-Trek-Universums. In den fünf bisher produzierten Fernsehserien sind im Laufe von 40 Jahren insgesamt ca. 414 verschiedene Spezies aufgetreten oder wurden zumindest namentlich erwähnt.14 Nur fünf Spezies davon treten auch in allen fünf Serien auf: Menschen, Hologramme, Romulaner, Vulkanier und Klingonen. Auch in den Kinofilmen sind die Klingonen präsent, sie treten in elf der bisher zwölf produzierten Filme auf. Optisch haben sich die Klingonen seit den 1960er Jahren stark weiterentwickelt. In der Originalserie sind Klingonen dunkelhäutige Humanoide mit starker Gesichtsbehaarung und schlichten Kostümen. Erst 1979 erhielten die Klingonen für Star Trek: The Motion Picture15 ihr heute bekanntes Äußeres, nicht zuletzt, da nun mehr Geld für Make-up und Kostüme zur Verfügung stand. Es sind im Laufe der Zeit einige Variationen des äußeren Erscheinungsbildes entstanden, das markanteste Merkmal bleiben aber wohl die hohen, knöchernen Stirnwölbungen.16 Im Folgenden soll eine kurze, zusammenfassende Charakterisierung der klingonischen Spezies gegeben werden, so wie sie in den Serien, in den Büchern von Marc Okrand und in der Fanfiction dargestellt wird:
14 Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_Star_Trek_races [30.12.2014]. 15 Star Trek: The Motion Picture 1979. 16 Selbstironisch wird die physiognomische Veränderung der Klingonen in der 6. Episode der 5. Staffel von Deep Space Nine thematisiert. Anlässlich des 30jährigen Jubiläums der Star-Trek-Serie unternimmt die Besatzung der Raumstation Deep Space Nine eine Zeitreise, um die Ermordung von Captain Kirk des Raumschiffs Enterprise zu verhindern. Durch geschickte Montagetechniken trifft die Crew der ‚Gegenwart‘, inklusive Klingone Worf, auf Klingonen des Zeitalters Enterprise, welche kaum Ähnlichkeit mit den Klingonen aus Worfs Generation haben. Darauf angesprochen reagiert Worf wortkarg: „They are Klingons. And it is a long story. [...] We do not discuss it with outsiders!“ (Deep Space Nine: Episode 5.6 Trials And Tribble-ations 1996: 00:26:27)
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Klingonen werden als kriegerisches, stark militärisch organisiertes Volk vom Planeten Kronos (Qo´noS) beschrieben, wobei das klingonische Imperium im 23. Jahrhundert in Folge von Eroberungen mehrere Welten und Planeten umfasst. Dem klingonischen Mythos zufolge gründete Kahless (‚der Unvergeßliche‘) „vor über 1500 Jahren das Klingonische Imperium, indem er den Tyrannen Molor besiegte.“17 Die klingonische Spezies kennt zwei Geschlechter: männlich und weiblich. Beide Geschlechter haben charakteristische Stirnwulste, auffällig spitze Zähne und eine starke, dunkle Behaarung. Die Fortpflanzung mit einer nicht-klingonischen Spezies, z.B. Menschen, ist möglich; die klingonischen Gene sind dabei über Generationen hinweg dominant. So sind bei der halb menschlichen, halb klingonischen Chef-Ingenieurin der USS Voyager B'Elanna Torres (gespielt von Roxann Dawson) deutlich die vererbten Stirnwülste zu erkennen. Die Serie Star Trek: Voyager18 thematisiert wiederholt Torres’ Auseinandersetzung mit ihrer klingonischen Herkunft. Klingonischer Nachwuchs wächst im übrigen schneller heran als menschliche Kinder. In einem deutschsprachigen Star-Trek-Magazin wird der Körperbau der Klingonen wie folgt beschrieben: „Der klingonische Körperbau entspricht ihrem kriegerischen Lebenswandel. Klingonen (männliche wie weibliche) sind extrem robust und widerstandsfähig. Im Lauf der Evolution haben sie sekundäre Organe entwickelt, das heißt, dass alle wichtigen Organe in zwei oder sogar dreifacher Ausführung vorhanden sind. So kann ein Klingone also weiterkämpfen, auch wenn eins seiner Herzen durchbohrt ist, da er ja noch über ein zweites verfügt. [...] zudem verfügen Klingonen über erheblich größere Körperkraft als ein Mensch. Klingonen können ähnlich wie die Vulkanier weit über hundert Jahre alt werden, wenn sie nicht zuvor ehrenvoll im Kampf fallen.“19
17 OKRAND 1997: 16. 18 Star Trek: Voyager 1995-2001. 19 STURM 2004: 13. In diesem Text deutet sich übrigens bereits ein typisches Merkmal der medialen Verarbeitung der Klingonen-Fiktion ab: Das 24. Jahrhundert wird stets als Gegenwart angesetzt und es wird tatsachenbehauptend im Präsens über Klingonen berichtet.
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Für die fiktive Spezies der Klingonen ist im Laufe der letzten 48 Jahre in Drehbüchern, Büchern und Fanfiction eine umfangreiche und detailreiche Welt erdacht worden, die eine eigene Zeitgeschichte, einen eigenen Entstehungsmythos, eine eigene Religion sowie spezifische Gesellschaftsstrukturen, Rituale, Kulturgüter, Werte und Normen umfasst. Klingonen gelten als martialisch, aggressiv und kampflustig, zugleich sind ihnen Familienehre, Tradition und Kultur das höchste Gut. Nicht zuletzt sind sie wohl die einzige fiktive Spezies der Film- und Fernsehgeschichte, für die eigens eine ausgearbeitete Sprache mit systematischer Phonetik, Grammatik und Lexik entwickelt wurde: das so genannte tlhIngan Hol, das ‚Klingonisch‘.20
E INE S PRACHE
ENTSTEHT
In der Originalserie Star Trek – The Original Series (1966-1969) und im ersten Kinofilm Star Trek: The Motion Picture von 1979 sprechen die Klingonen noch kein Klingonisch (sondern die Lingua Franca des Weltraums: Englisch). Im zweiten Kinofilm Star Trek II: The Wrath of Khan von 1982 war von den Klingonen lediglich eine fiktionale phonetische Lautfolge zu hören, die der Schauspieler James Doohan (Der Chefingenieur „Scotty“) sich ausgedacht hatte. Für den dritten Kinofilm schließlich, Star Trek III: The Search for Spock21, wurde der US-amerikanische Linguist Marc Okrand von Paramount Pictures beauftragt, eine regelhafte Sprache für die Klingonen zu entwickeln.
20 Nur wenige andere Kunstsprachen, die fiktionalen Charakteren in Film und Fernsehen zugeschrieben werden, sind derart umfangreich auf allen Sprachebenen ausgebaut wie das Klingonische. J.R.R. Tolkiens Kunstsprachen (v.a. Quenya und Sindarin) beispielsweise sind ähnlich komplex ausgebaut; für Tolkien ging jedoch das Basteln an Sprachen mit der Kreation seiner Romanwelten einher bzw. ging dieser sogar voraus. So wurden Quenya und Sindarin nicht gezielt für die Filmadaptionen entwickelt. Dass ein Linguist extra engagiert wird, um bereits bekannten fiktionalen Film- und Fernsehfiguren eine funktionierende Sprache auf den Leib zu schreiben, dürfte in den 1980er Jahren ein Novum dargestellt haben. 21 Star Trek III: The Search for Spock 1984.
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Marc Okrand, 1948 geboren, promovierte 1977 an der University of California in Berkeley über die Indianersprache Mutsun. Seit 1979 arbeitet er für das National Captioning Institute, das für den US-amerikanischen Fernseh- und DVD-Markt Untertitel für Gehörlose entwickelt und produziert.22 Okrand hatte bereits für den zweiten Star-Trek-Film so genannte Overdubs entwickelt: Zwei Vulkanier, Captain Spock (Leonard Nimoy) und Lieutenant Saavik (Kirstie Alley), sollten sich auf Vulkanisch unterhalten. Da die Szene bereits in englischer Sprache gedreht worden war, sollte Okrand vulkanisch klingende Lautfolgen entwickeln, die zu den Lippenbewegungen der Schauspieler passten, aber möglichst außerirdisch-vulkanisch klangen. Die Szene wurde entsprechend synchronisiert und mit englischen Untertiteln versehen. Anderthalb Jahre später erhielt Okrand einen Anruf des Produzenten Harve Bennett und den Auftrag, für den dritten geplanten Spielfilm eine eigene Sprache für die außerirdischen Antagonisten, die Klingonen, zu entwerfen. Ursprünglich galt es dabei nicht, ein vollständiges Sprachsystem zu entwickeln, sondern lediglich die geplanten Dialoge für Star Trek III in klingonischer Sprache wiederzugeben. Der Wortschatz war somit vorgegeben. Für die Lautung des Klingonischen hatte Okrand nur wenige Vorgaben: Es gab bereits klingonische Namen und die wenigen Wörter, die James Doohan für Star Trek II erfunden hatte. Außerdem gab das Drehbuch vor, dass es eine gutturale („kehlige“) Sprache sein sollte. Von diesen Vorgaben abgesehen hatte Okrand relativ viele Freiheiten, die klingonische Phonetik zu entwickeln und er setzte sich zum Ziel, das Klingonische so unmenschlich und fremd (eben alien) wie möglich klingen zu lassen. Bei einem solchen Unterfangen muss Okrand aber unvermeidbar an die Grenzen menschlicher Sprache stoßen: Erstens ist er an die Grenze des Denkbaren gebunden (eine Alien-Sprache, die die menschliche Vorstellungskraft übersteigt, kann Okrand sich nicht ausdenken), zweitens ist er an die Grenzen der menschlichen Artikulationsorgane gebunden (Laute, die die menschlichen Sprechwerkzeuge nicht produzieren können, kann er den Schauspielern nicht beibringen). Das Klingonische ist aber letztlich be-
22 Die nachfolgenden Ausführungen über die Entwicklung des Klingonischen basieren maßgeblich auf einem Interview mit Marc Okrand. Vgl. z.B.: https:// www.youtube.com/watch?v=Ph77eTMZIhs [30.12.2014].
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müht, die Zusammensetzung des Phoneminventars und die Lautkombinationen so fremd und selten wie möglich zu gestalten, d. h. das Klingonische sollte mit keinem Phonemsystem einer bekannten menschlichen Sprache identisch sein. Die Zuschauer-Resonanz auf die klingonische Sprache muss äußerst positiv gewesen sein. Okrand baute die Sprache für die Star-Trek-Filme V und VI sowie für die 1987 entstandene Spin-of-Serie Star Trek: The Next Generation23 weiter aus. Der eigentliche Marketing-Clou war allerdings das von Okrand verfasste offizielle Wörterbuch The Klingon Dictionary – English/Klingon; Klingon/English24. Bemerkenswerterweise sicherte sich Paramount Pictures bereits 1985 die Rechte an dem Wörterbuch, das dann erst 1992 publiziert wurde. Bald erschienen auch Übersetzungen des Wörterbuchs in andere Sprachen sowie 1997 eine Fortsetzung: Klingon for the Galactic Traveler25. Die Wörterbücher enthalten neben einem Lexikon-Teil auch die kodifizierte Grammatik der klingonischen Sprache sowie pseudowissenschaftliche Texte zu soziolinguistischen und pragmalinguistischen Besonderheiten. 1992 wurde in den USA außerdem das Klingon Language Institute gegründet, eine Art Fanclub, der sich für die Pflege und den Ausbau der klingonischen Sprache einsetzt, Übersetzungen anfertigt und in Kooperation mit Okrand neue Wörter und grammatische Regeln entwickelt. Weltweite Popularität gewann das Klingonische schließlich einhergehend mit der Verbreitung des Internets.
K LINGONISCH Wie ist das Klingonische nun aufgebaut? Nachfolgend der Versuch eines kurzen ‚Steckbriefs‘ der klingonischen Sprache: Klingonisch ist eine künstliche Sprache der Kategorie fiktionale Sprachen, die für die fiktive, fantastische Welt der außerirdischen Spezies der Klingonen erschaffen wurde.
23 Star Trek: The Next Generation 1987-1994. 24 OKRAND 1992. 25 OKRAND 1997.
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Die Sprache ist streng agglutinierend aufgebaut, das heißt Wortbildung und Syntax sind gekennzeichnet durch das Anfügen von Affixen an den morphologischen Stamm eines Verbs bzw. Nomens. Satzgliedfunktionen werden darüber hinaus topologisch, d.h. über die Wortstellung im Satz ausgedrückt. 1. Zur Wortbildung: Neben einfachen Nomen (Simplizia) gibt es komplexe, zusammengesetzte Nomen, die entweder Komposita aus zwei oder mehr frei vorkommenden Nomen darstellen (jol ‚Transporterstrahl‘ + pa´ ‚Raum, Zimmer‘ = jolpa´ ‚Transporterraum‘) oder Derivate (Nomina agentis) aus einem Verbstamm und dem Suffix {-wI´} (‚jemand/etwas‘, welches etwas ‚tut/bewirkt‘, z.B. in baHwI ‚jemand, der feuert‘/‚Schütze‘). Alle Nomen können affigiert werden und zwar mit maximal fünf Suffixen (Nomen-1-23-4-5). Das Klingonische unterscheidet dabei fünf Suffix-Typen, die in vorgegebener Reihenfolge angefügt werden müssen. Betrachten wir folgende Wortform: (4)
Kling.: QaghHommeyHeylIjmo´ ‚offensichtlich zurückzuführen auf deine kleineren Fehlnisse‘26 oder: ‚aufgrund deiner offensichtlichen kleinen Fehlnisse‘ {Qagh}
Fehler (N)
{-Hom}
N-Suffix Typ 1 Augm. oder Dimin.: hier Diminutiv
{-mey}
N-Suffix Typ 2 Numerus: Plural
{-Hey}
N-Suffix Typ 3 Qualifikation: ‚offensichtlich‘, ‚offenliegend‘
{-lIj}
N-Suffix Typ 4 Possession: ‚dein‘, ‚deine‘
{mo´}
N-Suffix Typ 5 synt. Markierung: ‚weil‘, ‚in Abhängigkeit von‘
2. Zur Syntax: Die Satzgliedstellung ist streng einzuhalten. Der einfache Satz trägt die Satzstruktur Objekt – Prädikat – Subjekt; also genau umgekehrt etwa zum einfachen Satz in der deutschen Sprache, der prototypisch die Struktur Subjekt – Prädikat – Objekt aufweist. Wir haben also keine morphologische Subjekt- oder Objektmarkierung; die Funktion der Nominalphrasen ergibt sich aus der Anordnung im Satz:
26 OKRAND 1996: 32.
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(5)27 Kling.: Puq |
legh |
yaS
Kind (N) | sehen (V) | Offizier (N) ‚Der Offizier sieht das Kind.‘ Kling.: YaS |
legh |
puq
Offizier (N) | sehen (V) | Kind (N) ‚Das Kind sieht den Offizier.‘
Alle weiteren Informationen des Satzes werden über Affigierungen des Verbs ausgedrückt. Ein Verb kann maximal ein Präfix und neun Suffixe unterschiedlicher Typen umfassen (Präfix-verbales Basismorphem-1-2-3-4-56-7-8-9). Das Präfix drückt entweder aus, „wer oder was die im Verb beschriebene Handlung ausführt und, wenn es relevant ist, wer oder was diese Handlung rezipiert bzw. erleidet“.28 Bei imperativischen Verbausdrücken, z.B. bei Befehlen, werden gesonderte pronominale Präfixe verwendet.29 Die Suffixe sind wiederum in neun verschiedene Typen unterteilt und müssen in festgelegter Reihenfolge an das verbale Kernmorphem angefügt werden. Gegeben sei folgende Verbform: (6)30 Kling.: HeghqangmoHlu´pu´ ‚man brachte sie/ihn dazu, sterben zu wollen‘ {Ø-}
Null-Präfix: ‚er/sie/es‘ – ‚ihn/sie‘
{Hegh}
‚sterben‘ (V)
{-qang}
V-Suffix Typ 2 Volition: ‚willens sein/anstreben‘
{-moH}
V-Suffix Typ 4 Kausation: ‚verursachen‘
27 Beispiel nach OKRAND 1996: 67. 28 OKRAND 1996: 35. Okrand behandelt dies als pronouns, sozusagen pronominale Präfixe). 29 Vgl. OKRAND 1996: 37. 30 Korrigiertes Beispiel nach OKRAND 1996: 50.
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{-lu´}
V-Suffix Typ 5 Indef. Subjekte/Möglichkeit: indef. Subjekt31
{-pu´}
V-Suffix Typ 7 Aspekt: Perfektiv
3. Zur Pragmatik: Dank Okrands Wörterbüchern haben wir außerdem recht umfangreiche Angaben über pragmatische und soziolinguistische Besonderheiten der klingonischen Sprache: Phatische Kommunikation, also Kommunikation zur Pflege sozialer Beziehungen. ist den Klingonen nahezu unbekannt (vgl. nuqneH – ‚Was willst du‘). Das Klingonische kennt zahlreiche Dialekte, eine Umgangssprache und sogar Slang. Der Dialekt des jeweils an der Macht befindlichen Herrschers wird zur Standardsprache mit dem höchsten Prestige erhoben. Entsprechend sind die meisten Klingonen bemüht, sich in mehreren Dialekten ausdrücken zu können, um sich bei einem Machtwechsel entsprechend anpassen zu können. Das Klingonische kennt diachron ablaufende Sprachstufen, wobei das altertümliche Klingonisch heute nur noch für Rituale genutzt wird. Und schließlich lassen sich sogar Gruppensprachen identifizieren: Klingonische Kinder sprechen anders als Erwachsene, das Militär hat eine ausgeprägte Fachsprache entwickelt und es sind sogar bang pongmey bekannt, Kosenamen unter Geliebten. 4. Zum Alphabet: Okrand selbst hat kein eigenständiges Schriftsystem für seine fiktionale Sprache entwickelt. Klingonisch wird in lateinischen Buchstaben wiedergegeben, wobei die Großschreibung eines Buchstabens in der Regel einen zugrundeliegenden Guttural-Laut abbildet. Das Klingon Language Institute nutzt ein Klingonisches Schriftsystem, das von Paramount Pictures allerdings nicht offiziell anerkannt ist. Das Schriftsystem ist ziemlich simpel: Die Phonem-Graphem-Korrespondenz ist relativ eindeutig („ein Laut gleich ein Buchstabe“), geschrieben wird horizontal linksläufig, also von links nach rechts und von oben nach unten. (Als Alien-Sprache wäre eine außergewöhnliche Schreibung doch viel spannender, z.B. horizontal furchenwendig von unten nach oben wie das Rongorongo.)
31 „Das Suffix wird verwendet, um anzuzeigen, dass es sich bei dem Subjekt des Satzes um ein indefinites, unbekanntes und/oder ein allgemeines Konzept handelt.“ (OKRAND 1996: 42). Insofern muss dieses Suffix Auswirkung auf die Übersetzung des pronominalen Präfixes haben: Es ist keine bestimmte, bekannte Referenzperson, die die Handlung ausführt (er/sie/es), sondern es liegt ein unbestimmtes Agens vor (man).
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Für eine fiktionale Sprache ist das Klingonische also verhältnismäßig umfangreich ausgebaut und komplex. Aber kann von einer „Eleganz der klingonischen Sprache“ die Rede sein?
D IE E LEGANZ
DER KLINGONISCHEN
S PRACHE
Dass es eine „Eleganz der klingonischen Sprache“ geben soll, ist zunächst eine provozierende These: Die Aussprache des Klingonischen ist schwierig, die Affigierungen sind umfangreich und die Satzgliedstellung ist für viele Sprachen ebenfalls ungewöhnlich. Wie ließe sich außerdem „Eleganz“ linguistisch definieren? Darüber hinaus ist zu erwarten, dass das Klingonische als ‚Bastelsprache‘, als nicht-natürlich gewachsene Sprache, diverse Lücken aufweist, sozusagen weiße Flecken auf der Landkarte, die bislang nicht gefüllt wurden. Dennoch: Eine gewisse Eleganz lässt sich der klingonischen Sprache durchaus abgewinnen. Ich möchte dies anhand eines ausgewählten Bereichs des Klingonischen veranschaulichen, indem ich diesem den entsprechenden Bereich der deutschen Sprache gegenüberstelle. Ich konzentriere mich im Folgenden auf Hauptsatz-Nebensatz-Konstruktionen, die wir für die deutsche Sprache als Adverbialsätze bezeichnen. Was versteht man unter einem Adverbialsatz? Syntaktisch-funktional definiert ist ein Adverbialsatz ein Teilsatz, der als Adverbial in einem übergeordneten Satz fungiert.32 Er ist also ein Nebensatz und hat eine Satzgliedfunktion. Der Adverbialsatz ist unabhängig von der Valenz des Verbs im Hauptsatz,33 das heißt, er ist nicht obligatorisch gefordert, wie es bei Nebensätzen der Fall ist, die als ergänzende Objekte oder Subjekte fungieren. Formal betrachtet kann man zwischen syndetischen (eingeleiteten) und asyndetischen (uneingeleiteten) Adverbialsätzen unterscheiden. Ich werde mich im Folgenden lediglich auf syndetische, konjunktionale Adverbialsätze konzentrieren, da diese den Großteil der Adverbialsätze des Deutschen ausmachen.34
32 GLÜCK 2010: 14. 33 Vgl. EISENBERG 1994: 337. 34 Vgl. EISENBERG 1994: 337.
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Syndetische Adverbialsätze werden durch subordinierende Konjunktionen (im Folgenden: SUB) eingeleitet, die – wie ihr Name bereits sagt – den Adverbialsatz dem Matrixsatz unterordnen: „Er ist tapfer, weil er ein Klingone ist.“ Wie alle Adverbiale sind Adverbialsätze „Glieder mit ausgeprägterer inhaltlicher Bestimmung“.35 So werden Adverbialsätze nach semantischen Gesichtspunkten klassifiziert. Die adverbialsatzeinleitenden SUB haben – im Gegensatz zu den ergänzungssatzeinleitenden SUB – eine bestimmte lexikalische Bedeutung, von der sich eine semantische Klassifikation der Konjunktionen und letztlich der Adverbialsätze ableiten lässt.36 Wie diese semantische Klassifikation im Einzelnen aussieht, ist letztlich abhängig von der Vorgehensweise der jeweiligen Grammatik. Ich möchte Eisenbergs Klassifikationsvorschlag aufgreifen und folgende Adverbialsätze (AdvS) ansetzen:37 Tabelle 1: Übersicht über Adverbialsatzklassen und Konjunktionen AdvS Temporal Kausal Instrumental Konzessiv Konditional Final Konsekutiv
eingeleitet bspw. durch als, bis, nachdem da, weil indem obwohl, obgleich wenn, falls, sofern damit sodass38
Um vergleichen zu können, welche Grammatikkategorien des Klingonischen den deutschen Adverbialsätzen entsprechen, sollten wir klären, welche Funktion die Adverbialsätze in unserem Sprachsystem innehaben.
35 DUDEN 4 1998: 632. 36 Vgl. EISENBERG 1994: 353, 355. 37 Vgl. EISENBERG 1994: 353. 38 Konjunktionen, die konsekutive Verhältnisse bezeichnen, werden von Eisenberg nicht behandelt. Da Konsekutivsätze jedoch in vielen Grammatiken behandelt werden, möchte ich sie der Vollständigkeit halber aufführen.
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Adverbialsätze sind Verhältnissätze.39 In einem Satzgefüge mit einem adverbialen Nebensatz enthalten beide Teilsätze, sowohl der Hauptsatz als auch der Adverbialsatz, jeweils einen inhaltlich vollständigen Sachverhalt. Diese Sachverhalte werden durch die Konjunktion zueinander in Beziehung gesetzt.40 Der Adverbialsatz mit der Verhältnis herstellenden Konjunktion ist damit ein so genannter Verhältnissatz. So können an den Teilsatz Er ist tapfer unterschiedliche Verhältnissätze angeschlossen werden (weil/obwohl/falls er ein Klingone ist). Von welcher Art die Relation ist, hängt von der lexikalischen Bedeutung der Konjunktion ab.41 Je nach inhaltlicher Prägung der Konjunktion (und somit des Adverbialsatzes) können temporale, kausale, instrumentale, konzessive, konditionale, konsekutive und finale Relationen erreicht werden.42 Interessant ist, dass es in der deutschen Sprache keine räumlichen Konjunktionen gibt.43 Halten wir also fest, dass es die Leistung der Adverbialsätze für das deutsche Sprachsystem ist, Relationen zwischen Sachverhalten herzustellen. Wie können nun Sachverhalte in der klingonischen Sprache zueinander in Verhältnis gesetzt werden? Zur Erinnerung: Das Klingonische ist eine Sprache mit einem stark ausgeprägten Affigierungssystem. Kern und wichtigstes Element eines Satzes ist das Verb, das theoretisch neben einem Präfix bis zu 9 Suffixe auf-
39 Vgl. EISENBERG 1994: 354; vgl. DUDEN 4 1998: 788. 40 Vgl. EISENBERG 1994: 337. 41 Ich schließe mich hier Eisenbergs Vorgehensweise an, die Relationen anhand der Konjunktionen zu bestimmen. Andere Grammatiken wie die Duden Grammatik gehen umgekehrt vor: Sie untersuchen, welche Relationen mittels welcher sprachlichen Mittel realisiert werden. Dies führt jedoch zu Schwierigkeiten (vgl. EISENBERG 1994: 355). 42 Auch diese semantischen Klassifikationen der Relationen können von Grammatik zu Grammatik variieren. Ich greife hier wie erwähnt Eisenbergs Klassifikationsvorschlag auf. 43 Vgl. EISENBERG 1994: 318. Lokalbeziehungen werden im Deutschen beispielsweise mittels Präpositionalgefügen, Lokaladverbien oder lokalen Relativadverbien ausgedrückt. Da es also keine lokalen adverbialsatzeinleitenden Konjunktionen im Deutschen gibt, sollen Lokalbeziehungen im Folgenden keine Rolle spielen.
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weisen kann (eventuell sogar noch mehr, wenn man die „Wanderer“Suffixe44 berücksichtigt). Oft werden Subjekt und Objekt nicht explizit genannt, sondern sind im Präfix des Verbs enthalten. So bildet häufig ein einziger Verbkomplex einen kompletten Satz. Ähnliches ist zu erwarten, wenn wir nach einem Äquivalent für den deutschen Nebensatz suchen. Dass das Klingonische ein eben solches Nebensatzäquivalent hat, geht klar aus Okrands Wörterbuch hervor, denn es setzt ein eigenes Kapitel „Nebensätze“ an. Es heißt dort: „Klingonische Verben, die auf ein Suffix vom Typ 9 (außer ´a´ Interrogation und -wI jemand/etwas, der/das tut) enden, erscheinen in einem Satz gemeinsam mit einem anderen Verb, von dem sie und der von ihnen regierte Satz abhängig sind.“45
Wie ein deutscher Nebensatz seinem Hauptsatz untergeordnet ist, kann also auch ein Verbkomplex des Klingonischen einem anderen Verbkomplex innerhalb eines Satzes untergeordnet werden. Diese Unterordnung wird mittels bestimmter Verbsuffixe vom Typ 9 „Syntaktische Markierungen“ erreicht. Sie befinden sich innerhalb eines Verbkomplexes immer an letzter Stelle. Die Suffixe des Typs 9 markieren die syntaktische Funktion des Verbs im Satz und lassen sich folgendermaßen ins Deutsche übersetzen/übertragen:46
Tabelle 2: Übersetzungen der Suffixe des Typs 9 {-pa´} {-vIS} {-DI´} {-mo}
bevor, zuvor während sobald als weil47
44 „Suffixe dieser Klasse haben keine feste Position in Relation zu anderen Suffixen, sondern können an jeder Position erscheinen, außer nach einem Suffix des Typs 9.“ (OKRAND 1996: 51) 45 OKRAND 1996: 69; Hervorhebungen im Original. 46 Vgl. OKRAND 1996: 47f. 47 Okrand ergänzt dieses Suffix im Addendum seines Wörterbuchs (vgl. OKRAND 1996: 176).
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{-chugh} {-meH}
wenn um...zu, damit48
Diese Suffixe entsprechen den deutschen Anschlussmitteln, die einen adverbialen Nebensatz einleiten (ASUB). Es finden sich noch drei weitere Suffixe vom Typ 9, die im weiteren Verlauf aber keine Rolle spielen werden, da sie nicht die Funktion einer adverbialsatzeinleitenden Konjunktion aufweisen.49 Um nun das zu erreichen, was im Deutschen die adverbialen Nebensätze leisten, nämlich zwei voneinander getrennte, in sich geschlossene Sachverhalte zueinander in Beziehung zu setzen, werden im Klingonischen die hier tabellarisch aufgeführten Suffixe an jenes Verb gehängt, das dem anderen im Satz befindlichen Verb untergeordnet werden soll. So wird ein Verhältnis zwischen den jeweiligen Sachverhalten, die durch die Verbkomplexe bezeichnet werden, hergestellt. (7)
Deutsch: Damit Worf zufrieden ist, musst du den Sieg des Rennens erreichen. Kling.:
yonmeH Worf, qetghach yay bISIchnIS
48 {-meH} wird in OKRAND 1996: 48 zunächst als ‚weil‘ übersetzt; da es aber ein Finalgefüge einleitet, bevorzuge ich die Übersetzung ‚um...zu‘. Hier liegt aus meiner Sicht ein Übersetzungs- oder Sachfehler vor. 49 Der Vollständigkeit halber sollen sie dennoch genannt werden: {-bogh}, zu übersetzen mit ‚welches‘, leitet einen Relativsatz ein. Es entspricht also einem deutschen Relativpronomen. {-´a´} ist ein Interrogationssuffix. Es zeigt an, dass es sich bei dem vorliegenden Satz um eine Entscheidungsfrage handelt. Das Suffix {-wI´} leitet das Verb in ein Verbalnomen ab und bedeutet dann ‚jemand/etwas, der/das (etwas) tut‘. Es entspricht ungefähr dem deutschen Ableitungssuffix {-er} zur Substantivbildung (z.B. in Arbeiter). Ebenfalls der Nominalisierung dient das Suffix {-ghach} (vgl. OKRAND 1996: 177), wofür es im Deutschen diverse Nominalisierungssuffixe gibt, z.B. {-ling}, {-nis}, {-schaft}, {-tum}, {-ung} usw., wobei diese nicht nur an Verbalbasen angefügt werden. {-ba´} (‚offensichtlich‘) und {-jaj} (‚möge/lasse‘, z.B. in Flüchen oder Trinksprüchen) schließlich drücken eine Einstellung bzw. Wunsch des Sprechers aus (vgl. OKRAND 1996: 167f.). Es wird deutlich, dass die Suffixe des Typs 9 weder grammatisch noch semantisch eine homogene Klasse bilden.
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yon|meH |
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Worf
zufrieden sein (V) | damit (Konj.) | Eigenname ‚damit Worf zufrieden ist‘ qetghach |
yay
das Rennen (N)
der Sieg (N)
Gen. N1-N2-Verbindung (‚N2 von dem/der N1‘)50 ‚Sieg des Rennens‘ bI | SIch | nIS du/Ø (V-Präfix) | erreichen (V)51 | V-Suffix Typ 2 Volition: müssen ‚du musst erreichen‘
Zusammengefasst bedeutet dies, dass im Klingonischen ein Verbkomplex mit einem Suffix des Typs 9 die Funktion übernimmt, die wir im Deutschen oft mittels Adverbialsätzen ausdrücken: Es wird ein Verhältnis zwischen zwei Sachverhalten hergestellt. Gehen wir in unserem Vergleich noch einen Schritt weiter: Was leisten Okrands Suffixe des Typs 9 und was leisten sie nicht? Es fällt auf, dass längst nicht für alle adverbialsatzeinleitenden Konjunktionen und die von ihnen erstellten Relationen eine Entsprechung im klingonischen Suffix-System gefunden werden kann. Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über die vorhandenen Suffixe des Typs 9 und die von ihnen bewirkten Relationen. Daneben sind einige von der DudenGrammatik genannten deutschsprachigen Anschlussmittel aufgeführt, die diese Relationen erzeugen.52 Sie sollen nicht als bloße Übersetzung der Suffixe verstanden werden. Die Duden-Auflistung hat ihre Schwächen, soll an dieser Stelle aber lediglich zeigen, dass das Deutsche bei weitem mehr Anschlussmittel kennt als das Klingonische, um die entsprechenden Relationen auszudrücken.
50 Vgl. OKRAND 1996: 33. 51 Dieses Verb ist nicht bei Okrand, aber im Übersetzungsprogramm mu´ HaqwI´ (‚Wortchirurg‘) verzeichnet. 52 Vgl. DUDEN 4 1998: 810ff.
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Tabelle 3: Übersicht der sprachlichen Mittel zum Ausdruck der Sachverhaltsrelationen Klingonische Suffixe Typ 9
Relation
Vorzeitigkeit
Deutsche adverbialsatzeinleitende Konjunktionen (ASUB) nachdem; als; wie; seit; seitdem; sobald; sowie; sooft; wenn; kaum dass
{-pa´}
Nachzeitigkeit
bis; bevor; ehe
{vIS}
Gleichzeitigkeit
{-DI´} {-mo´}
unmittelbare zeitliche Folge Kausalität
während; indem; indes; indessen; solange; sowie; sooft; als; wie; wenn wenn53; sobald (als)
{-chugh}
Konditionalität
{-meH}
Finalität
da; weil falls; wenn (konditional), wofern; sofern damit; dass; auf dass
Modalität
indem; so, dass; dadurch, dass; ohne, dass
Konsekutivität
dass; so..., dass; sodass; als dass
53 Das deutsche Wörterbuch übersetzt {-DI´} neben ‚sobald als‘ auch mit ‚falls‘, was man leicht als Markierung für ein konditionales Verhältnis missverstehen kann (vgl. OKRAND 1996:47). Die Übersetzung von {-DI´} ins Englische, welches quasi Okrands ‚Ausgangssprache‘ ist, zeigt jedoch, dass dieses Suffix ausdrücklich temporal zu benutzen ist und einen unmittelbaren zeitlichen Anschluss des Sachverhaltes des übergeordneten Verbs an den Sachverhalt des untergeordneten Verbs ausdrückt ({-DI} i.S.v. ‚as soon as‘, ‚when‘; vgl. OKRAND 1992: 62).
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Konzessivität
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obgleich; obwohl; obschon; obzwar; wenn auch; wenngleich, wennschon (ugs.); trotzdem
Es gibt im Klingonischen keine Kennzeichnung für die Relation der Vorzeitigkeit. Des Weiteren sind in der Suffixklasse Typ 9 keine Mittel zu finden, um etwa eine modale/instrumentale, eine konzessive oder eine konsekutive Relation zwischen zwei Verbkomplexen herzustellen. Die genannten Relationen sind Okrand sicher bewusst gewesen, als er das klingonische Sprachsystem entwickelte, zumal auch das Englische entsprechende Relationen kennt. Man denke an although zur Erwirkung eines konzessiven Verhältnisses oder by zur Erwirkung eines instrumentalen Verhältnisses. Warum Okrand für diese Relationen keine eigenen Suffixe angesetzt hat, ist an dieser Stelle nicht zu klären oder bliebe Spekulation. Man muss vorerst hinnehmen, dass sich keine derartigen Suffixe in Okrands System finden. Ein weiteres Problem stellt die Übertragung des deutschen Konjunktivs dar. Außerdem gibt es im Klingonischen keine Mittel, um Relationen auszudrücken, die im Deutschen mit den Konjunktionen ‚bis‘ (engl.: until) und ‚solange‘ (engl.: as long as) hergestellt werden. Fazit: Okrands System bietet eine Zahl von Verbsuffixen, um unterschiedliche Relationen zwischen Sachverhalten herzustellen. Einige Relationen sind jedoch nicht mittels der Suffixe des Typs 9 zu realisieren, was das Klingonische mitunter schwierig macht. Eine Möglichkeit, um die ‚fehlenden Relationen‘ dennoch im Klingonischen ausdrücken zu können, wäre es, die ‚Lücken‘ in Okrands Suffixsystem selbstständig zu füllen, also weitere Suffixe zu erfinden. Eigentlich ein legitimer Schritt, da es sich um eine fiktive ‚Bastelsprache‘ handelt. So könnte ich mir folgende Suffixe vorstellen:54
54 Die von mir entwickelten Suffixe sind laut Übersetzungsprogramm mu´ HaqwI und der Website www.kli.org dem Klingonischen bislang nicht bekannt. Die Entwicklung ist dabei eine willkürliche, intuitive Sprachbastelei, die lediglich die graphotaktischen und phonotaktischen Bedingungen des Klingonischen einzuhalten versucht.
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Tabelle 4: Vorschläge für neue Suffixe Typ 9 Fiktive Suffixe Typ 9
Relation
Deutsche Übersetzung
{-juj´}
Vorzeitigkeit
nachdem
{-qung}
Modalität
indem
{-noght}
Konsekutivität
sodass
{-Daw}
Konzessivität
obwohl
Es wäre einen Versuch wert, die Vorschläge im Klingon Language Institute einzureichen. Andererseits liegt der Reiz einer ‚Bastelsprache‘ auch gerade darin, mit den bestehenden Lücken zurechtzukommen und zu versuchen, das Gemeinte eben auf andere Weise auszudrücken. Trotz mancher Schwierigkeiten, die das Klingonische hinsichtlich der Darstellung mancher Relationen birgt, sollte eine schöne Eigenschaft dieser Sprache nicht außer Acht gelassen werden: Klingonische „Adverbialsätze“ sind knapp und recht elegant, da sie gegebenenfalls aus einem einzigen Verbkomplex bestehen. Ein Beispiel: bIQ vIqem vemmeH ist wesentlich kompakter als ‚Ich bringe Wasser, damit sie aufwachen‘. (8)
Kling.: bIQ vIqem vemmeH ‚Ich bringe Wasser, damit sie aufwachen.‘ biQ | Wasser (N) |
vI|qem ich/es (V-Präfix) | bringen (V)
‚ich bringe Wasser‘ vem|meH aufwachen (V, inkl. Null-Präfix 3. Pers. Pl.) | V-Suffix Typ 9: damit (Finalität) ‚damit sie aufwachen‘
Die Idee, die hinter diesem System steckt, ist einfach wie genial: Stelle ins Zentrum des Satzes ein Verb, das nicht zu konjugieren ist, und löse (fast) alle Leistungen deiner Sprache durch Affixe. Das macht das System relativ
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schnell erlernbar und bringt kurze und zugleich überraschend elegante Sätze hervor. Problematisch wird es, wie zu sehen war, wenn nicht alle Feinheiten einer Sprache, wie z.B. Relationen zwischen Sachverhalten, in dieses einfache System übertragen werden können. Hinzu kommen noch weitere Aspekte wie ein recht knapp bemessener Wortschatz, der es erschwert oder zum Teil unmöglich macht, Texte ins Klingonische zu übersetzen, fehlende Modi und die Schwierigkeiten, die das Klingonische birgt, wenn ein Satz mehr als ein Objekt enthält. Dennoch: Die Kompaktheit klingonischer adverbialer Nebensätze kann mittels deutscher Adverbialsätze kaum erreicht werden.
D IE E LEGANZ
DER
K LINGONEN
Zum Abschluss dieses Beitrags soll skizzenhaft, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, ein Blick darauf geworfen werden, welche Rezeption die Klingonen und die klingonische Sprache durch die Medien und durch StarTrek-Fans erfahren haben. Die Klingonen sind zunächst überall dort anzutreffen, wo das StarTrek-Universum medial weitervermarktet wird: In Zeitschriften wie dem offiziellen Star-Trek-Magazin, das in Deutschland 2007 eingestellt wurde, in PC-Spielen, Comics und in jeder vorstellbaren Form von Merchandising. Unter Star-Trek-Fans bzw. Klingonen-Fans spielen authentische Maskierungen eine große Rolle, z.B. auf Fan-Conventions (bspw. die FedCon in Deutschland oder die Star Trek Convention Las Vegas). Im Internet gibt es Bastelanleitungen für das Make-up und die Kostüme und natürlich eine Vielzahl an Videos, in denen Fans ihr Klingonisch unter Beweis stellen oder es in Form von „Sprachkursen“ ihren Zuschauern beibringen. Aktiv beteiligt an der Verbreitung des Klingonischen ist nach wie vor maßgeblich das Klingon Language Institute. Zwar ist die eigene vierteljährlich erschienene Zeitschrift („HolQeD“) 2005 eingestellt worden, doch nach wie vor organisiert das Institut Fantreffen, vergibt Auszeichnungen an engagierte Klingonisch-Sprecher und ist an verschiedenen Publikationen und Übersetzungsprojekten beteiligt. Bemerkenswert sind aber vor allem die zahlreichen KlingonischÜbersetzungen, die durch das Klingon Language Institute angefertigt wur-
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den. So sind in klingonischer Sprache u.a. Shakespeares Werke Hamlet (2000) und Viel Lärm um nichts (2003) erschienen, ebenso wie das babylonische Gilgamesch-Epos (2000) und das Daodejing, die Spruchsammlung des chinesischen Philosophen Lǎozǐ (2008). Eine Bibelübersetzung ist in Arbeit, aber bislang nicht erschienen. Dafür ist 2010 in den Niederlanden die erste Klingonische Oper (´u´) uraufgeführt worden, die 2013 auch in Berlin zu sehen war.55 Doch auch außerhalb der Star-Trek-Fangemeinde sind Klingonen inzwischen bekannt. Auch wer nicht zu den regelmäßigen Star-TrekZuschauern gehört, hat in den Medien schon einmal Klingonen gesehen oder von der klingonischen Sprache gehört. Klingonen und Klingonisch sind – auch losgelöst von Star Trek – zu einem Teil der heutigen Populärkultur geworden. So finden sich in zahlreichen Spielfilmen und Fernsehserien Anspielungen auf die klingonische Fiktion – mal mehr, mal weniger satirisch, immer aber als augenzwinkernde Hommage an unsere aufbrausenden GalaxieNachbarn und ihre Sprache. Nachfolgend seien nur einige Beispiele genannt: In der deutschen Comedy-Sendung Bullyparade56 wurden regelmäßig Sketche der Reihe Traumschiff gezeigt, eine Parodie auf die Originalserie Raumschiff Enterprise. Die Klingonen werden nicht gezeigt, aber selbstverständlich regelmäßig als Antagonisten erwähnt (bspw. als ‚romantische Verführer‘ von „Schrotty“). In der US-amerikanischen Komödie Daddy Day Care57 mit Eddie Murphy kommt ein Kindergartenkind vor, das eine Sprache spricht, die von niemandem verstanden wird, bis einer der Protagonisten in einer Star-TrekUniform auftritt und sich zeigt, dass das Kind ausschließlich Klingonisch sprechen will. Erwähnt sei auch noch einmal das erste Beispiel dieses Beitrags: Die Eröffnungssequenz aus Quentin Tarantinos Kill Bill – Volume 1. Tarantino schreibt das hierin erwähnte „klingonische Sprichwort“ eben nicht Mario
55 Informationen sind unter anderem zu finden unter: http://www.kli.org/ stuff/projects.html – http://en.wikipedia.org/wiki/Klingon_Language_Institute – http://www.u-theopera.org 56 Bullyparade 1997-2002. 57 Daddy Day Care 2003.
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Puzos Paten oder einem italienischen Western zu (was für das Rache-Motiv des Films vielleicht naheliegender gewesen wäre), sondern einer fiktiven außerirdischen Sprache (ohne dies jedoch in irgendeiner Weise zu erklären). Tarantino spielt sicher nicht zufällig mit diesen intertextuellen Bezügen und weckt damit bewusst Irritationen. Schließlich gibt es auch in US-amerikanischen Sitcoms bzw. Zeichentrickserien immer wieder Anspielungen auf das Klingonische, etwa in Frasier oder The Simpsons. Auch in The Big Bang Theory, eine seit 2007 erfolgreich laufende Sitcom, die von einer Wohngemeinschaft von hochbegabten und skurrilen Physikern handelt, spielt Klingonisch immer wieder eine Rolle. So sind ein Running Gag der Serie die Cameo-Auftritte des Schauspielers Will Wheaton, der in der Serie Star Trek: The Next Generation mitspielte, einstiges Idol des fiktiven Big-Bang-Theory-Charakters Sheldon Cooper war und nun oft dessen Anfeindungen ertragen muss, u.a. durch das erwähnte klingonische Sprichwort bortaS bIr jablu´DI´ reH QaQqu´nay´. So werden die klingonische Sprache und das „alte klingonische Sprichwort“ durch Anspielungen in der heutigen Populärkultur fortgetragen.
B ERTLHAM 58 Es ist bemerkenswert und faszinierend, welches Ausmaß die Fiktion um die außerirdische Spezies der Klingonen in den letzten 48 Jahren genommen hat. Nicht nur, dass ein Sprachwissenschaftler beauftragt wurde, ein komplexes, regelhaftes Sprachsystem für eine fiktionale Spezies zu entwickeln, ist eine Besonderheit, sondern auch, dass die als Antagonisten konzipierten Klingonen, ihre fiktionale Kultur und ihre Sprache eine derartige Popularität gewonnen haben, dass sie auch losgelöst vom Star-Trek-Phänomen rezipiert werden. Der Umgang mit Okrands Sprachsystem, das auf einem interessanten Affigierungsprinzip aufbaut, macht Spaß und ist oft eine linguistische Herausforderung. Die Stringenz und Prägnanz der Syntax bergen eine gewisse Eleganz. Letztlich kann aber dieses künstliche System niemals an ein nahe-
58 „(n) end (of an opera, play, story, speech)“ http://www.kli.org/tlh/newwords.html [30.12.2014].
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zu reibungslos funktionierendes Sprachsystem heranreichen, das Jahrhunderte Zeit hatte, sich zu entwickeln. Doch wer weiß, welche Entwicklung das Klingonische in den nächsten Jahrhunderten Sternzeit durchmachen wird? So lange sich Sprecher finden, die sich auf das Spiel mit dieser Sprache einlassen, wird man sagen können: Hijol! (‚Beam mich hoch!‘) und Qapla´! (‚Erfolg!‘; eine klingonische Verabschiedung).
L ITERATUR Primär- und Sekundärliteratur DUDENREDAKTION (Hrsg.): Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6. Aufl. (= Der Duden in 12 Bänden, Bd. 4). Mannheim u. a.: Dudenverlag 1998. Zitiersigle: DUDEN 4 1998. EISENBERG, Peter: Grundriß der deutschen Grammatik. 3. überarb. Aufl. Stuttgart; Weimar: Verlag J.B. Metzler 1994. GLÜCK, Helmut (Hrsg.): Metzler-Lexikon Sprache. 2. Aufl. Stuttgart; Weimar: Verlag J.B. Metzler 2010. Zitiersigle: MLS 2010. MARTIN, Gary: Revenge is a dish best served cold. In: The Phrase Finder. Phrase Dictionary - Meanings and Origins. (1996-2014) http://www.phrases.org.uk/meanings/revenge-is-a-dish-best-servedcold.html [23.04.2015]. OKRAND, Marc: The Klingon Dictionary. English/Klingon, Klingon/English. New York: Pocket Books 1992. OKRAND, Marc: Das offizielle Wörterbuch. Klingonisch/Deutsch – Deutsch/Klingonisch. Königswinter: Heel 1996. OKRAND, Marc: Klingon for the Galactic Traveler. New York: Pocket Books 1997. OKRAND, Marc: Interview. Paramount Pictures 2002. https://www.you tube.com/watch?v=Ph77eTMZIhs [23.04.2015]. PFISTERER, Christoph: mu' HaqwI' (word surgeon/Wortchirurg) http://chris p.de/muhaqwi/ [23.04.2015]. PUZO, Mario: The Godfather. Reissued by Arrow Books. London: The Random House Group Limited 2009 [1969].
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STURM, Nicolas: Evolution einer Spezies. In: Star Trek Magazin: Die Welt der Klingonen. OZ Verlag 2004. SUE, Joseph Marie Eugène: Mathilde: mémoires d’une jeune femme. Troisième édition. Tome troisième. Paris: Librairie de Charles Gosselin 1841. Filme und Serien Kind Hearts and Coronets (dt. Adel verpflichtet). Regie: Robert Hamer. USA 1949. Kill Bill Volume 1. Regie: Quentin Tarantino. USA 2003. Star Trek – The Motion Picture (dt. Star Trek – Der Film). Regie: Robert Wise. USA 1979. Star Trek II – The Wrath of Khan (dt. Star Trek II – Der Zorn des Khan). Regie: Nicholas Meyer. USA 1982. Star Trek III – The Search for Spock (dt. Auf der Suche nach Mr. Spock). Regie: Leonard Nimoy. USA 1984. The Errand of Mercy (dt. Kampf um Organia). Star Trek – The Original Series (dt. Raumschiff Enterprise), Staffel 1, Ep. 26 (1967) [19661969]. Trials And Tribble-ations (dt. Immer die Last mit den Tribbles). Star Trek – Deep Space Nine, Staffel 5, Ep. 6 (1996) [1993-1999]. Star Trek – The Next Generation (dt. Star Trek – Die nächste Generation) 1987-1994. Star Trek – Voyager 1995-2001.
The Shining Code Stanley Kubricks kodiertes Geständnis über die Apollo-Mondlandungsfilme T IMO Z APPI
Since the late 1980s several subtexts have been found in Stanley Kubrickʼs film adaptation of Stephen Kingʼs novel The Shining. In popular culture, one of the latest among them is the directorʼs alleged confession of his asserted involvement in faking the Apollo moonlanding movies for NASA by integrating secret codes into his horror movie. This paper, after placing a short consideration on the genesis and functionality of conspiracy theories in front, examines several of these codes and eventually disproves them. „Die Welt ist meine Vorstellung.“ ARTHUR SCHOPENHAUER
E INLEITUNG Seit den 1980er Jahren werden in The Shining1 von Journalisten, Film- und Literaturwissenschaftlern, Historikern, aber auch von Verschwörungstheoretikern immer wieder neue Subtexte in Stanley Kubricks populärem und mittlerweile das Genre definierendem Horrorfilm entdeckt. Diese erstrecken sich über ein sehr weites Feld: Die einen wollen Kubricks Gesell-
1
The Shining 1980.
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schaftskritik an den USA, insbesondere im Hinblick auf den Genozid an der indigenen Bevölkerung als Subtext erkennen. Einer der ersten ist der der amerikanische Journalist Bill Bakemore2 Andere deuten die Subtexte darüber hinaus als Kubricks indirekte künstlerische Auseinandersetzung mit dem Schrecken des Holocaust.3 Einige – und damit beschäftigt sich dieser Aufsatz in erster Linie – interpretieren den Film als kodiertes Geständnis des Regisseurs, in die vermeintlich gefälschten Filme zu den ApolloMondlandungen verwickelt gewesen zu sein, und veröffentlichen angeblich vorhandene Indizien dafür im Internet.4 Seriöse Arbeiten zu diesem Subtext gibt es freilich nicht. Eine gute Übersicht zu diesen drei verschiedenen Subtext-Theorien liefert die Dokumentation Room 2375, in dem Vertreter dieser drei Parteien – etwa Geoffrey Cocks – selbst zu Wort kommen. Derart viele verschiedene Interpretationsmöglichkeiten liefert The Shining deshalb, weil Kubrick – wie in allen seinen Filmen – mit seinem Autorenkino stets durch technische Perfektion und künstlerische Virtuosität versucht, die Grenzen des Mediums Film neu zu definieren. Dabei schreitet er weit über die Ebene von Handlung und Dialog hinaus und vermittelt Bedeutung über die bis ins kleinste Detail durchgeplante Komposition von Bild und Ton. Vor allem dem Einsatz von Musik kommt dabei Kubrick zufolge stets die wichtigste Rolle zu. Alle diese Ebenen werden mithilfe einer nahezu perfekten Choreographie aufeinander abgestimmt und konkretisieren ihre unterschiedlichen Bedeutungsinhalte in einer nahezu metaphorisch-lyrischen Verdichtung, die sich häufig nur noch in Ambivalenzen auflösen lässt. Durch diese Vorgehensweise eröffnen sich in vielen Szenen mehrere semantische Felder gleichzeitig, die miteinander verwoben sind und fast niemals eindeutig auf eine einzig mögliche Interpretation heruntergebrochen werden können. Selbst die Art und Weise, wie die Kamera eingesetzt wird,
2 3
Vgl. BAKEMORE 1987. Als erster, wissenschaftlich ernstzunehmender Forscher zu diesem Ansatz gilt der US-amerikanische Historiker Geoffrey Cocks, der seine Holocaust-Theorie vor allem auf die im Film mehrfach vorhandenen Adler-Symbole stützt - darunter die deutsche Adler-Schreibmaschine, auf der Jack Torrance schreibt. Vgl. COCKS 2004.
4
The Shining Code 2.0 (2012) ist das bisher umfassendste Internetvideo zu diesem verschwörungstheoretischen Ansatz.
5
Room 237 2013.
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vermittelt bei Kubrick ganz bewusst bestimmte Bedeutungsinhalte. In The Shining ist dies etwa der Einsatz der damals innovativen SteadicamTechnik, die medial das Gefühl des Verfolgtwerdens, aber auch der Desorientierung und Ver(w)irrung in den labyrinthartigen Korridoren des Hotels vermittelt und somit die genretypische Atmosphäre des Schreckens hervorhebt und steigert. Bevor einzelne Kodes, die Kubricks vermeintliches Geständnis beinhalten, in die Mondlandungsfilme der NASA involviert gewesen zu sein, näher untersucht werden, bietet es sich zunächst an, einen kurzen Blick darauf zu werfen, wie Verschwörungstheorien – im Besonderen zur Mondverschwörung – entstehen und funktionieren.
V ERSCHWÖRUNGSTHEORIEN : UND AUFTRETEN
G ENESE
Es ist ein charakteristisches Kennzeichen von Verschwörungstheorien, dass sie weder vollkommen verifizierbar noch gänzlich falsifizierbar sind. Eine Ursache dafür kann bereits die vermeintlich konspirative Lokation selbst sein. Sie zeichnet sich oft dadurch aus, nur wenigen privilegierten Menschen Zugang zu gewähren. Im Falle des Mondes ist dies sogar (entweder seit Menschengedenken oder) seit 1972 (der letzten bemannten Mondlandung von Apollo 17) niemandem mehr möglich. Dieser Aspekt stellt den Menschen vor ein großes Problem: Eine seiner Überlebensstrategien ist die Erzeugung einer möglichst deckungsgleichen Repräsentation der Außenwelt innerhalb seiner Psyche weil diese, mit Ernst Mach erklärt, zur Förderung seines Überlebens nützlich bzw. notwendig ist.6 Ernst Mach – beeinflusst von Darwin’schem Gedankengut – charakterisiert diese Innenwelt (Welt 2) als einen inneren Spiegel der Außenwelt (Welt 1), die in einem stetigen Prozess über unsere Empfindungen (sensualistisch) aufgenommen wird. Im Falle der Mondlandungen wird dem Menschen demnach eine Spiegelung der Außenwelt, die genau genommen sogar eine Außenwelt außerhalb der Außenwelt ist, unmöglich gemacht, sodass eine Kongruenz von Welt 1 mit Welt 2 nicht mehr möglich wird. Das Gehirn muss sich hinsichtlich der unfassbaren Lokation des Mondes deshalb zwangsläufig von
6
Vgl. beispielsweise MACH 1926: 164-182.
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Welt 1 abkapseln, und muss, anstatt diese zu spiegeln, seine (durch mediale Bilder und Videoaufnahmen beeinflusste) Phantasie als kombinatorische Vernetzungstätigkeit von Empfindungen und Vorstellungen zu Hilfe nehmen, um das Verhältnis von Welt 1 zu Welt 2 wieder zurechtzurücken. Dabei gilt es jedoch zu bedenken, dass uns unsere Außenwelt zunehmend durch Medien wie Fernsehen und Internet präsentiert wird und sich auf diese Art und Weise unser Weltbild zunehmend aus medial vermittelten bzw. mittelbaren Abbildungen zusammensetzt. Zuletzt hat uns beispielsweise die unterschiedliche Berichterstattung zur Krimkrise in Ost- und Westmedien die Problematik wieder etwas näher vor Augen geführt, die mit derartigen funktionellen Abhängigkeiten einhergeht. Wir können prinzipiell wie auch bei den Mondlandungen niemals zu hundert Prozent sicher sein, ob das von den Medien Präsentierte eine unverfälschte, nicht selektierte oder gar manipulierte Abbildung der Außenwelt darstellt. Unsere spiegelnde Innenwelt kann sich somit nicht gänzlich frei von Zweifeln entwickeln, da uns die Unmittelbarkeit zur Außenwelt zunehmend abhanden gerät. Da Verschwörungstheoretiker ihre Theorien u.a. zwecks Kontingenzbewältigung entwickeln, greift in dieser Hinsicht das Verhältnis zwischen dem nach Erkenntnis strebenden Subjekt – dem Verschwörungstheoretiker – und dem zu erkennenden Objekt – dem vermeintlich konspirativen Ereignis. Dieses vermag den Menschen unbemerkt zu täuschen und damit seine Urteilskraft sowie in der Folge sein Handeln manipulativ zu beeinflussen. Das vollkommen natürliche individuelle Sich-zum-Objekt-ins-Verhältnis-setzen, das uns hilft, für unser Denken orientierungsstiftende Kausalität zu erzeugen, um uns in unserer Umwelt zurechtzufinden, wird jedoch in unserer vernetzt-komplexen Welt zunehmend dadurch gestört, dass einschneidende Geschehnisse kaum noch bis ins kleinste Detail nachvollziehbar sind. Bei einer Zäsur bewirkenden Leistung wie der Mondlandung kommt man aufgrund ihrer enormen technisch-subtilen Diffizilität und Komplexität kognitiv einfach nicht mehr mit. Man wird als Außenstehender mit seinem eigenen Verstand im Kant’schen Sinne gegenüber den Experten unmündig. Somit muss man gezwungenermaßen Vertrauen haben auf deren hoffentlich wahrheitsgemäße und unverfälschte Informationen. In Bezug auf technische Höchstleistungen wie die Mondlandungen müssen darüber hinaus selbst direkt Beteiligte zugeben, dass sie die Komplexität des Ganzen nicht mehr zu überblicken vermögen. Der Apollo-16-Astronaut Thomas Kenneth
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Mattingly II. beispielsweise erklärt rückblickend über die technischen Voraussetzungen und Zusammenhänge seiner Mond-Mission: „This is such a big thing. I frankly donʼt see how you can do it. Even when participating in it, itʼs audacious that you would try. I clearly could never understand, as a crewman, how to make it work. I could only learn how to operate my share of it.“7
Mattingly begreift sich selbst in diesem Projekt nur als kleinen Teil eines großen Ganzen, das in seiner Gesamtheit für ihn selbst nicht mehr überschaubar ist. Dieser Aspekt bietet wiederum einen äußerst reizvollen Ansatz für Verschwörungstheoretiker: Selbst direkt in die vermeintlich konspirativen Ereignisse Involvierte sind damit theoretisch manipulierbar. Aber auch andere retrospektive Kommentare der Apollo-Astronauten liefern Verschwörungstheoretikern leicht entflammbaren Zündstoff, indem sie etwa die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen der Begebenheiten hervorheben und in die historischen Ereignisse einen künstlich konstruierten Kausalnexus hineinlegen. Jim Lovells Rückblick auf die Apollo-8-Mission etwa hebt für die Mondmissionen eine historisch bedingte Handlungsnotwendigkeit hervor und setzt diese darüber hinaus in Verbindung mit Fiktionalität: „1968 in this country was a disastrous year. We had several assassinations, ah, not too good. So we needed something really to cap it up that was positive, to give the American people a sense of accomplishment or at least satisfaction or something. If you were a scriptwriter of the movies you couldn’t have picked a better scenario than Apollo 8.“8
Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, von Ernst Bloch als ein Kennzeichen der Moderne charakterisiert,9 kommt in diesen Äußerungen Lovells besonders deutlich zum Ausdruck: Während 1968 in Teilen der USA bürgerkriegsähnliche Zustände und Rassenunruhen den Alltag beherrschen,
7
Apollo 16-Astronaut Thomas Kenneth Mattingly II. in: For all Mankind 1989: 00:04:46-00:05:03.
8
Apollo 8-Astronaut Jim Lovell in: In the Shadow of the Moon 2007: 00:20:0900:21:39.
9
Vgl. BLOCH 1974.
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mit Robert Kennedy der zweite Hoffnungsträger für ein liberaleres Nordamerika bei einer Wahlkampfveranstaltung brutal und hinterhältig erschossen wird, Schwarzen- und Bürgerrechtler Martin Luther King einem grausamen Attentat zum Opfer fällt und die schrecklichen Kriegsverbrechen der Amerikaner in Vietnam zunehmend weltweit für Verstörung und Empörung sorgen, gelingt den USA zur selben Zeit im All das zuvor Unerreichte: die erste bemannte Umkreisung des Mondes. Mit anderen Worten: Eine Nation, die sich sowohl im In- als auch im Ausland zum Teil barbarisch gebärdet, erreicht gleichzeitig im Extraterrestrischen einen wissenschaftlichen Fortschritt für die gesamte Menschheit. Es hätte dabei nach diesem für die Vereinigten Staaten gesellschaftspolitisch derart desaströsen Jahr keinen adäquateren Zeitpunkt als den Weihnachtsabend geben können. Aus der um den Mond herumkreisenden Apollo-Kapsel den Menschen zu Hause auf der Erde die Schöpfungsgeschichte vorzulesen ist eine großartige, einheitsstiftende und eigenen Aussagen zufolge spontane Idee der Astronauten (oder vielleicht doch der von Lovell erwähnten „scriptwriter“?) gewesen, die im Nachhinein ein absolutes Mythospotenzial besitzt. Ein skeptischer, aber dennoch auf Kausalität abzielender historischer Rückblick kann daher folgende (kontingenzbewältigende) Frage aufwerfen: Wenn diese einzigartige Errungenschschaft einer staatlichen Weltmacht, die gerade im Begriff ist, gesellschaftlich auseinanderzubrechen und ihr positives Image innerhalb der westlichen Hemisphäre zu verspielen, keinen Aufschwung in Bezug auf internationales Ansehen sowie nationales Einheitsgefühl gegeben hätte, welchen anderen Verlauf hätte die Geschichte der USA und damit die Weltgeschichte dann genommen? Diese Frage führt zielstrebig zu einem weiteren wichtigen Aspekt für die Entstehung von Verschwörungstheorien: Die Frage nach einem Cui Bono revolutionärer Ereignisse, das rückblickend als einfaches, komplexitätsreduzierendes und kausalitätsstiftendes Element ein scheinbar solides Fundament für die meisten Argumentationsstrukturen von Verschwörungstheorien liefert; wie etwa auch bei den Mord-Verschwörungstheorien um die Kennedybrüder. Der oben zitierte Apollo-Astronaut Jim Lovell baut diesbezüglich etwa an anderer Stelle selbst eine Brücke zwischen dem Vietnamkrieg und den Apollo-Missionen. Er sei sich im Nachhinein bewusst, seine Kameraden, die in Vietnam an vorderster Front kämpften und ihr Leben gaben, vom Mond aus unterstützt zu haben. Lovell verbindet dadurch narrativ den Mythos ‚Vietnamkrieg‘,
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den ersten verlorenen Krieg der USA, mit dem Mythos ‚erste bemannte Mondlandung‘. Verschwörungstheorien sind daher auch interpretierbar als Ersatzmythen, mit deren Hilfe die vermeintlichen Verschwörungsaufdecker die Welt zu verstehen versuchen. Sie übernehmen die Funktion von Mythen: narrative Strukturen, mit deren Hilfe man sich sein Weltbild zusammensetzen kann.
D ER M YTHOS – B ASIS FÜR V ERSCHWÖRUNGSTHEORIEN Einen nicht zu unterschätzenden Faktor für die Entstehung von Verschwörungstheorien bildet die gedankliche Verarbeitung von sowie die Auseinandersetzung mit Mythen, da bedeutende historische Ereignisse oft in Mythosform im kulturellen Gedächtnis verharren. Der Theologe Henrik Schmitz geht sogar soweit, Verschwörungstheorien eine Funktion als Ersatzreligion zuzuschreiben.10 Mythen bzw. Mythenbildung sind bekanntlich etwas genuin Menschliches und dienen dazu, das eigene Dasein sowie dessen Sinn zu erklären. Diese Suche ist Bestandteil des menschlichen Strebens und damit Teil seines Lebensantriebes. In der Geschichte der Mondlandungen treffen allerdings rückblickend dermaßen viele, im Laufe der Zeit zu Mythen stilisierte historische Ereignisse aufeinander, dass es kaum verwundert, dass bereits während der Apollo-Mondflüge die ersten Verschwörungstheorien um die NASA-Missionen entstanden. Diese wurden damals bereits medial verbreitet: Ein bekanntes Beispiel ist der JamesBond-Film Diamantenfieber von 1971, in dem Bond in ein geheimes paramilitärisches Sperrgebiet in der Mojave-Wüste eindringt und zufällig bei laufenden Dreharbeiten in ein Mondlandungsfilmset gerät, von dem er mithilfe eines Mondfahrzeugs entkommt, das zur Ausstattung des Films gehört.11 Hier noch beiläufig und als Gag verarbeitet, wird 1978 der Film Unternehmen Capricorn veröffentlicht, der von einem Komplott der NASA handelt, in dem selbst die Astronauten bis kurz vor dem Raketenstart nicht bemerken, dass sie einer konspirativen Manipulation unterliegen – aller-
10 Vgl. SCHMITZ o.J. 11 Ausschnitt auf https://www.youtube.com/watch?v=Z9KmdhTNuaw.
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dings täuscht die NASA hier die erste Marslandung vor. Auf diese Art und Weise wurden bereits in den 1970ern Verschwörungstheorien um die Apollo-Missionen sehr weit verbreitet. Diese Verbreitung setzt sich bis heute vermehrt fort, erleichtert durch das neue Massenmedium Internet. Präsident John F. Kennedy, spätestens seit seiner Ermordung in Dallas – um die ebenso wie um die Ermordung seines Bruders Robert auch Verschwörungstheorien kreisen – selbst zum Mythos erhoben, bediente sich seit seiner Presidential Nomination Acceptance Speech oft amerikanischer Mythen, um gigantische Geldmittel im Milliardenbereich für das Weltraumprogramm der NASA bewilligt zu bekommen. In dieser Rede war es der amerikanische Pionier-Mythos, der in Kennedys berühmtem NewFrontier-Begriff wieder aufgegriffen und ins Weltall verlagert wurde und der subtextuell und unterschwellig auch in The Shining von Kubrick zitiert wird. In J.F. Kennedys Ansprache an der Rice Universität zu Texas nimmt er diesen Pionier-Mythos erneut auf, nachdem er zuvor speziell auf den texanischen Alamo-Mythos angespielt hat: „But this city of Houston, this State of Texas, this country of the United States was not built by those who waited and rested and wished to look behind them. This country was conquered by those who moved forward – and so will space.“12
Alles zusammen – die Instrumentalisierung amerikanischer Mythen zum Erreichen eines extraterrestrischen Unternehmens, das selbst Mythospotenzial besitzt, durch einen Präsidenten, der aufgrund seiner unaufgeklärten Ermordung (ausgerechnet in Texas) selbst zum amerikanischen Mythos erhoben wurde – verbindet sich zu einem verworrenen Mythengeflecht, in dem Realität und Fiktion derart subtil ineinander verwoben sind, dass es scheinbar jeder um Sachlichkeit bemühten Entwirrung zu widerstehen vermag. Das dadurch erzeugte diffuse Welt1-Welt2-Verhältnis kann dann zu einem komplexitätsreduzierenden verschwörungstheoretischen Denken führen, das zum Zwecke der besseren Orientierung seine eigene vereinfachte Kausalität erzeugt. Der oben genannten und ineinander verwobenen Mythen bedient sich auch Kubrick in Teilen, um sein Kunstwerk in konkretester Form mit zusätzlichen Bedeutungsinhalten aufzuladen, die in ihrer symbolbehafteten Sublimität auf das Unbewusste im Zuschauer abzielen. Ein
12 KENNEDY 1962.
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übergeordneter, den gesamten Film durchstreifender Mythos, der erst nach mehrmaligem Sehen und ausgiebiger Beschäftigung mit den verwendeten Symbolen offenbar wird, ist beispielsweise der antike Mythos um Dädalus und dem im Labyrinth weggesperrten Minotaurus. Labyrinthe sind in unterschiedlichsten Ausprägungsformen in The Shining enthalten; eines der unterschwellig von Kubrick präsentierten ist dabei etwa das unikursale Labyrinth, das Jack Torrance während seiner Anfahrt zum Overlook-Hotel beschreibt, wenn er zu Beginn des Films die mäandernde Bergstraße hinauffährt.
T HE S HINING C ODE 2.0
UND
R OOM 237
Teile der Dokumentation Room 237 und das youtube-Video The Shining Code 2.0, beide aktuelle filmische Kommentare und mediale Verbreitungen der Mondverschwörungstheorie, interpretieren jeweils Stanley Kubrick als genialen Mitverschwörer wider Willen, der 1968 entweder gezwungen worden sei, seine Filmsets zu 2001 - A Space Odyssey (1968) für die Mondlandungsfilme der NASA zur Verfügung zu stellen oder dies bereitwillig getan zu haben, um fortan seine Filmprojekte finanziell unabhängig umsetzen zu können, d.h., sich von den Verschwörern kaufen lassen habe. Durch die erstere Mutmaßung kommt eine Verschwörungstheoretikern häufig eigentümliche Pein zum Ausdruck: sich selbst als hilfloses Opfer einer höheren staatlichen oder geheimdienstlichen Macht zu fühlen. Das eigene Ohnmachtsgefühl wird dann auf eine populäre Persönlichkeit übertragen. Die zweite funktioniert ähnlich und impliziert, dass jeder Mensch seinen Preis hat und am Ende käuflich ist. Die Behauptung, Kubrick sei in eine Mondverschwörung verwickelt, trägt außerdem deutliche Züge eines Geniekultes um diesen außergewöhnlichen und vielleicht intelligentesten Filmemacher des zwanzigsten Jahrhunderts, da vorausgesetzt wird, dass einzig und allein er überhaupt dazu in der Lage gewesen wäre, dieses verschwörerische Filmprojekt in den 1960ern technisch fehlerfrei und damit für die gesamte Weltbevölkerung überzeugend umzusetzen. Seine sehr zurückgezogene Lebensweise weit ab von Hollywood – seit den 1960ern in der Nähe der Elstree-Filmstudios nahe London – mag einen weiteren Anteil daran haben, dass Kubrick im Denken der Verschwörungstheoretiker als ein möglicher Mitverschwörer gehandelt wird, der sich nach der Ausfüh-
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rung eines konspirativen Plans aus der Öffentlichkeit habe zurückziehen müssen, um sein Geheimnis zu bewahren: „Wer allein ist, ist auch im Geheimnis“ (Gottfried Benn). Und das Geheimnis bzw. die Geheimhaltung ist bekanntlich wesentlicher Bestandteil allen konspirativen Agierens. Kubricks Genialität wird zu Beginn von The Shining Code 2.0 zunächst dadurch hervorgehoben, dass seine cineastischen Werke aufgezählt und viele davon als Meisterwerke bewertet werden. 2001 erhält dabei einen Sonderstatus, da er als bester Science-Fiction-Film aller Zeiten gehandelt werde – Referenzen werden allerdings nicht angegeben.13 Die Anfangssequenz von Kubricks The Shining wird anschließend einer einseitig zielgerichteten Analyse unterzogen, deren Ergebnis aufzeigen soll, worum es in Kubricks psychologischem Horrorfilm nachfolgend angeblich gehen wird. Der erste vermeintliche Shining-Kode wird dechiffriert: Ein monumentales Ereignis (symbolisiert durch das Bergszenario), das scheinbar im Himmel stattgefunden hat (der Himmel über den Bergen), sich in Wirklichkeit jedoch auf der Erde abspielte (der reflektierte Himmel im See) und das mit dem Anfangsbuchstaben „A“ – für Apollo 11 – beginnt. Die Interpretation eines versteckten Geständnisses Kubricks wird zusätzlich gefolgert aus der Betrachtung der Filmmusik, die die ersten Bilder von The Shining unterlegt: Eine Variation aus Hector Berliozʼ Dies Irae, einem Ausschnitt aus seiner 1830 komponierten Symphony Fantastique, wird in Verbindung zum katholischen Ritual des Beichtens und Gestehens gebracht. In den nächsten Bildern fährt Jack Torrance in einem VW-Käfer zum Vorstellungsgespräch ins Overlook-Hotel, um den Job des winter caretakers anzunehmen. Die Außenaufnahmen dieser Fahrt sowie die des Hotels wurden jeweils von einem Helikopterfilmteam in Montana und Oregon gefilmt. Der VW-Käfer, der auf seiner Fahrt die Berge hinauf zum Overlook-Hotel gezeigt wird, hat die Farbe gelb. In Stephen Kings Romanvorlage ist er hingegen rot. Dieser Umstand wird als bedeutendes Detail interpretiert, da die Farbe gelb mit „Erleuchtung“, „Warnung/Vorsicht“, „Täuschung/Betrug“, „Feigheit“ und mit der Sonne assoziert werde. Das Fahrzeug steuert außerdem auf der in Montana zu verortenden Going-to-the-Sun-Road dem Going-to-the-SunMountain entgegen, der am Ende dieser Straße liegt. Kubrick möchte der The-Shining-Code-2.0-Interpretation nach den Zuschauer also offensichtlich mitnehmen auf eine Reise, die ihn in ein Geheimnis einweiht, das von
13 The Shining Code 2.0 2012: 00:01:20-00:02:19.
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der Sonne symbolisiert wird. Der direkte Bezug zur Sonne, der in beiden Namen, sowohl in dem der Straße als auch in dem ihres Zielortes liegt, wird interpretiert als versteckter Hinweis auf den „King of the Sun“: Apollo, der als Namensgeber für das NASA-Mondflugprojekt diente.14 Damit ist die argumentative Interpretationsbasis für den gesamten weiteren Verlauf der Shining-Codes hergestellt und es werden nachfolgend weitere vermeintliche geheime Apollo-11-Kodes aufgedeckt, die sich in Kubricks Film angeblich jeweils anhand des versteckt eingefügten Buchstabens „A“ sowie der verborgenen Zahl 11 auffinden und dekodieren lassen. Diese einseitige und manipulativ-suggestive Lesart des Films setzt sich unmittelbar fort bei Jacks Ankunft am Overlook-Hotel, wenn das Hotelgebäude (am Mt. Hood, Oregon gelegen) aus der Vogelperspektive von außen zu sehen ist: Der Buchstabe „A“ wird vollkommen willkürlich in die Form des Hoteldaches hineingelesen. Die vor dem Hotel geparkten Autos seien darüber hinaus derart sortiert, dass sie als geheimer Zahlenkode das Datum der ersten Mondlandung anzeigten. Beim Betreten der Lobby begegnen Jack in der Folge exakt elf Personen und das Schild, an dem er vorbeikommt, weist auf „The Gold Room“ hin, den großen Ballsaal des Hotels, mit einem Namen von genau elf Buchstaben.15 Das anschließende Berwerbungsgespräch zwischen Jack und dem Hotelmanager Stuart Ullman, der aufgrund der Farben seines Anzugs und der Miniatur-US-Flagge auf seinem Schreibtisch die US-Regierung bzw. NASA repräsentieren soll, nimmt diese Kodes erneut auf, ergänzt sie darüber hinaus jedoch durch einen weiteren vermeintlichen Geständniskode Kubricks, der sich durch den gesamten Film hindurchziehe: Der Adler, der in hölzerner Form mittig auf dem Fensterbrett des Managerbüros platziert ist, und zwischen einer vom Fensterrahmen abgebildeten II (=11) steht. Dieses Außenfenster, das aufgrund der Gebäudestruktur gar nicht existieren dürfte, spielt eine tragende Rolle für die Fortsetzung der Argumentation, dass die Apollo-Mondlandungsfilme von Kubrick gedreht worden seien. Sowohl der Holzadler sei ein versteckter Hinweis Kubricks, weil das Lunarlandemodul der Apollo-Astronauten den Namen Eagle trug, als auch die Vorhänge des Fensters, die vom Regisseur symbolisch für die Vorhänge einer Theaterbühne verwendet worden seien. Sie machten zusätzlich deutlich, dass die Mondlandungen
14 The Shining Code 2.0 2012: 00:06:00-00:09:40. 15 The Shining Code 2.0 2012: 00:12:33-00:14:47.
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nichts weiter als bloß theatralische Inszenierungen gewesen seien – „staged events“ wie es im Video heißt.16 Dieses ominöse Filmfenster zeigt in der Tat nicht in Wirklichkeit nach draußen, denn der Bereich dahinter befindet sich, wie der gesamte Innen- und Außenbereich des Hotels im weiteren Verlauf des Films, im Inneren eines Filmstudios. Die Macher von The Shining Code 2.0 behaupten, dass das Fensterglas sogenanntes ScotchliteMaterial symbolisiere, das für Frontscreen-Projektionen besonders gut geeignet ist und schon in Kubricks 2001 häufig zum Einsatz gekommen ist. Sofort wird wieder der Bezug zur NASA und den Apollo-Filmen gesetzt, indem man behauptet, die NASA hätte sich diese Filmtechnik, die Kubrick perfektionierte, zu Nutze gemacht, um die Mondlandungsfilme unbemerkt fälschen zu können. Um diese Behauptung mit einer wissenschaftlichen Basis zu fundamentieren, wird eine im Internet veröffentlichte Studie des ukrainischen Physikers Oleg Oleynik aus dem Jahr 2010 zitiert.17 Oleynik habe eigenen Aussagen zufolge bei mehreren Apollo-Fotos, die er mit einer stereoskopischen Methode wissenschaftlich analysiert habe, einen sogenannten „identical distortion grid“ entdeckt.18 Das ist vereinfachend gesagt eine Unregelmäßigkeit bei der Bestimmung von räumlichen Abstandsverhältnissen mithilfe der Mondfotos, die aufzeige, dass die räumlichen Abstände auf den Mondfotos der NASA in vergleichenden Relationen viel zu klein seien und daher Aufnahmen aus einem Filmstudio mit FrontscreenProjektion sein müssen. Die aufgrund seiner Berechnungen erarbeitete mögliche Umsetzung mit Frontscreen-Projektion zeigt Oleynik in einer schematischen Darstellung. Das Zitieren dieser Studie zeigt, dass man beim Zuschauer zumindest den Eindruck erwecken will, um eine wissenschaftliche Beweisführung bemüht zu sein. Kehren wir doch zunächst wieder zurück zu den Adler-Figuren im Büro des Managers. Neben dem Schreibtisch des Managers, auf dem – wie auf dem Mond bekanntlich auch – die USFlagge steht, befindet sich ein Funkgerät, neben dem ein weiterer hölzerner Adler sitzt. Die Bedeutung dieser speziell angeordneten Gegenstände lesen die Macher von The Shining Code 2.0 folgendermaßen: Beide Adler repräsentieren die zwei im Lunarlandemodul Eagle sitzenden Apollo-11-Astronauten Neil Armstrong und Buzz Aldrin. Die enge Distanz zwischen dem
16 The Shining Code 2.0 2012: 00:15:43-00:16:39. 17 The Shining Code 2.0 2012: 00:16:41-00:18:01. 18 Vgl. OLEYNIK 2012.
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zweiten Adler und dem Funkgerät wird außerdem als Kubricks versteckter Hinweis gedeutet, dass die Funkstation der NASA und das Funkgerät der Apollo-Kapsel in Wirklichkeit niemals sehr weit voneinander entfernt waren. Eine weitere entscheidende (jedoch vollkommen willkürliche und unbegründete) Festlegung ist dann die Gleichsetzung von Vater (Jack Torrance) und Sohn (Danny Torrance) mit dem Regisseur Stanley Kubrick, da nachfolgend nur auf diese Art und Weise eine kausale Argumentationskette der vermeintlichen Apollo-Geständniskodes mit einem Bezug zu Kubrick überhaupt funktionieren kann. In diesem Zusammenhang wird auch Wendy Torrance, die Mutter Dannys bzw. Jacks Ehefrau gleichgesetzt mit der Ehefrau des Regisseurs: Christiane Kubrick. Ein auch in der Dokumention Room 237 präsentierter Kode bezieht sich auf die Filmszene, in der Danny auf dem Hotelflurteppich vor Zimmer 237 mit seinen Spielzeugautos spielt. Dieser trägt das Muster von ineinander verschlungenen Labyrinthen, die Dannys Autos als Fahrbahnen dienen. Erneut wird der Bezug zu der für die erste Mondlandung zentralen Zahl 11 gebracht: es sind inklusive Danny genau elf Objekte, die hier sichtbar sind. Ein Hinweis auf das Muster des Teppichs folgt und wird seiner Form nach in Beziehung gesetzt zu etwas, das man auch bei der NASA sehen könne: Die Raketenstartrampe 39A, von der unter anderem die Apollo-11-Astronauten zum Mond starteten und die, in einer Luftaufnahme betrachtet, eine ähnliche Struktur wie das Teppichmuster aufweist.19 Danny, der in The Shining Code 2.0 mit Kubrick gleichgesetzt wird, kniet demnach mitten in einem imaginären Apollo-Launchpad. Dieser Kode wird argumentativ dadurch gestützt, dass Danny dabei einen ganz speziellen Pullover trägt. Wenn Danny sich dann langsam vom Teppich erhebt, wird das Motiv auf seinem Pullover sichtbar: Die zum Mond abhebende Apollo-11-Rakete. Diese textile Apollo-Rakete beginnt ihre Reise daraufhin den Korridor entlang und kommt zum Stehen vor dem verbotenen Zimmer 237, dessen Tür nun für Danny nicht mehr – wie anfangs – verschlossen ist, sondern sogar offensteht. Diese Raumnummer lautet in Stephen Kings Roman 217, Kubrick änderte sie für seinen Film in 237: Ein weiterer vermeintlicher Geständniskode Kubricks, denn die durchschnittliche Distanz zwischen Erde und Mond beträgt 237.000 Meilen. Damit repräsentiere Zimmer 237 den
19 The Shining Code 2.0 2012: 01:19:12.
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geheimen Raum, in dem Kubrick angeblich für die NASA die ApolloFilme gedreht habe. Den völlig banalen Grund der Änderung der Zimmernummer von 217 zu 237 erklärt Kubrick allerdings in einem Interview selbst: „The exterior of the hotel was filmed at the Timberline Lodge, near Mount Hood, in Oregon. It had a room 217 but no room 237, so the hotel management asked me to change the room number because they were afraid their guests might not want to stay in room 217 after seeing the film.“20
In Kubricks The Shining ist das Zimmer 237 allerdings durchaus von zentraler Bedeutung: Nachdem Danny das Zimmer betreten hat, ist er verstört und offensichtlich körperlich misshandelt worden, sein Apollo-11-Pullover ist zerrissen und Danny selbst, also Kubrick in der Lesart der Macher von The Shining Code 2.0, wird ab jetzt bis zum Ende des Films nicht mehr sprechen. Dies wird haltlos interpretiert als eine gewalttätige Einschüchterung Kubricks durch die NASA-Verantwortlichen, um ihn davor zu warnen, die Mondverschwörung später aufzudecken. Allein Wendy bzw. Kubricks Frau Christiane habe diese Repressialen, die ihm zugefügt worden seien, zwar bemerkt, habe aufgrund des Stillschweigens ihres Mannes jedoch über das verschwörerische Ereignis niemals die Wahrheit erfahren. Kurz darauf wird Wendy ein schockierendes Geheimnis ihres Mannes entdecken: Sie findet heraus, was Jack während des gesamten Aufenthalts im Overlook-Hotel an der Adler-Schreibmaschine, die anfangs beigefarben, später von grauer Farbe (wie Mondstaub) sein wird, getippt hat. Erneut werden in diesem Zusammenhang in The Shining Code 2.0 die Kodes „A“ und Adler für Apollo und die Zahl 11 für die erste Mondlandemission aufgedeckt. Wendys schreckliche Entdeckung ist ein weiterer bedeutender Wendepunkt in Kubricks Film: Denn ihr Ehemann hat während seines Aufenthalts im Overlook-Hotel mehrere hundert Seiten mit ein und demselben Satz getippt: „All work and no play makes Jack a dull boy.“21 Dieser vom wahnsinnigen Jack tausendfach getippte Satz enthält angeblich einen weiteren Hinweis auf Kubricks Geständnis. Er wird von den Aufdeckern der
20 Kubrick im Interview mit Michel CIMENT 2001 [1980]: 186. 21 The Shining 1980: 01:42:28-01:44:12.
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vermeintlichen Verschwörung völlig willkürlich und ohne jegliche logische Argumentationsbasis dekodiert als: „Apollo 11 work and no play makes Stanley Kubrick dull.“22
D EUTUNG EINZELNER K UBRICK -K ODES Der Regisseur Stanley Kubrick, den man seiner Arbeitsweise nach als cineastischen Philosophen bezeichnen kann, bringt in den bewegten Bildern seiner Filme stets Bedeutung auf verschiedensten Ebenen und auf unterschiedlichste Art und Weise zum Ausdruck – häufig auch in Form von semantischen Kodes, die nicht immer ohne inhaltliche Ambivalenzen dechiffrierbar sind. Einer der bekanntesten dieser Kodes stammt aus dem Film 2001, in dem der Name des Supercomputers HAL, der ein eigenes Bewusstsein entwickelt und die Astronauten auf ihrem Weg zum Jupiter zu täuschen beginnt, aus einem einfachen alphabetischen Rückschiebekode aus den Buchstaben H ← I, A ← B, L ← M erzeugt wird und damit in kodierter Form auf IBM, den bekannten Entwickler für Computertechnik, verweist. Das „konsonantische IBM [wird dadurch] auch zur vokalisch aussprechbaren Silbe, zum Akronym HAL.“23 Die in The Shining en masse eingefügten Kodes dieser und anderer Art funktionieren auf ähnliche Weise, haben aber rein gar nichts zu tun mit einem Geständnis Kubricks, Mitverschwörer einer vermeintlichen Mondlüge zu sein. Der Teppich vor Zimmer 237 bzw. sein Muster etwa ist keine Anspielung auf das NASALaunchpad 39A, sondern eine weitere von vielen im Interieur des Hotels vorhandene Abbildung des Labyrinthmotivs. Diese Labyrinthe symbolisieren m. E. vor allem die Irrwege der oben thematisierten Außenwelt (Welt 1) und der Innenwelt (Welt 2), die untrennbar miteinander verknüpft sind und in einem ständigen reziprok-korrelativen Verhältnis zueinander stehen, das vom Bewusstsein geordnet werden muss. Danny ist noch in seinem äußeren Labyrinth, das, bildhaft in das Teppichmuster übertragen, keinen Ausweg erkennen lässt, gefangen: ein Gefangener seines gewalttätigen Vaters. Kubrick deutet dies dem Zuschauer kaum bemerkbar an, indem er nach einem
22 The Shining Code 2.0 2012: 00:55:28. 23 KITTLER 2013: 373.
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Cut die Kameraeinstellung auf Danny verändert und das labyrinthische Teppichmuster, in dem er kniet, nun geschlossen ist. Er wird sich bald daraus befreien – symbolisiert durch den imitierten Raketenstart, den er mit seinem Apollo-Pullover nachahmt, wenn er sich langsam vom Teppichboden erhebt. Kubrick parallelisiert durch diese Inszenierung die fortschrittliche Erforschung des Alls durch die gesamte Menschenfamilie mit der voranschreitenden Entwicklung des einzelnen kindlichen Bewusstseins.24 Exploration of outer space und exploration of inner space laufen seit dem Ende des II. Weltkrieges in der Wissenschaft parallel ab. Die arabische Ziffer 11 auf Dannys Apollo-11-Pullover entspricht ihrer äußeren Form nach auch eher der römischen Zahl II, die ihrer Struktur nach lesbar ist als Symbol für den parallel geschalteten und ständig um Ausgleich bemühten Dualismus von materieller (Welt 1) und immaterieller Welt (Welt 2); „als energetische Ausgleiche zwischen Geist und Trieb“.25 Das Labyrinth wiederum ist hier (unter anderem) als ein literarisches Symbol des Spiels interpretierbar.26 Danny spielt sowohl im Teppichmusterlabyrinth als auch zuvor im Heckenlabyrinth, wenn er es als ein Spiel betrachtet, zusammen mit seiner Mutter dessen Ausgang zu erkunden; spielerisch erkundet er außerdem mit seinem Dreirad die labyrinthartigen Korridore des Hotels. Das symbolische Labyrinth steht darüber hinaus für Komplexität und Undurchschaubarkeit der Welt und des Universums, die ein Kind mithilfe seiner Psyche jeweils spielerisch lernend sukzessive zu ergründen hat während seiner Entwicklung. Den Ausweg aus dem Inneren des Heckenlabyrinthes kennt Danny bereits, da er ihn am Ariadnefaden seiner Mutter entdeckt hat – die Anspielung auf Theseus und Ariadne ist von Kubrick, der sich sehr stark für die griechische Mythologie interessierte, bewusst eingesetzt. Danny wird durch seine Wegeskenntnis später seinem blutrünstigen Vater entkommen, da dieser das Heckenlabyrinth des Hotels selbst niemals erkundet hat. Wie der wütende Minotaurus aus der bekannten Sage jagt Jack seinen Sohn darin mit einer archaischen Axtwaffe, Danny nach dem Leben trachtend, verirrt sich jedoch letzten Endes auf der Verfolgungsjagd in den Gängen des eingeschneiten Labyrinthes und erfriert unter Ausstoßen qualvoller, unmenschlich und monströs klingender Wehklagelaute, die einem verirrten Minotaurus ange-
24 The Shining 1980: 00:57:10-00:58:30. 25 JUNG 1979: 233. 26 Vgl. GRAMATZKI 2008: 199f.
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messen scheinen.27 The Shining ist insgesamt ein psychologischer Horrorfilm – Kubricks Wissen um die Kenntnisse der Psychoanalyse ist unübersehbar in den Film eingeflossen und wird in Verbindung gesetzt zu dem Hauptanliegen des Regisseurs, das sich durch sein gesamtes filmisches Œvre hindurchzieht: den Menschen mithilfe der Kamera in seiner kategorischen Abhängigkeit zu äußerlicher, patriarchalischer Gewalt zu zeigen. Sei er dieser im eigenen Elternhaus ausgesetzt, wie Danny, dem von seinem betrunkenen Vater im Alter von etwa drei Jahren die Schulter ausgekugelt wurde und der damit psychisch traumatisiert ist, sei es auf einer höheren gesellschaftlichen Ebene durch staatliche Gewalt, die das Individuum genauso unmittelbar und im Einzelnen erfahren kann. Besonders Kubricks Filme A Clockwork Orange (1971) und Barry Lyndon (1975), aber auch sein Anti-Kriegsfilm Full Metal Jacket (1987) verarbeiten dieses Motiv. Diesbezüglich hat Kubrick in The Shining an dutzenden Stellen Kodes integriert, die auf staatliche bzw. patriarchalische Machtstrukturen rekurrieren und die nicht immer beim ersten Betrachten des Films offensichtlich sind. Das häufige Auftauchen des Adlers ist als wiederholtes Zeichen für patriarchalische Machtstrukturen zu lesen, von denen sowohl auf familialer als auch auf gesellschaftlicher Ebene Gewalt ausgeht. Der Adler ist häufig als Symbol der Macht und Stärke auf Länderflaggen zu sehen wie etwa der deutsche Bundesadler oder der Seeadler auf der US-amerikanischen Flagge sowie auch auf militärischen Feldzeichen. Im Büro des Hotelmanagers werden durch die Adlerfiguren die Machthierarchien zwischen Jack, als Arbeitnehmer, und Ullman, als Vorgesetzter, hervorgehoben und in Verbindung mit der US-Flagge und dem Funkgerät neben dem Schreibtisch, neben dem auch ein Adler steht, auf eine übergeordnete, staatliche Ebene gesetzt. Die individuellen Machtpositionen kommen im Dialog der Beiden zum Ausdruck: Jack redet seinen Chef Ullman während des gesamten Gesprächs mit Mr. Ullman an, während Ullman ihn sofort und durchwegs beim Vornamen ruft. In Stephen Kings Roman kommt Jacks negative Empfindung bezüglich dieses ungleichen Machtverhältnisses in seinen Gedanken während des Gesprächs bereits auf der ersten Seite zum Ausdruck: Ullman erscheint ihm als „[o]fficious little prick“.28 Aber weil Jack auf den Job angewiesen ist und er damit von Ullmans höherer Machtposition ab-
27 The Shining 1980: 02:11:11-02:19:40. 28 KING: The Shining 2013 [1977]: 3.
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hängig ist, bleibt sein aufgesetztes Lächeln während des gesamten Bewerbungsgesprächs aufrechterhalten und er ordnet sich Ullman, trotz der Antipathie, die er für ihn empfindet, notwendigerweise komplett unter. Der künstliche und auf gesellschaftlichen Strukturen basierende Schein (Shining) bleibt damit nach außen hin gewahrt und kann nur von Menschen durchschaut werden, die (wie Danny) die Fähigkeit haben, Shinings zu erkennen und für sich nutzbar zu machen: eine Fähigkeit, hinter die Fassade, in die menschliche Psyche hineinblicken zu können und damit eine versteckte innere Wahrheit über den Menschen zu erkennen. Die Kontrolle über Kommunikationsapparate, wie in Ullmans Büro durch das Funkgerät neben dem Adler symbolisiert, ist wichtiger Bestandteil staatlicher Machtstrukturen und wird in Kriegen stets versucht, dem Feind zu entziehen. Jack wird gegen Ende des Films die Kontrolle über das einzig vorhandene Funkgerät im Hotel übernehmen, indem er es – wie in einem kriegerischen Sabotageakt – funktionsunfähig macht. Damit entzieht er seiner Frau die einzige Möglichkeit, Hilfe von außen herbeizurufen, da sie ansonsten durch einen, die Telefonleitungen unterbrochenen, Schneesturm vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten sind.29 Jack sichert dadurch seine auf körperlicher Gewalt basierende höhere Machtposition gegenüber seiner schwächeren Familie. Allein durch kluges Handeln gelingt es Danny, diese physisch bedingte Schwäche wettzumachen und den Vater im Heckenlabyrinth durch Ver(w)irrung zu besiegen. Damit ist der Adler letztendlich interpretierbar als ein typisches Kubrick’sches Symbol, das nicht von allen Zuschauern sofort erkannt wird, wenn sie sich nicht selbst gedanklich mit derart fragwürdigen autoritären gesellschaftlichen Machtstrukturen auseinandersetzen. Eine künstlerische Eigentümlichkeit dieses für Kubrick typischen Verfahrens, mit der Ausdruckskraft von Symbolen Bedeutung zu transferieren, besteht darin, dass in konkretester Form, etwa mithilfe eines einzigen Zeichens, ein ganzer Komplex von Beziehungen hergestellt wird – wie etwa zwischen dem Adler und den Macht- bzw. Gewaltstrukturen. Das deutsche Wort Adler auf Jacks Schreibmaschine, das einzige, das auch in der Originalversion des Films in deutscher Sprache auftaucht, könnte vor diesem Hintergrund auf die Individualpsychologie Alfred Adlers anspielen.30 Diese beinhaltet als einen seiner wichtigsten Forschungsschwerpunk-
29 The Shining 1980: 01:34:36-01:35:08. 30 Vgl. beispielsweise ORGLER 1974.
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te das Theorem des Minderwertigkeitskomplexes. Nach diesem habe jedes einzelne Individuum während seiner Entwicklung einen Minderwertigkeitskomplex zu überwinden, weil es sich immer allein einer großen gesellschaftlichen Gruppe anderer Individuen gegenübergestellt sieht. Jacks Minderwertigkeitskomplex ließe sich an dem Fakt erkennen, dass er seine Arbeit als Lehrer aufgegeben hat, um ein erfolgreicher Autor zu werden. Er ist also offensichtlich nicht mit dem, was er bisher beruflich erreicht hat, zufrieden und versucht durch das Verfassen eines „new writing project[s]“31, wirtschaftlich und gesellschaftlich aufzusteigen, um sein geringes Selbstwertgefühl zu steigern. Dabei schreibt er die beruflichen Misserfolge seiner Frau Wendy zu, die ihn seiner psychisch gestörten Wahrnehmung nach schon allein durch ihre bloße Anwesenheit daran hindere, sein Buch erfolgreich zu beenden und Schuld sei an seiner misslichen wirtschaftlichen Position.32 Mit dieser Interpretation des Adler-Kodes ist insgesamt ein basaler Deutungsinhalt der suggestiven Lesart von The Shining Code 2.0 widerlegt worden. Die Zahl 11, die im gesamten Kubrickfilm nicht ein einziges Mal explizit auftaucht, kann ebenfalls nicht für eine seriöse Argumentionsbasis der These, Kubrick habe ein kodiertes Geständnis bezüglich seiner vermeintlichen Verschwörungsverwicklung um NASAs Mondlandungsfilme in seinen Film integriert, bemüht werden. Dannys Pullover mit dem Apollo11-Motiv ist Ende der 1970er außerdem ein typisches Kleidungsstück für Kinder.
F AZIT The Shining-Code 2.0 zeigt in seinem Aufbau sowie in seiner sehr einseitigen und äußerst bemüht wirkenden Argumentationsweise besonders anschaulich, wie Verschwörungstheorien ihrer linearen psychologischen Kausalstruktur nach funktionieren und unter Missbrauch von populären Kunstwerken große mediale Verbreitung finden können. Kubricks The Shining eignet sich für einen derartigen verschwörungstheoretischen Missbrauch
31 The Shining 1980: 00:07:34. 32 The Shining 1980: 01:19:52-01:20:18.
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gerade deshalb, weil einer der vielleicht genialsten Regisseure des zwanzigsten Jahrhunderts darin eine Vielzahl von bedeutungsbeladenen und ineinander verwobenen Symbolen verwendet. In höchster Virtuosität setzt er dabei kaleidoskopische Bilder zu mehrschichtigen Subtextmosaiken zusammen, aus denen letztendlich unter Zunahme eines perfekt choreographierten Sprach- und Musikeinsatzes ein monumentales Filmkunstwerk entsteht, dessen hermeneutische Erschließung für den Rezipienten eine einzigartige Herausforderung bedeutet. Stanley Kubrick selbst hätte sehr wahrscheinlich mit folgenden Worten auf The Shining Code 2.0 und Room 237 reagiert: „People can misinterpret almost anything so that it coincides with views they already hold. They take from art what they already believe, and I wonder how many people have ever had their views about anything important changed by a work of art?“33
L ITERATUR BLOCH, Ernst: Über Ungleichzeitigkeit, Provinz und Propaganda. In: Ders. Gesamtausgabe. Ergänzungsband: Tendenz – Latenz – Utopie. Frankfurt am Main 1978 [1974]. CIMENT, Michel: Kubrick. The definitive Edition. Translated from the French by Gilbert Adair. New York 2001 [Paris 1980]. GRAMATZKI, Susanne: Labyrinth. In: Butzer, Günter & Joachim Jacob (Hgg.): Metzler Lexikon literarischer Symbole. Stuttgart/Weimar 2008. S.199f. JUNG, Carl Gustav: Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psychischen. In derselbe: Gesammelte Werke. 8. Bd.: Die Dynamik des Unbewussten, hrsg. v. Mariann Niehus-Jung u.a., 3. Aufl., Olten 1979. KENNEDY, John F.: Address at Rice University on the Nationʼs Space Effort. 12. September 1962 http://explore.rice.edu/explore/kennedy_ address.asp [20.04.2015]. KING, Stephen: The Shining. New York, Anchor Books 2013 [1977].
33 Kubrick im Interview mit Michel CIMENT 2001 [1980]: 195.
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KITTLER, Friedrich A.: Die Wahrheit der technischen Welt. Essays zur Genealogie der Gegenwart. Berlin 2013. MACH, Ernst: Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung. [Anpassung der Gedanken an die Tatsachen und aneinander] 5. Aufl., Leipzig 1926. S. 164-182. OLEYNIK, Oleg: A Stereoscopic method of verifying Apollo lunar surface image. Aulis 2012. http://www.aulis.com/stereoparallax.htm [20.04.15]. ORGLER, Hertha: Alfred Adler. Versuch über den Minderwertigkeitskomplex. München 1979. SCHMITZ, Henrik: Verschwörungstheorie: Ersatzreligion und Mythos. O.J. http://www.evangelisch.de/themen/kultur/verschwoerungstheorieersatzreligion-und-mythos462 Filme The Shining. Regie: Stanley Kubrick. Warner Bros. 2012 [1980]. For all Mankind. [Masters of Cinema Series # 5]. Regie: Al Reinert. Janus Films Apollo Associates 2009 [1989]. In the Shadow of the Moon. Regie: David Sington. DOX Productions Limited 2006. The Shining Code 2.0. Regie: Michael Wysmierski 2012. https://www.you tube.com/watch?v=b0hOiasRsrA. [20.04.2015]. Room 237. Being an inquiry into The Shining in 9 parts. Regie: Rodney Ascher. Metrodome Distribution DVD 2013.
Autorinnen und Autoren
Sonja Brandes, (M.A.) hat das Masterstudium Kultur der technischwissenschaftlichen Welt an der Technischen Universität Braunschweig absolviert. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin in der Neuen deutschen Literatur und arbeitet im Forschungsprojekt zur Kulturgeschichte des Liebesbriefs. Dr. phil. Wiebke Ohlendorf hat Germanistik und Kunstwissenschaft studiert und in Germanistischer Mediävistik mit einer Arbeit über die sprachliche und bildliche Fremde in Parzival-Handschriften promoviert. Sie arbeitet und forscht an der Technischen Universität Braunschweig. Ihre Schwerpunkte liegen im Text-Bild-Verhältnis und der Mittelalterrezeption. André Reichart (M.A.) ist Germanist und Medienwissenschaftler. Derzeit ist er an der Kyushu Universität in Japan als Lektor tätig. Seine Forschungsinteressen sind Literaturtheorie und Populärkultur, aber auch die Wiener Moderne. Gunnar Schmidtchen (M.Ed.) lebt und forscht in Braunschweig. Er hat Germanistik und Chemie für das Gymnasiale Lehramt studiert. Seine Schwerpunkte liegen in der neueren deutschen Literatur und der Literaturdidaktik sowie der Interdisziplinarität und fächerübergreifendem Unterricht. Dr. phil. Christian Stein hat an der Technischen Universität Braunschweig Germanistik und Informatik studiert. Im Jahr 2012 wurde er mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit über Arno Schmidt promoviert und
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ist seitdem im Exzellenzcluster „Bild Wissen Gestaltung“ der HumboldtUniversität zu Berlin im Projekt „Architekturen des Wissens“ als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Prof. Dr. Alexander Strahl ist Assistenzprofessor an der Universität Salzburg. Er hat Physik und Philosophie studiert. Nach der fachwissenschaftlichen Promotion folgte 2006 der Wechsel in die Didaktik. Seine Forschungstätigkeiten erstrecken sich von der Natur der Naturwissenschaften über die Mathematisierung in der Physik bis zum Ende des Universums. (www.strahl.info) Dr. phil. Katja Wermbter hat Germanistik und Medienwissenschaften in Braunschweig studiert und wurde mit einer gesprächsanalytischen Arbeit zur Mehrsprachigkeit promoviert. Sie arbeitet und forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin für Linguistik an der Technischen Universität Braunschweig. Weitere Schwerpunkte ihrer Forschung liegen in der Text- und Diskursforschung. Timo Zappi (M.A.) hat nach seinem Bachelorstudium der Germanistik und Geschichte den Master Kultur der technisch-wissenschaftlichen Welt mit einer Arbeit mit literaturwissenschaftlich-philosophischem Schwerpunkt zum Thema „Ebenen der Codierung in Stanley Kubricks The Shining“ abgeschlossen.
Die Vortragsreihe ist seit dem Sommersemester 2011 außerdem durch diverse Themen und Beiträge bereichert worden. Wir danken den folgenden Personen für ihre Mitarbeit: Annalen Appelt, Kenton E. Barnes, Lisa Behrendt, Janine Bödeker, Lennart Bohnenkamp, Luise Borek, Julia Büto, Héctor Canal, Jennifer Clare, Bettina Conradi, Dietmar Elflein, Anna Fingerhuth, Claudia Gath, Thea Gerdes, Jiré Gözen, Maren Haas, Rüdiger Heinze, Florian Henk, Ramona Hirsch, Maria Madlen Holzgrewe, Anja Huemer, Sylvia Jurchen, Mara Kittel, Holger Kliche, Florian Krautkrämer, Maria Marcsek-Fuchs, Anja Marzia, David-Marcel Meier, Hannes Rusch, Franziska-Katharina Schlieker, Bettina Stieler, Lena-Franziska Thiel, Dorothee Wagner und Annette Winter.
Edition Kulturwissenschaft Sybille Bauriedl (Hg.) Wörterbuch Klimadebatte November 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3238-5
Gabriele Brandstetter, Bettina Brandl-Risi, Kai van Eikels Szenen des Virtuosen Februar 2016, ca. 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1703-0
Thomas Kirchhoff (Hg.) Konkurrenz Historische, strukturelle und normative Perspektiven April 2015, 402 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2589-9
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Edition Kulturwissenschaft Gudrun M. König, Gabriele Mentges, Michael R. Müller (Hg.) Die Wissenschaften der Mode Mai 2015, 222 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2200-3
Elisabeth Mixa, Sarah Miriam Pritz, Markus Tumeltshammer, Monica Greco (Hg.) Un-Wohl-Gefühle Eine Kulturanalyse gegenwärtiger Befindlichkeiten Oktober 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2630-8
Stephanie Wodianka (Hg.) Inflation der Mythen? Zur Vernetzung und Stabilität eines modernen Phänomens Mai 2016, ca. 220 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3106-7
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Edition Kulturwissenschaft Kathrin Ackermann, Christopher F. Laferl (Hg.) Kitsch und Nation Zur kulturellen Modellierung eines polemischen Begriffs November 2015, ca. 230 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2947-7
Marie-Hélène Adam, Szilvia Gellai, Julia Knifka (Hg.) Technisierte Lebenswelt Über den Prozess der Figuration von Mensch und Technik November 2015, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3079-4
Ivan Bazak, Gordon Kampe, Katharina Ortmann (Hg.) Plätze. Dächer. Leute. Wege. Die Stadt als utopische Bühne Mai 2015, 114 Seiten, kart., zahlr. Abb., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-3197-5
Hanno Berger, Frédéric Döhl, Thomas Morsch (Hg.) Prekäre Genres Zur Ästhetik peripherer, apokrypher und liminaler Gattungen Mai 2015, 310 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2930-9
Andreas Bihrer, Anja Franke-Schwenk, Tine Stein (Hg.) Endlichkeit Zur Vergänglichkeit und Begrenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft Dezember 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2945-3
Gabriele Brandstetter, Maren Butte, Kirsten Maar (Hg.) Topographien des Flüchtigen: Choreographie als Verfahren Oktober 2015, ca. 340 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2943-9
Werner Hennings, Uwe Horst, Jürgen Kramer Die Stadt als Bühne Macht und Herrschaft im öffentlichen Raum von Rom, Paris und London im 17. Jahrhundert September 2015, ca. 270 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2951-4
Carola Hilbrand Saubere Folter Auf den Spuren unsichtbarer Gewalt Mai 2015, 284 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3157-9
Anke J. Hübel Vom Salon ins Leben Jazz, Populärkultur und die Neuerfindung des Künstlers in der frühen Avantgarde September 2015, ca. 170 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3168-5
Felix Hüttemann, Kevin Liggieri (Hg.) Die Grenze »Mensch« Diskurse des Transhumanismus Februar 2016, ca. 230 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3193-7
Richard Weihe (Hg.) Über den Clown Künstlerische und theoretische Perspektiven Dezember 2015, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3169-2
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