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German Pages 340 [328] Year 2022
Elk Franke (Hg.) Wissen um die Form
Edition Kulturwissenschaft | Band 165
Elk Franke, geb. 1942, war Hochschullehrer in Osnabrück, von 1995 bis 2009 Professor für Sportphilosophie/Sportpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin und von 2010 bis 2013 im Bereich Kulturwissenschaften der Universität Bremen tätig. Von 1989 bis 1991 war er Präsident der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft und von 2004 bis 2010 Mitglied im dortigen Ethikrat. Seine Forschungsschwerpunkte sind Ethik und Ästhetik, Handlungstheorie sowie Bildungstheorie.
Elk Franke (Hg.)
Wissen um die Form Zur Voraussetzung kultureller Theoriebildungen
Die Publikation wurde gefördert von der Universität Bremen, Fachbereich Kulturwissenschaften
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Sophie Taeuber-Arp/Hans Arp/Sonia Delaunay/Alberto Magnelli: »Album Grasse« Blatt IV 1950. Lithografie 38,2 x 28,5 cm. Stiftung Arp e.V., Rolandswerth/Berlin Lektorat: Elk Franke Korrektorat: Arnim Regenbogen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6082-1 PDF-ISBN 978-3-8394-6082-5 https://doi.org/10.14361/9783839460825 Buchreihen-ISSN: 2702-8968 Buchreihen-eISSN: 2702-8976 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
Einleitung Anliegen des Bandes Elk Franke ................................................................................ 9
Formungs-Bedingungen Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen Elk Franke ............................................................................... 25
Schema-Relevanz Erkennen und Handeln – durch Schematisieren Hans Lenk ............................................................................... 75
Gedanken, Sätze, Sachverhalte – zum Zusammenhang von Denken, Sprechen, Weltbezug Oswald Schwemmer ..................................................................... 105
Form-Dominanz Konzept-Formen menschlicher Welterfahrung Jürgen Kriz ............................................................................. 127
Formen – von Erfahrung Franz Bockrath.......................................................................... 153
Formen – von Bewegung Elk Franke .............................................................................. 167
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz Sabine Huschka ......................................................................... 197
Sprach-Muster MusikWahrnehmung – ein nicht-begriffliches Wissen? Georg Mohr ............................................................................. 225
konstruktiv konkrete kunst – Grundlage einer genuinen »Form-Farben-Sprache«? Elk Franke .............................................................................. 239
Ordnungs-Praxen Innere Form und Habitus – Kendo, das japanische Fechten Jörg Potrafki............................................................................ 275
Spielen und Fragen – ein Labyrinth Henning Eichberg ....................................................................... 287
Grenz-Markierungen Körper-Wissen – Chancen und Risiken im Wuchern der Neurodiskurse? Maud Hietzge ........................................................................... 307
Autor*innenverzeichnis ........................................................... 335
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»Im Grunde ist alle Philosophie eine Sache der Form« (Paul Valery, Hefte 2,21).
»Wir finden niemals die ›nackte‹ Empfindung, als materia nuda […] was uns faßbar und zugänglich ist, ist immer nur die konkrete Bestimmtheit, die lebendige Vielgestalt einer Wahrnehmungswelt, die von bestimmten Weisen der Formung durch und durch beherrscht und von ihnen völlig durchdrungen ist« (Ernst Cassirer, Philosophische Untersuchungen, Bd. 3, S. 18).
»Die Stärke der Form, diese vis forma […] ist jene genuine symbolische Stärke, die es der Stärke ermöglicht, sich dadurch uneingeschränkt zu entfalten, daß sie in ihrem wirklichen Charakter verkannt und unter Augenschein der Universalität – der Vernunft oder der Moral – anerkannt, akzeptiert und gebilligt wird« (Pierre Bourdieu, Die Kodifizierung, Vortrag 1983).
Einleitung Anliegen des Bandes Elk Franke
Versuche, die Voraussetzungen kultureller Theoriebildung genauer zu bestimmen, unterliegen einem paradoxen Verständnis des zu untersuchenden Gegenstandes, denn die Akteure und ihre Wissenschaft sind immer Teil der Vergemeinschaftung, die sie analysieren. Daraus folgt, dass die Anerkennung wissenschaftlicher Aussagen über kulturrelevante Prozesse davon abhängig ist, inwieweit auch ein Potential an Selbstreflexion in den Deutungsangeboten erkennbar ist. Durch diese doppelte Verpflichtung, nicht nur den komplexen Gegenstand »Kultur« aus unterschiedlichen Perspektiven zu analysieren, sondern sich auch als Untersuchende der eigenen Bedingungen bewusst zu sein, sind besondere Voraussetzungen theoretischer Erklärungsangebote einer Kultur. Weitere Herausforderungen ergeben sich, wenn nicht nur Institutionen, Personen, Produkte oder Werke von kultureller Relevanz, sondern paradigmatische Implikationen kultureller Praxen wie Formungsprozesse, Wissensbedingungen und Körperlichkeit untersucht werden. Der vorliegende Band nimmt diese Thematik auf. Den Anstoß dafür stellte eine Tagung an der Universität Bremen im Fachbereich Kulturwissenschaften zum Thema »Körper – Wissen – Form« dar.1 Aus der Nachbetrachtung dieser Veranstaltung hat sich unter Mitwirkung weiterer Autoren der vorliegende Themenband ergeben. Er orientiert sich am Diskurs in der Kulturwissenschaft, der sich nach dem sogenannten »linguistic turn« in unterschiedlichen Ausprägungen zum »cultural turn« als »practice turn, performative turn, pictoral turn, iconic turn, geographical turn und emotional turn« (Gugutzer 2006, S. 9)2 entwickelte.3 Neben vielen Spezi1
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Tagung der Sektion »Sportphilosophie« der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft vom 22.–24.11. 2012 in Bremen. Dank an die Universität Bremen für die finanzielle Förderung der Veranstaltung und Drucklegung des Bandes sowie Bernhard Boschert für die institutionelle und fachliche Begleitung. Gugutzer, R. (Hg.) (2006): body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Bielefeld. Durch diese Schwerpunktsetzung bleibt eine, unter der Überschrift vielleicht auch erwartete Theorieperspektive, unbearbeitet: Die Frage von Medium und Form, wie sie Niklas Luhmann 1997 in »Die Gesellschaft der Gesellschaft« in deutlicher Abgrenzung zum »linguistic turn« in
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Wissen um die Form. Zur Voraussetzung kultureller Theoriebildungen
fika, die oft die Namensgebung des jeweiligen »turn« bestimmen, ist ein allgemeiner Trend in den relevanten Theoriebildungen erkennbar: die zunehmende Relativierung kultureller Erklärungsansätze, basierend auf strukturellen Ordnungsbedingungen zu Gunsten performativer Analysen kultureller Praxen. Auf dem Hintergrund der Theorien von Norbert Elias, Michel Foucault und vor allem Pierre Bourdieu zeigte sich dies u.a. in der Ablösung von subjektbestimmten intentionalen Handlungstheorien und der besonderen Beachtung situativer körperrelevanter Praxisbedingungen. Für Gabriele Klein und Hanna Katharina Göbel (2017) lässt sich die dadurch entwickelte Performance- und Praxisforschung inzwischen unterschiedlich »ausbuchstabieren« (Klein/Göbel 2017, S. 8)4 . So untersucht die Performanceforschung vor allem die »Ereignishaftigkeit, Einmaligkeit« von Akteuren »sowie das Verhältnis von Ritualität, Theatralität und Medialität« (ebd. S. 8) im gesellschaftlichen Kontext. »Die Performativitätsforschung wiederum konzentriert sich auf den Sprechakt und dessen Beglaubigungsstrategien sowie auf die Verkörperungsformen […] (sowie) die soziale Wirksamkeit des Sprechaktes« (ebd. S. 8). Dagegen untersucht die Praxistheorie vor allem »das Ensemble von Praktiken, das zur Emergenz dessen führt, was wir als globales, mediales Ereignis im Feld der ›Politik‹ nennen« (ebd. S. 8). Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem die Körperlichkeit von Praktiken im Modus unterschiedlicher Vollzugsbedingungen und deren Wissensordnungen. Diese allgemeine Beschreibung der Forschungsentwicklung zu einer mikrosoziologischen Erfassung gesellschaftlicher und kultureller Praktiken vermittelt zunächst den Eindruck, dass im Forschungspanorama weiterhin die Dialektik von Ordnungsstrukturen und situativen Praxisbedingungen wirksam wird, allerdings mit der deutlichen Betonung »die Situationalität des Sozialen und Kulturellen stark zu machen, indem sie ihr eine höhere Autorität gegenüber Ordnungsstrukturen und-systemen und eine größere Wirkmächtigkeit […] zugeschrieben haben als dies in struktur- oder systemtheoretischen Ansätzen der Fall ist« (Klein/Göbel 2017 S. 89). Diese Akzentverschiebung der Analytik hat im Forschungsalltag angewandter Feldforschung sozialer Praktiken, pädagogischer Prozesse oder körperlicher Aktivitäten einerseits zu einer Zunahme praxisrelevanter Beobachtungen geführt. Diese zu begrüßende Entwicklung mikrosoziologischer Feldforschung lässt jedoch andererseits auch Tendenzen eines einseitigen Empirismus erkennen. Im Selbstbewusstsein, endlich auf die erfahrungsbasierte Praxis gegenüber dominierenden
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den Geisteswissenschaften bearbeitet hat. Vgl. dazu Sybille Krämer (1998): Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form. In: Rechtshistorisches Journal 17, 1998, S. 558-573. Klein, G./H. K. Göbel (Hg.) (2017): Performance und Praxis. Praxeologische Erkundungen in Tanz, Theater, Sport und Alltag. Bielefeld.
Einleitung
Strukturtheorien (wie Motivationstheorien, Bildungstheorien oder bewegungsrelevanten Funktionstheorien) zurückgreifen zu können, entwickelt sich häufig ein exklusives Beobachtungsparadigma, das seine Legitimation aus der zugespitzten Formel radikaler Praxistheorien ableitet: »Die Theorie der Praxis ist die Praxis«. – Eine Theorievorstellung, der man anscheinend in dem Maße entsprechen kann, wie es gelingt, soziale und kulturelle Praktiken protokollartig zu dokumentieren. Was bei dieser berechtigten, grundsätzlichen Betonung performativer Bedingungen mitunter in Vergessenheit oder aus dem Fokus der Beobachterperspektive gerät, ist die Erkenntnis, die schon Ernst Cassirer in Weiterführung der kantischen Philosophie sinngemäß formulierte, als er darauf hinwies, dass der Mensch nicht nicht-geformt wahrnehmen kann. Mit dieser Forderung der prinzipiellen Formungsbedingungen jedweder Erfahrung des Menschen mit und in der Welt, skizzierte er vor fast einhundert Jahren ein Forschungsparadigma, das – unabhängig von fach- und gegenstandsspezifischen Strukturtheorien – nicht nur die Beobachtung, sondern vor allem auch die theoretische Re-konstruktion kultureller Praxen bestimmt. D.h., der Verweis auf die prinzipielle Bedeutung der Form in Theorien dieser Praktiken ist nicht als ein einseitiges Wiedererstarken der »Struktur« (u.a. Lévi-Strauss 1967)5 im Verhältnis zur »Praxis« oder als eine überholte »Scholastik« (Bourdieu 1993)6 misszuverstehen. Vielmehr ist die besondere Betonung der Form in Verbindung mit einem erweiterten Begriff von Wissen, unter Einbeziehung der vielfältigen Formen impliziten Wissens, sowie der immer wirksam werdenden Körperlichkeit ein Plädoyer dafür, bei grundsätzlicher Anerkennung der Bedeutung situativer Praxisbedingungen, die Formabhängigkeit als eine unhintergehbare Voraussetzung jedweder Theorie kultureller Praxis zu beachten. Der vorliegende Band wirbt für diese exponierte Beachtung von Formungsbedingungen in kulturrelevanten Untersuchungen durch unterschiedliche Akzentsetzungen.
Formungs-Bedingungen Elk Franke verweist in einem längeren Einführungsbeitrag zunächst darauf, warum es sinnvoll erscheint, das Werk Ernst Cassirers zur Philosophie der symbolischen Formen unter besonderer Beachtung einer kulturphilosophischen Perspektive zu interpretieren. Wie ein Blick auf die Rezeption Cassirers innerhalb des philosophischen Diskurses nach dem zweiten Weltkrieg zeigt, war sein Werk zunächst etwas in Vergessenheit geraten. Für viele galt er als Neukantianer, der schon 1929 in der Diskussion mit Heidegger in Davos eher als Traditionalist eingestuft wor-
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Lévi-Strauss, C. (1967): Strukturale Anthropologie. Frankfurt a.M. Bourdieu, P. (1993): Sozialer Sinn. Frankfurt a.M.
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Wissen um die Form. Zur Voraussetzung kultureller Theoriebildungen
den war und dem man nur einen historischen Platz zu Beginn des 20. Jahrhundert zugestehen sollte. Eine deutliche Neubewertung erfuhren Cassirers Arbeiten in den 1990er Jahren auf dem Hintergrund der u.a. durch Ludwig Wittgenstein vorbereiteten Diskussion über die Bedeutung von Sprach- und Bedeutungsanalysen in der Philosophie. Danach war Cassirer mit seiner Betonung der symbolischen Formen in der Auseinandersetzung u.a. mit Heidegger eher der Wegbereiter zukunftsrelevanter philosophischer Auffassungen. Insbesondere sein analytischer Verweis auf die immer nur symbolisch vermittelbare Erfahrung und Erklärung von Welt bestimmte die Renaissance seines Denkens innerhalb des allgemeinen »linguistic turn« der Sozialund Kulturwissenschaften. Die Neubewertung hatte aus heutiger Sicht jedoch auch einen Preis bzw. führte zu einer weiteren Etikettierung der Deutungsangebote Cassirers. Die Betonung der symbolischen Formen, die er in seinem umfangreichen Werk vielfältig begründete, lassen ihn als einen Verfechter einer Symbolisierung erscheinen, die vor allem in sprachlichen Formen, im Rückgriff auf geistige Konstruktionen ihre Bedeutung erhält. − Eine Zuordnung, die bei der Akzentverlagerung innerhalb des »linguistic turn« zu eher semantisch-pragmatischen Bedeutungsanalysen mit performativem Anspruch auch zu einer abgrenzenden Klassifikation führen kann. Diese zeigt sich immer dann, wenn Cassirer innerhalb des aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskurses als Vertreter eines verbalen, vergeistigten Symbolismus gekennzeichnet wird, der die lebensweltlichen Ausweitungen und kulturellen Praktiken nicht angemessen berücksichtigt. Bei dieser Kritik, die z.T. auch im auf drei Bände angelegten Hauptwerk »Philosophie der symbolischen Formen« belegt werden kann, wird häufig die Bedeutung übersehen, die Cassirer gleichrangig der Form, den prinzipiellen paradigmatischen Formungsbedingungen in Erfahrungs- und Erkenntnisprozessen zuweist. Wird diese erweiterte Sicht eingenommen, ergeben sich z.T. neue Anknüpfungspunkte innerhalb einer kulturwissenschaftlichen Diskussion. Gelingt es, diesen prinzipiellen Aspekt von Formungsprozessen herauszustellen, ergeben sich auch weiterführende Anknüpfungspunkte innerhalb der performativ ausgerichteten Kulturwissenschaften. Die Überschrift von Frankes Beitrag »Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form«, signalisiert diese veränderte Argumentationsperspektive. In vier Schritten wird die Akzentverschiebung zunächst in Hinsicht auf die Analyse kultureller Praxen hervorgehoben, wobei sich die besondere Bedeutung prinzipieller Formungsvorgaben vor allem in deren theoretischer Re-konstruktion zeigt. Den zweiten Schwerpunkt bildet eine Analyse des Wissensbegriffs unter besonderer Beachtung impliziter Formungsbedingungen. Dabei zeigt sich, dass die Ausweitung des traditionellen kognitiven Wissensverständnisses nicht ohne die Berücksichtigung leib-körperlicher Bedingungen analysiert werden kann. Unter Bezugnahme auf die
Einleitung
dabei relevanten nicht-verbalen Formungsbedingungen, durch die der Mensch zu sich selbst in Beziehung treten kann, zeigen sich spezifische reflexive und selbstreflexive Formen von Mensch-Welt-Bezügen, die eine wichtige Voraussetzung für performative Theorien kultureller Praxen sein können.
Schema-Relevanz Hans Lenk entwickelt die prinzipielle Bedeutung von Schemata in seiner »Philosophie des Schemainterpretierens« in vielen Publikationen. In seinem Beitrag fasst er die wichtigsten Aspekte noch einmal zusammen. Zentral ist die Erkenntnis, dass der Mensch alle Beziehungen zur Welt immer nur mit und durch Schemata eingehen kann. Dabei geht er einerseits von Kants These über die prinzipielle Bedeutung von Formen, die dieser Schemata nennt, in Erkenntnisprozessen aus. Gleichzeitig erweitert Lenk die philosophischen Aussagen um Untersuchungen der Sozialwissenschaften und Psychologie, mit dem Ziel, bisher eher methodologische »formale«, d.h. auf Formen bezogene philosophische Theorien um praxisrelevante Sichtweisen zu erweitern. Dadurch wird deutlich, dass das Schemainterpretieren auf unterschiedlichen Stufen der Erfahrung, Erkenntnis und Erklärung von Welt stattfindet und konstituierende, konstruierende und rekonstruierende Aktivitäten umfasst. Durch die Differenzierung der relevanten Schemata auf jeweils einzelnen Interpretationsstufen kann er zeigen, in welcher Weise das unhintergehbare Prinzip der Schematisierung zu unterschiedlichen praktischen und intellektuellen Einsichten führt und die anthropologische Besonderheit des Menschen als eines »höherstufigen metainterpretierenden Wesens« bestätigt wird. Da für Lenk auch die höheren Stufen strukturell denselben Formen der Schemabildung unterliegen, ergibt sich die Möglichkeit, diese auch in Interpretationsverfahren auf sich selbst anzuwenden. Durch diese Reflexivität im Verfahren ergibt sich die Möglichkeit zu immer höheren Deutungsmustern aufzusteigen und gleichzeitig die Stufenfolge der Schemabildung selbst analysieren zu können. Mit Bezug auf zeitgemäße Erkenntnisse der Psychologie, Neurophysiologie und Hirnforschung stellt Lenk abschließend die Verbindung von der prinzipiellen philosophischen Argumentation zu praxisrelevanten Anwendungsfeldern her. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Schematheorie von Rumelhart, in der die Praktiken der Alltagswelt hinsichtlich von Schemaimprägniertheit bearbeitet werden, und an denen erkennbar wird, wie unsere Praktiken analog zu Entscheidungsbäumen oder Flussdiagrammen von »Schema-Netzen« bestimmt werden. Auch im Beitrag von Oswald Schwemmer besitzt der Schema-Begriff eine wesentliche Bedeutung für die Explikation der Genese der menschlichen Ausdrucks-
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Wissen um die Form. Zur Voraussetzung kultureller Theoriebildungen
formen (Gesten, Mimik, Reden, Sprache, Denken etc.). Auf dem Hintergrund seines Buches »Das Ereignis der Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens« (2011) verweist er darauf, wie wichtig es ist, bei Antwortversuchen Sprache nicht auf ein Kennzeichnungssystem einzugrenzen, sondern ihre Genese und Differenzierung im Sprechen und Denken systematisch zu analysieren. Schon die Beantwortung der Frage »Was sind Sätze?« zeigt, dass nicht nur die Struktur, sondern auch die Funktion der Sätze als eine bestimmte Form der Kommunikationsmöglichkeiten diese auszeichnet. Den Hintergrund dafür bilden Verhaltensweisen, die als gemeinsame erfahren werden bzw. immer wieder als solche bestätigt werden. Es ist ein Vorgang, der nur dadurch als sinnvoll erfahren werden kann, dass er als ein situativer, von Schemata bestimmter stattfindet und in dem das Reden gegenüber der Systematik der Sprache als ein vorausgehender Prozess erscheint. Im zweiten Schwerpunkt »Was ist Denken?« beantwortet Schwemmer die Frage durch eine begriffliche Analyse des Verhältnisses von Sprache und Sprechen und die besondere Entwicklungsdynamik des Sprechens sowie die dadurch sich ergebenden Formungsprozesse des Denkens. Es zeigt sich für ihn »nicht mehr als eine aus sich selbst heraus gegliederte kontinuierliche Entwicklung, sondern eher als eine Folge von Interventionen in dem idiomatisch voranbewegten Verlauf unseres Redens« (Schwemmer in diesem Bd. S. 110). Durch diese Analyse der Voraussetzungen von Denken, Sprechen und Weltbezug wird deutlich, in welcher Weise situative Umstände durch ihre kommunikativen und interaktiven Formen Wirk- und Sinnverhältnisse konstituieren und dabei das Denken im Sinne von William James (1976) als ein »Hinführen« in die »Welt der Übergänge und Ankünfte« erscheinen lassen. Der sich dadurch bildende »Rahmen des Stimmigen« zeigt sich für Schwemmer (2004) in Relationsmustern und Stilen kultureller Praxen, was schon Cassirer veranlasste, Kulturwissenschaft als eine Stil-Wissenschaft zu kennzeichnen, die die sich bildenden Gestaltbegriffe im Denken, Reden und weltprägenden Handeln untersucht.
Form-Dominanz Jürgen Kriz geht in seinem Beitrag von der zentralen Frage aus: Wie sehen, erleben und beschreiben wir unsere »Welt«, die wir wahrnehmen? Schon die Gestalttheorie (u.a. Max Wertheimer 1912) konnte zeigen, dass man im Sinne von Ernst Cassirer nicht nicht geformt wahrnehmen kann. So konnte in zahlreichen Experimenten zum Bewegungssehen und zur Raumwahrnehmung bestätigt werden, dass sowohl ganzheitliche Formungsvorgaben (z.B. sog. »Kippfiguren«) als auch unabhängige Wahrnehmungsmuster (mit Prismen und Umkehr-Brillen u.a. von Kohler 1951) nicht nur unsere Erfahrung mit der Welt bestimmen, sondern z.T. auch unsere Deutungen von sozialen Beziehungen (z.B. Verhalten wie »Aggressionen«,
Einleitung
»Fürsorge«) beeinflussen können. Bisher offen ist dabei die Frage, wodurch sich die erkennbaren Formungsvorgaben erklären lassen und in welcher Weise die physische und die phänomenale Welt dabei verbunden sind. Vielfältige Bewegungsexperimente (u.a. mit »Fingerübungen« oder Analysen von »Marionetten-Spielern«) belegen, dass es sich dabei nicht um eine »objektiv« körperliche Symmetrie der Gliedmaßen, sondern um Bewegungen in einem phänomenalen Feld handelt. Für Kriz ergibt sich daraus die Konsequenz, dass die Bedingungen, unter denen Wahrnehmung, Bewusstsein, Verhalten und Handeln ganzheitlich zusammenwirken, noch genauer analysiert werden müssen. Als eine wichtige Station auf diesem Weg können immer noch die biosemiotischen Beobachtungen zur Wahrnehmung von Tieren und Menschen (z.B. einer »Sommerwiese«) von Uexküll (1909/1980) angesehen werden. Sie dokumentieren, dass schon bei Tieren die sogenannte »Merk-Welt« und »Wirk-Welt« über Bedeutungsgebung in unterschiedlicher Weise zu den je subjektiven Umwelten verbunden sind. Werden diese Beobachtungen nicht nur im Sinne traditioneller Hierarchievorstellungen von Mensch und Tier klassifiziert, sondern erkenntnistheoretisch analysiert, ergibt sich die klassische Frage: Wird der gattungsspezifisch höher eingestufte Mensch hinsichtlich seiner Wahrnehmungsfähigkeit als »Mängelwesen der Natur« (Gehlen) mit einer »tabula rasa« geboren und ist erst durch Ausbildung des Bewusstseins eine gestalthafte Wahrnehmung möglich oder ist auch der Mensch schon mit seiner Geburt mit bestimmten Konzeptformen ausgestattet, die sich dann in der symbolvermittelten Umwelt u.a. im Sinn von Cassirer weiterentwickeln? Kriz plädiert eindeutig für das letztere und verweist auf vielfältige Forschungsergebnisse – besonders im Rahmen der jüngeren Säuglingsforschung. Ein reichhaltiges Spektrum an solchen Konzeptformen – beispielsweise für »belebte« und »unbelebte Objekte« – gehört zur biologischen Grundausstattung des Menschen, die damit bezüglich angeborener Konzeptformen komplexer und differenzierter ist, als dies noch vor wenigen Jahrzehnten angenommen wurde. Werden diese Erkenntnisse mit Aussagen der Phänomenologie (u.a. Husserl), einer symbolischen Kulturphilosophie (u.a. Cassirer) und einer Kulturanthropologie verbunden, ergibt sich ein differenziertes Bild über die Voraussetzungen, durch die ein Mensch seine geformte (Um- bzw. Mit-)Welt wahrnimmt. Franz Bockrath geht auf Cassirer und dessen zentralen Begriff der »Form« einer Kulturwissenschaft näher ein, indem er ihn in Beziehung setzt zum Begriff der »Erfahrung«, die sich in unterschiedlichen Anschauungsbedingungen zeigen kann (als »Anschauliche Form«, »Formen der Anschauung« und »Formen ohne Anschauung«). Dabei entwickelt er die inhaltliche Aussage zunächst »anschaulich« im doppelten Sinne auf dem Hintergrund eines konträren Dialogs zwischen Schiller und Goethe, auf den sich auch Cassirer bei seiner Explikation des Formbegriffs bezieht. Konkreter Ausgangspunkt ist ein übermitteltes Gespräch der beiden nach einem Vortrag in Weimar hinsichtlich des »inneren Zusammenhangs« natürlicher
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Phänomene. Für Goethe kann dieser bereits durch genaues Hinsehen erfahrbar gemacht werden. Es sind für ihn anschauliche Formen, die sich z.B. bei Pflanzenanalysen aus der Entwicklung belegen lassen und letztlich auf eine hypothetisch vorausgesetzte »Urpflanze« hinweisen. Anders argumentiert der an Kant geschulte Schiller. Was Goethe »Erfahrung« in seinen Beobachtungen nennt, ist für Schiller eine »Idee«. Für ihn denkt Goethe mit den Augen. Trotz dieser offensichtlichen Widersprüchlichkeit beider Ausgangspunkte gibt es etwas, was beide wechselseitig als Mangel empfinden: So benötigt die Idee etwas Vermittelndes zur Erfahrung und die Erfahrung einen Bezug zu einem ordnenden Verstand. In einem zweiten Schritt hinterfragt Bockrath die Versuche Cassirers, diesen wechselseitigen Mangel durch bestimmte symbolische Formen der Anschauung aufzuheben und Erkenntniskritik als »Kritik der Kultur« zu begreifen. Aufgezeigt wird, wie Cassirer Erfahrungen und Gestaltungen als eigenständige Formen der Objektivierung auffasst, die in unterschiedlichen symbolischen Formen bedeutsam werden. Auf den ersten Blick scheint es, als ließe sich damit die Vermittlung unterschiedlicher Symbolwelten auf einen gemeinsamen geistigen Ursprung zurückführen, sofern jede symbolische Objektivation nach einem »selbstständigen Prinzip« hervorgebracht werde. Dies gelte für mythische, künstlerische und religiöse Bildwelten ebenso wie für mathematische Erkenntnisse. In all diesen Bereichen sei eine typische Weise des Hervorbringens erkennbar, bei der das Bewusstsein aus der bloßen Rezeptivität des sinnlichen Eindrucks heraustrete. Die Grenze dieses Zugangs zeigt sich für Bockrath jedoch spätestens dort, wo die Aktivität des Bewusstseins scheinbar ohne Bezug auf Gegebenes sich nur mit sich selbst beschäftigt. Dies zeigt sich u.a. in der mathematischen Zahl und logischen Form, wo der Geist ohne Vermittlung durch Sinnliches auskomme. Für Bockrath bleibt bei Cassirer daher die »Sinnerfüllung des Sinnlichen« letztlich dem kantischen »Ich denke« untergeordnet. In der logischen Selbstsetzung des Geistes werde zwar ein Höchstmaß an Objektivität erreicht, ohne allerdings zum »Sinnlichen – Anschaulichen« zu gelangen. Indem der philosophische Gedanke »wahrer wird, verzichtet er auf die Wahrheit« (Adorno). Dem gegenüber setze der von Cassirer verehrte Goethe bei seinem Zugang zu den Dingen der Natur und des Geistes auf die »anschauliche Erfahrung und Tätigkeit«, die nicht im geistigen Tun ihren Ursprung oder Abschluss haben. Damit stellt sich für Bockrath aber die Frage nach der Vermittlung zwischen dem Geistigen und dem Gegebenen neu, die bei Goethe nicht nur im Subjekt, sondern gleichermaßen in der ihm gegenüberstehenden »heteronomen Objektivität« (Adorno) aufzusuchen sei. Goethes – letztlich ergebnislose – Suche nach der »Urpflanze«, die durch »genaues Hinsehen« den »inneren Zusammenhang der natürlichen Phänomene« offenbare, wäre demnach als vorweggenommener Gegenentwurf zu Cassirers geistigem Prinzip der Formbildung zu verstehen. Auch wenn die Teilhabe an der »schaffenden Natur« aufgrund fehlender Anschauungen und
Einleitung
Vermittlungen eine unlösbare Aufgabe bleibe, bestehe doch die Aussicht, sich den eigenen Erfahrungen anzuvertrauen, anstatt einseitig am allgemeinen »Aufbaugesetz des Geistes« (Cassirer) festzuhalten. Um die »Ideen« vielleicht einmal mit den »Augen sehen« (Goethe) zu können, bedarf es der »geistigen Einheit« ebenso wie der »sinnlichen Mannigfaltigkeit« (Kant). Elk Franke nimmt die Erfahrungsfrage auf und grenzt sie auf das Verhältnis von Form und Bewegung ein. Auf den ersten Blick erscheint eine Antwort leicht, gibt es doch genügend anschauliche Beispiele aus der Kulturgeschichte (Militär, Turnen, einzelne Sportarten, Tanzen etc.), in denen die beobachtete Bewegungsform direkter Bewertung unterliegt. Schwieriger wird es, wenn man nach den Begründungen der qualitativen Bewertungen fragt. Analog zu Form-InhaltsAnnahmen in der Ästhetik wurde in einigen Bereichen (Militär, Turnen) lange unterstellt, dass von der Qualität der Ausführungs-Form auch auf bestimmte Inhalte, z.B. Charaktereigenschaften geschlossen werden kann, bzw. im Sinne einer unterstellten Wechselwirkung durch äußere Bewegungsformung auch innere Werteinstellungen (vor allem Sekundärtugenden wie Ordnung, Disziplin etc.) geschult werden könnten. Relevanter als diese inzwischen kaum noch vertretenen Auffassungen ist eine weitergehende Dimension der Relationsfrage, bei der nicht nach der Form der Bewegung, sondern der Bewegung als Form gefragt wird. Aus diesem Wortspiel ergibt sich eine erkenntnisrelevante Dimension, wenn gleichzeitig in Anlehnung an Cassirer unterstellt wird, dass wir uns »nicht nicht-geformt« bewegen können. Bewegungen finden danach nicht nur statt, haben nicht nur einen Ereignis-Charakter, sondern mit und durch Formungsbedingungen von Bewegungen kann auch Welt in spezifischer Weise erfahren werden. Anders als diskursive Symbole, die für etwas anderes stehen, z.B. das Wort für einen Gegenstand, sind körperliche Bewegungen zunächst Ausdruck ihrer selbst. Eine weitere Besonderheit der Form-Präsenz körperlicher Bewegungen ist die Zeitlichkeit, die in der Regel nur über einen Prozessverlauf im Raum erfahren werden kann, wobei der Rhythmus als ein spezifisches Formungsprinzip erscheint. Gleichzeitig kann sich dadurch, bei Anerkennung immanenter Formungsbedingungen im praktischen Mensch-Welt-Bezug, auch ein »reflexives Potential« in nicht-verbalen Bewegungsprozessen herausbilden. Dies gilt insbesondere immer dann, wenn es zu »Differenzerfahrungen« (Waldenfels) zu »Störungen« im Prozessverlauf oder dessen bildhafter Darstellung kommt. Hinsichtlich der Erfassung oder Rekonstruktion von Formungsbedingungen körperlicher Bewegungen galt lange Zeit der Film bzw. die Videoaufzeichnung als das geeignete Medium, um Bewegungen in ihrer Zeitlichkeit zu erfassen. Unklar bleibt bisher jedoch, inwieweit die analoge Wiedergabe einer körperlichen Bewegung auch die formrelevanten Kraft- und Wirkbedingungen des Bewegungsprozesses (Bergson) adäquat erfassen kann. Eine neue Dimension erhält die Rekonstruktion von Bewegungsprozessen durch die digitale Technik, auf die Franke ab-
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schließend eingeht. Durch sie werden nicht nur Bewegungen mimetisch in ihrer Formungsgestalt wiedergegeben, sondern es ergeben sich Möglichkeiten, den geformten Bewegungsprozess selbst bildhaft zu erfassen, die Bewegungs-Bild-Folge neu oder anders im Rückgriff auf eine Kalkül-Sprache zu gestalten und auf diese Weise zur geformten Vorlage weiterer Bewegungsabläufe werden zu lassen. Sabine Huschka vertieft in Ihrem Beitrag zum Bewegungswissen, bezogen auf Choreographie und Tanz, die Frage einer digitalen Erfassung von (zeitlichen) Bewegungsprozessen im (dreidimensionalen) Raum. Zuvor verweist sie auf die Deutungstradition zum Tanz als unmittelbar erlebbares Ereignis. Diese war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentlich geprägt worden durch eine Reihe von Autoren (Brandenburg, Schikowski u.a.). Tanz solle umfassend ergründet und als ein eigenständiges Ausdruckssystem begründet werden, um etwa als »reine Sprache des rhythmisch bewegten Körpers (Schikowski 1924, S. 127) zu gelten. Mit prägnanten Aussagen wie: im Tanz erfährt der Mensch den »sechsten Sinn« unmittelbar (Laban), durch ihn findet ein besonders anthropologisches Wissensfeld ihren spezifischen emphatischen Ausdruck, im Tanz bietet sich die Möglichkeit durch synästhetische Resonanzwirkung Subjekt-Objekt-Spaltungen aufzuheben etc., wurde der Tanz zu einem genuinen Deutungsobjekt. Die Folge war seine deutliche gesellschaftliche Aufwertung und Anerkennung als eines eigenständigen Kulturgutes, das das Geheimnis menschlicher Existenz in seiner besonderen vitalen, intuitiven und sensualistischen Natur in kulturalisierten Formen zum Ausdruck bringen kann. Huschka nennt es das »Sprachlos-Werden im Angesicht des Tanzes«, durch das das nonverbale Kommunikationsmodell unmittelbaren Verstehens von Tanzbewegungen etabliert wurde. Es galt als Spezifikum des Bewegungswissens im Tanz und prägte lange sowohl die zu erlernende Tanzpraxis im Sinne einer nur praktisch vermittelbaren Meisterlehre als auch die Tanzrezeption nach dem Muster: »Wenn die Sprache versagt, muss man tanzen« (Valery). Gegenüber diesen traditionsreichen Deutungsmustern fragt Huschka in einem zweiten Schritt nach den Möglichkeiten, die sich durch digitale Aufzeichnungssysteme ergeben könnten. Die Antwort ist die differenzierte Darstellung eines durch interdisziplinäre Kooperation von Philosophie, Neurowissenschaften, Computer science und Tanzwissenschaft entstandenes Konzept Synchronous Objects zur digitalen Erfassung von Bewegungswissen. Das besondere Augenmerk der Analyse liegt dabei auf den raumzeitlichen Strukturmerkmalen der Bewegungen. Im Zentrum stehen nicht die singulären, individuellen Bewegungsaufführungen. Vielmehr richtet sich das »analytische Auge« in Synchronous Objects vorrangig auf die raumzeitlichen Beziehungsfelder der einzelnen Tänzer und der Organisationsstrukturen, d.h. vor allem auf die dynamisch operierende Bewegungslogik eines Stückes. Der ausführlichen Analyse folgt ein perspektivisch kritischer Ausblick dieser zeitgemäßen Technologie für zukünftige choreographische Arbeit.
Einleitung
Sprach-Muster Georg Mohr geht zunächst ebenfalls von der traditionsreichen Vorstellung aus, wonach die Musik ein spezifischer Wahrnehmungsbereich ist, der sich durch »körpermediatisiertes, geformtes Wissen, das nicht zufällig und (doch) nicht-begrifflich ist«, auszeichnet. Offensichtlich erkennbar sind dabei zunächst »musikalische Strukturen«, die sich aus rhythmischen Strukturen von Tempo und Takt ergeben. Eine anspruchsvollere Wissens-Form zeigt sich jedoch erst dann, wenn auch die Fähigkeit erkennbar ist, Melodieverläufe nachzuvollziehen. Wobei aber auch unklar bleibt, ob diese kulturell vertrauten Muster, die man als »schwaches musikalisches Wissen« bezeichnen könnte, schon als »nicht-begriffliches Wissen« angesehen werden kann. Darüber hinaus ließe sich fragen, ob Musik eine eigene Sprache besitzt oder gerade als nicht-sprachlich anzusehen ist. Fragen, die bis ins 20. Jahrhundert durch Verweis auf die besonderen Charakteristika der Musik beantwortet wurden. Danach ist Musik nicht räumlich, stellt nichts Gegenständliches dar, entzieht sich begrifflicher Subsumption, hat keine Referenz und Semantik, kann aber Gefühle ausdrücken, entwickelt eine Art »Sprache der Gefühle« und gestaltet »ästhetische Ideen«, die sprachlich-begrifflich nicht erfasst werden können. Entsprechend lässt sich Musikwahrnehmung nach dieser traditionellen Sicht als »nicht-begriffliches Wissen« kennzeichnen. Für Mohr übersieht eine solche Schlussfolgerung jedoch, dass Musik bei ihrer Interpretation immer auf begriffliches Wissen angewiesen ist. Außerdem zeigt jeder Feuilletonartikel über ein Konzert, dass die dortige Darstellung »Hören als« (Sonate etc.) mit Bezug auf Klassifikationsformen der Musiksystematik das reale Hörereignis nur begrenzt wiedergeben kann. Dies bedeutet: Es ist ein dritter Zugang notwendig, wie ihn u.a. Nicolai Hartmann entwickelte. Danach ist Musik durch eine Einheit in der Aufeinanderfolge gekennzeichnet, wobei streng genommen dies keine Einheit, sondern eine Form darstellt, die sich jedoch nicht im sinnlichen Hören, sondern erst in der Synthese als musikalisches Hören ergibt. Wissen in der Musik zeigt sich daher für Mohr in drei Bedeutungen: (1) Wissen von »Außermusikalischem«, das durch Musik erkennbar wird (a) über einen semantischen Gehalt (Tonmalerei, Programmmusik etc.) und (b) über einen expressiven Gehalt (Gefühle, Zeiterfahrungen etc.) sowie (2) Wissen vom musikalischen Zusammenhang des Wahrgenommenen (Tonformen, Rondo etc.) Bezogen auf diese Wissens-Formen lassen sich abschließend mit Gruhn drei Ebenen des Musik-Verstehens unterscheiden: (1) die sinnlich erfahrbare klangliche Außenschicht einer musikalischen Gestalt, (2) das Beziehungsgefüge struktureller Innenschichten und (3) die Tiefenschichten des zu deutenden Gehalts, wobei sich zeigt: Es gibt keine strenge Dichotomie zwischen Wahrnehmung und Begriff. Elk Franke geht, angelehnt an die Vorstellung von Musik als einer eigenständigen Sprache, ähnlichen Bemühungen in der Kunst nach. Diese zeigten sich erst-
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mals in den konstruktiv-konkreten Kunstbewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Künstler wie Kasimir Malewitsch, Piet Mondrian, Theo van Doesburg und später Max Bill oder Richard Paul Lohse versuchten nicht nur die traditionelle nachahmende (mimetische) Kunsttradition zu überwinden, sondern entwickelten auch den Anspruch, die Kunst als ein Deutungssystem zu entwickeln, das die Welt nicht nur interpretiert, sondern auch mit eigenen Mitteln erklären kann. Im Mittelpunkt der Untersuchung Frankes stehen zwei Vertreter der sogenannten zweiten Generation konstruktiv-konkreter Künstler (Bill und Lohse), die sich von der Schweiz aus, nach dem abrupten Ende dieser revolutionären Kunstbewegung in Europa durch Stalinismus und Faschismus zwischen den 1930er – 1960er Jahren, um eine Bewahrung, Weiterentwicklung und Präzisierung zentraler Ideen der Gründergeneration bemüht hatten. Hilfreich für die Rekonstruktion ihrer kunstimmanenten Ansprüche sind dabei die umfangreichen Begleittexte und theoretischen Legitimationsversuche, die die konstruktiv konkrete Kunst seit ihren Anfängen kennzeichnet. Insbesondere die beiden »Zürcher Konkreten« Bill und Lohse versuchten, die vielen Einzelaussagen zur Bedeutung geometrischer Formen und immanenter Farbkompositionen in ein umfassendes »System« zu integrieren. Im Sinne einer »Grammatik der Kunst« sollte die Kunst die Welt nicht mehr nur in mimetischer Weise durch Farben und Stilrichtungen unterschiedlich abbilden, sondern in eigenständiger Weise eine erklärende Aussage machen. Im Rückgriff auf minimalistische Formen (Rechteck, Dreieck, Linie etc.) und mit einer systematischen Farbpalette versuchte vor allem Paul Lohse, für die bildende Kunst ein spezifisches Form-Farben-System zu entwickeln. Den Weg dazu zeichnet Franke zunächst nach, indem er sich vor allem auf selbsterklärende Texte der Künstler bezieht, bevor er abschließend die selbstkritische Frage stellt, ob ein solches, als »Grammatik der Kunst« verstandenes Formen-Farben-System als (syntaktische) Grundlage auch den vielfältigen (semantisch-pragmatischen) Ausdrucksmöglichkeiten einer Kunst entspricht und den Erwartungen von Kunstrezipienten entsprechen kann.
Ordnungs-Praxen Jörg Potrafki, Europameister in der japanischen Kampfkunst Kendo, beschreibt unter Verweis auf deren Geschichte als Schwertkampf des Mittelalters dessen Entwicklung vom Kampf um Leben und Tod zu einer Kampf-Kunst mit strengen Bewegungs-Formen und Regeln. Entscheidend sind dabei im Fechtkampf mit Bambusschwertern die Beachtung des richtigen Augenblicks und der richtigen Technik. Das Ziel ist im Rückblick auf die Tradition, den Gegner möglichst an Kopf, Rumpf, Unterarme oder Kehle – alles lebenswichtige Zentren, die inzwischen gut geschützt sind – zu treffen. Die Erinnerung an die einst tödliche Wirkung
Einleitung
bestimmt bis heute die Ernsthaftigkeit der körperlichen Auseinandersetzung. In jahrzehntelanger Übung der immergleichen Bewegungs-Formen sind die kulturellen Einflüsse des Zen-Buddhismus auch in der Gegenwart des Kendo auffindbar. Kendo ist dadurch nicht nur eine perfektionierte Fertigkeit, sondern Ausdruck eines bestimmten Lebensweges. Durch die Aneignung und Ausübung bildet sich ein persönlicher Stil heraus, bei dem bestimmte Erfahrungen lebenslang eingelagert werden. Auf diese Weise entsteht eine inkorporierte Struktur, die über Millionen von Schlägen trainiert und verfeinert wird. In der dafür notwendigen LehrerSchülerbeziehung gibt es immer ein übergeordnetes Ziel: die Form beherrschen und den Inhalt verstehen. Henning Eichberg erinnert in seinem Beitrag zum Spiel an einen wesentlichen Aspekt, der auch in anspruchsvollen Definitionen oft übersehen wird: die Neugier. Durch sie erhält ein Spiel für Eichberg häufig erst seinen tieferen Sinn. Nach einem kurzen Überblick über die Tradition der Spielexplikationen skizziert Eichberg in drei Schritten den qualitativen Aspekt spielerischer Neugier. Von wesentlicher Bedeutung für eine Analyse spielerischer Neugier erweist sich das Labyrinth. Noch auf dem Turnplatz der Frühphase der Turnbewegung zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Hasenheide in Berlin war es als »Wendekreis« erkennbar und galt als eine kreative Herausforderung für bestimmte Handlungen und Entscheidungen. In anderen Kulturen besitzt die spielerische Neugier eine tiefere Bedeutung. So verweist Lin Yutang in seiner Chinesischen Phänomenologie des Lebens darauf, dass es zum wesentliches Merkmal des Meschen gehört, im Spannungsverhältnis von Langeweile und Traum, so etwas wie spielerische Neugier entwickeln zu können, durch die letztlich menschlicher Fortschritt erst möglich wird. Eine philosophische Bedeutung erhält die Diskussion über die spielerische Neugier durch Friedrich Nietzsche in Also sprach Zarathustra mit Verweis auf die Widersprüchlichkeit des Lebens (Trauerspiele, Stierkämpfe, Hohngelächter etc.). Entscheidend ist dabei, dass sich die Neugier immer nur aus der Bereitschaft zum Fragen, zum Infragestellen bekannter Formen ergibt, was in einer Welt, die oft schneller Antworten präsentiert, als dass das Fragen zu weiteren Fragen führen kann, eine wichtige Erkenntnis ist. Spielerische Neugier ist demnach die permanente Bereitschaft zu Fragen in einer Zwischen-Welt, die sich aus der Dialektik des Spiels ergibt.
Grenz-Markierungen Maud Hietzge geht zum Abschluss des Bandes auf die Ausweitung und Aufwertung neurowissenschaftlicher Erklärungsversuche für komplexe gesellschaftliche, kulturelle und vor allem pädagogische Praktiken ein. Dabei spannt sie den Bogen von der Kritik an einem neurodidaktischem »Rezeptwissen« über Detailergebnis-
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se sogenannter mental Imaging-Verfahren zu aktuellen integrativen Möglichkeiten der Philosophy of Cognition. Insbesondere durch die dort erkennbare Reintegration phänomenologischer und neurowissenschaftlicher Ansätze gelingt es, die eingangs skizzierten rezeptartigen Pauschalaussagen zu vermeiden sowie interaktive Deutungsmuster relevanter Praktiken zu entwickeln. Kennzeichnend für diese ist, dass sie auf jede Art von direktem oder indirektem Geist-Körper Dualismus bzw. Parallelismus verzichten. In Beispielen aus Bewegungspraxen z.B. des Sports und unter Bezug auf Erkenntnisse zum Körperwissen (Polanyi, Schatzki, Schön, Hirschauer) zeigt Hietzge abschließend, welche weitreichenden Analysen und qualitativen Rechtfertigungen von Bildungsprozessen u.a. durch Bewegungsformen – im Unterschied zu den sich oft selbst überschätzenden, eingangs skizzierten, neurowissenschaftlichen Deutungsangeboten – möglich werden. Wobei sich die Philosphy of Cognition als ein sinnvoller Referenzrahmen erweist, um angemessene Verbindungen zwischen Neurowissenschaft und Erziehungswissenschaft erkennbar werden zu lassen.
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen Elk Franke
Einleitung Wer über Voraussetzungen einer Kulturtheorie sprechen möchte, steht schon zu Beginn vor der zentralen Frage nach dem Gegenstand, auf den sich die Theorie beziehen soll. »Was aber ist Kultur?« (Böhme 2007, S. 37). Die Antwortversuche reichen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts zurück, seitdem es unterschiedliche Ansätze in den Geistes- und später Sozialwissenschaften gab, eine eigenständige Kulturwissenschaft zu begründen.1 »Kultur« bezogen auf seine Bedeutungswurzel ist nach Dieter Henrich zunächst »aus dem Gegensatz zur ›Natur‹ zu verstehen. Kultur ist dann alles, was aus einer menschlichen Tätigkeit hervorgeht, mit der irgend etwas Vorgegebenem eine Gestalt verliehen wird, die es nicht aufgrund von Naturbedingungen von selbst annimmt« (Henrich 2006, S. 24). Der Begriff »Kultur« ist danach sowohl eine gestalthafte Substanz, der wir materiell begegnen können, als auch ein menschliches Vermögen, »das heißt sowohl als einer eingeübten und eingelebten Fähigkeit, sich gekonnt und geschickt durch die Aufgaben des Lebens zu bewegen, als auch eines Bestands an Erfahrung, Wissen, Vorstellungskraft und Technologie, den es zu bewahren, fördern und zwischen den Generationen weiterzugeben gilt« (Hörning 1999, S. 85). Dabei ergibt sich ein »historisch dynamische Ensemble symbolischer Ordnungen und materieller Praktiken […], (die) eine Gesellschaft zu ihrer Selbstpositionierung im Zusammenhang ihrer Geschichte und im Kontext anderer Gesellschaften zum Zweck ihrer normativen (werthaften, moralischen), kognitiven und politischen Orientierung ›konstruiert‹, ›aushandelt‹ und mit Verbindlichkeit versieht« (Böhme 2007, S. 37). Wie die Facetten dieser Begriffsexplikationen erkennen lassen, gibt es nicht »die Kultur«, von der noch erste Kulturtheorien mit Verweis auf ethnologische und normative Inhaltsverweise glaubten ausgehen zu können. So hat sich in den letzten 1
Vgl. dazu u.a. Jaeger, F./Liebsch, B./Straub, J./Rüsen, J. (2004), Därmann, I./Jamme, C. (2007). Hörning, K.H./Reuter, J. (2004), Hörning, K.H./Winter, R. (1999).
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Jahrzehnten immer deutlicher gezeigt, dass die Suche nach eingegrenzten bzw. sich wechselseitig abgrenzenden Systemen mit spezifischen Werten, Kategorien und Ordnungsmustern, die das Leben bestimmter Gruppen und Gesellschaften zur Kennzeichnung einer bestimmten Kultur prägen, wenig hilfreich ist. Dazu wohnen die Menschen inzwischen in zu unterschiedlichen sozialen Welten und Kontexten, als dass diese unter einer Kennzeichnung als singuläre Kultur subsumiert werden könnte. Kultur ist immer weniger über bestimmte Werke, Güter oder normierte Handlungsmuster bestimmbar. Sie zeigt sich eher als ein Prozess, dem man eine kulturelle Bedeutung zuschreibt, wobei bisher im Fachdiskurs noch umstritten ist, wodurch sogenannte »kulturelle« Praktiken ihre spezifische, identifizierbare und wiedererkennbare Bedeutung erhalten.
1.
Kultur als symbolischer Prozess
Die moderne Vorstellung von Kultur, nicht als Zustand, sondern als Prozess ist u.a. eng mit dem Namen Ernst Cassirer verbunden. Zwischen 1923 und 1929 veröffentlichte er ein dreibändiges Werk unter dem Titel »Philosophie der symbolischen Formen«, in dem ein funktionaler Kulturbegriff entwickelt wird. Durch ihn gelingt Cassirer eine Ablösung vom noch vorherrschenden deterministischen und moralischen Substantialismus und ein Plädoyer für einen im Sinne von Leibniz, Humboldt oder Herder angenommenen nicht-deterministischen Prozess von MenschWelt-Beziehungen. Im Bemühen um ein solches prozesshaftes Kulturverständnis hatte Cassirer Vorläufer und Mitstreiter. Schon 1871 verweist der anglo-amerikanische Ethnologe B. Tylor, noch geprägt durch ein holistisches Paradigma, darauf, dass Kultur immer verstanden werden muss als »jenes komplexe Ganze, welches Wissen, Glauben, Kunst, Moral, Recht, Sitte und alle weiteren Fähigkeiten und Gewohnheiten umfasst, die ein Mensch als Angehöriger einer Gesellschaft erworben hat« (Tylor 1963, S. 33). Was sich bei Tylor schon andeutet – ein Kulturverständnis, in dem Symbole nicht nur eine Kennzeichnungsbedeutung, sondern immer auch eine Strukturierungsfunktion haben – wird zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Wilhelm Dilthey und Max Weber weiterentwickelt. So kennzeichnet Dilthey (1983, S. 53f.) die Kultur als ein Netz von Symbolismen, worunter er sowohl Symbolsysteme als auch Wertprinzipien versteht, die durch die geschichtlichen Entwicklungen einer Gesellschaft in unterschiedlichen sozialen Kontexten verschiedene Wirkungszusammenhänge ausbilden, wobei kulturelle Intentionen die erkennbaren Manifestationen dieser symbolischen Ordnungsstrukturen darstellen. Für Weber ist »der Begriff Kultur […] ein Wertbegriff. Die empirische Wirklichkeit ist für uns ›Kultur‹, weil und sofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen, sie umfasst diejenigen Bestandteile der Wirklichkeit, welche durch jene Beziehung für uns bedeutsam
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
werden, und nur diese«. (Weber 1985, S. 175). Dabei zeigte sich kulturelle Praxis in der Spannung zwischen »Sinn« und »Form«, »Sozialgeschichte« und »Sinngehalt« in zweifacher Weise, wie Eckart Pankoke betont: »Zum einen ging es um das Ausdrucksvermögen, sozialen Sinn durch Form und Stil zu (re)präsentieren, zum anderen ging es um die Fähigkeit, in den Ausdrucksformen des Sozialen den damit gemeinten Sinngehalt als deren ›Kulturbedeutung‹ zu interpretieren, zu kommunizieren und zu reflektieren« (Pankoke 2004, S. 23). Dilthey und Weber verweisen damit auf ein kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm, in dem die Sinngebung und die Bedeutungsbildung von und in Kulturvorgängen analysiert werden. Anders als Weber und Dilthey, für die Kultur sich letztlich immer erst durch und über die Werthaftigkeit von Werken oder Prozessen manifestiert, verweist Cassirer in seiner Auseinandersetzung mit der bisherigen Kulturtradition auf die Dialektik zwischen dem symbolischen Prozess und die dadurch sich ergebenden WerkFormen. Wobei »nicht das Werk in dessen beharrender Existenz des schöpferischen Prozesses erstarrt, sondern das ›Du‹, das andere Subjekt, das dieses Werk empfängt, um es in sein eigenes Leben einzubeziehen und es damit wieder in das Medium zurückverwandeln, dem es ursprünglich entstammt« (Cassirer 1962, S. 110). Der Verweis auf das »andere Subjekt« gilt dabei nicht nur anderen Individuen, sondern auch Institutionen oder Epochen. Von zentraler Bedeutung sind in diesem Prozess für Cassirer die symbolischen Formen, die sich in Werken manifestieren können. Als »Werke der Sprache, der Dichtung, der bildenden Kunst, der Religion werden sie zu ›Monumenten‹, zu den Erinnerungs- und Gedächniszeichen des Menschen« (Cassirer 1962, S. 126). Für Oswald Schwemmer bereitet Cassirer durch die Hervorhebung der symbolischen Formen die performative Wende in der Kulturtheorie vor, da jene nicht einfach »als Verwirklichung von bereits Gedachtem oder Interpretiertem zu sehen sind, sondern sich aus dem Wechselverhältnis von Welt und Bewusstsein, von historischer und materieller Weltwirklichkeit auf der einen und dem Ausdruckwillen in und durch Formen auf der anderen Seite ergeben« (Schwemmer 2004, S. 680). Dies zeigt sich auch, wenn man die bei Cassirer angelegten Wahrnehmungsvorstellungen genauer analysiert: »Wir sehen sozusagen durch die Brille unserer Bildwelten hindurch, was wir sehen. Wir hören durch die Werke unserer Tonwelten […] was wir hören. Was wir überhaupt artikulieren, ist eingebettet in das, was schon artikuliert worden ist. Unsere ganze geistige Existenz ist eingebettet in symbolische Welten« (Schwemmer 2004, S. 683).
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Durch Verweis auf diese wechselseitige Verflochtenheit von Wirkverhältnissen und Symbolbedingungen versucht Cassirer eine Kulturtheorie zu skizzieren, in der die traditionellen Differenzen zwischen Subjekt/Objekt, Ereignis/Form, Materie/Symbol mit Verweis auf unhintergehbare Formungsbedingungen überbrückt werden könnten.2 Für Christoph Jamme (2004) ist Cassirers Oeuvre durch die damit erkennbare Ausweitung der Kulturwissenschaft auf eine symbolische Kulturanthropologie bahnbrechend für die folgenden Jahrzehnte. Dies zeigt sich u.a. auch in der Feststellung von Ralf Konersmann (2000), der in Bezug auf den aktuell diskutierten »culture turn« vorschlägt, den »Titelbegriff des culture turn, eben die Kultur […] nicht als ein Generalsubjekt (zu verstehen). Statt eine stabile Ordnung von Sinnbeständen bereitzuhalten, bildet Kultur […] ein Aggregat ›selbstgeschaffener intellektueller Symbole‹. Bedeutung heißt nun stets: Genese von Bedeutung« (Konersmann 2000, 8./9.4.). Mit dem Hinweis auf die Genese der Bedeutung thematisiert Konersmann einen Aspekt, der sich über die bisher skizzierten, symbolischen Kulturvorstellungen hinaus in den letzten vier Jahrzehnten weiterentwickelte. Wegbereiter waren es dabei neben Ludwig Wittgenstein mit seiner »Gebrauchstheorie« der Bedeutung (1967) und der damit verbundenen Ausweitung des Sprach-HandlungsParadigmas u.a. Umberto Eco (1990) sowie im Bereich der Kultur-Semiotik vor allem Clifford Geertz (1983) und im Sinne performativer Praxisanalysen Pierre Bourdieu (1976,1993, 2001).
1.1
Symbolbestimmte Theorie sozialer Praxis
Für Geertz (1983) werden Symbole im kulturellen Kontext vor allem über die empirisch erfassbare Seite realer Tätigkeiten bedeutungsvoll, wodurch sich die Möglichkeit ergibt, sie durch Bezug auf konkrete Praxisbezüge zu analysieren. Eine Annahme, die insbesondere auf dem Hintergrund des später noch genauer zu bestimmenden Verhältnisses von Ereignis und symbolische Form diskussionswürdig ist. Denn nach alltagsweltlichen Erfahrungen ist es nicht ausgeschlossen, dass sich gesellschaftliche Verhältnisse ändern, während ihr Symbolsystem vielleicht (noch) unverändert bleibt, bzw. solange sich nicht ändert, bis die tradierten Symbole als unpassend oder sinnlos wahrgenommen werden. Mit seinem Konzept der »dichten Beschreibung« versucht Geertz, eine solche mögliche Differenz zu verringern und die Grenze zwischen der symbolischen Präsentation und den Aktionsinhalten über detailreiche Beschreibungen zunehmend zu verkleinern. Gleichzeitig ergibt
2
Obwohl bei Cassirer leicht der Eindruck entstehen kann, in Forschungsprozessen habe das »Geistige« eine prägende Funktion, schreibt er der Erfahrung in praktischen Prozessen eine zentrale Rolle zu. Vgl. dazu Bockrath, F. (2014, 342f.), Margreiter, R. (1999, S. 1115f.), Schwemmer, O. (1997a, S. 239f.)
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
sich dadurch die Möglichkeit, soziale Praxen als Interpretationsprodukte zu bestimmen. Geertz nimmt damit eine Position ein, die schon von Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen vorbereitet wurde, wenn er darauf hinweist, dass unsere Wahrnehmung immer ein symbolvermittelnder Interpretationsprozess ist. »Das ›Sehen‹ eines Bildes schließt also immer eine ganz bestimmte Auswertung desselben in sich: Wir sehen es nicht in der Art an, wie es sich unmittelbar gibt, sondern wir stellen es in den Kontext der räumlichen Gesamterfassung ein und geben ihm hierdurch erst einen charakteristischen Sinn« (Cassirer 1994 Bd. III, S. 181-182.) Es ist dann Pierre Bourdieu, der durch die Verknüpfung von Sprache und körperlicher Tätigkeit unter dem Begriff »soziale Praktiken« den kulturtheoretischen Diskurs wesentlich erweitert. Ausgangspunkt für Bourdieus Arbeiten ist u.a. seine Kritik an der theoretischen Vernunft der (Sozial-)Wissenschaften, die traditionell davon ausgehen, dass die von ihnen entwickelten Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Praxis auch den Bedingungen sozialer Praxis entsprechen. Dabei wird in der Regel übersehen, dass die soziologische Wissenschaft mit ihrem wahrheitsrelevanten Erkenntnisanspruch von Voraussetzungen ausgeht, die denen der Alltagspraxis nicht oder nur begrenzt entsprechen. Erst aus der Differenz zwischen wissenschaftlichem Wissen und alltäglichem Wahrnehmen und Handeln ergeben sich für Bourdieu die besonderen Bedingungen einer praxeologischen Theorie der Praxis. Gesellschaftliche Praxis gehorcht einer spezifischen praktischen Logik, die Bourdieu als universell gültige (Bourdieu 1993, S. 157f.) analysiert. Sie stellt keine intellektuelle Konzept-Logik der Praxis dar, sondern eine genuin eigenständige Praxislogik. Sie kann weder am Anspruch der Wissenschaften gemessen werden, noch ist sie ihnen gegenüber defizitär. Spezifisches Merkmal »Sozialer Praxis« ist die Zeitlichkeit, woraus sich Dringlichkeit, Selektionszwang, Irreversibilität etc. in gesellschaftlichen Zwängen und Zwecksetzungen ergibt, für die die auf Wahrheit und Zeitlosigkeit ausgerichtete Wissenschaftslogik keinen Raum bietet. Dieser »Logozentrismus« der »scholastischen Philosophie«, wie Bourdieu die Dominanz der Wissenschaftslogik nennt, ist der »blinde Fleck« traditioneller sozialwissenschaftlicher Aufklärungs-Philosophie. Soziales Handeln fundiert sich dagegen für ihn immer in einem praxisgenerierenden Dispositionssystem, dem Habitus, eingebunden in sozial differente Felder. Entsprechend geht es bei einer Analyse sozialer Praxis vorrangig darum, die Genese von Handlungen, die »Vernünftigkeit« des »praktischen Sinns«, der Ausdruck habitueller Dispositionen ist und den Handlungen Sinn verleiht, zu erschließen: »Wer über eine praktische Kompetenz verfügt […], ist im Hinblick auf Wahrnehmung und geordnete Formulierung dessen, was wirklich seine Praxis regelt, nicht bessergestellt als der Beobachter, der ihm voraushat, die Handlung von außen wie
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ein Objekt erfassen und vor allem die aufeinanderfolgenden Realisierungen des Habitus aus einer Gesamtsicht betrachten zu können« (Bourdieu 1993, S. 165) Diese Deutung signalisiert in zweifacher Weise eine Ausweitung sozial- und kulturwissenschaftlicher Forschung. Da das Soziale als inkorporierte Struktur aufgefasst wird, ergibt sich für Bourdieu die Möglichkeit, die Dichotomie von Subjektivismus und Objektivismus zu überwinden. Gleichzeitig erscheint die soziale Praxis nicht als die zweistufige Umsetzung subjektiver Handlungsmotive in reale Tätigkeiten, sondern diese erhalten ihren Sinngehalt in der Praxis selbst – die dadurch als Praxis auch für einen externen Beobachter erschließbar wird. Woraus sich wiederum die Möglichkeit ergibt, die »Logik der Praxis« empirisch zu rekonstruieren. Auf diesem praxistheoretischen Hintergrund, der hier nur angedeutet werden kann, ist es verständlich, warum Bourdieu, belegt durch eigene Studien, auch zum Wegbereiter und Sachverwalter einer längst überfälligen, empirisch überprüfbaren Praxisforschung in den Sozial- und Kulturwissenschaften werden konnte.3 Er entwickelt einen Deutungsansatz, der verspricht, die Vielfalt sozialer Praxis, wie impliziten körperlichen Wissensbedingungen, nicht-verbalen Handlungsmustern oder elaborierten Sprachsequenzen, situationsangemessen und empirisch transparent, über ein interpretatives Verfahren, erfassen zu können. Es ist ein Konzept, das vorgibt, bisher nur schwer bestimmbare Gegenstände sozialer Praxis wie pädagogisches, berufliches oder freizeitrelevantes Handeln besser analysieren zu können.4 Bemerkenswert ist, dass sich innerhalb dieser allgemeinen, durch Bourdieu wesentlich beeinflussten, kulturtheoretischen Entwicklungen in letzter Zeit eine nicht unproblematische Akzentverschiebung in der Bedeutungsbestimmung kultureller Praktiken erkennen lässt. Sie ist gekennzeichnet durch eine Kritik an den angeblich immer noch strukturalistisch bestimmten Konzepten und der symbolischen Konnotation sozialer Praktiken im Analysekonzept Bourdieus.5 Daraus leitet sich die Forderung nach einer kleinschrittigen, empirisch bestimmbaren Interpretation konkret erfahrener sozialer Praxis ab: »Was zunächst eher als loses Bündel von Ansätzen eine analytische Neuausrichtung der Kultursoziologie anstieß, formt sich gegenwärtig zu einem eigenständigen Paradigma, zu einer ›Praxiswende‹ aus (Schatzki/Knorr Cetina/von Savigny 2001)«, stellen Hörning/Reuter (2004, S. 10) in ihrem Überblick zu neuen Positionen in der Kulturwissenschaft fest. 3 4
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Vgl. dazu Wulf, C./Althaus, B./Audem, K. u.a. (2004), Müller, H.R. (2017). Übersehen wird dabei häufig Bourdieus klare Selbstbeschränkung, die insbesondere relevant wird, wenn mit Bezug auf die Logik der Praxis eine Theorie der Praxis (nicht aus Teilnehmer- sondern aus Beobachtersicht) entwickelt wird: »Die Logik der Praktik besteht darin, nicht weiter als bis zu jenem Punkt logisch zu sein, ab dem die Logik nicht mehr praktisch wäre« (Bourdieu, P. 1992, S. 103). Vgl. dazu auch Schulze-Schaefer; J. (2004, S. 108–126) Vgl. u.a. Volbers, J. (2014)
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
Durch die damit verbundene einseitige Akzentverschiebung auf die Performanz in Kulturanalysen und Fokussierung auf die konkret beobachtbare Praxis, mit ihren vielfältigen Mensch-Welt-Beziehungen, kommt es einerseits zu einer begrüßenswerten Ausweitung des Forschungsprofils. Neben den verschiedenen Formen der Inszenierung von Wirklichkeit (Events, Spektakel, Fiktionen etc.) rücken auch – in Erweiterung des noch genauer zu besprechenden »Wissens«-Begriffs – nicht-verbale körperrelevante anthropologische Bedingungen in den Mittelpunkt der Analysen. Andererseits hat diese deutliche Betonung allein der Performativität kultureller Praxis auch dazu geführt, dass sich kulturwissenschaftliche Untersuchungskonzepte entwickelten, die, zur Vermeidung sogenannter »scholastischer« Vorannahmen, davon ausgehen, soziale Praktiken ausschließlich in ihrer beobachtbaren Form als Praxismuster deuten zu können. Dabei wird unterstellt, dass ohne Bezug auf mögliche Strukturvorgaben durch mikrosoziologische Beobachtungen einzelner perspektivisch bestimmbarer Akte aus Teilnehmersicht die spezifische Praxislogik bestimmt werden kann – mit der expliziten Annahme: Die Theorie der Praxis ist die Praxis.
1.2
Theorie der Praxis – ist die konkrete Praxis?
Zur Einschätzung dieser zugespitzten Forderung erscheint es sinnvoll, noch einmal auf die kritischen Positionen zu verweisen, die zur Entwicklung performativer Praxisforschung geführt haben: (1) Die handlungstheoretische Annahme, wonach soziale Praxis sich über die Rekonstruktion der Mentalität der tätigen Subjekte, über ihre kognitiv-intentionalen Handlungsvorgaben bestimmen ließe. (2) Die Beachtung kontextloser struktureller Basisannahmen zugunsten genauerer Analysen der Voraussetzungen, die als Bedingungen der Möglichkeit von Praxis die soziale Praxis (mit)bestimmen. Die Relativierung bzw. Ignorierung dieser beiden Annahmen traditioneller Kulturforschung zugunsten einer möglichst genauen Beschreibung des situativ bestimmten Tuns, hat inzwischen zu einer Entwicklung geführt, die als »doing culture« bezeichnet wird. »Doing culture steht als Sammelbegriff für das ›Dickicht‹ der pragmatischen Verwendungsweise von Kultur: doing gender, doing knowledge, doing identity oder doing ethnicity sind nur einige von zahlreichen Beispielen« (Hörning, K.H./Reuter, J. 2004, S. 10). In bewusster Abwehr und zur Vermeidung jeglichen Verdachts, strukturalistische Theorien oder intellektuelle Konstrukte gegenüber der Materialität praktischer Realisierung wirkmächtig erscheinen zu lassen, ergibt sich dabei z.T. eine extreme Theorievorstellung. »Die Praxis wird über die Theorie gestellt: Auch Theorie ist primär Praxis« (ebd. S. 14). Orientiert an der Dichotomie von induktiv –
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deduktiv, subjektiv – objektiv, kognitiv – performativ etc. gehen Anhänger dieser extremen Praxistheorien davon aus, die Bedeutung sozialer Praxis allein aus den situativen Bedingungen der Praxis selbst bestimmen zu können: »Praxistheorien erkennen die ›Praxis‹ beziehungsweise ›Bündel‹ oder ›Komplexe‹ (Shove u.a. 2012), ›Ensemble‹ (Reckwitz 2003) oder ein ›Plenum‹ (Schatzki 1996) von zusammenhängenden ›Praktiken‹ als theoretische Basiseinheiten von Vergesellschaftung an. Praktiken ordnen demnach die soziale Welt und verhandeln das, was in anderen soziologischen Ansätzen als Struktur oder Ordnung bezeichnet wird, in der körperlich-materiellen Durchführung und in der Aktualisierung von inkorporierten, kollektiv geteilten (Wissens-)Ordnungen (Schmidt 2012)« (Klein/ Göbel 2017, S. 17). Ausgehend von dem Anspruch, theoretische Vorannahmen zu vermeiden, seien sie definitorisch, normativ oder ontologisch, wird eine praxeologische Forschung angestrebt, in der Dinge oder Subjekte nur in ihrer vollzughaften und gegenwärtigen situativen Erzeugung bestimmt und erfasst werden. (vgl. Schmidt 2012, S. 31ff). Ein wesentlicher Grund für diese radikale Praxisorientierung liegt u.a. im Bemühen, den Anschein einer »Intellektualisierung« bei der Erfassung der realen Praxis zu vermeiden. Für die Erfassung der Praxis bedeutet das, dass sie immer am praktischen Sinn des Geschehens anzusetzen hat, wie er sich im empirischen Vollzug selbst manifestiert.6 Die Folge davon ist, dass auch die gegenstandsbestimmenden Strukturen von Dingen bzw. deren Materialität nicht nur in den Hintergrund treten, sondern in sozialer Praxis oft nur noch über ihre praxisrelevante Wirksamkeit als selbsttätige »Kommunikationsmedien« (Hirschauer 2004) erfasst werden. Ähnliches gilt auch für die Subjektbestimmung in sozialer Praxis.7 Um alle Formen traditioneller intentionaler Subjektvorstellungen zu vermeiden, wird die Subjekthaftigkeit eines »Irgendjemand« dadurch erreicht, dass er die Anerkennung als eines »mitspielfähigen« Akteurs erhält in Bezug zu historisch kontingenten Subjektformen (des Lehrers, Wissenschaftlers, Kindes etc.), die er sich »anbequemen« muss auf der Basis spezifischer Wissensordnungen und kultureller Codes (Reckwitz 2006). Dieses bewusste Bemühen, die soziale Welt nicht nur bis in das Profane des Alltags als Beleg für kulturelle Praxis zu kennzeichnen, sondern dabei auch zu unter6
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Hirschauer, St. (2004, S. 89): »Kulturelle Praktiken sind die Eingeborenen in der großen Population von Aktivitäten, d.h. sie brauchen unsere Theorien nicht, um glücklich und zufrieden zu leben. Anders als die Praxis, die die frühe Soziologie ihrer Aufklärung bedürftig fand, lassen uns die Praktiken allein mit unserem seltsamen Faible zu ihrer Erforschung […] Theorien der Praxis können gelassen auf ihre empirische Relativierung eingestellt sein«. Die zentrale Frage ist dabei, inwieweit es gelingt, zur Vermeidung eines »konstituierenden Subjekts« Subjektformen zu entwickeln, die sich allein aus situativen Erfahrungen konstituieren. Vgl. dazu Alkemeyer, T. (2017), Alkemeyer, T./Bude, G./Freist, D. (2013)
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
stellen, deren Bedeutung müsse insbesondere aus der beobachteten Praxis selbst erschlossen werden, zeigt ein Missverständnis, auf das Bourdieu immer wieder hinwies. Es ergibt sich, wenn nicht der Unterschied zwischen Erfahrungen des Habitus und den regelhaften Voraussetzungen des Habitus beachtet wird, insbesondere, wenn man z.B. »nicht mehr die Hochzeit, sondern Hochzeiten untersucht« (Bourdieu 1983/1992, S. 101). »Aus diesem Grund weisen die vom Habitus erzeugten Verhaltensweisen auch nicht die bestehende Regelmäßigkeit des von einem normativen Prinzip geleiteten Verhaltens aus: Der Habitus ist aufs engste mit dem Unscharfen und Verschwommenen verbunden […] (so muss) die Praktik ihrer Tendenz nach um so stärker kodifiziert (sein), je gefährlicher die Situation ist […] Hier läßt sich denn auch ein hoher Grad an Formalisierung der Praktiken feststellen […] um so notwendiger ist es, durch Formgebung zu entschärfen […] Kodifizieren, das heißt, im Akt der Formgebung zugleich zu entschärfen. Der Form eignet eine besondere Qualität. Kulturelle Beherrschung ist auch immer eine Beherrschung der Formen« (Bourdieu 1983/1992, S. 101).8 Wird diese wechselseitige Verflochtenheit von situativ geprägten Praktiken und ihren unterschiedlich geformten, regelgeleiteten Voraussetzungen nicht als eine dialektische Aufgabe angesehen, ergibt sich eine einseitige Kulturanalyse, wie Hörning betont: »Doch je ernster, radikaler sie die Kontexte nehmen, je mehr sie von ›innen heraus‹ argumentieren, desto problematischer wird der Begriff des situativen ›Kontexts‹, der allzu leicht die Stabilität kultureller Formen vergessen läßt, die Eingang und praktischen Ausdruck in den partikularen Kontexten finden. Allzu voreilig wird das Besondere, das Vermischte (neuerdings das ›Hybride‹) zum Ort der Freiheit, zum Paradies stilisiert. Dagegen kann meiner Ansicht nach nur eine kulturtheoretische Reflexion weiterhelfen, die den Ort der Freiheit oder die Entfremdung bzw. Entwurzelung nicht im jeweiligen Gebrauchskontext lokalisiert, sondern vielmehr ›zurückverlegt‹ in die Geschichte und Stabilität eingelebter Praktiken und der ihnen unterliegenden Wissens- und Kontextformen« (Hörning 1999, S. 89). Auf diese Weise soll die Gefahr einer Erforschung kultureller Praxis vermieden werden, die »allzu leicht zu einem Relativismus (führt), der von Situation zu Situation eilt und ein dauerhaftes kulturelles Feuerwerk inszeniert, ohne die ›strittigen Historizitäten‹ (Clifford) zu berücksichtigen. Diese liegen meiner Ansicht nach in der Konstruktionsgeschichte der Praktiken […] (Dort) liegt also die Stabilität der kulturellen Form (Her. v. E. Franke), die in der jeweiligen Handlungssituation ihren Einsatz findet […] Ausgerüstet mit diesem meist impliziten kulturellen ›Gepäck‹, 8
Vgl. zum Begriff des »Habitus« vor allem Krais/Gebauer (2002).
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verfügen Individuen über die Fähigkeit, zu einer mehr oder weniger ›intelligenten Praxis‹ […] bestimmte Dinge ›richtig‹ zu erkennen« (Hörning 1999, S. 90).
2.
Kulturelle Formen – Basisphänomene kultureller Praxis
Bemerkenswert in den Zitaten von Bourdieu und Hörning ist die Hervorhebung von Formen und Formungsprozessen in Situationen sozialer Praxis, ohne dass die begriffliche Bedeutung dieser qualitativen Gestaltungsprozesse weiter expliziert wird. Dies gilt insbesondere, wenn man bedenkt, dass schon vor fast einhundert Jahren Ernst Cassirer eine umfangreiche Philosophie der symbolischen Formen vorlegte, in der auch auf die besondere Bedeutung für kulturwissenschaftliche Forschungen verwiesen wird, was jedoch lange übersehen wurde. Wie eine genauere Analyse der Rezeption der Arbeiten Cassirers zeigt, gibt es dafür eine nachvollziehbare Antwort. Cassirers Publikationen wurden, nachdem sie im Nachkriegsdeutschland zunächst in Vergessenheit geraten waren, vor ca. drei Jahrzehnten, entsprechend dem Diskurs in den Kulturwissenschaften dieser Zeit, vor allem mit Verweis auf die symbolischen Formen im Kontext eines semiotischen Kulturbegriffs interpretiert. Diese vordergründige Klassifizierung als Philosophie der symbolischen Formen führte u.a. dazu, dass im aktuellen Diskurs um eine adäquate Erfassung situativer, nicht-verbaler impliziter Wissens- und Körperbedingungen kultureller Praktiken und der damit verbundenen Kritik an nur verbal-semiotischen Kulturtheorien, Cassirers Arbeiten eher eine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung zugeschrieben wurde und mögliche weiterführende Bezugspunkte oft übersehen wurden.9 Diese ergeben sich – und das ist die Botschaft für den hier vorliegenden Band – wenn im kulturwissenschaftlichen Diskurs nicht nur die Möglichkeiten und Grenzen einer verbal-symbolischen Rekonstruktion kultureller Praxis thematisiert werden, sondern auch die Frage vertieft wird: Welche Bedeutung haben symbolische Formen als unhintergehbare Voraussetzung verschiedener Strukturbedingungen (Rituale, Stile etc.) kultureller Praxis? 9
Dazu u.a. Margreiter, R. (1999, S. 1116-1117): »Eine wesentliche Aktualität Cassirers dürfte darin bestehen, daß er mit dem Austausch der Leitbegriffe – Symbol statt Begriff, Verstehen statt diskursives Wissen – den einseitigen Kognitivismus des mainstreams der philosophischen Tradition verabschiedet […] Demgemäß […] korrespondiert dem Prinzip der Vielfalt des Symbolischen das Prinzip der verbindenden Einheit, d.h. den je eigens strukturierten symbolische Formen […] Doch handelt es sich dabei um eine Abstraktion bzw. einen Grenzbegriff […]. Obwohl Cassirer […] zu einem bedeutenden Referenzautor […] geworden ist, ist doch der erhobene Einwand nicht von der Hand zu weisen, daß einer solchen Symbolkonzeption eine unbefragt idealistische Dimension zugrunde liege und daß sie eine Art realistischer oder materialistischer Ergänzung bedürfe«.
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
Durch eine solche Perspektivenverschiebung10 wird deutlich, dass es neben der breiten Diskussion um die Beachtung von Symbolisierungen – insbesondere von nicht-verbalen, körperlichen oder impliziten Wissensbeständen kultureller Praxis – weiterhin die offene Frage gibt: Wodurch erhalten diese Ausdrucksphänomene letztlich jene Ordnung, durch die sie nicht nur als Einzelelemente in Situationen, sondern als nicht zufällig gestalteter, geformter Ausdruck erscheinen, der identifiziert und wiedererkannt werden kann? Diese Frage nach den basisrelevanten formenden Hintergrundbedingungen kultureller Praxisphänomene ist zwar häufig implizit mitgedacht, aber seltener explizit zum Thema gemacht worden. Am Beispiel von drei Autoren (Simmel, Cassirer und Bourdieu) soll im Folgenden gezeigt werden, welche Deutungsmöglichkeiten sich ergeben, wenn der Aspekt Form, die prinzipielle Bedingung der Formung von Ereignissen und die daraus sich ergebende Dialektik gegenüber situativen Praktiken, den kulturwissenschaftlichen Diskurs mitbestimmen. Darüber hinaus scheint eine solche Perspektivenerweiterung immer dann auch von besonderer Bedeutung zu sein, wenn in der Bedeutungsanalyse kultureller Praxis deutlich getrennt wird zwischen dem Teilnehmer und dem Beobachter dieser Praxis, der einen theorierelevanten Rekonstruktionsanspruch hat.
2.1
Kulturelle Formung – zwischen »objektiver Kultur« und »subjektiver Kultur«
Mit 25 Büchern und über 300 Aufsätzen gehört Georg Simmel zu den Mitbegründern der Soziologie am Ende des 19. Jahrhunderts und zum Wegbereiter einer Kulturwissenschaft, die sich deutlich von der in dieser Zeit noch dominierenden Denktradition der Geisteswissenschaft löste. Obwohl schon mit 26 Jahren habilitiert, konnte er als protestantischer Jude über 30 Jahre bis 1914 nur als Privatdozent an der Berliner Universität lehren. Diese mangelnde Anerkennung durch den etablierten Wissenschaftsbetrieb dieser Zeit verhinderte aber nicht, dass Simmel, insbesondere durch seine »Berliner Vorlesungen«, eine Generation Studierender, zu denen u.a. Walter Benjamin, Ernst Bloch, Siegfried Kracauer, Georg Lukács oder Ernst Cassirer gehörten, mit seinen grenzüberschreitenden Ideen begeisterte. Die breite Anerkennung bei den jungen Zuhörern ergab sich vor allem aus seinem komplexen Problemverständnis, durch das er traditionelle Disziplingrenzen von Philosophie, Soziologie und
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Dazu u.a. Jamme, C. (2004, S. 210): »Die Probleme, denen sich eine solche auf symbolische Formen konzentrierte Kulturphilosophie gegenübersieht, sind schon vielfach analysiert worden. Zum Beispiel lassen sich die symbolischen Formen ergänzen, neben Sprache, Mythos und Kunst tritt später Technik. Vielfältige architektonische Probleme kommen hinzu, auch Cassirers Begrifflichkeit ist nicht sehr präzise (einschließlich des Begriffs ›Symbol‹ selbst).«
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Geschichtswissenschaft überwand. In Abgrenzung zur geistesgeschichtlichen Tradition interessierte er sich für banale Dinge und Tätigkeiten des Alltags wie Mode, Geld, Schmuck, Schauspielerei, Prostitution, Lügen oder das Fremde. Um diese vielfältigen, oft überkomplexen Phänomene nicht nur beschreiben, sondern auch wissenschaftlich adäquat erfassen zu können, waren für ihn andere Instrumente als die bisher favorisierte hermeneutische Text- und Quellenanalyse notwendig. Wie diese methodologische Grenzüberschreitung zu verstehen ist, erläutert er u.a. anschaulich mit Bezug auf die Metapher des Bilderrahmens. Wie ein Tafelbild seine immanente Bedeutung immer in Bezug zur »Grenze«, zur Begrenzung durch den Bildrahmen erhält, gilt dies für ihn auch in der gesellschaftlichen Praxis. So ist eine Gesellschaft hinsichtlich ihres »Existenzraumes durch Grenzen eingefasst […] als auch innerlich zusammenhörig charakterisiert, und umgekehrt: Die wechselwirkende Einheit, die funktionale Beziehung jedes Elementes zu jedem, gewinnt ihren räumlichen Ausdruck in der einrahmenden Grenze« (Simmel 1992, S. 694 u. in Hetzel 2007, S. 229). Ähnlich argumentiert Simmel hinsichtlich der Erfahrung des Fremden, durch die sich ein Horizont des Eigenen ergibt. D.h., konstitutiv für das »Kulturelle« in einer Gesellschaft ist das jeweils andere als eine Bedingung der Möglichkeit desselben. Entsprechend sind Konflikte, Grenzerfahrungen, Paradoxien oder Aporien nicht Störfaktoren, die in Theorien kultureller Praxis eliminiert werden müssen, um möglichst eine wissenschaftlich anerkannte Generalisierung sicherzustellen, sondern sie sind für Simmel das reflexive Potential einer adäquaten theoretischen Erfassung kultureller Praxis. Für den Beobachter kultureller Prozesse bedeutet das aber auch, dass er immer schon innerhalb der Vorgänge steht, die er theoretisch erfassen möchte. Kulturanalysen sind für Simmel – nach Andreas Hetzel – nur insoweit angemessen, als es gelingt, die »objektive Kultur« und die »subjektive Kultur, die er als Selbst-Kultivierung der objektiven Kultur beschreibt«, transparent zu machen, und d.h. reflexiv zu verarbeiten, denn subjektive und objektive Kultur »umrahmen sich wechselseitig: Sie bilden eine verwickelte Hierarchie, in der die eine Seite den Rand der anderen bildet. Objektive Kultur und subjektive Praxis werden somit endsubstantiviert; sie konstituieren sich jeweils nur als der Rand der jeweils anderen« (Hetzel 2007, S. 231-232). Wie dies gelingen und in einer Theorie kultureller Praxis analysiert werden kann, verdeutlicht Simmel u.a. am Beispiel der Schauspielkunst. So wie »der Schauspieler […] nicht die Marionette der Rolle« ist, tun wir im Alltag »nicht nur Dinge, zu denen die Kultur und Schicksalsschläge uns äußerlich veranlassen, sondern wir stellen unvermittelt etwas dar, was wir nicht eigentlich sind« (Simmel 1987, S. 81). Simmels Vorstellung von äußeren Rahmenbedingungen und subjektiven Möglichkeiten in der Bewältigung kultureller Praxis ist damit
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
wesentlich geprägt von einem dialektischen »Zwischen«, der Spannung zwischen rollenrelevanten Erwartungen und praktischen Umsetzungen. Anknüpfend an Dilthey betont Simmel die jeweiligen Vermittlungen und Verbindlichkeiten innerhalb dieses Prozesses, durch den sich eine Kultur als Kultur ausbildet. Zentral sind dabei im weitesten Sinne Formen, die der Mensch sich schafft, und durch die er sich selbst mit der Welt vermittelt. Dabei unterscheidet er Ordnungsformen des Zusammenlebens, zu denen er Wirtschafts-, Staats-, Gesellschafts-, Rechts-, Erziehungs-, Bildungs- und Verkehrsformen rechnet, von Ordnungs-Formen der Lebenswirklichkeit, zu denen Sprache, Mythos, Kunst, Religion und Wissenschaft gehören. Jeder der auf diese Weise sich formenden oder geformt werdenden Kulturgebilde besitzt nach Simmel auch einen lebensweltlich relevanten Kultur-Wert und einen davon unabhängigen Sach-Wert (vgl. Simmel 1911).
2.2
Formbildung und Bildung von Formverhältnissen – ein Wechselverhältnis mit Folgen
Auch wenn sich Schüler in der Wissenschaft einerseits gern von ihren akademischen Lehrern abgrenzen, um eine eigene Position zu markieren, ist es andererseits nicht verwunderlich, wenn bestimmte Voraussetzungen der eigenen Profilierung den bisherigen Ausbildungsweg widerspiegeln. So ist es u.a. bei Ernst Cassirer, der während seiner Berliner Studienzeit nachweislich von Simmels kulturellen Deutungsangeboten beeinflusst worden ist, auch wenn er sich später in einzelnen Fragen von ihm abgrenzte. Dies zeigt sich bei dem Problem, das Cassirer als eine zentrale Herausforderung seiner Arbeiten ansah, der Frage nach dem Verhältnis von Ereignis und Form. So orientiert er sich zunächst an der Unterscheidung Simmels in »Ordnungs-Formen des Zusammenlebens« und »Ordnungs-Formen der Lebenswirklichkeit«. Anschließend begnügt er sich jedoch nicht mit der Unterscheidung der Formen der Lebenswirklichkeit wie Sprache, Mythos, Religion etc., sondern versucht ihre Wirksamkeit in Wahrnehmungsprozessen und Bedeutungsanalysen zu präzisieren. Ein zentraler Begriff ist dabei die sogenannte »Symbolische Prägnanz« (Cassirer 1994 III, S. 222f.). Sie kennzeichnet für ihn die Beziehung zwischen materiellen Bedingungen bzw. strukturellen Voraussetzungen oder impliziten Wissensbeständen einerseits und erkennbaren symbolischen Deutungsmustern andererseits. »Unter ›symbolischer Prägnanz‹ soll also die Art verstanden werden, in der ein Wahrnehmungserlebnis als ›sinnliches Erlebnis‹ zugleich einen bestimmten nichtanschaulichen ›Sinn‹ in sich fasst, und ihn so zur unmittelbaren konkreten Darstellung bringt« (Cassirer 1994 III, S. 235). Dabei ist die Kennzeichnung als »symbolische Prägnanz« nicht als eine »äußerliche« Etikettenzuschreibung zu verstehen. Vielmehr beinhaltet der Begriff und seine differenzierte Deutung durch Cassirer eine häufig übersehene Rekonstrukti-
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onstheorie sozialer Praktiken. Im Zentrum steht die traditionsreiche philosophische Frage, wie aus Sinnlichkeit Sinn werden kann. Eine mögliche Antwort ergibt sich aus einer Analyse der Voraussetzungen, durch die in Wahrnehmungsprozessen sinnlichen Erfahrungen Sinn zugeschrieben werden kann, bzw. welcher Sinn in der Sinnlichkeit bereits angelegt ist. Schwemmer fasst das in der Feststellung zusammen: »In unserer Wahrnehmung bilden sich Formen und Formzusammenhänge aus, die einer ›Sinnfügung‹ angehören, also Sinn erzeugen. Wahrnehmung, so ist weiter zu sagen, ist Formbildung. Ohne Form ist überhaupt keine Wahrnehmung möglich« (Schwemmer 2005, S. 145). Wobei die Formbildung auch zur Bildung von Formverhältnissen führt, was Cassirer immer wieder betont: »Ob man das Beisammensein der Phänomene im Raum oder ihr Nacheinander in der Zeit, ob man die Ding-Eigenschaftsordnung oder die Ordnung von ›Ursachen‹ und ›Wirkungen‹ betrachten mag – immer zeigen diese Ordnungen eine bestimmte ›Fügung‹ und einen gemeinsamen formalen Grundcharakter« (Cassirer 1994, III, S. 222). Da Cassirer die Formbildung zur Grundlage der Unterscheidung und Sinnbildung in Wahrnehmungsprozessen erklärt, muss er auch die Frage beantworten, unter welchen Bedingungen, Ereignissen und Verhältnissen im Mensch-Weltbezug Formqualität zugeschrieben werden kann.11 Ein Ausgangspukt für ihn ist das »Liniengleichnis«, mit dem Platon die Welt des Sichtbaren und die Welt des Denkbaren einander gegenüberstellt (vgl. Platon, Politeia 509c-511c). Die Prägnanz des Sehens erzeugt nach Platon die Identität des Sehens, was besonders deutlich wird an geometrischen Figuren oder bei den sogenannten »Springfiguren«, auf die die Gestalttheorie verweist. Wird eine mögliche »tieferliegende« Figur oder Form als bestimmende Form im Sehen wahrgenommen, übernimmt diese die Ordnungsfunktion des Sehens. Dabei ist die »Freiheit«, mit der unser Denken solche ordnenden Strukturierungen vornehmen kann, in der kulturellen Praxis sehr unterschiedlich. Betrachtet man z.B. geometrische Formen des Sehens, findet man dort überprägnant Figuren (Dreieck, Viereck etc.), die oft auch die Bewertung des Seheindrucks wider besseres Wissen bestimmen können, wie das Beispiel zeigt, bei dem die Länge der waagerechten Linien gleich ist, >—-< bzw. , aber der Seheindruck ein anderer ist. Weniger dominant sind die Formen des Schreibens, was bei der Deutung einer Handschrift relevant wird, und noch größer ist der Grad an Freiheit z.B. bei
11
Die Frage, inwieweit dieser Formungsprozess bei Cassirer letztlich immer ein geistiger Gestaltungsprozess ist oder sich aus den situativen Bedingungen der Wahrnehmung ergibt, ist eine offene Frage in der Cassirer-Rezeption. Vgl. dazu Adorno (1937) und besonders Bockrath (2014), S. 321-394.
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
Formen der Malerei. Die Semantik des Sehens ist dort z.T. deutlich vorbestimmt – je nach Epoche und gesellschaftlich vermitteltem kulturellem Hintergrund – was man sieht, bzw. glaubt zu sehen, wenn man ein Oeuvre sieht. Diese wenigen Beispiele sollen zeigen, dass es sich bei der Formbildung weder um eine Systematik des aktuellen Sehens und Beobachtens noch um die Übersetzung struktureller Gesetzmäßigkeiten in sozialen Praktiken handelt, sondern dies einen eigenständigen Ordnungs- und Profilierungsprozess mit unterschiedlichen Freiheitsgraden darstellt, der die »Wahrnehmung und Erfahrung als« bestimmt. Dies bedeutet, die Weisen der Welterfassung sind an unterschiedliche Formen gebunden, die nicht nur über bestimmte Symbole, sondern auch durch spezifische Wissen-Formen eine erkennbare Bedeutung erhalten.12 Dabei unterscheidet Cassirer in diesem Prozess zwischen primärer Ausdruckfunktion, objektivierender Darstellungsfunktion und einer abstrakten Bedeutungsfunktion, die sich aus dem jeweiligen Freiheitsgrad eines Formungsprozesse ergeben.13 Entscheidend ist dabei, dass »keine dieser Gestaltungen […] schlechthin in der anderen (aufgeht) oder […] sich aus der anderen ableiten (lässt), sondern jede von ihnen bezeichnet eine bestimmte […] Auffassungsweise und konstituiert in ihr und durch sie zugleich eine eigene Seite des ›Wirklichen‹« (Cassirer 1994, Bd. I, S. 9).
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In Abgrenzung zur Psychologie verweist Cassirer auf die besondere Bedeutung einer Philosophie der Formen, wenn er betont: »Wir müssen die Formwelt der Sprache, der Kunst, der Religion, des Rechts u.s.f. als solche verstehen, wenn wir in den Sinn der einzelnen sprachlichen, künstlerischen, religiösen Gebilde eindringen wollen. Eine wesentliche Aufgabe ist es, diese Leistung zu vollbringen und damit von den ›Tatsachen‹ der Geisteswissenschaften zu ihren ›Prinzipien‹, zu den ›Bedingungen der Möglichkeit‹ vorzudringen« (Cassirer, E./Hägerström, A 1939, S. 114). Cassirer selbst ist auf diese Vielfalt nicht weiter eingegangen, sondern hat sich auf wenige Beispiele für die Explikation seiner Kulturphilosophie beschränkt. Aus heutiger Sicht bietet sich die Möglichkeit, sowohl die Vielfalt an Formgestaltung als auch die dabei wirksam werdende Formdifferenz unterschiedlicher Kulturphänomene zu untersuchen, etwa im Sinne dieser unvollständigen Skizze, die weiter differenziert werden müsste unter dem Aspekt von Sprache als, Musik als etc.: Sprache als: Hören – Sprechen – Schreiben – sprachliche Gestaltung – sprachwissenschaftliche Analyse Musik als: Hören – Musizieren – musische Gestaltung – Notation – musikwissenschaftliche Analyse; Kunst als: Sehen – Malen – Gestalten – sprachliche/analoge/digitale Rekonstruktion – kunstwissenschaftliche Analyse; Bewegung als: Aktion – Gestalten – Sehen – sprachliche/analoge/digitale Rekonstruktion – bewegungswissenschaftliche Analyse; Emotion als: Erleben – Verstehen – sprachliche Rekonstruktion – wissenschaftliche Analyse; Technik als: funktionelle Erfahrung – konstruktive Gestaltung – kausale Erklärung – naturwissenschaftliche Analyse.
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So ist das Erkennen einer gestalteten Linie »als Dreieck« eine Formerkennung, der eine primäre Ausdrucksfunktion zugeschrieben werden kann, während die Kennzeichnung eines bestimmten Schriftzuges als »Calibri« oder »New Gothic« eine objektivierende Darstellungsfunktion besitzt. Davon zu unterscheiden sind jene Interpretationsversuche, die z.B. ein Bild von Picasso »schon der kubistischen Periode« und ihm damit eine eher abstrakte Bedeutungsfunktion zuschreiben. Zusammenfassend stellt Cassirer dazu fest: »Die Philosophie der symbolischen Formen richtet ihren Blick […] nicht in erster Linie auf das rein wissenschaftliche, exakte Weltbegreifen, sondern auf alle Richtungen des Weltverstehens […] Und immer zeigt sich dabei, daß das ›Verstehen‹ der Welt kein bloßes Aufnehmen ist […] Es gibt kein echtes Weltverständnis, das […] nicht sowohl (auf) der Betrachtung, als vielmehr auf der geistigen Formung beruht. Um die Gesetze dieser Formung zu erfassen, (sind) […] bestimmte Begriffe – wie der Begriff der Zahl, der Zeit, des Raumes […] unumgänglich […] Aber (dies) vollzieht sich, wie wir gesehen haben, keineswegs gleichartig in allen Gebieten, sondern ihre Art hängt wesentlich von dem besonderen Strukturprinzip ab, das in jedem Sondergebiet wirksam und herrschend ist« (Cassirer 1994, Bd. III, S. 16-17). Dabei findet man »niemals die ›nackte‹ Empfindung als materia nuda, zu der dann irgendeine Formgebung hinzutritt −: sondern was uns faßbar und zugänglich ist, ist immer nur die konkrete Bestimmtheit, die […] von bestimmten Weisen der Formung durch und durch beherrscht und von ihnen völlig durchdrungen ist« (Cassirer 1994, Bd. III. S. 18). Nach Schwemmer ist dies ein Prozess »aktiver Verstärkung und strukturierender Kontrastbildung bei der Erzeugung von eigenen Zeichen« (Schwemmer 1997, S. 42), die sich insbesondere bei der Sinnbildung kultureller Phänomene und Praxen aus der Unterscheidung zwischen primärer Ausdrucksfunktion, objektiver Darstellungsfunktion und abstrakter Bedeutungsfunktion ergibt. Mit dieser Fokussierung der Differenzbedingungen auf den symbolischen Aspekt der Formbedingungen zeigt sich jedoch auch eine Grenze der Argumentation Cassirers, worauf Schwemmer hinweist: »Die erste Folgerung aus einem solchen Verständnis wäre, dass eine Philosophie der symbolischen Formen sich nicht auf eine dieser symbolischen Formen oder Formwelten verpflichten darf. Sie müsste die verschiedenen Formen, auf die sie ihre Betrachtung richtet, nicht aus der Sicht nur einer Form – oder auch nur einiger Formen – in den Blick nehmen, sondern sich auf möglichst alle Formen einlassen und gleichsam sich durch sie hindurcharbeiten und zwischen ihnen vermittelnd sich auf den dadurch erzwungenen Wechsel sowohl der Perspektive als auch der begrifflichen Mittel und Interessen einlassen« (Schwemmer 1997a, S. 64).
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
Eine solche weiterführende Möglichkeit kann sich ergeben, wenn nicht nur die symbolische Form-Differenz im Mittelpunkt der reflexiven Rekonstruktion kultureller Praxis steht, sondern die Differenz der Wissens-Formen, die sich aus den unterschiedlichen materialen, sprachlichen und nicht-sprachlichen Bedingungen der jeweiligen Formungen verschiedener Mensch-Welt-Bezüge ergibt.
2.3
Dialektik kultureller Praxis
Fragt man, wer eine solche gegenstandsrelevante Erweiterung bei gleichzeitiger Beachtung strukturierender Rahmenbedingungen entwickelt hat, kann man seit ca. 30 Jahren auf die schon angesprochene Sozial- und Kulturtheorie von Bourdieu verweisen – allerdings nur dann, wenn man ihn dort verteidigt, wo ihn die radikalen Praxistheoretiker kritisieren: als Vertreter einer Dialektik zwischen strukturellen und interpretativen Praxisbedingungen.14 So hat Bourdieu immer wieder darauf hingewiesen, dass bei der Bedeutungsanalyse sozialer Praxis nicht nur die performativen Zeichen bzw. »Akte« (Hirschauer 2016) sozialer Tätigkeiten in ihrer aktuellen situativen Verflochtenheit als Untersuchungs-Gegenstände angesehen werden sollten, sondern der Betrachter als Analysierender sozialer Praxis über ein Analyse-Wissen verfügen sollte, das die andere Perspektive, die über das situative Subjekt-Wissen der Akteure hinausgeht oder sich nicht aus der direkten Beobachtung ergibt, in seiner Praxisanalyse eingeht. Denn soziale Praxis ist nach ihm immer komplexer als aus einer subjektiven Beobachterperspektive realer Praxisvollzüge erkennbar. Sie ist gekennzeichnet durch ein dialektisches Wechselverhältnis von Basisbedingungen und Performanz, wobei erst das Wissen um dieses Wechselverhältnis eine angemessene Praxistheorie ergeben kann.15 Bourdieu betont dies ausdrücklich, auch wenn er gern, wie skizziert worden ist, zum Sachverwalter einer explizit beobachtungsrelevanten Praxisforschung erklärt wird. Der differenzierende Blick ergibt sich aus den unterschiedlichen Aspekten, die als »Praktisches Wissen« bzw. als »Praxis-Sinn« soziale Praxen bestimmen. Neben der Interpretation performativer Bedingungen ist es – insbesondere 14
15
Daran erinnert auch Michael Meier (2004, S. 56): »Während in der Theorie sozialer Praktiken Wissensordnungen treten und die Genese von ›praktischem Wissen‹ nicht wirklich thematisiert wird, sind es gerade die Entstehungs- und die Anwendungsbedingungen der Konfigurationen von Schemata, die bei Bourdieu im Rahmen der Dialektik von Feld und Habitus eine zentrale Rolle für die Praxis spielen.« In ähnlicher Weise betont dies Luc Boltanski, wenn er auf die Kluft zwischen »subjektiven« und »objektiven« Ordnungsprinzipien der Welt verweist. Aus der Differenz zwischen beiden ergibt sich der kritische Blick über die Wirksamkeit kognitiver Artefakte wie u.a. Beurteilungsmaßstäbe oder Rechtfertigungsordnungen und erfahrener Praxis (Boltanski/Thévenot 2007).
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aus Sicht eines analysierenden Beobachters – von Bedeutung, »gerade die Entstehungs- und Anwendungsbedingungen der Konfigurationen von Schemata, die bei Bourdieu im Rahmen der Dialektik von Feld und Habitus eine zentrale Rolle für die Praxis spielen«, zu beachten, wie Maier (2004, S. 56) betont. Womit auf eine Deutungsperspektive verwiesen wird, die sich vor allem am Verhältnis von Wissensordnungen und erkennbaren Ausdrucksformen des Wissens zeigen lässt. Während Ausdrucksformen vor allem von Vertretern radikaler Praxistheorien als dominant bei der Rekonstruktion sozialer Praxis angesehen werden, wird die Bedeutung von Wissensordnungen, die den sozialen Praktiken zugrunde liegen, in ihrer Bedeutung erkennbar marginalisiert.16 Welche Bedeutung Bourdieu auch den fundierenden Wissensordnungen sozialer Praxis zuweist, wird deutlich, wenn man die Bedingungen genauer analysiert, unter denen nach dem »praktischen Sinn« Entscheidungen im sozialen Prozess zu Entscheidungen werden. Sie sind für ihn so etwas wie »ein Gespür für das Spiel« (Bourdieu 1998, S. 42), was bedeutet, es geht ihm weniger darum zu zeigen, wie die Ausführung bestimmter Praktiken in einer gewissen »Regelhaftigkeit ohne bewußtes Befolgen der Regeln« (Bourdieu 2001, S. 176) stattfindet, sondern sich zu vergewissern, warum die Praxis im Kontext verschiedener möglicher anderer Positionen so und nicht anders stattfindet. So betont er: »Gegenstand der Erkenntnisweise schließlich, die wir praxeologische nennen wollen, ist nicht allein das von der objektiven Erkenntnisweise entworfene System der objektiven Relationen, sondern des Weiteren die dialektischen Beziehungen zwischen diesen objektiven Strukturen und den strukturierten Dispositionen, die diese zu aktualisieren und zu reproduzieren trachten; ist mit anderen Worten der doppelte Prozess der Interiorisierung der Exteriorisierung und der Exteriorisierung der Interiorität« (Bourdieu 1976, S. 147). Entscheidend dabei ist, »die praxeologische Erkenntnis annulliert nicht die Ergebnisse des objektiven Wissens, sondern bewahrt und überschreitet sie, indem sie integriert, was diese Erkenntnis ausschließen mußte, um allererst jene zu erhalten« (ebd. S. 148). Woraus folgt: »Der Versuch, die Sozialwissenschaft auf die bloße Aufdeckung objektiver Strukturen einzuengen, darf mit Recht zurückgewiesen werden, wenn dabei nicht aus den Augen verloren wird, daß die Wahrheit der Erfahrungen gleichwohl doch in
16
Gleichzeitig verweist Andreas Reckwitz auch auf die Grenzen dieses Verfahrens: »Die Praxistheorie ist stark, wenn sie in ihren allgemeinen begrifflichen Voraussetzungen möglichst dünn ist. Aber das Problem, welche begrifflichen Präpositionen sie in Anspruch nimmt und in Anspruch nehmen sollte, wird damit nicht einfacher, sondern umso schwieriger« (2004, S. 52). Vgl. auch Reckwitz 2003, S. 291-297.
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
den Strukturen liegt, die diese determinieren. Die Konstruktion objektiver Strukturen (Preiskurven, Chancen des Zugangs zu höheren Bildungsinstitutionen, Gesetze des Heiratsmarktes) gestattet faktisch erst, das Problem der Mechanismen anzugehen, durch welche die Beziehungen zwischen den Strukturen und den Praktiken oder den mit ihnen einhergehenden Repräsentationen gestiftet werden« (ebd. S. 149). Die Herausforderung für eine adäquate praxeologische Theorie ist also nicht nur eine möglichst genaue und sensible Rekonstruktion relevanter Praxisverläufe, sondern immer auch die Dokumentation der Relation von objektiven und einverleibten Strukturen im »sens pratique«, was nur gelingt, wenn man möglichst auch um die Voraussetzungen der situativ relevanten Bedingungen, und d.h., wenn die Dialektik aus tieferliegenden Strukturen und situativer prozesshafter Performanz in der Theoriebildung beachtet wird.17
2.4
Kulturelle Theoriebildung – eine Zwischenbilanz
Im Bemühen, nicht in den Verdacht zu geraten, strukturelle Voraussetzungen, gattungsspezifische Vorgaben, handlungsrelevante Basisbedingungen oder entwicklungsspezifische Umstände in »scholastischer« Weise in die Analyse sozialer Praxis einfließen zu lassen, hat sich oft eine Gleichsetzung von (beforschtem) Akteur und (forschendem) Rezipienten ergeben. D.h. unter der Zielsetzung, das TeilnehmerWissen im Prozess sozialer Praxis möglichst adäquat zu erfassen, wird nicht selten mit Verweis auf die Bedeutung einer »teilnehmenden Beobachtung« eine Forschungsperspektive entwickelt, die eher einer protokollartigen Darstellung der beobachteten Praxis als einer analytischen Re-konstruktion dieser Praxis entspricht. Gegenüber dieser Perspektivenvermischung plädiert Bourdieu für eine klare Trennung zwischen Beobachteten und Beobachter. Um den Voraussetzungen einer reflexiven Soziologie gerecht zu werden, muss die doxa nicht einfach generalisiert oder klassifiziert, sondern ihre doxischen Erfahrungen immer auch analysiert werden, um »über die sozialen Bedingungen des Denkens eine wirkliche Freiheit gegenüber diesen Bedingungen« (Bourdieu 2001, S. 152) gewinnen zu können. Denn nur so kann verhindert werden, dass »die doxa des Alltags, jene alltäglichen, unhinterfragten Denk-, Wahrnehmungs- und Beurteilungsschemata allzu ungebrochen in die doxa des Wissenschaftlers überführt« (Hörning 2004, S. 25) werden.
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Wie wichtig diese Differenzierung auch für komplexe Wissens-Formen ist, betont u.a. auch Michael Meier (2004, 59): »Welches Wissen führt zu routinierten Praktiken und blockiert innovative, welches ermöglicht Unberechenbarkeit und Kreativität? Wie kommt dieses Wissen zustande? Und schließlich: Welche sozialen Bedingungen sind jeweils im Moment der Ausführung von sozialen Praktiken wirksam?«
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Auf dem Hintergrund bisheriger Diskussionen zur theorierelevanten ReKonstruktion sozialer Praxis aus Beobachtersicht sind damit drei Voraussetzungen kultureller Theoriebildung zu beachten: •
•
•
3.
Die doxa kultureller Praktiken unterliegt Bedingungen, deren Bedeutungen erst dadurch theorierelevant analysiert werden können, wenn sie aus Sicht ihrer doppelten Formungsbedingungen interpretiert werden. Konkret bedeutet das: Erst aus der Differenz zwischen den geformten Denk- und Handlungsbedingungen kultureller Praktiken und den geformten Bedingungen, die diese Praxis möglich machen, ergibt sich die analytische Perspektive für eine Theorie kultureller Praxis. In Weiterführung der Aussagen Cassirers zeigen sich relevante Formungsbedingungen nicht nur über eine spezifische Symbolisierung, sondern sie unterliegen auch unterschiedlichen Wissens-Formen, woraus folgt: Die theorierelevante Differenzanalyse der Formungsbedingungen kultureller Praxis ist eine Differenzanalyse der Wissens-Formen kultureller Praktiken. Ein Aspekt, den auch Michael Meier betont, wenn er in seiner Kritik an radikalen Praxistheorien darauf hinweist: »Neben den Entstehungsbedingungen müssen auch die Anwendungsbedingungen, die Aktualisierungsmodalitäten von Wissen und Wissensordnungen thematisiert werden« (Meier 2004, S. 59)
Wissen
Bevor auf die Funktion des Wissens im kulturellen Prozess näher eingegangen wird, erscheint es angebracht, einige prinzipielle Voraussetzungen zu skizzieren, die beachtet werden sollten, wenn versucht wird, das Wissen als Wissen zu erklären.
3.1
Wissen, Gewusstes und Nicht-Wissen
Für Dirk Rustemeyer (2004) repräsentiert Wissen »die Form des Denkens von Ordnung«. Eine Ordnung, die präzisiert werden kann mit Verweis auf eine »relationale Struktur, die den doppelten Bezug auf ein im Wissen Gewusstes einerseits und auf die Instanz des Wissens andererseits eröffnet. Die Selbstreferenz des Wissens sichert das Wissen über das Gewusste und etabliert die Einheit der Unterscheidung von Wissen und Nicht-Wissen als Form des Wissens« (ebd. S. 76). Aus diesem Wechselverhältnis ergibt sich die Möglichkeit, dass ein Wissen – das als Differenz wirksam wird – eine Reflexivität entwickelt, eine »Reflexivität der Ordnung des Erkannten, der es als integrales Moment zugehört« (ebd. S. 76). Die Reflexion ist »demnach die dynamische Einheit der Differenz von Wis-
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
sen und Gewusstem […] Nur auf dem Hintergrund von Wissen vermag Nichtwissen Aufmerksamkeit zu gewinnen« (ebd. S. 76) Entsprechend ist Wissen durch NichtKontingenz gekennzeichnet im Unterschied zur Kontingenz des Nicht-Wissens, denn »nur vor dem Hintergrund von Wissen vermag Nicht-Wissen Aufmerksamkeit zu gewinnen und besonders qualifiziert zu werden – sei es als Meinung, Können, implizites Wissen, Mehrdeutigkeit, Skepsis oder Unsicherheit« (ebd. S. 76-77). Nach Rustemeyer bedeutet das, dass das Verhältnis von Nicht-Wissen zum Wissen asymmetrisch ist. Während das Wissen in der Differenz zum Gewussten eine gewisse reflektierende Einheit bildet, stellt das globale Nicht-Wissen eine kontingente Komplexität dar, die eher die Außengrenzen eines Wissenskomplexes kennzeichnet, was Konsequenzen hat für die Form des Wissens:18 »Die Form der Differenz des Wissens ist deshalb keine kontingente Zuschreibung, sondern produktive Unterscheidung selbst: Form der Formen, die alle Kontingenzen aus sich ausschließt, weil sie alle bestimmten Kontingenzen einschließt […] Als nichtkontingentes Wissen und Form der Reflexion hat diese Einheit von Wissen und Gewusstem keine kontingenten Inhalte, sondern richtet sich auf allgemeine Strukturen, über die sich die Differenz von Wahrem und Falschem, Sein und Nichtsein entfaltet. Solche Strukturen des Wissens sind zugleich intelligibel und empirisch« (ebd. S. 77). Aus dieser strukturellen Sicht ist auch nachvollziehbar, warum vor allem begriffliches Denken und Bewusstsein traditionell als Voraussetzungen für Reflexivität angesehen worden sind, »weil sie als sich zeitlich erstreckende Prozesse eine simultane Differenz von Wahrnehmung und Denken einerseits, Wahrgenommenem und Gestalten andererseits zu beschreiben erlauben« (ebd. S. 77), wobei die »Konstellation der Begriffe und ihre relationale Ordnung koinzidiert mit Denken, Wissen und Wirklichkeit« (ebd. S. 76).
3.2
Kulturelles Wissen
Dieser Verweis auf die prinzipielle, übergeordnete Form, der vor allem ein begriffliches Wissen in der Regel entsprechen muss, um in einem Kontext als Wissen anerkannt zu werden, kann als Hintergrundfolie im aktuellen kulturwissenschaftlichen Diskurs dienen, in dem explizit auch auf nicht-sprachliches, körperliches und implizites Wissen verwiesen wird. D.h., es muss in Untersuchungen kultureller Praxen auch geklärt werden, welche Formen der erweiterten Wissensannahmen den Ordnungsrahmen bestimmen, innerhalb dessen Wissen als relevantes Wissen und als 18
Welche besondere Bedeutung ein sog. »negatives Wissen« für die Ausbildung und Institutionalisierung von Lehr-Lernbedingungen besitzt, erörtert Benner (2003). Dazu auch Bockrath (2008, 117f).
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Gewusstes bestimmt werden kann. Denn das partielle Nicht-Wissen ist, folgt man Rüstemeyer, nicht beliebig kontingent, sondern sollte eher als ein Nicht-Gewusstes auch einer übergeordneten Form gemeinsamen Wissens der kulturellen Praxis zugeordnet werden können. Die Erweiterung des Wissensbegriffs ist also immer verbunden mit einer veränderten Vorstellung darüber, in welcher Form auch ein reflexiver Verweisungsprozess möglich und aussagekräftig ist. Ein Vorschlag, wie die Ausweitung des traditionellen Bezugssystems von Sprache − Denken − Wirklichkeit bei Integration von körperlichen, nicht-sprachlichen und impliziten Wissensformen gerechtfertigt werden könnte, verweist auf die soziale Praxis selbst, innerhalb derer Wissensformen bedeutsam werden: »Nichtsymbolische Ordnungen gründen in sozialen Praktiken und kristallisieren in Routinen, Institutionen oder regelhaften Erwartungen und Dispositionen. Wahrnehmung- und Ausdrucksprozesse, wie sie einem lebendigen Bewusstsein anhaften, sind durch Zeichen-Ordnungen imprägniert. Die nicht-beliebige Struktur von Wahrnehmung und Ausdruck verweist auf eine Typik, die Leib und Bewusstsein mit sozialen Intentionen und kulturellen Codes zusammenschließt« (Rustemeyer 2004, S. 86-87). D.h., der erweiterte Wissensbegriff kennzeichnet nur dann ein Wissen, wenn er sich auf eine Ordnungs-Form bezieht, die eine Sinn-Einheit von Kommunikationsund Interaktionsprozessen darstellt. Diese kann immer dann angenommen werden, wenn sie »in Erfahrung und Ausdruck leiblicher Akteure in kulturellen Semantiken wie sozialen Erwartungen, Routinen, Typiken und Institutionen fortlaufend als differentielle Bestimmungen von etwas als etwas erzeugt werden« (ebd. S. 89). Für den Beobachter kultureller Prozesse, der eine theorierelevante Analyse aus reflektierender Sicht erstellt, bedeutet das, dass er einerseits eingebunden ist in den skizzierten gemeinsamen Sinnhorizont. Andererseits besitzt er, wie im letzten Kapitel dargestellt wurde, nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Pflicht, sich, über die Voraussetzungen der beobachteten kulturellen Praxis hinaus, in die Analyse mit einzubeziehen. Konkret bedeutet das, dass der Beobachter um die verschiedenen Wissensformen als strukturelle Bedingungen weiß und aus der Dialektik ihrer Wirksamkeit in performativen Prozessen kultureller Praktiken reflexive Erkenntnisse gewinnt. Dabei sind es insbesondere Differenzen, die als Widersprüche, Paradoxien, Störungen oder Extremerfahrungen gegenüber den erwarteten Selbstverständlichkeiten bedeutsam werden und dadurch ein reflexives Potential darstellen, das Rustemeyer abschließend präzisiert: »Die Dynamik von Sinnbildungen ist damit selbst ein Prozess permanenter Grenzüberschreitungen und Ordnungsbildung […] Sinnbildungen entspringen sowohl aus leiblich fundierten Wahrnehmungsleistungen als auch aus Erfahrungsmus-
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
tern, Erwartungsstrukturen und vielfältigen symbolischen wie sozialen Ordnungen, die jedem Einzelbewusstsein im Rücken liegen […] (wobei) relativ Unverfügbares die kulturellen Optionen praktisch limitiert« (Rustemeyer 2004, S. 89). Für die Konzipierung einer Theorie kultureller Praxis bedeutet das, sie »muss nicht nur die relevanten Formen praktischen Wissens herausarbeiten, sondern auch zeigen, wie dieses seine implizite normative Kraft in den jeweiligen Handlungszügen und Handlungskontexten entfaltet« (Hörning 2004, Bd. 1, S. 149). Womit die doppelte Aufgabe einer Theoriebildung kultureller Praxis aus Beobachtersicht erkennbar wird: •
•
Den Ausgangspunkt bilden strukturierte Formen kultureller Praxis, die als das (normativ) Vorgegebene oder das (institutionell) Vorhandene in kulturellen Wissensbeständen und Regelwerken wirksam sind. Das reflexive Potential zeigt sich überall dort, wo diese expliziten Wissensbedingungen ihre selbstverständliche, meist unbemerkte Rahmungsbedeutung verlieren, wo eine Differenz zur erwarteten Normalität erkennbar wird, wo bedeutsames (sprachliches und beobachtbares) und implizites Wissen aus praktischen Handlungserfahrungen in Widerspruch gerät zu strukturellen oder normativen Prozessvorgaben.
Für eine möglichst problemrelevante praxisnahe Kulturtheorie bedeutet das, sie muss, im Wissen um die Voraussetzungen performativer Prozesse kultureller Praxis, die Bedingungen sowohl expliziter geformter Wissensbestände transparent machen als auch das jeweils wirksam werdende relevante implizite Wissen rekonstruieren.
3.3
Propositionales und nicht-propositionale Wissen – als explizites Wissen
Neben der Unterscheidung in explizites und implizites Wissen, auf die noch genauer eingegangen wird, gibt es eine auch aus dem Alltag bekannte Unterscheidung, die sich auf den Erklärungsanspruch von Wissensinhalten bezieht. Danach kann unterschieden werden zwischen: • • •
einem propositionalen Wissen, das im Sinne eines know that Aussagen macht zu »was der Fall ist« (z.B. ich weiß, dass Berlin eine Millionenstadt ist), einem gegenständlichen Wissen, bei dem im Sinne von knowledge of auf Erfahrungen zurückgegriffen wird (z.B. ich kenne Berlin), einer Fähigkeit im Sinne von know how, bei der ein praktisches Können relevant ist (z.B. ich kann Fahrrad fahren).
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Von den drei Wissensarten wird in der Regel nur das propositionale Wissen als relevant für explizite wissenschaftliche Aussagen anerkannt, während den beiden anderen zwar auch eine explizite Bedeutung zugesprochen wird, die jedoch eher eine heuristische oder subjektiv praktische Anerkennung erfährt. Kennzeichnend für propositionales Wissen ist nach Christiane Schildknecht (1999) u.a.: »Propositionen sind (ontologisch ausgezeichnete, objektive, zeitlose, abstrakte) Träger von Wahrheitswerten (wahr/falsch). Propositionen finden ihren sprachlichen Ausdruck in semantischen Repräsentationsformen wie Behauptung, Urteil, Aussagesatz. Propositionen werden repräsentiert durch eine dem Objekt propositionaler Verben entsprechender Struktur: ›dass p'… Propositionen liegen einem Wissen zugrunde, das als begründete, wahre Meinung beschrieben werden kann (propositionales Wissen)« (Schildknecht 1999, S. 7). Die dadurch präsentierte Wissenschaftlichkeit des Prozesses leitet sich aus vier Prinzipien ab, durch die sichergestellt werden soll, dass die Bedingungen des subjektiven Wissens von »Ich weiß« auf der Basis privater Gewissheit auch als explizites »objektives Wissen« allgemeine Gültigkeit erhält: • •
• •
Wahrheit als Übereinstimmung von Überzeugungen und Meinungen mit der beobachteten oder erfahrenen »Wirklichkeit«. Erklärung, warum etwas der Fall ist, durch eine Analyse von Ursachen und Wirkungen unter Bezug auf allgemein anerkannte Gesetzmäßigkeiten und Regeln mit dem Ziel, kausale bzw. funktionale Ableitungen möglichst empirisch zu begründen. Begründung, insbesondere, wenn der Nachweis von Wahrheitsaussagen epistemisch gerechtfertigt werden muss. Intersubjektivität, durch die der Übergang von subjektiver Gewissheit in objektiv begründbares und allgemein zugängliches Wissen sichergestellt wird.
Theorien, die diesen Qualitätskriterien entsprechen, erfahren in der Regel eine hohe Anerkennung im wissenschaftlichen Diskurs, wobei umstritten ist, ob dies auch immer eine vergleichbare Gültigkeit mit einschließt, d.h., ob die immanente Stringenz der Methoden auch ein Merkmal ihrer Angemessenheit hinsichtlich des Gegenstandes ist, auf den sie sich als explizit propositionale Theorien beziehen bzw. der durch sie erklärt werden soll. Diese Skepsis zeigt sich besonders in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften. Dabei bezieht sich die Relativierung der Angemessenheit entsprechender »exakter« Erklärungen vor allem auf den »Preis«, der für den Objektivierungsanspruch gezahlt werden muss. Dieser ist oft nur zu erreichen, wenn alle Formen von praktischem und subjektivem Erfahrungs-Wissen im Sinne von »Wissen wie«, sowie nicht-begriffliche Erfahrungen wie »Ich kann« ignoriert werden. Sie sind zwar
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
hinsichtlich ihrer Folgen in der Regel auch explizit erkennbar (»ich kenne Berlin«, »ich kann Fahrrad fahren«), d.h., ihre Wirkungen können als nicht-propositionales Wissen zwar gezeigt werden, aber oft ohne expliziten Gültigkeitsnachweis. Die Bedingungen, wodurch eine Erfahrung zur Erfahrung wird und warum das Fahrradfahren gelingt, bleiben in der Regel verborgen, so dass dieses Wissen auch als implizites Wissen bezeichnet wird. Kennzeichnend für die eingangs genannten »turns« in den Kulturwissenschaften ist, dass mit der Erweiterung der Untersuchungsperspektive auf performative, situative und körperliche Bedingungen sich auch der Anspruch ergeben hat, implizite Wissensbestände stärker zu berücksichtigen und angemessene Deutungsangebote zu entwickeln. Dabei konnte man auf eine Wissenschaftsentwicklung zurückgreifen, die schon von Helmuth Plessner (1923), Ludwig Wittgenstein (1967), Maurice Merleau-Ponty (1966) u.a. mit Bezug auf Aristoteles, Wilhelm von Humboldt oder die Lebensphilosophie vorgezeichnet worden war und die deutlich machte, dass das explizite wissenschaftliche Wissen immer schon eingebunden ist in ein implizites »empraktisches Vollzugswissen« (Stekeler-Weithofer 2005).
3.4
Implizites Wissen
Das zunehmende öffentliche Interesse am nicht-öffentlichen, auch »schweigendes Wissen« (Kraus u.a. 2017) genannten, impliziten Wissen zeigt sich in vielfältigen Fachdiskursen mit unterschiedlichem Deutungsanspruch. Dabei gelten Autoren wie Michael Polanyi (1985), Gilbert Ryle (1946) und Karl Mannheim (1980) als wichtige Wegbereiter dieser, lange vernachlässigten Dimension, menschlicher Erfahrung in der Soziologie. Vor allem Polanyis programmatische und anschauliche Argumentation, wonach wir mehr wissen, als wir sagen können, gilt bis heute als markanter Ausgangspunkt im Diskurs über das implizite Wissen, wenn er betont: »Ich werde das menschliche Erkennen ausgehend von der Tatsache betrachten, daß wir mehr wissen, als wir zu sagen wissen […] Im Akt der Mitteilung selbst offenbart sich ein Wissen, das wir nicht mitzuteilen wissen« (Polanyi 1985, S. 14), was er an einem populär gewordenen Beispiel verdeutlicht: »Das Fahrrad kann beherrscht werden, ohne daß sich von dem/der Fahrenden mit Worten erklären ließe, was genau geschieht, damit sich das Fahrrad fortbewegt« (ebd. S. 17). Mit dem Hinweis auf ein »anderes« Wissen erweitert Polanyi nicht nur den Begriff des Wissens um die praktische Dimension des »Könnens«, sondern stellt auch die epistemologische Frage nach den Voraussetzungen des wissenschaftlichen Wissens bzw. kritisiert die oben genannte Dominanz des propositionalen Wissens in der scientific world. Dieses andere Wissen ist vorrangig ein personales Wissen, das aus persönlichen Erfahrungen mit der Welt sich bildet und oft nicht über die Sprache kennt-
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lich gemacht werden kann19 . Entsprechend gilt dies nicht nur für das körperliche Können im engen Sinne, sondern auch für jenes, das sich auf Dinge (Werkzeuge, Maschinen, Technologie etc.) und soziale Situationen (Verhalten im Beruf, Straßenverkehr, in der Freizeit etc.) bezieht, worauf Arndt Michael Nohl in Bezug auf Bildungsprozesse verweist: »Weder das Können noch das implizite Hintergrundwissen beschränken sich jedoch auf das menschliche Wissen von den Dingen: Vielmehr lassen sich beide Aspekte des Impliziten auch in den Dingen selbst und den Menschen entfalten« (Nohl 2017, S. 542).20 Gilbert Ryle ist vor allem bekannt geworden durch die schon genannte Unterscheidung zwischen »kowing that« und »knowing how«, die nach einer intellektualistischen Legende auf zwei distinkten Operationen beruhe: »In opposition to his doctrine, I try to show that intelligence is directly exercised as well in some practical performances as in some theoretical performances and that an intelligent performance needs to incorporate no ›shadow-act‹ of contemplating regulative propositions« (Ryle 1946, S. 223). Ryle verweist hier auf ein antireduktionistisches Wechselverhältnis beider Erkenntnisweisen, woraus sich auch eine bestimmte Option ergibt: Durch eine bewusste Gegenüberstellung von kowing how als implizites Erfahrungswissen und knowing that mit Verweis auf Propositionen und Regeln in Handlungspraxen können reflexive Perspektiven gegenüber diesen Praxen entwickelt werden. Dagegen lässt Polanyi nach Rainer Schützeichel gegenüber dieser kontrastierenden Auffassung die Frage offen, »ob zwischen dem impliziten und expliziten Wissen ein Fundierungs- oder ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis besteht« (Schützeichel 2012, S. 117). Wohingegen Jens Loenhoff (2012) den fundierenden Charakter impliziten Wissens für den »hantierenden Umgang mit den alltäglichen Gebrauchsgegenständen« (Loenhoff 2012, S. 50) hervorhebt, der aller theoretischen Erfassung von Welt zugrunde liegt, so dass man zugespitzt sagen könnte: Die Basis allen Wissens liegt im Können. Karl Mannheim betont zunächst wie Polanyi das prinzipielle Wechselverhältnis zwischen implizitem und propositional-explizitem Wissen in epistemischen 19
20
Dies gilt insbesondere für das Wissen um den eigenen Körper, auf das Polanyi (1985, S. 23) verweist: »Unser Körper ist das einzige Ding in der Welt, das wir gewöhnlich nie als die Welt erfahren, auf die wir von unserem Körper aus unsere Aufmerksamkeit richten. Erst durch diesen intelligenten Gebrauch unseres Körpers empfinden wir ihn als unseren Körper und nicht als ein äußeres Ding« (vgl. auch Bockrath 2008, S. 114.). Welche Bedeutung eine Analyse von Emotionen in Weiterführung der Erkenntnisse von Polanyi haben kann, bearbeiten Sauerborn/v. Scheve (2017, S. 155-166). Inwieweit die Diskussion um die Bedeutsamkeit impliziter Wissensformen auch die Debatte um PISA-Konsequenzen in der Pädagogik tangiert, thematisiert u.a. Bockrath (2008, S. 99124).
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
Akten, sowie die dabei angenommene personale Fundierung. Anders als Polanyi erweitert er jedoch dessen personalen Bezug und stellt den intersubjektiven, kollektiven Wissensaustausch in den Mittelpunkt seiner Überlegungen, indem er differenziert in konjunktives und kommunikatives Wissen. Konjunktives Wissen heißt für Mannheim, dass sich Einzelne oder auch soziale Gruppen einen gemeinsamen Wissensraum bzw. strukturidentischen Erfahrungsraum teilen und dort ein gemeinsames Wissen in unterschiedlichen Beziehungen entwickeln, dieses als Erfahrungen manifestieren und, wenn möglich, sich auch sprachlich vermitteln. Konjunktives Wissen ist damit immer in lebensweltliche Kontexte eingebettet, wobei Stimmungen und Emotionen »Phänomene der unmittelbaren Berührung und Annahme des Gegenüber« (Mannheim 1980, S. 208) diese Praxiserfahrungen prägen. Kommunikatives Wissen ist dagegen jenes Wissen, das in Common-SenseTheorien rollenspezifische, institutionelle, funktionelle etc. Typisierungen und Klassifizierungen kennzeichnet. Da in den sozialen Praxen immer beide Wissensarten wirksam sind, ergeben sich für die Wissensträger regelmäßig auch Konflikte und Widersprüche, und d.h. Differenzerfahrungen mit Reflexionspotential für Akteure und Beobachter. Fasst man die drei klassischen Theorieentwürfe, die hier nur ansatzweise skizziert werden konnten, zusammen, kann man feststellen: »Allen drei Theorien ist somit gemeinsam, dass zwischen zwei Ebenen des Wissens differenziert wird: ›knowing how‹ und ›knowing that‹ (Ryle), ›explizit vs. implizit‹ (Polanyi) und ›kommunikativ vs. konjunktiv‹ (Mannheim)« (Engel/Paul 2017, S. 110). In allen drei Theorien wird eine Rahmung des impliziten Wissens hinsichtlich eines Gewussten, in Abgrenzung zu einem gerahmten Nicht-Wissen angenommen, wie es Rustemeyer für reflexive Differenzanalysen betont. Bei dieser abschließenden systematischen Einordnung von Erklärungsmöglichkeiten impliziten Wissens darf aber nicht übersehen werden, dass es auch vier Jahrzehnte nach den Publikationen der drei Protagonisten immer noch viele offene Fragen bei Rekonstruktion impliziten Wissens gibt. Als primär »schweigendes Wissen« ist es, wie deutlich wurde, in vielfältiger Weise wirksam, aber nicht als ein spezifisches Gegenstandsfeld bestimmbar, sondern meist nur über seine Differenzkriterien zum expliziten Wissen rekonstruierbar. Im Bemühen, das implizite Wissen als Phänomen gegenstandrelevant ein- oder abzugrenzen, gibt es allerdings eine positive Ausnahme in der sozial- und kulturwissenschaftlichen Diskussion – und das ist der Diskurs zur Körperlichkeit impliziten Wissens.21
21
Vgl. dazu Hietzge (2017, S. 120-133).
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4.
Körperlichkeit und Bewegung – Formen von Wissen − und Erkenntnis?
Wie schon ein grober Überblick über die Wissenschaftsgeschichte zeigt, hat bis vor wenigen Jahrzehnten vor allem Descartes’ Trennung in res cogitans und res extensa auch die Bedeutung von Körperlichkeit in Wissens- und Erfahrungsprozessen vorbestimmt. Nach dem Bild »der Körper ist das Haus, in dem der Geist wohnt, und es ist darauf zu achten, dass es nicht reinregnet« wurde dem Körper vor allem eine biologisch-sinnesphysiologische Bedeutung zugeschrieben mit den daraus sich ergebenden praktischen Konsequenzen. Diese plausible und dem common sense entsprechende Auffassung prägte auch lange Zeit die abgeleiteten hierarchischen Vorstellungen von Geist und Körper, Denken und Handeln etc., mit den daraus sich ergebenden Unterscheidungen in (höheres) kognitives Wissen und (niederes) körperliches Können. Erst im letzten Jahrhundert veränderten sich diese dominanten Vorannahmen und leitete eine »Wiederentdeckung des Körpers« ein, die bis heute nicht abgeschlossen ist und zu einer deutlich anderen Beurteilung der Bedeutung von Körperlichkeit in der kulturellen Praxis geführt hat. Neben vielfältigen Arbeiten, in denen der Körper als Produkt gesellschaftlicher Prozesse, wie z.B. in der Zivilisationsentwicklung (u.a. durch Norbert Elias [1977]), der politischen Machtausübung (u.a. durch Michael Foucault [1994]), der Genderdiskussion (u.a. durch Judith Butler [2001]), der Selbstdarstellung (u.a. durch Erving Goffman [1971]) oder der Klassenzugehörigkeit (u.a. durch Pierre Bourdieu [1982]) und weiteren Bereichen auch empirisch untersucht worden ist, gibt es einen breiten Diskurs, in dem Körperlichkeit und menschliche Bewegung als ein spezifisches Konstrukt menschlicher Wissens- und Erkenntnismöglichkeiten analysiert wird. Auf diese Forschungsperspektive soll abschließend etwas ausführlicher eingegangen werden. Kennzeichnend für die Philosophische, Kulturwissenschaftliche und Historische Anthropologie des letzten Jahrhunderts ist die explizite Hervorhebung und Bearbeitung des leiblich/körperlichen Aspekts bei der Analyse von Mensch-WeltBezügen. Von Herder (1794/1968), Gehlen (1986), Plessner (1928/1975), MerleauPonty (1966) bis zu Foucault (1974) und Bourdieu (1993), um nur einige für die weitere Diskussion relevante Vertreter zu nennen, werden die entsprechenden Voraussetzungen in besonderer Weise analysiert. Aus heutiger Sicht lassen sich dabei verschiedene Entwicklungsschritte erkennen, die auch eng mit bestimmten Protagonisten verbunden sind.
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
4.1
Der Mensch als »Mängelwesen der Natur« oder das »nicht festgestellte Wesen«
Es war Ende des 18. Jahrhunderts u.a. Johann Gottfried Herder (1794/1968), der versucht hatte, Immanuel Kants philosophische Frage »Was ist der Mensch?« mit Bezug auf Abgrenzungskriterien zur Tierwelt zu beantworten. So ist es kennzeichnend für Tiere, dass sie in der Regel über feinere Sinnesorgane verfügen und über Instinkte ihre Umwelt beherrschen. Diese ermöglichen es ihnen, in ihrer jeweiligen Tiersphäre ihr artgerechtes Leben zu optimieren. Daran gemessen ist der Mensch ein Mängelwesen. Mit schwächeren Sinnen ausgestattet, muss er alles, was er in seiner Welt zum Lebensunterhalt braucht, mit großem Zeitaufwand lernen. Arnold Gehlen (1986) nimmt diesen Grundgedanken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf und entwickelt daraus eine umfassende Anthropologie des Menschen als »Mängelwesen der Natur«. Der Evolution nicht gewachsen, verfügt der Mensch weder über ausreichende Instinktmechanismen noch über eine angeborene Motorik. Durch diesen prinzipiellen Mangel unterliegt er für Gehlen einem generellen Handlungszwang und kann sich nur, im besten Fall, der Bedingtheit bewusst werden und die Prämissen dieser Relativität erkennen. Bei seinem Fundierungsversuch vernachlässigt Gehlen allerdings einen Aspekt menschlicher Entwicklung, den schon Herder als weitere Konsequenz seiner Anthropologie hervorhob: die Freiheit des Menschen. Durch die Überwindung der »ersten« Mängelausstattung gelingt dem Menschen nicht nur deren Ausgleich, sondern er wird der erste »Freigelassene der Natur«, worauf u.a. Gunter Gebauer (2006) hingewiesen hat: »In der frühen Periode der Entwicklung des menschlichen Wesens gibt es noch kein steuerndes Denken. Aber hier findet sich der freie Gebrauch der Möglichkeiten des Organismus, der eine einmal gefundene Möglichkeit exploriert, diese festhält und auf ihr aufbauend, wieder neue Möglichkeiten sucht« (Gebauer 2006, S. 160). Darin zeigt sich eine Qualität des Menschen, die Friedrich Nietzsche (1878/1961) veranlasste, ihn als »das nicht festgestellte Tier« zu bezeichnen. Mit diesem Verweis auf die Freiheit, Offenheit und Dynamik ergibt sich jedoch gleichzeitig die Notwendigkeit, innerhalb der verschiedenen Aktivitäten auch Strukturen und Ordnungen zu schaffen, sich als ein formendes und formgebendes Wesen zu begreifen. Wie gezeigt, machte Cassirer dies dann zum Schwerpunkt seiner Philosophie und verteidigte ihn auch gegenüber Heidegger in der Disputation in Davos 1929, als er daran erinnert, dass es keinen anderen Weg von Dasein zu Dasein gibt als durch die Welt der Formen. So formt ein Kind seine Bewegungen im Laufen, Stehen, Greifen und entwickelt dabei auch Normenvorstellungen für die gesollten Zustände und deren Grenzüberschreitungen mit den daraus sich ergebenden Differenzerfahrun-
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gen. Entscheidend ist, dass diese grundlegenden Strukturierungs- und Formungsprozesse häufig ohne Bezug auf Bewusstsein und Denkprozesse stattfinden – und dennoch eine aus der sozialen Praxis sich ergebende Ziel- und Zukunftsdimension (Teleologie des Handelns) entwickeln.
4.2
Die exzentrische Positionalität des Menschen
Es war dann vor allem Helmuth Plessner, der den Aspekt der Freiheit mit den daraus sich ergebenden situationsunabhängigen Handlungsmöglichkeiten in ein anschlussfähiges Konzept der Philosophischen Anthropologie integriert. Schon 1923 hatte er in »Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des Geistes« auf die Vorrangstellung der Sinne vor dem Denken hinsichtlich des Weltbezugs des Menschen verwiesen. 1928 präzisierte er diese Überlegungen in »Stufen des Organischen und der Mensch«. Sein Ziel ist ein ganzheitlicher Entwurf der Grundbedingungen des Menschen durch eine »Versinnlichung des Geistes« und eine »Vergeistigung der Sinne«, verbunden mit dem Ziel, die Verengung auf einzelwissenschaftliche Betrachtungsweisen, wie sie die Soziologie, Psychologie oder Biologie bisher entwickelt hatten, zu überwinden. Mit Bezug auf die Phänomenologie und in Abgrenzung zur Transzendentalphilosophie Kants versucht Plessner, eine »Transzendentalanthropologie« zu schaffen. Im Rückgriff auf zeitgenössische Erkenntnisse der Biologie und Psychologie entwirft er eine Konzeption vom Menschen, die nicht nur den Dualismus Descartes’ im Sinne einer dialektischen Anthropologie überwindet, sondern diese auch weiter präzisiert, indem er auf die »prinzipielle divergierende AußenInnenperspektive« lebendiger Körper verweist. So haben organische Lebewesen, im Gegensatz zu Pflanzen Grenzen, die sie sich selbst setzen und überwinden können. »In seiner Lebendigkeit unterscheidet sich […] der organische Körper vom anorganischen durch seinen positionalen Charakter oder seine Positionalität« (Plessner 2003, S. 184). In Abgrenzung zur Pflanzen- und Tierwelt erschließt sich für Plessner die Spezifik des Menschen durch einen besonderen Welt-Bezug. So ist die Pflanze (raum-zeitlich) an eine Position gebunden, dem Tier kann eine »zentrische Positionalität« zugesprochen werden, wohingegen der Mensch diese durch eine »exzentrische Positionalität« erweitern kann. »Ist das Leben des Tieres zentrisch« schreibt Plessner, »so ist das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus, exzentrisch« (Plessner 1928/1975, S. 291-292). Diese Exzentrizität ist durch besondere Merkmale gekennzeichnet, die sich insbesondere über verschiedene Reflexionsweisen realisieren22 . 22
Für Schürmann bedeutet das: »Exzentrizität ist bei und für Plessner eine Idee des MenschSeins, und der Bezug zwischen dieser Idee und den vielen in Vergangenheit, Gegenwart
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
So weiß der Mensch grundsätzlich, dass er von sich weiß, dass er sich auf sich zurückbeziehen kann und dass er davon ausgehend verschiedene Formen der Reflexion entwickeln kann – Fähigkeiten, die der »tierischen Stufe« verwehrt sind. Beide zentralen Begriffe, den der »Grenze« und den der »exzentrischen Positionalität« expliziert Plessner darüber hinaus in Bezug auf die zwei zentralen Begriffe der deutschsprachigen Philosophischen Anthropologie, den des »Leibes« und den des »Körpers«. Dabei wird meist übersehen, dass Plessner diese Differenzierung nicht ontologisch von einem bestimmten Daseinszustand ableitet, d.h. dem Leib und dem Körper nicht eine jeweils eigene materialisierte Seinsweise zuschreibt. Vielmehr muss die Explikation des Begriffs »exzentrische Positionlität« zur Unterscheidung von Leib und Körper als eine analytische Differenz angesehen werden, die sich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven ergibt. »Körper haben« und »Leib sein« sind keine differenten Seinsweisen, sondern sie ergeben sich aus unterschiedlich möglichen Umweltbezügen des Menschen. »Der Mensch lebt in einem unaufhebbaren Doppelaspekt seiner Existenz als Körper und als Leib. Als Körper ist er ein ›Ding unter Dingen an beliebigen Stellen eines Raum-Zeitkontinuums‹. Als Leib ist er das ›um eine absolute Mitte konzentrisch geschlossene System in einem Raum und einer Zeit von absoluten Richtungen‹ (Plessner 1995, S. 294)« (Jäger 2006, S. 218). Bezogen auf die Frage nach dem Selbst bedeutet das, dass der Mensch über den Leibbezug (im Verhältnis zu seiner Umwelt) einen unmittelbaren Ausgangspunkt zum Hier und Jetzt entwickelt, durch den er – in einem zentrischen Sinne – zunächst direkt der Welt ausgesetzt ist und gleichzeitig die Möglichkeit hat, den Körper – in einem exzentrischen Sinne – in zweifacher Weise als Gegenstand in Bezug zur differenten Umwelt und als eigenen Körper wahrzunehmen, was Ulle Jäger hervorhebt: »Das Tier spürt und merkt seinen Leib, merkt aber nicht, dass es merkt. Dieses Merken setzt erst auf der Stufe des Menschen ein. Dementsprechend bezeichnet Plessner diese Stufe als exzentrisch: Durch das menschliche Bewusstsein und die Möglichkeit der Reflexion auch seiner eigenen (leiblichen) Standpunkte ist die
und Zukunft real-existierenden Exemplaren der Gattung homo sapiens ist kontingent« (Schürmann 2006, S. 87), wenn Plessner betont: »Wenn der Charakter des Außersichseins das Tier zum Menschen macht, so ist es, da mit Exzentrizität keine neue Organisationsform ermöglicht wird, klar, daß er körperlich Tier bleiben muß. Physische Merkmale der menschlichen Natur haben daher nur einen empirischen Wert. Mensch sein ist an keine bestimmte Gestalt gebunden und könnte daher auch (einer geistreichen Mutmaßung des Paläontologen Dacque zu gedenken) unter mancherlei Gestalt stattfinden, die mit der uns bekannten nicht übereinstimmt« (Plessner 1928/1975, S. 293).
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sphärische Einheit zwischen Selbst und Umwelt, in der das Tier lebt, aufgebrochen« (Jäger 2006, S. 218). Mit dieser dialektischen Anthropologie gelingt Plessner nicht nur die Überwindung des sich immer wieder neu in Körperdiskursen entwickelnden Dualismus Descartes’, sondern er weist auch durch die Betonung der Perspektivität der Zuordnung von Leib/Körper jede Form von materialisiertem Denken in dieser Frage zurück.23 Gleichzeitig bietet er mit der Explikation des Leibbegriffs eine Ausgangsposition an, die nicht nur von anderen Autoren, wie z.B. Merleau-Ponty, aufgenommen wurde, sondern die, wie anschließend gezeigt werden wird, auch in Bezug zu aktuellen soziologischen und sozialphilosophischen Körperkonzepten von Bedeutung sein kann. Der Leib ist danach weder etwas Ursprüngliches noch der sozialen Ordnung Vorgängiges, sondern immer schon ein in soziale Kontexte Eingebundenes und durch sie Geprägtes.24
4.3
Die Phänomenologie menschlicher Erfahrung
In seiner »Phänomenologie der Wahrnehmung« (1945, dt. 1966) entwickelt Maurice Merleau-Ponty eine Leib-Konzeption, die nicht nur anschlussfähig ist gegenüber entsprechenden Aussagen Plessners, sondern darüber hinaus auch durch empirisch gestützte Analysen von Wahrnehmungs- und Bewegungsprozessen diese spezifiziert, wenn er z.B. auf die Reversibilität des Tastsinns verweist und dies mit einem besonderen »Subjekt-Objekt-Verhältnis« des Leibes begründet, wie Gérard Wormser betont: »Wenn meine rechte Hand meine linke Hand berührt, wird es im selben Augenblick auch schon unmöglich, zwischen berührter und unberührter Hand zu unterscheiden, und der Leib im Ganzen offenbart sich so als ein ›Subjekt – Objekt‹, das nur in dem Maße empfindet, wie es sich von außen affizieren lässt, das die Welt nur durchdringen kann, weil die Welt es immer schon durchdringt« (Wormser 1995, S. 131). Darüber hinaus entwickelt Merleau-Ponty durch die Verbindung von Leibphänomenologie und Ästhesiologie (der Lehre der Sinneswahrnehmungen) eine Anthropologie mit dem Anspruch, die klassischen Dualismen von Bewusstsein und Welt unterlaufen zu können, indem er den Ausgangspunkt genauer bestimmt, von dem
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Dazu wiederum Schürmann (2006, S. 93): »Man trifft einen wesentlichen Punkt der Anthropologie Plessners, wenn man sagt, dass Plessner den Menschen als ein Wesen denkt, das sich zu etwas zu machen hat. Exzentrizität ist wesentlich eine Abhängigkeit zu sich, ein Gebrochensein von Körper-Sein und Körper-Haben – ein Verhältnis, das bewältigt sein will.« Vgl. dazu Jäger, U. (2006, S. 227f.).
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aus wir als Subjekt wahrnehmen, wenn wir wahrnehmen.25 In Abgrenzung zu Kant stellt er dem Denken in Kategorien ein »Lebendiges Denken« entgegen, das in den Sinnen selbst schon angelegt ist, denn die Welt, wie wir sie wahrnehmen und erfahren, ist uns nach ihm vor jeder begrifflichen oder kategorialen Setzung immer schon gegeben in unserem Leib. »Das Kantische Subjekt setzt eine Welt, doch um überhaupt eine Wahrheit behaupten zu können, muss das wirkliche Subjekt allererst eine Welt haben und zur Welt sein, und d.h. um sich und mit sich ein System von Bedeutungen tragen, deren Entsprechungen, Verhältnisse und wechselseitigen Anteile des Gebrauchs fähig sind, ehe sie der Explikation bedürfen« (Merleau-Ponty 1966, S. 157). Das bedeutet, dass das Subjekt nicht einem Chaos von Eindrücken gegenübersteht, das erst durch den Geist und das Bewusstsein geordnet wird, sondern durch das »System des Leibes« (und nicht durch einen materialisierten Leib). Mit seinen impliziten »Formungsbedingungen« (im Sinne Cassirers) entwickelt der Mensch ein »System von Bedeutungen« und gestaltetet damit ein Sein zur Welt. Anstelle eines »Ich denke« setzt Merleau-Ponty ein »Ich kann« und belegt dies durch vielfältige anschauliche Beispiele, bezogen auf relevante Basisbedingungen wie Raum, Zeit, Motorik etc. »Bewege ich mich in meinem Hause, so weiß ich in eins und ohne jede Erörterung, daß zum Badezimmer hingehen heißt, am Schlafzimmer vorbeigehen […]; in dieser kleinen Welt situiert sich jede Geste und jede Wahrnehmung unmittelbar im Verhältnis zu tausend virtuellen Koordinaten« (ebd. S. 157). Durch eine solche direkte Phänomenologie der Wahrnehmung erweitert MerleauPonty einerseits die Forschungsperspektiven und Anschlussmöglichkeiten in der Philosophie. Andererseits zeigen sich aber auch die Grenzen eines solchen Ansatzes, in dem der Leib als das Mittel des »zur Welt seienden Menschen« expliziert wird. So erkennt Merleau-Ponty am Ende seines leider nur sehr kurzen Forscherlebens selbstkritisch, dass der Versuch, eine Leibanthropologie allein mit phänomenologischen Methoden der Deskription entwickeln zu wollen, nicht möglich ist. Durch die generalisierten Aussagen, abgeleitet aus vielen Beispielen (Phantomschmerz, Sinnestäuschungen etc.), fließen immer schon theoretische Annahmen ein, die nicht selbst durch »empirische Deskription« legitimiert werden können. Entsprechend sei es notwendig, eine übergreifende Konzeption zu entwickeln, die sich nach Merleau-Pontys selbstkritischer Analyse aus einer Form- und Ausdruckstheorie ergeben könnte:
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Welche Bedeutung in diesem Zusammenhang »der Raum« besitzt, zeigt u.a. Franke, E. (2018, S. 437-445).
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»Das Studium der Wahrnehmung konnte uns lediglich eine […] Mischung von Endlichkeit und Universalität von Innerlichkeit und Äußerlichkeit offenbaren. Im Phänomen des Ausdrucks liegt indes die ›gute Ambiguität‹ vor […] die das scheinbar Unmögliche verwirklicht, scheinbar heterogene Elemente zusammenfasst und eine Vielzahl von Monaden zu einem einzigen Gewebe von Vergangenheit und Gegenwart, Natur und Kultur einigt« (Merleau-Ponty 1952-53, Vorlesung 11, 179). Nachweislich stützt sich Merleau-Ponty mit seinem Versuch, seine Aussagen zur Leib- und Sinneswahrnehmung in eine »Phänomenologie des Ausdrucks« zu überführen, auf Ernst Cassirer, der in seiner »Philosophie der symbolischen Formen« mit den Ausdrücken »Form« und »Prägnanz« versucht, die Dialektik der Wahrnehmung in der phänomenalen Welt zwischen vollendeten, abgeschlossenen Formen und dem Prozesscharakter von Form kenntlich zu machen, was Reinhard Margreiter in dem Sprachspiel zusammenfasst: »Es geht darum, die Form als Prozess und den Prozess als Form zu denken, ohne sich in ein apriorisches diskursives Begriffsnetz zu verfangen« (Margreiter 1997, S. 272).
4.4
Die Formung von Erfahrung durch Erfahrung
Zeitgleich mit revolutionären Veränderungen in der Naturwissenschaft, Technik, Kunst u.a. in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts versuchte neben Ernst Cassirer auch der Naturphilosoph Alfred N. Whitehead die Frage zu beantworten, welche Formungsbedingungen die menschliche Existenz bestimmen. Die Formung der Erfahrung ist für Whitehead ein Prozess, den nicht erst die rationale Vernunft vollbringt, sondern der bereits auf einer vor-rationalen Ebene stattfindet: »Die unterste Stufe des psychisch-geistigen Erlebens ist ein blindes Streben nach Formung des Erlebens, nach einer in diesem Akt zu‹ verwirklichenden Form‹« (Whitehead 1974, S. 25). Ein Formungsprozess, der meist selbst einer Entwicklung unterliegt, »›je ›ordentlicher‹, ›auch bestimmter‹ und ›klarer‹ sich eine Sache darstellt, desto ›vernünftiger‹ wird sie, und desto mehr Spielraum öffnet sich durch sie und mit ihr für Kritik und Selbstkritik«, wie Margreiter (1997, S. 207) mit Verweis auf Whitehead betont. »Vernunft (reason) ist bei Whitehead demnach alles andere als ein apriorisches Vermögen. Sie ist das Organisationsprinzip der Erfahrung selbst auf deren höheren Stufen und entsteht kontinuierlich aus dem Streben und der Tätigkeit nach Formung, die in der Erfahrung angelegt ist. […] Vernunft ist also eine fortgeschrittene Weise der in allem ›Streben‹ wirksamen Formung« (Margreiter 1997, S. 207). Die Grundlage einer Formung von Erfahrung liegt nach Whitehead damit in der Erfahrung selbst und ist nicht das Ergebnis einer zusätzlichen (sprachlichen) Verstandesleistung. Eine aktive Auseinandersetzung des Leibes/Körpers mit der Welt,
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bei der körperliche Bewegungen von besonderer Bedeutung sind, worauf Wilhelm Köller (2001) hinweist: »Die Kategorie Bewegung ist nicht nur eine deskriptive Kategorie, sondern auch eine erkenntnistheoretische« (Köller 2001, S. 11). Sie ist nicht das Ergebnis von Erfahrung, »sondern vielmehr etwas, was es erst ermöglicht, Erfahrungen zu machen, was also in einem transzendentalen Sinne vor aller Erfahrung liegt und diese erst strukturiert« (ebd. S. 12). D.h. diese Grundlegung lässt sich nicht in der Struktur der Vernunft verorten, »sondern in den Strukturen der kulturellen Denkund Zeichenformen, mit denen die Vernunft operiert« (ebd. S. 12). »Bewegung in einem räumlichen und einem geistigen Sinne ist deshalb eine Grundbedingung menschlichen Wissenserwerbs […] Wir erschließen uns die Welt nicht von einer Position namens ›Nirgendwo‹, sondern von unserem Leib aus, beziehungsweise von der Differenzierungskraft und Beweglichkeit seiner Wahrnehmungsorgane« (Köller 2002, S. 14-15). Entscheidend ist, dass das auf diese Weise im Leib zentrierte Wissen jedoch nicht als (materialisiertes) Gegenstandswissen missverstanden wird. Ähnlich wie wir es für Plessner bezogen auf die Leib-Köper-Differenzierung expliziert haben, ist diese Weise des Wissens immer »ein Handlungswissen, weil es uns nichts über die Anatomie von Phänomenen sagt, sondern etwas über den optimalen Umgang mit Phänomenen« (ebd. S. 16). Dies bedeutet aber auch, dass diese subjektive Formung immer eingebunden ist in einen universellen Prozess der Formgestaltung. Durch diese bei Cassirer sichtbar werdende Verbindung von »sinnlicher« Erfahrung und »geistigem« Sinn unter dem Aspekt der Form wird der Vernunftbegriff nicht nur erweitert um die Dimension der »Aisthesis« bzw. »Ästhesiologie«, sondern – worauf Schwemmer (1997b) verweist – das Verhältnis gleichsam umgedreht. Der kulturelle Austauschprozess, durch den die Individualität bestimmt wird und der gemeinschaftliche Gebrauch gesichert ist, ist immer auch ein sozialer Austauschprozess leiblich-konkreter Weltverhältnisse. »Der Mensch ist nicht nur ein in der Welt handelndes und sorgendes Wesen. Er ist auch ein Ausdruckswesen […] Damit ist der Wille zur Form geboren. Und die Formen verstärken und schwächen sich gegenseitig – nicht als Merkmale von Dingen, sondern zunächst als Markierungen unseres Lebens in der Welt […] Nicht das Gehirn bestimmt, was wichtig und unwichtig, nützlich oder schädlich ist. Dies ergibt sich aus den praktischen Weltverhältnissen« (Schwemmer 1997b, S. 110-111). Hervorzuheben an diesem Formungsprozess primärer Welterfahrung ist nach Schwemmer dabei zweierlei: Zum einen handelt es sich bei aller Individualität der Erfahrung niemals um einen privaten, sondern durch die Formen selbst immer um einen kulturell vermittelten Formungsprozess, und zum anderen hat
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bei diesen verschiedenen Weisen geformter Welterfahrung der Leib, haben die unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen eine jeweils spezifische Funktion, wie Schwemmer betont: »(Der) Körper mit seinen Bewegungen, besonders mit der Beweglichkeit seiner Arme und Hände, seine Miene, seine Stimme, aber auch der Dinge, die er in die Hand nehmen und sonst wie benutzen kann […] sind Mittel, sich seinen Ausdruck zu verschaffen […] aufgrund unserer leiblichen Weltverhältnisse formieren sich ganze Repräsentationskomplexe […] (die) eine Befestigung von Repräsentationsgefügen oder-mustern bedeuten« (Schwemmer 1997b, S. 111-112).
4.5
Die soziale Mimesis als organisiertes Gesamtkonstrukt
Schwemmers Erweiterung der Symboltheorie Cassirers zu einer zeitgemäßen Kulturphilosophie ermöglicht auch den Brückenschlag zu einer Diskussion, die von Gunter Gebauer und Christian Wulf (1998) unter dem Stichwort »soziale Mimesis« seit einigen Jahren angeregt worden ist. Im Rahmen einer größeren philosophischen Abhandlung zum Mimesis-Begriff werden von ihnen u.a. die Bewegung, das Spiel und der Wettkampfsport zum Thema spezifischer MimesisEntwicklungen. Mit Bezug auf die Sozialphilosophie Bourdieus entwickeln sie eine Argumentationsfigur, die gegenüber den dargestellten Theorieansätzen anschlussfähig erscheint. »Das Individuum befindet sich zwar in einer strukturierten gesellschaftlichen Umwelt, aber es empfängt von dieser nichts anderes als eine Vielzahl inkohärenter Sinneseindrücke. Es muss die von den Sinnen herbeigebrachten zusammenhängenden Einzelteile zu einem Bild der Welt synthetisieren. Dies ist ein von Kant entwickelter Grundgedanke. Freilich entwirft Bourdieu diesen Prozeß nicht als einen rein geistigen wie Kant, sondern als einen sozialen und praktischen […] Die wesentliche Instanz ist dabei der Körper mit seinen Sinnen und seinen Bewegungen innerhalb der sozialen Welt […] Die soziale Praxis selbst besitzt eine gesellschaftlich eingerichtete systematische Organisation […] indem sie soziale Fertigkeiten und Fähigkeiten, praktisches Wissen, Dispositionen, Wahrnehmungs- und Bewertungsweisen ausüben und zu einem systematisch organisierten Gesamtkonstrukt ›synthetisieren‹. Wo Kant allen Sinneseindrücken ein transzendentales ›Ich denke‹ hinzufügt und ihnen auf diese Weise Kohärenz erteilt, findet man bei Bourdieu die Konstruktion des Habitus« (Gebauer/Wulf 1998, S. 46-47). Eingebunden in diese Formen sozialen Sinns, entwickelt der Mensch wie schon gezeigt nach Bourdieu eine Logik der Praxis, bei der die realen körperlichen Bewegungen in Form von Gesten, Ritualen und Erwartungen ein Handeln entstehen lassen,
Symbolische Ordnung oder Ordnung als Form – ein Wortspiel mit Bedeutung für Kulturanalysen
das sich gleichsam »innerhalb« der in psychologischen Handlungstheorien angenommenen Differenzierung in innen/außen, bewusst/unbewusst, konstituiert. Zusammenfassend kann man also sagen, dass der Formungsprozess des Menschen von bestimmten Merkmalen gekennzeichnet ist: •
• •
4.6
Der Prozess der (individuellen) Formung ist kein privater Vorgang. Er findet immer in einer sozial geprägten Welt statt. Die Form des Habitus ist die »Erzeugungs- und Ordnungsgrundlage für Praktiken und Vorstellungen« (Bourdieu, 1987, 98), wobei der Körper im Sinne einer »permanenten Gedächtnisstütze« (Alkemeyer & Schmidt 2003) die Struktur des Habitus aufbewahrt. Die Formung von Erfahrung folgt dabei der Dialektik einer Form als Prozess und der eines Prozesses als Form. Mit der Entwicklung von bewussten und unbewussten, verbalen und nichtverbalen Formen als Ordnungsmuster kann der Mensch zur Welt und zu sich selbst in Bezug treten, sich reflexiv und selbstreflexiv verhalten.
Die Reflexivität als inhärentes Moment ästhetischer Erfahrung
Ein zweiter Aspekt neben der gleichsam immanenten Form-Logik der Sinneserfahrung ist die Annahme, wonach die Reflexion auch als eine wesentliche Basisbedingung von ästhetischen Prozessen anzusehen ist. Auf sie soll abschließend noch kurz eingegangen werden. Im Unterschied zur klassischen Bestimmung der Ästhetik als einer Theorie des Schönen betont ein Teil modernen Ästhetik-Theorien den Erkenntnischarakter des Sinnlichen. Sie können daher auch als Erkenntnistheorien der sinnlichen Wahrnehmung angesehen werden. Für Christoph Menke z.B. ist »das Ästhetische ein wesentliches reflexives Geschehen, das durch eine besondere Form der Reflexion bestimmt ist« (Menke 2001, S. 161), die auch körperliche Sinneserfahrungen einschließt. Wie dies zu verstehen ist, erläutert Heinz Paetzold (1994) am Beispiel des Blickkontakts: »Etwas näher an der ästhetischen Reflexion liegt jener Typus von Reflexion, der sich auftut, wenn sich zwei menschliche Blicke kreuzen. In diesem Falle, etwa wenn zwei Menschen einander anblicken, werden wir einander inne, indem wir auf den Anderen blicken […] Der Andere erfährt sich selbst, indem sein Blick auf mir ruht und ich den Blick erwidere. Der entscheidende Punkt ist, daß ich etwas tue, und zwar zunächst durchaus selbstlos. Und genau in dem Moment, da ich den Blick des Anderen auf mir spüre, werde ich meines Sehens inne. Ich gewinne blickend die Gewißheit meiner selbst […] Ich tue etwas – unbeabsichtigtes Blicken – und werde mir dessen inne, dass ich etwas tue. Blickend erfasse ich mich als
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jemand, der blickt. Dieser Punkt ist für uns wichtig. Ästhetische Reflexivität besteht genau darin, daß ich meine Leibesorgane betätige und daß ich mir zugleich dessen innewerde, dass ich dies tue. Ästhetisch sehe ich, wenn ich mir dessen innewerde, dass ich sehe« (Paetzold 1994, S. 152-153). Für Menke folgt daraus: »Die ästhetische Reflexion ist praktisch und ästhetische Praxis ist reflexiv« (Menke 2001, S. 172). Dies bedeutet, dass die Stufe der reflektorischen Erkenntnis immer dann erreicht wird, wenn die normale Sinneserfahrung, gleichsam der Fluss der permanenten Mensch-Welt-Beziehung, selbst zum Thema wird, auf sich selbst verweist. Dabei ergibt sich eine ästhetische Erfahrung jedoch erst, wenn aus dem »Strom der Alltagserfahrung«, ein Abgrenzungskriterium diesen Erfahrungsprozess bestimmt und eine Metaperspektive auf die Erfahrung möglich wird.
5.
Resümee: Reflexive Kulturtheorie – Grenzmarkierung expliziter und impliziter Formungsbedingungen
Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, ist es eine zentrale Herausforderung bei der Konzipierung einer Theorie kultureller Praxis, jene »doppelseitige Fassung von Kultur […] die beiden – bisher weithin unverträglich gehaltenen – Elemente: ›Kultursystem‹ und ›soziale Praxis‹ in eine komplexe Beziehung« (Hörning 2004, S. 147) zu setzen. Aus Sicht eines Teilnehmers, der die soziale Praxis als »ein abgrenzbares Ensemble kultureller Sinn- und Deutungsschemata, als ein vielgestaltetes gespreiztes Geflecht an Wissensbeständen« (ebd. S. 150) erfährt, besteht dieses »In-Beziehung«Setzen nach Hörning vorrangig darin, ein »verbindendes Glied zwischen Normativismus und Pragmatismus« (ebd. S. 150) mit dem Ziel zu finden, ein optimales »Gewusst wie«, eine »Logik der Effizienz« zu entwickeln. Entsprechend ist es auch nachvollziehbar, dass Regeln, Normen und Schemata nur so weit als Deutungsmuster Beachtung finden, wie sie dem entsprechen, was tatsächlich regelmäßig stattfindet. Sie bilden für den in die Situation eingebundenen Handelnden wichtige Rahmungsbedingungen, die oft nur als Differenz, bei Störungen oder Grenzerfahrungen, erkennbar werden und als Widerstände des Erwarteten in der Regel auch schnell überwunden werden wollen. Im Gegensatz zum Akteur, der sich an einer Optimierung des »Gewusst wie« orientiert, fragt der theorieorientierte Beobachter mit einer analytischen Brille nach dem »Gewusst warum«, nach dem »theoretischen Ausdruck« einer solchen sozialen Praxis wie Ryle betont, wenn er unterscheidet in »›knowing how to do so-and-so‹ bzw. ›knowing how to go on‹ und ›knowing that so-and-so in the case« (Ryle 1969, S. 26-77). Für eine Theorie kultureller Praxis folgt daraus für Hörning:
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»(Sie) muss nicht nur die relevanten Formen praktischen Wissens herausarbeiten, sondern auch zeigen, wie dieses seine implizite Kraft in den jeweiligen Handlungszügen und Handlungskontexten entfalten und dort ein stimmiges und relevantes Ergebnis erzielen kann oder nicht« (Hörning 2004, S. 149). Ein Prozess, so kann man ergänzen, bei dem die »Stolpersteine« des Erwarteten nicht effizient ausgeglichen, sondern Anlass zu reflektierenden »Warum«-Fragen werden. Wie weit ein solches »reflexives Wissen« die Verflochtenheit sozialer Praxis aus externer Sicht ordnen kann, beschreibt u.a. Hans-Rüdiger Müller am Beispiel von familiären Erziehungsprozessen, die sich für ihn »als Kreuzungspunkt divergenter Ordnungen (z.B. der Ordnung des Alltagswissens und der Ordnung des Fachwissens oder der Ordnung eines spezifischen praktischen Wissens und der Ordnung des reflexiven Wissens)« (Müller 2017, S. 303) kennzeichnen lassen. Entscheidend ist bei der Analyse solcher »Kreuzungssituationen«, dass dort, durch die verschiedenen Ordnungsformen, oft auch zwei unterschiedliche normative Formungsprozesse wirksam sind. So kann man einerseits, bezugnehmend auf die Spätphilosophie Ludwig Wittgensteins (1967) davon ausgehen, »dass sich in den sozialen Praktiken implizite Normen herausbilden, die überhaupt erst die expliziten Regeln zur Wirksamkeit gelangen lassen« (Hörning 2004, S. 148). Andererseits gibt es aber auch normative Vorgaben in kulturellen Praxen, die als geformte Basisbedingungen oder Rahmungen diese Praxis als Praxis erst ermöglichen – ohne dass sie im direkten Prozessverlauf der Praxis als solche erkannt werden können. Sie sind jene Bedingungen der Möglichkeit, die der Akteur nicht kennen muss, um erfolgreich handeln zu können, deren Kenntnis aber für den analysierenden Beobachter sehr bedeutsam sein können, um eine reflexive Theorie kultureller Praxis zu entwickeln. Wird dieser zweite Aspekt kultureller Theoriebildung als ebenso wichtig angesehen wie die zu Recht favorisierte situationsadäquate performative Praxisanalyse aus Teilnehmersicht, ist es notwendig, auch die Erforschung gut begründeter kulturrelevanter Formungsprozesse, denen solche Basisfunktionen kultureller Praxis zugeschrieben werden können, zu beachten und weiterzuentwickeln. Die folgenden Beiträge in diesem Band zeigen, wie facettenreich dieser Prozess ist.
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Erkennen und Handeln – durch Schematisieren Hans Lenk
1.
Schema-Funktionen
Der Mensch denkt, erkennt und handelt nur, indem er auch schematisiert, strukturiert und deutet. Er nimmt z.B. nur mittels bzw. in Strukturen oder Konstrukt(ion)en wahr, denkt in und durch Schemata, handelt in relativ geordneter Form, sei es unter Zielen, Wertungen, Normen, Routinen, sei es unter Triebregungen oder Emotionen. Was ich eine Philosophie des Schema-Interpretationismus nenne, ist eine eher durch die Methodenanalyse veranlasste Sicht, die ich seit vier Jahrzehnten entwickelt habe. Dabei gehe ich einerseits auf Kants Tradition des Strukturierens und Schematisierens unserer Erfahrungen und aller »Erfassungen« durch Muster, durch, kantisch gesprochen, vom Subjekt vorgegebene »Formen« (Schemata1 , wie ich gerne sage) zurück. Die Frage ist natürlich: Was heißt hier ›vom Subjekt vorgegeben‹? Andererseits gehe ich auch aus von Beispielen und Begriffen aus der Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften, zumal der Psychologie im Zusammenhang mit Motivationstheorien, mit Handlungstheorien, wobei sich herausstellte, dass wir unsere Erfahrungen, Erlebnisse, Strukturierungen unserer bewussten Prozesse offensichtlich in recht konstanter, verlässlicher Weise »formieren«, in einem weiteren Sinne »konstruieren«2 .
1
2
Dieser Begriff des Schemas bzw. Schematisierens kam in der Tat systematisch bereits aus der Philosophie: Schon Kant (KrV B, 179ff.), stützte sich wesentlich auf solche Formen und Vorgänge. »Konstruieren« ist ein Ausdruck, den heute auch die empirischen Hirnforscher benutzen, obwohl das »Konstruieren« in diesem Sinne natürlich nicht explizit in jenem Sinne gemeint sein kann, dass man nun bewusst, planmäßig wie ein Ingenieur oder Architekt konstruiert. Sondern es handelt sich um solche Strukturierungen, die zum Teil ohne Absicht schematisiert, durch biologische Formierungsvorgaben angelegt, bedingt, geprägt sind und weitgehend unbewusst bzw. unterbewusst ablaufen.
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Hans Lenk
Andere Überlegungen der Wissenschaftstheorie stützen die Ansicht, dass der Mensch in der Tat bei seinem Erkennen nicht nur passiv etwas aufnimmt, widerspiegelt, abbildet, sondern dass er immer in bestimmten Formen, Strukturen oder unter bzw. durch oder in Strukturierungen – man könnte sagen »schematisiert« – etwas erfasst. Der Begriff des Schemas, der Schemata und Prozesse der Schematisierung spielt methodologisch und auch funktionell-praktisch eine entscheidende Rolle – nicht nur in/bei der Kognition, sondern auch im Handeln: Wir können nicht nicht interpretieren (Vf. 1993, 350), d.h. nicht verstehen und deuten oder gar geordnet Wahrnehmungen, Erkennen, Denken und auch Handeln vollziehen, ohne Schemata zu (re)aktivieren: Wir können nicht nicht schematisieren! Dies gilt auch für das repräsentierende und beim sich im empirischen wie im (kantischen) »reinen« »Ich« »vorstellenden« (repräsentierenden) bewussten und auch teil- bzw. unterbewussten Handeln. Man kann eine solche eher methodologisch-»formale« (weil auf Formen bezogene) Philosophie zu einer umfassenden erkenntnistheoretischen Sichtweise ausarbeiten, wenn man sich klar macht, dass alle unsere Zugänge zur Welt, seien es solche durch (Wahrnehmungs-)Erkenntnis oder solche durch Handeln, immer »schematisiert« sind. Sie können nur in bestimmten Strukturformen gestaltet auftreten. Das jeweilige Etwas kann lediglich abgehoben von anderen Phänomenen bzw. Gehalten irgendwie abgetrennt und dementsprechend dann gekennzeichnet und erfasst werden. Unsere Welt wird in deren Repräsentation als repräsentierte, vorgestellte, gestaltete, »erfasste«, zum guten Teil eben auch durch unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten zur Strukturierung, zur Darstellung, zur Formierung »gestaltet.« – Sie wird erst konstituiert«, wie der Ausdruck in der Philosophie zeigt, bzw. repräsentativ erfasst oder in der Darstellung und Vorstellung »strukturiert« sein, indem eine Zuordnung von den Formierungen einerseits und dem Formierten andererseits durch diese Prozesse der Strukturierung erst den so formierten Gestalten Bedeutung verleiht. Dies bezieht sich zunächst auf die Erkenntnisse durch sinnliche Wahrnehmung, die strukturiert sind und schematisiert ablaufen, häufig unabhängig von unserer Willkür, was sich auch neurophysiologisch kontrollieren lässt. Das Gesagte trifft aber auch für die begrifflichen, z.T. konventionellen, also »kollektiv willkürlichen«, Darstellungsmöglichkeiten durch Sprache zu. Und es gilt vor allem für die strukturierende Gestaltung durch Handlungen, durch Eingriffe und Zielprojektionen, beispielsweise durch instrumentelle Anordnungen, Planungen usw. Eine Art von Interaktionismus des experimentellen Zugriffs und der jeweiligen Erkenntnis ist auch in der Wissenschaftstheorie, beispielsweise der physikalischen Quantentheorie, seit langem.in der Diskussion3 . 3
Man spricht von »Präparation« in der Versuchsanordnung. Was man in den Versuchsaufbau hineinsteckt, also die experimentelle und instrumentelle Anordnung, entscheidet wesent-
Erkennen und Handeln – durch Schematisieren
Mit anderen Worten: Die äußere Welt – aber das gilt natürlich dann erst recht auch für die innere Welt der Phänomene, wie wir sie erfahren – ist erfassbar, insoweit Repräsentationen von ihr, Darstellungs- und Vorstellungsversionen von ihr, von uns Menschen »gemacht« oder durch in uns vorgefundene Interpretationsschemata gestaltet, gebildet, strukturiert, »geformt« sind. Alles, was wir als erkennende und handelnde Wesen erfassen und darstellen können, ist abhängig von solchen Schematisierungen, geschieht durch derartige Musteranwendungen, durch die Bildung, die Stabilisierung und Anwendung, und das heißt: durch die Aktivierung von solchen repräsentativen Schemata bzw. repräsentierenden Erfassungsformen. Die Erfassung wird stabilisiert durch entsprechende Reaktivierungen, also durch die Wiederholung der ersten Aktivierung(en), die erst eine Konstanz der Erkenntnis und aller Erfassungsformen möglich machen. Den Ausdruck »Erfassen« benutze ich, weil er mir einerseits das aktive Moment beim Erkennen, Strukturieren und Gestalten darstellt, andererseits sich aber auch auf Sinneswahrnehmung und höhere Vorstellungen bezieht. »Erfassen« im Sinne von »fassen«, das ja darin anklingt, ist durchaus aktivistisch zu verstehen. Der Mensch ist also das Wesen, das sowohl auf Erfassungen im eher passiven (z.B. z.T. in der direkten Sinneswahrnehmung) als auch im eher aktiven Sinne angewiesen ist. Er ist jenes Wesen, das auf Anwendungen von Schemata oder auf Schematisierung– sowohl methodisch wie biologisch – angewiesen ist. So lässt sich zeigen, dass selbst beim sinnlichen Wahrnehmen biologisch angelegte Strukturierungen vorhanden sind.4 Der Mensch ist also das notwendig schematisierende Wesen, das seine Schemata in gewisser Weise bewusst erkennen, gestalten kann und dabei Schemata sowohl beim Denken als auch beim Handeln anwendet. Alles Denken, Erkennen und Handeln ist ein aktives Strukturieren, »Konstituieren«, bzw. Konstruieren i. w. S. (s. Abb. 1), das jeweils auch eine Art von Bewertung mit umfasst. Dies ist bekannt und mittlerweile auch neurophysiologisch nachgewiesen: Zum Beispiel wird von Damasio (1994, dt. 1995)) gezeigt, dass selbst die höchsten abstrakten Gedanken, etwa des Mathematikers, nicht unabhängig von Emotionen oder Affektionen (aktiviert im sog. limbischen System, bei Furcht/Angst u.a. des Mandelkerns usw.) geschehen (können). Was die Repräsentationen im Gehirn
4
lich mit darüber, was wir für Antworten (möglicherweise) bekommen. Das scheint mir nicht nur in der Quantentheorie des Mikrokosmischen so zu sein, sondern generell zu gelten, wenn auch natürlich auf z.T. anders zu verstehende Weise. Das zeigt sich etwa negativ darin, dass uns gewisse Erfahrungen nicht zugänglich sind, weil wir eben die entsprechenden Sinnesorgane nicht haben. So haben wir zum Beispiel keine Ultraschallorgane wie etwa die Fledermäuse oder keinen magnetischen Sinn wie einige Zugvogelarten usw. Aber wir haben natürlich Möglichkeiten, diese Mängel dann durch technische Instrumente, Erfindungen und Entwicklungen in gewisser Weise auszugleichen oder auch sogar zu übertreffen.
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Abb. 1
angeht, so lässt sich das mittlerweile durch nicht-invasive Verfahren der bildgebenden »Strukturwiedergabe«, wie beispielsweise funktionelle Magnet- bzw. Kernresonanzspektrographie und ähnliche Verfahren nachweisen. Man kann also zumindest korrelativ die Beteiligung bestimmter Hirnareale bei auch scheinbar völlig weltabgehobenen abstrakten Erkenntnissen nachweisen. Daraus kann man schließen: Denken findet nicht im idealen Raum statt, wie man das traditionell zumeist gedacht hat, sondern Denken, Erkennen und Handeln sind immer auch aktiv und physisch »realisiert«, sind in gleicher Weise und in Abhängigkeit voneinander »Strukturierungen«, sind voneinander letztlich eigentlich nur analytisch zu trennen. Im Aktivierungsgeschehen wie in der Alltagspraxis gehen diese Fähigkeiten ineinander über; sie treten nicht völlig voneinander iso-
Erkennen und Handeln – durch Schematisieren
liert auf. Das ist natürlich eine Idee, die durchaus schon bei Immanuel Kant bereits eine mehr oder minder deutliche »Konstruktivität« zeigt.
2.
Schema-Interpretationsstufen
Durch die Einführung von beim rekonstruierenden Modellieren und Reidentifizieren – als Aktivitäten implizierten Stufungen (Metarepräsentation oder Repräsentation von Repräsentationen, Interpretation von Interpretationen oder Interpretation über Interpretationen) – wird illustriert, dass das (Schema-)Interpretieren nicht notwendig ein Prozess ist, der bloß auf einer Schicht stattfindet, sondern er ist in sich hierarchisch, wird in Phasen der Entwicklung erst ausgebildet. Gerade in dieser Stufung kann eine interessante erkenntnistheoretische Einsicht enthalten sein, die zur philosophischen Anthropologie des Menschen als des höherstufig metainterpretierenden Wesens (Vf. 1995 b) passt Hierzu sei die von mir bereits früher (Verf. 1991, 1993 u.a.) entwickelte Übersicht der Stufen der (Schema-)Interpretation in leichter Abwandlung angegeben (vgl. das folgende Diagramm der Interpretationsstufen (Abb. 2): Abb. 2 (Ebenen) Stufen der Interpretation IS1
praktisch unveränderliche produktive Urinterpretation (primäre Konstitution bzw. Schematisierung)
IS2
gewohnheits-, gleichförmigkeitsbildende Musterinterpretation (habituelle Form- und Schemakategorialisierung und vorsprachliche Begriffsbildung)
IS3
sozial etablierte, kulturell tradierte, übernommene konventionelle Begriffsbildung
IS3a
vorsprachlich normierte Begriffsbildung und Interpretation durch soziale und kulturelle Normierungen
IS3b
repräsentierende sprachlich normierte Begriffsbildung
IS4
anwendende, aneignende bewusst geformte Einordnungsinterpretation (Klassifikation, Subsumierung, Beschreibung, Artenbildung und -einordnung; gezielte Begriffsbildung)
IS5
(speziell auch logisch) erklärende, »verstehende« (im engeren Sinne) rechtfertigende, (theoretische) begründende Interpretation, (auch logisch-argumentative) Rechtfertigungsinterpretation
IS6
erkenntnistheoretische (methodologische) Metainterpretation der Interpretationskonstruktmethode
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2.1
Deutungsmuster der Stufen
Auf der ersten, untersten Stufe IS1 , die »Grundstufe« genannt, ist die Urmusteroder Primärinterpretationsbildung, primäre Schematisierung angeführt, die im Grunde uns nicht veränderbar gegeben ist. Sie ist im gewissen Sinne biologischgenetisch festgelegt. Dass wir z.B., wenn wir überhaupt sehen können, zwischen »hell« und »dunkel« unterscheiden können, und wenn wir offenen Auges einem Hell/Dunkel-Kontrast ausgesetzt sind, dies auch tun müssen, ist offenbar biologisch festgelegt. Solche Kontrastunterscheidungen können wir auch nicht willkürlich abändern, es sei denn, wir benutzen technische Hilfsmittel usw. Es handelt sich also um Schemata der primären Wahrnehmung – und natürlich auch der entsprechenden primär-schematischen Verhaltensweisen, der Verhaltensreaktionen (von »Handlungen« im eigentlichen Sinne kann man hier noch nicht reden). Auf dieser Stufe können alle reflektorischen Reaktionen, Reflexe eingeordnet werden, die wir nicht verändern können, die biologisch sozusagen »fest verdrahtet sind«, in diesem Sinne lebenspraktisch unveränderlich sind. Es gibt somit eine Ebene der biologischen, organismisch unveränderlichen, genetisch oder erblich angelegten, insofern praktisch fixierten Musterbildungen, die man die Stufe der primären Schematisierungen nennen könnte. Auf den höheren Stufen entsteht dann eine Variabilität; dort nehmen die Schemaänderungsmöglichkeiten zu. Oberhalb der Stufe IS1 geraten die Interpretationsalternativen schon etwas variabler und werden mehr und mehr auch bewusst flexibel. Auf der zweiten Stufe, also IS2 , findet man z.B. die meisten der Ähnlichkeits-, Gleichartigkeits- und Gleichförmigkeitserfassungen, also die Musterinterpretationen, die man bei Ähnlichkeiten, z.B. von Farben, Formen usw. findet, die insbesondere beim Wahrnehmen (zumeist unterbewusst) aktiviert werden, etwa dann, wenn »lmprägnationen« derart stattfinden, dass aus der Außenwelt gewisse Konstellationen, Konfigurationen auf uns eindrängen, aber abgegrenzt, umgrenzt werden müssen – eben nach gewissen Gesichtspunkten der Ähnlichkeit, Gleichgestaltigkeit, (strukturellen) Gleichartigkeit usw. Das geschieht zunächst nicht unter Verwendung der Sprache, sondern prägt sich präverbal aus. In der Psychologie hat das zu Versuchen geführt, auch das nichtsprachliche, sog. »begriffliche« Wahrnehmen oder Einordnen oder Denken (präverbale Begriffe, präverbales »Diskriminieren«) zu untersuchen, welches ich hier noch nicht einordnen würde. Auf dieser Stufe ist eher das Routineverhalten, das gewohnheitsmäßige Erkennen gemeint. Darüber hinaus ist hier auch die Unterscheidung bei Wahrnehmungsaufgaben nach gewissen handlungsgestützten Momenten oder durch Auffälligkeit und Ähnlichkeit hervorgehobenen Merkmalen einzubeziehen, die man vor aller sprachlichen Erfassung machen kann. Vorsprachliches Diskriminieren in diesem Sinne ist hier einschlägig. Es ist eher habituell. Dabei ist jedoch nicht mehr alles genetisch fixiert, obwohl die genetische Ausrüstung und Anlage vorausgesetzt sind. Stattdes-
Erkennen und Handeln – durch Schematisieren
sen steht die gewohnheitsmäßige Auseinandersetzung mit bestimmten Situationen oder Reizen, Merkmalen im Vordergrund – also Reaktionen, die eingeschliffen werden und Resonanzen darstellen, durchaus auch im Sinne des erwähnten situationsreaktiven Stabilisierens bei kohärenten Oszillationen in plastischen Neuronenassemblies. Das alles ist hier mitgemeint. Musterähnlichkeit und Musterinterpretieren in diesem Sinne sind schon stärker erlernt als auf einer bloß genetischen fixen Anlage aufruhend. Auf der dritten Stufe, IS3 ,) werden die sozial etablierten, kulturell ausgeprägten, tradierten und normierten Muster wirksam, die in doppeltem Sinne »wahrgenommen« werden: Einerseits werden sie wahrgenommen als Muster, die von einer sozialen Gemeinschaft vorgeformt, »vorgenormt« wurden oder auch noch werden, die sich dann auch in bestimmten Symbolkonstellationen oder in äußeren Zeichen ausprägen und als solche »wahrgenommen« werden – in dem Sinne, dass Normen solcher Art befolgt werden, dass unsere Handlungen dadurch bestimmt und ihrerseits schematisierend repräsentiert werden. Das Konventionelle wird zur Norm erhoben, als solches erlernt, verinnerlicht, befolgt. Wir müssen also das, was sich kulturell, sozial durch Vereinbarung und über bloße Routinegewöhnung hinausgehend konventionell eingespielt hat, auf dieser Stufe anordnen. Das Schemaanwenden muss hier jeweils »eingespielt« werden in einer Praxis des Deutens, des Interpretierens, des mehr oder minder bewussten Befolgens von Regeln, des Anwendens von Mustern usw. Die Normierung des Konventionellen geschieht durch eine soziale Einübungspraxis, z.T. durch sozial kontrolliertes, ja sanktioniertes, »Dressieren«, »Abrichten« (Wittgenstein 1960). Dazu braucht man bestimmte Einführungssituationen, Lernsituationen, in denen das geschieht. Das kann man sich insbesondere beim Lernen von bestimmten Begriffen deutlich machen. Bernd-Michael Scherer (1984) hat mit Hilfe der Zeichentheorie von Peirce insbesondere die Schritte zur Bildung von solchen begrifflichen Konstellationen an Beispielen herausgearbeitet, wobei er unterschiedliche Einführungssituationen, z.B. Lehr- und Lernsituationen erster und höherer Stufe, unterscheidet. So wird etwa durch das Aktivieren eines Handlungsmusters ein Begriffsmuster eingespielt, das seinerseits, wenn es einmal eingespielt ist, auch ab- und aufgerufen werden kann, indem man einfach das Zeichen oder das Bild vorgibt. Er führt das an der Situation des Schwimmens vor: Man kann das Schwimmen erkennen als eine Handlung, die man einordnen kann, aber man kann dann später, wenn man dieses Repräsentieren bereits gelernt hat und die entsprechenden Repräsentationen beherrscht, die Vorstellung allein durch Nennen des Wortes hervorrufen. Es ist ein sozialer Lern- und Lehrprozess, der sich in mehreren Stufen einspielte und jeweils wieder abspielt, der über manche dieser unterschiedlichen Interpretationsstufen hinweggreift, insbesondere dann, wenn auch schon sprachlich repräsentiert und strukturiert wird. Auf dieser dritten Stufe muss man das sozialkonventionelle Bilden von Begriffen im vorsprachlichen Raum unterscheiden von den durchaus sprach-
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lich-konventionellen und verbalisiert-normativen Begriffsbildungen, den (verbal) repräsentierenden im engeren Sinne. Es ist hier wichtig, dass die sprachlich erlernten Formen eine besondere Rolle spielen, wobei »Sprache« durchaus in einem weiten Sinne verstanden werden kann. Es kann sich auch um Kunstsprachen handeln, um Zeichenbildungen, um Gesten, Symbole, die irgendwelche Darstellungen haben oder gestatten, spezielle Notationen wie Notensysteme, mathematische Formeln usw. Alles das gehört zu dieser konventionellen Begriffsbildung im weitesten Sinne des Wortes. Und natürlich gilt das für das Verbalsprachliche im engeren Sinne erst recht. Man muss zwischen diesen beiden Teilebenen IS3a und IS3b analytisch unterscheiden, jedoch ist die Konventionalität und die Normierung in beiden Fällen vorhanden. Deswegen ist es durchaus begründet, beide Unterarten der konventionellen (Schema-)Interpretationen auf einer Stufe zu belassen. Die vierte Stufe, IS4 , wäre dann diejenige, auf der man bewusst umfassendere Strukturen und Begriffe einordnet, also bewusst repräsentierend solche Strukturen, Schemata, die bereits sprachlich beschrieben wurden oder werden, bestimmte Elemente, die bereits konstituiert worden sind, in umfassendere Klassen, Kategorien, Begriffe, Art- oder Gattungsbegriffe einordnet. Hier hat man alle Arten von gezielten Einordnungen, von Struktur- und Begriffsbildungen repräsentierender Art unter Verwendung von sprachlichen oder sprachähnlichen Mitteln einzubringen. Ich spreche von Einordnungsinterpretationen; man könnte auch von kategorialen oder kategorisierenden bzw. klassifikatorischen Interpretationen im expliziten Sinne sprechen. Alle Klassifikation, Subsumierung, Beschreibung, Einbettung in Arten und Gattungen, gezielte Begriffsbildung im expliziten Sinne ist hier einschlägig. Die fünfte Stufe, IS5 , umfasst die begründenden und rechtfertigenden, theoretischen Deutungen, also die argumentativen Interpretationen oder Rechtfertigungsinterpretationen im weitesten Sinne, wobei über die bloße Einordnung hinausgegangen wird. Auf dieser Interpretationsschicht werden Rechtfertigungen und Begründungen für Reaktionsweisen, Verhaltensweisen, Handlungsweisen gesucht und gegeben, wird explizit argumentativ ein erklärend-theoretischer oder urteilender Zusammenhang hergestellt bzw. herausgestellt. Es ist klar, dass das eine höherstufige bzw. komplexere Bildung darstellt als die vorhergehende Stufe. Das argumentative Stiften eines Zusammenhangs ist das wesentliche Kennzeichen dieser Rechtfertigungsinterpretationen. Das »Rechtfertigen« bezieht sich dabei durchaus nicht nur auf wissenschaftliche oder wissenschaftsähnliche Argumentationen und Begründungen, sondern auch auf das Zusammenhangstiften generell und im Alltag. Nicht nur theoretische oder wissenschaftliche Begründungen oder Strukturierungen sind hier gemeint, sondern gerade auch alltägliche. Die Psychologen sprechen von den »naiven Alltagstheorien«, mittels deren wir uns unsere Welt in Zusammenhängen darstellen und erschließen.
Erkennen und Handeln – durch Schematisieren
Auch im Alltag sind wir sozusagen Theoretiker und Hypothesenbildner. Wir benutzen Allgemeinbegriffe, ordnen Objekte in bestimmte Klassen, Arten und Gattungen ein, ziehen Schlüsse in Bezug auf Zusammenhänge, vollführen Kausalschlüsse oder Motivationsfolgerungen usw. Wir theoretisieren mehr oder minder »naiv« auch im Alltag; wir verwenden unsere bewährten Faustregeln. In diesem Sinne gehen wir als Erkennende im Alltag ähnlich vor wie in der Wissenschaft, wir sind »kleine Forscher«. Darauf sind wir geradezu angewiesen: Unser Leben kann ja nicht im bloßen chaotischen, zusammenhanglosen oder erratisch-singulären Reagieren vonstattengehen. Wir brauchen übergreifende Zusammenhänge und müssen diese bilden, und dazu ist es nötig, in der Lage zu sein zu rechtfertigen, zu begründen, systematisch Zusammenhänge herzustellen und Annahmen sowie Antizipationen zu bilden und zu prüfen, eben in diesem Sinne Rechtfertigungsinterpretationen auf verschiedensten Ebenen zu leisten. Das gilt nicht nur für die Begründungen, mit denen wir uns unsere eigenen Handlungen oder die Handlungen anderer »erklären«, sondern das gilt auch für die Handlungs- und Zielplanung, für die Normierung, für das Einordnen unter normative Regeln, unter Gebote, Verbote u. ä. Alles das ist unter dem Etikett Rechtfertigungsinterpretation‹ einzuordnen. Die sechste und letzte Stufe, IS6 . ist die der Metainterpretationen, nämlich die erkenntnistheoretische oder – wenn man so will – methodologische Stufe, auf der wir uns unsere Interpretationsverfahren und -methoden oder die Interpretationsergebnisse und -verfahren wiederum als Gegenstände einer Analyse vornehmen, zum Gegenstand höherstufiger (Meta-)Interpretationen machen. So sind die Interpretationskonstrukte – methodologisch gesehen – selber Konstrukte: Man redet über die Interpretationsverfahren und -konstrukte auf der höheren (Meta-)Ebene, wenn man sie als Erkenntnistheoretiker oder Methodologe analysiert, wie wir das hier zu tun
2.2
Metapräsentation und Metainterpretation
Allgemein jedoch muss man eher von einer Metastufenbildung theoretischer oder eben metasprachlicher, aber auch funktionaler oder gebrauchstheoretischer Art sprechen, wenn man zu den abstrakteren höheren Stufen der Beschreibung von Schematisierungen übergeht. Nur im Gebrauch von schematisierten und schematisierenden Repräsentationsvehikeln wie Worten, Zeichen, Hinweisen, Gesten, bedeutungsvollen Handlungen usw. können wir überhaupt erst etwas meinen, verstehen und verständlich machen, ausdrücken und kommunizieren. Nur so können
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wir überhaupt etwas wahrnehmen, konzipieren, denken, »erfassen« und abgrenzen.5 In der Tat handelt es sich hierbei um Darstellungen und modelltheoretische Schematisierungswiedergaben (»Re-Konstruktionen«) der jeweils höheren Ebene, die strukturell eher denselben Formen und Bedingungen unterliegen wie die Interpretationsverfahren der unteren Stufen. Auch die höheren Stufen zeigen z.B. die erwähnten Merkmale der Interpretationsgeprägtheit allen Erfassens. Auf diese Weise kann man also die Methode der Interpretationskonstrukte – oder besser: die Methodologie der Interpretationskonstruktbildungen – auf sich selber anwenden. Die Interpretationskonstrukte sind selber als Instanziierungsbeispiel ihrer eigenen Methode verwendbar oder auffassbar. Das bedeutet keinen Widerspruch und keinen Zirkel, sondern das ist eine sinnvolle selbstbezügliche Konzeption, die dazu führt, dass man zwar auf immer höhere Stufen der Interpretation und zu abstrakteren Konzepten aufsteigen kann, aber zugleich in der Lage ist, sorgfältiger hinsichtlich der Beziehungen zwischen Interpretationen unterschiedlicher Stufen und Schichten zu differenzieren. Manche der traditionellen und sehr schwierigen philosophischen Probleme, wie z.B. das Problem des Gegenstandsbezuges, das Problem der Wahrheit usw., werden im epistemologischen Interpretationismus aus diesen methodologischen Gründen unter einem neuen Blickwinkel gesehen. Wenn man z.B. die Interpretationskonstrukte selber wieder als ein Beispiel der erkenntnistheoretischen Methode der Interpretationsanalyse auffasst, dann kann man sagen, dass diese Methode sich schichtenkumulierend modellmäßig auf sich selber anwenden lässt – im weiten Sinne gesprochen –, oder dass diese Konstrukte über Konstrukte »demselben« (einem strukturgleichen) Muster folgen und schichtenspezifisch aufeinander aufgebaut werden. Generell gilt, dass der Mensch nicht nur das erkennende Wesen ist, sich nicht nur auf seinen bloßen Geist zurückziehen kann, sondern dass das Entwickeln und Aktivieren von Geist gebunden ist an die Einbettung in eine Welt – Einflüsse, Eindrücke »von außen« wahrzunehmen, aufzunehmen, zu verarbeiten – und dies geschieht in strukturierter bzw. strukturierender Weise. Er muss, um über die Fähigkeit zu verfügen, sie zu repräsentieren, d.h., in gewissem Sinne den Bezug zwischen dem repräsentierenden Wort oder Zeichen oder Symbol und dem gemeinten Gegenstand wiederum zu erkennen, in der Tat grundsätzlich handeln 5
Man kann all dies auch unter der gebrauchs- und funktionstheoretischen Zeichentheorie von Ch. S. Peirce differenzierter analysieren, was hier nicht geschehen kann (vgl. u. B. Dürr/Lenk 1997). Hier nur so viel: Das Interessante an den Zeichen ist […] die Zeichenfunktion. Zwar ist man auf die materielle Gegebenheit des Zeichens angewiesen, man braucht das materielle Substrat, die sinnliche Qualität bzw. Form, aber alle von Peirce (und anderen) vorgenommenen Differenzierungen und Unterscheidungen sind nur vor dem Hintergrund einer Interpretationspraxis möglich« (ebd. 443 u.ff.), also durch verschiedenartige und vielfältige Aktivierungen von Schemata auf diversen Stufen (s.a. u.).
Erkennen und Handeln – durch Schematisieren
können. Er muss metarepräsentieren und metainterpretieren können. Um darzustellen, bewusst wahrzunehmen, also zu repräsentieren, muss er Variationen aufschließen können, geistig beweglich sein, Alternativen entwickeln und wahrnehmen können, er muss konstituieren, konstruieren im engeren wie im weiteren Sinne. Kurz: Er muss schematisieren auf unterschiedlichen Stufen, also (auch) (meta-schemainterpretieren). Wir können also abschließend den berühmten Satz von Descartes erweitern, wenn wir das alles zusammenfassen: Ich handle, reagiere, verhalte mich, ich empfinde (»erleide«) – werde affiziert oder affiziere mich – ich nehme mehr oder minder bewusst wahr, ich repräsentiere, konstituiere, konstruiere, interpretiere: Das alles steht jetzt für ein pragmatisch erweitertes Descartes’sches »Cogito«: Interpretando cogito, ago, ergo mentaliter sum. (Genauer muss man auch noch die interaktivsozialen und die interventionistischen Komponenten ergänzen, etwa »interago, intervenio« (vgl. Vf. 1998).)
3.
Schematisierungs-Grundlagen
Wenn man sich eingehend und erkenntnistheoretisch mit der Schemainterpretation beschäftigt, kann man im Grunde fast sagen, anspielend auf das Johannesevangelium: »Am Anfang steht die Schemainterpretation«. Statt »Am Anfang war das Wort« heißt es bei Goethe: »Am Anfang war die Tat«. Wir haben gesehen, dass Schemainterpretieren eine Art von neuronaler bzw. dann, methodologisch gesehen, nur organismischer oder eben auch personaler Aktivität ist. Grundlegend ist die Schema-Aktivierung jedenfalls – und insofern kann man durchaus sagen: »Am Anfang steht die Schematisierung«. Wir können darauf hinweisen, dass in der Tat in diesem Zusammenhang die erkennenden, beschreibenden, darstellenden und handelnden, – insbesondere die durch Repräsentation und Formierung auf das Handeln bezüglichen – Komponenten zusammengehen und somit alle Welterfassungen strukturierender Art zu umschreiben gestatten. Alles Erfassen ist schematisiert, ist schemainterpretiert, und das Erfassen ist nicht nur ein passives Wiedergeben, sondern ein aktives konstruierendes Darstellen – auch gegebenenfalls ein Strukturieren – und die unter Umständen normative Verwendung, d.h. die Handlungsstrukturierung anhand von Kriterien, Normen, Standards usw. .Schemata, Schematisierung sind aber noch viel allgemeiner, z.T. auch erblich und organismisch angelegt – und dies nicht nur im Sinne des Wahrnehmens im äußeren und engen Sinne, beispielsweise beim Visuellen. Wir wissen, dass man unter Umständen – das ist durch optische Täuschungen nachgewiesen – bestimmte
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Verhältnisse einfach so sieht, selbst wenn man weiß, dass es nicht richtig sein kann – wie das bei der bekannten Müller-Lyer-Täuschung6 zustande kommt. Ähnliche genetisch angelegte Schemata sind beispielsweise das Reagieren auf Gesichtszeichnungen; auch das scheint bei den Menschen erblich angelegt zu sein. Insbesondere, wenn es sich um Skizzen von Kleinkindern handelt, bei denen bestimmte Verhältnisse der Kopfgröße zur Gesamtkörpergröße zu finden sind: Der Kopf ist größer im Verhältnis zum Körper als bei Erwachsenen. Man spricht in der Verhaltensforschung von »Baby«- oder »Kindchenschema«. Auch das Darstellen eines Gesichtes durch wenige Striche, das sofort als Gesicht erkannt werden kann, ist auffällig, obwohl es überhaupt keinerlei Ähnlichkeit mit einem Gesicht hat. Es gibt offensichtlich auch beim Menschen genetisch angelegte Schematisierungen, die interkulturell »gültig«, in allen Kulturen vorzufinden sind, die vor der Symbolisierung durch konventionelle Zeichen auftreten, obwohl man denken sollte, dass beispielsweise die Strichzeichnung eines Gesichts durch einen Kreis sowie drei Punkte und zwei Striche in der Tat schon eine Art von Zeichenverabredung sei.7 Die Schematisierungen sind u.U. in sehr weitem Sinne zu verstehen. Das Bilden und Anwenden von Schemata hatten wir allgemein als Schemainterpretieren bezeichnet. Manche Schemata sind ererbt und werden dann gar nicht gebildet, sondern sind vorhanden, werden allenfalls überformt und verwendet, wiederholt aktiviert und dadurch bekräftigt oder stabilisiert. Es ist jedenfalls klar, dass jegliches Interpretieren, jegliches Auffassen von Etwas als Etwas eine Unterspeziali-
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Diese Müller-Lyer-Täuschung bzw. die Deutung der beiden gleich langen Strecken und der entgegengesetzt gerichteten Doppelpfeile der entsprechenden Pfeilfigur ist im Grunde offensichtlich erblich angelegt. Man kann – selbst mit besserem Wissen – die beiden mit den Pfeilspitzen versehenen gleichlangen Strecken nicht als gleich »sehen«. Wahrscheinlich hängt das paradoxe Phänomen damit zusammen, dass wir automatisch räumliche Verhältnisse hineinsehen und diese Pfeilstrukturen untergründig für uns somit irgendwie eine Art von räumlicher Figurierung mit betreffen. Das soll uns hier im Einzelnen nicht interessieren, sondern es geht nur darum, dass man in sehr »tiefen« – auch u.U. genetisch angelegten – Schichten bestimmte Schematisierungen vorfindet, die man, selbst wenn man es »besser« weiß, nicht direkt ablegen kann. Man kann sie sozusagen umgehen. Wir können bei den beiden Strecken der Müller-Lyer-Täuschung zwingend »sehen«, dass es sich um unterschiedlich lange Strecken handelt, und man kann sie messen, feststellen, einsehen, dass es sich um gleiche Strecken handelt, obwohl sie unterschiedlich erscheinen. Ein »zwingender Schein« gleichsam. Wir können die Längengleichheit messend ermitteln, aber wir können es nicht abändern, dass wir die Streckenlänge (weiterhin) anders sehen – zumindest aus bestimmter Sichtentfernung. Es wäre empirisch zu überprüfen, ob das in jeder Kultur so gesehen wird. Hier gibt es (ja) beträchtliche Variationen. So gibt es interessante Unterschiede hinsichtlich des Bewegungssehens bei Filmen usw.: Naturvölker, erstmalig mit Filmvorführungen konfrontiert, müssen bestimmte Darstellungen, z.B. Schwarzweiß-Filme, erst zu deuten lernen.
Erkennen und Handeln – durch Schematisieren
sierung ist, ein Sonderfall des Schemabildens oder Schemaverwendens. Es handelt sich um schematisierend-interpretatorische Aktivitäten, wie wir sie genannt hatten (s.o. Abb. 1). Schematisieren kann nun mehr figurierend geschehen, eher konstituierend oder vorwiegend konstruierend im engeren Sinne oder gar mehr rekonstruierend, wiedererkennend. Alles Schematisieren ist jedenfalls durch diese sprachliche Sammelform gemeint, die relativ allgemein und abstrakt bleibt. Man sollte vielleicht sagen: Alles Wissen und Gestalten bzw. gestaltendes Darstellen und Repräsentieren im weiteren Sinne – und ebenso auch im engeren Sinne – sowie alles strukturierte und strukturierende Handeln ist schematisiert, ist in Schemata gerastert, geordnet, eingebettet, nur in Gestalt und mit Hilfe von Schemata erfassbar. Das Entsprechende gilt erst recht für Bedeutungen, für Inhalte von Gedanken: Auch Bedeutungen sind schemagebunden und schemageprägt, werden durch Schemata in bestimmten Situationen abgerufen und dargestellt. Wie das zugehen kann, darüber werden wir uns noch einige Hypothesen bilden. Selbst bei der äußeren Wahrnehmung, die aufgrund von äußeren Reizsignalen ausgelöst wird, handelt es sich um eine Art von Schemaaktivierung und einer jeweiligen Aktualisierung oder Instanziierung, um eine Konkretisierung eines allgemeineren Schemas in Bezug auf einen bestimmten Fall und eine bestimmte Reizkombination. Nur so kann man eine Situation erkennen, d.h. erkenntnisgerecht deuten – eben »interpretieren« oder erkennend interpretieren. Selbst das sog. einfache Wahrnehmen, zum Beispiel das visuelle und das bildlich vorstellende, aber auch das »innerliche« bildliche Vorstellen, sind somit schematisiert. Wahrnehmen ist konstruktiv, z.T. wenigstens, ist strukturierend bzw. rekonstruierend oder reaktivierend. Schemata werden in diesem Sinne reaktiviert; dies ist bereits von vornherein ein Prozess der Verarbeitung und Konstruktion im weiten Sinne, man könnte sagen: der Dekonstruktion und Dekodierung, wenn man an die visuelle Verarbeitung von Reizkombinationen denkt, die auf die Retina treffen und die dann entsprechend der speziellen Aufgabe der Zäpfchen und Stäbchen aufgetrennt werden und auch in unterschiedlichen Zentren des primären Sehzentrums dann nach Farbe, Form, Bewegungsgestalt getrennt verarbeitet und erst nachträglich zu einem Wahrnehmungsbild zusammengefügt werden. Die Weiterleitung, die Verarbeitung von Informationssignalen und die nachträglich wiederkehrende Integration oder Synthese ist im höchsten Grade eine unterbewusst ablaufende, aber klar abgegrenzte oder abgrenzbare »Konstruktion«, eine konstruktive »Tätigkeit«, eine innere unterbewusste schematisierend-interpretatorische Aktivität im weiten Sinne des Wortes. Alles »Kognizieren«, alle Kognition, sagen die Psychologen – auch die Erkenntnis der höherstufigen Gedanken – ist in diesem Sinne schemaabhängig: Schemakonstruktion und Schemaanwendung könnten allgemein die Bildung und Anwendung von Interpretationskonstrukten oder Schemainterpretaten, die Herstellung
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von Schemainterpretaten oder Schemainterpretationskonstrukten genannt werden. Das gilt für das Einordnen ebenso wie das genuine erste Strukturieren und Ordnen. Wichtig ist dabei das Aktualisieren und Aktivieren und Reaktivieren eines Schemas aufgrund von bestimmten Reizsignalen bei der Wahrnehmung, etwa bei der visuellen, aber genauso bei der akustischen oder taktilen Wahrnehmung.
4.
Schema-Instanziierung
Hervorzuheben ist auch noch, dass ein Schema bei der Anwendung auf eine spezielle Erkenntnis- oder Strukturierungssituation – und das gilt natürlich beim Handeln genauso wie beim repräsentativen darstellenden Strukturieren – ein zu instanziierendes Schema sein muss. Eine Instanziierung des Schemas heißt, dass das Schema auf einen bestimmten Fall mit bestimmten Anfangs- oder Randwerten, Anfangsdaten und Randwertdaten eingestellt und konkretisiert werden muss, um die strukturierte Menge von Situationsmerkmalen in einen bestimmten Rahmen einzubetten, zu erfassen und in Bezug auf schon allgemeinere, erlernte, erinnerte oder eben wieder aktualisierte Schemata zu beziehen. Die Gesamtheit der Schemata, so könnte man sagen, ist gleichsam ein hypothetisches System, quasi eine private oder persönliche Theorie von der Wirklichkeit bzw. von entsprechenden Strukturierungen angesichts der äußeren oder inneren Wirklichkeiten; sie umfasst die Strukturgefüge, welche die entsprechende Person bzw. das erkennende Subjekt sich in Auseinandersetzung mit der Umwelt hergestellt bzw. entwickelt hat, soweit sie nicht (wie Reflexschemata) erblich fixiert sind. Die Psychologen sprechen auch von »naiven Theorien« des Alltags, die jeder benutzt, und die zur Ordnung, Erklärung und Beschreibung aller Phänomene herangezogen werden. Die Psychologen sind sich jedoch nicht einig, ob solche privaten oder persönlichen Theorien benutzt werden, um im echten psychologischen Sinne Erklärungen vorzunehmen. Vertreten selbstgemachte Hypothesen, die nicht psychologische Gesetze im Sinne der psychologischen Wissenschaft sein müssen, gleichsam doch die Erklärungsstruktur, wie sie aus den Wissenschaften bekannt ist? Oder ist das alles nur auf der Datenseite anzuordnen, muss die psychologische Theorie von anderen Gesetzen Gebrauch machen und kann sie allenfalls die »per-
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sönlichen Theorien«8 bzw. deren Beschreibung als Daten zugrunde legen (als Vorstellungen, die man den entsprechenden zu beschreibenden Subjekten zuschreibt)? Auf der anderen Seite braucht das Subjekt auch ein entsprechendes Muster, um das Verhalten anderer Personen, insbesondere in Bezug auf und analog zu sich selbst, zu erklären, zu beschreiben, zu erfassen, vorauszusagen. Hier sind also in gewissem abstrakt-methodologischen Sinne Ähnlichkeiten mit dem Vorgehen etwa in der Sozialwissenschaft oder in der Psychologie vorhanden, wenn auch nicht so allgemeine Ansprüche auf relative Präzisierung oder Allgemeingültigkeit erhoben werden (können), insbesondere natürlich nicht solche, wie sie gewöhnlich etwa bei den Theorien der exakten Naturwissenschaften vorzufinden sind. Doch solche wissenschaftlichen Schemabildungen unterscheiden sich in gewissem Sinne nur gradweise von den Alltagstheorien: Generell ist auch das Schematisieren mittels solcher Konstrukte im Alltag wie in der entsprechenden Wissenschaft ein hoch konstruktives Unternehmen. Das Gesagte betont die strukturierende Aktivität sowohl beim Erkennen als auch beim normativen Formieren von Handlungskonzeptionen – im Gegensatz etwa zu dem antiken Muster und Vorbild für die Erkenntnis, bekannt aus der Geschichte der Philosophie, demzufolge man glaubte, Denken und Erkennen seien einfach ein Sehen »mit den Augen des Geistes«9 . 8
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Kelly (1955), der seit den 50er Jahren eine Psychologie der personalen Konstrukte (»Personal Construct Theory«) entwickelt hat, die den Menschen als ein Hypothesen konstruierendes Wesen im Sinne eines Forschers im Alltag auffasst. Die »naiven Theorien«, insbesondere als Daten für die psychologische wissenschaftliche Hypothesenbildung bzw. als Material für die Entwicklung der psychologischen Materialien, sind z.B. von Laucken Mitte der 70er Jahre diskutiert worden; später sprach Norbert Groeben von »subjektiven Theorien«, in denen der Mensch sein Alltagsleben anhand von Schematisierungen und hypothetischen Entwürfen – wir könnten sagen: Interpretationskonstrukten persönlicher Art – strukturiert. Diese Interpretationskonstrukte persönlicher Art sind natürlich in hohem Maße spezifisch auf die Person zugeschnitten, auf die persönlichen Einstellungen und Interessen. Sie gehen zurück auf Zusammenhänge persönlicher, sozial vermittelter Erfahrung, sind unter Umständen stark situationsspezifisch abgewandelt, also nicht so allgemein gültig oder formuliert wie beispielsweise universelle Theorien in der Naturwissenschaft. Jedenfalls versucht das Subjekt auf diese Weise ein Strukturmuster zu finden und anzuwenden, um sein Verhalten gegenüber anderen und in je einer bestimmten Situation einerseits zu deuten, andererseits aber auch auszurichten im Sinne von Planen, Entscheiden, Handeln, Steuern, Kontrollieren usw. Diese Metapher, die bei Platon ihren philosophisch respektablen Ursprung hat (»Idee« und »Theorie« kommt ja von »Sehen« und »Betrachten«) hat viel in der abendländischen Philosophie gewirkt und auch bewirkt, positiv wie negativ. Sie hat nicht nur tiefe Erkenntnis gebracht, sondern eben auch große »Irreführungen«, weil z.B. eben die handelnde, experimentierende, versuchende, testende, wechselwirkende Auseinandersetzung mit der Umwelt praktisch nicht genügend berücksichtigt wurde. (Ferner wurden Abstrakta allein nach dem Vorbild von dinghaften Objekten »gesehen«.) Das alles gilt natürlich insbesondere auch für die Entwicklung der antiken und mittelalterlichen – in den Geisteswissenschaften auch noch der neuzeitlichen – Wissenschaft. Wir wissen, dass die experimentelle Wissenschaft im Grunde erst in
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Der innige Zusammenhang mit dem Handeln wurde nicht genügend bemerkt bzw. thematisiert – und zwar gilt das sowohl für das Handeln in Auseinandersetzung mit der Außenwelt als auch für das strukturierende »innere« Handeln im Sinne des Schematisierens, des bewussten Orientierens und Ordnens anhand von bestimmten konzeptuellen Vorgaben. Das konstruktive Moment beim Erkennen war nicht genügend berücksichtigt worden. Der methodologische Schematisierungsansatz hat dagegen den Vorteil, dass man diesen Zug ganz bewusst in den Vordergrund stellt, die bloße »Sehens«Metapher einschränkt und zugleich über die traditionelle Lücke von Erkennen und Handeln hinweggreift. Dazu sind in der Neuropsychologie und Hirnforschung wichtige neuronale Trägerprozesse, z.B. der Bildung von »Neuronenassemblies« anhand der Hebbschen Lernregeln, der wiederholten Aktivierung von Synapsen und entsprechend der Bildung auch von Neuronennetzen, Neuronenassemblies durch wiederholte gemeinsame Aktivierung identifiziert worden. Damit ist geradezu eine naturwissenschaftliche Grundlage gegeben, ein Konzept, das man sich generell als einschlägig für die Prozesse der Schemabildung und der Schemaanwendung vorstellen kann. (Allerdings kommen höhere Stufungen der »Bedeutung«, des Semantischen, des intentionalen Verweisens usw. hinzu.) Zumindest kann man sagen: Selbst wenn noch viel feinere neurophysiologische, neurobiologische und neuropsychologische Arbeit zu leisten ist, hat man sich eine Art von Grundmuster in Gestalt von Trägerprozessen (oder »neuronalen Korrelaten«) dafür erstellt, wie man sich das Schematisieren vorstellen kann. Man kann plausibel machen, wie es möglich ist, dass und wie beispielsweise bestimmte Schematisierungen, die in der kognitiven Psychologie beschrieben werden, neuronal eingespielt werden. Damit ist natürlich noch nicht das Problem gelöst, wie die Lücke zwischen der Bedeutungshaftigkeit von Schemainstanziierungen einerseits und etwa der bloßen und
der Neuzeit zustande gekommen ist.9 Doch alle diese Philosophen hatten keinen wesentlichen Einfluss auf die Grundmetapher des »Sehens mit dem Auge des Geistes«, auf die zunächst eher unter dem Gesichtspunkt der reinen Anschauungserkenntnis oder rezeptiven Beobachtungserkenntnis im Sinne des passiven Sehens strukturierten Auffassungen der gesamten Tradition. Erst mit Galilei wird das bloße Modell des Sehens überwunden, sogar bewusst durchbrochen. Galilei ging ja bekanntlich in die Werkstätten der Waffenbauer und der Ingenieure, um eben auch alltagspraktische (experimentelle) physikalische Erkenntnisse zu gewinnen und zu überprüfen. Dieser Neubeginn erst hat zu der modernen experimentellen wissenschaftlichen Einstellung geführt und eine gewisse Abkehr von oder zumindest eine Bereichseinschränkung bei der Metapher des Sehens im Erkennen bewirkt. Man hat zu lange, insbesondere in der Philosophie auch noch lange Zeit nach Galilei, an dieser Metapher des Erkennens als eines Sehens »mit dem geistigen Auge« festgehalten und zu wenig im Kontext mit bzw. unter dem Konzept vom aktiven Tätigsein beim Erkennen operiert.
Erkennen und Handeln – durch Schematisieren
wiederholten, ständigen Aktivierung von relativ stabilisierten Neuronenassemblies geschlossen werden kann (Vf. 2004).
4.1
Mentale Repräsentation
Wie kommt man nun aber von den physiologischen neuronalen Abläufen einerseits zur Bedeutung andererseits? Das ist die zentrale Fragestellung der mentalen Repräsentation, die große Frage einer modern gestellten Leib-Seele- oder KörperGeist-Problematik, der neudeutsch so genannten »Mind-Brain-Thematik«. Zunächst gehe ich auf die Schemapsychologie ein, auf die kognitive Psychologie in Sachen Schematheorie. Ich möchte hier nur kurz wiederholen, was ich in meinen früheren Veröffentlichungen (z.B. 1993, 1995) dazu gesagt habe, insbesondere am Beispiel der besten und übersichtlichsten Arbeit der Schemapsychologie von David Rumelhart. »Schemata – the Building Blocks of Cognition« (1978, 1980). Diese Arbeit entwickelte – wie der Titel besagt – eine These zur Benutzung der Schemakonzeption in der Psychologie und versucht diese Theorie bzw. den methodischen Ansatz anhand von Alltagserkenntnissen zu verifizieren bzw. zu illustrieren. Die Hauptthese ist, dass Schemata unser Wissen darstellen und zur Strukturierung unseres Wissens dienen – und zwar sowohl zur Abspeicherung, bei der Erinnerung, als auch bei jeglicher Einbettung des Wissens in Zusammenhänge oder in jeglicher Formierung und Repräsentation des Wissens. Alle Kognitionen, also alle Erkenntnisse, Wahrnehmungen, Deutungen, haben mit der Auslösung, Auswahl oder Anwendung sowie Überprüfung von Schemata zu tun, also mit der Etablierung, der Bildung von Schemata und deren Anwendung, deren Reaktivierung, könnte man sagen. Der Prozess des Interpretierens und Deutens generell besteht für Rumelhart – ähnlich übrigens wie für den bekannten kognitiven Psychologen Ulric Neisser – geradezu darin, dass mögliche Konfigurationen von Schemata ausgewählt und daraufhin geprüft, angewendet, instanziiert werden, dass sie mit bestimmten Gedächtnisdaten oder Daten eines Gedächtnisfragments selektiv merkmalsgesteuerter Art oder mit entsprechenden äußeren Sinnesdaten zusammenstimmen. Die Bildung und Konstitution von Schemata rechnet Neisser (1979) ausdrücklich auch zu dieser interpretatorischen Tätigkeit; bei Rumelhart wird das nicht explizit diskutiert. Aber beiden ist klar, dass der Prozess ein aktiver Prozess der Suche (Exploration) und Strukturierung von Information ist, der mit unseren gegenwärtigen Bedürfnissen und Zielen jeweils in relevanter Weise verknüpft ist, aber auch mit Erinnerung und Gedächtnis. Man fühlt sich bei der Lektüre von Neisser (1974, 1979) an das von den Verhaltensforschern untersuchte sogenannte Appetenzverhalten erinnert. Dieses besteht darin, dass der Organismus immer aktiv ist und herumsucht; er tastet seine Umgebung danach ab, ob bestimmte Auslösereize oder bestimmte Informationen für ihn
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interessant sind bzw. seinen präferierten Zielen – beispielsweise Nahrungssuche, Partnersuche oder Überlebenszielen – entsprechen. Neisser z.B. diskutiert in seinem Buch Kognition und Wirklichkeit (1979) ausdrücklich Flussmodelle eines solchen Schematisierungsprozesses, in denen eben das explorative Verhalten, das suchende Verhalten in der Umgebung, einen großen Stellenwert hat und erst dann Anlass gibt zur Strukturierung der zunächst gewonnenen Signale und zur Bildung und Auslösung entsprechender spezieller Schemata, also zu einer aktiv bestimmten Ordnung führt und sogar bestimmte Feedback-Schleifen zur Verstärkung bzw. Kontrolle der Triftigkeit auslöst. Die Bildung und Anwendung von Schemata in diesem Sinne geschieht also in einem Prozess, einer Art von Explorations- und Strukturierungsprozess, ist Interpretation oder interpretatorische Aktivität. Interpretieren in diesem weiten Sinne ist also die Bildung und Anwendung von Schemata. Aber was sind dabei Schemata? Wir haben gesehen, dass das Schematisieren z.T. unterbewusst abläuft, dass gleichsam automatische Strukturierungen zustande gebracht werden. Dennoch gibt es die Möglichkeit, die Schemaanwendung typologisch zu überblicken und dennoch auf unterschiedlichen Ebenen zu verstehen. Die automatische Strukturierung bei der Mustererkennung oder bei untergründig, unterbewusst angewandten Schemata ist etwas Anderes als die bewusst ordnende und erst eine bestimmte Gestalt zustande bringende, im engeren Sinne konstruktive Interpretation oder als eine Einordnung, beispielsweise eine Klassifikation usw. Offensichtlich werden musterhafte, musterartige interpretatorische Konstrukte, eben Schemata, auf allen diesen Ebenen verwendet, etwa um Kontraste zu profilieren, Strukturen wiederzugeben, aufzuprägen, selbst um die Ausstattung und Funktion von Wahrnehmungsorganen in gewisser Weise auf Dauer zu stellen. D.h., die sensorische Verarbeitungsapparatur nicht nur in Gang zu setzen, sondern gegenüber dem von außen aufgenommenen Signalmaterial eine bewusstwerdende, eventuell bewusst erfasste Strukturierung zu verleihen, ist schematisierende und interpretatorische Aktivität – auch bei der mentalen und symbolgebundenen Repräsentation. Dabei ist die Absonderung des Signalmaterials von der Verarbeitungstätigkeit eine analytische Trennung, Wie wir gesehen haben, ist auch das aufgenommene Sinnesmaterial als solches bereits gegliedert, vorstrukturiert, bereits schematisiert oder als schematisiert zu denken. (Erwartungen und Dispositionen selektieren ebenfalls vor.) Doch diese Strukturierungen durch Muster, Raster, Schemata sind geeignet, Gleichartigkeits- oder Ähnlichkeitszusammenhänge herzustellen, wobei es vorrangig darum geht, singuläre Erlebnisse, Phänomene, Wahrnehmungen unter allgemeinere Gesichtspunkte wie Begriffe, Gestaltgleichheiten oder Ähnlichkeiten zu bringen, sozusagen unter dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit zu ordnen. Und dieses Ordnen ist ein Erfassen, ein Einbetten in Raster, Relationen, Muster, Gefüge, Schemata, die ihrerseits vor bzw. bei ihrer Aktivierung erst gebildet sein müssen,
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soweit sie nicht schon genetisch angelegt wurden. Sie müssen vorhanden oder verfügbar sein, um aktiviert werden zu können. Sie übersteigen als Muster die Einzelphänomenalität, somit auch jedes Einzelerlebnis und stellen eine Brücke zur Verallgemeinerung dar. Es werden also mehr oder minder »abstrakte« und eine Generalisierung erlaubende Konstrukte gebildet. Es ist realiter der Organismus10 , zumal die Großhirnrinde, die diese Strukturierungen vornimmt, »sieht«, »interpretiert«, »deutet«, »gestaltet«. Strukturerfassungen werden nicht gleichsam einfach aufgenommen, sondern eher in einer repräsentierenden Erfassung erst synthetisiert oder zurechtgestutzt. Alles Gestalten, Sehen und Deuten, alles Formen und Erkennen ist in diesem Sinne konstruktiv. Alles »Kognizieren« sei schemageleitet. Alle »Kognition ist konstruktiv«, ist also Konstruktion, so formulierte schon Neisser (1974, 360). Selbst die präattentiven, die vor der fokussierten Aufmerksamkeit stattfindenden Prozesse der Exploration oder der unterschwelligen Wahrnehmung sind darauf ausgerichtet, bereits eine schematisierte Erfassung zu leisten. Wir sehen, wir erfassen einen Gegenstand zwar gleichsam unmittelbar und sofort. Wir müssen nicht erst seriell-sukzessiv Merkmale und Kennzeichen abarbeiten (wie es beispielsweise ein übliches Programm eines Computers vom v. Neumann-Typ »machen« müsste), um nach einem längeren Prozess einen Gegenstand »wahrnehmend« erkennen zu können, sondern wir können das sofort, geradezu instantan erreichen. Unser Gehirn und die Wahrnehmungsapparatur können das visuelle Mustererkennen in Kombinationsarbeit unglaublich schnell leisten und sind darin bekanntlich (noch) fast jedem Computer überlegen. Diese Mustererkennung »auf einen Blick« kann eigentlich nur erklärt werden durch eine außerordentliche Parallelität der Verarbeitung im Gehirn; die neuronalen Netzwerke sind parallel geschaltet und funktionieren nicht in erster Linie seriell. Das wird heute durch Modelle von parallel verarbeitenden neuronalen Netzwerken bzw. mit entsprechenden Computermodellen anzunähern versucht: Man ist bestrebt, sich Modelle davon zu machen. In der Tat scheint der Ansatz parallel-verarbeitender neuronaler Prozesse bzw. entsprechender neuronaler Netzwerk-Modelle vielversprechend für parallel oder netzwerkartige »konnektionistische« bzw. neuerdings strukturdynamische Port – van Gelder 1995, s. Vf. 2013) Computermodelle der Zukunft zu sein.
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Das »Subjekt«, das herkömmlich als die strukturierende Instanz, als »mentaler Akteur« gilt, lässt sich selbst nur als Interpretationskonstrukt höherer Stufe beschreiben. Die SubjektObjekt-Trennung ist (zumindest von der erkenntnistheoretischen Metaebene gesehen) selbst interpretationsgebunden, eher eine abstrakte »Agentur« statt eines »Agenten« oder Akteurs.
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4.2
Konstruktiver Moment
Die Psychologen reden von Schemata (Rumelhart 1978) als von bestimmten Wissens- oder Datenstrukturen zum Repräsentieren gattungsmäßiger Begriffe, die meistens im Gedächtnis gespeichert sind. Das ist allerdings noch ein wenig unklar, denn man weiß nicht genau: Ist die Struktur nun selbst ein Datum oder eine Datenstruktur in dem Sinne, dass sie Daten strukturiert verarbeitet? Ist das Repräsentieren selbst ein Vorgang bzw. ein durch einen Repräsentationsprozess erst zustande gekommener Zustand? Wie soll dieser Zustand zu der bloßen Datenstruktur im Verhältnis stehen, insbesondere, wie soll ein Repräsentationsprozess die Datenstruktur ordnen können? Das ist im Grunde alles noch etwas unpräzise, vage und auch quasi metaphorisch ausgedrückt11 . Die Theorie der Schemata – so die Idee – ist nur durch Schemaverwendung klar zu machen, zu illustrieren. Das Schema-Funktionieren wird dadurch plastischer einsichtig. Dies hat den Vorteil, dass der Begriff »Schema« und die Schematheorie in gewissem Sinne deutlicher in Aktion dargestellt werden. Gleichzeitig wird auch das konstruktive Moment besonders hervorgehoben, die Rasterung, die Konkretisierung von Aktivität, die Strukturierung von Handlungen insbesondere beim Repräsentieren. Alle diese Formierungs- und Strukturierungsaktivitäten werden dadurch besonders deutlich, wie es insbesondere mit der geradezu klassisch gewordenen Darstellung von Rumelhart (1978) nachzuvollziehen ist. Er schreibt: »Alles Wissen ist überhaupt in Schemata gerastert und eingebettet: Unsere Schemata sind unser Wissen.« Das kann man gerne glauben, aber Schemata sind natürlich viel allgemeiner, wie wir gesehen haben; sie umfassen natürlich auch Handlungsstrukturierungen, sie sind nicht nur begriffliches, verbales oder propositionales Wissen. Zumindest sollte man »Handlungswissen« (Können, Knowhow) einbeziehen. Wissen wurde traditionell in gewissem Sinne tatsächlich zu erkenntnistheoretisch-passivistisch verstanden. Alle formierenden Strukturierungen, alle schematisierend-
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Auch werden hier unterschiedliche Begriffe benutzt wie »Schemastruktur«, »Muster«, »Rahmen«, »Konstrukt«, »Raster«, »Begriffsschema«, »Konfiguration«, gelegentlich sogar »Strategie« oder in der traditionellen Philosophie »Konstitution«, »Synthesis« oder »kreative Synthesis«. Das sind ebenfalls alles recht vage Begriffe, die nur etwas umschreiben, was man offenbar noch nicht wirklich »im (Be-)Griff« hat, sondern was im Zusammenhang mit dieser Schematisierungsaktivität steht und im Grunde durch die sprachlichen mühevollen Beschreibungen nur recht lose umschrieben wird. Es gibt also offensichtlich keine wirklich präzise, explizite, von allen Zirkelhaftigkeiten freie Definition des Begriffs »Schema«. Psychologen gehen deshalb auch meistens deswegen gleich dazu über, nicht mehr über die Definition nachzudenken, sondern den Begriff anzuwenden, sozusagen mittels der Verwendung durch Beispiele und Instanziierungen zu illustrieren.
Erkennen und Handeln – durch Schematisieren
interpretatorischen Aktivitäten – auch jene, die über das kognitiv-repräsentierende Wissen hinausgehen – sind schematisiert, geschehen in Schemata – und insofern müssen natürlich Schemata auch über den Bereich des Wissens hinausgreifen. Aber richtig ist sicherlich, dass alles das, was wir unter »Wissen« verstehen können, unter Denken, Repräsentationen von Gedanken, Vorstellungen, Inhalten und intentionalen Gehalten oder Gegenständen von Vorstellungen, schemageprägt ist, von Schemata gestaltet, formiert, eben »schematisiert« – also nach typischen Merkmalen selektiert und strukturiert. Schemata stellen nicht alles Einzelne, jedes Detail eines repräsentativen oder wahrnehmenden Erlebens dar, sondern sie treffen eine Auswahl, sie selektieren. Deswegen betont Rumelhart auch, dass die »Schematheorie« auch eine Theorie der Bedeutungszuordnung, der Sprachbedeutung umfasse, insofern, als das einem Begriff zugrundeliegende Schema, wie es im Gedächtnis gespeichert ist, die durch Merkmalszüge charakterisierende Bedeutung dieses Begriffes sei bzw. der Bedeutung dieses Begriffes entspreche. Schematisierte Merkmale oder Merkmalszüge, die ein Schema charakterisieren, entsprechen der Bedeutung des zugehörigen Begriffes. Das kann vorsprachlich verstanden werden; es gibt ja auch vorsprachliche begriffliche Fähigkeiten des Diskriminierens, des Unterscheidens, des Einordnens aufgrund von Ähnlichkeiten. Aber das Gesagte kann sich natürlich in den normalen Situationen auch auf Schematisierungen beziehen, die erst durch die Sprache genauer differenziert oder zu differenzieren sind. Die Merkmale engen sozusagen die Bedeutungen eines Begriffs ein. Das entsprechende Schema wird dann in bestimmten relevanten Situationen individualisiert, instanziiert. Es kann abgerufen, aktiviert werden und auch auf andere Schemata bezogen werden, zum Beispiel als deren Unter- oder Oberschema. Rumelhart versucht die funktionale Rolle von Schemata in diesem Sinne durch Vergleiche mit anderen bekannten Verfahren oder Modellen der Darstellung oder Repräsentation bzw. der strukturierenden Ordnung von Wissensbeständen zu charakterisieren.
4.3
Schema-Vergleiche
Beispielsweise entspricht das Aktivieren bzw. Realisieren eines Schemas in gewissem Sinne dem Aufführen eines Schauspiels oder dem Abspielen der Rolle. Das Schema ist das Drehbuch, und die Instanziierung oder Aktivierung des Schemas ist dann eben das wirkliche Schauspiel oder eine Interpretation des Drehbuchs durch eine Aufführung. Hier gibt es sicherlich viele Ähnlichkeiten. Die interne Struktur des Schemas entspricht also dem vorgelegten und befolgten Drehbuch, der Strukturierungsvorlage; die Aktualisierung entspricht der einzelnen Aufführung des Schauspiels anhand des Drehbuchs. Man kann natürlich streiten, wieweit Zusammenhänge zwischen Teilschemata und Schemata sich auf Regieanweisungen
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innerhalb oder hinsichtlich der einzelnen Aufführung bzw. Aufführungsordnung beziehen. Ähnlich wie Theorien repräsentieren Schemata auch Merkmale kognitiver Strukturen, zum Beispiel wie Theorien in der Naturwissenschaft oder in den Wissenschaften generell. Theorien, die aus Prinzipien, Axiomen, Hypothesen, Gesetzen, Begriffen und entsprechenden Definitionen bestehen, sind mehr oder minder allgemein bzw. sind abstrakt formuliert, logisch miteinander verknüpft – oder wiederum mehr oder minder – nebeneinander gestellt (»aggregiert«). Man benutzt sie, um Phänomene strukturiert zu beschreiben oder meistens auch zu erklären, zu simulieren/modellieren bzw. vorherzusagen. Eine naturwissenschaftliche Theorie etwa dient dazu, einen ganzen Erfahrungsbereich zu erklären oder erklärend zu beschreiben bzw. durch die Anwendung der entsprechenden Hypothesen oder Gesetze auf gegenwärtige oder vergangene Situationsbeschreibungen Voraussagen zu machen, evtl. auch durch angenommene, künftige Umstände bedingende Prognosen. Schemata entsprechen nach Rumelhart solchen theoretischen Strukturen oder Theorien. Der nächste Vergleich ist jener mit Computerprogrammen; auch das lässt sich natürlich leicht nachvollziehen. Dass Schemata eine Art Prozessablaufzusammenhang aufweisen, insbesondere natürlich bei vorentworfenen Handlungsstrukturierungen (da spricht man übrigens statt von »Schemata« meist von »Skripts«). Diese beispielsweise mögen der Software oder dem Programm eines bestimmten Ablaufes oder eines bestimmten Abfolge- oder Argumentations- bzw. Ableitungszusammenhangs entsprechen. Das kann man sich anhand der Befehlsstrukturierung in der Software und der konditionalisierten Anwendungsvorschriften durchaus plausibel vergegenwärtigen. Ein weiterer Vergleich bezieht sich noch auf das »Parsing« der Linguisten, d.h. die grammatische Komponentenanalyse; ein »Parser« ist dasjenige Verfahren, diejenige Aktion oder Instanz, welche die Zerlegung eines Satzes in Komponenten leistet: z.B. abstrakte allgemeine Komponenten; man erinnere sich an die ChomskyBäume in der Linguistik (»noun phrase«, »verb phrase« usw.) und an die Verzweigungen, die analytischen Aufgliederungen in den entsprechenden Transformationsgrammatiken. Diese Komponentenanalyse kann ebenfalls erfolgreich zum Vergleich mit einer wesentlichen Funktion von Schemata herangezogen werden. Hier sind natürlich insbesondere analytische Schemata gefragt, die ebenfalls etwas zerlegen, in bestimmter strukturierter Weise ordnen oder erfassen sollen. In allen solchen Beispielsarten und Vergleichen handelt es sich im Wesentlichen darum, dass die Schemata einen Zusammenhang von ausgewählten bzw. ausgezeichneten, evtl. abstrakten, wesentlichen Merkmalen darstellen und so die Beziehungen zwischen den entsprechenden einzelnen Merkmalen oder Zügen herausgestellt und generalisiert, gleichsam »musterhaft«, typisiert dargestellt werden. Es handelt sich also um Verfahren und Strukturen, die dazu führen, dass bestimm-
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te Strukturzusammenhänge oder Variationen analysiert, rekonstruiert, aktiviert oder re-aktualisiert und unter Umständen auch variiert werden – und zwar situationsangepasst. Dann jedoch, wenn eine Schematisierung grundsätzlich für eine bestimmte neue Umgebung oder Welt(repräsentation) nicht mehr passt, werden die Schemata weiterentwickelt oder weiter verzweigt, irgendwie abgeändert (modifiziert) – ähnlich, wie eben Theorien und Hypothesen auch geändert werden können. Nach Rumelhart ist es kennzeichnend, dass Schemata wie auch Theorien Variable aufweisen, die mit verschiedenen Umgebungsaspekten hinsichtlich der jeweiligen konkretisierten Anwendung, der Instanziierung dieses Schemas verbunden werden. Und es gibt natürlich auch Einschränkungen der entsprechenden Variablen auf den entsprechenden Bereich bzw. Randwert- und Anfangswert-Probleme. Man muss den Einzelfall unter das allgemeinere Muster bringen; das ist ganz ähnlich wie bei theoretischen Erklärungen oder begrifflich(en) verallgemeinernden Erfassungen von Einzelfällen.
4.4
Schemaspezifisches Handeln
Nehmen wir ein Beispiel, das von Rumelhart bis ins Einzelne durchexerziert wird. Er redet vom Schema VERKAUFEN, das irgendwie die Situationskonnotationen »Kaufen« und »Verkaufen« in ein entsprechendes allgemeines Muster bringt, sozusagen ein Schema darstellt, das automatisch oder quasi-automatisch aktiviert oder abgerufen wird: Wenn wir z.B. das Wort »Verkaufen« hören, wissen wir, dass es sich um eine bestimmte Situation handelt, die wir kennen. Das ist natürlich nicht gerade eine »natürliche« Situation, sondern eine kulturell, traditionell und institutionell geprägte. Es gibt sicherlich Eingeborenenstämme, wie die Zoë-Indianer, die man ja erst kürzlich in Bolivien entdeckt hat, welche noch nie mit der so genannten Zivilisation in Berührung gekommen waren; diese kennen natürlich die Institution und das Schema des »Kaufens« und »Verkaufens« überhaupt noch nicht, vielleicht aber ein allgemeineres Schema des »Tauschens« von Naturalien. Das Schema VERKAUFEN hängt natürlich mit einem bestimmten anderen Subschema zusammen: Es muss Verkäufer geben und Käufer, die dieses Schema realisieren – und kennen! Außerdem müssen bestimmte Medien konventionalisiert und institutionalisiert sein, beispielsweise Geld oder Tausch, Austausch, die den Verkauf regeln: z.B. den Tausch gegen Geld, das ist ja die Definition von »Kaufen« und »Verkaufen«. Zumindest ist erst einmal zu VERKAUFEN ein generelles Oberschema zu postulieren, etwa TAUSCHEN; und man sieht zugleich ein, dass es ein daneben gestelltes, gleichwertiges und damit unmittelbar, geradezu analytisch verbundenes Schema gibt, nämlich KAUFEN. »Verkaufen« und »Kaufen« sind nur gemeinsam zu verstehen, sind Wechselbegriffe – ähnlich wie »Subjekt« und »Objekt«. Sie sind pro-
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zessual-analytisch, unmittelbar aufeinander bezogen, in Kombination gemeinsam und in Bezug auf die Wechselbeziehung definiert. Es muss weiter auch ein Schema dessen geben, was das Kauf- oder Verkaufsgut ist, also der Ware. Das Schema WARE, als Repräsentationsschema dessen, was verkauft oder gekauft wird, muss auch ein Subschema des »Aushandelns«, von »Angebot« und »Einverständnis« oder »Ablehnung«, »Angebot und Nachfrage« und so etwas mitbetreffen. Das heißt, dieser Prozess des Aushandelns, des »Handelns« (z.B. des Aushandelns beim Geschäftemachen) ist ein Teilschema, ein Handlungsschema, dessen Beherrschung erwartet wird und das charakterisiert ist durch bestimmte Rollenerwartungen, sog. Normen (das sind ja institutionalisierte Rollenerwartungen, wie die Soziologen es auffassen). Die These ist also, dass ein solches Schema, wie z.B. VERKAUFEN, die entsprechenden Subschemata, Nebenschemata oder auch Überschemata oder Oberschemata aufweist, die zusammen mit diesen entsprechenden Funktionsrollen jeweils gleichzeitig oder parallel mitaktiviert, abgerufen werden. Wir stellen uns mit dem Oberschema VERKAUFEN dann die Subschemata gleichzeitig mit vor, bzw. diese werden mitaktiviert. Diese implizieren wir gleichzeitig vorstellungsmäßig mit als mitvorhanden oder mitrepräsentiert. Wir wissen, wenn wir etwas verkaufen oder kaufen wollen, wie wir mit der Ware umzugehen haben, was das ist: »Ware«, und was der Käufer will. Und meistens ist ja die Situation des Verkaufens und Kaufens institutionell in bestimmter Weise ausgegrenzt. Wir wissen, dass beides unter Umständen auf einem Markt oder in einem Laden passiert. Dadurch ist schon äußerlich klar, dass hier eben verkauft und gekauft wird. Rumelhart (1978,1980) verweist darauf, dass ein Schema dann instanziiert wird, wenn eine Konfiguration von Werten zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Kombination, einer bestimmten Konfiguration von Variablen zugeordnet wird. Eine Situation als Instanz irgendeines Begriffs zu interpretieren, beinhaltet die Instanziierung eines passenden Schemas, z.B. des Schemas KAUFEN, dadurch, dass die unterschiedlichen Variablen des Schemas mit den verschiedenen Aspekten der Situation verbunden werden. Ein solches Schema zusammen mit den Variablenverbindungen wird dann ein »instanziiertes Schema« genannt. Das bedeutet, das Schema wird auf bestimmte Personen, Rollenträger, Umstände, Situationen, Kontexte usw. bezogen und somit realisiert, konkretisiert, eben instanziiert, angewandt in Bezug auf eine passende Situation im Einzelfall. Der Einzelfall wird herangezogen, das allgemeine Schema auf die Merkmale und die Situation des Einzelfalls spezifiziert, zugeschnitten, konkretisiert. Das allgemeine Schema und die zugeordneten Subschemata strukturieren auf solche Weise die Situation erst im Allgemeinen und unter einer Perspektive vor, und dies wird dann spezifiziert, konkretisiert auf eine Situation angewendet. Man kann sich das so ähnlich vorstellen wie das Vorgehen in der traditionellen Wissenschaftstheorie beim Erklären mit Bezug auf Gesetze. Dort verfügt man
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über ein allgemeines Gesetz, einen Strukturzusammenhang, der unter Voraussetzung der bestimmten Beschreibung eines Einzelfalls, der sog. Anfangsbedingung oder des singulären Explanans (singuläre Prämisse oder Voraussetzung der Erklärung), steht. Dann wird durch Einsetzung der Einzelfallbeschreibung bzw. -spezifizierung in den allgemeinen Satz (das Gesetz) daraus in logisch-deduktiver Weise ein Schlusssatz, das Explanandum, abgeleitet. Solche Fälle kann man sich ähnlich auch bei den Schematisierungen vorstellen, obwohl es natürlich dort meistens um Einzelinstanziierung geht und nicht um logische Ableitung aus umfassenden universellen Naturgesetzen, also um Konklusionen im Sinne der strikten Gültigkeit oder der Nachprüfbarkeit wie bei wissenschaftlichen Voraussagen oder deduktiv-nomologischen Erklärungen. Das Schema KAUFEN muss aber auf jeden einzelnen Fall des Kaufens passen. Das ist beim Schauspiel allerdings nicht unbedingt so. Somit ist der allgemeine Begriff des »Schemas« in gewissem Sinne schärfer als beim Schauspiel. Beim Schauspiel muss z.B. nicht alles genau entsprechend dem Drehbuch erfolgen. Man kann auch im Alltag schauspielern, ohne ein explizites Drehbuch zu befolgen. Das heißt, hier gibt es gewisse Unklarheiten hinsichtlich der oben erwähnten Vergleiche. Das aber ist natürlich zu erwarten, weil es ja hier nur um Analogiebildungen geht. Deswegen versucht Rumelhart eben mehrere solche Vergleiche heranzuziehen, um durch deren Vielseitigkeit etwas zu illustrieren und plastisch zu machen. Wir können nun außer Handlungen und Situationen, Strukturierungen von Situationen, Ereignisse, Gegenstände auch räumliche und statische oder sonstige funktionale Beziehungen in schematisierte Form bringen. Das Schema einer räumlichen Gestalt kann man direkt sehen, und es wird auch im Alltag so benannt. Man denke etwa an Muster von Sternenbildern wie der Große Wagen.
4.5
Schema-Netze
Wichtig ist insbesondere: Die Schemata stellen jeweils eine ganze Hierarchie dar: aus Subschemata, zugeordneten Nebenschemata und übergreifenden Ober- oder Superschemata. Sie sind in einem bestimmten Schemata-Netz, in einer netzwerkartigen oder baumartigen Gesamtanordnung, zu fassen – häufig auch im Vergleich; und das wäre natürlich in eine weitere Analogisierung mit Entscheidungsbäumen oder Flussdiagrammen zu bringen. Bei Begriffsbäumen oder Hierarchisierungen ist natürlich so etwas wie eine hierarchische Struktur von schematischen Zusammenhängen in der Tat zu finden. Die Gesamtmenge unserer Schemata, die zur Interpretation unserer Welt verfügbar ist, so sagt Rumelhart, sei unsere »private Theorie« von der »Realität«, von »der Natur der Realität«. Die zu einem bestimmten Zeitpunkt instanziierten Schemata stellen also ein repräsentiertes und realisiertes Modell der jeweiligen Situa-
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tion dar, das unter den Gegebenheiten unserer verfügbaren Schemata konstruiert ist bzw. konkretisiert wird. Zusammenfassend meint Rumelhart (1978), dass Schemata durch folgende Hauptmerkmale gekennzeichnet sind: Schemata weisen Variablen auf, können bezogen werden auf bestimmte konstante Merkmale, welche die Variablen konkretisieren oder eben die Instanziierung herstellen, das heißt, die als Konstante in die Variablen eingesetzt werden, wenn man das klassisch erklärungstheoretisch oder logisch versteht. Schemata können aber auch in andere Schemata eingebettet werden, in Subschemata, Subprozeduren, Submuster oder anderes; sie können andere Gestalten und Ordnungen umfassen bzw. auch unter höhere Oberschemata untergeordnet werden. Sie können einander überlappen. Sie repräsentieren das Wissen, eher faktisches oder theoretisches Wissen als bloße Definitionen oder Bedeutungsfestlegungen – obwohl die auch darin vorkommen. Sie sind darüber hinaus auch handlungsstrukturierend. (Das muss man, wie schon erwähnt, Rumelhart gegenüber betonen.) Sie repräsentieren nicht nur Wissen, sondern auch normative Strukturierungen, und Handlungswissen (Know-how), und dienen eben auch zur Strukturierung von allen möglichen Verhaltens- und Handlungsweisen im Umgang mit der Außenwelt, mit sozialen Partnern usw. Dasselbe gilt auch bei der entsprechenden Strukturierung der »inneren« (mentalen) Repräsentationen, der Vorstellungen, die wir uns machen. Schemata stellen also nicht nur Wissen, sondern »Erfassungen« auf allen Abstraktionsebenen dar; sie formieren diese, sind eher aktive Prozesse oder Prozeduren als statische Strukturen, haben aber eine gewisse relative (dynamisch verfestigte) Stabilität, können wiedererkannt werden, setzen Abspeicherung im Gedächtnis voraus und die Möglichkeit des Wiederabrufens. Sie können auf ihre Anwendung und Verarbeitung hin beurteilt oder bewertet werden, hinsichtlich dessen, wie gut sie passen, um eine Situation zu beschreiben oder andere verarbeitende Daten mit zu erfassen. Sie stellen also generell Verarbeitungsstrukturen auf allen Abstraktionsebenen dar, von der Wahrnehmungsordnung bis hin zur theoretischen Vereinheitlichung und bis zur handelnden Strukturierung, etwa im Sinne der Vorauskonzeption, der Antizipation beim Planen usw. Kognition im Allgemeinen, könnte man sagen, ist Schemakonstruktion und Schemaanwendung. (Das gilt entsprechend auch für jede geregelte Aktion – für Verhalten und Handeln.) Jede Art von Repräsentation – sei es äußere Repräsentation, sei es »innere« oder mentale Repräsentation – ist in diesem Sinne eben »konstruktiv«, ist Anwendung von Schemata in Bezug auf deren Instanziierung mittels einer spezifisch zu erfassenden Datenkonstellation bzw. für eine Situation. Es handelt sich also stets um ein instanziiertes Schema oder um instanziierbare schematisierte Konstrukte, Schemakonstrukte oder »Interpretationskonstrukte« – formuliert mit Ausdrücken, wie sie hier verwendet werden. Ohne Schematisierung, ohne Interpretationskonstrukte kein Wissen, kein Handeln, keine Situationserkenntnis oder
Erkennen und Handeln – durch Schematisieren
-»erfassung«12 ; das ist ja im Grunde unser erster methodologischer Grundsatz, den wir schon diskutiert haben.
5.
Resümee
Alles Erkennen und jegliches Handeln sind letztlich interpretationsgebunden, geprägt von solchen Schematisierungen und den entsprechenden Ergebnissen von Schematisierungsprozessen, also den Interpretationskonstrukten. In diesem Sinne lässt sich die zentrale Funktion der Schemabildung und -anwendung beim Erfassen, Ordnen, Gestalten, Vergleichen von Ereignissen, Gegenständen und Situationen und deren Repräsentanten durch Interpretation verstehen. Und natürlich gilt Entsprechendes auch bei der Instanziierung und Abrufung13 der passenden Handlungsschemata, bei deren Kontrolle und Rückkontrolle in der Verwendung und bei deren möglicherweise nötigen Abänderung. Man kann wie gesagt Schemata auch abändern. Insbesondere ist es häufig bei kreativen Prozessen der Fall, dass man gewohnte Muster und Schematisierungen verlassen muss, um zu einer neuen Lösung, abgewandelten Problemstellung oder überhaupt zu einer Lösung zu kommen. Das wird bei den Untersuchungen der kreativen Prozesse untersucht oder diskutiert (vgl. Koestler, 1964/dt. 1966, u. Verf. 2000a) das an vielen Beispielen illustriert wird. Das Kreative scheint das Spielen mit herkömmlichen Schematisierungen zu sein, dass es uns u.U. aber auch erlaubt, die alten Schematisierungen wieder aus einer höheren Warte zu sehen, umzudeuten und unter Umständen zu ändern. Man muss offensichtlich über gewisse eingespielte, eingerastete Schemata hinausgehen, um neue Lösungen finden zu können. Darin besteht meistens der kreative Einfall – oder ein »kreativer Aufstieg« (Vf. 2000a). Jedenfalls ist es klar, dass diese Prozesse des Schematisierens, des Schemainterpretierens zur Darstellung aller Repräsentationen und Kognitionen – sowie gezielten oder geregelten Aktionen – notwendig sind, dass der Schemabegriff ein abstrakter Grundbegriff sein kann, der zur methodologischen Analyse aller 12 13
»Erfassung« umfasst das aktivische Moment (»Fassen«) wie das passive, im übertragenen Sinne (vgl. Verf. 2000, 2003). Der Abrufprozess, das so genannte »Triggern«, kann natürlich von unten nach oben laufen, vom Oberschema zum Unterschema, oder auch umgekehrt, vom Unterschema zum Oberschema. In gewissem Sinne werden jeweils zugeordnete über- oder untergeordnete Schemata bei einer Aktivierung eines gegebenen Schemas gleich mitaktiviert. Verkaufen ist auch Tauschen, oder wenn wir von Warentausch reden, dann denken wir auch an »Kaufen« und »Verkaufen«. KAUFEN und VERKAUFEN sind Subschemata von TAUSCHEN (s. obiges Beispiel).
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Erkenntnis- und Handlungsstrukturierungsprozesse dienen kann. Er mag in gewissem Sinne eine liberalisierte Auffassung der Kantischen Kategorienlehre darstellen, ist aber natürlich in einem hohen Maße flexibilisiert. Es sind nicht bloß die festen Schemata, die einzig und allein für jedes Vernunftwesen fixiert sind – wie für Kant die Kategorien als reine Verstandesbegriffe –, sondern wir entwickeln in Auseinandersetzung mit unserer Umwelt gewisse Schemata. Oder es haben sich in uns im Zuge der biologischen Evolution, und zusammen mit der Entwicklung unserer Erkenntnisapparaturen, genetische Schemata ausgebildet, welche von Kant als apriorisch gültig aufgefasst wurden, die aber – wie etwa die evolutionäre Erkenntnistheorie nicht müde wird zu betonen – allenfalls ontogenetisch apriorisch sind, aber nicht phylogenetisch apriorisch. Denn sie sind in der Stammesgeschichte entstanden. Das ist natürlich ein weites und kontrovers bearbeitetes Feld, auf das ich mich hier nicht begeben möchte. Die Grundlehre ist, dass der Aktivismus und Konstruktivismus der Kantischen Theorie beizubehalten ist: Kant hat den Schemabegriff durchaus auch in prozessualer Hinsicht verwendet und für die psychologischen Erfassungen vorgesehen. Die Schematisierung oder der Schematismus ist für Kants Kritik der reinen Vernunft (vgl. B 179ff.) ein Verfahren, das abstrakten begrifflichen Strukturen ihr »Bild« verschafft. Diese Kantische Auffassung des Aktivismus und des Konstruktivismus der Erkenntnis ist in der Tat nach wie vor gültig, wenn auch natürlich in einer viel abstrakteren und liberalisierten, flexibilisierten Form, als Kant das vorgehabt hatte. Insofern kann und wird das Konzept der Schemabildung und der Interpretationskonstrukte sowohl in der Psychologie als auch in der Biologie wie generell in Wissenschaft und Alltag eine große Rolle spielen. Wir können uns natürlich überlegen, wie solche Schematisierungen nun speziell auf mentale Repräsentationen bezogen werden können, wie überhaupt Schematisierungen oder die Bildung von Schemata und deren Netzen mental »eingespielt« werden kann.
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Gedanken, Sätze, Sachverhalte – zum Zusammenhang von Denken, Sprechen, Weltbezug Oswald Schwemmer
Das Verhältnis zwischen Sprache und Denken auf der einen und Sprache oder Denken und Wirklichkeit auf der anderen Seite benennt zwei zentrale Themen der Philosophie seit ihren Anfängen. Ist unser Denken ein stummes Reden, wie Platon meinte und nach ihm sehr viele andere meinen zu können glaubten, oder sind Denken und Reden zwei verschiedene Bereiche und Formen unseres geistigen Lebens? Können wir unser Denken oder Reden mit der Wirklichkeit in Übereinstimmung bringen oder bleibt eine letztlich unüberbrückbare Distanz zwischen beiden Bereichen bestehen? Oder, beide Fragen in eine zusammengeschlossen: Wie verhalten sich Gedanken, Sätze und Sachverhalte zueinander?
1.
Was sind Sätze
1.1
Sprachliche Struktur und dialogische Funktion
Der Versuch einer unmittelbaren Antwort muss scheitern. Denn vorher müssen andere Fragen gestellt und beantwortet werden: Was sind überhaupt Gedanken, Sätze und Sachverhalte? Am einfachsten scheint die Frage nach den Sätzen. Wo wir eine grammatisch geordnete – und d.h. über eine Schrift fixierte – Sprache haben, wissen wir, was Sätze sind: sprachliche Wortverbindungen, die eine Antwort ermöglichen, und in diesem Sinne vollständig, nämlich hinreichend für das Geben einer solchen Antwort und für die Anerkennung der gegebenen Antwort als einer Antwort auf die sprachliche Wendung sind. Letztlich ist damit nicht eine interne sprachliche Struktur, sondern die dialogische Funktion das Definiens für einen Satz. Dies ermöglicht es, auch grammatisch unvollständige Wendungen noch als Sätze anzuerkennen. Dass nicht die Struktur, sondern diese Funktion das ist, was Sätze charakterisiert, gründet in einem allgemeinen Sprachverständnis, das Sprache primär als ein Kommunikationsmedium sieht und nicht als ein System – möglichst streng und eindeutig – geregelter Zeichenkonfigurationen. Für dieses Verständnis kann
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sogar der Fall auftreten, dass die korrekte Regelanwendung die Kommunikation erschwert oder sogar verhindert. Wenn nämlich eine Sprache erst einmal durch eine Terminologie streng geregelt ist – grammatische Regelungen scheinen hier eher randständig wirksam zu sein –, dann kann sie für »Laien«, die diese Terminologie nicht beherrschen, völlig unverständlich werden und für die Fachleute eine Sicht auf das mit ihr Formulierte befestigen, die das Gesagte nur noch aufruft, ohne weitere Verstehensbemühungen einzufordern. Die fertige Terminologie verführt dadurch oft zum innersystemischen Umgang mit vorgefertigten Fragen und Antworten: einem Umgang, der zumindest einem kreativen Fortschritt nicht sehr förderlich erscheint.
1.2
Sprachentwicklung im Umgang miteinander
Schon diese knappe Überlegung zeigt, dass selbst bei dem für uns Selbstverständlichen bei näherem Hinsehen Fragen auftauchen, die unter dem als selbstverständlich Unterstellten verdeckt blieben. Gehen wir aber noch einen Schritt weiter: Wie kommt es überhaupt dazu, dass sich Sätze ausbilden, dass sich eine ganze Sprache entwickelt, der diese Sätze zugeordnet werden können? Dabei scheint eines sicher: Die Sprache muss schon einen langen Weg hinter sich haben, bevor es zu Sätzen kommt. Bevor die Einheit eines Satzes sich ausbilden kann, muss schon gesprochen, muss miteinander geredet worden sein. Und wenn miteinander geredet wird, muss dieses Reden mit anderen Gemeinsamkeiten verbunden, in diese eingebunden sein. Denn woher sonst sollten die Wörter oder Wendungen, sollte das sprachliche Handeln insgesamt seine Verständlichkeit, seinen Sinn im Austausch und Miteinander der Redenden gewinnen? Mit Maurice Merleau-Ponty gesagt: »Das erste Wort fand seinen Sinn im Kontext von Verhaltensweisen, die bereits gemeinsam waren« (Merleau-Ponty 1984, S. 64). Diese Gemeinsamkeit ist nicht mit Gleichheit zu verwechseln. Sie schließt vielmehr das wechselseitige aufeinander Bezugnehmen ein, das sich aufeinander Abstimmen oder auch sich miteinander Auseinandersetzen, das aufeinander Zugehen oder auch voneinander Abwenden. Entscheidend ist dabei immer, dass überhaupt Beziehungen zueinander, von welcher Art auch immer, aufgebaut werden, selbst wenn aufgebaute Beziehungen – in deren Aufkündigung – wieder abgebaut werden. Außerhalb eines solchen Feldes vielfältiger Bezüge wäre Reden unverständlich. Damit Sprache ihren Sinn gewinnen und damit allererst Sprache werden kann, muss sie in die vielfältigen Verschränkungen des Umgangs der Sprechenden miteinander eingebunden sein. So kann sie am Anfang ihres Weges nicht schon ein eigenes, sich selbstständig entwickelndes und ordnendes System sein, sondern sie muss sich immer wieder und an vielen Orten als besonderer, nämlich lautlicher, Ausdrucksakzent an das Tun und Leiden der miteinander umgehenden Sprecher
Gedanken, Sätze, Sachverhalte – zum Zusammenhang von Denken, Sprechen, Weltbezug
heften. Sie entwickelt sich als eine Vielfalt lautlicher Ausdrucksakzente in Verbindung mit anderen Ausdrucksformen und -akzenten und erhält damit ihren Sinn immer wieder von Neuem aus der Verknüpfung von und mit dem Ganzen dieses anderen Ausdrucks- und Austauschgeschehens. In einem Bild gesprochen: Sprache in ihrem Entstehungsprozess lässt sich darstellen als eine Ansammlung leuchtender Orientierungspunkte, die sich in wechselnden Konfigurationen und ständig wachsender Ausdehnung auf der Oberfläche des gesamten anderen – ebenfalls sich ständig erweiternden und dichter verschränkenden – Ausdrucks- und Handlungsgeschehens bewegen. Obwohl diese Ansammlung schon Formen und Formationen erkennen lässt, schließt sie sich noch nicht zum Ganzen eines in sich geordneten Feldes zusammen, sondern bleibt ein Oberflächengeschehen, das sich sozusagen von Fall zu Fall sortiert und konfiguriert.
1.3
Schematisierungen
In solchen Anfangsphasen bilden sich, wie die Geschichte uns lehrt, Schematisierungen heraus, die sich sowohl auf die sprachlichen Äußerungen als auch auf die Verhaltensweisen beziehen und dadurch auch zu einer Schematisierung unserer Wahrnehmungen und selbst unserer Gefühle führen. Man wird hier wohl keine festen Abhängigkeitsverhältnisse postulieren können. Es reicht die Feststellung, dass sich überhaupt Schematisierungen im Weltverhältnis der miteinander umgehenden Akteure herausbilden, die sich durch die Verknüpfung der schematisierten Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen mit den anderen Verhaltens- und Wahrnehmungsweisen auch auf deren Schematisierung auswirken. In Bezug auf die Herausbildung von Mythen und Riten haben die Ethnologen immer wieder auf diese Schematisierungen und deren Verknüpfung miteinander hingewiesen. Klassisch sind hier Ernst Cassirers Darstellungen des mythischen Denkens z.B. in seiner Philosophie der symbolischen Formen (ECW Bd. 12, Bd. 13) dem Essay on Man (ECW Bd. 23) und seinem letzten Buch über den Myth of the State (ECW Bd. 25).
2.
Zwischenbemerkung: Mythische Schematisierungen (Ernst Cassirer)
Eine Zwischenbemerkung mag Cassirers Darstellung der charakteristischen Wirkweise mythischer Schematisierungen vor Augen führen: Cassirer geht bei dieser Darstellung von dem Ort aus, der für uns die Zone des intensivsten Ausdruckserlebens ist: vom menschlichen Gesicht. Kein Ausdruck berührt uns tiefer als die Miene eines Menschen. So ist es verständlich, dass Cassirer mit anderen Autoren für den Anfang der menschlichen Bewusstseinsgeschichte –
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nämlich im Zeitalter des Mythos – diese Ausdruckstiefe überall gegenwärtig sieht. Für diese Zeit des Mythos hat alles ein Gesicht. Die Welt zeigt eine vielgesichtige Präsenz, einen allgegenwärtigen Ausdruck »des Lockenden oder Drohenden, des Vertrauten oder Unheimlichen, des Besänftigenden oder Furchterregenden« (ECW 13, S. 74). Diese physiognomische Weltwahrnehmung dramatisiert das Weltgeschehen und führt zu einer dramatischen Weltgliederung. In ihr erfasst der mythische Mensch das Weltgeschehen als ein Insgesamt von Ausdrucksmomenten, die ihn zutiefst berühren und ihn in ein Drama hineinstellen, in dem ihm Rollen zugewiesen sind und von ihm übernommen oder abgelegt werden: Die Welt wird ihm »zur Gesamtheit möglicher Ausdruckserlebnisse und gleichsam zu ihrer Bühne und ihrem Schauplatz« (ECW Bd. 13, S. 95). In diesem Drama ereignet sich immer wieder das überwältigende Ergriffenwerden von dem, was als Ungewöhnliches, aus der Beherrschung des alltäglichen Lebens Hinausfallendes, erfasst wird. Cassirer sieht es als »die Vorbedingung für alles mythische Denken und alles mythische Gestalten« an, dass solches Ergriffenwerden von einem übermächtig Erscheinenden in einem Augenblick sich – immer wieder – ereignet (ECW Bd. 16, S. 257) In einer tieferen Schicht des mythischen Bewusstseins hat diese Bedingung ihren Grund in dem Charakterzug des mythischen Denkens, den Cassirer die mythische Metamorphose nennt. Die »Ausdruckswerte und Ausdrucksmomente« der mythischen Erfahrung – also »die Züge des Düsteren oder Heiteren, des Erregenden oder Sänftigenden, des Beruhigenden oder Furchteinflößenden« (ECW Bd. 13, S. 81) – besitzen, wie Cassirer betont, noch keine Stabilität. Vielmehr herrscht hier die ständige Möglichkeit der »Metamorphose«, »als ob das ›Gesicht‹ der Welt noch in einem rastlosen Wechsel begriffen sei« (ECW, Bd. 13, S. 119). Es ist diese ständige Möglichkeit des jähen und unvermittelten Umschlags, die den Menschen das plötzliche Erscheinen des Ungewöhnlichen als ein schreckliches und faszinierendes Ereignis zur ständigen, wenn auch verdeckten Gegenwart ihres Lebens macht. Die mythische Metamorphose definiert die Situation des mythischen Bewusstseins, die conditio humana am Anfang der Kulturentwicklung. Diese immanente Gliederung führt dann zu bestimmten äußeren Gliederungen der Welt wie der in Orte des Heiligen und Profanen, in Ursprungsund Abstammungsgeschichten, in die Verschmelzung von Selbstgefühl und Gemeinschaftsgefühl. Und schließlich lässt sich für Cassirer auch noch eine Identitätsgrammatik ausmachen, nach der es verschiedene Formen der Identität gibt: Da ist zum einen die Identität von Symbol und Symbolisiertem: Wo wir ein Verhältnis der bloßen, Repräsentation‹ sehen, da besteht für den Mythos […] ein Verhältnis realer Identität. Das ›Bild‹ stellt die ›Sache‹ nicht dar – es ist die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, so daß es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt« (ECW, Bd. 12, S. 47) Kurz: »[D]er Tänzer ist der Gott, wird zum Gott« (ECW Bd. 12, S. 48).
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Mit dieser Identität von »Bild« und »Sache« ist ein weiterer Aspekt des Identitätsdenkens verknüpft, die Identität von Grund und Begründetem, nämlich in der »bloße[n] Hingabe an den Eindruck selbst und seine jeweilige ›Präsenz‹« (ECW, Bd. 12, S. 43). In dieser Präsenz fehlt die Tiefendimension, die durch die Scheidung des ›Grundes‹ vom ›Begründeten‹ eröffnet wird. Und schließlich gehört zu diesem Identitätsdenken das »Ineinander« der Dinge: »Das Ganze und seine Teile sind ineinander verwoben, sind gleichsam schicksalsmäßig miteinander verknüpft – und sie bleiben es, auch wenn sie sich rein tatsächlich voneinander gelöst haben. […] Die gesamte ›Phänomenologie der Magie‹ geht […] auf diese eine Grundvoraussetzung zurück« (ECW, Bd. 12, S. 64). Fasst man diese Darstellung unter dem Aspekt der Schematisierung zusammen, dann zeigt sich letztlich die besondere Emotionalisierung aller Weltverhältnisse als die Quelle der mythischen Schematisierungen: Die Ereignisse und Dinge der Welt wie das Tun und Leiden der Menschen werden in einer Art mythischer Prägnanz erfasst: Durch die emotionale Steigerung der Weltwahrnehmung über die physiognomischen Ausdrucksmomente und die Erfassung des Weltgeschehens in dramatischen Szenen, der menschlichen Situation in der Welt gegenüber einer ständig möglichen Metamorphose, der Gegenwartsgewissheit des Heiligen und Göttlichen und des Bewusstseins, in ein umfassendes Welt-Ganzes jederzeit und unausweichlich eingeschlossen zu sein, – durch all dies werden auch alltägliche Sachverhalte über ihre dramatischen Elemente identifiziert. Diese bilden »hervorstehende Merkmale«, die alles Übrige verblassen lassen und so eine Prägnanz erzeugen, in der – wie die Gestaltpsychologie sagt – sozusagen »Figur und Hintergrund« sich voneinander abheben und nur noch die Figur, wie Henri Bergson sagt, »mit einem verworrenen Gefühl der hervorstechenden Eigenschaft«1 die Wahrnehmung erfüllt. In dieser Prägnanzbildung bilden sich dann die Schematisierungen aus, die etwas als dieses oder jenes von seinen wechselnden konkreten Erscheinungen in der Welt herauslösen und es als dieses oder jenes immer wieder erfassen lassen.
1
Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Mit einer Einleitung von Erik Oger. [Übersetzt von Julius Frankenberger.] Hamburg [Felix Meiner] 1991, S. 154: »Es scheint also demnach, daß wir mit der Wahrnehmung des Individuums noch mit dem begrifflichen Erfassen der Art anfangen, sondern mit einer dazwischen liegenden Erkenntnis, mit einem verworrenen Gefühl der hervorstechenden Eigenschaft oder der Ähnlichkeit: dieses Gefühl, gleichweit entfernt von der völlig begriffenen Allgemeinheit wie von der deutlich wahrgenommenen Individualität, erzeugt sie beide durch eine Dissoziation. Die gedankliche Analyse läutert es zum Allgemeinbegriff; das unterscheidende Gedächtnis verdichtet es zur Wahrnehmung des Individuellen.« Im französischen Original ist das verworrene Gefühl der »hervorstechenden Eigenschaft« »un sentiment confus de qualité marquante«. (Hervorhebung von Bergson)
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3.
Der »anonyme Geist« und die Universalisierung der Sprache (Maurice Merleau-Ponty)
Die Prozesse solcher Schematisierungen in allen Feldern unseres Wahrnehmens, Darstellens und Handelns führen, was die Sprache angeht, zu einer immer stärkeren Herauslösung des Redens aus dessen Einbindung in konkrete Situationen und damit in die konkret erfasste und im Umgang zu bewältigenden Weltverhältnisse. Das »Ich« des Sprechers trägt in sich selbst den »Keim der Entpersönlichung« der Sprache (Merleau-Ponty 1984, S. 42). Die Sprache verselbstständigt sich dann mehr und mehr zu einem in sich gegliederten Artikulationsfeld, in dem wir uns sprechend bewegen. Sie wird, wie Merleau-Ponty es sagt, zur »universellen Sprache«, inmitten derer ihr »anonymer Geist« »eine neue Ausdrucksweise erfindet« (ebd. S. 58). Diese Verselbstständigung zu einem in sich geordneten und in gewisser Weise sich selbst ordnenden Artikulationsfeld bedeutet nicht, dass sich die Sprache zu einem eigenständigen System entwickelt. Denn natürlich muss die Sprache – sei es sprechend, sei es schreibend – benutzt werden. Jede sprachliche Äußerung ist ein eigenes Geschehen, das sich zwar in dem vorgegebenen sprachlichen Feld ausbildet und damit einer bestimmten allgemeinen Sprache zugehört, gleichwohl aber immer auch ein individuelles Artikulationsprodukt ist. Als solches kann es eine neue oder mehr oder weniger unerwartete Äußerung sein oder aber auch die Wiederholung einer üblichen Wendung. In jedem Falle aber existiert eine Sprache nur in ihrem Gebrauch, in dem ständig an ihren verschiedenen phonetischen, orthographischen, semantischen und syntaktischen Strukturen gearbeitet wird. Es ist daher ein Irrtum, wenn man die Sprache als ein festes Beziehungsgefüge darstellt, dessen Regeln in seinem – mündlichen oder schriftlichen – Gebrauch lediglich instanziiert bzw. verwirklicht werden. Die Gebrauchswörterbücher und -grammatiken wie für das Deutsche der Duden zeigen eindrucksvoll die Wandlungen der Sprache – und dies für jede ihrer Dimensionen: von der phonetischen bis hin zur syntaktischen Dimension. Die schlichte Tatsache, dass die Duden-Grammatik immerhin in der 8. Auflage (2009), der Duden für die Rechtschreibung aber bereits in der 25. Auflage (2009) vorliegt, zeigt bereits in aller Deutlichkeit, dass die Sprachwissenschaftler der Entwicklung der Sprache in ihrem Gebrauch hinterherlaufen.
Gedanken, Sätze, Sachverhalte – zum Zusammenhang von Denken, Sprechen, Weltbezug
4.
Was ist Denken?
4.1
Die Verschränkung von Denken und Reden
Wie können wir mit einem solchen Sprachverständnis den Bezug zwischen Denken und Sprechen, zwischen Gedanken und Sätzen verstehen? Zunächst dies: Wenn wir auch unsere Gedanken gewöhnlich in Sätzen artikulieren, so gehören Gedanken und Sätze doch verschiedenen Dimensionen unseres geistigen Lebens an. Während wir es bei den Sätzen mit einigermaßen klar identifizierbaren Gegenständen zu tun haben – wenn auch die Sprache insgesamt, wie wir gesehen haben, nicht in dieser einfachen Weise auf Sätze reduzierbar ist –, ist dies bei den Gedanken nicht der Fall. Versuchen wir gleichwohl eine Charakterisierung des Denkens. Nehmen wir ein literarisches Beispiel. Wir hören jemandem zu – es handelt sich wieder um Maurice Merleau-Ponty –, der uns erklärt: »Wenn etwas gesagt werden soll, so darf es nie ganz gesagt sein« (Merleau-Ponty 1984, S. 58). Das widerspricht nicht nur unserem alltäglichen Verständnis vom üblichen Sinn und Zweck des Redens, sondern auch der üblichen und von der Philosophie immer wieder geforderten Klarheit und Verständlichkeit, um die wir uns bei unserem Reden bemühen sollten. Tatsächlich haben wir aber zu bedenken, dass unser Reden – wie auch unser Schreiben – das Ergebnis eines Artikulationsprozesses ist, der nicht als bloße Wiedergabe eines Wahrnehmungs- oder Denkvorgangs verstanden werden kann. In ihm verschränken sich vielmehr verschiedene und verschiedenartige Dynamiken, die nur in dieser ihrer Verschränkung unser Denken und Reden sich entwickeln lassen.
4.2
Die immanente Idiomatik der Sprache
Da ist zunächst die Eigendynamik der Sprache, in der wir reden. Wir müssen im Allgemeinen nicht nach jedem Wort – und das auch noch in seiner grammatisch korrekten Form – suchen, wenn wir reden. Selbst im stockenden und immer wieder nach dem passenden Ausdruck suchenden Reden »fließt« unsere Rede – wenn auch nicht gleichmäßig und ungehindert. Wir folgen in unserem Reden einer immanenten Idiomatik der Sprache, in der sich Wortfügungen gleichsam »abrufen« lassen und unser Reden als eine Verkettung dieser Wortfügungen sich voranbewegen lassen. An den Grenzen dieser Wortfügungen müssen eigene Impulse diese Bewegung ausrichten: ihr eine neue Wendung geben oder sie noch einmal in ihrer Richtung, wenn vielleicht auch mit anderen Wortfügungen, wiederholen, sie
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an bereits Gesagtes anschließen oder mit überhaupt noch nicht Gesagtem in ein anderes idiomatisches Feld verlagern.2
4.3
Die idiomatische Entwicklungsdynamik des Sprechens und Interventionen des Denkens
Damit ist nicht gemeint, dass die in unserem Reden wirksam werdenden Wortfügungen wie Fertigteile eines Baukastens benutzt und miteinander kombiniert werden. Vielmehr ist zu sehen, dass oft nur ein bestimmter Aspekt einer Wortfügung das voranbewegende Element in einer Rede ausmacht. So kann etwa die Rhythmik einer Wortfügung oder ihre charakteristische Lautung unsere Rede organisieren – und dies wiederum lediglich in der Kleinteiligkeit einer Wortfügung. Entscheidend ist, dass die Idiomatik der Sprache Entwicklungsdynamiken des Sprechens bietet, die über die Einheit von Wörtern hinausgehen und sich auch nicht in festgefügten Wendungen fixieren müssen. Es sind vielfältige Dynamiken, die sich in der Idiomatik einer Sprache verbinden und dem Verlauf unseres Redens immer wieder Impulse geben. Und wir haben eine zweite Dimension der Sprache, die ihre eigene immanente Dynamik entfaltet – allerdings nicht im gerichteten Fortschritt der Idiomatik, sondern in einer Vielfalt sich ausdehnender Verweisungsimpulse wie z.B. über klangliche Assonanzen und inhaltliche Assoziationen. Es sind dies Querverweise gegen die bloße Linearität der idiomatischen Wortfügungen, die Kontexte öffnen und dadurch neue Verbindungen schaffen und neue Konfigurationen entstehen lassen. Verstehen wir Sinn als ein Verweisungsgeschehen und -gefüge, dann können wir diese Dynamik als eine Öffnung von Sinnräumen sehen, die den idiomatischen Dynamiken Weiterentwicklungen in verschiedene Richtungen in verschiedenen Dimensionen ermöglichen: Weiterentwicklungen nicht mehr in einer Folge sozusagen linearer Idiom-Entwicklungen, sondern als Ausweitungen von Impulsen in verschiedene Richtungen und Dimensionen. Die Geschlossenheit der Idiome wird dadurch mehr oder weniger aufgehoben oder auch aufgebrochen. Das Denken zeigt sich in dieser Perspektive nicht mehr als eine sich aus sich selbst heraus gliedernde kontinuierliche Entwicklung, sondern viel eher als eine Folge von Interventionen in dem idiomatisch voranbewegten Verlauf unseres Redens. Dem entspricht auch unsere Erfahrung – jedenfalls dann, wenn es um sprachliches Denken bzw. um das Verhältnis von Sprechen und Denken geht. Die Erfahrung der eigenartigen Unartikuliertheit unseres Denkens, welche Denken als Prozess so schwer fassbar macht, lässt sich in dieser Perspektive besser verstehen: Wenn wir etwa am Anfang oder Neuanfang eines Textes, den wir schreiben wollen, 2
Vgl. dazu ausführlicher: Oswald Schwemmer, Sinn als Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens, München [Wilhelm Fink Verlag] 2010, Drittes Kapitel: Was ist sprachliches Denken?
Gedanken, Sätze, Sachverhalte – zum Zusammenhang von Denken, Sprechen, Weltbezug
stehen und wir lediglich einem »Sinndruck«, wie Arnold Gehlen im Anschluss an Julius Stenzel (1934) sagt, verspüren.
5.
Die »Intention auf die Sache« (Arnold Gehlen)
Ähnlich wie mit Bezug auf den idiomatischen Charakter der Sprache und damit auf die Rolle der Wortfügungen schreibt Gehlen: »Der Gedanke ist die im Wort verlaufende Intention auf die Sache, aber indem der Wortgedanke an der Sache Widerstand findet, fällt er auf sich selbst zurück (Reflexion) und erfaßt, daß das verklingende Wort ihn nicht ausschöpft; so schlägt er zurück, um sich in einem anderen Wort wiederzuerzeugen. Allein in der Reflexion setzt sich der Gedanke als unerschöpft vom Worte ab und ist bloßer ›Sinndruck‹, bis er sich wieder im Worte faßt« (Gehlen 1986, S. 248). Was Gehlen über die bisher versuchte Beschreibung hinzufügt, ist der Widerstand der Sache, den der »Wortgedanke« findet. Mit Blick auf Arnold Gehlens Formulierung lässt sich das Verhältnis zwischen Gedanke zu Wort bzw., prozessual ausgedrückt, von Denken und Sprechen, darstellen als Verhältnis zwischen den Richtungsimpulsen des dabei autonomen Denkens und den dynamischen Anreizen der idiomatischen Sprache. Die »Intention auf die Sache« ist dann eine Gerichtetheit des Denkens auf die »Sache«, d. i. das Thema, Problem oder die Aufgabe des Denkens. Der »Widerstand«, den das Denken dabei findet, ergibt sich zwangsläufig aus der strukturellen Differenz zwischen Sprache und Gedanke: Die idiomatische Organisation der Sprache ist zwar einerseits die Bedeutung dafür, dass das Denken überhaupt eine Richtung findet, erschwert dem Denken zugleich aber auch seine Eigenentwicklung. Denn Denken – auch wenn es im wörtlichen Sinne lediglich Nach-Denken ist – kann sich nur als Selbst-Denken realisieren. Eben dies heißt es ja zu denken: sich selbst mit etwas auseinandersetzen, was als geistiger Sachverhalt erfasst worden ist – sei es als Unterstelltes oder Fragwürdiges, als Gebotenes oder Behauptetes, als Angedeutetes oder Dargestelltes oder als sonst in irgendeiner Weise geistig präsent Gewordenes. Bloßes Nachreden ist ebenso wenig mit dem Denken verbunden wie das bloße Daherreden. Da aber dieses Selbst-Denken der Sprache bedarf, um sich überhaupt zu artikulieren, also auf ein nicht Eigenes, auf ein Anderes zurückgreifen muss – nämlich auf die Wortfügungen, die schon da sind und ihre eigene innere Gliederung besitzen –, kann es seine Eigenständigkeit nur bewahren oder gewinnen, wenn es sich mit der Widerständigkeit dieses Anderen auseinandersetzt: im Kampf mit den Wörtern, deren es sich nur in bleibender Differenz bedient. In diesem »Rückfall auf sich selbst«, den Gehlen als »Reflexion« vorstellt, wendet sich das Denken auf seine eigene innere Intentionalität zurück und kann sich
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daher auch nur in einem nicht schon in Worte gefassten »Sinndruck« erfahren, der dann aber in Worten zu artikulieren ist.
6.
Die Darstellung der Wirklichkeit im Denken
Diese kleine Geschichte eines Gedankens oder auch nur Gedankensplitters sollte die Unterschiedlichkeit und gleichzeitige Verwobenheit des Denkens und Sprechens deutlich machen. Darüber hinaus lässt sich diese Geschichte aber auch als ein Hinweis auf strukturelle Unvollständigkeit sowohl des Denkens als auch des Sprechens lesen. Beide – Denken wie Sprechen – sind ergänzungsbedürftig, wenn sie unsere Welt- und Selbstverhältnisse erfassen sollen. Wer glaubt, etwas »ganz aussagen« zu können – und damit sind wir wieder bei Merleau-Ponty –, nimmt das zu Ergänzende für das Ganze. Das Ganze des Denkens und Sprechens ist seinerseits aber wiederum nur ein Teil unseres Welt- und Selbstverhältnisses. Es ist unsere Reaktion auf das, was auf uns einwirkt und in uns vorgeht: auf den gefühlten Zustand unserer Umgebung und unseres Körpers und auf all das, was wir fühlen, wahrnehmen, denken und zum Ausdruck bringen wollen. Wir konzentrieren uns dabei auf einen kleinen Ausschnitt all dessen, was unsere »Wirklichkeit« ausmacht, und nehmen diesen Ausschnitt als Gegenstände oder Sachverhalte oder als Gedanken, Behauptungen oder sonst einen geistigen Tatbestand wahr. Unser Welt- und Selbstverhältnis ist damit als ein durch unser Denken geformtes Verhältnis charakterisiert. Dabei ist unser Denken in einem weiten Sinne zu verstehen, in dem es unsere ganze mentale Verfassung vom Fühlen und Wahrnehmen bis zum Wollen, Erwägen und Erdulden einschließt. Unser denkender Wirklichkeitsbezug, so können wir zusammenfassen, schließt eine fokussierende Auswahl und eine denkende Selbststrukturierung ein. Die sprachliche Darstellung unserer Wirklichkeit wäre daher als Bezeichnung von Gegenständen oder Vergegenwärtigung von Sachverhalten nur unzureichend erfasst. Wenn wir sie als designative oder repräsentative Bedeutungstheorie verstehen, unterschlagen wir den Auswahl- und Strukturierungscharakter und unterstellen der Sprache eine sozusagen natürliche Bezeichnungs- und Vergegenwärtigungsfunktion.
7.
Desinatives und repräsentatives versus kontingentes Sprachverständnis
Interessant ist hier Ludwig Wittgensteins Versuch, im Tractatus eine solche Sprache zu konstruieren. Diese designativ und repräsentativ eindeutige und klare Spra-
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che sollte unmittelbar zeigen, was sie sagt. Dies gelingt aber nicht über das Erschließen von Bedeutungen, sondern nur in einem System binärer Disjunktionen, das – gleich ob wir von wahr/falsch oder 1/0 reden – nicht mehr zu unserem Reden gehört. Im Grunde haben wir es mit einer Digitalisierung »avant la lettre« zu tun, die nur noch zeigt und nicht redet. Was eine solche »Sprache« zeigt, ist nicht aussprechbar. Wir können in dieser »Sprache« in der Tat nur zeigen und schweigen, weil wir in ihr nicht reden können. Dem designativen und repräsentativen Sprachverständnis möchte ich ein kontingentes Sprachverständnis entgegenhalten. Das Kontingente ist von seiner Wortbedeutung her zunächst einmal, was zusammen da ist, was sich in diesem Zusammendasein berührt, aber so, wie es zusammen da ist und sich berührt, nicht zusammen da sein und sich berühren muss. Und so erfahren wir viele der sprachlichen Vorfälle. Es entsteht eine Situation und wir reagieren – in höchst unterschiedlichen Weisen – darauf. Ein solches kontingentes Sprachverständnis sieht die Sprache zunächst einmal als ein Ensemble sprachlicher Vorfälle, die sich mit anderen Vorfällen anderer Art verschränken. Ähnlich wie bei den geschilderten idiomatischen Wortwendungen und gedanklichen Interventionen finden wir uns auch hier wieder in vielfach »idiomatisierten« bzw. eingebürgerten Situationen vor, in denen wir mit unserem Reden auf diese Situationen, also auf unsere Wirklichkeit, reagieren. Da mag eine Familie zum Abendessen am Tisch sitzen. Die Kinder ereilt die allabendliche Aufforderung: »Hände auf den Tisch!« Die zögernd hervorgehobenen Hände zeigen sich wie üblich in einem höchst suboptimalen Zustand. Worauf der zweite Befehl herausgefordert und erwartet wird: »Erst Hände waschen!« Hier geht es an keiner Stelle um ein Bezeichnen. Die Eltern, die Kinder um den Tisch auf ihren Stühlen, Teller und Besteck vor sich, von den Düften des gekochten Essens in Erwartungshaltung versetzt – all dies ist zusammen da – darunter auch die beiden Aufforderungen. Alle Elemente der Situation bilden ein in sich verständliches Ganzes und beziehen die sprachlichen Äußerungen in die Gesamtverständlichkeit ein. Sie, die sprachlichen Äußerungen, gehören – jedenfalls heute, wo die Kinder draußen spielen waren – dazu: sie gehören auf kontingente Weise dazu. Die wechselseitige kontingente Zugehörigkeit zu dieser Situation schafft die Verständlichkeit für die dazu gehörenden Teilnehmer. In den Aufforderungen werden keine Gegenstände bezeichnet, wohl aber erwähnt. Und erwähnt werden sie überhaupt, weil die Situation so ist, wie sie ist. Im Grunde könnten die Szenen in diesem Falle, wo sie sich auf bereits Vorgekommenes und Eingeübtes beziehen, auch sprachfrei ablaufen: Wieder dieser Blick, dieses Essen, die ungewaschenen Hände – das Zusammenkommen der situativen Gegebenheiten und der körperlichen Reaktionen könnten hier einen sprachfreien Ablauf in Gang setzen, der aus der kontingenten Verschränkung aller Elemente seine Verständlichkeit gewönne.
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8.
Sprachliche Bedeutung als koloristische Akzentuierung
Diese vorfallsbezogene Sicht auf die Sprache und die damit verbundene Theorie einer kontingenten Bedeutung schließen das Bezeichnen und Vergegenwärtigen nicht aus. Aber im Unterschied zum designativen und repräsentativen Bedeutungsverständnis wird durch das Bezeichnen und Vergegenwärtigen in der Sicht der kontingenten Bedeutungstheorie ein Gegenstand oder ein Sachverhalt nicht identifiziert, sondern lediglich in seiner besonderen Mit-Anwesenheit oder Vergegenwärtigung akzentuiert. Dieser Unterschied ist entscheidend. Denn mit ihm ist in der Tat eine Umkehrung dessen verbunden, was Sprache leistet. Während sie designativ und repräsentativ konstitutiv ist für unser Weltverständnis und Gegenstandsbewusstsein, bringt sie, als kontingent verstanden, lediglich einige – und durchaus wechselnde – Aspekte zum Ausdruck, die unsere bereits vorhandene Welterfassung akzentuieren. Man könnte dies auch koloristisch nennen: Sie färbt uns die Welt, in der wir leben, in ihrer, also der sprachlichen, Weise, ein.
8.1
Zwischenbemerkung: Das Tractatus-Bild der Sprache (Ludwig Wittgenstein)
Es zeigt sich, dass dieses Verhältnis zwischen Sprechen, Denken und Weltbezug nicht durch die geradlinige Zuordnung erfasst werden kann, die in Wittgensteins Tractatus vorgenommen wird. Dieses Tractatus-Bild der Sprache sei hier kurz – durch Zitate aus meinem angegebenen Aufsatz – vorgestellt: Statt von inneren geistigen Gehalten oder Vorstellungen will Wittgenstein nur von äußeren Verhältnissen reden und eine sprachliche Darstellung dieser äußeren Verhältnisse entwerfen, die Deutungen weder benötigt noch zulässt. Um dieses Ziel zu erreichen, beschränkt sich Wittgenstein in seiner »zeigenden« Sprache zunächst auf zwei Elemente: auf Namen und Zeichenkonstellationen für Beziehungen zwischen den Namen. Die Namen beziehen sich auf Gegenstände, und Zeichenkonstellationen stehen für Beziehungen zwischen diesen Gegenständen. Das Besondere an dieser minimalistischen Sprachkonstruktion ist, dass die Gegenstände ohne Eigenschaften gedacht werden. Der Gegenstand ohne Eigenschaften wird lediglich als ein identifizierbares Etwas behandelt, das zu anderen Gegenständen, die in gleicher Weise unbestimmt, aber identifizierbar bleiben, in äußeren Beziehungen steht. Als Beispiel kann man sich eine solche Beziehung als eine räumliche vorstellen, als ein Nebeneinander, Hintereinander usw., die jeweils eine Lage im Raum angibt, das aber über die Gegenstände, die zueinander diese Lagen einnehmen, keine weiteren Angaben macht. Ob es sich um Menschen, Steine, Pflanzen oder Tiere handelt: All dies bleibt unbestimmt. Statt innerer Eigenschaften werden nur äußere Beziehungen angegeben.
Gedanken, Sätze, Sachverhalte – zum Zusammenhang von Denken, Sprechen, Weltbezug
Charakterisiert werden kann ein Gegenstand in einer solchen Sprache der äußeren Beziehungen dadurch, dass man die möglichen Beziehungen angibt, in die dieser Gegenstand zu anderen Gegenständen treten kann. Er ist dann z.B. ein räumlicher Gegenstand, wenn er in alle möglichen räumlichen Beziehungen zu anderen Gegenständen eintreten kann. Die äußeren Beziehungen, in die Gegenstände zueinander treten können, nennt Wittgenstein Sachverhalte oder auch Sachlagen: »Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen. (Sachen, Dingen)« (Wittgenstein 1966, 2.01) Wittgenstein kann dann auch sagen, dass die Gegenstände oder auch Dinge dadurch charakterisiert werden können, dass sie »Bestandteil eines Sachverhaltes sein können« (ebd. 2.011).
9.
Verschränkung von Weltbezügen in unserem Denken und Sprechen
Statt einer solchen Zuordnung gilt es, die prozessualen Verschränkungen zu sehen, die zwischen unserem Denken, Reden und unseren Weltbezügen bestehen. Sieht man die Prozessualität dieser Verschränkungen, dann müssen auch die dabei sich herauskristallisierenden Bezüge zwischen Denken und Sprechen, zwischen Denken und Wirklichkeit und zwischen sprachlichen Darstellungen und Wirklichkeit als Geschehnisse betrachtet werden – so wie William James es auf den Punkt gebracht hat: »This thesis is what I have to defend. The truth of an idea is not a stagnant property inherent in it. Truth happens to an idea. It becomes true, is made true by event. Its verity is in fact an event, a process: the process namely of its verifying itself, its veri-fication. Its validity is the process of valid-ation« (James 1978, S. 97). Eine solche prozesstheoretische Sicht steht vor der Frage, wie das Verhältnis zwischen Wirk- und Sinnfeldern zu begreifen ist. Inmitten der Ereignisse, die unsere Welt, zu der auch wir selbst als ein Teil gehören, ausmachen, sind wir stets dabei, uns gegenüber dieser Welt zu positionieren. Oder anders gesagt: Unser Bild von der Welt entsteht inmitten in dieser Welt. Diese Welt ist das Insgesamt aller Wirkverhältnisse, von denen wir ein Teil sind, in die wir eingebunden und denen wir ausgesetzt sind – und denen wir uns gleichwohl als Objekt unseres Wahrnehmens und Denkens und dadurch vermittelt auch unseres Handelns gegenüberzustellen versuchen. In der philosophischen Tradition ist vornehmlich und vielfach ausschließlich dieser Objektivierungsprozess bedacht worden. Tatsächlich zerschneidet eine solche Beschränkung auf den Objektivierungsprozess den Zusammenhang, in dem überhaupt diese Objektivierung sich ereignen kann. Diese Objektivierung, belassen wir sie in ihrer Verknüpfung mit den Wirkverhältnissen der Welt, ist nicht als eine Darstellung von einer unabhängigen Warte
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aus zu verstehen, sondern als eine Reaktion auf diese Wirkverhältnisse und in ihnen: • •
auf sie, weil sie etwas Eigenes ist, eine Antwort, die sich in ihrer eigenen – z.B. sprachlichen – Gliederung ausformt; in ihnen, weil sie in ihrer Entwicklung diese Wirkverhältnisse sich gleichsam, wie Pierre Bourdieu sagen könnte, »einverleibt« und aus dieser »Einverleibung« heraus ihre eigene Gliederung gewinnt.
Man kann dies durch einen Blick auf unsere Wahrnehmungen verdeutlichen. Wenn wir etwas sehen, ist unser Blick ein Geschehen zwischen optischen Reizen und deren Formierung. Fehlen diese Reize, sehen wir nichts – wenn wir nicht gerade irgendwelchen Halluzinationen unterliegen – oder etwas anderes, das sich auf andere Reize bezieht. Denn optische Reize sind immer da, auch im Dunkel der Nacht. Ergibt sich keine Formierung des Sehens, sehen wir auch nichts und auch nichts anderes. Eine extreme Grenzsituation ergibt sich, wenn man keine Differenzierung mehr erkennen kann: in einer absolut gleichmäßigen Verteilung feinster Schneepartikel, wie sie etwa auf der Antarktis auftreten kann und den Seheindruck absoluter Dunkelheit bzw. Blindheit – und nicht der Dunkelheit einer Nacht, die ja in sich differenziert bleibt – hervorrufen kann. Bleiben wir bei den Normalfällen, so können wir unsere Wahrnehmungen als Transformationen der auf uns einwirkenden Reize charakterisieren, die durch eben die transformierten Reize in Gang gebracht werden, aber sie nicht darstellen oder gar abbilden. Und ein ähnliches Verhältnis können wir zwischen den Wahrnehmungen und unserem Sprechen und Denken annehmen. Auch hier wird im Sprechen und Denken nichts abgebildet oder dargestellt, sondern es wird in einer sprachlichen und gedanklichen Artikulation etwas zum Ausdruck gebracht. Wie sich dabei die idiomatische sprachliche und die intervenierende gedankliche Artikulation zueinander verhalten, ist in einigen wenigen Bemerkungen oben bereits skizziert worden. Wollen wir aber nicht nur die elementaren Anfänge dieses Verhältnisses, sondern auch dessen weitere Entwicklung, nämlich die gesellschaftliche Sedimentierung zu einer allgemeinen Kultur der gedanklichen und sprachlichen Artikulationsmuster charakterisieren, dann müssen wir die Eigenentwicklung dieser Artikulationsmuster und deren Prägung unseres Weltbezugs ins Auge fassen.
10.
Verselbstständigung − Formen unseres Sprechens
Was dabei zu sehen ist, sind die verschiedenen Formen der Verselbstständigung, die unsere Artikulationsprozesse durchlaufen können. Am deutlichsten wird dies
Gedanken, Sätze, Sachverhalte – zum Zusammenhang von Denken, Sprechen, Weltbezug
in unserem Sprechen. Einmal in der gemeinsamen Welt des Umgangs miteinander entwickelt, gewinnt unser Sprechen mehr und mehr eigendynamische Aspekte, die sich von den rhythmischen und klanglichen Elementen der Lautung bis zu den Verknüpfungsmustern einer gefügten Satzkonstruktion sozusagen von selbst ergeben. Rhythmen, Klänge und Übergänge tragen sich in einem gewissen Sinne selbst, nämlich in dem Sinne, dass sie sich nicht einer vorausgehenden Intention verdanken, sondern im Vollzug ereignen und zu wiederholender Befestigung führen. Eben dies können wir als den Prozess der oben dargestellten Idiomatisierung beschreiben. Auf der anderen Seite sind unsere Reden, anders als unsere Wahrnehmungen – und anders auch als unsere Gefühle – unsere Erzeugnisse, die wir im Prinzip, wenn wir nur überhaupt wach sind, jederzeit und wo wir nur gehen und stehen, hervorbringen und – im Prinzip sogar völlig willkürlich – formen und verformen können. Reden können wir – wiederum im Prinzip – immer und überall und dies auch dann, wenn wir noch etwas anderes tun, wozu wir unsere Stimme nicht benötigen. Diese leichte Verfügbarkeit und dadurch mögliche Beherrschbarkeit des Redens lädt uns, wie die Geschichte zeigt, zu den strengsten Regulierungen ebenso wie zu den abseitigsten Eigenwilligkeiten ein. Und eben diese innere Tendenz zur Vielfalt sprachlicher Wendungen scheint unser Reden von unserem Weltbezug – bis auf die äußeren Bedingungen unseres Redens überhaupt – unabhängig zu machen. Nimmt man beide Aspekte der Rede – ihre immanente Gliederung und ihre Verfügbarkeit – zusammen, ergibt sich in der Tat eine besondere Form der Selbstständigkeit, die anderen Formen der Artikulation nicht zukommt: Wir verfügen über unser Reden, indem wir uns von den Idiomatisierungen und ihren Variationen, die sich in deren Vollzug ergeben, gleichsam treiben lassen und zugleich dadurch eine Mühelosigkeit des Weiter- und manchmal auch Daherredens erreichen, die unseren Verfügungsspielraum für das Reden ausweiten. Und eben diese Mühelosigkeit und Formbarkeit unseres Redens und die Sedimentierung dieses Redens in einer gemeinsamen Sprache bieten die Gelegenheit zu allen Arten von einfallsreichen Darstellungen, neuen Perspektiven und abseitigen Verstiegenheiten. Chancen auf Gewinne und Gefahren von Verlusten liegen in nächster sprachlicher Nähe zueinander. Daher stellt sich die Frage, ob es nicht doch so etwas wie Kriterien gibt, an die zu halten es sich lohnt, wenn man denn Sinn, tragenden Sinn, in die Seins-Verhältnisse bringen will.
11.
Sinn und Verweisung
Was aber ist Sinn, und wann ist etwas sinnvoll? Eine erste Antwort bringt Sinnund Verweisungsverhältnisse zusammen – und dies schon in unseren Wahrneh-
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Oswald Schwemmer
mungen: Wir sehen eine Linie, eine steil abfallende oder aufsteigende Linie. Aber wir sehen nicht nur diese Linie. Wir sehen sie als die Kante eines Felsen, im Faltenwurf eines Kleides, im Sturzflug einer Seeschwalbe und wo überall steil Stürzendes oder Steigendes sich zeigt. Dieses »Liniensehen« schafft Verweisungen, optische Verwandtschaftsverhältnisse, die ein Wiedererkennen ermöglichen, ein Beziehen aufeinander, einen Gewinn an Vertrautheit mit der gesehenen Welt. Und dies bringt Sinn in die Welt hinein. Wir können uns orientieren, weil wir das, was wir sehen, auf etwas beziehen können, was wir gesehen haben. Allgemein formuliert und nicht mehr bloß auf das »Liniensehen« beschränkt, können wir sagen, dass es Formverhältnisse sind, Konfigurationen, die wir wahrnehmen und die uns die Welt erkennbar und wiedererkennbar machen und die sie auf diese Weise mit Sinn erfüllen. Sinn kommt durch Form in die Welt. Aber die orientierende Vertrautheit mit der Welt, die dieser Sinn durch Formverweisung uns gewährt, gibt uns zwar Auskunft, wo wir sind, aber nicht auch darüber, wohin wir gehen und woher wir gekommen sind. Dieser Sinn ist Sinn in reiner Präsenz, Präsentationssinn, der Antwort gibt auf die Frage nach dem Was, nicht aber nach dem Warum oder Wozu. Mit diesen Fragen aber beginnt das Denken, das über die Wahrnehmung hinausgeht.
11.1
Denken in Wirk- und Sinnverhältnissen als »Hinführen« (William James)
Denken – so können wir in der räumlichen Metaphorik sagen – will »weiterkommen«. Wo die Wahrnehmung uns das Gegenwärtige – wenn auch in seinem Verlaufscharakter, seiner Verbindung mit dem unmittelbar Vergangenen und unmittelbar Erwarteten3 – erschließt, will Denken über das Gegenwärtige hinaus Verbindungen und Übergänge zum Nicht-Gegenwärtigen entdecken, Verbindungen und Übergänge der unterschiedlichsten Art: zum Vergangenen und Zukünftigen, aber darüber hinaus auch überhaupt zum Anderen und sei dies auch nur ein gedachtes Anderes. Eine nähere Charakterisierung des so verstandenen Denkens verlangt eine normative Entscheidung. Sie gründet in der philosophischen Tradition des europäischen Denkens. Diese sieht Denken – seit und mit Platon – als λόγον διδόναι, als Angeben des rechten Verhältnisses, in dem etwas zu etwas anderen stehen soll.4 Dieses »rechte Verhältnis« ist durchaus unterschiedlich verstanden worden. Im Allgemeinen galt und gilt aber, dass mit der Angabe des rechten Verhältnisses ein gedanklicher Zusammenhang entwickelt werden soll, der einsichtig ist. Und einsichtig werden gedankliche Zusammenhänge, wenn man sie als einen gedankli3 4
Es versteht sich von selbst, dass hier an Husserls Analysen des Zeitbewusstseins und dessen Gliederung in Urimpressionen, Retentionen und Protentionen erinnert werden soll. Vgl. dazu: Oswald Schwemmer (2003, S. 37-71).
Gedanken, Sätze, Sachverhalte – zum Zusammenhang von Denken, Sprechen, Weltbezug
chen Weg vorstellen kann: auf dem man Schritt für Schritt zum Ziel geführt wird. Als solche Wege und Schrittfolgen können Erzählungen als begriffliche Ableitungen, können bildliche Konfigurationen zum Aufbau von Ordnungen usw. genutzt werden. Entscheidend ist, dass sie alle zu etwas hinführen. William James sieht in einem solchen »Hinführen« das Wesen der Erkenntnis. So schreibt er im Zusammenhang mit der Frage, ob es ein Bewusstsein gibt: »I could perfectly well define, without the notion of ›consciousness‹, what the knowing actually and practically amounts to – leading-towards, namely, and terminating-in percepts, through a series of transitional experiences which the world supplies« (James 1976, S. 14). Und in einem anderen Zusammenhang schreibt James: »In such a world transitions and arrivals (or terminations) are the only events that happen, though they happen by so many sorts of path. The only experience that one experience can perform is to lead into another experience; and the only fulfilment we can speak of is the reaching of a certain experienced end« (James 1976, S. 32). Ohne hier die empiristische Konzeption im Ganzen zu diskutieren, geht es mir hier um den Grundgedanken des »Hinführens« in einer »Welt der Übergänge und Ankünfte« (transitions and arrivals) und der »Übergangserfahrungen« (transitional experiences). Solche »Übergänge und Ankünfte« sind dabei die vielfach bereits verfügbaren Entwicklungsschritte, die das »Hinführen« ermöglichen. Solche Entwicklungsschritte waren bei der Darstellung des Verhältnisses von Sprechen und Denken bereits angeführt worden: nämlich die idiomatischen Wendungen, die unser Sprechen voranbringen und deren Kleinteiligkeit gleichwohl die Intervention des Denkens einfordern, um das – denkende – Sprechen weiter voranzubringen. Mit William James können wir nun solche Entwicklungsschritte ausweiten und in unserem Wahrnehmen bzw. Erfahren und Handeln.
11.2
Situationen und Stimmigkeit (Wolfram Hogrebe)
Mit Wolfram Hogrebe können wir diese Entwicklungsschritte paradigmatisch als Episoden im Szenischen verstehen.5 Mit der Ausweitung paradigmatischer Entwicklungsschritte über die sprachliche Idiomatik hinaus auch auf die szenisch geprägten Episoden in unseren Erfahrungen und Handlungen gewinnt das Verhältnis von Sprechen, Denken und Weltbezug eine neue Dimension hinzu. Dies wirkt sich vor allem für unser Denken aus, das ja bisher noch ohne eigene Richtung und lediglich durch den »Sinndruck«, den Arnold Gehlen postuliert, charakterisiert ist. 5
Vgl. dazu: Wolfram Hogrebe (2009), insbes. S. 46-58, 70-76, 98-102.
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Dieser Mangel erklärt sich daraus, dass das Reden sich gegenüber unseren Weltbezügen und Wirkverhältnissen aus diesen Bezügen heraus bewegen und verselbstständigen kann. Es gibt sozusagen keine Kriterien, wenn man nicht über die Situierung des Redens in seine Weltbezüge diesem Reden bestimmte Auflagen des Angemessenen erteilt. Solche Auflagen treten aber in unser Sichtfeld, wenn wir uns den welteingebundenen Episoden und Szenen zuwenden. Situationen schaffen einen Rahmen des Stimmigen – des Passenden oder Angemessenen – für unser Handeln und Reden. Und selbst unsere Wahrnehmungen fügen sich in den Situationsrahmen ein, wenn sie auch nicht in gleicher Weise wie unser Handeln und Reden durch ihn geprägt sind. In diesem Rahmen bilden sich bestimmte Formen von Episoden, Idiomen und – wie man mit Wolfram Hogrebe noch hinzufügen kann – Attitüden aus. Das »rechte Verhältnis« ergibt sich – wenn auch durchaus unterschiedlich in der jeweiligen Partizipantenperspektive – aus der Stimmigkeit der Elemente einer Situation, in einer Episode und Attitüde.
11.3
Stimmigkeit und Stil (Ernst Cassirer)
Diese Stimmigkeit zeigt sich darin, dass etwas in eine Situation hinein oder mit etwas anderem in dieser Situation zusammenpasst. Stimmigkeit in diesem Sinne ist keine inhaltliche Kategorie, sondern eine stilistische. Es geht mit ihr um die Form des Auftretens, Sprechens, sich Präsentierens, miteinander Umgehens usw. Mit Ernst Cassirer kann man kulturelle Sachverhalte durch ihren Stil charakterisieren. So erklärt Ernst Cassirer lapidar: »Kultur-Wissenschaft ist Stil-Wissenschaft« (ECN Bd. 5, S. 142). Und weiter: »Und die gesamte Kulturwissenschaft besteht zuletzt in der Gewinnung solcher Stilbegriffe, durch deren fortschreitende Anwendung wir ein individuelles Gebilde bestimmen« (ECN Bd. 5, S. 168). Ernst Cassirers Resümee: »Die Begriffe, die wir brauchen, sind immer Stilbegriffe« (ECN Bd. 3, S. 236). Als Stil ist Stimmigkeit – sei es des Denkens, Sprechens oder der Situationsentwicklung – ein dynamisches Korrespondenzverhältnis der verschiedenen gedanklichen, sprachlichen und weltbezogenen Elemente, die in eine Situation eingehen. Dieses Korrespondenzverhältnis lässt sich durch Wechselverhältnisse charakterisieren, die wir in unserer Welt finden: paradigmatisch z.B. als Spiegelung oder Resonanz, als Variation und Rückbezug. Eine so verstandene Stimmigkeit fügt sich keinen im Voraus festgelegten Regeln – sie verhält sich höchstens zu diesen. Wir verbleiben mit ihr in der Konkretion des Individuellen, des tatsächlichen Geschehens. Ein Denken, das sich auf die konkrete Tatsächlichkeit des Geschehens einlässt, ist nicht im Voraus schon als »richtig« abgesichert. In seiner »riskanten Lebensnähe« – um noch einmal Wolf-
Gedanken, Sätze, Sachverhalte – zum Zusammenhang von Denken, Sprechen, Weltbezug
ram Hogrebe aufzugreifen – geschieht ihm das Geschehen, auf das es sich einlässt, ebenso wie es dieses Geschehen zu etwas »hinführen« kann. Mit der stimmigen Situationsentwicklung ergibt sich zwischen unserem Denken, Sprechen und Welt- bzw. Situationsbezug eine Richtung. Das Denken folgt nicht mehr bloß einem unbestimmten »Sinndruck«, der etwa darin bestehen könnte, überhaupt etwas zu artikulieren. Denken, das diesen Namen verdient, ist auf Stimmigkeit aus. Drei Anmerkungen dazu mögen hier klärend sein. Erstens: Stimmigkeit ist nicht mit einer Harmonisierung zu verwechseln. Auch Konflikte und Disharmonien können – zumindest für die Akteure – stimmig zu einer Situationsentwicklung passen. Zweitens: Stimmigkeit muss nicht umfassend sein. Stimmige Entwicklungen können partiell bleiben: auf bestimmte Gebiete des Handelns und Wissens beschränkt sein. Drittens: Stimmigkeit muss nicht endgültig sein. Als eingebettet in die Situationsentwicklung bleibt sie vorläufig. Es ist dies das Signum des Historischen, das die menschliche Existenzform durchzieht. Ernst Cassirer bemerkt denn auch: »Alle Gestaltbegriffe, Stilbegriffe sind provisorisch« (ECN Bd. 5, S. 169) Gedanken, Sätze, Sachverhalte – sie sind keine klar definierten und deutlich voneinander abgegrenzten Entitäten. Sie sind Konstruktionen, um ihrer philosophischen Handhabbarkeit in die Welt gesetzt. Wir können sie kritisch reflektieren und als Darstellung unseres Denkens, Redens und Weltbezugs ablehnen. Trotzdem brauchen wir sie. Wir brauchen sie nämlich, um uns von ihnen abzusetzen und eben dadurch selbst besser zu verstehen.
Literatur Cassirer, E. (ECN, Bd. 3) Geschichte, mit Beilagen: Biologie, Ethik, Form, Kategorienlehre, Kunst, Organologie, Sinn, Sprache, Zeit. (zitiert als ECN, Bd. 3) Hg. von K.C. Köhnke/H. Kopp-Oberstebrink/R. Kramme. Hamburg: Meiner 2002. Cassirer, E. (ECN, Bd. 5) Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte. Hg. von K.C. Köhnke/J. Krois/O. Schwemmer (zitiert als ECN, Bd. 5) Kulturphilosophie. Vorlesungen und Vorträge 1929-1941. Hg. von R. Kramme unter Mitarbeit von J. Fingerhut. Hamburg: Meiner 2004. Cassirer, E. (ECW, Bd. 12) Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 2 Das mythische Denken. In: Ernst Cassirer, Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hg. von B. Recki, Hamburg: Meiner (zitiert als ECW, Bd. 12) 2002. Cassirer, E. (ECW, Bd. 13) Philosophie der symbolischen Formen. Bd. 3 (zitiert als ECW, Bd. 13) Hamburg: Meiner 2002. Cassirer, E. (ECW, Bd. 16) Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen. In: Ernst Cassirer. Aufsätze und kleine Schriften 1922-1926. In: ECW Bd. 16, Hamburg: Meiner 2003.
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Oswald Schwemmer
Cassirer, E. (ECW, Bd. 23) An Essay on Man, An Introduction to a Philosophy of Human Culture. In: ECW Bd. 23, Hamburg: Meiner 2006. Cassirer, E. (ECW, Bd. 25) The Myth of State. In: ECW Bd. 25, Hamburg: Meiner 2007. Gehlen, A. (1986) Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Wiesbaden. Hogrebe, W. (2009) Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin. James, W. (1978) Pragmatism. A New Name for Some Old Ways of Thinking. In: Ders. Pragmatism and The Meaning of Truth. Cambridge, Mass./London. James, W. (1976) Essays in Radical Empiricism. Cambridge, Mass./London. Merleau-Ponty, M. (1984) Die Prosa der Welt. München. Stenzel, J. (1934) Philosophie der Sprache. München/Berlin. Schwemmer, O. (1997) Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin. Schwemmer, O. (1997) Die kulturelle Existenz des Menschen. Berlin. Schwemmer, O. (2003) Europäische Rationalität und philosophisches Formdenken. In: R. Elm/M. Takayama (Hg.) Zukünftiges Menschsein. Ethik zwischen Ost und West. Schriften des Zentrums für Europäische Integrationsforschung. Hg. von L. Kühnhardt, Bd. 55. Baden-Baden. Schwemmer, O. (2005) Kulturphilosophie. Eine medientheoretische Grundlegung. München. Schwemmer, O. (2010) Sinn als Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens. München. Schwemmer, O. (2011) Das Ereignis der Form. Zur Analyse des sprachlichen Denkens. München. Wittgenstein, L. (1966) Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhandlung. Frankfurt a.M.
Konzept-Formen menschlicher Welterfahrung Jürgen Kriz
1.
Vernachlässigte zentrale Befunde der Gestaltpsychologie
1.1
Visuelle Wahrnehmungen
Seit über hundert Jahren wird von der experimentellen Psychologie – vor allem im Rahmen der Gestaltpsychologie der Berliner Schule (Wertheimer, Koffka, Köhler, Goldstein, Lewin u.a.) – eine Fülle von Phänomenen untersucht, die mit Wahrnehmung, Bewegung, Verstehen usw. zu tun haben. Die publizierten Ergebnisse füllen viele Bücherregale. Allerdings sind diese Befunde bisher kaum in der Alltagswelt, aber auch in Disziplinen wie der Philosophie wenig beachtet worden. Dabei trägt bereits die umfangreiche Arbeit von Max Wertheimer (1912) in der Zeitschrift für Psychologie, die oft als Beginn der Gestaltpsychologie angesehen wird, den für unsere Thematik bemerkenswerten Titel »Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung«. Es geht darin u.a. anhand des stroboskopischen Bewegungssehens um Fragen der ganzheitlichen Organisation unserer visuellen Wahrnehmung (mit der sich in derselben Zeitschrift zuvor schon Forscher wie Marbe, Dürr, Linke, Wundt, Wirth und Schumann beschäftigt hatten). Wertheimer betont aufgrund der Analyse zahlreicher experimenteller sowie alltagsweltlicher Phänomene, dass die visuelle Wahrnehmung lediglich ein Teil im Gesamtprozess des Organismus sei, der nicht nur sensorisch, sondern u.a. auch sensomotorisch betrachtet werden müsse. So diskutiert er z.B. ausführlich die Erfahrung von »sich labil fühlen«, wenn durch großflächige Projektion eines bewegten Umwelt-Bildes die stabil gefühlte Raumlage des Körpers visuellen Reizen ausgesetzt wird, die zur gefühlten Raumlage in Kontrast stehen. Dies kann man auch im Alltagsleben ansatzweise erfahren, wenn man sich z.B. in einem stehenden Zug befindet und der Blick durchs Fenster auf einen anfahrenden Zug am Nachbargleis fällt. Massiver ist dieser Eindruck bei der sog. »Hexenschaukel« (Rohracher 1963, 181), bei der eine Person auf einem fest am Boden verankerten Stuhl sitzt und von einem kleinen, haus-artigen Karton umgeben ist, auf dessen Innenwänden Fenster und Einrichtungsgegenstände aufgemalt sind. Dieses »Haus« ist an einer Achse befestigt, um die es gedreht werden kann. Wenn
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Jürgen Kriz
nun das Haus in Bewegung gesetzt wird, ist die Erfahrung der eigenen Bewegung so zwingend, dass man sich krampfhaft festhalten muss, um nicht von der Bank zu fallen – und dies gilt auch dann, wenn man weiß, dass sich der Stuhl, auf dem man sitzt, nicht bewegt. Die visuellen Teilprozesse des Erlebens dominieren hier also die körperlichen. Doch es kann auch zu umgekehrten Effekten kommen, wenn einem die Gelegenheit gegeben wird, bei einer stabil gefühlten Raumlage (vor allem durch eigene Bewegung), sich einer ggf. kontrastierenden visuellen Wahrnehmung anzupassen. So haben zahlreiche Experimente am Innsbrucker psychologischen Institut (vgl. Kohler 1951) mit Prismen- oder Umkehr-Brillen gezeigt, dass eine optisch verzerrt dargebotene »Welt« nach wenigen Tagen wieder »wie gewohnt« organisiert wird: Bei der Umkehrbrille waren beispielsweise »oben« und »unten« vertauscht – doch richtete sich die wahrgenommene »Welt« nach einigen Tagen wieder auf (wobei dann beim Abnehmen der Brille umgekehrte Nacheffekte auftraten – wenn auch nur minutenlang). Bemerkenswert ist auch, dass in der Gestaltpsychologie die Organisation von Bewegungswahrnehmung keineswegs auf solche Bewegungsgestalten beschränkt war und ist, die sich quasi als Muster im euklidischen Raum verstehen bzw. darstellen lassen. Vielmehr haben schon Mitte des 20 Jahrhunderts Gestaltpsychologen wie Fritz Heider (1944) oder Albert Michotte (1954) gezeigt, dass die Bewegung von bewegten Formen (z.B. Kreis, Viereck usw.) in bestimmter Weise den zwingenden Eindruck von »kausaler Verursachung« oder sozialem Beziehungsgeschehen wie »Aggression« oder »Fürsorge« entstehen lassen, wobei es sich um Strukturierungen nicht im euklidischen, sondern in einem Bedeutungs-Raum handelt. Die dafür wichtige Unterscheidung, ob Bewegungen als von »unbelebten Objekten« oder von »Personen« ausgeführt werden – und somit als »kausal« oder »intentional« erfahren werden – ist allerdings erst in jüngerer Zeit thematisiert und untersucht worden. Darauf wird später noch eingegangen. Für den Bereich des Sports scheinen auf den ersten Blick lediglich die Bewegungsgestalten im euklidischen Raum wesentlicher zu sein, weil es sich vorrangig um auszuführende und nicht um zu beobachtende Bewegungsmuster handelt. Denkt man allerdings an Teamsportarten, wo es auch um die Notwendigkeit und Fähigkeit geht, die Intentionen der anderen zu »lesen«, Bewegungen »anzutäuschen« und Täuschungen möglichst zu erkennen, wo koordiniert mit »Raumgefühl« vorgegangen werden muss, wird klar, in welcher Weise Bewegungsgestalten der Wahrnehmung und der Ausführung sowie ihre Zuordnung im physikalisch-euklidischen bzw. im psycho-sozialen Bedeutungs-Raum miteinander verschränkt sind.
Konzept-Formen menschlicher Welterfahrung
1.2
Transphänomenale (»physische«) und phänomenale Welt
Wesentlich für die Gestaltpsychologie ist auch die explizit eingenommene erkenntnistheoretische Position des kritischen Realismus, der durch eine konsequente Unterscheidung zwischen der transphänomenalen (oft auch »physisch« oder physikalisch« genannt) und der phänomenalen Welt (d.h. der Welt, wie sie uns in unserem Bewusstsein erscheint) gekennzeichnet ist. Letztere stimmt zwar oft mit der naiv-realistischen Alltagsontologie – dass die »Welt« so ist, wie wir sie wahrnehmen – überein. Aber gerade die oben genannten Phänomene, von der Bewegungswahrnehmung, über die Hexenschaukel bis hin zu kausal und sozial strukturiertem Geschehen von einfachen Formen, zeigen den hohen konstruktiven Anteil bei der wahrnehmenden Gestaltung unserer phänomenalen Welt. Dies ist auch für unser Bewegungs-Handeln relevant: So erläuterte Wolfgang Metzger (1969/86) die Eigenschaft der phänomenalen Welt als zentraler Steuerungsinstanz (auch für Bewegungen) anhand der Frage »Was geschieht, wenn wir einen Arm bewegen, etwa, um nach einem Gegenstand zu greifen?« (Metzger 1969/86, S 265). In der physischen Welt, auf die beispielsweise ein Physiologe oder Orthopäde in seiner Antwort referieren würde, geht es um die Angriffspunkte der Nerven in Oberarm- und Schultermuskulatur. In dem von der Person gespürten, gesehenen und bewegten Arm in der phänomenalen Welt liegt der »Angriffspunkts« des »Willens« dagegen klar in der Hand, die ich bewegen will« – also die phänomenale Hand im phänomenalen Wahrnehmungsfeld (nach Metzger 1965/86, S. 272).1 Es lohnt sich, dies einmal nachzuvollziehen, indem man langsam und aufmerksam einen Gegenstand auf dem Schreibtisch in Reichweite ergreift: Der Unterschied zwischen dem phänomenalen Angriffspunkt »Hand« und dem Versuch, »Oberarm- und Schultermuskulatur« zu bewegen, ist ebenso deutlich wie frappant, besonders, weil wir uns im Alltag drüber keine Gedanken machen. Für die Bedeutsamkeit des phänomenalen Feldes für die Koordination von Wahrnehmung und Bewegung gibt es weitere eindrucksvolle experimentelle Belege. Wenn man z.B. beide Hände nebeneinander hält und beide Zeigefinger gleichzeitig bewegt, kann man dies auf zwei Weisen tun (vgl. Abb. 1): nämlich (a) symmetrisch oder (b) parallel. Fängt man langsam an, so lässt sich die symmetrische Bewegung (a) erheblich beschleunigen, ohne dass sonst irgendetwas Besonderes geschieht. Beginnt man hingegen langsam mit Bewegung (b) und beschleunigt diese, so kippt die Bewegung ab einer bestimmten Geschwindigkeit von der parallelen in die symmetrische um. Gleiches geschieht, wenn man mit beiden Händen auf einer Tischplatte »Klavier« spielt, und beim Klopfen auf den Tisch, im Wechsel von Zeigefingern und Mittelfingern, dies (a) symmetrisch oder (b) parallel durchführt. Wieder lässt sich 1
Vgl. die Diskussion dazu in Stemberger (2015).
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Abb. 1: Symmetrische (a) bzw. parallele (b) Bewegung von Zeigefingern (aus Mechsner et al. 2001)
Bewegung (a) von langsam bis schnell ohne Schwierigkeit durchführen, während Bewegungsform (b) ab einer bestimmten Geschwindigkeit in (a) übergeht. Fragt man nach dem Grund für diese Bevorzugung der symmetrischen Bewegungsformen, erhält man meist Antworten, welche auf die Körpersymmetrie inklusive der Gehirnhälften mit ihren Motoneuronen zur »Steuerung« der linken bzw. rechten Hand und deren Finger verweisen. Diese Erklärung hat Franz Mechsner (2001) durch ein einfaches Experiment widerlegt: Dreht man nämlich nur eine der Handflächen, z.B. die rechte, um, dann würde eine homologe Muskelaktivierung bei (a) zu einer (optischen!) Parallelbewegung führen. Es zeigte sich aber, dass wieder die Symmetrie dominant war. Ebenso ergibt sich beim pseudo-Klavierspielen auch dann eine symmetrische Bewegung, wenn man bei einer Hand, z.B. der rechten, statt Zeige- und Mittelfinger den Mittel- und Ringfinger nimmt: die organismisch-parallele Bewegung Zeige- und Ringfinger Mittel- und Mittelfinger schlägt bei Beschleunigung in die optisch-symmetrische Bewegung Zeige- und Mittelfinger Mittel- und Ringfinger um (etwas, was man in der Regel nie geübt hat). Und dies, obwohl doch – von den Muskeln und Neuronen ausgehend – eigentlich weiterhin die beiden Mittelfinger bevorzugt gleichzeitig bewegt werden sollten, was eine Parallelbewegung hervorbrächte. Die Bevorzugung der visuellen Symmetrie (statt der »homologen Motoneurone«) gilt übrigens auch, wenn man die Augen schließt. Es geht also nicht einfach um visuelle Kontrolle oder visuelles Feedback (allerdings dürften zumindest unbewusst ablaufende propriozeptivtaktile Feedbacks erforderlich sein). Offenbar geht es also insgesamt bei diesen Experimenten und den Bewegungen nicht um die »objektiv«-körperliche Symmetrie der Gliedmaßen, sondern um die Symmetrie der Bewegungen im phänomenalen Feld. Und dies sogar zwingend: Die Bewegung der Finger kippt in die phänomenale Symmetrie, und die Motoneuronen und Muskeln folgen einfach dieser phänomenalen Ordnung – ohne dass man merkt, wie das geschieht.
Konzept-Formen menschlicher Welterfahrung
Auf dieser Basis unternahmen Mechsner et al. (2001) weitere Experimente, in denen es um die Ausführung sehr komplizierter Bewegungen ging – etwa gleichzeitige Kreisbewegungen des linken und des rechten Unterarms im Verhältnis von 4:7. Wenn man dies ohne Übung versucht, wird man kläglich scheitern. Typischerweise käme man in unserer Kultur des Lernens und Übens auf die Idee, dass die einzige Lösung dieser Aufgabe in intensivem Training läge. Doch Mechsner zeigte, dass solche Bewegungen auch von untrainierten Versuchspersonen ausgeführt werden konnten, wenn die phänomenale Wahrnehmungsgestalt mithilfe eines Übersetzungsgetriebes einfach und bevorzugt symmetrisch strukturiert wird (s. Abb.2). Allerdings funktionierte dies nur, wenn die Versuchspersonen nicht bewusst auf die Bewegung ihrer Hände achteten. Sobald sie ihr Bewusstsein auf die Bewegung der Hände lenkten und sich innerlich fragten: »Was mache ich eigentlich – und wie?« waren sie nicht mehr in der Lage, diese komplizierte Bewegung durchzuführen. Mit Mechsner und im Sinne der Gestaltpsychologie (besonders ihrer neueren systemtheoretischen Sichtweise, (vgl. Kriz 2008, 2017) lässt sich dies so interpretieren, dass eine phänomenale Bewegungsgestalt dann (top-down) die nötigen Abläufe für die Muskeln unbewusst und unwillentlich koordiniert (siehe auch Mechsner 2004).
Abb. 2: Verdeckte Beidhandbewegungen (aus Mechsner 2001)
Es sei hier zumindest der Hinweis angebracht, dass die kurze – aber wegen ihrer psychologischen, kunstpädagogischen, philosophischen und theologischen Tiefe viel beachtete – Erzählung von Heinrich von Kleist »Über das Marionettentheater« (v. Kleist 1810/2013) bereits zu ähnlichen Einsichten gelangt. Kleist berichtet darin von einem jungen Mann, der zufällig und intuitiv eine Pose voller Anmut eingenommen hatte und der diese Stellung nicht wiederholen konnte, als er darauf aufmerksam gemacht worden war – ja, wie der Ausdruck mehr und mehr verkrampft und lächerlich wirkte, je mehr er versuchte, diese Haltung durch bewuss-
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te Kontrolle seiner Muskeln herzustellen. Das Bemühen, bewusst und intentional über eine muskulär-motorische Steuerung und Kontrolle der Bewegungen etwas zu ergreifen (s. Metzger), oder eine komplexe Bewegung (s. Mechsner) oder gar einen anmutigen Ausdruck (s. v. Kleist) hervorbringen zu wollen, lässt dies eher scheitern. Außerdem hat Mechsner (2002) professionelle Marionetten-Spieler befragt, wie sie die komplizierten Bewegungen des Steuerkreuzes mit den vielen Fäden bewerkstelligen (manchmal sogar mit der linken und der rechten Hand zwei Puppen getrennt bewegen). Die Antworten liefen darauf hinaus, dass die Puppenspieler (sicher auf der Basis bzw. unter Einsatz elementar gelernter Techniken zu grundlegenden Steuerbewegungen), sich »in die Puppe, bzw. in die Szene hineinversetzen.« Das heißt, dass die Bewegungen der Gliedmaßen der Puppe in ihrem phänomenalen Feld repräsentiert sind und, von dieser imaginierten Anschauung her, die Handbewegungen im obigen Sinne steuern. Dabei geht es um Bewegungen, die ein Zuschauer »objektiv« von vorn sieht, während der Puppenspieler selbst nur von schräg oben hinunterblickend lediglich imaginieren kann, wie die Bewegung aus einem anderen Blickwinkel aussieht und wirkt. Etwas pathetisch ausgedrückt könnte man sagen, dass die Puppenspieler sich in ihrer phänomenalen Welt ganz in den (phänomenalen) Körper der Puppe versenken, um etwas für die Zuschauer auszudrücken. Nach Stemberger (2009), der dieses Thema in einem Beitrag zum Mehr-Felder-Ansatz behandelt hat, geht es darum, dass beim Puppenspieler die Ausgliederung eines zweiten Ichs (des Marionetten-Ichs) in einer zweiten phänomenalen Welt stattfindet. Wenn dies in Bezug auf den Zuschauer gelingt, dieser also in seiner phänomenalen Wahrnehmung den Ausdruck der Bewegung bzw. der Szene so »versteht«, ist es sinnvoll, davon auszugehen, dass die beiden phänomenalen Felder von Akteur und Zuschauer in wesentlichen Bereichen Strukturgleichheiten aufweisen.2 Mechsner steht mit dieser Forschung erkennbar in der Tradition der Gestalttheorie: Bereits vor achtzig Jahren hat Kurt Goldstein (1934) das Konzept der »Selbstaktualisierung« eingeführt. Er zeigte, dass ein Käfer, dem man eines seiner Beine entfernt, in einer ganzheitlichen Weise die verbliebenen Teile spontan in einer neuartigen Weise umorganisiert und so erfolgreich ein neues Fortbewegungsmuster realisiert. Goldsteins Credo war, dass der Organismus für seine Ordnung keinen externen »Organisator« braucht. Sondern in Relation zur Umwelt strebt der dynamische Prozess selbst zu einer angemessenen Ordnung, bei der die inneren Möglichkeiten und äußeren Gegebenheiten dynamisch zu einer ganzheitlichen Gestalt abgestimmt werden. Dies ist der Kern auch heutiger 2
Es sei bemerkt, dass dies Rudolf Arnheims Verständnis bezüglich der Vermittlung von Ausdruck entspricht (vgl. Arnheim 1949, 1966, 2000, Kriz 2015).
Konzept-Formen menschlicher Welterfahrung
interdisziplinärer Systemtheorie mit ihrem Selbstorganisationsansatz – besonders der Synergetik von Hermann Haken (1981, Haken & Haken-Krell, M. 1992) – die rund 40 Jahre nach Goldstein entstand und seitdem von immer mehr Disziplinen beachtet wird (Kriz & Tschacher 2017). Durch unterschiedliche Zentrierungen auf Koordinationsmöglichkeiten können allerdings auch Konflikte und Probleme entstehen, wie z.B. bei der willentlichen Kontrolle der komplexen Rotationsbewegungen der Arme in Mechsner Experiment. So zeigt die breite Palette pragmatischer Paradoxien, die in vielen Psychotherapie-Ansätzen eine Rolle spielen, wie stark das bewusste ErreichenWollen autonomer Funktionen oft Probleme erst schafft, verstärkt oder aufrechterhält: Der Versuch (oder das Befolgen der Aufforderung) »spontan zu sein«, sich »gewaltig« anzustrengen »ganz locker zu sein« oder das krampfhafte Bemühen, in der Nacht vor einem wichtigen Termin zur Ruhe zu kommen, um einschlafen zu können, sind solche pragmatischen Paradoxien. Ebenso kann das Kontrollieren oder übermäßige Beachten von Stottern dieses eher verstärken, worauf Stemberger (2015) hinweist, da das Stottern »in der Regel mit einer spezifischen Störung der Ganzbeziehungen in der phänomenalen Welt verbunden (ist): Das flüssige Sprechen setzt voraus, dass der Aufmerksamkeitsschwerpunkt beim Gegenüber und der Beziehung zu ihm liegt und nicht auf dem Sprechvorgang oder gar auf den Sprechorganen« (Sternberger 2015 S. 20f.) Mit diesen Beispielen betreten wir allerdings den für unsere Thematik eher angrenzenden Bereich der Klinischen Psychologie und Psychotherapie. Wobei aber zumindest vermerkt sei, dass etwa der Therapieansatz von Albert Pesso (Pesso & Perquin 2008) hier nahtlos anschließen würde. Pesso, der ursprünglich Tanzausbilder und Choreograph in New York war, stellte fest, dass bestimmte blockierte Bewegungen der Tänzer erst dann flüssig ausgeführt werden konnten, wenn es auch gelang, bestimmte Teile ihrer phänomenalen Welt (»emotionale Schemata«) zu verändern. In dem daraus entwickelte Therapieansatz, (Pesso Boyden System Psychomotor), werden Szenen von traumatischen Erfahrungen mittels neu konfigurierter Szenen dem Gedächtnis zur Seite gestellt. Wie schon der Hirnforscher und Nobelpreisträger Gerald Edelmann (2004) vor Jahrzehnten mit seinem Konzept der »erinnerten Gegenwart« betonte, beeinflussen vergangene Erfahrungen in dynamischer Weise aktuelle Situationen und moderieren die Prozesse von Wahrnehmen, Fühlen, Denken und Verhalten. Zur Vermeidung von Missverständnissen soll betont werden, dass das Konzept der phänomenalen Welt als »zentrale Steuerungsinstanz« keineswegs im Widerspruch dazu steht, dass Puppen- oder Geigenspieler, Tänzer, Schauspieler etc. diese Steuerungen auch auf der Basis von erlernten und geübten »Techniken« vornehmen müssen. Im Gegensatz zu Mechsners kompliziert-komplexen Bewegungen, die dann spontan und ungeübt ausgeführt werden können, wenn die phänomenale Bewegungsgestalt einfach ist, reicht zum guten Violinspiel eben nicht einfach
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nur eine entsprechende Bewegungsgestalt (ergänzt ggf.um eine Musikgestalt) zum ausdrucksvollen Spiel einer bestimmten Passage, sondern diese Bewegungsgestalt muss auch realisiert werden können, wozu grundlegende Techniken und konkretes Üben gehören. Gleichwohl darf man andererseits sagen, dass letzteres allein eben auch nicht ausreicht – bzw. selbst von Laien ein solches Unterfangen an einem vielleicht »technisch einwandfreien« aber »seelenlosen« Spiel erkannt werden kann. Dies steht auch im Einklang mit den Befunden, welche gestalttheoretische Sportpsychologen wie Paul Tholey (1977), Kurt Kohl (1980) oder Tiziano Agostini (Murgia et al. 2014) über die enge Wechselwirkung zwischen der Bewegung des phänomenalen und des physischen Körpers erforscht und für die Anwendung nutzbar gemacht haben.
1.3
Zwischenresümee
Die referierten Befunde, die besonders aus Untersuchungen der Gestaltpsychologie stammen, sollten deutlich machen, wie Wahrnehmung, Bewusstsein, Verhalten und Handeln in komplexer, ganzheitlicher Weise zusammenwirken. Will man beispielsweise eine Körperbewegung in ihrer Ausführung verstehen, so darf man sich nicht auf die Perspektive des Physiologen, Orthopäden oder Neurologen beschränken. Mindestens ebenso bedeutsam ist es, die phänomenale Welt als zentrale Steuerungsinstanz zu berücksichtigen. Wie die referierte Wahrnehmung von »kausalem«, »sozialem«, »intentionalem« usw. Beziehungsgeschehen deutlich macht, sind die Bedeutungskategorien unserer phänomenalen Welt keine beobachterunabhängigen Kategorien einer »Welt da draußen«, sondern unseres Wahrnehmungssystems – das allerdings nicht nur biologisch-organismisch verstanden werden darf, sondern mit kulturell-symbolischen Prozessen verschränkt ist, wie noch ausführlich gezeigt wird. Zu Recht verweist die moderne Wahrnehmungspsychologie (z.B. Mausfeld 2010) auf evolutionär erworbene und in der Architektur unseres Gehirns niedergelegte Bedeutungs(gebungs)kategorien – was letztlich an Sichtweisen der Biosemiotik anknüpft, die bereits vor hundert Jahren vom Biologen Jakob von Uexküll (1909, 1920) vorgetragen wurden. Allerdings zeigen die oben diskutierten Beispiele um das Marionettentheater, dass ebenso kulturell geschaffene und vermittelte Formen der Bedeutungsgebung eine wichtige Rolle spielen, was wiederum auf Diskurse über symbolische Formen verweist, die ebenfalls bereits vor hundert Jahren von Ernst Cassirer begründet wurden. Cassirer und von Uexküll waren übrigens nicht nur etliche Jahre Kollegen an der Universität Hamburg, sondern auch miteinander befreundet. Die inhaltliche Verbundenheit lässt sich auch daran ersehen, dass beide, Uexküll und Cassirer, gemeinsam auf der Berufungsliste für einen philosophischen Lehrstuhl an der Universität Wien standen (Dahms 2018), der dann jedoch mit dem Gestalt- und Sprachpsychologen Karl Bühler besetzt wur-
Konzept-Formen menschlicher Welterfahrung
de. Cassirer war zudem nicht nur der Cousin des oben erwähnten Kurt Goldstein (»Selbstaktualisierung«), sondern auch dessen enger Diskussionspartner. Mit von Uexkülls biologisch-organismischer und Cassirers kulturell-symbolischer Perspektive auf die Formungsbedingungen menschlicher Welterfahrung und des kommunikativen Zusammenlebens treffen hier also in besonderer Weise »Natur« und »Kultur« aufeinander. Und obwohl in der Realität des menschlichen Lebens stets beide Prozesseben – mit weiteren – zusammenwirken (vgl. Kriz 2017), macht es Sinn, zunächst beide Pole analytisch getrennt näher zu betrachten.
2.
Die Perspektive der Natur
2.1
Biosemiotische Sichtweise
Die biosemiotische Sicht von Uexkülls (1909/1980) lässt sich zunächst am Beispiel eher einfacher Tiere auf einer »Sommerwiese« verdeutlichen, die auf die wesentliche Unterscheidung zwischen »Umgebung« und »Umwelt« hinausläuft: Wenn wir in üblicher Weise eine Sommerwiese betrachten, würden wir feststellen, dass dort viele Tiere in derselben Umgebung leben – beispielsweise Ameisen, Blattläuse, Bienen, Fledermäuse, Frösche usw. Damit beziehen wir uns (meist unbemerkt und »selbstverständlich«) auf die objektiven Gegebenheiten dieser Sommerwiese. Wenn wir hingegen danach fragen, was ein Lebewesen von diesen objektiven Gegebenheiten wahrnehmungsmäßig überhaupt mitbekommt und auf was es mit seinen Organen einwirken kann, wird klar, dass keines dieser Tiere die Umgebung genauso wahrnimmt wie ein Tier der jeweils anderen Art und auch in seiner spezifischen Weise auf die Umgebung einwirkt. Diese spezifische Merkwelt und Wirkwelt nannte Uexküll »Umwelt«. Alle Tiere auf der Sommerwiese leben somit in derselben Umgebung aber jedes in seiner spezifischen Umwelt. Kategorien wie »Sommerwiese«, »Ameisen«, Fliegen« etc. entsprechen keiner Realität irgendeines Tieres auf der Wiese. Ein Frosch nimmt somit keine (menschliche Lehrbuch-)»Fliege« wahr, sondern gibt bestimmten wahrgenommenen Reiz-Aspekten eine, aufgrund seiner evolutionären Entwicklung, bestimme Bedeutung in seiner Merkwelt, so dass er entsprechend den Möglichkeiten seiner Wirkwelt zuschnappt. Dieser Funktionskreis aus Merk- und Wirkwelt ist, gerade bei sog. niederen Tieren, relativ eng evolutionär festgelegt. Auch wenn v. Uexküll (1909) bereits gezeigt hat, dass je nach innerer »Stimmung« durch aktuelle Triebe und Bedürfnisse ein und dasselbe Objekt in der Umgebung eine unterschiedliche »Tönung« in seiner Umwelt zugewiesen bekommt, d.h. eine unterschiedliche biologische Bedeutung hat, die mit unterschiedlichen Verhaltensweisen verbunden ist. Die Betonung, dass Lebewesen dem Geschehen in ihrer Welt mithilfe von Zeichen Bedeutung zuweisen, ist besonders
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eine Sichtweise der sog. »Biosemiotik« (von bio = Leben und Semiotik = Lehre von den Zeichen/-prozessen). Während aber beim Funktionskreis einfachster Art noch Rezeptor und Effektor unmittelbar gekoppelt sind, zeichnen sich komplexer aufgebaute Organismen, bis hin zu den Säugetieren, dadurch aus, dass sich zwischen die sensorischen und motorischen Systeme immer umfangreichere und ausdifferenzierte »innere Verarbeitungssysteme« in Form von komplexen Nervensystemen schieben. Der evolutionäre Vorteil ist, dass dadurch auch komplexer werdende Sachverhalte der Umgebung eines Organismus zu dessen lebensrelevanter Umwelt werden können. Dazu freilich bedarf es einer erheblichen Integrationsleistung der unmittelbaren Sinneserfahrung der Rezeptoren. So lässt sich beispielsweise für eine bestimme Schlangenart zeigen, dass sie eine Maus als Beutetier visuell ortet, dann olfaktorisch verfolgt und letztlich haptisch verschluckt. Da diese drei Sinnessysteme aber unabhängig voneinander arbeiten, hat sie faktisch drei Bedeutungen für »Maus«, die in drei Funktionskreisen verortet sind. Eine unabhängige Bedeutungserteilung durch die einzelnen Teilsysteme, wie bei dieser Schlange, wäre aber bei komplexeren Organismen mit Hunderten von Funktionskreisen kaum verwertbar und somit nutzlos. Stattdessen ist eine organismische Architektur des Gehirns notwendig, bei der Prozesse aus der Vielzahl von Sinnessystemen (und internen Prozessen) integriert werden.
2.2
Übersinnliche Wahrnehmung und Kategorisierung
Wenn die Bedeutungszuweisungen jedoch immer weniger an einzelne Sinnesmodalitäten gebunden sind, bedeutet das, dass sie auch von separaten Sinneseindrücken quasi abstrahiert sind. D.h., die Bedeutungszuweisung wird somit in einer abstrakten Form von einem Integrationssystem geleistet: »Maus« ist dann eine Bedeutungskategorie, die u.a. visuelle, olfaktorische und haptische Aspekte vereinigt, und die organismische Architektur komplexer Lebewesen ist entsprechend darauf ausgelegt. Die Abstraktion führt auch dazu, dass der sensorische »Input« der Merkwelt nicht unmittelbar im motorischen »Output« der Wirkwelt umgesetzt werden muss, sondern zunächst in vielfältige interne Systeme (z.B. für Raumorientierung und Navigation, Nahrungssuche, Partnersuche, komplexes Sozialverhalten, Werkzeuggebrauch usw.) integriert wird, bevor eine motorische Reaktion ausgeführt wird. Die dabei durchgeführte Abstraktion der Information aus einzelnen Sinnesmodalitäten zugunsten ihrer Integration führt damit zu Bedeutungskategorien, die mit Rainer Mausfeld (2005, S. 66) als »übersinnlich« bezeichnet werden dürfen. Denn für distale Objektkategorien wie »Nahrung‹« »Feind«, »Paarungspartner« oder verborgene Attribute von Objekten wie »essbar«, »gefährlich« gibt es natürlich keine sensorischen Rezeptoren. Erst durch die Integration im Gehirn kann der Organismus Dinge und Attribute wahrnehmen, die seinem Sinnensystem
Konzept-Formen menschlicher Welterfahrung
verborgen sind. Und ebenso wichtig ist, dass viele dieser integrativen Leistungen nicht gelernt, sondern in der evolutionären Architektur des Gehirns angelegt sind. »Wenn eine Maus lernen wollte, dass der Wahrnehmungskategorie ›Schlange‹ das Attribut ›gefährlich‹ zukommt, wäre ihr Leben so kurz, dass sie keine Möglichkeit mehr hätte, diese Einsicht auch zu nutzen«, resümiert Mausfeld (2005, S. 52) treffend. Schon Uexküll (1909,1920) bezeichnete die evolutionär erworbene Konstruktion von Umwelten, die nicht als direkte Reaktion im Zusammenhang mit Sinnesorganen steht, als »magisch«. Ein Beispiel dafür sind u.a. die angeborenen Flugstraßen und Wegmarken über Kontinente hinweg, welche Wandervögel nutzen, besonders auch Jungtiere, die noch nie diesen Weg geflogen sind. Bedenkt man die große Leistungsfähigkeit solcher »übersinnlichen« evolutionären Kategorien im Tierreich, so ist es eigentlich erstaunlich, dass wir lange Zeit den Menschen in diesem Zusammenhang für eine Art »tabula rasa« gehalten haben. Da waren die Gestaltpsychologen in ihren oben referierten Untersuchungen der strukturierenden Prinzipien bei kognitiven Prozessen – besonders in der Dynamik menschlicher Wahrnehmung – und deren Konzeptualisierung in Form von »Gestaltfaktoren« schon wesentlich näher an den heutigen Erkenntnissen. Allerdings ist das große Ausmaß evolutionär erworbener Bedeutungskategorien erst durch die Säuglingsforschung der letzten Jahrzehnte rasant gewachsen, als entsprechende technische Hilfsmittel bereitstanden, um überhaupt bestimmten Fragen bezüglich der Wahrnehmungswelt von Säuglingen nachgehen zu können. Mausfeld (2005) führt u.a. Bedeutungskategorien wie »Gesicht«, »unbelebte Gegenstände«, »Belebtes«, »Meinesgleichen«, »Artefakte« (d.h. Gegenstände, die zu einem bestimmten Zweck hergestellt wurden, wie Stuhl, Hammer, Haus), »Körperteile«, »Früchte«, »Gemüse«, »Kausalität« und »Intentionalität« als solche an, die bereits in der Architektur des menschlichen Organismus angelegt sind. Eine wichtige Unterscheidung der Bedeutungskategorien in »belebtes Objekt« und »unbelebtes Objekt« geht auf unterschiedliche Bewegungsmuster von Elementen dieser beiden Klassen zurück: Bewegungen von biologischen Objekten sind selbstverursacht und können deshalb alle möglichen Formen annehmen, während Bewegungen unbelebter physikalischer Objekte physikalischen Gesetzen (Energieerhaltung, Newtonsche Bewegungsgesetze etc.) gehorchen müssen. So resümiert Mausfeld (2005a, S. 22f.) »Die Säuglingsforschung hat eine Fülle von Befunden gewonnen, die belegen, dass Konzeptformen für ›belebte Objekte‹ und ›unbelebte Objekte‹ (›animate vs. inanimate‹) Teil der biologischen Grundausstattung des Wahrnehmungssystems des Säuglings sind. Säuglinge reagieren von der Geburt an unterschiedlich auf Personen und unbelebte Objekte (z.B. Bonatti, Frot, Zangl & Mehler, 2002; Baillargeon, Wu, Yuan, Li & Luo, 2009). Sobald sie ihre Aufmerksamkeit fokussieren können, trennen sie kategorial Objekte, die mit ihnen reziprok interagieren können,
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von solchen, die dies nicht können. Für eine ›mechanische Verursachung‹ zwischen ›physikalischen Objekten‹ haben Säuglinge implizite Erwartungen über die Gerichtetheit von kausalen Ereignissen (z.B. Leslie, 1994, 1995); eine identische raum-zeitliche Inputstruktur kann als ›Kausalität‹ wahrgenommen werden, wenn die beteiligten Objekte als unbelebt klassifiziert werden, jedoch als ›Intentionalität‹, wenn die beteiligten Objekte als ›Meinesgleichen‹ klassifiziert werden« (Spelke, Phillips & Woodward, 1995; Meltzoff, 2005). Viele Belege jüngerer Forschung zeigen, dass Säuglinge in erstaunlichem Ausmaß über die u.a. für solche Unterscheidungen notwendigen Konzepte und Prinzipien der Alltagsphysik verfügen – etwa, dass Wasser durch ein Sieb fließt, Feststoffe aber nur dann, wenn sie relativ zum Sieb fein sind (wie Sand) aber dann nicht, wenn sie etwas größer sind (z.B. kleine Glaskügelchen) (Hespos & Ferry 2009). Ebenso können bereits Säuglinge mit Quantitäten umgehen – etwa »mehr als«oder »weniger als«-Relationen bei Zahlen, Größe von Dingen und Dauer von Erscheinungen« (Lourenco & Longo 2010). Abschließend sei noch auf zwei Befunde in direktem Zusammenhang mit Bewegungsformen (aus Mausfeld 2005) verwiesen. Im ersten Beispiel wird einem Säugling zunächst eine kleine Sequenz gezeigt: Eine Mohrrübe, die auf ihrem Weg von links nach rechts kurzzeitig hinter einem Quadrat verschwindet und dann wieder auftaucht (Abb. 3 links) Dies wird so oft wiederholt, bis die Neugierde des Säuglings erschöpft ist und er den Blick abwendet. Man sagt dann, dass er an die Szene habituiert ist.
Abb. 3: Untersuchung zum angeborenen ›Vorwissen‹ über physikalische Regularitäten
Zeigt man nun eine Sequenz mit einer kleinen Möhre und einem Quadrat, in dem ein Segment herausgeschnitten wurde (Abb. 3 Mitte), bei dem die Möhre aber bequem hinter dem unteren Teil verschwinden kann, so zeigt der Säugling keine Überraschung – das entspricht offenbar seinen gerade gemachten Erfahrungen. Präsentiert man allerdings eine weitere Szene (Abb. rechts), in der die Möhre nicht in dem Segment auftaucht, kann man an seiner Aufmerksamkeit erkennen, dass er dies als etwas ganz Neues ansieht, das überraschend und ungewöhnlich erscheint. Der Säugling erkennt offenbar, dass hier etwas passiert, was physikalisch unmög-
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lich ist. Wie bereits oben erwähnt wurde, zeigen viele Experimente, dass schon Säuglinge über ein reichhaltiges Vorwissen über physikalische Relationen verfügen – und zwar noch bevor sie die Möglichkeit hatten, ein solches Vorwissen über motorische Erfahrungen zu erlangen. Im zweiten Befund geht es um das Antriggern von visuellen Konzepten aufgrund der Bewegung weniger Lichtpunkte (ca. ein Dutzend). Diese können bei entsprechender Bewegung Konzeptformen für »biologisches Objekt« bzw. »Meinesgleichen« aktivieren (Palmer 1999). Ausgehend von bereits frühen Untersuchungen über sog. »Lichtpunktläufer« – reale Personen, denen an nur wenigen Punkten des Körpers Lichtquellen angebracht waren und deren Bewegungen im dunklen Raum gefilmt wurden (Johanssohn 1973) – wurde gezeigt, dass selbst diese hochgradig reduzierten Reize aus wenigen sich bewegenden Punkten es ermöglichen, Geschlechtsunterschiede (Mather & Murdoch 1994), Stimmungen (Clarke et al. 2005) oder die Identität einer Person (Troje et al. 2005) zu erkennen.
2.3
Zwischenresümee
Die vor rund hundert Jahren durch von Uexküll (1909, 1920) begründete Perspektive der Biosemiotik hat seitdem durch weitere Forschungen an Relevanz gewonnen: Schon einfache Organismen sind als bedeutungsgebende Wesen zu verstehen. Ihre Wahrnehmungssysteme repräsentieren nicht eine »Welt da draußen«, denn Bedeutungen existieren nicht in einer irgendwie objektiv-physikalischen Welt, sondern werden (auf organismischer Ebene) durch die evolutionär entstandene biologische Architektur der Sinne, der Effektor-Organe und vor allem der dazwischen liegenden Verarbeitungssysteme erzeugt. Daher können unterschiedliche Organismen zwar in derselben Umgebung leben, aber jeder in seiner eigenen Umwelt. Dies gilt auch für den menschlichen Organismus: Schon das Wahrnehmungssystem von Babys verfügt über ein umfangreiches und hochstrukturiertes System an Bedeutungskategorien. Daher beruht die »Wahrnehmung« der »Welt« auf der Triggerung von evolutionär erworbenen Konzeptformen. Vieles am Verhalten geht nicht einfach auf sensorische Information zurück, sondern auf hochkomplexe Integration dessen, was unterschiedliche Teilsysteme zur Verfügung stellen. Viele der Kategorien, welche die Welt konstituieren, sind daher als »übersinnlich« zu bezeichnen – d.h. nicht einfach auf der Basis von sensorischen Informationen zu verstehen. Der Umfang und die Komplexität bzw. Differenziertheit dieser biologisch bereitstehenden Konzeptformen menschlicher Welterfahrung bereits bei Säuglingen ist – verglichen mit dem Wissen darüber noch vor wenigen Jahrzehnten – schlicht als erstaunlich zu bezeichnen.
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3.
Die Perspektive der Kultur
3.1
Bedeutung symbolischer Konzeptformen
Trotz des großen Anteils biologisch-evolutionärer Konzeptformen des menschlichen Organismus kommt beim Menschen im Vergleich zur Tierwelt etwas Wesentliches hinzu: Die ungeheure Fülle an Teilleistungen aus unterschiedlichen sensorischen und weiteren (internen) »Informations-Systemen« des menschlichen Gehirns. Sie erfordert und ermöglicht hochkomplexe Integrationsleistungen in Form von Konzeptformen, die weit über die rein organismisch angelegten Konzeptformen der Welterfahrungen hinausgehen. Die Erfahrung und der Umgang mit »Übersinnlichem« ist dadurch deutlich größer, wobei die Verwendung von Sprache eine herausragende Rolle spielt. Ernst Cassirer (1923/1994) spricht deshalb auch vom Menschen als dem »animal symbolicum«. Wobei – wegen des großen Spektrums im Gebrauch und Verständnis des Begriffs »Symbol« in unterschiedlichen Disziplinen und Diskursen – ergänzt werden muss, dass Cassirer mit Symbol kulturell vereinbarte Zeichen meint, die also ganz oder weitgehend an die Bedeutungsgebung durch eine Sozialgemeinschaft gebunden sind. Wenden wir uns nochmals dem Beispiel von Uexküll mit der Sommerwiese zu. Zunächst ist die Problematik von Umgebung und Umwelt nicht so viel anders, wenn wir uns zu den Tieren auf der Wiese gesellen: So ergötzt sich z.B. ein kleines Mädchen an den schönen Blumen, der warmen Sonne und dem weichen Wiesenboden. Ihr Vater, Botaniker, hält Ausschau nach seltenen Wiesenblumen, die es in dieser Gegend gibt. Ihre Mutter lässt ihren suchenden Blick mit der Intention schweifen, den Kräutervorrat für ihre Küche zu ergänzen. Der diese Familie begleitende Wiesenbesitzer prüft das Grundstück mit den Überlegungen, ob er demnächst etwas anpflanzen könne. Sein Geschäftspartner hingegen versucht eher die Wiese dahingehend zu prüfen, ob sie sich für einen Verkauf an einen Bauinvestor eignet. Alle sind in derselben Umgebung – die wir als »Wiese« bezeichnen. Und was damit gemeint ist, kann man in Lexika und Nachschlagewerken lesen. Und doch ist jede dieser Personen auch in ihrer eigenen »Welt«. Denn für keine von ihnen spielt die lexikalische Bestimmung der »Wiese« eine Rolle, sondern höchstens einzelne Aspekte, die jeder Einzelne wahrnimmt und die für ihn bedeutend sind. Für jede Person in dieser Gruppe bedeutet die Wiese etwas anderes. Jede macht aus der gemeinsamen Umgebung ihre spezifische (aktuell hier und jetzt erfahrbare), subjektive Umwelt. Während der Vater voller Entzücken einige Exemplare von »Phlomis tuberosa« (»Knollen-Brandkraut«) entdeckt hat, sind diese Wiesenblumen für den Wiesenbesitzer und seinen Geschäftspartner schlicht bedeutungslos. Sie haben von dieser Blumenart noch nie etwas gehört und würden die Pflanze wahrscheinlich nicht einmal bemerken, wenn sie direkt vor ihr stehen. Für die Mutter ist diese Pflanze eher »Unkraut«, jedenfalls als Kraut für die Küche völlig
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ungeeignet. Und für die Tochter ist es, vielleicht, eine »nette Blume« – aber nur, wenn sie diese in der Fülle anderer Pflanzen wahrnimmt und diese damit für sie irgendeine Bedeutung gewonnen hat. Wenn man die Unterschiede in den Perspektiven berücksichtigt, rückt der Mensch als Subjekt ins Zentrum der Betrachtungen, denn er ist es, der »der Wiese« die jeweilige Bedeutung zuteilt. Und doch haben alle irgendwie auch ein grobes Konzept davon, was »eine Sommerwiese« ist (und was eine »Fliege« »ist«). Mit keinem unserer Sinne können wir zwar eine »Fliege«, einen »Frosch« ein »Knollen-Brandkraut« usw. erfahren, und auch die oben referierten organismischen Konzeptformen reichen hier nicht aus. Bei der Verwendung dieser Wörter beziehen wir uns auf einen »view from nowhere« – auf einen Blick vom »Nirgendwo«, wie der Philosoph Thomas Nagel (1974) in einem berühmt gewordenen Beitrag betonte – ein Blick durch den Filter intersubjektiv vereinbarter Kategorien. Wirklich erfahren können wir nur einzelne Aspekte dieser Abstraktionen, die wir als An-Zeichen für diese Kategorie verwenden. Doch durch die Sprache und die ihr zugrunde liegenden intersubjektiven Diskurse entsteht etwas, was mit Edmund Husserl (1913,22,28/2009) in Abhebung zur Umwelt der Tiere als Lebenswelt bezeichnet wird.3 Die Lebenswelt des Menschen ist somit nicht so sehr durch natürliche Zeichen (im Sinne der oben angeführten Biosemiotik) bestimmt, sondern zusätzlich und vor allem über ein Netzwerk aus kulturell geschaffenen und jeweils intersubjektiv vorgegebenen Symbolen, über die er mit anderen kommunikativ verbunden ist. Was immer die oben geschilderten Personen auf der »Sommerwiese« wahrnehmen, erfahren und erleben mögen: Es ist zwar einerseits nicht »die Sommerwiese«, wie sie als Abstraktum im Lexikon beschrieben wird. Aber andererseits ist die jeweilige Erfahrung und Bedeutungszuweisung auch nicht auf die organismisch vorhandenen Kategorien und Formbildungsprozesse beschränkt. Sondern das Erleben ist immer schon mit Sinn und Bedeutung erfüllt, in der sich die vielfältigen, multi-generationellen und kulturellen Bedeutungsgebungs-Prozesse niedergeschlagen haben. Der Nutzen sprachlicher Symbolsysteme zeigt sich daran, dass beispielsweise Inhalte vermittelt werden (»propositionale Aussagen«), die nicht unbedingt mit einer darauffolgenden Handlung verknüpft sind. Aussagen können sich zudem auf Sachverhalte beziehen, die außerhalb der konkreten Wirklichkeit liegen (z.B.:
3
Zunächst verwendete Husserl in »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie« (Bd. 1 1913, Bd. 2 1922 und Bd. 3 1928, u.a. bearbeitet von Elisabeth Ströker 2009) mit Bezug auf Uexküll den Begriff »Umwelt«. In seinem Spätwerk führte er dann spezifisch für den Menschen den Begriff »Lebenswelt« ein – während der Gestaltpsychologe Kurt Lewin (1927), der wiederum Student bei Cassirer war, in ähnlicher Weise von »Lebensraum« spricht, was wiederum von Alfred Schütz (1974; Schütz u. Luckmann, 1975) für die Sozialwissenschaften ausgedeutet wird).
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»Nächstes Jahr werde ich nicht in die USA reisen« oder gar die Formelsprache der Mathematik). Damit kann, so betont Cassirer, der Mensch anhand der Symbole nicht nur ein faktisches, sondern auch ein ideales, rein im Denken bestehendes Bild seiner Welt entwerfen. Bei der mathematischen Formelsprache oder beim dichterischen Beschreiben möglicher zukünftiger Erlebnisse in fernen Welten mag uns der konstruktive Charakter der Sprache deutlich sein. Cassirer betont aber, dass die symbolischen Formen (weitere) grundsätzliche Strukturierungsprinzipien unserer Lebenswelt darstellen, d.h., »die Welt« (einschließlich unseres Bildes und Verständnisses von uns selbst) wird immer durch diese symbolischen Formen als Kulturwerkzeuge konstruiert. Hier sind somit die subjektiven und intersubjektiven Aspekte dessen, was wir als Realität erfahren, miteinander verwoben. Denn die je subjektiven Erfahrungen der Menschen auf der Sommerwiese im obigen Beispiel nehmen gleichwohl und gleichzeitig an der abstrakten Intersubjektivität von Bedeutungen teil: Die Personen werden sich schnell darin einig, zu sagen, dass sie auf einer »Sommerwiese« sind, dass es viele »Blumen« gibt, diese Wiese »ziemlich groß ist« usw.
3.2
Zur Unterscheidung in 1.- und 3.-Person-Perspektive
Diese Verschränkung von je subjektiver Erfahrung und intersubjektiv-kommunikativer Beschreibungsgemeinsamkeit eröffnet einen interessanten Blick auf Diskurse, welche die Unterscheidung zwischen einer »subjektiven« (oder 1.-Person)Perspektive und einer »objektiven« (oder 3.-Person-)Perspektive zum Thema haben. Meine gefühlten Zahn- oder Magenschmerzen, meine Traurigkeit oder Sehnsucht unterscheidet sich in der Tat prinzipiell von den Beobachtungen und Beschreibungen anderer über meine inneren Zustände oder gar von physiologischen oder medizinischen Parametern (oder Ergebnissen von sog. Gehirn-Scans). Die Unterscheidung zwischen 1.- und 3.-Person-Perspektive hat sogar ihren Niederschlag in unterschiedlich zentrierten Forschungspraxen gefunden – nämlich dem sog. qualitativen/idiographischen im Unterschied zu dem quantitativen/nomothetischen Forschungsansatz. Für viele philosophische und methodische Fragen mag diese Unterscheidung durchaus sinnvoll sein. In anderen Bereichen – beispielsweise lebenspraktischen oder psychotherapeutischen – vernebelt diese Unterscheidung Wesentliches (vgl. Kriz 2017): Denn für das Subjekt steht im Zentrum zunächst intensives Spüren und Erleben (also die 1.-Person-Perspektive). Doch wie mache ich mir als Subjekt dieses, mein Spüren und Erleben, überhaupt zugänglich und verständlich? Gehen wir dieser Frage nach, so wird deutlich, dass unsere Gefühle von Traurigkeit, von Stolz, von Sinnlosigkeit oder Einsamkeit, zwar auf unser ureigenstes Erleben verweisen und daher durch keine Beschreibung, Beobachtung oder gar Messung ersetzt werden können. Gleichwohl beruht aber die Symbolisierung, also das verstehende Ein-
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ordnen unseres Spürens und Erlebens, auf der Verwendung von Wörtern, Begriffen, Kategorien, Bildern, Metaphern, Verstehensprinzipien etc., die aus unserer Kultur stammen. Kurz: Eine verstehende Aneignung seines eigenen subjektiven Erlebens ist für das Individuum nur möglich, wenn es dabei die kognitiven Werkzeuge seiner Kultur verwendet. Damit sind bereits auf elementarer Ebene die 1.-Person-Perspektive und die 3.-Person-Perspektive mit den kulturellen Strukturen, die diese ermöglichen und repräsentieren, miteinander verwoben. Natürlich gibt es beim Menschen auch rein organismisches Erleben so wie auch beim Tier – das ja auch seine Umwelt sowie innere Prozesse wahrnimmt, darauf bewertend reagiert (z.B. mit Flucht, Erstarren, Bellen etc.) und komplexe, situationsadäquate Reaktionssteuerung durchführt. Aber um dieses organismische Erleben selbst zu verstehen – und erst recht, um sich damit anderen verständlich zu machen – bedarf es der Anwendung von Kulturwerkzeugen. Und diese beschränken sich keineswegs auf deiktische Lautverweisungen, mit denen Dinge oder Befindlichkeiten angezeigt werden. Sie beschränken sich auch nicht auf den Bedeutungsgehalt von Wörtern, sondern sie transportieren z.B. über die spezifische Grammatik der indoeuropäischen Sprachen kognitive Einladungen zur Verdinglichung. Unsere sprachlichen Kulturwerkzeuge transportieren ferner Metaphern, Vorstellungen, Verstehensprinzipien und Deutungsmuster, die in unterschiedlichen Gesellschaften und Gruppen (z.B. in Familien) ebenso unterschiedlich wie hoch bedeutsam sein können. Und sie transportieren über Familiengeschichten sowie über kulturelle Narrationen, die gleichzeitig mit der historischen Geschichte der jeweiligen Gesellschaft verwoben sind, weitere Bilder, Prinzipien, Werte usw. Diese vermitteln Wahrnehmungs-, Interpretations-, Denk-, Fühl- und Handlungsprozesse dahingehend, wie man leben und was man fürchten soll, wie man mit Krisen umgeht, oder wofür es sich zu kämpfen lohnt, bzw., wann Flucht, Erstarren oder Resignation angesagt ist. Diese Prinzipien geistern u.a. als implizite Verstehensbilder »der Welt« und »der Anderen« durch die Familien – und sind damit wiederum Basis für die Kulturwerkzeuge, mit denen sich schon das Neugeborene langsam ein Verstehen seines individuellen eigenen Erlebens aneignet – d.h. letztlich ein Verstehen von sich selbst. Daher ist für unsere Alltagspraxis nicht so sehr die Frage nach der Trennung von 1.- und 3.-Person-Perspektive interessant, sondern deren Verwobenheit:4 Die »Welt«, wie sie beschrieben wird (»objektive«/intersubjektive Aspekte), und die »Welt«, wie sie erlebt wird (subjektive Aspekte), sind zwei komplementäre Perspektiven. Beide müssen berücksichtigt werden. Gleichwohl ist der bewusstseinsmäßige Zugriff auf die »Welt«, wie sie erlebt wird (subjektive Aspekte), immer schon sozial-kulturell vermittelt, indem Erfahrung notwendig symbolisiert wird. Daraus 4
Dies ist auch ein zentrales Thema der »Personzentrierten Systemtheorie« (Kriz 2017).
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folgt: Um sich in seinem unmittelbaren Erleben selbst zu verstehen, muss man die Kulturwerkzeuge (auf sich selbst) anwenden.
3.3
Symbolische Formen und die Prästrukturierungen des Social Brains
Neben Sprache sind nach Cassirer vor allem Magie, Mythos, Religion, Recht, Politik, Kunst und Wissenschaft symbolische Formen geistiger Gestaltung. Sie strukturieren Wahrnehmungen, belegen sie mit Bedeutungen und verleihen »der Welt« somit Sinn. Die durch sie jeweils erzeugten Realitäten sind keineswegs deckungsgleich, sondern zeichnen sich sogar durch Spannungsfelder unterschiedlicher »Weltzugänge« aus. Dabei nimmt zwar der Grad an Abstraktion beispielsweise von Magie über Mythos und Kunst zu Wissenschaft beträchtlich zu. Aber nach Cassirer sind sie als gleichwertig anzusehen: »Der Wahrheits- und Wirklichkeitsbegriff der Wissenschaft ist ein anderer, als es der der Religion oder Kunst ist« (Cassirer 1923/1994, S. 24). Anders als die »natürlichen«, d.h. organismischen Konzeptformen sind die kulturellen, also die symbolischen Formen im Sinne Cassirers, als solche nicht evolutionär erworben und damit nicht angeboren – angeboren sind nur wesentliche Grundlagen dafür, dass kulturelle symbolische Formen überhaupt entstanden sind. Damit steht wiederum das ganzheitliche Zusammenspiel beider Konzeptformen im Zentrum. Bereits die Vermittlung und Abstimmung grundlegender Strukturen der Lebenswelt zwischen Neugeborenem und der Elterngeneration setzt voraus, dass die bio-physiologische Struktur des menschlichen Gehirns bereits ab der Geburt wie auch in der weiteren Entwicklung, auf ein Leben in einer sozialen Gemeinschaft hin, ausgelegt ist. In neueren Diskursen wird der Fokus unter dem Begriff »Soziales Gehirn«/»Social Brain« (z.B. Dunbar, 1998; Fuchs, 2008; Adolphs, 2009; Pawelzik, 2013) auf diese notwendige evolutionär entwickelte soziale Ausrichtung des Menschen und speziell seines Gehirns gelegt. Wieder hat auch hier die jüngere Säuglingsforschung zunehmend erstaunliche Leistungen in der Abstimmung zahlreicher organismischer Prozesse zwischen dem Neugeborenem und seiner Mutter belegt (überblicksartige Darstellungen z.B. bereits in Stern, 2005; Trevarthen, 2011). Spätestens seit den Diskursen über die Relevanz der Salutogenese (Antonovsky 1997) ist das starke – und nach allem was wir wissen ebenfalls weitgehend angeborene – Bedürfnis des Menschen in den Fokus gerückt, seine Lebenswelt als eine verstehbare, handhabbare und sinnvoll-bedeutsame zu erfahren. Es geht darum, daraus ein Gefühl der Kohärenz zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Diese Kohärenz bezieht sich nicht nur auf die »Außenwelt« oder auf die Kommunikation mit anderen, sondern auch auf die reflexive Kommunikation mit sich selbst: Beim Verstehen der eigenen inneren Prozesse müssen Subjekte die Kulturwerkzeuge –
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Symbole, Sprache, Erklärungsprinzipien, Metaphern, Narrationen – auf sich selbst anwenden. Der Erwerb dieser Kulturwerkzeuge und ihr Gebrauch, der im Rahmen einer vieljährigen Sozialisation sichergestellt wird, ist über die biologischen Prästrukturierungen des Social Brains hinaus ein Garant dafür, dass komplexe Gesellschaften überhaupt hinreichend zusammenhalten, und die Menschen darin an der gesellschaftlichen Konstruktion der Realität zusammenarbeiten können. Allerdings ist es ein wesentliches Kennzeichen jeder Kultur, den Deutungsraum der Wirklichkeit, die sich dann als »Realität« darstellt, zu begrenzen und Alternativen möglichst auszuschließen (vgl. Berger und Luckmann 1966). Der Nutzen dieser Reduktion liegt darin, in einer vertrauten und sicheren Alltagsrealität Reibungsverluste zu verringern und vieles als »Selbstverständlichkeiten« handhaben zu können. Die Aneignung der kulturellen symbolischen Formen stellt für das Individuum allerdings eine beträchtliche Herausforderung seiner kognitiven Systeme dar. Sind doch nicht nur durch die von Cassirer oft benannten symbolischen Formen (Sprache, Mythos, Religion, Recht, Politik, Kunst und Wissenschaft), sondern auch innerhalb dieser Systeme z.B. durch Formen wie »Ironie«, »Metaphern«, »Metakommunikation« etc. erhebliche Spannungsfelder im »Verständnis der Welt« zu bewältigen. Da liegt es nahe zu fragen, was geschieht, wenn diese Strukturen – und damit zumindest Teile »der Realität« für einen Menschen aufgrund zu großer Spannungen, Verletzungen oder krankhafter Entwicklungen – zusammenbrechen. Diese Frage, die unmittelbar zu theoretisch fundierten Überlegungen über Psychopathologie führen, sprengt den Rahmen dieses Beitrags. Es sei aber zumindest abschließend erwähnt, dass sich Cassirer durchaus mit dieser Frage beschäftigte und bei der Ausarbeitung solcher Konzepte auf die umfangreichen Erfahrungen und Studien von Goldstein zurückgreifen konnte, der als Psychiater und Neurologe mit zahlreichen Hirnverletzten aus dem 1. Weltkrieg gearbeitet hatte. Allerdings waren für Cassirer auch Arbeiten von Finkelnburg (1870) wichtig, der bereits Jahrzehnte zuvor bei der Untersuchung von aphasischen Störungen (Sprachstörungen, die oft auf Unfälle oder Schlaganfälle zurückzuführen sind) den Begriff der »Asymbolie« eingeführt hatte. Er meinte damit den Mangel im Umgang mit abstrakten, im Gegensatz zu konkreten, Kategorien. Dabei gehen im psychopathologischen Prozess Bedeutungen von künstlichen, also konventionellen, Zeichen verloren. Er berichtete von Aphasikern, die nicht imstande waren, Noten oder Münzen richtig zu erkennen, oder auf Anweisung hin das Zeichen des Kreuzes zu machen, auch wenn sie einen christlichen Lebenskontext hatten. Sie waren nicht in der Lage, den Charakter von Symbolen zu erfassen und sie sinngemäß zu verwenden (vgl. Andersch 2010). Wenn das komplexe Symbolgefüge »normaler« Erwachsener zusammenbricht, versucht der Mensch, die nicht mehr möglichen symbolischen Abstraktionen durch Rückgriff auf einfacheres und früheres – d.h. vor allem konkreteres und weniger abstrakt-symbolisches – Sinnverstehen, zu kompensieren.
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So ist beispielsweise bekannt, dass manche Autisten das Bild einer überflogenen oder photographierten Stadtlandschaft bis ins Detail nachzuzeichnen vermögen, aber ihr Mangel an symbolischer Integrationsfähigkeit daran deutlich wird, dass sie vieles wortwörtlich verstehen, weil ihnen die abstraktere Bedeutung nicht zugänglich ist, oder sie »bei der simpelsten Aufgabe versagen, einer solchen Unmenge an Eindrücken eine reduzierende kategoriale Ordnung zu unterlegen (z.B. Straßen von Gebäuden zu unterscheiden)« (Andersch & Barfi 2008, S. 233). Andersch betont daher, dass die Aufgabe des Therapeuten demnach nicht wäre, »die Funktionsweise im alten Zusammenhang wiederherzustellen, sondern den Patienten zu ermutigen, in radikaler Änderung ein neues, ihm selbst angemessenes Equilibrium zu finden« (Andersch & Barfi 2008, S. 221). Es muss allerdings konstatiert werden, dass dieser spannende, aber theoretisch vergleichsweise anspruchsvolle Ansatz der Symboltheorie für das Verständnis von Psychopathologie, noch nicht im Mainstream der Psychiatrie, Klinischen Psychologie und Psychotherapie angekommen ist. Zwar haben 150 Jahre nach Finkelnburgs (1870) Arbeit zur »Asymbolie« aphasischer Störungen immer wieder Forscher – von Cassirer und Goldstein, über Kurt Lewin und Hanscarl Leuner bis hin zu aktuellen Klinikern (s. Andersch 2007, 2014, 2016) – dieses Verständnis von Symbolverlust als zentrales Moment von psychisch-pathologischen Symptomen aufgegriffen. Aber die simplifizierende, symptomatische ICD- und DSM-Diagnostik5 ist für den klinischen Mainstream (derzeit noch) offenbar leichter zu fassen.
4.
Gesamtresümee
Die Welt, die für uns als wahrnehmende, erlebende, fühlende, denkende und handelnde Menschen relevant ist, ist nicht eine Welt aus bedeutungslosen Atomen, Molekülen oder Neuronen, auf die sich Physiker, Chemiker, Neurologen und andere Naturwissenschaftler beziehen. Unsere Lebenswelt ist bedeutungsvoll, sinnhaft, voller Farben und Töne, anmutig und hässlich, gerecht und ungerecht. Doch diese Kategorien, mit denen wir die Welt erfahren, sind Kategorien unseres Geistes –
5
ICD (Abkürzung für: »International Statistical Classification of Diseases and Realated Health Problems«) ist die amtliche Klassifikation der WHO (World Health Organization = Weltgesundheitsorganisation) zur Verschlüsselung von Diagnosen in der ambulanten und stationären Versorgung, die auch in Deutschland (sowohl für organische als auch psychische Krankheiten) verbindlich ist. DSM (Abkürzung für: »Diagnostic and Stastistical Manual of Mental Disorders«) ist speziell für psychische Störungen von der American Psychiatric Association herausgegeben – wird im Bereich psychischer Störungen aber auch in Deutschland, vor allem in Wissenschaft und Forschung, verwendet. ICD und DSM sind in diesem Bereich eng aufeinander abgestimmt.
Konzept-Formen menschlicher Welterfahrung
genauer: Konzeptformen, welche einerseits aufgrund der evolutionär herausgebildeten Struktur unseres Gehirns bereits bei der Geburt bereitstehen und andererseits (auf dieser biologischen Basis aufbauend) in der Soziogenese im Rahmen der Kultur sozial geschaffen und in der Sozialisation vermittelt werden. In der Regel finden diese Formungsprozesse allerdings so statt, dass sie uns in der Alltagswelt weitestgehend verborgen bleiben und wir meinen, es handle sich um Strukturen »der objektiven Welt« (naiver Realismus). Freilich ist unsere phänomenale Welt den Erfordernissen der transphänomenalen Welt recht gut angepasst – sonst hätten wir evolutionär gar nicht überleben können. Es bedarf meist besonderer Umstände – wie sie etwa in den Untersuchungen der Gestaltpsychologen hergestellt werden – damit der Unterschied zwischen unseren alltagsweltlichen Erklärungen der Erscheinungen in der transphänomenalen Welt und den bedeutungsvollen Strukturen unserer phänomenalen Welt überhaupt auffällt, wie den »blinden Fleck« im Auge, den man gewöhnlich nicht bemerkt. Allerdings besteht eine Komplementarität zwischen der Perspektive des Subjekts, welche schon vor rund hundert Jahren im Rahmen der Biosemiotik von v. Uexküll thematisiert wurde, und der Perspektive interpersoneller, »objektiver« Beschreibungen (beispielsweise durch Sprache und Wissenschaft), wie es vor ebenfalls rund hundert Jahren im Rahmen symbolischer Formen von Cassirer in die Diskurse eingebracht wurde. Die »Welt«, wie sie erlebt wird (subjektive Perspektive) und die »Welt«, wie sie beschrieben wird (»objektive«/intersubjektive Aspekte), sind zwei komplementäre Perspektiven. An Beispielen wie »Befindlichkeiten versus Befunde« (Kriz 2017) wird deutlich, dass beide berücksichtigt werden müssen (wie auch die unterschiedlichen symbolischen Formen vom Mythos bis hin zur Wissenschaft bei Cassirer gleichwertig sind). Sie sind zudem miteinander verschränkt: Um mich selbst in meinem innersten Erleben zu verstehen, muss ich die Kulturwerkzeuge auf mich selbst anwenden.6 Als Fazit kann man festhalten: Einerseits belegt die überaus große Fülle aktueller Befunde – besonders aus der Säuglingsforschung – das hohe Ausmaß und die unerwartete Differenziertheit evolutionär erworbener Konzeptformen beim Menschen. Andererseits verweist die Wiederbelebung der Diskurse über Symbolische Formen (Cassirer – aber auch Langer u.a.) auf die zunehmende Bedeutung kultureller Formungsbedingungen. Es scheint daher sinnvoll zu sein, beide Diskursstränge noch stärker miteinander in Beziehung zu bringen.
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Wie diese Verschränkungen systemtheoretisch gefasst werden können, ist Gegenstand der »Personzentrierten Systemtheorie« (Kriz 2017).
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Formen – von Erfahrung Franz Bockrath
1.
Anschauliche Formen
Unter der Überschrift »Glückliches Ereignis« berichtet Goethe über ein Treffen mit Schiller, das zugleich den Beginn einer intensiven Freundschaft markiert. Anlässlich eines Vortrags der Jenaer »Naturforschenden Gesellschaft« im Sommer 1794 kommt es beim Hinausgehen zu einem zufälligen Gespräch zwischen beiden, bei dem man sich schnell darüber einig ist, dass der Vortragende die Pflanzenwelt, über die dieser gesprochen hatte, nur unzulänglich, weil ohne inneren Zusammenhang, dargestellt habe. Kritisiert wird die zerstückelnde Art, mit der die Naturphänomene beschrieben wurden, wodurch das Interesse an den behandelten Gegenständen beim Publikum eher vermindert würde. Goethe, der sowohl seine Naturforschungen als auch seine Annäherungen an die Philosophie nach seiner Rückkehr aus Italien intensiviert hatte, weist seinen Gesprächspartner darauf hin, dass der gesuchte innere Zusammenhang der natürlichen Phänomene bereits durch genaues Hinsehen erfahrbar sei. Schon in der »Italienischen Reise« erwähnte er für diese – im Wortsinn – »Zusammenschau« das Beispiel der Metamorphose der Pflanzen, das hier den Anknüpfungspunkt für das weitere Gespräch der beiden Protagonisten bildet. In einem Brief vom 17. Mai 1787 an Herder schrieb Goethe: »Ferner muß ich dir vertrauen, daß ich dem Geheimnis der Pflanzenzeugung und Organisation ganz nahe bin, und daß es das einfachste ist, was nur gedacht werden kann. […] Es war mir nämlich aufgegangen, daß in demjenigen Organ der Pflanze, welches wir als Blatt gewöhnlich auszusprechen pflegen, der wahre Proteus verborgen liege, der sich in allen Gestaltungen verstecken und offenbaren könne. Vorwärts und rückwärts ist die Pflanze immer nur Blatt, mit dem künftigen Keime so unzertrennlich vereint, daß man eins ohne das andere nicht denken darf. Einen solchen Begriff zu fassen, zu ertragen, ihn in der Natur aufzufinden, ist eine Aufgabe, die uns in einen peinlich süßen Zustand versetzt« (Goethe 1965 a, S. 955 f). Anders als der an Kant geschulte Schiller, der darauf beharrt, dass natürliche Dinge und Phänomene aus sich heraus noch keinen Zusammenhang stiften, sondern der
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Franz Bockrath
Begriffe und Ideen bedürfen, um erkannt zu werden, ist Goethe davon überzeugt, dass man in jedem Blatt den »wahren Proteus« als Urphänomen des Pflanzenhaften anschaulich fassen kann. Angeregt durch die »vielen Pflanzen, die ich sonst nur in Kübeln und Töpfen, ja die größte Zeit des Jahres nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war«, bestimmte die Suche nach der »Urpflanze« sein praktisches Forschungsinteresse schon während seines Italienaufenthalts: »Eine solche muß es doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach einem Muster gebildet wäre« (ebd., 906). Diesen Gedanken vertiefen nun Goethe und Schiller in ihrem Gespräch, ohne wirkliche Einvernehmlichkeit zu finden. Goethe deutet an, »daß es doch wohl eine andere Weise geben könne, die Natur nicht gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Teile strebend darzustellen« (Goethe 1965 d, S. 1231). Er trägt Schiller die »Metamorphose der Pflanzen lebhaft vor« und skizziert »mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze vor seinen Augen«. Schiller lässt sich hiervon freilich nicht beeindrucken und gibt nüchtern zu bedenken: »›Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee‹«. Goethe fährt in seiner Beschreibung fort: »Ich stutzte, verdrießlich einigermaßen; denn der Punkt, der uns trennte, war dadurch aufs strengste bezeichnet«. Doch immerhin gelingt es dem Älteren, mit einer witzigen Bemerkung den gravierenden Einwand des Jüngeren zu kontern, indem die inhaltlichen Differenzen auf eine elegante Weise zugespitzt werden: »›Das kann mir sehr lieb sein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wissen, und sie sogar mit Augen sehe‹« (ebd.). So unterschiedlich die Argumentationen ausfallen, so groß sind doch die heimlichen Verbindungen zwischen ihnen. Goethe und Schiller scheinen zu spüren, dass der jeweils andere eben das zum Ausdruck bringt, woran es der eigenen Überzeugung mangelt. Denn auch wenn beide »sich für unüberwindlich« einschätzen, kann sich keiner »für den Sieger halten« (ebd.). Die Differenzen bleiben bestehen und ziehen sich fortan mächtig an. In einem Geburtstagsbrief an Goethe vom 23. August desselben Jahres bringt Schiller diesen wechselseitigen Respekt deutlich zum Ausdruck: Der »speculative Geist, der von der Einheit«, und der »intuitive, der von der Mannichfaltigkeit« ausgehe, können gar nicht anders als »einander auf halbem Wege begegnen« (Schiller 1938, S. 26). Doch so einfach ist es nicht. Denn während Goethe nach Auffassung Schillers mit den Augen denkt und mit der »richtigen Intuition […] alles und weit vollständiger (erfasst; F.B.), was die Analysis mühsam sucht« (ebd.), ist sich Goethe selbst darüber im Klaren, dass zwischen dem, was Schiller »für eine Idee hielt« und dem, was er »als Erfahrung aussprach, […] irgend etwas Vermittelndes, Bezügliches obwalten« müsse (Goethe 1965 d, S. 1231). Aus diesem Grund plädiert Goethe für eine Schulung des Blicks. Es genügt nicht, einfach hinzuschauen, sondern es geht ihm darum, die gesammelten Erfahrungen als ein vorläufiges »empirisches Gesetz« zu fassen und mit den »künftigen Erscheinungen« (ebd., S. 1233) abzugleichen:
Formen – von Erfahrung
»Passen Gesetz und Erscheinungen in der Folge völlig, so habe ich gewonnen; passen sie nicht ganz, so werde ich auf die Umstände der einzelnen Fälle aufmerksam gemacht und genötigt, neue Bedingungen zu suchen, unter denen ich die widersprechenden Versuche reiner darstellen kann; zeigt sich aber manchmal, unter gleichen Umständen, ein Fall, der meinem Gesetze widerspricht, so sehe ich, daß ich mit der ganzen Arbeit vorrucken und mir einen höheren Standpunkt suchen muß« (ebd.; Hervorhebung F.B.). Der ordnende Verstand dient hier als ein dem Menschen ebenso eigentümliches wie unvollkommenes Instrument zur Erfassung der Natur. Der Verstand schreibt der Natur nicht – wie in Kants bekannter Formulierung – »seine Gesetze« vor (vgl. Kant 1976, S. 79), sondern Goethe vertraut vielmehr der objektiven Güte der einzelnen Phänomene. Wer bereits mit festen gedanklichen Mustern und Ideen an die Natur herantritt, dem geht der freie Blick verloren. Auch wenn Goethe davon ausgeht, dass der »anschauende Begriff dem wissenschaftlichen unendlich vorzuziehen« sei (vgl. Goethe 1889, S. 25), spricht für ihn freilich nichts gegen eine methodisch angeleitete und systematisch geschulte Beschäftigung mit natürlichen Phänomenen. So zeugen insbesondere seine eigenen naturwissenschaftlichen Studien und Reflexionen – zur Farbenlehre und Botanik, zur vergleichenden Anatomie, Physiognomik, Zoologie, Geologie, Mineralogie und Meteorologie sowie zur Wissenschaftslehre – von einem nachhaltigen Interesse an wissenschaftlicher Arbeit und Aufklärung. Allerdings, und dies unterscheidet seinen Zugang von anderen zeitgenössischen philosophischen Ansätzen, bleibt ihm der Anspruch fremd, über die Gegenstände und ihre jeweilige Beschaffenheit allgemein zu urteilen in dem Sinne, dass vor aller lebendigen Erfahrung eine logische Ordnung ihrer Erfahrungsmöglichkeit zugrunde gelegt wird. Sein Ideal ist die sorgfältige Beobachtung: »Dieses wäre also, nach meiner Erfahrung, derjenige Punkt, wo der menschliche Geist sich den Gegenständen in ihrer Allgemeinheit am meisten nähern, sie zu sich heranbringen, sich mit ihnen […] auf eine rationelle Weise gleichsam amalgamieren kann« (Goethe 1965 d, S. 1233 f). Anders als Kant, der im reinen Denken und Anschauen das höchste Prinzip der Möglichkeit sowohl der Erfahrung als auch ihrer Gegenstände sieht, fragt Goethe nicht im transzendentallogischen Sinne »nach Ursachen […], sondern nach Bedingungen, unter welchen die Phänomene erscheinen« (Goethe 1965 d, S. 1234). Diese Art des Zugangs, die nicht am Wesen, sondern an den Wirkungen der Dinge sich bemisst, zielt auf eine »unreduzierte Subjektivität« (Adorno 1977, S. 752), die der lebendigen Erfahrung das größte Recht zuerkennt. Da die »einzelnen Fälle« (s.o.) genommen werden, ohne dass »die Form derselben […] im Gemüte a priori« (Kant 1981, A 20/B 35) bereits als gültig vorausgesetzt wird, gelingt es Goethe nach ei-
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gener Auffassung sehr viel besser, sich den Dingen anzunähern. Wo Hegel von der Freiheit spricht, in der Vermittlung zwischen dem Denken und den Dingen sich dem Gegenstand durch »das reine Zusehen« (Hegel 1999, S. 59) zu überlassen, nähern sich bei Goethe Geist und Gegenstand in den »rektifizierenden Operationen des gemeinen Menschenverstandes, der sich in einer höheren Sphäre zu üben wagt« (Goethe 1965 d, S. 1234). Die Verselbstständigung geistiger Formen und Ideen bleibt Goethe auch deshalb fremd, weil sich die mannigfaltigen Phänomene nicht zur Einheit fügen. Mag auch das Bild der Urpflanze, das er Schiller vor Augen führt, von diesem als »Idee« gefasst werden, so nimmt Goethe dieses Bild als Veranschaulichung des gesuchten Gegenstandes selbst, der vermöge seines angenommenen Objektseins und nicht aufgrund seiner gedanklichen Verallgemeinerung »als etwas« in Erscheinung tritt. Diese Ansicht behält Goethe auch noch bei, als er die Suche nach der Urpflanze längst aufgegeben hat. Denn auch wenn das Urbild selbst nicht aufzufinden ist, bedarf es doch der anschaulichen Vermittlung und Gestaltung durch das Subjekt, dessen Nähe zum Objekt in seinem eigenen Objektsein begründet liegt. Das ist wohl gemeint, wenn Goethe in dem oben wiedergegeben Zitat davon spricht, dass die Gegenstände und der menschliche Geist sich »auf eine rationelle Weise gleichsam amalgamieren«.
2.
Formen der Anschauung
In der »Transzendentalen Ästhetik« spricht Kant von der »reine(n) Form sinnlicher Anschauungen überhaupt […], worinnen alles Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen angeschauet wird« (Kant 1981, A 21/B 35). Gemeint sind damit »Raum und Zeit« als »Prinzipien der Erkenntnis a priori« (vgl. ebd., A 23/B36), die aufgrund ihrer widersprüchlichen – anschaulichen wie erfahrungsunabhängigen – Doppelstruktur der Erkenntnistheorie die denkbar größten Schwierigkeiten bereiten. Ernst Cassirer, der in mehrfacher Hinsicht auf Kant wie auf Goethe gleichermaßen sich beruft, erweitert den kritischen Ansatz durch den zentralen Gedanken Hegels, dass jede Erkenntnis wie auch jede Erkenntniskritik auf ein Vorgängiges sich beziehen muss, das weder rein noch unvermittelt hervorzubringen ist und folglich in die phänomenologische Erfahrung als Form der Reflexion einzubeziehen ist. Doch anders als Hegel, der in der »Versöhnung des Bewußtseyns mit dem Selbstbewußtseyn« (Hegel 1999, S. 429) gleichsam vom Ende her die Versöhnung durch den Geist behauptet, bemüht sich Cassirer im Rahmen seiner »Philosophie der symbolischen Formen« zunächst darum, die verschiedenartigen Weltzugänge mit ihren unterschiedlichen Sinnbezügen als eigene Richtungen beziehungsweise nicht aufeinander reduzierbare Vergegenständlichungen des Geistes zu begreifen. Der Vorteil dieses Zugangs ist darin zu sehen, dass neben begrifflichen Erkenntnissen und Wahrheitsansprüchen auch andere Objekt- und Sym-
Formen – von Erfahrung
bolbereiche mit ihren formspezifischen Besonderheiten Berücksichtigung finden. Dies hat zur Folge, dass den bei Hegel so genannten »Bildungsstuffen des allgemeinen Geistes« (Hegel 1999, S. 25) nicht erst in der »Selbstbewegung des Begriffs« (ebd., S, 48) eine – wie Cassirer sich ausdrückt – »echte und wahrhafte Autonomie« (Cassirer 1994 a, S. 15) zukommt, sondern dass auch begriffslose beziehungsweise vorbegriffliche Erfahrungen und Gestaltungen als eigenständige Formen der Objektivierung aufzufassen sind: »Dies gilt für die Kunst, wie es für die Erkenntnis gilt; für den Mythos wie für die Religion. Sie alle leben in eigentümlichen Bildwelten, in denen sich nicht ein empirisch Gegebenes einfach widerspiegelt, sondern die sie vielmehr nach einem selbständigen Prinzip hervorbringen. Und so schafft auch jede von ihnen sich eigene symbolische Gestaltungen, die den intellektuellen Symbolen, wenn nicht gleichartig so doch ihrem geistigen Ursprung nach ebenbürtig sind« (Cassirer 1994 a, S. 9). Zu den unbestrittenen Leistungen Cassirers gehört sicherlich der Nachweis, dass die bei Kant als allgemeine Erkenntnisvoraussetzungen gefassten Anschauungsformen und Begriffe – wie Zeit und Raum, Substanz und Kausalität etc. – in unterschiedlichen symbolischen Formwelten ihre jeweilige Bedeutung verändern, weshalb er die Aufgabe der Erkenntniskritik konsequent als »Kritik der Kultur« (ebd., S. 11) begreift. Zu fragen ist daher, wie die Vermittlung zwischen dem menschlichen Geist und seinen Gegenständen in kulturphilosophischer Sicht vorzustellen ist, das heißt wie die symbolischen Formen, anstatt auf reinen Anschauungsformen und inhaltsleeren Begriffen zu gründen, als Objektivationen konkret vermittelter Erfahrungen zu begreifen sind. Schließlich macht es einen Unterschied, ob das Material der Anschauung – gleich ob »empirisch oder a priori gegeben« (vgl. Kant 1981, A 77/B 102) –, unter die reinen Formen des Verstandes subsumiert wird, oder ob man sich im Denken dem Gegenstand durch »das reine Zusehen« (Hegel) überlässt, bis beide »auf eine rationelle Weise amalgamieren« (Goethe). Sofern das erst herzustellende »Amalgam« – Goethe bedient sich hier kaum zufällig der alchemistischen Vorstellung einer körperlichen Vereinigung unterschiedlicher Stoffe – die Differenzen zwischen Anschauung und Begriff nicht einfach negiert, wird das Bewusstsein des Unterschieds zwischen den Dingen und dem Denken sogar verstärkt, da es weder in der inhaltsleeren Identität des Geistes noch in der begriffslosen Unverfügbarkeit der Gegenstände sich verliert. In hellsichtiger Voraussicht findet Goethe hierfür in seinem Gespräch mit Schiller die widersprüchliche Formulierung von den »Ideen«, die sich »mit Augen« sehen lassen. Cassirer scheint auf den ersten Blick sogar noch tiefer als Goethe bei dessen Suche nach dem Bild beziehungsweise Abbild der Urpflanze anzusetzen, wenn er schreibt:
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»Was man das sinnliche Bewußtsein zu nennen pflegt, der Bestand einer ›Wahrnehmungswelt‹, die sich weiterhin in deutlich geschiedene einzelne Wahrnehmungskreise, in die sinnlichen ›Elemente‹ der Farbe, des Tons usf. gliedert: das ist selbst bereits Produkt einer Abstraktion, einer theoretischen Bearbeitung des ›Gegebenen‹. Bevor das Selbstbewußtsein sich zu dieser Abstraktion erhebt, ist und lebt es in den Gebilden des mythischen Bewußtseins – in einer Welt nicht sowohl von ›Dingen‹ und deren ›Eigenschaften‹ als vielmehr von mythischen Potenzen und Kräften, von Dämonen und Göttergestalten« (Cassirer 1994 b, S. XI). Beschrieben werden hier die Anfänge des so genannten »mythischen Bewußtseins«, das sich »niemals in einem bloßen Komplex sinnlicher Qualitäten« erschöpft, sondern immer schon »auf einen bestimmten und spezifischen Ausdruckston gestimmt« ist (vgl. Cassirer 1994 c, S. 78). Gemeint ist damit, dass auch unsere Wahrnehmung »niemals ausschließlich auf das ›Was‹ des Gegenstandes gerichtet« ist, sondern ebenso die »Art seiner Gesamterscheinung« erfasst, also etwa »den Charakter des Lockenden oder Drohenden, des Vertrauten oder Unheimlichen, des Besänftigenden oder Furchterregenden« (ebd.). Auch wenn die mythische Welt der Erscheinungen noch keine feste Ordnung besitzt, da das Ausdruckserleben weitgehend durch einzelne Affektionen und jähe Impulse bestimmt ist, bilden sich gleichwohl so genannte »Zentren der Aufmerksamkeit«, die laut Cassirer nach und nach »als deutlich markierte Hauptmomente festgehalten und als solche gewissermaßen mit einem besonderen Akzent versehen werden« (vgl. ebd., S. 135). Festzuhalten ist also, dass der »Ausdrucks-Sinn« – wie Cassirer sich ausdrückt – »an der Wahrnehmung selbst« haftet (vgl. ebd., S. 80), weshalb das »›Verstehen von Ausdruck‹« auch »wesentlich früher ist als das ›Wissen von Dingen‹« (vgl. ebd., S. 74). Der eigentliche Übergang im Ausdruckserleben vom bloßen Ergriffensein zur Formung einer Erlebnisgestalt geschieht dort, wo »eine eigene typische Weise des Bildens« erkennbar ist, »in der das Bewußtsein aus der bloßen Rezeptivität des sinnlichen Eindruckes« heraustritt (vgl. Cassirer 1994 b, S. 20). »Objektiv« ist die Form des Bildens und der Gestaltung insofern, als sie sich vom »Schein einer bloß einseitigen Subjektivität befreit« (ebd., S. 9) und im lebensweltlichen Sinne bedeutsam wird; Cassirer vergisst freilich nicht hinzuzufügen, dass es sich hierbei um eine »Objektivität niederer Stufe« handelt, die – wie etwa im Mythos – »eine ihm eigentümliche ›Notwendigkeit‹ erkennen läßt« (ebd., S. 19). Für unsere Diskussion ist wichtig, dass diese »Notwendigkeit« für Cassirer erst im Zusammenwirken zwischen dem Ausdruckserleben und seiner Gestaltung entsteht, indem bestimmte Wahrnehmungen und Erlebnisse verbunden und dadurch zu Momenten des Bewusstseins werden, die weder in den Dingen selbst noch »in einem Bewußtsein überhaupt« (Kant 1976, S. 56) aufzusuchen sind. Cassirer bezieht sich in diesem Zusammenhang direkt auf Goethe, um die Wechselwirkung zwischen dem »›sinnliche(n)‹ Sehen« und dem »Sehen mit Geistes
Formen – von Erfahrung
Augen« am Beispiel der »Welt der Farben« (Cassirer 1994 c, S. 156) zu erläutern. Für Goethe, dessen Optik und Farbenlehre im Urteil seiner naturkundlichen Zeitgenossen kaum Beachtung fand, gilt das Licht als ein nicht weiter zerlegbares »Urphänomen«, dessen farblichen Abstufungen nicht aus dem Licht selber herzuleiten sind, wie Newton annahm, sondern sich am Licht zeigen, wenn es auf ein anderes Medium stößt. »Jedes Licht, das eine Farbe angenommen hat, ist dunkler als das farblose Licht. Das Helle kann nicht aus der Dunkelheit zusammengesetzt sein« (Goethe 1986, S. 361). Im Unterschied zur physikalischen Zugangsweise, die der Natur in ihren Laboratorien mit eigens dafür konstruierten Instrumenten ihre Geheimnisse abzupressen versucht, sieht sich Goethe selbst als Teil des experimentum mundi. Ihm geht es nicht um das Wesen der Dinge, sondern – wie in seiner Farbenlehre am Beispiel des Lichts verdeutlicht – interessiert er sich vor allem für die spezifischen Merkmale und Wirkungen der untersuchten Phänomene. In zueignender Kleinarbeit widmet er sich der »zarte(n) Empirie, die sich mit dem Gegenstand innigst identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird« (Goethe 1965 b, S. 1236). Dabei sieht er sich durchaus als poetischer Bewahrer und Verteidiger des Lichts, der in doppelter Opposition sowohl gegen die herrschsüchtigen Dunkelmänner der Naturwissenschaft als auch gegen die weltfremden Sonnenanbeter der Metaphysik sich wendet. Beide Richtungen verlieren sich laut Goethe im Unanschaulichen, wogegen er darauf setzt, »das Allgemeine, unter verschiedenen Bedingungen erscheinend«, zu erfassen (vgl. ebd., S. 1237). Diesem Gedanken folgt Cassirer, ohne jedoch die zuweilen polemischen und spöttischen Angriffe Goethes gegen die physikalischen Unzulänglichkeiten sowie metaphysischen Spekulationen im historischen Teil der »Farbenlehre« zu wiederholen. Stattdessen wählt der Kulturphilosoph einen anderen Zugang, indem er sich auf die zeitgenössische Wahrnehmungstheorie bezieht, deren Vertreter – Helmholtz, Hering und Katz – anhand von Beispielen und Experimenten aufzeigen, »daß nicht sowohl ›Empfindungen‹ als vielmehr ›Anschauungen‹, daß nicht Elemente, sondern gestaltete Ganzheiten, die einzigen Data des Bewußtseins bilden« (Cassirer 1994 c, S. 164). Ähnlich wie Goethe geht auch Cassirer davon aus, dass die einzelnen Farbnuancen sich deutlich voneinander unterscheiden und dementsprechend auf einer Farbskala anordnen lassen. Darüber hinaus hebt Cassirer jedoch die jeweilige »Art der ›Sicht‹« beziehungsweise »Ideation« hervor, die erst dafür sorgt, dass »eine einzelne Farbnuance nicht nur schlechthin ›präsent‹, sondern zugleich ›repräsentativ‹« ist (vgl. ebd., S. 156 f): »(D)as hier und jetzt gegebene, das momentane und individuelle Rot z.B. gibt sich uns nicht nur selbst zu eigen, sondern ist uns als ›ein‹ Rot, als Exemplar einer Species, die durch es vertreten wird, bewußt. Es ist einer Gesamtreihe von RotNuancen derart eingebettet, daß es ihr zugehörig und zugeordnet erscheint, und daß es, kraft dieser Zuordnung, die Totalität dieser Reihe zur Darstellung bringt.
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[…] Zu einer neuen Dimension der Darstellung gelangen wir sodann, wofern nicht nur ein individueller Farbeindruck die Farbgattung, der er zugehört, repräsentiert, sondern wo er als Darstellungsmittel für etwas an sich durchaus Heterogenes, für Dingbestimmungen und räumliche Bestimmungen, fungiert. Die farbige Qualität als solche wird jetzt zum bloßen ›Akzidenz‹, das auf seinen Träger, auf das bleibende Substrat, dem es anhaftet, hinweist. Sobald das Bewußtsein dieser ›Weisung‹, dieser Art der ›Ideation‹ folgt, erscheint ihm damit die Farbe selbst, als rein anschauliches Erlebnis, sozusagen in einem anderen Licht: die neue Form der ›Sicht‹ macht anderes an ihr ›sichtig‹« (ebd., S. 157 f; Hervorhebung im Original). Der Begriff der »Ideation« verweist wenigstens indirekt auf die »phänomenologische Wesensschau« (Husserl), welche die empirisch-kontingenten Eigenschaften eines Gegenstandes qua gedanklicher Überschreitung in die reinen Evidenzen des logischen Bewusstseins zu übersetzen versucht. Angezeigt wird damit zugleich die Richtung der »Philosophie der symbolischen Formen«, wonach die Phänomene zuletzt in ihrer reinen Bedeutungsfunktion in nicht weiter reduktible Formen und Gesetze sich zusammenfügen sollen. Auf der Ebene der Farbwahrnehmung ist diese Richtung für Cassirer noch dadurch bestimmt, dass »eben diese eigentümliche Selbstgenügsamkeit, diese ›Autarkie‹ der Farbe (fort fällt; F.B.), sobald wir sie nicht mehr in ihrem bloßen ›an sich‹ nehmen, sondern sie als Darstellungsmittel, als ›Zeichen‹ benutzen« (ebd., S. 158). Bei diesem Übergang vom spezifischen Ausdruckscharakter einer Farbe zur Verwendung als Darstellungsmittel oder Zeichen verändert sich zugleich ihre Bedeutung: »so kann jetzt auch die einzelne Farberscheinung je nach dem Zusammenhang, in dem wir sie nehmen, sehr Verschiedenes ›besagen‹« (ebd.). Während im mythischen Denken Bild und Sache noch nicht getrennt sind, kommt es beim darstellendem Zeichengebrauch nicht nur zu einem »Wechsel des Bezugspunkts«, sondern auch zu einem »Wandel im Phänomen« (vgl. ebd., S. 159). Wenn Goethe etwa die »sinnlich-sittliche Wirkung« der Farbe Rot sowohl mit der »Würde des Alters« als auch mit der »Liebenswürdigkeit der Jugend« umschreibt (vgl. Goethe 1965 c, S. 176) und darauf hinweist, dass unser Auge, wenn es diese Farbe erblickt, in Tätigkeit versetzt wird, »eine andere, so unbewußt als notwendig, hervorzubringen, welche mit der gegebenen die Totalität des ganzen Farbenkreises enthält« (ebd., S. 177), geht Cassirer noch einen Schritt weiter. Nicht nur die physiologischen, sittlichen oder ästhetischen Wirkungen der Farbe im Sinne ihres »Ding-Eigenschafts-Zusammenhangs« (Cassirer 1994 c, S. 160), sondern ihre veränderliche Bedeutung in einem »anderen Gesamtkomplex« (vgl. ebd., S. 164) findet sein Interesse. So eignen sich etwa die durch ein Prisma erzeugten Farbphänomene zur Erklärung der Lichtbrechung, bei der die anschaulichen Farbstrukturen zur »Darstellung eines Kausalzusammenhangs« (ebd., S. 160) dienen und eine andere »Bedeutungsrelevanz« (ebd., S. 158) erhalten. Zwar wird bei diesem Perspek-
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tivwechsel der Rahmen der Anschauung nicht verlassen; es stellt sich jedoch die grundsätzliche Frage, wie die »Wechselbeziehung von Darstellendem und Dargestelltem« (ebd., S. 160 f) vorzustellen ist, wenn der Bezugspunkt der Betrachtung sich verändert und nicht mehr einzelne »Elemente, sondern gestaltete Ganzheiten« (ebd., S. 164) in den Blick genommen werden. Anders als für Schiller wäre für Goethe ein solcher Wechsel des Bezugspunktes sicherlich problematisch. Auch wenn, wie gesehen, Goethes Schulung des Blicks darauf abhebt, die gesammelten Erfahrungen als ein vorläufiges »empirisches Gesetz« (s.o.) zu fassen, bleibt der von Cassirer so genannte »Ding-EigenschaftsZusammenhang« (s.o.) für diesen Autor unhintergehbar. Das für Schiller skizzierte Bild einer »symbolischen Pflanze« ist für Goethe keine bloß kontingente Darstellung einer längst vergangenen Spezies, sondern eine konkrete Veranschaulichung dessen, was nach seiner Ansicht in jeder Pflanze gegenwärtig ist. Gerade dadurch widersteht Goethe der Gefahr, aus dem Kreis der Anschaulichkeit herauszutreten. Während Schiller vermutlich der Auffassung Cassirers gefolgt wäre, dass die »›Einheit des Gegenstandes‹« entscheidend abhängig ist von »der Richtung der Betrachtung und […] dem ideellen Ziel, auf das diese hinblickt« (vgl. Cassirer 1994 c, S. 160), hätte Goethe wohl die Unzulänglichkeiten so genannter »Ideationen« hervorgehoben, die nicht nur den Blick auf die besonderen Eigenschaften der untersuchten Phänomene entleeren, sondern auch die Teilhabe am Prozess ihrer kreativen Nachbildung verhindern. So wenig die Wirkungen des Lichts sein Wesen offenbaren, so wenig zielt das Abbild der Urpflanze auf diese selbst. Dem Auge bleibt nur der Abglanz der von Goethe so bezeichneten »Urphänomene« der Natur und des Lichts, dessen anschaulicher Charakter jedoch allein den Zusammenhang unserer Erfahrungen verbürgt: »Denn da der Beobachter nie das reine Phänomen mit Augen sieht, sondern vieles von seiner Geistesstimmung, von der Stimmung des Organs im Augenblick, von Licht, Luft, Witterung, Körpern, Behandlung und tausend anderen Umständen abhängt, so ist ein Meer auszutrinken, wenn man sich an Individualität des Phänomens halten und diese beobachten, messen, wägen und beschreiben will« (Goethe 1965 d, S. 1233).
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Der symboltheoretischen Feststellung, dass der anschauliche »Ding-EigenschaftsZusammenhang« im Zeichengebrauch sich als variabel erweist, entspricht realiter
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Bei den nachfolgenden Ausführungen werden einzelne Überlegungen aus der »Einleitung« zu Bockrath 2014 (S. 11-53) übernommen und inhaltlich weitergeführt.
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eine arbeitsteilige Dynmaik, bei der das positive Denken seine mühsam errungenen Autonomieansprüche gegenüber allem Sachhaltigen mit Nachdruck durchsetzt und verteidigt. Bei Cassirer äußert sich diese Haltung in dem systematischen Anspruch, die sich wandelnden symbolischen Formen und Formverhältnisse auf ein geistiges Prinzip der Formbildung als »in sich geschlossenes und einheitliches Grundverfahren« zu beziehen, um »den allgemeinen Charakter symbolischer Gestaltung« bestimmen zu können (vgl. Cassirer 1983, S. 174). Auch wenn das geistige Prinzip selber der theoretischen Systematisierung entzogen bleibt und nur an den Äußerungen des Geistes ablesbar sein soll, ist es laut Cassirer als unverzichtbar vorauszusetzen: »Denn verzichtet man auf diese Einheit, so scheint überhaupt von einer strengen Systematik dieser Formen keine Rede mehr sein zu können« (Cassirer 1994 a, S. 16). Spätestens die Analyse der »Bedeutungsfunktion« beim »Aufbau der wissenschaftlichen Erkenntnis« (vgl. ebd., S. 329 ff) zeigt, dass Cassirer den am naturwissenschaftlichen Modell herausgearbeiteten Übergang vom »Substanzdenken« zum »Funktionsdenken« (vgl. Cassirer 1994 d) ebenso für das eigene Denken als maßgeblich ansieht. Da jedoch das geistige Vermögen in seinen symbolischen Gestaltungen und Objektivierungsformen nie ganz aufgeht, bleibt auch die Vermittlung von »Sinnlichem und Geistigem« (Cassirer 1994 a, S. 299) äußerlich. Zwar entspricht laut Cassirer in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis das Fortschreiten zu »immer allgemeineren Symbolen«, denen »keine bestimmte Einzelerfahrung jemals kongruieren kann«, den Anforderungen, die an »ein allgemeines Aufbaugesetz des Geistes« (vgl. Cassirer 1994 c, S. 560) zu stellen sind. Gleichwohl wird ebenso deutlich, dass die mathematische Zahl oder Formel, als die höchst mögliche Form der Objektivität, nur noch einen blassen beziehungsweise inhaltsleeren Hinweis auf die »›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen« (ebd., S. 109) zu geben vermag. Für das auf seine wissenschaftliche Form eingeschränkte Denken gilt das, was Adorno dem philosophischen Gedanken vorhält, der sich der »wissenschaftlichen Kontrolle und Selbstkontrolle« unterwirft: »Indem er wahrer wird, verzichtet er auf die Wahrheit« (vgl. Adorno 1956, S. 51). Anstatt »Manifestation und Inkarnation eines Sinns« (Cassirer 1994 c, S. 109) zu sein, entleert sich die »strenge Gesetzlichkeit der Form« in ihrer »objektive(n) Beschaffenheit« (ebd., S. 534) schließlich selbst. Als »logische Form« (ebd.), die doch Form von etwas sein soll, verweist das Denken nur mehr auf sich selbst zurück. Die reine Tätigkeit, die bei Cassirer auf das geistige Prinzip der symbolischen Formbildung gegründet ist, das in den logischen Selbstsetzungen als vermeintliches Höchstmaß möglicher Objektivität zugleich seine Grenze findet, kommt nicht zur inhaltlichen Anschauung. Dort, wo die geistigen Formen mit dem anschaulich Gegebenen konkret vermittelt sind, tragen sie den »Charakter der naturhaften Notwendigkeit« (Cassirer 1994 b, S. 31). Die »eigentliche Kraft des Logos« (ebd., S. 33) entfaltet sich laut Cassirer erst, wenn das »Dingmoment und das Bedeutungsmo-
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ment« (ebd., S. 23) auseinandertraten, das heißt mit anderen Worten: wenn »die Gesamtheit des Sinnlichen« als »das eigentliche Feld der Offenbarung des Geistigen« (ebd., S. 140) erkannt wird. Verändert man jedoch die idealistische Voraussetzung, wonach symbolische Formen und Gestalten allein aus geistiger Produktivität und reiner Tätigkeit entspringen sollen und nimmt man stattdessen das symbolisch Erzeugte als durch »anschauliche Erfahrung und Tätigkeit« (Goethe) Vermitteltes, dann erscheint »die letzte Schicht der Objektivität« des logischen Ordnungsdenkens nicht als »Schlußstein« (vgl. Cassirer 1994 c, S. 554), sondern vielmehr als das seiner eigenen Voraussetzungen unbewusste Wissen. Unbewusst deshalb, weil das reine Denken nicht erkennt, dass seine Tätigkeit am Objekt nichts übriglässt, als was ihm vom Subjekt gegeben wird, wohingegen das Subjekt selbst sich auf etwas notwendig beziehen muss – »und ›etwas‹ bezeichnet ein irreduzibel objektives Moment« (Adorno 1977, S. 747) –, um überhaupt tätig werden zu können: »Aus Subjekt, gleichgültig, wie es bestimmt werde, läßt Seiendes nicht sich eskamotieren« (ebd.). Nun ließe sich einwenden, dass gerade die »›Mehrdimensionalität‹ der geistigen Welt« (Cassirer 1994 c, S. 64) sowie die ihr korrespondierende Vielfalt der symbolischen Formen und Formwelten Cassirer dazu veranlassen, sich mit den »verschiedene(n) Richtungen der geistigen Formung« (ebd., S. 66) auseinander zu setzen, die qualitativ ebenso »verschiedene Arten der Sinngebung in sich schließen« (ebd., S. 67). Gleichwohl dominiert bei diesem Vorhaben der Konstitutionsgedanke, der bis »zu den primären subjektiven ›Quellen‹, zu den ursprünglichen Verhaltensweisen und Gestaltungsweisen des Bewußtseins zurückdringen will« (ebd.), um den Gehalt des Geistigen in all seinen Äußerungen zu erfassen, anstatt ihn am Gegeben selbst aufzuschließen. Und in diesem Sinne erscheint es sogar konsequent, wenn Cassirer angesichts reiner Bedeutungsbestimmungen und Objektivitätsvorstellungen in der theoretischen Physik zu dem Schluss gelangt: »Was wir den Gegenstand nennen, das ist nicht länger ein schematisierbares, ein in der Anschauung realisierbares ›Etwas‹ mit bestimmten räumlichen und zeitlichen Prädikaten, sondern es ist ein rein gedanklich zu erfassender Einheitspunkt« (Cassirer 1994 c, S. 554). Hier zeigt sich weit mehr als ein bloßer »Rest-Neukantianismus« (vgl. Schwemmer 1997, S. 40). Das animal symbolicum erzeugt die objektive Welt ganz aus seinem Geiste – und vom Gegenstand als solchem bleibt nur »ein bloßes X, ›worauf in bezug Vorstellungen synthetische Einheit haben‹« (Cassirer 1994 c, S. 554). Bewusstsein und Gegenstand fallen bei Cassirer in abstrakter Einheit zusammen. Dem lässt sich nicht einfach entgegenhalten, dass beide stattdessen im Konkreten identisch sind. Umso nachdrücklicher ist daher zu insistieren, dass die symbolischen Formen anschaulich vermittelt sind und nicht im geistigen Tun ihren Ursprung oder Abschluss haben. Von einer »Wechselbestimmung des Sinnlichen durch das Geistige, des Geistigen durch das Sinnliche« (Cassirer 1994 a, S. 299) kann schließlich nur gesprochen werden, wenn »das Moment von Subjektivität im Objekt« (Adorno
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1973, S. 172) sich auch auf das besinnt, was in der Begriffstotalität wissenschaftlicher Erkenntnis nicht aufgeht. Denn: »Was die Tatsachen vermittelt, ist gar nicht so sehr der subjektive Mechanismus, der sie präformiert und auffasst, als die dem Subjekt heteronome Objektivität hinter dem, was es erfahren kann« (ebd.). Goethe, dem sein anschauliches Gespür für die »heteronome Objektivität« und eigenständige Kraft schöpferischer Gestaltungen zeitlebens nicht verloren ging, blickt äußerst kritisch auf die »Leistungen der Wissenschaft« und ihre eingeforderten Besitzansprüche, die um so größer ausfallen, je abstrakter und isolierter ihre Erkenntnisse sind. In seinen »Schriften zur Wissenschaftslehre« bekennt er sich gleichwohl zum »Abenteuer der Vernunft« (Goethe 1965 d, S. 1240). Dabei bezieht er sich auf die Kantische Idee eines »intuitiven Verstandes«, der eine »zweckmäßige Einheit […] aller unserer objektivgültigen Erkenntnis« verspricht (vgl. Kant 1981, A 649 f/B 722 f). Sieht Cassirer in seiner Deutung des intellectus archetypus – ganz im Sinne von Kant und entgegen der bei diesem nur idealtypisch gefassten Aussicht, vom synthetisch Allgemeinen zum Besonderen gehen zu können –, die wesentliche Aufgabe darin, das Material »durch die Formen der Erkenntnis« zu begreifen, dass »doch niemals vollständig aus ihnen abgeleitet werden kann« (vgl. Cassirer 1974, S. 365), setzt Goethe auf die Möglichkeiten der Vermittlung und Selbstbesinnung: »Zwar scheint der Verfasser (Kant; F.B.) hier auf einen göttlichen Verstand zu deuten, allein wenn wir ja im Sittlichen, durch Glauben an Gott, Tugend und Unsterblichkeit uns in eine obere Region erheben und an das erste Wesen annähern sollen: so dürft‹ es wohl im Intellektuellen derselbe Fall sein, daß wir uns, durch das Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teilnahme an ihren Produktionen würdig machten« (Goethe 1965 d, S. 1240; Hervorhebung F.B.). Während also bei Cassirer aufgrund fehlender Anschauungen und Vermittlungen die »schaffende Natur« unerreichbar bleibt und gemessen am systematischen Erkenntnisanspruch nur als unendliche Aufgabe zu begreifen ist, erkennt Goethe den Vorrang des Objekts an, das als etwas Konkretes nur erfahrbar ist, wenn es nicht sogleich unter die verselbstständigten Formen und Gesetze des reinen Denkens subsumiert wird. Erst wenn »der Mensch sich zu bescheiden« (ebd., S. 1234) weiß und sich der eigenen Erfahrung anvertraut, eröffnet sich die Aussicht, die Phänomene selbst sprechen zu lassen und in reflexiver Teilnahme anschaulich präsent zu halten. In dieser passiv-spontanen Art des Zugangs steckt weit mehr »Reflexion auf die Sache« (Adorno 1977, S. 741) als in jedem allgemeinen »Aufbaugesetz des Geistes« (Cassirer 1994 c, S. 560).
Formen – von Erfahrung
Literatur Adorno, T. W. (1956): Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die phänomenologischen Antinomien. Stuttgart. Adorno, T. W. (1973): Negative Dialektik. In: Gesammelte Schriften. Bd. 6. Frankfurt a.M. Adorno, T. W. (1977): Zu Subjekt und Objekt. In: Gesammelte Schriften. Bd. 10.2. Frankfurt a.M. Bockrath, F. (2014): Zeit, Dauer und Veränderung. Zur Kritik reiner Bewegungsvorstellungen. Bielefeld. Cassirer, E. (1974): Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Dritter Band: Die nachkantischen Systeme. Darmstadt. Cassirer, E. (1983): Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften. In: E. Cassirer: Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Darmstadt. Cassirer, E. (1994 a): Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache. Darmstadt. Cassirer, E. (1994 b): Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken. Darmstadt. Cassirer, E. (1994 c): Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phänomenologie der Erkenntnis. Darmstadt. Cassirer, E. (1994 d): Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik. Darmstadt. Goethe, J. W. (1965 a): Italienische Reise. In: P. Stapf (Hg.): Goethe. Werke in acht Bänden. Bd. 5. Wiesbaden. Goethe, J. W. (1965 b): Maximen und Reflexionen. In: P. Stapf (Hg.): Goethe. Werke in acht Bänden. Bd. 5. Wiesbaden. Goethe, J. W. (1965 c): Schriften zur Farbenlehre. In: P. Stapf (Hg.): Goethe. Werke in acht Bänden. Bd. 8. Wiesbaden. Goethe, J. W. (1965 d): Schriften zur Wissenschaftslehre. In: P. Stapf (Hg.): Goethe. Werke in acht Bänden. Bd. 8. Wiesbaden. Goethe, J. W. (1986): Brief an Jacobi vom 15.Juli1793. In: Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchener Ausgabe. 20 Bde., Bd. 4.2. München. S. 361-362. Goethe, J. W. (1989): Brief an den Herzog von Gotha vom 27. Dezember 1780. In: Goethes Werke (Weimarer Ausgabe). IV. Abteilung, 5. Band. Weimar. S. 20-28. Hegel, G. W. F. (1999): Phänomenologie des Geistes. In: Hauptwerke in sechs Bänden. Bd. 2. Hamburg. Kant, I. (1976): Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Hamburg.
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Kant, I. (1981): Kritik der reinen Vernunft. In: Werke in zehn Bänden. Bd.3/4. Darmstadt. Kroner, R. (1977): Von Kant bis Hegel. 2 Bde, Bd. 1. Tübingen. Schiller, F. (1938): Briefe 1794-1795. In: G. Schulz (Hg.): Schillers Werke. Nationalausgabe. Bd. 27. Weimar. Schwemmer, O. (1997): Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Moderne. Berlin.
Formen – von Bewegung Elk Franke
Einleitung Die Frage, wie körperliche Bewegungen sinnvoll wahrgenommen werden können, scheint trivial zu sein, machen wir doch diese Erfahrungen seit Kindertagen in vielfältiger Weise. Als Vertrautes erscheinen sie in ihrer Selbstverständlichkeit nicht erklärungsbedürftig und erhielten deshalb lange wenig Aufmerksamkeit. Erst die Funktionalisierung und Optimierung von Bewegungsabläufen in den Arbeitsprozessen der Neuzeit machte zunehmend auch eine systematische Bewegungsforschung notwendig. Aktuell ist sie insbesondere in der Arbeitswissenschaft, der Rehabilitationsforschung und im Leistungssport etabliert. Wobei die dort entwickelten Deutungsmuster in der Regel ein gleichartiges Ziel haben: die Optimierung von Bewegungsabläufen aus verschiedenen Zwecküberlegungen. Mit der Folge, es werden zwar die Umstände und Ergebnisse von Bewegungen, als Mittel zur Erreichung dieser Zwecke, analysiert, aber selten die Voraussetzungen, die eine Bewegung zu einer Bewegung machen. Stellt man die Frage in dieser prinzipiellen Weise, zeigt sich, dass sie bisher eher ein Problem der Philosophie ist als der genannten Anwendungswissenschaften, da diese den Gegenstand in der Regel schon voraussetzen, wenn sie ihn erforschen. Aus philosophischer Sicht erweist sich die Bewegung, wie u.a. Franz Bockrath (2014) in einer umfangreichen Untersuchung zeigt, als ein Phänomen, das schon in der Antike zu heftigen Kontroversen führte. Beispielhaft dafür ist die Auseinandersetzung zwischen Zenon und Aristoteles über einen angenommenen Laufwettbewerb von Achilles mit einer Schildkröte.1 Auch in der Neuzeit wurde die Frage, was das »Bewegliche« einer Bewegung ist und wie diese »Prozesshaftigkeit« erfasst werden kann von Immanuel Kant (1766/1981) Georg Wilhelm Friedrich
1
Der Grundgedanke von Zenon ist, dass die Möglichkeit von Bewegungen (sowohl in kontinuierlicher als auch sukzessiver Form) bestreitbar ist. Im Achillesbeispiel läuft dieser gegen eine mit Vorsprung gestartete Schildkröte, die er niemals erreichen kann, denn er muss als Verfolger erst einmal dahin kommen, wo der Fliehende schon gewesen ist, mit der Folge, dass dieser immer schon ein kleines Stück weiter ist. (vgl. F. Bockrath 2014, S. 57-82.).
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Elk Franke
Hegel (1833), Henri Bergson (1912), Ludwig Klages (1950), Maurice Merleau-Ponty (1966) u.a. in unterschiedlichen Theorieansätzen bearbeiten. Als eine besondere Schwierigkeit erweist sich dabei die Tatsache, dass einerseits die diskursive Erfassung der Prozesshaftigkeit der Bewegung als Bewegung nur begrenzt über die dabei relevanten Basisbedingungen Raum und Zeit erfasst werden kann, andererseits aber auch am Beispiel der körperlichen Bewegung deutlich wird, in welcher Weise zwischen dem physiologischen Ereignis »Bewegung« und der sinn-vollen Erfahrung des sich Bewegens unterschieden werden sollte2 . Um diesem Anspruch aus einer Analyseperspektive gerecht werden zu können, soll im Folgenden der Gegenstand bzw. das Phänomen »Bewegung« unter Bezug auf zwei Begriffe, den der »Form« und den des »Wissens« untersucht werden. Ausgehend von der Kernaussage in der Philosophie der symbolischen Formen Ernst Cassirers »Wir können nicht nicht-geformt wahrnehmen«, wird in mehreren Schritten erläutert, welche grundsätzliche Bedeutung der Begriff der Form und der des (impliziten) Wissens für die Bedeutung und Tradierung von Bewegungen haben kann, und welche Möglichkeiten sich dabei für deren Rekonstruktion durch digitale Medien ergeben.
1.
Von der Form der Bewegung – zur Bewegung als Form
1.1
»Äußere« Bewegungsformen – Ausdruck »innerer« Einstellungen?
Seit den Anfängen der Philosophie wurde das Problem der Bewegung als eine besondere dialektische Spannung von Einheit und Vielheit, Seiendem und Nichtseiendem, Unveränderlichkeit und Veränderlichkeit gedeutet, bevor es in der Neuzeit seine mechanische Bedeutung als Ortsveränderung in der Zeit erhielt. Methodologisch ergibt sich die Schwierigkeit, den zeitlichen Prozess der Bewegung angemessen zu erfassen, wenn die Bewegung nicht auf die jeweilige Differenz der räumlichen Messpunkte begrenzt wird, die selbst wiederum nicht prozesshaft-zeitlich sind.3 Der Begriff der Form hat neben seiner allgemeinen materialen Gestalt- oder Stoffbedeutung seit dem 18. Jahrhundert auch eine besondere Bedeutung in der Kunst- und Literaturbetrachtung erhalten. Dabei wurde in der Ästhetik des deutschen Idealismus ein enges Wechselverhältnis von Inhalt und entsprechender Ausdrucks-Form angenommen. Bezugnehmend auf Überlegungen dazu von Aristoteles, die man später als »Hylemorphismus« – ein Dualismus von Form und Stoff – bezeichnete, wurde die er2 3
Vgl. E. Franke (2001). Vgl. u.a. E. Franke (2004, S. 109f.).
Formen – von Bewegung
kennbare Entsprechung von Form und Inhalt eines Oeuvres (Lyrik, Prosa, Kunstwerk etc.) für dessen Qualität maßgeblich. Entscheidend in Werkinterpretationen und Ästhetiken ist dabei die Bewertung des korrelativen Bezugs beider, der sowohl für die Beurteilung des Inhalts als auch der Form sowie für den Gesamtaufbau eines Werkes von zentraler Bedeutung ist. Zeitgleich zu entsprechenden Diskursen in der Literaturwissenschaft gab es auch ähnliche Annahmen und Bestrebungen im Bereich der sich etablierenden Leibesübungen im 19. Jahrhundert. Oft in analoger Weise wurde dabei von einer Form-Inhalt-Relation körperlicher Bewegungen nach dem Muster ausgegangen: In Bewegungsformen zeigen sich einerseits charakterliche Haltungen und andererseits lassen sich über Haltungen Bewegungen formen und gestalten. Die Leibesübungen zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden dadurch zu einem exponierten Beispiel für die weitreichenden ideologischen Möglichkeiten, Bewegungs-Formen einen bestimmten historisch-politischen oder spezifischen pädagogischen Gehalt zuzuweisen. Wegweisend war dabei die Turnbewegung in der Hasenheide in Berlin, wo den turnerischen Bewegungsformen durch Friedrich Ludwig Jahn immer auch eine vaterländische Gesinnung zugeschrieben wurde4 . Neben allgemeinen gesundheitlichen Erwartungen, die zur Etablierung des Turnens bzw. der Leibesübungen als Schulfach führten, sind es vor allem die ideologischen Inhalte, die nicht nur bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin5 oder in der Zeit des kalten Krieges durch die »Diplomatie im Trainingsanzug« besonders offensichtlich wurden, sondern auch die scheinbar unbegrenzte Werbefähigkeit des Sports im aktuellen kommerziellen Sportbetrieb, die letztlich auf eine Korrelation von LeistungsForm und Produkt-Qualität vertrauen.6 Neben diesen gesellschaftspolitischen, wirtschaftlichen und pädagogischen Erwartungen an die Formungsbedingungen körperlicher Bewegungen, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, gibt es auch einen eher erkenntnistheoretischen Diskurs. Kennzeichnend für ihn ist, dass dort nicht die Wirkung von Bewegungsformen, sondern die Voraussetzungen analysiert werden, durch die Bewegungen zu Bewegungen werden, wobei der Begriff der Form eine andere Bedeutung erhält. Unter »Form« werden in Abgrenzung zum ästhetisch-performativen Begriffsgebrauch nicht bestimmte (äußere) Bewegungsarten, also spezifische Ausdrucksformen z.B. im Turnen, dem Tanz etc. verstanden, sondern der Verweis auf die Form einer Bewegung ist als Hinweis auf die Formungsbedingungen zu verstehen, was u.a. Oswald Schwemmer mit Bezug auf Ernst Cassirer hervorhebt:
4 5 6
Vgl. M. Krüger (1993). Vgl. T. Alkemeyer u.a. (Hg.) (1986). Vgl. H. Lenk (1972).
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»Eine solche Formbildung stellt sich für unsere Wahrnehmungen im Allgemeinen ein, so für unser Sehen, Schmecken, Tasten, Riechen. Etwas als etwas wahrzunehmen, ist dabei mit verschiedenen Formen der Formbildung verbunden. […] Formen werden in diesen Fällen nicht durch Abgrenzungen erreicht, wohl aber durch Differenzierungen z.B. durch die Entdeckung korrespondierender Nuancen. […]. Formen, so wäre dieser Gedanke zusammenzufassen, sind Korrespondenzverhältnisse, die wir im korrespondierenden Erfassen als eine Dynamik des Wahrnehmens erleben, die sich ihrerseits über korrespondierende Momente entwickelt« (Schwemmer 2011, 125). Schwemmer skizziert damit ein Verständnis des Formbegriffs, für das in einem anderen Zusammenhang in ähnlicher Weise schon Ludwig Wittgenstein plädiert, wenn er anschaulich beschreibt, wie trotz vielfältiger Begriffsverwendungen von einer übergeordneten »Familienähnlichkeit« eines Begriffs ausgegangen werden kann: »Wie wir beim Spinnen eines Fadens Faser an Faser drehen. Und die Stärke des Faden liegt nicht darin, daß irgendeine Faser durch seine ganze Länge läuft, sondern darin, dass viele Fasern ineinander übergreifen« (Wittgenstein 1967, § 67). Entsprechend dieses erweiterten korrespondierenden Begriffsverständnisses geht es im Folgenden beim Gebrauch des Wortes »Form« im Zusammenhang mit Bewegungen immer auch um die Überwindung alltagssprachlicher, objektgebundener oder formaler Deutungsmuster, wobei die Aussagen Ernst Cassirers zu symbolischen Formen und handlungstheoretische Überlegungen von Oswald Schwemmer als Orientierung dienen.7
1.2
Das Verhältnis von Ereignis und Form
Die erkenntnistheoretische Frage, die sich bei der Erfassung einer Bewegung als Bewegung stellt: »Wie nehmen wir etwas (z.B. eine körperliche Bewegung) wahr, wenn wir es wahrnehmen?« beantwortet Ernst Cassirer auf fundamentale Weise: »Nicht anders als durch das Medium der Form. Das ist die Funktion der Form, dass der Mensch, indem er sein Dasein in Form verwandelt, d.h. indem er alles, was Erlebnis in ihm ist, nur umsetzen muss in irgendeine objektive Gestalt« (Cassirer 1929 in Davos in M. Heidegger 1977, S. 286). Neben Alfred North Whitehead (1971) ist es das Verdienst Cassirers, dass die Diskussion über die Fragen der Wahrnehmung, Erkenntnis und des Verstehens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine zukunftsweisende Erweiterung erhält. So zeigt Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen auf überzeugende
7
Vgl. dazu E. Franke (2003).
Formen – von Bewegung
Weise, dass der Mensch immer nur »in Formen« wahrnehmen bzw. die Wahrnehmung vergegenwärtigen kann, wenn er betont: »Dieser Akt der ›Rekognition‹ ist notwendig an die Funktion der ›Repräsentation‹ gebunden und setzt sie voraus […] nur dort heben wir sie aus dem Strome des zeitlichen Werdens heraus« (Cassirer 1994, III, S. 133.) Für Oswald Schwemmer ist dies »eine Transformation des in seiner Erlebnisgegenwart aufgehenden Wahrnehmungs-bzw. allgemeiner Bewußtseinserergnisses in eine Ereignisform […] Als eine solche Form ist sie nicht mehr an diese Erlebnisgegenwart gebunden […] Bewußtseinsereignisse sind bereits Ereignisformen, allerdings von körperlichen bzw. nicht bewußten Ereignissen« (Schwemmer 1997a, S. 90), die alle körperlichen Sinneseindrücke umfasst. Das bedeutet, dass neben der bis dahin in der kantischen Tradition favorisierten Sprache als Ordnungsfaktor auch Bildern, Ritualen oder Mythen und, wie gezeigt werden soll, auch erlebter Musik und Bewegungen, als geformte Erfahrungen im Mensch-Weltverhältnis, Wahrnehmungs- und Erkenntnisfunktionen zugesprochen werden können. Susanne K. Langer (1965) hat die daraus sich ergebende Perspektive eines vorund außersprachlichen Verstehens weiterentwickelt, indem sie explizit zwischen »diskursiven« und »präsentativen« Formungsbedingungen unterscheidet. Dabei geht sie davon aus, dass der Umfang menschlicher Vernunft größer ist als der Bereich, der durch die Diskursivität der Sprache bestimmt wird. D.h., auch durch präsentative Formungsprozesse, die sich z.B. in Bildern zeigen, wird Wissen artikuliert. So gibt es in »unserer Erfahrung Dinge, […] die in das grammatische Ausdrucksystem nicht hineinpassen. Dabei handelt es sich jedoch nicht notwendigerweise um etwas Blindes, Unbegreifliches, Mystisches; es handelt sich einfach um Dinge, die durch ein anderes symbolisches Schema als die diskursive Sprache begriffen werden müssen« (Langer 1965, 95).8 Zu solchen anderen symbolischen Konfigurationen gehören bekanntlich auch Bilder. Kennzeichnend für sie ist, dass bei ihnen, in Absetzung zur Sprache, sich die Bedeutung nicht aus der Rekonstruktion einzelner Bildelemente »nacheinander, sondern gleichzeitig […] in einem Akt des Sehens« (Langer 1965,99) ergibt. Entsprechend erschließen wir die Bedeutung z.B. einer Photographie nicht über ein elementares Vokabular seiner Hell-Dunkel-Flächen, sondern aus einem Gesamteindruck. »Die durch die Sprache übertragenen Bedeutungen werden nacheinander verstanden […]; die Bedeutungen aller anderen symbolischen Elemente, die zusammen ein größeres, artikuliertes Symbol bilden, werden nur durch die Bedeutung
8
Vgl. dazu auch die umfangreichen Analysen von D. Lohmar (2016), in der er auf die prinzipielle Möglichkeit nicht-sprachlicher Repräsentationssysteme verweist und versucht, dafür eine adäquate Konversations-Semantik zu entwickeln.
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des Ganzen verstanden. […] Wir wollen diese Art von Semantik ›präsentativen Symbolismus‹ nennen. […] er erweitert unsere Vorstellung von Rationalität weit über die traditionellen Grenzen hinaus und wird doch der Logik im strengen Sinne niemals untreu« (Langer 1965, 103). Inwieweit diese »Logik« auch bei der Erfassung körperlicher Bewegung relevant ist, soll in Analogie zur Interpretation von Bildern am Beispiel einer Alltagsbewegung, dem Gang zur Straßenbahn, präzisiert werden. Bei dieser, die Person kennzeichnenden Ausdrucksform, lassen sich verschiedene Charakteristika eines präsentativen Formungsprozesses erkennen: a. Die prinzipielle Kontextrelevanz der »Formungselemente« Obwohl die Laufbewegung aus verschiedenen »Elementen« besteht, die bewegungstheoretisch unter anderem über physiologische Bedingungen (Gelenkformen, Schwerkraft, Körpermittelpunkt etc.) und funktionale Aspekte (Bewegungsumkehrpunkte etc.) bestimmt werden können, bilden diese kein »Vokabular« für die Bewegung, aus deren Verbindung sich die Prozessspezifik des Ganges einer Person ableiten ließe. Diese ergibt sich vielmehr aus einer Relation einzelner Formelemente innerhalb des Bewegungsprozesses in ihrem jeweiligen Gesamtzusammenhang. Beispielhaft dafür sind u.a. Beobachtungen, über die Marcel Mauss (1975) in einem Vortrag »Die Techniken des Körpers« 1935 berichtete. Während eines Krankenhausaufenthalts bei eigener Immobilität war ihm der unterschiedliche Gang der ihn betreuenden Krankenschwestern aufgefallen. Seine daraus abgeleiteten systematischen Beobachtungen und deren Einordnung in eine Kultursoziologie des Körpers beeinflussten maßgeblich auch unser heutiges Kulturverständnis, b. Die Dominanz eines primären Gesamteindrucks Der spezifische Gang einer Person erhält demnach seine Bedeutung nicht aus einer Verbindung einzelner »Geh-Elemente«, denen jeweils eine spezifische funktionelle Bedeutung zugeschrieben werden kann. Vielmehr findet eine mögliche Gang-Analyse in umgekehrter Weise statt: Von einem primären Gesamteindruck werden bei einem Deutungsbedarf einzelne Bewegungsformen akzentuiert. Aber auch ihre »partielle« Re-Konstruktion ergibt jedoch nicht den Gesamteindruck der Bewegung (in ihrer Prozesshaftigkeit), wie es Heinrich von Kleist im Marionettentheater eindrucksvoll beschrieben hat. (v. Kleist 1810/1970, S. 336-337) c. Die Singularität der Bedeutung Anders als diskursive Symbole, die für etwas anderes stehen können (z.B. das Wort für ein Objekt, das es bezeichnet) verkörpern präsentative Formungsprozesse körperlicher Bewegungen zunächst immer sich selbst. D.h., eine Bewegung präsentiert nur sich selbst, die Bewegung. Sie steht in keinem dahinter lie-
Formen – von Bewegung
genden syntaktischen Zusammenhang, sondern erscheint, wie unter anderem auch das Bild, als eine unableitbare Gesamtform. Entsprechend gibt es bei der raum-zeitrelevanten Formanalyse prozesshafter Gang-Bewegungen zwar zeitlich versetzte Beschreibungen einzelner Bewegungsabläufe, aber diese erhalten ihre funktionale Zuschreibung aus einem vorab entwickelten Gesamteindruck einer als typisch angesehenen Gang-Form. Mit Langer kann man sagen, die Bewegung in ihrer Gesamtheit als Bewegung hat eine implizite Bedeutung, in der sich ein genuines Wissen spiegelt. Es ist jenes prozesshafte Wissen, das keine propositionale Form hat – und sich deshalb auch nicht vollständig in eine diskursive Darstellungsform übersetzen lässt.
1.3
»Ereignis-Präsenz« und »Form-Präsenz« – Merkmale der Repräsentation
In der bisherigen Darstellung wurde nur allgemein vom »Bewegungs-Bild« gesprochen, das die Vorstellung einer Bewegungskonfiguration bestimmt. Dies soll im Folgenden präzisiert werden durch die Trennung in eine sogenannte »EreignisPräsenz« und »Form-Präsenz« sowie hinsichtlich der Ereignis-Präsenz zwischen den Sinneswahrnehmungen Sehen, Hören und Bewegen.
1.3.1
Ereignis-Präsenz
Zunächst einige Hinweise zum Seh-Ereignis: Im Sehen erfassen wir eine Welt uns gegenüber, die »da« ist. D.h., die Seh-Welt stellt eine Ereignis-Welt dar, in der unter Beachtung der »Zeit« zeitgleich Aspekte miteinander verbunden sind. Eine solche Kopräsenz unter zeitlichen Gesichtspunkten lässt sich bei HörEreignissen nicht feststellen. Zwar kann man mehr Geräusche und Klänge gleichzeitig hören, aber das Hören als Ereignis ist letztlich immer durch die Zeitlichkeit seiner Entwicklung gekennzeichnet. Eine Melodie oder ein Rhythmus lassen sich erst hinsichtlich ihrer eigenen Identität erkennen, wenn sie sich in einer zeitlich gegliederten Form entwickelt haben. Oswald Schwemmer fasst das zusammen, wenn er schreibt: »Dieses Entwicklungsverhältnis von akustischen Ereignissen und Hören ist ein dynamisches Verhältnis. Im Hören befinden wir uns in einem dynamischen Weltverhältnis, das wir als ein solches erleben, nämlich als ein der Hörwelt ausgesetzt sein […] Im Sehen − und damit meine ich im Erleben des Sehens – verbleibt die Sehwelt dagegen uns gegenüber. Wir sind nicht einbezogen in sie« (Schwemmer 2003, 103). Sie bleibt, könnte man ergänzen, uns gegenüber wesentlich abhängig von dem Medium, das uns das Sehen ermöglicht, dem Licht. Davon deutlich getrennt sind körperliche Bewegungs-Ereignisse, die sich aus der kinästhetischen Wahrnehmung
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ergeben. Anders als beim Sehen und Hören, die das Licht und die Luft als Medium benötigen, gibt es bei Bewegungen kein »materiales Zwischen«, sondern dieses ist wie schon Aristoteles (1995) betonte, ein »angewachsenes Zwischen«, woraus sich ein besonderes Verhältnis von kinästhetischem Bewegungs-Ereignis und Form-Präsenz feststellen lässt.
1.3.2
Form-Präsenz
Diese prinzipielle Unterscheidung zwischen der Ereignisbildung beim »Sehen« und »Hören« gegenüber »körperlichen Bewegungen« ist von zentraler Bedeutung, wenn die Frage beantwortet werden soll, wie neben der Ereignis-Präsenz die FormPräsenz zu verstehen ist, bei der Bewegungen als Bewegungen geformt werden. Wie »Bewegungs-Bilder« im Vergleich zu »Seh-Bildern« und »Hör-Bildern« unter dem Aspekt der Präsentation strukturiert sind, da die »Bewegungs-Bilder« kein »materiales Zwischen« (Licht bzw. Luft) benötigen und als Prozesskategorie eine dynamische Struktur haben. Als »Repräsentation« soll zunächst das Gegenwärtigwerden oder eine Wiedervergegenwärtigung von Ereignisvorgängen des Sehens, Hörens und der Bewegung verstanden werden. Ein Prozess, der zwei Voraussetzungen erfüllt: 1. Zunächst ist es immer ein Prozess der Formbildung. 2. Eine Formbildung, die eine gewisse Eigenständigkeit gegenüber den organischen, physischen Formungsprozessen besitzt, die z.B. das Sehen als körperlichen Vorgang ermöglichen, woraus folgt: Man kann immer von einem zweifachen Formungsprozess ausgehen: a. Die Formung, durch die das Sehen, Hören und die Bewegung hinsichtlich der organischen Bedingungen als Seh-, Hör- und Bewegungs-Vorgang möglich wird. b. Die Formung, durch die die Repräsentation als »Seh-, Hör- und Bewegungs-Bild« in unserer Vorstellung entsteht.
Dabei unterliegt der erste Formungsprozess weitgehend physiologischen Funktionsbedingungen, während die Erzeugung der Seh-, Hör- und Bewegungs-Bilder über die Stufe der Repräsentation hinaus insbesondere kontextuellen und situativen Bedingungen unterliegen. Unter Bezugnahme auf Whitehead9 geht Schwemmer auf diesen doppelten Formungsprozess in seiner Handlungstheorie näher ein:
9
Mit William James (1908/1977) und Henri Bergson (1896/1991) verbindet Alfred N. Whitehead (1929/1987) eine dynamische Sicht auf die Wirklichkeit. Sie kann nach seiner Auffassung nur adäquat erfasst werden, wenn es gelingt, sie in ihrer Prozesshaftigkeit induktiv-experimentierend zu analysieren und über ein philosophisches Konzept symbolisch zu repräsentieren.
Formen – von Bewegung
»Ohne die Darlegungen von Whitehead hier im Einzelnen weiter zu verfolgen, können wir uns die Ausbildung unseres Handelns durch das besondere Verhältnis verdeutlichen, das auf der einen Seite organische Prozesse zueinander und auf der anderen Seite unsere Bewusstseinsprozesse zu diesen organischen Prozessen haben. Das Verhältnis der organischen Prozesse zueinander haben wir mit Whitehead als ein Verhältnis der Formangleichung, der conformation, dargestellt. Der Übergang zu den Bewusstseinsprozessen, und zwar zunächst zum Gefühltwerdens der organischen Prozesse und zur Vergegenwärtigung dieses Gefühltwerdens, lässt sich dagegen nicht mehr in der gleichen Weise als eine Formangleichung verstehen. Denn die Besonderheit der Bewusstseinsprozesse besteht ja auch in ihrer Spontaneität, also darin, dass ihre innere Form aus bereits eingerichteten Aktivierungsmustern hervorgeht, und gerade nicht aus einer Angleichung an die Formen der organischen Prozesse entsteht« (Schwemmer 2001, S. 24). Dies bedeutet, dass die Formungsprozesse, durch die unser Verhalten und Handeln als solche in der Welt stattfinden und möglich sind, unterschiedlichen Voraussetzungen unterliegen. »Wo die organischen Prozesse unsere Welterfassung – so kann man zusammenfassen – durch die Formangleichung, die conformation, ihre Verlässlichkeit gewinnen, geschieht dies für die Bewusstseinsprozesse durch deren Einbettung in unsere Welt des Verhaltens und Fühlens. Im Unterschied zu den organischen Prozessen der Formangleichung ist diese praktische und emotionale Einbettung unserer Bewusstseinsprozesse von einer deutlich höheren Variabilität. Sie lässt Raum sowohl für eine kreative Phantasie und Gestaltung als auch für einzelne Irrtümer und allgemeine Verzerrungen unserer Weltorientierung« (Schwemmer 2001, S. 25). Letztere wurden von der Wahrnehmungspsychologie bekanntlich in vielfältigen Untersuchungen bestätigt (Kipp-Figuren, räumliche WahrnehmungsTäuschungen etc.). Offensichtlicher als bei der Erfassung der Welt über das Sehen zeigt sich beim Hören – insbesondere beim Hören von Musik über die Repräsentation von KlangBildern – die Eigenständigkeit des Formungsprozesses auf der Repräsentationsebene besonders unter Einfluss von Situationen und Emotionen sowie bei der Zeitstrukturierung durch Rhythmusbedingungen. Die Musik erweist sich damit als ein breites Ausgangsfeld für die skizzierte Differenzierung in organisch-materiale Formungen und kontextabhängige situativ-emotionale Formungen auf der Ebene der Repräsentation im Sinne von »Klang-Bildern«.10
10
Vgl. dazu den KlangArt-Kongreß (B. Enders/N. Knolle 1998).
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Gleichzeitig kann an der Musik aber auch verdeutlicht werden, dass diese Formung auf der Ebene der Repräsentation kein privater, sondern bei aller angenommener Individualität immer ein intersubjektiver sozialer Konstruktionsprozess ist und, wie die Musikgeschichte zeigt, sich in spezifischen Klang-Formen manifestiert. Der Komponist als Akteur und der Zuschauer als Rezipient entwickeln dabei einen nicht zufälligen Formungsprozess. So konnte u.a. Jobst P. Fricke (2000) zeigen, wie in der abendländischen Musik bis 1900, die bis heute wesentlich die klassische Musikrezeption bestimmt, eine durchgängige Konstruktionsstruktur die Musik-Repräsentation kennzeichnet: »Durch die ersten Akkorde oder durch die Anordnung der ersten Töne einer melodischen Linie konstruiert sich der Hörer eine Basis. Sie ist insofern eine Rekonstruktion, da der Hörer nachvollzieht, was der Komponist schon vorher konstruiert hatte. Diese Konstruktion ist […] eine Notwendigkeit, weil von dieser Setzung eines tonalen Zentrums alle anderen Töne, Akkorde und Tonfolgen ihren relativen Wert und damit ihre Bewertung erhalten. […] Das Setzen der Bezugsbasis gibt es in verschiedenster Form […] Wie wichtig uns ein solcher Bezugspunkt ist, verdeutlichen die Ergebnisse von Auhagen, die zeigen, dass sich die Hörer selbst bei atonalen Tonfolgen tonale Zentren suchen, der Hörer schafft sich eine Ordnung – wie er auch sonst gezwungen war, das Ordnen, Kategorisieren, Segmentieren usw. zu lernen, um sich in der Welt zurecht zu finden, um überhaupt leben zu können. Und eine Ordnung ist – nicht nur in der Musik – ein Beziehungsgefüge« (Fricke, 2000, S. 31). Entscheidend ist, dass beim Hören von Musik, anders als beim Sehen, der Aspekt der Zeit in Form besonderer rhythmischer Muster wirksam wird, die aus dem musikalischen Ablauf extrahiert werden und gleichzeitig einen Ordnungs- und damit Wiedererkennungswert erhalten.11 Abschließend lässt sich damit konstatieren, dass die Zeit einen Aspekt darstellt, der beim Formungsprozess des Sehens kaum von Bedeutung ist, jedoch für das Hören eine wichtige Gliederungsfunktion erhält und für die Bewegung von fundamentaler Bedeutung ist, wie das folgende Kapitel zeigen wird.
11
Ob damit auch die Metapher gelten kann, wonach die Musik als eine spezifische »Sprache« gelten, wird ausführlich in K.W. Niemöller (1980) und J.P. Fricke (1985) thematisiert.
Formen – von Bewegung
2.
Zeitlichkeit – Spezifikum der Form − Präsenz körperlicher Bewegungen
2.1
Raum-Spuren und Prozess-Erfahrung
Erscheint die zeitliche Gliederung als ein wesentliches Strukturelement bei der Repräsentation von »Hör-Bildern«, verschiebt sich das Problem auf eine gleichsam darunter liegende Ebene, wenn man fragt, wie die Repräsentation, die Gestaltung von »Bewegungs-Bildern« gelingen kann. Zunächst erscheint es naheliegend, sich die »Bewegungs-Bilder« durch die Spuren auf dem Weg, auf dem die Bewegungen im Raum verlaufen, zu verdeutlichen. D.h., wir sehen mit einem »inneren Auge« bei der Repräsentation von Bewegungen diese als Zustandsänderungen im vorgestellten Raum. Eine Deutung, die nahe liegt, die aber auch wichtige Voraussetzungen enthält, auf die insbesondere Henri Bergson schon vor ca. einhundert Jahren verwiesen hat. So besteht Bergson darauf, den durchlaufenden Raum und den Akt, durch den er durchlaufen wird (Bergson, 1911/1989, S. 85) deutlich voneinander zu unterscheiden. Der zeitliche Vollzug einer Bewegung wird auf diese Weise zu einer räumlichen Figur. Man hält von der »Bewegtheit der Bewegung«, wir würden heute sagen von der Prozesshaftigkeit der Bewegung, in unserer Wahrnehmung und in unserer Vorstellung nur »[…] den unbewegten Umriss der Bewegung« fest. (Bergson, 1912, 306). Einen Umriss, der sich zusammensetzt aus vielen aufeinanderfolgenden, in sich unbewegten Zustandsverhältnissen. Beim Bemühen, die Besonderheit dynamischer Verhältnisse im Bezug des Menschen zur Welt transparent zu machen, bediente sich Bergson des in seiner Zeit populären Begriffs des »Lebens«, des »Lebendigen« in Absetzung zum Starren, Festen, Toten und bereitete damit nicht unverschuldet seine Rezeption als »Lebensphilosoph«, einschließlich der daraus sich ergebenden Kritik an seiner Philosophie, vor.12 Erst in jüngster Zeit hat eine Renaissance der Schriften Bergsons gezeigt, dass seine Ausgangsposition und seine grundsätzlichen Fragen mehr Aufmerksamkeit verdienen als seine zeitgebundenen Antwortversuche. Dies gilt u.a. für die hier zu behandelnde Frage nach den Repräsentationsmöglichkeiten, der Konstruktion von »Bewegungs-Bildern« als Formungsprozess in Abgrenzung zu den biologisch-motorischen Formungsbedingungen einer Bewegung. Letzteres ist ein Thema in der biomechanischen und kognitiven Bewegungswissenschaft u.a. des Sports. Dagegen ist die erste Frage nach den Bedingungen von »Bewegungs-Bildern« bisher immer noch eine eher philosophische Herausforderung an bewegungswissenschaftliches Denken.13 12 13
Vgl. dazu vor allem die umfangreiche Einschätzung von Bockrath (2014, S. 83-264). Dazu u.a. V. Schürmann (2001) und M. Fikus/V. Schürmann (2004).
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Philosophisch relevant ist dabei Bergsons Verweis auf die Verräumlichung in der Bewegungs-Vorstellung, wodurch nicht nur der Vollzugscharakter von Bewegungen deutlich relativiert wird, sondern mit der Verräumlichung auch eine Distanzierung von der leiblich-gebundenen, direkt erlebten Prozesshaftigkeit von Bewegungen, stattfindet, was Schwemmer pointiert hervorhebt: »Aber nicht nur diese unbeteiligte Distanziertheit ist für Bergson ein philosophisches Ärgernis, sondern auch die Transformation – so könnte man es moderner formulieren – einer dynamischen Syntax in eine statische Syntax und damit die Perspektivierung unseres Handelns wie der Bewegung überhaupt in einer Begrifflichkeit, die von den Idealen einer Klassen- und deutlichen Unterscheidungspraxis durchdrungen ist, in der man aber gerade die Vollzugswirklichkeit unseres Handelns und die Prozessualität der Bewegung nicht mehr erfassen kann« (Schwemmer 2003, 103). Entscheidend ist, dass diese Differenz nicht als eine Differenz zwischen Akteurund Rezipientenperspektive gedeutet wird, sondern deutlich macht, dass sich darin ein generelles Problem bei der Formung von »Bewegungs-Bildern« zeigt. Gleichzeitig wird dadurch erkennbar, welche Herrschaft das Sehen nicht nur hinsichtlich der Hierarchie von Sinneswelten, sondern auch bei der Konstruktion von »Bewegungs-Präsenz« entfaltet. Wobei es weniger um die bloße Sichtbarmachung oder Verbildlichung unseres Erlebens geht, als um die mit dem Sehen entwickelten überprägnanten Formungsprinzipien und der darin implizierten Verräumlichung von Ereignissen sowie deren Repräsentationsformen, was Bergson als ein zentrales Problem ansieht: »Es ließe sich jedoch die Frage aufwerfen, ob nicht die unübersteigbaren Schwierigkeiten, die gewisse philosophische Probleme bieten, daherkommen, dass man darauf beharrt, die Erscheinungen, die keinen Raum einnehmen, in Räume nebeneinander zu ordnen, und ob sich der Streit nicht oft dadurch beenden ließe, dass man von den allzu groben Bildern abstrahiert, um die es sich abspielt« (Bergson, 1989, 7). Um im weiteren Verlauf diesen kritischen Hinweisen Rechnung zu tragen und implizite Missverständnisse zu vermeiden, wird vorgeschlagen, beim Formungsprozess der Bewegungs-Repräsentation nicht mehr von »Bewegungs-Bildern«, sondern vom »Bewegungs-Wissen« zu sprechen.
2.2
Bewegungs-Vorstellung als Bewegungs-Wissen
Wie schon in dem Einführungsbeitrag von Franke in diesen Band betont wurde, kann der Begriff des Wissens in dreifacher Weise expliziert werden: als know that, knowledge of and know how.
Formen – von Bewegung
Während in wissenschaftlichen Untersuchungen in der Regel nur das propositionale Wissen anerkannt wird, sind die beiden anderen Formen auch in konkreten Handlungszusammenhängen relevant. Der im folgenden verwendete Begriff des »Bewegungs-Wissens« schließt die anderen beiden Wissensformen nicht nur aus pragmatischen Gründen mit ein, sondern integriert sie bewusst im Sinne des Wissens als ein »Können«, um damit auch den bisher vermissten Vollzugscharakter in Formungsprozessen von Bewegungen zu dokumentieren. Im Unterschied zu Wissensformen, die sich auf Sachverhalte beziehen und sich als ein distanziertes »Wissen, dass p …« zeigen, ist das »Können« als ein »Wissen, etwas Bestimmtes zu tun« dispositionell. So ist der Drehsprung in einer Tanzkonfiguration nur dann erfolgreich, wenn der Absprung mit dem richtigen Krafteinsatz zur richtigen Zeit erfolgt ist. In Bezug auf die Prozesshaftigkeit der Bewegung ist es ein Wissen, das sich leiblich-habituell herausbildet, wobei der Leib gleichsam als »Prozessspeicher« fungiert. Ein »Prozessspeicher«, der jedoch hinsichtlich der ereignishaften Wahrnehmung und der Repräsentation von Bewegung einem differenten Formungsprozess unterliegt. Kennzeichnend für die Prozesshaftigkeit körperlicher Bewegung ist, dass ich um das »Bewegliche« dieser Bewegung wissen kann, allerdings in einer distanzlosen Weise des Erlebens14 . D.h., es ist kennzeichnend für diesen Zustand, dass man in diesem Zustand ist. Maurice Merleau-Ponty (1966) verdeutlicht dies phänomenologisch am Beispiel eines fliegenden Steins. So ist ein geworfener Stein nicht ein identischer (der immer gleiche Stein), dem die Bewegung als ein »Äußerliches« (als eine Qualität) hinzugefügt wird, sondern der fliegende Stein ist die Bewegung selbst. Sie ergibt sich immer als das Ergebnis einer Perspektive in Bezug zu einem Stein. Diese schon im klassischen Zenondiskurs sichtbar gewordene Zurückweisung einer Unterscheidung von Beweglichem und Bewegung besagt, dass der Mensch die Bewegung als Bewegliches leiblich erfahren kann, jedoch bei der Repräsentation dieser Bewegungswahrnehmung auf die Differenz von Wahrnehmungszustand und dessen Repräsentation zurückverwiesen wird. Besonders deutlich zeigt sich dies einerseits bei den Möglichkeiten des Menschen zur Simultanität, durch die er mehrere Faktoren einer BewegungsWirklichkeit »gleichzeitig« erleben kann, mitunter trotz oder gerade wegen einer »relativen Fülle« bzw. »Dichte« von Prozessbedingungen. Andererseits kann diese Fähigkeit, mit und durch Bewegungen ziel- und zweckorientiert in der Welt interagieren zu können, nur entwickelt werden, wenn eine Person in der Lage
14
G. Gebauer (2004, S. 29) verweist darauf, wenn er mit Bezug auf Bourdieu betont: »Typisch für den Prozess der Inkorporierung ist, dass das Einverleibte ›jenseits des Bewusstseinsprozesses angesiedelt‹ und daher unkommunizierbar ist: Es befindet sich als ›zu Körpern gemachte Werte, auf einer Ebene unterhalb der von Sprache und Bewusstsein‹« (vgl. Bourdieu 1972, 200f.)
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ist, den Strom der Ereignisse in eine Folge momentaner Zustände umzuwandeln. D.h., erst mit der Repräsentation als Bewegungs-Vorstellung im Rahmen eines Bewegungs-Wissens als Könnensdimension gewinnen wir die Möglichkeit, uns in unseren Bewegungen bzw. durch unsere Bewegungen zu uns selbst zu verhalten. Erst mit den Repräsentationen unserer Bewegungen werden wir zu sich bewegenden Personen und erwerbendamit das Potential zur Reflexivität gegenüberdem eigenen Tun. Aus konstitutiver Sicht bedeutet das, es gibt: •
•
3.
einerseits die Möglichkeit, die Repräsentation dieses prozesshaften Vorganges, immer nur in einer räumlichen Form im Sinne von »Bewegungs-Spuren« zu erfassen, andererseits aber auch die Möglichkeit, die Bewegung als leiblichen Prozess in seiner zeitlichen Dynamik zu erleben. Eine Erfahrung, die in der Regel als immanenter Aspekt körperlicher Bewegungen nur eingeschränkt repräsentiert werden kann, mit einer Ausnahme – wenn in den Bewegungen ein Rhythmus erkennbar ist.
Rhythmus – als Formungsprinzip
Berücksichtigt man, dass innerhalb der Prozesshaftigkeit von Bewegungen der Rhythmus ein wesentliches Gestaltungsmerkmal darstellt und erinnert sich an Paul Valérys Mahnung »es ist unmöglich einen Rhythmus zu denken« (Valery 1973, S. 113), wird das Dilemma einer Bewegungsanalyse sichtbar, diesem Phänomen adäquat gerecht zu werden.15
3.1
Rhythmus aus Sicht der Aisthesis
Es erscheint nachvollziehbar, dass jene Hinweise attraktiv erscheinen, die der systematischen Erfassung prozesshafter Handlungen eine übergreifende Bedeutung zuweisen. Dazu gehört in jüngster Zeit der Versuch von Waldenfels (1999), körperliche Bewegung und Rhythmus im Rahmen einer aisthetischen Erkenntnistheorie neu zu bestimmen,16 wenn er darauf hinweist: »Löst sich der Rhythmus von der engen Bindung an den Hörbereich, so prägt er alle Sinne und verleiht ihnen eine je besondere Dynamik«. (Waldenfels 1999, S. 70). Der Rhythmus wird damit bei Waldenfels einerseits zu einer nicht unproblematischen archaischen, ahistorischen Grundkategorie des Menschen.
15 16
Die Herausforderung zeigt sich in C. Brüstle u.a. (2005). Dazu auch E. Franke (2005), (2008), T. Alkemeyer (1996) und aus traditioneller Sicht P. Röthig (1979).
Formen – von Bewegung
»Der Rhythmus als geordnete Wiederkehr des Gleichen scheint einer geschichtslosen Natur anzugehören bzw. einer archaischen Kultur, die den Ablauf in der Natur zum alleinigen Maß nimmt und damit die Naturordnung kosmomythisch oder kosmologisch stabilisiert«. (Waldenfels 1999, S. 75) Andererseits glaubt Waldenfels, mit Verweis auf die Ausführungen des Paläontologen André Leroi-Gourhan (1984), jene klassische innen-außen Dichotomie, die die Rhythmuserklärungen oft bestimmt, überwinden zu können, indem er das Verhältnis von Natur und Kultur als ein wechselseitiges konstatiert. So handelt es sich »bei der leibkörperlichen Verflechtung der verschiedenen Sinnesrhythmen keineswegs darum, dass wir einem rein leiblichen Gespür, das von innen heraufsteigt, äußere Körpervorstellungen unterschieben, vielmehr geht es um die Realisierung und Materialisierung unseres Leibes, der niemals bloß seinen eigenen Rhythmen folgt« (Waldenfels 1999, S. 73). Kennzeichnend für die Nahtstelle von Natur und Kultur sind für Waldenfels mit Leroi-Gourhan jene Situationen, in denen das natürliche Gleichmaß »von vornherein immer wieder durchbrochen wird«, wobei insbesondere diese »Brüche und Grenzüberschreitungen […] selbst wieder ihre Konsolidierung in ›gegenrhythmischen Lebenspraktiken‹« (ebd. S. 77) finden, woraus sich Formen aisthetischer Erkenntnis ergeben können. Mit Gourhan interessiert Waldenfels vor allem die Grundstufe einer physiologischen Ästhetik, womit die Verklammerung von Körperrhythmik und sensorischem Dispositiv gemeint ist. Aspekte, die sich vor allem auf der Ebene »muskulärer Sensibilität und Rhythmik (zeigen), wo das körperliche Gleichgewicht, die raumzeitliche Orientierung und die Organisation der Bewegung zustande kommen« (ebd. S. 78). Sie sind für Waldenfels vor allem in »Akrobatik, Gleichgewichtsübung und Tanz« erkennbar, da dort durch »Steigerung, Verlagerung oder Stilllegung natürlicher Rhythmen ein anderer Zustand« (ebd. S. 78) herbeigeführt wird. In Anlehnung an Cassirers Stufentheorie der Symbolisierung erhofft sich Waldenfels schließlich eine ähnliche Kulturalisierung des Rhythmus wie im Bereich der symbolischen Zeichen.17 »Was sich auf der physiologischen Ebene abspielt, wird auf der technischen Ebene auf neuere Weise genutzt. Die muskuläre Rhythmik wiederholt und verstärkt sich in technischen Operationen […] Schließlich kommt es auf der sozia-
17
Zur Rhythmus-Debatte, die dazu sich um 1900 entwickelt hatte, schreibt Christine Lubkoll: »Rhythmus existiert nicht an sich, sondern wird erst über kulturelle Ordnungen erfahrbar. Die Paradoxie bzw. Aporie der Rhythmusdebatten um 1900 besteht gerade darin, daß ein natürlicher, organischer ›Ur-Rhythmus‹ postuliert wird, der einerseits durch die Mechanismen der Kultur verstellt, andererseits aber nur über diese zugänglich ist« (Lubkoll 2002, S. 84f.).
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len Ebene zur Domestizierung von Raum und Zeit […] (wobei) die vorgegebenen Rhythmen durch künstliche Rhythmen verfeinert und ersetzt« (ebd. S. 78) werden. »Der Akzent liegt auf der Herausbildung ›ethnischer Symbole‹ und eines ›ethnischen Stils‹. Doch der Symbolbegriff wird ähnlich wie bei Ernst Cassirer nicht distinktiv, sondern integrativ gebraucht, so daß die Untersuchung auf der physiologischen Ebene der Körperökonomie einsetzt und von dort zur technischen und sozialen Ebene fortschreitet, um abschließend auf einer figurativen Ebene die Verselbstständigung der Formen in Gestalt von Kunst und Literatur zu erörtern […] Rhythmen sind keine Begleitmusik zum Spiel der Formen […] Kraft ihres Wiederholungsgeschehens treten sie selbst als Schöpfer von Raum, Zeit und Formen auf (Leroi-Gourhan (1984, S. 384)« (Waldenfels 1999, S. 76).
3.2
Rhythmus als Gelingen der Form unter Bedingungen von Zeitlichkeit
Folgt man Waldenfels in dieser Argumentation, ist es wichtig, dass der Übergang von der Natur zur Kultur nicht einfach als eine Stufenfolge vom z.B. biologisch bestimmten Herzschlag zum ritualisierten Tanzrhythmus gedeutet wird, sondern diese Relation im Sinne Gumbrechts (1988) als ein spezifischer sinnrelevanter Formungsprozess zu verstehen ist. Abweichend vom häufig gewählten Beispiel der Kulturalisierung des Rhythmus in der Musik, bezieht sich Gumbrecht auf die rhythmische Sprache. Seine daraus abgeleitete Interpretation kann auch für die Deutung von Bewegungsrhythmen hilfreich sein. Den Ausgangspunkt bilden Untersuchungen zur »Oral-Poetry-Forschung«, die durch die Kopräsenz der Kommunikationspartner gekennzeichnet ist. Sie zeigt, dass lange Zeit die schriftliche Textualität auch die Besonderheiten der »mündlichen Poesie« bestimmten. Dabei wurde häufig übersehen, dass z.B. die Körperbewegungen von Sängern und Tänzern nicht Ausdruck ihrer Individualität sind, »sondern der Strukturierung ihres Verhaltens dienen. Genau in diese Richtung zielt die auf den folgenden Seiten zu entfaltende Argumentation. Ich möchte zeigen, dass es eine konstitutive Spannung zwischen den Phänomenen des ›Rhythmus‹ und der Dimension des ›Sinns‹ gibt« (Gumbrecht 1988, S. 715). Eine Frage, die Gumbrecht am Beispiel der rhythmisch gesprochenen Sprache versucht zu beantworten.18 Für uns von Bedeutung ist, dass er dabei nicht den traditionellen Weg wählt, der ein funktionales Verhältnis von Sprache und Rhythmus im Sinne eines immanenten Rhythmusgefühls unterstellt, sondern den Rhythmus aus der Perspektive seiner Formentwicklung analysiert. Entsprechend lässt sich dieser deuten wie folgt: »Rhythmus ist das Gelingen von Form unter den erschwerten Bedingungen von Zeitlichkeit« (ebd. S. 717).
18
Vgl. auch H. Meschonnie (1982).
Formen – von Bewegung
Neben dem Merkmal der erschwerenden Formungsbedingungen der »Zeitlichkeit« führt Gumbrecht als zweiten Schlüsselbegriff den der »Selbstreferenz« ein. Auf diese Weise versucht er, aus der oft (inhaltsorientierten) funktionalen Sinnfrage des Rhythmus eine Frage des (reflexiven) Beobachtens des Formungsprozesses (unter erschwerten zeitlichen Bedingungen) zu machen. Je deutlicher in Formungsprozessen des Rhythmus eine Differenzierung hinsichtlich der Medien (z.B. gesprochene Sprache, kinästhetische Bewegung) möglich ist, desto deutlicher kann einerseits ein Beobachterstatus (»erster« bzw. »zweiter Ordnung«) entwickelt werden. Andererseits wird dies immer dann erschwert, wenn nicht genügend Distanz im Prozess des Rhythmus entwickelt werden kann. Ein Beispiel dafür könnte das Marschieren im Gleichschritt einer Marschkolonne sein. Hier fällt die kinästhetische Bewegungshandlung mit der Akustik der Schrittfolge zusammen. Sie bilden systemwissenschaftlich gesprochen keine wechselseitige Beobachterposition im Formungsprozess des Rhythmus aus. »Die Interaktionen erzeugen hier keine neuen Elemente ihrer selbst und verfügen nicht über eine Ebene der semantischen Beschreibung« (Gumbrecht 1988, S. 725), mit der Folge: »Wenn das, was wir »Rhythmus« nennen, aber prinzipiell im konsensuellen Bereich erster Ordnung auftritt, dann verfügt »Rhythmus« auch nicht über eine Ebene semantischer Beschreibung, und die über Rhythmen verbundenen Organismen haben nicht den Status von Beobachtern« (ebd. S. 725). Für Gumbrecht stellt die rhythmische Sprache eine Mischform zwischen dem beobachterlosen Rhythmus und der eine zweite Ordnung (mit Beobachterstatus) entwickelten Sprache dar. Damit verbunden ist die Annahme, dass sprachlose Rhythmusprozesse immer in einer gewissen Distanzlosigkeit verbleiben und selbst keinen distanzierenden Beobachter entwickeln können. Eine Annahme, der mit Bezug auf die Rhythmus-Formung körperlicher Bewegungen widersprochen werden kann.
3.3
Reflexivität im Bewegungs-Rhythmus?
Zentral für Gumbrechts Argumentation ist die Annahme, dass nur die Sprache (bzw. analoge ritualisierte Formen) in der Lage ist, jene distanzierende Funktion eines Beobachters in dieser rhythmischen Kombination zu übernehmen. Zugespitzt bedeutet das: Rhythmische Bewegungen, die nicht in Beziehung gesetzt werden können zu einem Notations- oder Ritualsystem, besitzen kein reflexives Potential. Eine Deutung, die wesentlich vorbestimmt wird durch Bezug auf traditionelle Rhythmusvorstellungen, wie sie von Platon geprägt worden waren. Dessen grundlegende, wenn auch nicht erschöpfende Definition »Rhythmus ist die Ordnung der Bewegung« nahm einerseits die vorsokratischen Ordnungsvorstellungen zum Phä-
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nomen der Zeit und Harmonie auf und prägte andererseits bis in die Neuzeit die Interpretationen des Rhythmus, z.B. mit der bekannten Differenzierung von Metrum und Takt. Für die Frage des Rhythmus körperlicher Bewegungen führt dies immer wieder, auch bei Gumbrecht, zu der schon mehrfach angesprochenen Bedeutung der Musik, mit ihrer qualitativen Unterscheidung von Ton und Melodie als generalisierendem Deutungsmuster des Rhythmus. Das heißt, die Musik wurde im Laufe der Theoriediskussion des Rhythmus beides: Untersuchungsobjekt und Modell. So wurde z.B. die Frage, ob die Musik als ein rhythmisches Objekt der allgemeinen Zeit untergeordnet ist oder Zeit in sich selbst trägt (d.h. »Zeit«, die sie in Gestalt metrisch strukturierter Muster prägt), mit dem Verweis auf die Differenz von Ton und Melodie nicht nur beantwortet, sondern auch akustisch anschaulich demonstriert. Dabei verführt die besondere Heuristik des Hörens zu den traditionellen dominanten Interpretationen und verstellt den Blick auf den Rhythmus als ein formales Prinzip, das von der Materie (hier der »Töne«) unterschieden werden muss. Dies bedeutet, dass mit und an der Musik dem Denken Vorschub geleistet wird, der Rhythmus sei immer ein durch gleichmäßige Bewegung und taktartigen Wechsel gekennzeichnetes (eigenständiges) Handlungs- und Wahrnehmungsmuster, das aus der allgemeinen Zeitlichkeit ausgegrenzt ist, weil es eine eigene Zeitlichkeit entwickelt. Für die Analyse des Bewegungsrhythmus ergibt sich aus dieser Interpretationstradition zunächst die Frage, wann und unter welchen Bedingungen Bewegungen, analog zu Tönen, eine Bewegungsgestalt entwickeln, die jenen von Melodien hinsichtlich eigener Zeitlichkeit und Harmonie entsprechen können. − Und konsequenter Weise gelten aus dieser musik-geprägten Tradition die rhythmische Gymnastik und der Tanz als Beleg für die Möglichkeit, einzelnen Bewegungen eine rhythmische Gestalt zu geben. Weitgehend übersehen wird bei dieser leicht nachvollziehbaren Ableitung jedoch, dass die körperliche Bewegung nicht nur als Medium in Relation zum eigenzeitlichen Rhythmus bestimmt werden kann (als Tanz oder Gymnastikform), sondern dass die körperliche Bewegung selbst zu einem »Urbild« des Rhythmus werden kann – und zwar im Schreiten. »Der Schritt besteht aus zwei aufeinander bezogenen, aneinander korrespondierenden Phasen, aus Arsis und Thesis: die Phase, in der der Fuß sich hebt, und die Phase, in der der Fuß sich senkt (oder umgekehrt) […] Jede rhythmisch verfasste Formation besteht wie der Schritt […] aus zwei miteinander korrespondierenden Teilen, die sich zueinander verhalten wie Thesis und Arsis […] Das ist ein Grundsatz der Rhythmik« (Seidel 1994, S. 264). Mit dieser Betonung der Schrittfolge wird eine Rhythmusvorstellung wiederentdeckt, die – wie Emile B. Benveniste (1974) zeigen konnte – insbesondere das vors-
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okratische Denken (von Heraklit und Demokrit) bestimmte und erst durch die generalisierende Deutung Platons in Vergessenheit geraten war. Orientiert man sich am Schritt und nicht an der Melodie der Musik, ist der Rhythmus nicht der taktartige Wechsel einer gleichmäßigen Bewegung, sondern, wie Benveniste betont, eine vorübergehende Anordnung augenblicklicher Konfigurationen ohne Naturnotwendigkeit. Erst durch Platon wird daraus, in Bezug u.a. zum Tanz, die regelmäßige Bewegung, die für Aristoteles dann in der Gleichsetzung von Zahl und Rhythmus mündet. Mit Benveniste und den Vorsokratikern kann man davon ausgehen, dass eine Bewegung gerade nicht über eine metrische Form bestimmt werden kann. D.h., der Rhythmus einer Bewegung, sein Urbild der Schritt mit den zwei korrespondierenden Phasen aus Arsis und Thesis, ist nicht eine Unterkategorie einer vorgegebenen Form, sondern der Bewegungsrhythmus des Gehens ist die Gestaltung und die Konfiguration der Gehbewegung und damit auch Form-Gestalter. Dies bedeutet, dass die platonische Deutungstradition zwar das Phänomen des Rhythmus als Formqualität systematisierte, aber ein Aspekt dadurch in den Hintergrund gedrängt worden ist: Die Erkenntnis der Vorsokratiker, wonach ein Rhythmus nicht nur formrelevant ist, sondern darüber hinaus auch immer ein wesentliches eigenständiges Formungsäquivalent besitzt. Durch diese eigenständigen Formungsbedingungen besitzen körperliche Bewegungen Differenzqualität und damit auch ein nicht-verbales Reflexionspotential, dessen Wirksamkeit an drei verschiedenen Bewegungsrhythmen deutlich werden kann: 1. den Takt schlagen 2. das Klatschen im Theater und 3. eine Skiabfahrt im Tiefschnee.
1. Kennzeichnend für das Taktschlagen ist, dass die Bewegung mit dem Ton identisch ist und ein Rhythmus sich dann ergibt, wenn der Ton in eine übergeordnete (eigenzeitliche) Gestalt eingeordnet werden kann. D.h., es gibt keine Differenz zwischen der Bewegung und dem Medium der rhythmischen Gestalt. 2. Beim Klatschen im Theater liegt erst dann eine rhythmische (eigenzeitliche) Gestalt vor, wenn sich die individuellen Handbewegungen der während des Klatschens sich herausbildenden Ordnung einfügen. Eine Ordnung, die sich häufig im Publikum nach einer gewissen Zeit gestalthaft stabilisiert. D.h., hier gibt es zunächst eine Differenz zwischen der individuellen rhythmischen Bewegung und dem entstehenden Klatschrhythmus – wobei der eigenen Bewegung meist keine rhythmische Bedeutung zugesprochen wird, weil nicht von einer (eigenzeitlichen) Gestaltung des eigenen Händeklatschens ausgegangen
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wird. Kennzeichnend für beide Beispiele ist die Ausbildung bzw. Stabilisierung der rhythmischen Bewegungsform über die Akustik. 3. Bei der Skiabfahrt im Tiefschnee gibt es selten eine akustische Gestaltungsform oder ein visuelles Vorbild. Grundlage für die Entwicklung der Bewegungsgestalt ist eine vorübergehende, d.h. labile Anordnung kinästhetischer Konfigurationen, die als Ordnungsgestalt jederzeit wieder zerbrechen können. 4. Der »gelungene Schwung-Rhythmus« entsteht aus dem Wechsel von Belastung und Entlastung (bezüglich Kantendruck, Schneebedingungen, Fliehkraft etc.) und zeigt sich, rückblickend in der gelungenen Form der Spur im Schnee. Bedeutsam dabei ist, dass der Aufbau dieser Ordnung, das Wissen um deren Labilität und das Ausloten eigener Grenzsituationen in Bewegungssituationen nicht nur zu Differenzerfahrungen führt, sondern sich daraus ein reflexives Potential auch innerhalb nicht-verbaler Rhythmuserfahrungen entwickeln kann. Ein Potential, das sich jedoch nur herausbildet, wenn es so etwas wie »Spielräume« für Bewegungsalternativen gibt. Und diese sind bekanntermaßen in einer Gruppengymnastik oder dem Marschieren nach Musik geringer als in selbstbestimmten Bewegungsfolgen wie z.B. dem Skilaufen. In Gumbrechts Terminologie übersetzt bedeutet das, dass unter bestimmten Umständen auch in Bewegungs-Rhythmen ohne expliziten Bezug zur Sprache, wie noch Gumbrecht annimmt, eine Beobachterposition aufgebaut werden kann. Ein Aspekt, der neben »Differenz-Erfahrungen« Martin Seels auch für besonders gelungene Bewegungsfolgen eines Wettkampfsportlers gelten kann: »Der Augenblick des Gelingens ist nicht einfach etwas, das mit seinem Körper passiert, hier gewinnt er ein Verhältnis zu seinem Leib, in dem sich der ganze Sinn seines Tuns realisiert. Man kann dieses Verhältnis als den Vorgang einer Verselbstständigung des Leibes beschreiben. Der trainierte Körper verwandelt sich für einen Augenblick oder eine Phase in einen selbständig operierenden Leib« (Seel 1986, S. 121). Im Unterschied zum Artisten, der als Virtuose sein Können vorführt, ist ein Sportler hingegen jemand, der immer an der Grenze des Gelingens, des Noch-NichtKönnens, Erfahrungen des Gelingens macht. Durch diese Erfahrung des jederzeit möglichen Misslingens ist der scheinbar vollkommenen Bewegung implizit ein reflektorischer Prozess unterlegt, aus dem sich eine spezifische Sinndimension durch die Grenzerfahrung zwischen dem Noch-Nicht-Können und Können ergibt.19
19
Vgl. E. Franke (2006).
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»Ein fundiertes Können aber ist die unumgängliche Voraussetzung dieser Transzendierung des Könnens. So wie das Sokratische Nichtwissen die Qualifikation eines Wissens ist – nämlich ein Wissen um die Grenzen des Wissens, wodurch sich die fraglichen Kenntnisse überhaupt erst als echtes Wissen beweisen – so ist das ekstatische Nicht-Können des Sportlers eine Auszeichnung seines Könnens, durch das es sich als höchstes sportliches Können beweist« (Seel 1986, S. 122.). Waldenfels bezieht diese Spannung auf die sinnhafte (reflektorische) Erfassung des Bewegungsrhythmus selbst, wenn er hervorhebt: »Wenn uns etwas von der lähmenden Monotonie oder dem erzwungenen Gleichschritt bewahrt, so sind es arhythmische Störungen, Abweichungen, Stolpersteine, Einbrüche des Ungeregelten, infolge derer die Gangart sich ändert« (Waldenfels,1999, S. 85).
4.
Reflexions-Möglichkeiten – durch Differenz-Erfahrungen
Aus dem bisher Dargestelltem lässt sich die Konsequenz ziehen: Eine Körper- und Bewegungs-Erfahrung kann nicht nur als ein schlichtes Tun im klassischen Sinne gedeutet werden; vielmehr schließt ein Erfahrungsvorgang immer auch ein, dass etwas als etwas erfahren werden kann. Wesentlich für diese Differenzierungsmöglichkeit sind drei Aspekte: a. Das Medium, das die unterschiedliche Sinnes-Erfahrungen als Erfahrung möglich macht (das Licht, die Luft, körperliches Gleichgewicht und Rhythmus als »angewachsenes Zwischen« etc.). b. Das Werkzeug (die Technik), durch die die Erfahrung in ein instrumentalisiertes Verhältnis gesetzt wird (z.B. der Ski mit den ihn definierenden Eigenschaften). c. Die Medialität, durch die das Tun des Einzelnen zu einer gemeinsamen Tätigkeit wird (im klassischen Sinne die Sprache, erweitert mit Bezug auf Cassirer, Wittgenstein u.a. auch andere symbolisch performative Präsentationsformen).
Alle drei Aspekte stellen ein Reflexions-Potential dar, das immer dann wirksam werden kann, wenn im weiten Sinne »Widerfahrnisse« im Erfahrungsprozess wirksam werden. Als »Stolpersteine« im Fluss der Sinnes-Wahrnehmung ermöglichen sie eine Reflexion in doppelter Weise: 1. Eine Reflexion im Vollzug 2. Eine Reflexion über den Vollzug
Zu 1. Eine Reflexion im Vollzug ist jene, das Bewegungs-Handeln begleitende Reflexion, die nicht zeitlich nach einem Tun, dieses Tun als etwas deutet, sondern eine
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andere Perspektive im Tun, wie es Paetzold am Beispiel des Sehens beschreibt: Im Prozess des Sehens »sieht man, wie man sieht«. Diese andere Perspektive ist »kein begriffliches Denken […]. Genauer: Der Akt des Sehens wird sich durchsichtig. Er erfasst seinen eigenen Grund« (Paetzold 1990, S. 65). Diese allgemeinen Hinweise auf eine »Prozess-Reflexion«, wie sie genannt werden kann, erhält bei körperlichen Erfahrungen eine Spezifik durch die Besonderheit des Mediums. Anders als beim Sehen oder Hören, die auf Licht und Luft angewiesen sind, gibt es kein »materiales Zwischen«, sondern dieses ist, wie schon mit Verweis auf Aristoteles angedeutet, ein »angewachsenes Zwischen«, woraus sich auch eine spezifische Reflexion im Vollzug ergibt. Die für die Reflexion notwendigen distanzierenden Perspektiven ergeben sich in diesem Fall aus einem korrigierenden Wechsel der Handlungs- und Beobachterperspektive im eigenen Tun. Bezogen auf das Skibeispiel könnte dies das Glatte einer Eisplatte, das Stumpfe des plötzlichen nassen Schnees etc. sein, die zu unterschiedlichen Gleichgewichtsund Rhythmuserfahrungen führen und direkte modifizierte Körperhaltungen und Bewegungsanpassungen notwendig machen. Das Ergebnis der gleichzeitigen Teilnahme und Beobachtung als handelnde Person ist auf einer 1. Stufe eine reflexive Vollzugserfahrung hinsichtlich der Umstände, die den Vollzug als Prozess bestimmen. Davon lässt sich eine zweite Reflexion der Vollzugserfahrung bezüglich der Situation unterscheiden. Zu 2. Eine Reflexion über den Vollzug zeichnet sich dadurch aus, dass der Vollzug des Tuns (einschließlich der darin involvierten, in (1) skizzierten Reflexionen) zum Gegenstand wird. Sie kann gegenüber (1) als eine höherstufige Reflexion angesehen werden. In der Regel gibt es: • • •
eine zeitliche Differenz zum Vollzug, eine symbolische Präsentationsform (Sprache, Bilder, analoge Filme etc.), einen »erklärenden« Logos (Mythos, Metaphorik, Symbolik, Re-Konstruktion).
Auf diese Weise können unterschiedliche Wissens-Formen über den Vollzug als »Wissen wie«, »Wissen wo«, »Wissen was«, gebildet werden. Durch die zeitliche und symbolische Differenz zum konkreten Vollzug stellen sie eine Möglichkeit dar, zu diesem Vollzug nicht nur als Subjekt, sondern auch intersubjektiv einen reflexiven Bezug zu entwickeln – unter Beachtung einer Spezifik, die sich aus dem Medium des »angewachsenen Zwischen« (Aristoteles) kinästhetischer Erfahrung ergibt: Einerseits bleibt die Reflexion über den Vollzug in gewisser Weise unbestimmt, da z.B. eine sprachliche Rekonstruktion die zeitliche Prozesshaftigkeit der »Erfahrung mit einer Eisplatte unter dem Schnee« nur unzureichend gegenstandsangemessen und situativ (z.B. bezogen auf die zeitliche Dimension von Gleichgewicht und Rhythmik) erfassen kann.
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Andererseits ist gerade die Schwierigkeit, eine angemessene Repräsentationsform für diese prozessrelevanten Differenzerfahrungen zu finden, ein Indiz dafür, dass solche Erfahrungen erkenntnislogisch jener Form zu entsprechen scheinen, die Cassirer als typisch für mythische Weltbezüge bezeichnet hat. So wie für den Indianer der Berg heilig ist und dabei die Ontologie und die Bedeutung eine Einheit bilden, ist es auch bei den Versuchen einer reflexiven (symbolischen) Rekonstruktion körperlicher Bewegungen. Dieser scheinbare erkenntnislogische Nachteil körper- und bewegungsrelevanter Reflexionsprozesse kann sich jedoch auch als Gewinn erweisen, wenn man beide Reflexionsformen (1) und (2) auf das Selbst bezieht, das handelt. Die in diesem Prozess erkennbare Nicht-Hintergehbarkeit des eigenen Leib-Körpers als eines differenzerfahrenen Körpers bietet die Möglichkeit zu besonderer Selbst-Reflexion. Welche Bedeutung sich aus diesen Einsichten z.B. für einen zeitgemäßen Sportunterricht ergeben könnten, bestimmt seit einiger Zeit auch bestimmte Diskurse in der Sportpädagogik. Dabei geht es weniger um das traditionelle Erlernen perfekter sportartenrelevanter Bewegungsabläufe als um die Erfahrung von Grenzsituationen zwischen dem noch nicht Können und Können in altersgemäßen Bewegungssituationen. Die dadurch gemachten reflexiven LeibKörpererfahrungen im Übergang vom Kindsein zum Erwachsenwerden bieten im Sinne eines erweiterten, an der Reflexivität orientierten, Bildungsbegriffs, die Möglichkeit zu einer altersspezifischen Bildung mit und durch den Körper.20 Beim Bemühen, aus dieser spezifischen bewegungstheoretischen Perspektive auch angemessene Lehr-Lernsituationen zu entwickeln, ergibt sich jedoch weiterhin das schon genannte von Bergson herausgestellte Problem, wie die Prozesshaftigkeit der Bewegung in Lernprozessen präsentiert werden kann. Neben der kognitiven Bearbeitung über die beschreibende Sprache oder Bildinformationen mit den genannten Problemen, besitzt der analoge Film eine weitergehende Bedeutung. Eine völlig neue Situation ergibt sich, wenn man dafür auf die Konstruktivität digitaler Medien mit ihrer binären Struktur einer Kalkül-Sprache zurückgreift.
5.
Das Werden zur Form – im Spiegel digitaler Medien
In einem Beitrag »Bergson und die synthetischen Bilder« (2002) nimmt Maurizio Lazzarato unter Bezug auf die Struktur digitaler Medien Bergsons oben skizzierte und immer noch aktuelle zentrale Frage auf: Wie kann es gelingen, die Struktur einer Bewegung als Bewegung – ohne die räumliche Darstellung über Ablaufpunkte – adäquat zu präsentieren? In seinem Antwortversuch geht Lazzarato von der Besonderheit der digitalen Technologie aus, durch die sich erstmals die Möglichkeit 20
Vgl. dazu J. Bietz (2015), E. Franke (2015), R. Laging (2015) u.a.
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bietet, Bilder und Bilderfolgen ohne Vorlage in der analogen (räumlichen) Welt in völlig anderer Form zu erstellen, wodurch sich auch neue Möglichkeiten für eine angemessene Repräsentation von Bewegungsprozessen ergibt, da Wirklichkeit in der digitalen Präsentation nicht unter den Bedingungen von Licht und Räumlichkeit analog abgebildet, sondern im Rückgriff auf eine Kalkül-Sprache konstruiert wird. So liegt die Besonderheit der digitalen Technologie u.a. darin: »dass sie in der Bildproduktion die Synthesen imitieren, die das ›mentale Bild‹ und den ›mentalen Raum‹ bilden. Das Paradigma der ›Imitation von Zeit und nicht von Natur‹, mit dem wir das Videobild erklärt haben, wenden wir auch auf die Analyse der Produktion des virtuellen Bildes an. Die Zeit zu imitieren bedeutet, die aktiven und passiven Kräfte, die sie ausdrücken, zu imitieren« (Lazzaroto 2002, S. 89). Wie dies konkret zu verstehen ist, erläutert Lazzarato mit Bezug auf die digitale Erfassung einer Tanzbewegung: »Wir beginnen damit, die Bewegung des Tanzens zu betrachten und eine Wahrnehmung zu entwickeln. Diese Wahrnehmung tritt, wie man weiß, in Beziehung zum Gedächtnis und zu motorischen Bildern, in diesem Fall zu den motorischen Bildern, die uns auch das Laufen ermöglichen. Aber diese (»reine«) Wahrnehmung ist […] (kein) visuelles Bild« (Lazzarato 2002, S. 100). Dabei handelt es sich, beachtet man die Hinweise von Bergson, um Muster der Relationen – vor allem der zeitlichen Relationen – der aufeinanderfolgenden Elemente der auszuführenden Bewegung. Die Vorstellung einer Bewegungsfolge ist danach also nicht, wie populäre Deutungen nahelegen, eine Folge von visuellen Bildern des Bewegungsablaufes (im Raum), sondern ein dynamisches Schema zeitlicher Beziehungen. Denn »das dynamische Schema ist eine Vorstellung sui generis, in der Verhältnisse, Kräfte und Mächte er-scheinen; nicht Repräsentationen, sondern Bewegungen von Repräsentationen« (ebd. S. 100). Fragt man nun skeptisch, wie diese Repräsentationen von Bewegungen »zu denken« sind, wie man sich jenes »dynamische Schema« vorstellen kann, bietet Bergson nach Lazzarato zunächst nur eine Abgrenzung an: Es muss deshalb eine Art von Vorstellung geben, die keine bildhafte Vorstellung ist. D.h., man könnte sagen, die Vorstellung sollte keine Bilder im Sinne visuell-räumlicher Bilderfolgen konstituieren, sondern nur Anweisungen, die benötigt werden, um die Bilder zu rekonstruieren, enthalten. Für Lazzarato bedeutet das: Das dynamische Schema, (durch das eine Bewegung im Sinne Bergsons zu einer Bewegung wird), ist »eine Intensität, eine Macht, eine Kraft« (ebd., S. 99), welche die Bilderfolge der Bewegung ermöglicht, woraus folgt: Es muss neben der Bilderfolge eine weitere Ordnungsstruktur geben, die dieser als Voraussetzung dient.
Formen – von Bewegung
Übertragen auf digitale Bildkonstruktionen, bei denen das analoge Bild oder der analoge Film als Gedächtnisstütze dienen, bedeutet das: Die digitale Technologie konstruiert mögliche Bilderfolgen über eine »nicht-bildhafte« Repräsentation. Für das, was Bergson immer anmahnte, bietet sich damit eine neue Möglichkeit, die Bewegung als Bewegung nicht nur mit den bekannten Problemen, nachzuahmen, sondern sie zu konstituieren. Denn das Computerprogramm enthält »nicht Bilder, sondern für ihre Konstruktion notwendige Instruktionen; es enthält nicht stabile oder fertige Bilder, sondern die Bewegungen, die sie konstruieren können. Wie im Bergson’schen Schema konstruieren die Simulationstechniken diese Bilder über ›nicht-bildhafte Repräsentation‹ (die »Programmiersprache« [ebd., S. 106]). Man kann also feststellen: Dadurch, dass der Computer nicht abbildet, sondern konstruiert, nicht mimetisch arbeitet und nicht in der Bilderstellung von Licht und Raum abhängig ist, sondern über zwei Merkmale, die »Diskretisierung« und das »Kalkül« wirksam wird, entwickelt er eine Fähigkeit, die über die bisherige Verräumlichung der Vorstellung von Bewegungsfolgen hinausgeht. Er erlaubt es, »das Werden (die Dauer) in diskrete Elemente zu zerschneiden« (Lazzarato 2002, 111), die durch ihre infinitesimale Form die Kontinuität des Werdens und damit dem Aspekt von Bewegung in der Repräsentation in idealisierter Weise entsprechen kann. Versucht man diese abstrakten Anmerkungen abschließend auf die Praxis, z.B. den Lehr-Lernalltag von Bewegungsprogrammen zu übertragen, bedeutet das, dass geprüft werden müsste, welche Konsequenzen eine Bewegungsschulung mit analoger Praxisbegleitung im Vergleich zu digitaler Technik haben könnte. Während die analogen Bewegungsaufnahmen vorrangig kinästhetisch-emotionale Bewegungserfahrungen in mimetischer Weise ermöglichen und dabei auf ein implizites Reflexionspotential im Übungsprozess vertrauen, bietet die digitale Technik darüber hinaus die Chance, den Prozess der Dynamisierung simulativ im Sinne eines Möglichkeitsspektrums zu erweitern und damit den präsentativen Formungsprozess von Bewegungen in »zeitlich-konstruktiver Weise« im wörtlichen Sinne anders oder neu zu gestalten. Eine Perspektive, die u.a. Sabine Huschka am Schluss ihres Beitrags zur aktuellen Tanzforschung in diesem Band aufgenommen hat.
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BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz Sabine Huschka
Einleitung Bewegungen, insbesondere in Tanzaufführungen, zu verstehen und einen Zugang zu ihren eigenkörperlichen und somatischen Gestaltungsprozessen, Ausdrucksformen und Artikulationsarten zu finden, stellt eine wahrnehmungsästhetische und kulturelle Herausforderung dar. Der eigenen Wahrnehmung begegnet ein komplexer und gleichsam diffundierender Phänomenbereich. Wir bekommen es mit einem performativen wie vergänglichen, transformatorischen wie transitorischen Bewegungsgeschehen zu tun, in dem eine körperliche und verkörperte Wissensart am Werk ist, die ganz in den Körpern und ihrem Können aufgeht. Augenscheinlich wird ein tänzerisches Bewegungswissen gestalthaft, deren somatisch und ästhetisch geprägte Erscheinungen erfahrbar und doch nur mittelbar begreifbar sind. Wahrnehmbar als kunstfertige oder künstlerisch ausgestaltete Bewegungen, die eine betörende Virtuosität annehmen können, zeigt sich im Tanz ein Wissen, das als Aufführungsgeschehen keiner Explikation bedarf. Tanzen zu können zeigt sich im tatsächlichen Prozess, zu tanzen, und nicht darin, dass dessen Bewegungskunst kunstvoll erklärt wird. Wahrnehmungsästhetisch gehört jenes Wissen, sich zu bewegen zu wissen, damit einem kulturell-ästhetischen Bereich zu, der gleichsam »schweigend« zu operieren scheint und wirksam ist.1 So gehören gerade Tänzerlnnen, Choreographlnnen und Performerlnnen zu einer Berufsgruppe, die über Bewegung ein komplexes und überaus differenziertes Wissen ausbilden. Sie alle verstehen es, ihr erworbenes und stets im Vollzug performtes Bewegungswissen dergestalt zu verkörpern, dass sie raum-zeitliche Sequenzen, Körpergestaltungen, Rhythmen und Qualitäten in Bewegung nicht nur generieren, sondern nahezu jederzeit wiederholen können. In ihren Körpern ist augenscheinlich ein Wissen einverleibt, welches sich erkennbar artikuliert, zeigt, sich ausdrückt und wahrnehmbar vermittelt.
1
Vgl. Huschka (2017).
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Sabine Huschka
Die ästhetischen Bewegungsformungen und ihr körperlich artikuliertes Wissen werfen analytisch und heuristisch eine Vielzahl von Fragen auf. Wie lässt sich deren Phänomenbereich verstehen und in welche ästhetisch-kulturellen Theorien, Konzeptionen und Diskurse sind Verstehensmodelle über ein tänzerisches Bewegungswissen eingebettet? Wie wird mit ihnen Tanz als körperliche Bewegungskunst verstanden. Eine der naheliegenden Fragen, wie das – ästhetisch und stilistisch stets differente – verkörperte Tanzwissen operiert und wie es ausgebildet wird, lässt sich über Analysen der angewandten produktionsästhetischen Praktiken bestimmen, Praktiken, die sich quasi hinter der Bühne, in Probensälen und Trainingsorten abspielen. Ein solch produktionsästhetischer Blick verdeutlicht, aus welchen Prozessen und Verfahren tänzerisches Bewegungswissen als situiertes Wissensfeld hervorgeht. Deren dezidierte Lern- und Lehrvollzüge operieren selbst keineswegs schweigend, sondern arbeiten mit sprachlich und medial gestützten Vermittlungsverfahren, um all jene Mechanismen und Kniffe auszubilden, Bewegungen kunstvoll ausführen zu können und ihre Rhythmisierungen, Spannungswechsel, Gleichgewichtstarierungen mit Richtungs- und Orientierungswechseln simultan und sukzessiv miteinander abzustimmen. Eine weitergehende und ebenso naheliegende Frage, wie sich das wahrgenommene verkörperte Tanzwissen denn ›verstehen‹ lässt, bewegt sich selbst in den ästhetisch-kulturellen Wissensfeldern des Tanzes und ihren diskursiven, theoretischen und analytischen Kontexten: rezeptionsästhetisch von der Tanzkritik praktiziert, ästhetisch-philosophisch durch Theorien entworfen oder durch technologische Verfahren anschaulich gemacht. Während technologiegestützte Zugänge der Frage nachgehen, wie verkörpertes Tanzwissen in Bewegungen operiert und ›arbeitet‹, indem Bewegungen durch bildgebende Verfahren wie der Photographie, dem Film, Video und der Computeranimation eine Sichtbarkeit gegeben wird, setzen sich hermeneutische, interpretatorische und sprachzentrierte Zugänge zum Tanz mit der Frage auseinander, wie verkörpertes Tanzwissen ästhetisch zu verstehen und sprachlich zu äußern sei. Dabei lassen sich gerade in der Moderne disparate Zugänge des Verstehens nachzeichnen, die die Spannungsfelder von Tanz und Sprache sowie von Tanz/Bewegung und Sichtbarkeit auf geradezu paradoxale Weisen ausloten. Exemplarisch werden im Folgenden zentrale Denkfiguren, ästhetische Diskurse und avancierte technologische Verfahren in ihren konzeptionalisierten Einstellungen, Bewegungswissen zu verstehen, vorgestellt.
1.
Historischer Rückblick
Verankert in komplexen und durchaus widersprüchlichen Rezeptionstraditionen und ästhetischen Theorien verhandeln diskursive Zugänge die Frage nach der Lesbarkeit von Bewegung/Tanz, bzw. die Frage nach der Übersetzbarkeit oder Über-
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz
tragung sinnlicher Wahrnehmungen von Bewegung/Tanz in Sprache, wobei das phänomenologisch und kulturell gespaltene Verhältnis zwischen Tanz und Sprache als entweder grundlegend unvermittelbare, grundlegend aufeinander bezogene oder unmittelbar operierende Beziehung angesehen wird.2 Über den Tanz ist im 20. Jahrhundert emphatisch und ausführlich geschrieben worden. Entwicklung und Ästhetik des modernen Tanzes sind, ohne ihre Autoren und Schriften nicht zu denken. Zahlreich beschreiben, qualifizieren und prägen sie Ansichten seiner mal »frei«, mal »neu« titulierten Kunstform, entwickeln ästhetische Einsichten einer sich dem Leben öffnenden Kunst, die dem »Materialreich des Körperlichen« (Böhme 1926, S. 141) gewidmet sei. Autoren wie Hans Brandenburg, Fritz Böhme und John Schikowski betonen die »reinen Bewegungsthematiken« der Tänze, in denen sich »die Gesetze der Körperbewegung erfüllen« (Brandenburg 1921, S. 19) oder heben die »Reinigung der Kunstmittel« (Schikowski 1924, S. 20) im Tanz hervor. Trotz bestehender Differenzen und leicht abweichender ästhetischer Urteile ihrer in den 1910er und 1920er Jahren erschienenen Schriften spricht aus allen Texten die Entschlossenheit, Tanz umfassend zu ergründen und mit Überzeugung und Emphase zu beschreiben. So merkt etwa Schikowski an: »Ihre Tänze sollen nichts bedeuten und nichts erzählen. Sie sollen durch die reine Sprache ihrer Kunstmittel, des rhythmisch bewegten Körpers, ohne Umweg über den Verstand, direkt zum Herzen dringen. Sie sollen eigenes seelisches Erleben gestalten und es in anderen erzeugen« (Schikowski 1924, S. 20). Ein bislang unbekanntes Bewegungserleben gilt als ästhetisches Kennzeichen dieser Tanzkunst, die den Zuschauer ungleich unmittelbar ergreift, ja ihn gleichsam umfängt. Einer Tanzaufführung beizuwohnen bedeutet, einem Erlebnis beizuwohnen, »dessen Wirkung sich einem jedem erschließt« (Schikowski 1924, S. 29). Brandenburg erläutert diese Wirkungskraft mit den Worten: »Der wahre Tanz jedoch entsteht aus dem Körpergefühl, aus dem Bewegungssinn, und das Auge des Zuschauers ist lediglich der Vermittler, der den Tanz in jenen sechsten Sinn weiterzuleiten hat« (Brandenburg 1921, S. 18). Auch Fritz Böhme, neben Brandenburg einer der engagiertesten Autoren und Mentoren des Ausdruckstanzes, qualifiziert jene betörende und unmittelbare Wirkungskraft des modernen Tanzes – »Sinn und die
2
Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen von Christina Thurner, die einleitend zu ihrer Habilitationsschrift herausarbeitet: » [Es] lassen sich drei Verstehensmodelle oder rezeptionsästhetische Varianten in Bezug auf Tanz unterscheiden: Eine erste Variante könnte man demnach eine der Verweigerung nennen, die prinzipiell vom Nicht-Verstehen-Können ausgeht; eine zweites Modell schreibt das unmittelbare, nicht diskursivierbare Verstehen fest; während eine dritte schließlich die Komplexität des Bedeutungsprozesses hervorhebt« (Thurner 2009, S. 41).
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Auswirkung des neuen Erlebens in symbolhafter Form zu gestalten« (Böhme 1926, S. 23) – als Zeichen eines kulturellen Umschwungs: »Man tappte in das Organreich der Bewegung hinein, […] ein Zeichen dafür, dass man langsam der einen grundlegenden Materialsphäre des künstlerischen Tanzes nahekam. Man lernte wieder rhythmische Gewalten kennen, […], man sah, wie die Bewegung […] eng mit diesen rhythmischen, aber auch zugleich mit seelischen Kräften zusammenhing« (Böhme 1926, S. 143f.). Das Besondere des neuen Tanzstils artikuliert sich für den Tanzdiskurs in einer befreiten, einer »reinen Sprache des rhythmisch bewegten Körpers«, mit dem Tanz einen »direkten Ausdruck« (Schikowski, 1924, S. 127) gefunden habe. Dabei ist zweierlei markant: Zwar betonen die Autoren unterschiedliche Facetten des qualitativ neuartigen und ästhetisch bedeutsamen Erlebniswertes von Tanz, doch kommt dieses Erlebnis trotz seiner phänomenologischen Tragweite keineswegs mit einer physisch-sinnlichen Wertigkeit überein. Die Erlebnisqualität wird vielmehr mit dem Begriff vom Tanzerlebnis belegt, der topologisch in die Rede vom ›absoluten‹ Tanz eingebettet, das Erlebnis zum (ästhetischen) Wesensmerkmal des Tanzes erklärt und dem Erlebnis eine metaphysische Dimension verleiht. Hiernach ist der Tanz reine »Ausdrucksschöpfung« (Böhme 1926, S. 157f.) und zeitigt mit seinen Bewegungen eine ekstatische, gleichsam magische Wirkung. Diese ästhetische Wirkung kommt allerdings keineswegs mit der Kommunikation körperlicher Verfasstheiten oder Bewegungsformen überein, sondern bezeichnet Ausdruckswerte einer »intensiven Erlebnissphäre«. Im Tanz zeige sich »die Auffassung vom lebendigen, schöpferischen Leibe« in seiner »Beziehung zum kosmischen Über-Individuellen« (Böhme 1926, S. 145). Der tanzende Körper gewinnt abgelöst von seiner physischgesellschaftlich-sozialen Verfasstheit, eine kosmische Dimension, wird kosmischer Leib, der die Erfahrung kosmischer Einheit aussendet. Gespeist aus »inneren Vorgängen und Empfindungen« und intuitiv-emotionalen Beweggründen vermitteln die Bewegungen einen universalen und einheitlichen Erlebnisbereich, der – in den Tanzenden gleichermaßen verankert wie bei den Zuschauern – ein Gemeinschaftsgefühl stiftet. Wahrnehmung und Verstehen sind in Tanzaufführungen quasi in einen allumfassenden Taumel versetzt: Die Rhythmen des Tanzes erfassen den ganzen Menschen und erzeugen damit ekstatische Momente einer umfassenden Erkenntnis. Die ästhetische Besonderheit des Tanzes kommt einer unmittelbaren kommunikativen Erkenntnisleistung gleich, die über den »sechsten Sinn« als ein ebenso physiologischer Sinneskanal wie eine metaphysische Sinndimension eine unmittelbare Sinn(es)vermittlung einleitet und ermöglicht. Rudolf von Laban, Ausdruckstänzer, Lehrer und Choreograph, fasst den »sechsten Sinn« gleichbedeutend als den »tänzerischen« Sinn des Menschen auf, der sein Wahrnehmungsspektrum – sinnlich,
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz
verstandesmäßig und geistig – zu einem »einheitlichen ›Sinn‹ » (Laban 1920, S. 44) vereinigt.
2.
Deutungsperspektiven
2.1
Das Modell unmittelbarer Verstehbarkeit
Mit diesen Diskursen der aufbrechenden Tanzmoderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konstelliert sich ein ästhetisch wie kulturell aufgespaltenes Verhältnis von Tanz/Bewegung und Sprache: Gegenüber der stets vermittelnd operierenden Schriftkultur erhebt sich eine sinnlich operierende, unmittelbar sinngebende und wirkungsevidente Bewegungskultur. Gewissermaßen als kritische Gegenkultur zur rationalistischen Schriftkultur nimmt Tanz eine bedeutsame Funktion ein, die dank seiner materiell verwurzelten Erscheinung das Versprechen einer schillernden Medialisierung von Sinn trägt. Als Medium des Transistorischen und Flüchtigen verkörpert Tanz geradezu zentrale Merkmale einer »›modernité‹, – des ›transitoire‹, des ›fugitif‹ und des ›contingent‹ (Baudelaire) –« (Brandstetter 1995, S. 38). Damit erklärt sie Modernen Tanz als eine primär und ausschließlich der Körperbewegung zuzurechnenden Kunstform, die mit einer Ontologie des Transistorischen übereinkommt und nicht dem kulturell prägenden Bereich der Sprache angehört. Tanz markiert gewissermaßen die Stätte, an der das Geheimnis menschlicher Existenz und Potentials aufzufinden sei. Seine Kunst verspricht, in die Kultur eine vitale, intuitive, sensualistische, dynamisch, körperökonomisierende, gesunde und seelisch verbundene Sphäre hineinzuspielen und nährt die kulturanthropologische Hoffnung auf unmittelbare Erkenntnis. Eingefasst als anthropologisches Wissensfeld kommt dem Tanz das kulturelle Potential zu, »schwingende«, synästhetisch operierende Übereinkünfte zwischen sich-bewegenden und wahrnehmenden Körpern zu schaffen. Dank des gesteigerten sinnlichen Erlebens gewinnt die Tanzkunst eine bislang unbekannte gesellschaftsformende Dimension, die in der Schaffung eines kommunikativen Gemeinsinns besteht. Inge Baxmann führt in ihrer aufschlussreichen Studie Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne aus: »Nur die Bewegung als erstes Kommunikationsmedium des Menschen aktualisiert Erkenntnisformen, die durch ein emphatisches Involviertsein (im Gegensatz zur analytischen Distanz) charakterisiert sind. Der Tanz wurde in eine Repräsentationskritik integriert, die auf die Wiederherstellung von Performanz und gemeinschaftsstiftenden Lebensformen abzielte« (Baxmann 2000, S. 154).
201
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Wahrnehmungsphilosophisch wird Tanz ein unmittelbar operierendes Erkenntnispotential zugesprochen, das durch synästhetische Resonanzwirkung zwischen verschiedenen Körpern jegliche Objekt-Subjekt-Spaltungen aufzuheben vermag. »Vibrationen, Schwingungen, die unbewussten Komplementaritäten und Ähnlichkeiten herstellen, wurden zum Erklärungsmodell für kommunikative Prozesse« (Baxmann 2000, S. 138). Dieses von der Psychoanalyse gleichermaßen wie der Physik, der Biologie und den technischen Medien gestützte Wahrnehmungsmodell erlaubt der modernen Gesellschaft inmitten ihrer rasanten technischen Entwicklung die wandelnden Konfigurationen und Lücken zwischen Wahrnehmungsüberflutung und sinnerfüllender Kommunikationshoffnung zu schließen. Die aisthetische Begegnung mit Tanz wird einem kulturell-ästhetischen Bereich überstellt, der sinnlich-sinngebend zu operieren versteht und einen kulturellen Gegenpart einnimmt. Jene konzipierte Wahrnehmungsleistung des Tanzes bindet Blick, Körpergefühl und Imagination einheitlich in den »tänzerischen Sinn« ein, der, folgt man der Tanztheorie des Ausdruckstänzers Rudolf von Laban, zugleich expressive Wertigkeiten der Bewegungen symbolgebend zu vermitteln weiß.3 Die historischen Theoriemodelle des modernen Tanzes haben bis heute ihre Spuren hinterlassen. So blieb auch für die Tanzwissenschaft bis zum Ende des 20. Jahrhunderts die Auffassung prägend, analytisch einer ephemeren, flüchtigen und daher, wie etliche Autoren betonen, sprachfremden Kunst zu begegnen. Da sich – wie ideologiekritische Stimmen vernehmen lassen – »die Flüchtigkeit der Bewegung (sich) dem gesprochenen und geschriebenen Wort (entzieht)« (Klein 1992, S. 14) und die Gefahr vorherrsche, »ein dynamisches, räumlich-zeitliches Geschehen auf ›verbale Äquivalente‹ zu reduzieren« (Stüber 1984, S. 17), kann das Spannungsverhältnis zwischen Tanz und Sprache nur als konstitutiver Hiatus behandelt werden. Auch aus phänomenologischer Perspektive scheint die Tanzkunst vornehmlich eine emphatische Erfahrung im Sinne eines realen Bewegungserlebens vermitteln zu können.4 Doch hat sich im Laufe der letzten beiden Jahrzehnte die tanzwissenschaftliche Forschungslandschaft deutlich ausdifferenziert und dezidierte analytisch oder gar graphisch konzipierte Schreibmodelle über Tanz und Bewegung im Sinne einer reflexiven Aisthesis entwickelt.5 Gleichwohl kommt für viele insbeson3 4 5
Vgl. zur Tanztheorie von Rudolf von Laban: Huschka (2013). Vgl. Jeschke (1996). Auch andere Autoren wie Deborah Jowitt oder Isa Wortelkamp argumentieren für den aufgespannten Hiatus zwischen Sprache und Tanz über die ästhetische Kategorie des Tanzes als flüchtige Kunst. Das Flüchtige und Ephemere bildet indessen für sie Ausgangs- und Fluchtpunkt einer eigenen Methodologie und eines eigenen Schreibprojekts. Letzteres gilt vor allem für Isa Wortelkamp (2016). Vgl. auch das von ihr zusammen mit Daniela Hahn geleitete Forschungsprojekt: Writing Movement. Inbetween Practice and Theory Concerning Art and Science of Dance, VolkswagenStiftung, Freie Universität Berlin 2015 – 2016.
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz
dere amerikanische Wissenschaftlerinnen (u.a. Sheets-Johnstone)6 Tanz phänomenologisch und vor dem Hintergrund einer sprachkritischen Haltung mit einem ästhetischen Medium unmittelbarer Verständigung überein. Demgegenüber hat sich eine semiologische Strömung etabliert, die schon in den späten 1980er Jahren von Susan Leigh Forster7 vorangetrieben, das nonverbale Kommunikationsmodell von Tanz einer radikalen kulturkritischen Revision unterzogen. Tanz als ephemeres Ereignis unmittelbarer Wirkungskraft zu verstehen verhindere – so ihre Kritik –, das Prozesshafte und Performative des Tanzes analytisch zu fassen und deren ästhetisierende Prozesse zu untersuchen. Systematisch müssten vielmehr all jene konstituierende Prozesse körperlicher Gestaltwerdung und theatraler Repräsentation in den Vordergrund der Analyse treten. Die Weisen, Körperlichkeit und damit ein »Zur-Welt-Sein« (Merleau-Ponty)8 im Tanz auszuspielen, gelte es zu untersuchen. Denn Tanzaufführungen tragen – gestalthaft und choreographisch organisiert – spezifische Sinnebenen, die an die Zuschauer vermittelt keineswegs unmittelbar fungieren, sondern lesbar und verstehend nachvollzogen werden können. In den Sportwissenschaften hat das nonverbale Kommunikationsmodell ebenfalls Nachklang gefunden und theoretische Zugänge zur Körperbewegung geprägt, wie etwa in Theorien der Spielpraxis (Gebauer/Alkemeyer 2001), die performativen Aspekte des Sports in den Mittelpunkt rücken. Vor dem Hintergrund des Bourdieu’schen Habitus-Begriffs klingt auch hier die kommunikationstheoretische Prämisse an, wonach »der Körper […] sich unmittelbar mit(teilt)«, denn »seine Bewegungen aktualisieren Bedeutungen. […] Der ganze Körper wird zu einem Instrument, […] das in Schwingungen gebracht wird und Resonanzen erzeugt.«9 Dieses Modell einer »aufbewahrten Kommunikation«10 – »In sportlichen Bewegungen ist der Körper mitseiner ganzen sinnlichen Präsenz vorhanden. Es genügt, ihn anzusehen, um den spezifischen Rhythmus einer Sportart zu erfassen.«11 – weist eine eigentümliche Analogie zu den modernen Tanztheorien auf, die Körperbewegung als reinen Transmitter von Kräften begreifen. Tatsächlich bedingt das nonverbale Kommunikationsmodell einen doppelten und in sich zerrissenen Zugang zum Verstehen von Tanz/Bewegung: Gleichsam euphorisch wie verhalten wird einer Wahrnehmung seines Geschehens als phänomenologische, erlebnis- und (bedingt) erfahrungsorientierte Begegnung zugeredet: euphorisch, da in der Begegnung eine sinnlich-erlebbare Verständigungsleistung des Menschen erfahren wird; verhalten, da trotz jenes unmittelbaren Erlebens
6 7 8 9 10 11
Sheets-Johnstone (1980, S. 132). Vgl. Foster (1986) (1996) (2011). Merlau-Ponty (1974, S. 106.) Gebauer/Alkemeyer (2001, S. 120). Ebd., S. 121. Ebd.
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eine sprachliche Verständigung darüber nicht obsolet wird, gleichwohl sie oftmals für überflüssig erklärt und zugleich als unzureichend erfahren wird.
2.2
Sprachlos-Werden im Angesicht des Tanzes
Pointiert betrachtet, konzeptionalisiert das nonverbale Kommunikationsmodell unmittelbaren Verstehens von Tanz/Bewegung einen Bereich des Sprachfremden seines praktizierten, gelernten und performten BewegungsWissens. In den Vordergrund rückt das Sprachlose von Tanz und seiner Erscheinungen, das Verschwiegene seiner Praxis und ein Sprachlos-Werden in Situationen der Begegnung. Dabei lassen sich sehr unterschiedliche Szenarien der Sprachlosigkeit ausmachen, die in der Tanzkritik und Tanztheorie angesiedelt sind und die eigene Haltung im Schreiben oder auch Nicht-Schreiben-Können markieren. Die frühen amerikanischen Tanztheorien von John Martin und Edwin Denby spiegeln eindrücklich solche Szenarien; zwei Tanzkritiker, die sich angesichts einer sich modernisierenden Tanzkunst eine ›angemessene‹ ästhetische Rezeptionshaltung erarbeiten. Denby12 etwa schreibt: »At a show you can tell perfectly well when it is happening to you, this experience of an enlarged view of what is really so and true, or when it isn’t happening to you. When you talk to your friends about it after the curtain goes down, they sometimes agree, and sometimes they don’t. And it is strange how whether they do or don’t, it is very hard usually to specify what the excitement was about, or the precise point at which it gave you the feeling of being really beautiful. Brilliant, magnificent, stupendous, no doubt all these things are true of the performance, but even if you and your friends agree that it was all those things, it is likely that there was some particular moment that made a special impression which you are not talking about« (Denby 1998 (Dec. 1954, S. 254). Für Denby ist das Sprachlose der Begegnung mit Tanz geradezu eingeschrieben, eingebettet in einen Erlebnismoment, der sich im Wahrnehmen unwillkürlich ereignet. Als connaisseur, Formalist und Sensualist analytischer Schriften zum Tanz gerät seine Wahrnehmung in Aufregung und wächst zu einer Amplitude gesteigerter, »intelligenter« Sinneswahrnehmung heran: Man »fühlt« mit dem Gesehenen zu Sehen. Die emotionale Allianz zum Tanz gerät jedoch nach Ende der Aufführung ins Straucheln und lässt allein einen unscharfen Erlebnishorizont zurück. Das klar und eindeutig Empfundene verliert bei dem Versuch seiner kommunikativen Vermittlung an sinnstiftender Klarsichtigkeit, womit gleichsam das erfahrene 12
Edwin Denby (1903-1983) war als Tanzkritiker ab 1942 beim New York Herald Tribune tätig und wurde als ausgewiesener Ballettliebhaber zu einem der bedeutenden amerikanischen Kritiker.
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz
Erlebnis selbst zur Disposition steht, ja rückblickend nahezu komisch ob seiner traumentrückten Klarheit erscheint. Und obwohl das Erlebte lebendig spürbar ist, formuliert Denby ein Zögern, das Erlebte im Gespräch überhaupt benennen und beschreiben zu wollen. Der Gedanke an das zuvor kristalline Erlebte widersetzt sich dem Wunsch seiner Versprachlichung und so öffnet sich ein diffuser Raum, in dem sich Denby einer Kette von Fragen ausgesetzt sieht: »Did you really see anything? […] Was it a real excitement you felt? What is left over of the wonderful moment you had, or didn’t you really have any wonderful moment at all, where you actually saw on stage a real person moving and you felt the relation to your real private life with a sudden poignancy as if for that second you were drunk?« (Denby 1998 [Dec. 1954], S. 254). Das wahrnehmungsästhetische Seh-Erlebnis verweist für Denby keineswegs auf einen essentialistischen Kern der Tanzaufführung oder auf eine hieraus unmittelbar folgende Sinnstiftung des Gesehenen. Denby qualifiziert die Erfahrenssphäre seiner Wahrnehmung vielmehr als ein Widerfahrnis, das ihn in eine Art von Trunkenheit geführt hat. Dieser Moment des Trunkenen deutet Denby nunmehr als einen qualitativ sinnlichen Wahrnehmungsmodus, der auf eine Erlebnisqualität des Wahrgenommen verweist, aus der heraus er sein Schreiben in Gang setzt. Der Schreibprozess zeichnet erinnernd und reflektierend das wahrnehmungsästhetisch ergangene Trunkene nach: »Dance criticism has two different aspects: one is being made drunk […]; the other is expressing lucidly what you saw when you were drunk« (Denby 1998 [Dec. 1954], S. 254). Die Szene des Sprachlosen markiert damit einen Übergangsmoment, eine Schwelle, aus der heraus das ergangene sinnliche Wahrnehmungsmoment nachträglich in einen reflexiven Schreibvorgang überführt wird. Eine ganz andere Szene des Sprachlosen unterbreitet John Martin, einflussreichster Kritiker und Theoretiker des amerikanischen modern dance. Während der Premiere von Dark Meadow (1946), einer Choreographie von Martha Graham, widerfährt auch ihm ein Moment von durchschlagener Sprachlosigkeit: »I had quite an ordeal with one of Martha Grahams’s premieres. […] a premiere of a work called Dark Meadow, with a score by Carlos Chavez, and it was a perfectly bewildering piece and that point never came where I said ›ah, now I see.‹ […] There was nothing; the ›umms‹ and the ›ahhs‹ were all you could review of this piece, […]. I had to rush back and write, heaven knows what. […] I struggled through the review. I wrote, as frankly as I could, that this was the most bewildering piece Martha had ever done, and you had to make your own judgements of what it was about. It was moving, but, in effect I said that I really didn’t know what it was about, as honestly as I could« (Martin 1967, S. 83; zitiert nach Franko 1996, S. 41).
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Martin ist nach dem Besuch der Aufführung außerordentlich verstört. Eine gleichsam beherrschende Verstörung schafft sich Raum, die sich dem eigenen Schreiben entgegenstellt und keineswegs ein schreib-initiierendes Erlebnismoment in Gang setzt. In einen Zustand von Panik versetzt, weiß der erfahrene Tanzkritiker nichts über das Gesehene zu berichten, da er mit der Choreographie keinen Erlebniswert verbinden kann, der sich als jener markante Moment eines »Ah – I see« verdichtet. Die besuchte Aufführung versperrt sich Martins Blick, ja sein eingeübter ästhetischer Blick verstellt ihm geradezu eine Einsichtnahme in das Werk und stellt sich seiner Wahrnehmung entgegen. Konsequenterweise herrscht ein Zustand purer Verzweiflung. Das »Ah«-Erlebnis ist für Martin Ausgangspunkt seines sprachlich informierten Zugangs zum Tanz, setzt es sein Schreiben doch in Gang, um Choreographien interpretativ zu beleuchten. Jener mangelnde Erlebnismoment indessen, den Martin angesichts von Grahams Tanzaufführung ereilt, versetzt ihn in ein SprachlosWerden. Ebenso wie Denby sieht sich auch Martin mit einer Anzahl von Fragen konfrontiert, die sich allerdings nicht auf den Wahrnehmungsmoment als zweifelhaftes Erlebnis richten, sondern das unmöglich-Werden des Schreibens umkreisen. Sein erprobter und überdies theoretisiert diskursiv-ästhetischer Zugriff auf Tanz steht hier radikal zur Disposition, da das Erlebnis kein Licht des Verstehens auf das Wahrgenommene wirft. Martin ringt um einen zentralen Sinn(es)Moment, von dem aus er seinen Rezensionstext schreiben könnte. »What she (Martha Graham e.E.) has done is a miracle of sheer invention, but invention not on an intellectual plane, but on the subjective level of pure intuition« (Martin 1946, S. 31). Wenige Tage später erscheint dennoch seine Kritik, in der Martin überraschenderweise kundtut: »To approach it (the piece e.E.) in the conventional attitude of a work on a dramatic theme is to miss it altogether; whatever its program notes may imply to the contrary, it is as abstract as any symphony. Looked at from this angle, the meadow appears far less dark« (Martin 1946, Sektion 2, S. 2). Schon im Moment der Textabgabe der ersten Kritik wird sich Martin seiner unzureichenden, ja fehlerhaften Einschätzung des Stücks bewusst und wendet das Erlebte geradewegs ins Gegenteil. »That was one of the most terrible moments of my thirty-five years on the Times« beurteilt Martin später den ästhetischen Irrtum. Die vollzogene Revision markiert eine zentrale Korrektur in Martins ästhetischem Denken, das er in seinem prägenden Theorieentwurf zum modern dance dargelegt hat.13 Beide Szenen des Sprachlosen, mal ein trunkenes, mal ein verzweifeltes Stolpern über ein widerfahrenes Erlebnis, markieren den Einsatz eines selbst-reflexi13
Vgl. Martin (1933) und Martin (1936).
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz
ven Schreibprozesses. Während Denby das Sprachlose als erlebten Erfahrungsmoment des Trunkenen reflektierend in einen Schreibprozess überführt, konfrontiert das Sprachlos-Werden Martin mit einem konstitutiven Nicht-Verstehen des Gesehenen. Für Denby bildet das Erfahrene den Übergang zu einer sprachlichen Reflexion des Wahrgenommenen, für Martin indessen markiert die Szene des Sprachlosen die Risse seines Zugangs zum Tanz und fördert in seinem Schreiben einen Perspektivwechsel heraus. Er erkennt, dass er seinen wahrnehmend-verstehenden Fokus auf Tanz verändern kann: »At last I see what this is about. I see where to stand« (1967, S. 83; zitiert nach Franko 1996, S. 43).
2.3
Aufzeichnungstechniken von Tanz/Bewegung
Angesichts einer sozial manifestierten Körperentfremdung unserer Gesellschaft inmitten medialer Bilderfluten und beliebig mutierender Körper genießt die tanzende, sich bewegend-bewegte Physis ungeteilte Bewunderung, vor allem wenn sie im artistischen Rausch atmosphärisch und ereignishaft ein virtuoses Bewegungswissen zur Wahrnehmung bringt. Wahrnehmungsästhetisch sinkt der Blick in den Schein originärer Körperlichkeit ein, der den Hauch sinnlicher Unmittelbarkeit versprüht. Tanz bleibt – eingefasst von gesellschaftlichen Realitäten leiblich-sinnlicher Leere – ergreifend und fasziniert. Jene wahrnehmungsästhetischen Resonanzen korrespondieren mit zeitgenössischen technologischen Zugängen, die auf interaktiven Webportalen das ästhetisch geprägte Bewegungswissen des Tanzes sichtbar machen und als Lerntool über Bewegungsprozesse präsentieren. Vor allem die interdisziplinär angelegten Forschungsprojekte der Forsythe Company Motion Bank und Synchronous Objects folgen der Idee, das spezifische ästhetische Wissen, wie es in choreographischen Prozessen auftritt, zu durchdringen und für kulturelle und andere künstlerische Felder nutzbar zu machen. Dies wirkt bestechend in seiner Vision: Die Kunst des Tanzes scheint in ihren Wissenspotentialen erschließbar. Ihre zeitgenössischen Forschungszugänge erarbeiten digitalisierte Bewegungsarchive, die dank ihrer technologisch erzeugten Spurlegungen von Bewegungen, Ähnlichkeiten zu tatsächlichen körperlichen Bewegungsvollzügen ausweisen. Dank der graphischen Präsentationsweise von Bewegungsvollzügen spielen sie dem Betrachter und Nutzer die Logiken und das in ihnen angewandte Wissen visualisiert zu. Tanz und Choreographie präsentieren sich als Wissensfelder, die komplexe Bewegungsabläufe kreativ, geordnet und nahezu selbst regulierend hervorbringen. Doch welche analytischen Prozesse liegen den erzeugten Bildern zu Grunde? Welche Arten von Wissen werden präsentiert und welches Interesse lenkt ihre Forschung und Analyse? Körperliche Bewegung in ihren ›Arbeitstechniken‹ zu verstehen, markiert spätestens seit der Moderne ein kulturell und technologisch verfolgtes Projekt, das
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der Aufzeichnung und gleichermaßen der Analyse von Bewegungsmechanismen, ihren Kräften und ihren physiologisch kontrollierbaren Abläufen gewidmet ist. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts geben Photographie und Film Bewegungen eine stillgestellte und reproduzierbare Gestalt. Ihre Aufzeichnungstechniken überführen Bewegung in neue Formen der Evidenz, die ihr eine bis dahin unbekannte Sichtbarkeit verleihen und zum objektivierten Gegenstand analytischer Untersuchung erheben. Doch wie operieren ihre analytischen Aufzeichnungsmodelle, die im Bereich von Kunst und Kultur in den letzten Jahren vordringlich der Erarbeitung von Archiven gewidmet sind? Welche Funktionen und Optionen unterliegen ihren Analyse- und Aufzeichnungsmodellen von Tanzbewegungen? Der Aufbau medialisierter Tanzarchive unterliegt einem medienarchäologischen Zugang, d.h. bei der Arbeit an derartigen Archiven interessiert, so betont Wolfgang Ernst, »weniger die kulturemphatische Bewahrung denn die Ermöglichung von Analyse«14 . Ihre Verfahren der Archivbildung haben Analyseoptionen von Choreographien oder Tanztechniken in sich aufgenommen und basieren auf diesen. Insbesondere die künstlerisch-interdisziplinär angelegten Forschungsprojekte der Forsythe Company verdeutlichen dies: Motion Bank, der in Deutschland 2010 gestarteter vierjähriger Forschungszusammenhang zur Erstellung digitaler Online-Partituren und einem digitalen Archiv choreographischer Praktiken; sein Vorläufer Synchronous Objects, das digitale Bewegungsarchiv und Webportal, das auf eine vierjährige Forschung (2005-2009) amerikanischer Provenienz an der Ohio State University zurückgeht, sowie das erste digitale Bewegungsarchiv des Ballett-Frankfurt, die CD-ROM Improvisation Technologies. Generiert werden mediale Bild-Bewegungsmodelle, die auf spezifische Weisen Bewegungswissen analysieren und zugleich in sichtbarer Gestalt – wiederholbar zu betrachten – als Bewegungswissen zeigen und Tanz in bewegte Bilder analytischer Durchdringung präsentieren.
3.
Digitale Analysezugänge
3.1
Das Konzept
Die Synchronous Objects gewinnen ihr Selbstverständnis aus der Arbeit des Forscherkollektivs, in dem Künstler wie Wissenschaftler aus diversen UniversitätsInstituten wie Computer Science und Graphics, Architektur, Neurowissenschaft,
14
Ernst (2010) stellt wissenschaftshistorisch Analogien bestehender algorithmischer und physiologischer Bewegungskonzepte und ihre Wissensarsenale von Kinetik heraus und betont die Bedeutung technologischer Analyseoptionen wie etwa der Motion Tracking-Kamera als epistemologische Bedingung und Möglichkeit von Tanzarchiven.
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz
Animation Tanzwissenschaft und Philosophie vertreten waren. Synchronous Objects gehen zurück auf das an der Ohio State University am Advanced Computing Center for the Arts and Design (ACCAD) beheimatete Forschungsprojekt (2005-2009), das die bestehenden Bewegungsstrukturen einer filmischen Aufzeichnung von One Flat Thing, reproduced untersucht hat, um diese disziplinär zu erkunden und kulturell nutzbar zu machen. Die Website präsentiert damit die Ergebnisse und einzelnen Arbeitsschritte des interdisziplinär angelegten Forschungszusammenhanges, an dem die Kunst- und Wissensdisziplinen wie Tanzwissenschaft, Informatik, Graphikdesign, Architektur, Geographie, Neurowissenschaft, Statistik, Animation und Philosophie beteiligt waren. Von Beginn an markierte das Ziel des Forschungsprojekts eine mediale und graphische Aufbereitung und Darstellung ihrer Recherchearbeit.15 Die Intro der Website formuliert den Leitgedanken der Forschungsidee: »Synchronous Objects reveals the interlocking systems of organization in William Forsythe’s ensemble dance One Flat Thing, reproduced through a series of objects that work in harmony to explore its choreographic structures and reimagine what else they might look like.«16 Auch der Untertitel von Synchronous Objects deutet bereits das Forschungsprinzip und dessen logische Struktur an: »Visualizing Choreographic Structure from Dance to Data to Objects«. Offensichtlich geht es um eine analytische wie mediale Transformation choreographischer Strukturen, die Gewinnung spezifischer Daten und ihre Aufbereitung in »Objekte«, also die Erarbeitung anderer Gestaltungsweisen. One Flat Thing reproduced verlängert sich sozusagen über diese Arbeitsschritte in andere Visualisierungsobjekte, wie etwa den »Data Fan« [lila]. Das Gesamtprojekt formt ein mediales Archiv von Bewegungs- und Organisationsstrukturen und bereitet dieses als interdisziplinär nutzbares Wissen über Tanz auf. Dabei fungiert der Tanz – respektive die Choreographie – als primäres Referenzsystem unter den beteiligten Disziplinen, d.h., alle Beiträge (objects) 15
16
Die abschließende Repräsentation der Forschungstätigkeit verzichtet in ihrem Netzauftritt darauf, den Unterschied zwischen den Ergebnissen der Forschung und ihrem Untersuchungsgegenstand zu erkennen zu geben. So zeigen sich Module wie etwa »Statistical Counterpoint«, »FurnitureSystem«, »Center Sketch«, »Cue Visualizer«, »Statistical Counterpoint«, dem »Generative Drawing Tool« oder den »3D Alignment Forms« gleichwertig zu »The dance«, die serielle »visuelle Objekte« zeigen. Alle Module folgen demselben choreographischen Entwurf, d.h. allen Modulen unterliegt in analoger Weise die (analysierte) Logik und choreographische Struktur von One Flat Thing, reproduced – ununterschieden zur Choreographie selbst. Sie ist in allen gleichsam wirksam. Vgl. ebenso die Introduction auf der unteren Headzeile der Website: »From dance to data to objects, Synchronous Objects reveals the interlocking systems of organisation in the choreography of William Forsythe’s One Flat Thing, reproduced (2000). Those systems were quantified through the collection of data and transformed into a series of objects – synchronous objects – that work in harmony to explore those choreographic structures, reveal their patterns, and reimagine what else they might look like.«
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operieren disziplinspezifisch mit den Bewegungsstrukturen und transformieren das analysierte Bewegungswissen dieser einen Choreographie. Diese richten sich nicht nur auf die gestalterische Vermittlung der kompositorischen Gestaltungspotentiale von One Flat Thing, reproduced. Die Website kommt darüber hinaus einem Wissensepos gleich, präsentiert sie sich doch als große technologische Erzählung einer letztlich geglückten Forschung.17 So finden sich zu jedem Modul graphisch abgesetzte Unterkapitel mit »ObjectExplanation«, »Process Catalog« und »Related Objects«. Diese informieren den Nutzer auszugsweise über die Fragestellungen, Irrtümer und graphischen wie technologischen und mentalen Anstrengungen, die es brauchte, um die knapp 15minütige und dennoch zeit-räumlich hoch komplexe Choreographie für 17 Tänzer analytisch zu fassen. Der »Process Catalog« führt jeweils exemplarisch in die verschiedenen Entwicklungsphasen der Forschung ein, dokumentiert Analysefragen und Erstentwürfe, womit ansatzweise ein Einblick in die Komplexität der interdisziplinären Auseinandersetzung mit dem Material gegeben wird. Die Konzeption des 2005 u.a. von Rebecca Groves und Scott deLaHunta am Dance Departement der Ohio State University zusammen mit William Forsythe initiierten Forschungsprojekts sah von vornherein die Erarbeitung eines technologischen und computergraphisch aufbereiteten Archivs vor. Geschaffen werden sollte ein öffentlich zugängliches digitales Bewegungsarchiv der Arbeit von Forsythe, eine »Motion Bank«18 . Damit verbunden war eine weitere Funktion, nämlich ein »learning tool« für Choreographen und Tänzer bereitzustellen.19
3.2
Material und Medialität
Zur Realisierung einer »Motion Bank« konzentrierte sich das Projekt auf die Analyse der choreographischen Prinzipien von One Flat Thing, reproduced, ihrer Logik und
17
18
19
Vgl. Lexikoneintrag: »Epos [das; Plural Epen; griechisch, ›das Gesagte‹, ›Sage‹] […] eine Großform der Epik: eine Verserzählung in gehobener Sprache, in der vor mythologischem oder historischem Hintergrund von abenteuerlichen und schicksalhaften Begebenheiten innerhalb eines geordneten Weltgefüges berichtet wird. Kompositionsprinzip ist die lockere Aneinanderreihung von Episoden, ein gleich bleibendes Metrum und eine hohe Stilebene mit oft formelhaften Wendungen«, zitiert nach: www.wissen.de/wde/generator/wissen/ressorts/unterhaltung/buecher/index,page=1093244.html (letzter Zugriff: 15. August 2011). Die Idee einer »Motion Bank« stand am Beginn des Forschungsprojekts und gab dem Projekt seinen Namen. Vgl. Rebecca Groves, Scott deLaHunta, Norah Zuniga Shaw: »Apropos Partituren: William Forsythes Vision einer neuen Art von »Tanzliteratur«.«, in: Wisssen in Bewegung. Hg. V. Sabine Gehm, Pirkko Husemann und Katharina von Wilcke, Bielefeld 2007, S. 91-101. In einem Interview in Dresden Hellerau im April 2009 berichtet Forsythe über seine Gründe, das Projekt zu starten:www.youtube.com/watch?v=xqlq3q5RMrc [ab 2:57 – 4:22 (ca.)]. Stand: 29.08.2011
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz
Wirksamkeit und zwar in seiner Filmfassung.20 Die von dem Filmemacher Thierry de Mey 2005 am Premierenort der Uraufführung, dem Bockenheimer Depot in Frankfurt a.M. aufgenommene Choreographie – aufgezeichnet aus der Frontperspektive, von oben wie auch von beiden Seitenflügeln des Gebäudes – stand den Forschern stets vor Augen.21 Es ist somit kein Aufführungsgeschehen in seiner performativen Erscheinung, das zur Basis ihrer Analyse und Gestaltungsarbeit wird. Primärquelle und Untersuchungsgegenstand ist eine gefilmte Aufzeichnung. Diese mediale Ausgangslage bedingt entscheidend die Analyse und ihre gewählten wie erarbeiteten Parameter. Die körperliche Performativität des Tanzes gewinnt einen nahezu absoluten Status von Sichtbarkeit und zeigt sich selbst als Bild- und Datenprozess einer zeit-räumlichen Organisationsform von Bewegungsabläufen, deren Operationsweisen quasi Bild für Bild analysierbar werden. Doch wird das Ausgangsmaterial in seiner Medialität von den Synchronous Objects nicht explizit reflektiert oder thematisiert, obwohl es gerade die Filmfassung ist, die den Tanz in ein aufgezeichnetes Bewegungsmaterial umwandelt und im wörtlichen Sinn von Choreographie als mediale Notationsform hervorbringt. Die Filmfassung transformiert das getanzte Ereignis in eine wiederholbare und unveränderliche Bildprojektion und etabliert damit den analytischen Blick.
3.3
Parameter der Analyse
Hervorgegangen ist ein komplexer Corpus analytisch gewonnener Daten, die zum einen in ein graphisch synchronisiertes Notationssystem eingearbeitet wurden. Unter der Benutzeroberfläche »View the Dance« zu finden, unterliegt es der Choreographie in einem gesonderten Fenster und nimmt in seinem analytischen Widerhall der bildlichen Bewegungsaufzeichnung ebenso den Status von Choreographie an, nunmehr in analoger Repräsentanz der etymologischen Bedeutung von ›Choreographie‹, nämlich als »Schriftzug«. Erkennbar werden die Grundraster der Analyse: die Dauer der Bewegungssequenzen, ihre personelle Zuordnung zu den
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Die Filmfassung [»the dance«] kann im Vollbildmodus allein für sich angesehen werden oder aber unter »view the dance« in einem kleinerem Fenster, unter dem simultan die entwickelte Notation mitläuft (s. Abb. 4). Premiere von One Flat thing, reproduced war im Jahr 2000 (Musik: Thom Willems), die Filmfassung mit den Tänzern Yoko Ando, Cyril Baldy, Francesca Caroti, Dana Caspersen, Amancio Gonzalez, Sang Jijia, David Kern, Marthe Krummenacher, Prue Lang, Ioannis Mantafounis, Fabrice Mazliah, Roberta Mosca, Georg Reischl, Jone San Martin, Christopher Roman, Elizabeth Waterhouse und Ander Zabala entstand im Jahr 2005 und ist zugleich in leicht veränderter Fassung auf YouTube zu finden. Interessanterweise finden sich in den Synchronous Objects selbst keine Hinweise zur Entstehung der Filmfassung, wie auch der Autor des Films selbst nicht genannt wird und damit die Quelle des Archivs wie auch der Gegenstand der Forschung nur unzureichend ausgewiesen ist.
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einzelnen Tänzern (markiert durch die Farben ihrer Trikots), ihre zeitliche und personelle Verknüpfung und Weitergabe und damit der zeitliche Einsatz von Bewegungen durch einzelne Tänzer (»cues«), die synchrone Verknüpfung einzelner Tänzer (»Synch-Ups«) sowie die Identifikation spezifischer Bewegungsmotive (»Movement Material«). In der Filmfassung erscheinen unterdessen ebenso farblich geschwungene Strichgraphiken, die das »Cueing« untereinander räumlich sichtbar machen (»Cue Annotations«) und entprechend einer weiteren Systematik der Choreographie die räumliche Ausweitung einzelner Bewegungen markieren (»Alignment Annotaions«). Diese graphischen Einzeichnungen machen die zeit-räumlichen Kongruenzen und Sukzessionen, die motivischen und zeitlichen Verknüpfungen der beteiligten 17 Tänzer sichtbar, ja sie visualisieren die Simultanitäten, die zeitlichen und räumlichen Verlagerungen und Verschiebungen und Wiederauftritte von Bewegungsphasen. Damit gewinnt die schnelle, rhythmisch komplexe und räumlich kaum nachvollziehbare Struktur des Stücks eine spezifisch gewählte Transparenz, mit der zugleich eine Abstraktionsebene eingelagert wird, die eine Sichtbarkeit der choreographischen Struktur nicht nur vorführt, sondern sie auch zugleich behauptet. Das primäre Augenmerk der Analyse liegt auf den raum-zeitlichen Strukturmerkmalen der Bewegungen und ihrer sich vernetzenden kompositorischen Anlage. So bildet One Flat thing, reproduced ein interaktives System von ›Cueings‹ aus, das kompositorisch kontrapunktisch operiert. Dabei senden die Bewegungen der Tänzer gewissermaßen raum-zeitliche Bewegungsspuren vernetzt aus, die in ihren sogenannten ›Alignments‹ visualisiert werden. Damit richtet sich die strukturelle Analyse auf die Fragen: Wo und wann korrespondieren Bewegungsmotive, wann und wo setzen Bewegungsphasen ein, d.h., wo und wann werden diese durch welche Tänzer initiiert und/oder ausgelöst, wie und durch wen wie häufig ausgesendet oder angenommen, verändert und weitergeführt und wie fungiert die Bewegung (energetisch) im Raum. Erfasst wird das zeit-räumliche Organisationsnetz der Tänzer in Bewegung. Das bewegungsanalytisch erarbeitete Notationssystem, welches das zeit-räumliche Bewegungsspektrum mit seinem kompositorischen Grundmotiv des »counterpoint« (Kontrapunkt)22 in eine anschauliche wie nachvollziehbare Sichtbarkeit überführt, erfüllt mehrfache Funktionen: Es bereitet eine Datenbasis auf, auf deren
22
Musikwissenschaftlich bezeichnet der Kontrapunkt »die Technik der Kombination gleichzeitig erklingender musikalischer Linien. Der heutige Begriff des Kontrapunktes schließt ein, daß die Einzelstimmen in rhythmischer und melodischer Beziehung voneinander unabhängig, gleichzeitig aber nach gewissen vorbestimmten Grundsätzen, z.B. denen der Harmonielehre (sic!), in Übereinstimmung gebracht sein müssen.« Friedrich Blume: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, Berlin 2001, S. 595-628, hier S. 596.
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz
Grundlage die verschiedenen Forscher ihre je eigenen Fragestellungen und kreativen Auseinandersetzungen weiterentwickeln konnten. Es materialisiert die Analyseparameter, formt das Datenmaterial, abstrahiert und formalisiert die gestalterische Struktur und Logik der Bewegungen. Dies wird deutlich, wenn man etwa die Videoausschnitte mit ihren eingezeichneten Spuren unter »Cue-Annotation« anschaut. So lassen sich diese sowohl im Modus ihrer verkörperten choreographischen Struktur beobachten als auch losgelöst von den Tänzern als reine Graphik aus animierten Strichsetzungen im virtuellen Bildraum (Abb. 1).
Abb. 1: Synchronous Objects, »Cueing System«
One Flat Thing, reproduced mit visueller Markierung
Das »Cueing« zeichnet die interne Logik der Bewegungsfolgen aus; ihr System organisiert die zeiträumlichen Einsätze der einzelnen Motive und Sequenzen. Die Besonderheit des »Cueings« in One Flat Thing, reproduced liegt in seiner angelegten Interrelationalität, in der sich die Tänzer untereinander venetzen. So wird die gesamte zeitliche Abfolgestruktur der Choreographie durch die Einsätze der Tänzer als Träger/Agenten (»Givers«) und Annehmende (»Receivers«) kontinuierlich in Gang gehalten. Visuell oder klanglich markiert, senden die Tänzer mit ihren Einsätzen – ihrem »Cueing« – die Bewegungen aus und empfangen sie und bestimmen somit in ihren Bewegungen die folgenspezifische Zeitstruktur des Stücks. Ihre konkrete körperliche Bewegungsausführung fungiert gewissermaßen als ›innere Uhr‹ der Choreographie, womit ästhetisch eine klare Überantwortung der Zeitstruktur an die Tänzer statthat. Es sind ihre Bewegungseinsätze, die der Choreographie einen Fluss geben, geformt zu einem interrelationellen Feld aus Be-
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wegungsbezügen. Das mitgeführte räumliche Netz ihrer Bewegungsausführungen um sie herum analysieren die Synchronous Objects unter dem Begriff des »Alignment« (Abb. 2).
Abb. 2: »All Cues«-Notation
Diese Graphik ist in die Webseite Synchronous Objects integriert und zum Herunterladen aufbereitet unter »Objects Explantation« von »Cue Annotations«. http://synchronousobjects.osu. edu
»Alignment« bezeichnet sonach die kontrapunktisch organisierte ZeitRaumstruktur. Mit dieser Begriffsführung von »Alignment« geht eine Wendung seiner angestammten physiologischen Bedeutung einher, mit der Alignment im Tanz- und Bewegungsbereich sonst üblicherweise verwendet wird. »Alignement« bezeichnet dort – etwa im New Dance oder in der Kontakt-Improvisation – die dynamische und muskulär entspannte Auf- und Ausrichtung des Körpers im Raum, die als gewissermaßen energetisches Bewegungsprinzip den Körper expansiv organisiert. Synchronous Objects nutzen diesen physiologischen Begriff, um mit ihm ein choreographisches Prinzip zu bezeichnen, das eine energetische und zugleich räumlich organisierte Verbindung der Tänzer-in-Bewegung untereinander anzeigt (Abb. 3).23
3.4
Choreographisches Wissen
Statt den Blick auf den singulären, individuellen Körper in dessen subjektiver Bewegungsausführung zu richten, folgt das ›analytische Auge‹ in Synchronous Objects den Maßgaben der raum-zeit-körperlichen Beziehungsfelder und Bewegungs23
Was nunmehr als »Alignment« bezeichnet wird, fungierte zunächst unter dem Begriff »hookup«. Vgl. unveröffentlichtes Gespräch und Interview der Autorin mit Scott deLaHunta.
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz
Abb. 3: »3D Alignment Forms«
»3DAlignment Forms« – Graphischer Animationsfilm
strukturen der einzelnen Tänzer untereinander und exploriert deren Organisationsprinzipien. Es geht um die räumlich-personelle Weiterreichung der 25 segmentierten Bewegungsmotive, womit eine kinetische Logik ihrer Vernetzungen destilliert wird. Mögliche Aspekte der körperzentrierten Bildung, das heißt der Generierung oder Initiierung von Bewegung oder gar der expressiven Formulierung von Bewegung spielen in den analytischen Blick nicht hinein. Die Analyse richtet sich vielmehr auf die dynamisch operierende Bewegungslogik des Stücks, um die raumzeitlichen Bahnungen ihrer Verläufe herauszuschälen und Strukturen ihrer Vernetzungen aufzuzeigen. Der Zugriff auf die Choreographie ist analytisch allein auf die interrelationale Organisationsweise ausgerichtet. Die Forschung präsentiert somit Choreographie als ein Gefüge dynamischer wie auch regelhaft agierender Bewegungsstrukturen zwischen verschiedenen Körpern, die visualisiert und damit nachvollziehbar werden innerhalb einer medialen Szenographie aus 17 Tänzern in einem Raum mit 20 Tischen. Die Choreographie erscheint als modulierendes und strukturgebendes Feld ihrer Bewegungen für die Dauer von etwa 15 Minuten, als regelgeleitete Bahnung aus Bewegungsverläufen und -bezügen, deren interpersoneller Widerhall, Veränderlichkeit und rezeptiver Genauigkeit von den Tänzern initiiert und geformt werden, die ganz in das Netz der fluktuierenden Bezüge eingelassen sind. Damit erscheint Tanz hier nicht als ein körperlich-leibliches Bewegungsgeschehen, sondern tritt als Kunst des Choreographischen auf, als Kunst, Organisa-
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tionsstrukturen mit Körpern in Bewegung zu schaffen. Forsythe pointiert dies in seinem Essay Choreographic Objects, der die Arbeit an Synchronous Object reflektiert, um Tanz und Choreographie als zwei verschiedene Modi der Bewegungsgestaltung zu differenzieren: »Choreography and dancing are two distinct and very different practices. In the case that choreography and dance coincide, choreography often serves as a channel for the desire to dance. One could easily assume that the substance of choreographic thought resided exclusively in the body. But is it possible for choreography to generate autonomous expressions of its principles, a choreographic object, without the body?« Forsythe versteht eine choreographische Praxis somit als eine Arbeit an den Organisationsweisen und Modi sich ordnender Bewegungen, die unabhängig von der Gestaltungsoption des Körpers gedacht und hervortreten können. Gleichwohl es in den Synchronous Objects offensichtlich weniger um die individuellen Körperformen und Gestaltungsaspekte geht als vielmehr um die strukturgebenden Performativitäten ihrer Bewegungsbezüge, wendet sich Forsythe gegen die Annahme, dass die choreographischen Objekte den Körper ersetzen: »A choreographic object is not a substitute for the body, but rather an alternative site for the understanding of potential investigation and organization of action to reside.« Wie aber sind die Bewegungen durch den Körper selbst generiert, und wie werden sie von den Tänzern gestaltet? Um diese Frage nach der bewegungstechnischen Logik und tanztechnischen Modulationen zu beantworten, ist es hilfreich, sich abschließend zu vergegenwärtigen, welche Analyseoptionen in Synchronous Objects keine Beachtung finden. So ist es auffällig, dass alle Aspekte der körperzentrierten Bewegungsbildung, also Aspekte der Generierung und Initiierung von Bewegung etwa durch Impulse, Schwünge, Rhythmen oder Atemführung ebenso vernachlässigt werden, wie etwa die koordinative Gestaltung der einzelnen Bewegungskörper oder ihre expressive Ausgestaltung etwa durch verschiedene Kraftund Spannungsmomente. Auch die physiologischen und imaginativ-strukturierenden Aspekte in der Bewegungsgenerierung und -formung, wie sie sich etwa als wahrnehmbare Stimmungen oder emotionale Fragmente artikulieren, werden in der Analyse nicht beachtet.24
24
Dass diese Aspekte gleichwohl den Tanz ausmachen, wird deutlich, wenn man sich die Filmfassung von One Flat thing reproduced anschaut, die von Arte ausgestrahlt und dreiteilig auf YouTube zu finden ist. Vgl. www.arte.tv/de/suche/1361084.html oder www.youtube.com/watc h?v=cufauMezz_Q&feature=related. Stand: 29.08.2011
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz
3.5
Improvisation Technologies
William Forsythe hatte schon Ende 1990 ein »Learning Tool« für Bewegung zusammen mit den beiden Mitarbeitern des ZKM in Karlsruhe, Volker Kuchelmeister und Christian Ziegler und einem Tänzer des Ballett Frankfurt, Nick Haffner erarbeitet, das 1999 unter dem Titel Improvisation Technologies ›Tool for the Analytical Dance Eye‹ veröffentlicht wurde.25 Was zunächst als internes Trainingsinstrumentarium für die Tänzer des Ballett Frankfurt gedacht war und als solches in Form einer interaktiven Computerinstallation seit 1994 eingesetzt wurde, ist auf der CD-ROM Fassung komprimiert worden. Vorgestellt werden die von Forsythe angewandten Strukturierungsmomente körperlicher Bewegung und Modi, Bewegung zu generieren. Zu diesen »generative modes« gehören etwa die Isometries oder aber das Grundprinzip räumlicher Organisation und Imagination von Bewegung point point line oder auch Gestaltungsprinzipien wie etwa avoidance oder rotating inscription, die in der Menueleiste unter »lines«, »writing«, »re-organizing« und »additions« gruppiert sind. Als ein Teilbereich des tanztechnischen Trainings und der choreographischen Arbeit helfen die vorgestellten Operationen, Bewegung re-organisierend zu gestalten und den eigenen Körper in seiner Wahrnehmung zu koordinieren und für Bewegung sensiblisieren zu können. So geht es auch hier vergleichbar zur analytischen Perspektive in den Synchronous Objects um die Organisationsgabe von Bewegung, die Zugänge und Bildung ihres kulturellen Archivs. Der analytische Blick konzentriert sich indessen auf das choreographische Potential des Körpers und wendet sich auf den Einzelkörper als Agens, Bewegungsformen zu generieren, memorieren und re-organisieren zu können. Auch bei den Improvisation Technologies greift Forsythe auf computergenerierte Aufzeichnungsmodi zurück, um analytische und visuelle Zugriffe auf Bewegung zu bekommen. Dabei verfolgte er das Ziel, die entwickelte improvisatorische Praxis der Tänzer, veräußert über Aufzeichnungen, analysieren und begrifflich strukturieren zu können. Gearbeitet wurde mit jener für das Ballett und dessen Bewegungslogik konstitutiven geometrischen Ordnung, die auf ihre Potentialität überprüft wurde, sich zu multiplizieren und aufzuspalten. Die Mitarbeiter des ZKM, wie etwa Paul Kaiser, interessierte an den Improvisational Technologies das verkörperte Bewegungswissen von Tänzern, und zwar in dessen augenscheinlicher Kompetenz, sich sowohl genauesten orientieren zu können, also mit dem Körper definitive Lagen im Raum einnehmen und sich raum-zeitlich re-organisieren zu können. Medial bearbeitet, wurden in die Bewegungsaufzeichnungen räumliche Spurlegungen eingezeichnet, um die Bewegung zu visualisieren. 25
Tatsächlich eignen sich die Improvisation Technologies als learning tool für Tänzer und Laien, da Grundprinzipien der Forsythe’schen Bewegungssprache in ihren Weisen der Mobilisierung, Koordinierung anschaulich und didaktisch erläutert vermittelt werden.
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Für Forsythe verband sich mit dem Projekt die Idee, die Wahrnehmungsprozesse von Bewegung veräußert nachzeichnen können. Das Kapitel reorganizing – isometries – sensibilities verdeutlicht mit den Erläuterungen von Forsythe die Kompetenz von Tänzern, Bewegungen des eigenen Körpers präzise im Raum ausrichten und formen zu können, womit sich ihr Bewegungsgedächtnis ausbildet. Repetitionen und Präzisierungen in den Bewegungen legen die Grundlage eines aufmerkenden Wahrnehmungsvermögens, über das Bewegungen erinnernd nachvollzogen oder auch re-organisiert werden können.
Ausblick: Kulturelle Visionen des Choreographischen Die gemeinsame Idee und gewissermaßen das innere Scharnier, das in beiden Forschungsprozessen zur Archivierung choreographischer Bewegung wirksam ist, konkretisiert sich in der Medienarbeit zur Visualisierung von Prozessen und Mechanismen, die im Tanz selbst unsichtbar wirksam sind. Körperliche Bewegungsprozesse treten somit als visualisierte Spurlegungen ihrer choreographischen Operationen in Erscheinung. Während diese in den Improvisation Technologies in den Radius des tänzerischen Könnens einzelner Körper zurückweisen, bleiben ihre Repräsentationen in de Synchrounous Objekts selbstreferentiell auf ihre interrelationalen Logiken verwiesen. Hier steht das Choreographische für die konkrete Möglichkeit des Mediums Tanz ein, einen fluktuierenden gemeinsamen kreativen Gestaltungszeitraum zu bilden, dessen Bewegungsprozesse eine interrelationale Logik sinnfällig vernetzt. Segmentiert in ihren interaktiven Spurlegungen, zeigen sich die Bewegungsverläufe und Motive als kinästhetische Bahnungen eines raum-zeitlichen Gefüges, das im Stande ist, komplexe Muster und vernetzte Gebilde hervorzubringen. Hierin liegt denn auch die ideelle und zugleich politische Vision des Projekts Synchronous Objects – zumal als iteratives Design angelegt26 – nämlich Tanzkunst ausschließlich als Choreographie zu betrachten, dessen Kunstfertigkeit ein choreographisches Denken in unsere Kultur zurückspielt. Das vermittelte choreographische Wissen zeigt sich als ein Gefüge dynamisch-komplexer und zugleich regelhaft reagierenden Beziehungslogiken ihrer Agenten. Vorgeführt werden – aller Komplexität zum Trotz – harmonische Zusammenspiele, soweit ein ›intaktes‹ Beziehungsnetz zwischen ihnen wirksam ist.
26
›Iteratives Design‹ ist die Bezeichnung für eine spezifische, auf Wiederholungen angelegte Arbeitsmethode im Rahmen von interaktiven Multimediaprojekten, bei der in einem zyklischen Verfahren erprobend, analysierend und jeweils verfeinernd eine Prototypisierung erarbeitet wird. Entsprechend sind Synchronous Objects unter der Zielsetzung entstanden, einen Prototyp einer graphisch wie technologisch aufbereiteten Analyse zu erarbeiten, die auf weitere andere Choreographien angewandt werden kann.
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz
Choreographie fungiert quasi als kulturelles Sinnbild unseres komplexen und vernetzten Lebensraumes, wie er im Grunde die Welt des 21. Jahrhunderts charakterisiert. Choreographische Praxis zeigt sich als komplexe Ordnungs- und transformatorische Organisationskunst, deren Bewegungen Beziehungen schafften, die es verstehen, harmonisch zusammenzuwirken. Hierin liegt – wenn man so will – das zukunftsweisende Potential von Synchronous Objects, nämlich, choreographisches Wissen als ein notwendig kulturelles Wissen in Anschlag zu bringen, dass jenseits einer subjektzentrierten und humanistischen Idee eine Vision postmoderner Körperlichkeit vorführt, in der der Einzelne sich ko-existierend mit anderen und in einer strukturierten Matrix der Welt bewegt. Das Choreographische tritt als ein kulturelles Wissen auf, das es vermag, sich ordnende Raum-Zeit-Geflechte zu gestalten. Damit übernimmt Choreographie im Grunde die Aufgabe einer Kulturtechnik, nämlich inmitten des Chaotischen gestaltend wirken zu können.27
Literatur Baxmann, I. (2000). Mythos: Gemeinschaft. Körper- und Tanzkulturen in der Moderne. München. Böhme, F. (1926). Tanzkunst. (2. Aufl.) Dessau. Brandenburg, H. (1931). Der moderne Tanz (2. Aufl. 1917; 3. Aufl. 1921). München. Brandstätter, G. (1995). Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a.M. Denby, E. (1998). Dance Writings and Poetry. Hg. v. R. Cornfield. New Haven/ London. Ernst, W. (2010). Bewegung und Archiv. Ein medienarchäologischer Zugang zum Tanz. In: J. Schulze (Hg.), Are 100 objects enough to represent the dance? Zur Archivierbarkeit von Tanz. München. S. 210-225. Forysthe, W./B. Blackstone/J. Sir P. (2002). Podiumsgespräch: Kultur im 21. Jahrhundert – Chancen und Zwänge. In: Brücken in die Zukunft – Museen, Musik und darstellende Künste im 21. Jahrhundert. Hg. v. Herbert-Quandt-Stiftung, Bad Homburg. Forster, S. L. (1986). Reading Dancing. Bodies and Subjects in Contemporary American Dance. Berkeley/Los Angeles. Forster, S. L. (Hg.). (1996). Corporealities. Dancing Knowlegde, Culture and Power. London/New York. Forster, S. L. (2011). Choreographing empathy. London [u.a.]
27
Vgl. Huschka/Siegmund (Hg.) (2021) sowie Hartmut Böhme/Sabine Huschka: »Prolog«, in: Huschka (Hg.) (2009) S. 7-20.
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Sabine Huschka
Franko, M. (1996). History/Theory – Criticism/Practice. In: Forster, S. L. (Hg.), Corporealities. Dancing Knowlegde, Culture and Power. London/New York. S. 2552. Gebauer, G./T. Alkemeyer (2001). Das Performative in Sport und neuen Spielen. In: Paragrana 10: Theorien des Performativen (2001:1). S. 117-136. Huschka, S. (2002/2012). Der Moderne Tanz. Konzepte – Stile – Utopien. Reinbek. Huschka, S. (Hg.) (2009). Wissenskultur Tanz. Historische und zeitgenössische Vermittlungsakte zwischen Praktiken und Diskursen. Bielefeld. Huschka, S. (2013). Low Energy – High Energy: Motive der Energetisierung von Körper und Publikum im Tanz. In: B. Gronau (Hg.): Szenarien der Energie: zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen, Bielefeld. S. 201-222. Huschka, S. (2017). Bewegung. In: Kraus, A/J. Budde/M. Hietzge/C. Wulf (Hg.): Handbuch: Schweigendes Wissen. Erziehung, Bildung, Sozialisation und Lernen, Weinheim. S. 629-642. Huschka, S./G. Siegmund (Hg.) (2021). Choreographie als Kulturtechnik. Neue Perspektiven. Berlin. Jeschke, C. (1996). Körper-Bühne-Bewegung. Dramaturgie und Choreographie als theatrale Strategien. In: Ahrends, G. et al. (Hg.): Forum Modernes Theater. Heft 2/96. Bd.11. Tübingen. S. 197-213. Jowitt, D. (2001). Beyond description: Writing beneath the Surface. In: A. Dils & A. Cooper Albricht (Hg.): moving history/dancing cultures. A Dance History Reader. Middletown, Connecticut. S. 7-11. Klein, G. (1992). FrauenKörperTanz. Eine Zivilisationsgeschichte des Tanzes. Weinheim/Berlin. Laban, R. V. (1920). Die Welt des Tänzers. Stuttgart. Martin, J. (1933). The Modern Dance (5. Edition 1972). New York. Martin, J. (1936). American Dancing. The Background and Personalities of the Modern Dance (3. Edition 1938). New York. Martin, J. (1939). Introduction to the Dance. Reprint 1965. New York. Martin, J. (1946). A World Premiere Danced by Graham. New York Times. Thursday 24. January, 31. Martin, J. (1946). The Dance: »Dark Meadow«. New York Times. Sunday 27. January, section 2, 2. Martin, J. (1967). Reflection. Unpublished Typescript. Oral History Program, UCLA. Zitiert nach Franko, M. (1996). Merleau-Ponty, M. (1974). Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin (Originalausgabe: 1966. Phénoménologie de la Perception. Paris) Schikowski, J. (1924). Der neue Tanz. Berlin (Kunst und Volk, Heft 5). Schikowski, J. (1926). Geschichte des Tanzes. Berlin. Sheets-Johnstone, M. (1980). The Phenomenology of Dance. Philadelphia.
BewegungsWissen Verstehen – Sprachfiguren und mediale Zugänge zum Tanz
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MusikWahrnehmung – ein nicht-begriffliches Wissen? Georg Mohr
Einleitung Wenn visuelle, auditive oder kinästhetische Wahrnehmungen als unterschiedliche Arten menschlichen Wissens erforscht und dargestellt werden, ist Musik bzw. Musikwahrnehmung klarerweise ein geeigneter Untersuchungsgegenstand. Die körperliche Erfahrung von Musik lässt sich als Beispiel eines körpermediatisierten, geformten Wissens, das nicht zufällig und (doch) nicht-begrifflich ist, darstellen. Bei vielen oft auch unbewussten Gelegenheiten lassen wir uns durch Musik leicht zu Körperbewegungen stimulieren, deren Konvergenz mit den in der Musik vernehmbaren Bewegungen ein schlichter, aber doch klarer Beleg für unser Wissen von musikalischen Strukturen ist. Wenn wir das sagen, meinen wir mit »musikalischen Strukturen« allerdings etwas sehr Rudimentäres, nämlich einfache Muster rhythmischer Strukturen (Tempo, Takt). Anspruchsvoller scheint unsere Fähigkeit zu sein, Melodieverläufe relativ schnell nachzuvollziehen und Melodien richtig mitzusingen. Schließlich sind wir häufig auch imstande, harmonische Progressionen nachzuvollziehen und zutreffend zu prognostizieren. Eine Melodie, die gewissen Grundmustern der Dur-MollTonalität folgt, vermögen wir, wenn sie kurz vor dem Ende abbricht, selbstständig zu vervollständigen. Es scheint nicht unangemessen, mit Bezug auf diese uns geläufigen, alltäglich sich zeigenden Fähigkeiten von »musikalischem Wissen« zu sprechen. Wenn wir das tun, verwenden wir einen »schwachen« Begriff von musikalischem Wissen, eben einen solchen, der auf rudimentäre Fähigkeiten des Nachvollzugs und Mitvollzugs hörbarer musikalischer Phänomene beschränkt ist, die einfache Strukturen aufweisen, die, im Wesentlichen, die im betreffenden kulturellen Kontext vertrauten Muster reproduzieren. Nun ist aber gerade die Frage, ob es sich bei solchen Fällen von ›schwachem‹ ›musikalischem Wissen‹ tatsächlich um nicht-begriffliches Wissen und zudem um bloße Wahrnehmung handelt.
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Georg Mohr
1.
Musik und Sprache
Mit der Frage nach der Beziehung zwischen Musik und begrifflichem Wissen hängt direkt auch die Frage nach der Beziehung zwischen Musik und Sprache zusammen. Ist Musik eine Sprache? Ist Musik sprachähnlich? Oder ist Musik eine Sprache sui generis? Oder ist Musik vielmehr nicht-sprachlich? Die Auseinandersetzung über diese Fragen dominiert einen erheblichen Teil des musikphilosophischen Diskurses des 19. und 20. Jahrhunderts. Seither begegnen wir immer wieder folgender Vorstellung von einer doppelten Abgrenzung der Musik – ich beziehe mich hier als durchaus repräsentatives Beispiel auf Formulierungen von Heinrich Besseler, Grundfragen des musikalischen Hörens (1925/1978)1 : Erstens, »Musik kennt ursprünglich keine gegenständliche Beziehung. Auf der umgangsmäßigen Stufe ist sie weder Gegenstand, noch will sie Gegenständliches darstellen, das heißt, Erscheinungen unserer Umwelt abbilden. In einer ganz anderen Ebene liegt natürlich das Ausdruck-Sein der Musik […]. Darstellung im Sinne der Malerei ist ihr wesensfremd, weil als Zugangsweise zunächst nur ein Mitvollziehen, nicht auch ein gegenständliches Erfassen in Betracht kommt. Wo Derartiges auf späteren Stufen hinzutritt, steht ihm als Gegenstand außer dem Formalen nur das Klangliche entgegen. Der musikalische Klang hat jedoch keinerlei eindeutig abbildende Gegenstandsbeziehung, da er (als stilisierter Klang) in unserer außermusikalischen Umwelt nicht vorkommt« (S. 44-45). Das »ursprünglich Musikalische« sieht Besseler im »unabhängigen formal-musikalischen Geschehen« (S. 45). Zweitens bestehe eine »Wesensgrenze zur Sprache«. »Obwohl von Anfang an die engsten und mannigfachsten Beziehungen zwischen Wort und Ton vorliegen, so ist doch die Bezeichnung der Musik als einer Sprache, im strengen Sinn verstanden, absolut falsch und noch unhaltbarer als die Ableitung des Singens aus dem Sprechen. Jedes Wort, sofern es eben Wort ist, verweist über sich hinaus auf das, was es ›meint‹.« »Die Absicht, etwas mitzuteilen und verstanden zu werden, fehlt der Musik gerade auf der umgangsmäßigen Stufe durchaus. Es geht aus diesem Grunde auch nicht an, die Anfänge des Musizierens mit akustischer Zeichengebung in Zusammenhang zu bringen« (ebd. S. 45). Besseler zieht daraus einen für den vorliegenden thematischen Zusammenhang relevanten Schluss. »Somit liegt der Schwerpunkt durchaus auf dem aktiven Vollziehen der Musik: Sie wird zunächst vom ganzen leiblich-seelischen Menschen getragen« (S. 44. Und: »Das Musikalische wird uns ursprünglich zugänglich als eine Weise menschlichen Daseins, und zwar eines umgangsmäßigen, tätig ausstrahlenden Daseins« (S. 45). »Was wir mit den formelhaften und vieldeutigen Begriffen ›Rhythmus‹, ›Klang‹, ›Melodie‹ ja auch insgesamt als ›Musik‹ bezeichnen, ist von jedem
1
Hervorhebungen von mir.
MusikWahrnehmung – ein nicht-begriffliches Wissen?
Zeitalter in einem besonderen, einmaligen Sinne erlebt und ausgestaltet worden« (S. 45). Wenn wir diese beiden Abgrenzungen durch die weiteren Bestimmungen ergänzen, die mit diesen Abgrenzungen meist einhergingen und oft auch in den aktuellen Beiträgen zum Thema noch einhergehen, dann ergibt sich folgende Charakterisierung von Musik: • • • • • • •
Musik stellt nichts Gegenständliches dar, ist nichts Räumliches, beharrt nicht, ist transitorisch, entzieht sich der begrifflichen Subsumtion, bedeutet nichts, hat keine Referenz und keine Semantik im üblichen Sinne. Aber: Musik drückt (expressiv) Gefühle, Affekte aus, Musik ist die »Sprache der Gefühle«. In Musik artikulieren sich sprachlich-begrifflich uneinholbare ästhetische Ideen.
Diese Thesen sind nicht unbestritten geblieben, bilden aber nach wie vor ein Gravitationszentrum musikphilosophischer Reflexion. Vor allem ein Verständnis von Musik als ungegenständlich, transitorisch und nicht-begrifflich bzw. nicht-sprachlich scheint Vielen bis heute in hohem Maße plausibel. Wenn dieses Musikverständnis tatsächlich adäquat ist, dann sollte es auch adäquat sein, Musikwahrnehmung als nicht-begriffliches Wissen zu beschreiben – so könnte man geneigt sein zu schließen. Der Schluss wäre voreilig, denn auch wenn Musik selbst nichts aussagt, sich begrifflicher Subsumtion entzieht, keine Referenz und keine Semantik besitzt, kann es doch sein, dass dieser unbegriffliche Gegenstand ›Musik‹ nur im Zuge begrifflichen Wissens verstanden bzw. adäquat als solcher wahrgenommen wird. Unsere Frage bleibt also offen. Und sie stellt sich sogar noch nachdrücklicher. Denn, umgekehrt zu dem soeben zurückgewiesenen voreiligen Schluss vom unbegrifflichen Gegenstand ›Musik‹ auf die Inadäquanz begrifflichen musikalischen Wissens, könnte gerade die Unbegrifflichkeit der Musik das Wahrnehmen von Musik auf begriffliches Wissen angewiesen sein lassen.
2.
Kriterien von Begrifflichkeit
Um die These der Unbegrifflichkeit von Musikwahrnehmung in einem ersten Schritt näher zu bestimmen, möchte ich kontrastierend einige Kriterien benennen, die für die Begrifflichkeit von Musik sprächen, sofern denn diese Merkmale als Kriterien von Begrifflichkeit aufzufassen wären. Unter Begrifflichkeit mit Bezug auf Musik könnte verstanden werden, in aufsteigender Linie von ›dünnen‹ zu ›dicken‹ Bestimmungen:
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Georg Mohr 1. Bezogenheit von Elementen aufeinander in einer zeitlichen Relation 2. Bezogenheit von Elementen aufeinander unter einer gemeinsamen Regel (zu einer Melodie) 3. Bezogenheit von Elementen aufeinander unter einer gemeinsamen Theorie, einem System (Harmonielehre, Funktionsharmonik, Generative Theorie tonaler Musik2 ) 4. Einordnung in eine Tradition von Kunstgattungen: Musik als historisches Phänomen und jede Musik als Stellungnahme zu ihrer Geschichte 5. Musik als Kultur.
Was für die These spricht: Musikwahrnehmung ist nur als begriffliches Wissen adäquat zu beschreiben. Zwei Argumente für die Begrifflichkeit von Musikwahrnehmung sind hier relevant, die jeweils mit einer Anforderung an dasjenige implizit verbunden sind, was als ›Musikwahrnehmung‹ gelten soll. 1. Musik hören = etwas als Musik hören. Musik wahrnehmen heißt wenigstens, ein auditives Ereignis als Musik auffassen = ein Phänomen klassifizieren = anhand von Merkmalen unter einen Begriff subsumieren 2. Musik hören = eine Musik als ›diese‹ Musik hören, wenn ich eine Musik nur insofern als Musik höre, als ich sie als ›diese‹ Musik höre, d.h. als Sonatensatz, als Programmmusik, a. wenn ich die musikinternen Merkmale des betreffenden Stücks erkenne (oder bzw. bemerke), b. wenn ich die (intendierten) außermusikalischen Bezüge identifiziere.
3.
Sinnliches Hören – musikalisches Hören
Für den vorliegenden Zusammenhang sind die musikphilosophischen Ausführungen von Nicolai Hartmann (1953) in dessen Ästhetik von besonderem Interesse, vor allem wegen der durch sie deutlich werdenden Schwierigkeiten, hier zu eindeutigen und konsistenten Antworten zu gelangen. Auf sie sei im Folgenden näher eingegangen. Hartmann formuliert pointiert: »Musik nämlich – ein ›Stück‹, eine Komposition, ein ›Satz‹ – ist gar nicht das sinnlich Hörbare allein; sondern stets ist ein ›musikalisch Hörbares‹ darüber hinaus vorhanden, das einer ganz anderen Synthese im aufnehmenden Bewußtsein bedarf, als das rein akustische Hören sie leisten kann« (Hartmann 1953, S. 117).
2
Lerdahl/Jackendoff (1983).
MusikWahrnehmung – ein nicht-begriffliches Wissen?
Hartmann setzt offenbar »sinnlich« gleich mit »akustisch«. Das bestätigt sich im nächsten Absatz: »Man hört sinnlich real (rein akustisch) wohl eine beschränkte Tonfolge zusammen, desgleichen eine Harmoniefolge, aber doch nur so weit, als die akustische Retention reicht (das ›Noch Nachklingen‹ des eben Gehörten). Und die Retention reicht nicht über einige Sekunden hinaus, zumal wenn die Musik weitergeht und das Neuerklingende sich fortlaufend verwischend über das zeitlich Verschwundene legt.« »Ein ›Satz‹ ist zeitlich ausgedehnt, er besteht gerade in der Aufeinanderfolge – und zwar in einer viel weiter ausgedehnten als die Reichweite der Retention. »Der Satz braucht Zeit […]; in jedem Augenblick ist dem Hörenden nur ein Bruchstück präsent. Und dennoch wird er dem Hörer nicht auseinandergerissen, sondern wird als Zusammenhang, als als Ganzes erfasst. So wenigstens im echten ›musikalischen‹ Hören: Er wird, ungeachtet seines Auseinandergezogenseins in die Zeitstadien, doch als ein Beisammensein aufgefasst – nicht zwar als ein zeitlich Simultanes, wohl aber als ein Zusammengehöriges, als Einheit« (Hartman 1953, S. 117).3 Wenn wir eine Tonfolge oder Abfolge von Klangereignissen als Musik hören, hören wir eine Beziehung und einen Zusammenhang zwischen den ›Tönen‹. Aber was heißt das genau? Wir hören genau genommen nur die jeweiligen, in den aufeinanderfolgenden Augenblicken (oder Zeitstadien) sich einander ablösenden, abwechselnden ›Töne‹ oder Klangereignisse. Deren zeitliche ›Nachbarschaft‹, dass der nächste Ton auf den vorherigen folgt, ist nicht hinreichend für das ›Hören eines Zusammenhangs‹, einer ›Musik‹. Musik ist mehr als die zeitliche Folge von Klangereignissen, denn nicht jede zeitliche Nachbarschaft von Gehörtem ist hinreichend dafür, dieses als Musik zu hören. Musik hören heißt, eine Selektion aus einem Wahrnehmungs-»Feld« vorzunehmen. Kann man überhaupt von einer »Wahrnehmung einer musikalischen Form im Ganzen« sprechen? Folgt man Nicolai Hartmann, muss man das verneinen. Eine Aufeinanderfolge muss in irgendeinem Sinn als Einheit vorgestellt werden, um Musik zu sein, d.h. ein Zusammenhang von Tönen. Aber eben ein Zusammenhang, der als Einheit in der Aufeinanderfolge bestimmt ist. Eine Aufeinanderfolge »als solche« ist streng genommen keine Einheit, sondern nur eine Form. Nun kann man sagen, jede Form ist als solche Einheit, nämlich qua Form: Mit der Form der Anschauung ist die Einheit des Angeschauten, zumindest als Einheit in der Zeit, gegeben. Aber, wie wir von Kant wissen, Einheit der Anschauung ist gerade nicht als solche mit dem Angeschauten (hier: Angehörten) ipso facto gegeben, sondern muss gemacht werden. Die Form ist gegeben, aber die Einheit wird gemacht. Nach Kant kommt Einheit in die Anschauung nur durch Synthesis.
3
Vgl. hierzu auch Mohr (2012) sowie Mohr/Kreuzer (2012). .
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Hartmann macht diesen Punkt explizit mit Bezug auf das Hören geltend: Die Einheit des musikalischen ›Satzes‹ als Zusammengehören der sukzessiv gehörten Einzeltöne oder Klangfragmente ist »hier nicht im sinnlichen Hören herstellbar […], sondern nur im Vollzug einer Synthese, die sich im musikalischen Hören erst ergeben muss. Ja, in diesem Vollzug besteht überhaupt erst das musikalische Hören – im Gegensatz zum sinnlichen Hören. Denn nicht der Augenblicksklang, sondern erst das Ganze in der Einheit seiner Folge macht das musikalische Tongebilde des Satzes aus. Und erst von diesem Ganzen her bekommt das eingebaute Detail – das sinnlich Zusammenhörbare – seinen Sinn« (Hartmann 1953, S. 117). Hierzu einige Bemerkungen. Wenn Hartmann schreibt, dass die Einheit des musikalischen Satzes, obwohl sie »nicht im sinnlichen Hören herstellbar« ist und also durch eine »Synthese« erst gemacht werden muss, im Vollzug der Synthese »sich ergeben muss«, so heißt dies: Es wird nicht präjudiziert, dass im Hören Einheiten nach vorgefassten Kategorien aus dem Gehörten gemacht werden. Das wäre Begriffssubsumtion, ein Verfahren, mit dem man sich nicht im Bereich ästhetischer Einstellungen, sondern objektiver Gegenstandserkenntnis bewegt. Die Synthesis als Akt muss aber von Einheitsgesichtspunkten geleitet werden, um eine Einheit herzustellen. Welche können das sein? Erkenntniskategorien wie Kants »reine Verstandesbegriffe« können es nicht sein, denn diese eignen sich nicht für ästhetische Kontexte. Die Synthesis im Vollzug musikalischen Hörens kann ihren Einheitssinn nicht von Erkenntniskategorien erhalten. Des Weiteren ist zu beobachten, dass Hartmanns Rede vom »musikalischen Tongebilde des Satzes« und seine Ablehnung des »Augenblicksklangs« einen »Satz«-technischen Musikbegriff präjudiziert: Musik als Werk. Hartmann spricht stets vom »musikalischen Kunstwerk«4 und damit von einem kulturell und historisch eingeschränkten Musikbegriff (Hartmann 1953, S. 119). In direktem Zusammenhang damit ist die Frage zu stellen, ob Hartmanns Voraussetzung, dass Musik immer ein Ganzes sei bzw. sein müsse und stets einen Sinn haben bzw. bekommen müsse, angemessen ist. Von dieser Voraussetzung sind Hartmanns Ausführungen nur zum Teil belastet – und es bleibt eine der wichtigen Fragen der gegenwärtigen Musikphilosophie, ob und inwieweit diese Voraussetzung, vielleicht in einer weniger kategorischen Form und mit Einschränkungen, verteidigt werden kann. Hartmann erläutert das Sich-Ergeben der Einheit der Musik im zeitlich verlaufenden Hören zum einen im Sinne der Augustinisch-Husserl’schen Analyse: Im gegenwärtigen Hören sind Verklungenes und Kommendes verbunden. »Denn musikalisch weist jede Phase unmittelbar über sich hinaus, und zwar vorwärts wie rückwärts. Denkt man sie sich völlig isoliert, so verliert sie ihren musikalischen
4
Vgl. die Kritik an »Werk«-orientierten Musikphilosophien in Goehr (1992).
MusikWahrnehmung – ein nicht-begriffliches Wissen?
Sinn« (ebd. S. 119). Musik ist Zeitkunst insofern, als sie durch ihre interne Struktur und die interne Relationierung ihrer Elemente, das Verweisen der einzelnen Klangereignisse aufeinander und das Sich-Ergeben auseinander, das Fordern des nächsten Tons durch den vorhergehenden, die Retentional-Protentional-Struktur des inneren Zeitbewusstseins erfüllt und befördert, ja geradezu ermöglicht. Musik als Zeitkunst ist Ermöglichung von innerem Zeitbewusstsein. Musik ist Darstellung von innerem Zeitbewusstsein. Hartmann ergänzt diese Zeitbewusstseinsanalyse aber nun noch durch eine Strukturbeschreibung der Musik, die den Begriff des musikalischen Sinns an den der Ganzheit bindet. Der musikalische Sinn, so Hartmann, »hängt an der Ganzheit« (ebd. S. 119). Eine solche Ganzheit ist laut Hartmann nur durch eine Synthesis herzustellen. »Die Synthesis muß der Hörende selbst vollziehen. Insofern ist er nachbildend auch seinerseits kompositorisch tätig« (ebd. S. 118). »Das grundlegend Eigentümliche des musikalischen Kunstwerkes besteht somit darin, daß es in seinem zeitlichen Ablauf durch die innere Bindung seiner Glieder den Hörer die kompositorische Einheit eines solchen Aufbaus heraushören läßt, obgleich sie sinnlich nicht hörbar ist« (ebd. S. 119). »Das künstlerische Wunder des Tonwerkes ist nun aber dieses, daß sich mitten in seinem zeitlichen Nacheinander die Einheit eines Gesamtgebildes aufbaut, sich sukzessiv auffüllt, sich rundet und zum Bau zusammenschließt. Wir erleben im musikalischen Hören sein Emporsteigen, Anwachsen, Sich-Türmen; und dieses emporsteigende Gesamtgebilde ist gerade erst dann vollendet und beisammen, wenn die sinnlich hörbare Folge der Klänge zu Ende gelangt, d.h. bereits verklungen ist« (ebd. S. 119). So überzeugend die Hinweise auf die, im Hörvollzug für Musikwahrnehmung notwendige, Synthesis-Leistung sind, so unbefriedigend ist doch die Fixierung auf das ›Endprodukt‹ als ›ein Ganzes‹. Denn dieses wird bei Hartmann nicht mehr durch zeitlichen Verlauf, sondern durch den Überblick über die resultierende Form gekennzeichnet. Damit ist das Wesentliche von der Zeitform wieder abgekoppelt, abstrahiert. Eine grundlegend wichtige musikphilosophische Frage bleibt aber die, wie die Verbindung der Ereignisse des Ertönens zu einer Musik (Wahrnehmung) zu denken ist. Es kann in der Tat kein bloß sinnliches Hören als solches sein; die bloße sinnliche Form der Zeit als Verlaufsform des Auftretens der Ton-Ereignisse ist nicht hinreichend. Ebenso wenig sollte ausschließlich die Funktionsharmonik als Sinnund Einheitsstifter für musikalische Zeit gelten, wenn diese auch eine Systematik anbietet, in der musikalische Zeit als notwendige Entwicklung und Synthese des im Zeitverlauf sinnlich Gehörten zu verstehen ist.
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4.
Problematisierung der Terminologie
Spätestens an dieser Stelle wird virulent, dass und in wie hohem Maße die gesamte Fragestellung, der wir uns annähern wollen, vom Vorverständnis der in ihr involvierten Termini abhängt. Jeder der vier in der Fragestellung »Ist Musikwahrnehmung nicht-begriffliches Wissen?« verwendeten Termini ist erläuterungsbedürftig. Jede Antwort auf die Frage präjudiziert oder impliziert zu jedem Terminus, wenn nicht eine Definition (deren Möglichkeit wiederum vorausgesetzt), so doch wenigstens ein Vorverständnis. Vier erkenntnistheoretische Begriffe und ein ästhetischer Gattungsbegriff sind im Spiel: Wahrnehmung, Begriff, Wissen, Musik. Die bloße Auflistung und ein kritischer Blick auf sie machen sofort klar, dass jede Erörterung über sie hohe philosophische Hypotheken aufnehmen muss. Vor allem hängt alles davon ab, was man unter Musik bzw. Musikwahrnehmung versteht. Wenn z.B. erst das Analysieren-Können einer Sonatenhauptsatzform als Musikwahrnehmung gilt, dann ist die Antwort präjudiziert: Musik wird erst dadurch als Musik wahrgenommen, dass man die betreffende Musiktheorie, Harmonielehre, Formanalyse etc. beherrscht und anwendet. Wenn wir wissen wollen, ob und inwiefern Musikhören begriffslos möglich ist (oder vielleicht sogar wesentlich begriffslos ist), wollen wir wissen, ob Musik als Musik hören etwas ist, was eine – wie auch immer rudimentäre – theoretische Kompetenz impliziert oder auch rein passiv, rezeptiv als bloß sinnliches Mit-sichgeschehen-lassen möglich ist. Oder, ob auch beides möglich ist.
5.
Nichtbegriffliches Musikhören: im schwachen und im starken Sinn
Die Frage der Begrifflichkeit von Wahrnehmung ist eines der Kardinalthemen der gegenwärtigen analytischen Philosophie. Mark DeBellis hat in seinem Buch Music and Conceptualization von 19955 diese Frage auf Musik bezogen. Seine Fragestellung lautet in einem ersten Zugriff: Ist der Inhalt der mentalen Repräsentation von Musik als nicht-begrifflich zu beschreiben? DeBellis‹ Antwort auf diese Frage lautet: »a hearing ascription attributes a state with a representational content, a state that represents a passage of music as being in a certain way.« DeBellis unterscheidet nun zwei Grade der Nichtbegrifflichkeit: nichbegrifflich in einem »schwachen« Sinn und in einem »starken« Sinn. (1) Unbegrifflichkeit in einem »schwachen« Sinn meint: »involves some conceptual faculty or other«, aber die Begriffe sind verschieden von musiktheoretischen Begriffen, die in der psychologischen Zuschreibung der mentalen Repräsentationen verwendet werden. Diese schreiben Wahrnehmungsüberzeugungen (percep5
DeBellis (1995).
MusikWahrnehmung – ein nicht-begriffliches Wissen?
tual beliefs) zu, die auch Wahrnehmungsbegriffe (perceptual concepts) beinhalten, die aber von den musiktheoretischen Begriffen verschieden sind – wenn sie auch in theoretischen Begriffen (in musiktheoretischer Terminologie) ausgedrückt werden können.6 Eine sinngemäß ähnliche Formulierung dieses Sachverhalts findet sich etwa bei Malcolm Budd in seinem Beitrag »Understanding Music«: »To experience music with musical understanding a listener must perceive various kinds of musical processes, structures and relationships. But to perceive phrasing, cadences and harmonic progressions, for example, does not require the listener to conceptualize them in musical terms« (Budd 1985, S. 247). (2) Unbegrifflichkeit in einem »starken« Sinn meint laut DeBellis demgegenüber, dass keinerlei Begriffsvermögen involviert ist, wenn sich keine Wahrnehmungsüberzeugung einstellt und insofern nicht unterschieden werden kann zwischen Ereignissen, die sie in einer bestimmten Weise repräsentieren, und Ereignissen, die sie nicht in dieser Weise repräsentieren. Wahrnehmungsbegriffe hingegen gehen Hand in Hand mit der Fähigkeit der Unterscheidung mit Bezug auf Wahrgenommenes (perceptual discrimination). DeBellis vertritt nun die These, dass der gewöhnliche, in Musiktheorie untrainierte Hörer in einem starken Sinn nichtbegrifflich Musik hört. Der geübte Musikanalyst hingegen hört typischerweise begrifflich und theoriegeladen. Wie verhält sich diese These einschließlich der ihr zugrundeliegenden Unterscheidung zwischen starker und schwacher Unbegrifflichkeit zu dem Sachverhalt, dass etwa die ›Bewegungstendenz‹ einer Kadenz auch Hörer*innen wahrnehmen, die über keinerlei explizite musiktheoretische Kompetenz in Form einer entsprechenden Terminologie verfügen, sondern die ›Bewegungstendenz‹ ›in der Kadenz‹ aufgrund einer normalen lebenspraktischen Sozialisation mit normaler musikalischer Akkulturation wahrnehmen? Um hier mehr Klarheit zu bekommen, sollten wir zwischen drei Typen von Wissensinhalten in der Musikwahrnehmung unterscheiden.
6.
Drei Typen von Wissensinhalten in der Musikwahrnehmung
Wir wollen ›Musikwahrnehmung‹ letztlich nicht nur Experten zuschreiben. Durch Musik in einer Musikwahrnehmung mag sich Wissen in drei Bedeutungen einstellen: •
6
Wissen von ›Außermusikalischem‹ durch Musik: Es gibt musikvermitteltes Wissen von einem p, das selbst nicht ein rein musikalischer Sachverhalt ist. Dies kann: Siehe dazu auch Budd (1985).
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•
(a) ein semantischer Gehalt sein: per ›Darstellung‹ eines außermusikalischen Gegenstands oder Sachverhalts mit musikalischen Mitteln, klassisch: Programmmusik, Tonmalerei; (b) ein expressiver Gehalt sein, insbesondere Gefühle, Affekte: Musik als Ausdruckskunst kann dem Rezipienten (Menschen) Wissen von sich als empfindungsfähigem Wesen vermitteln, oder von Gefühlen als Typen (Freude als solche, Trauer als solche, den ›Wesensgehalt‹ dieser Gefühle), oder von Gefühlen, die sich (in dieser Explizitheit und Konturiertheit) eben nur durch Musik einstellen, oder auch Wissen vom Körper, von Bewegungsabläufen, Energierichtungen, von Zeitstrukturen etc. – wobei wir da den Bereich des Expressiven wieder verlassen.
•
Wissen von dem musikalischen Zusammenhang des Wahrgenommenen: tönend bewegte Formen, Sonatenhauptsatzform, Trugschluss, Rondo etc.
Obwohl Musik »zunächst nichts ist als abstrakte Klänge: ohne feste Semantik, ohne fixe Bedeutung und ohne wesentlich Ähnlichkeitsrelationen zu etwas herzustellen«, nimmt Musik »potentiell Bezug auf Außermusikalisches, so wie Worte, Bilder, (Tanz-)Bewegungen, Gesten auf etwas jenseits ihrer selbst bezugnehmen (können)« (Mahrenholz 2000, S. 2). Aber hier sollten wir wiederum differenzieren: Für einige Musik gilt: a. dass sie eine Semantik hat, dass sie gegenständliche Bedeutung durch Programmatik oder Tonmalerei hat oder einen methodisch intendierten und organisierten Affektausdruck aufweist. Solche Musik kann begriffen werden, indem die Verweisbezüge und damit die Semantik identifiziert werden; b. dass sie derart nach Regeln konstruiert ist, dass das Erfassen (Wiedererkennen) dieser Regeln zum Verständnis des internen Zusammenhangs dieser Musik führt.
Musikwahrnehmung kann sich auf diesen so beschriebenen Typ von Musik eben so beziehen, wie in den oben aufgeführten drei Typen von ›Wissen‹ in Musikwahrnehmung beschrieben. Es ist insofern unstrittig, dass Musikwahrnehmung begriffliches Wissen sein kann bzw. durch begriffliches Wissen gestützt, gefördert, verfeinert, erweitert etc. werden kann. Aber es ist fraglich, ob dies nur als begriffliches Wissen möglich ist.
MusikWahrnehmung – ein nicht-begriffliches Wissen?
7.
Drei Ebenen des Verstehens
Sinnvoll scheint unter diesem Aspekt, zwischen Ebenen des Verstehens zu unterscheiden, die gleichermaßen real wie auch relevant sind. Wilfried Gruhn identifiziert in Anlehnung an den oben ausführlich zitierten Nicolai Hartmann drei Ebenen des Verstehens: 1. »die sinnliche erfahrbare klangliche Außenschicht einer musikalischen Gestalt, 2. das analytisch aufweisbare Beziehungsgefüge der strukturellen Innenschichten, die das konstruktive System für eine Komposition liefern […] 3. die durch Interpretation zu erschließenden Tiefenschichten des zu deutenden Gehalts« (Gruhn 1989, S. 142).
Es spricht vieles dafür, dass eine scharfe Trennung zwischen unbegrifflicher Musikwahrnehmung und begrifflichem Musikverstehen nicht aufweisbar ist. Die oben zitierte Studie von Mark DeBellis, die mit analytischer Präzision vorgeht, bestätigt dies – sicher eher unfreiwillig. Allerdings ist seine Untersuchung auf eine Dichotomisierung zwischen musiktheoretisch-terminologisch instruierter Musikanalyse und unbegrifflicher Musikwahrnehmung fixiert. Ansätze dazu, diese Dichotomie zugunsten eines umfassenderen Konzepts von musikalischem Verstehen zu überwinden, finden sich etwa in der lebensphilosophischen Hermeneutik und der Symbolphilosophie.
8.
Musik und Leben
In einem »Das musikalische Verstehen« überschriebenen Anhang zu seinem posthumen Buch Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften schreibt Wilhelm Dilthey: »Es sind Seiten des Lebens, die als Rhythmus, Melodie, Harmonie sich ausdrücken, als Formen des Ablaufs, des Steigens und Sinkens der Stimmung, das Ununterbrochene, Stetige, die in der Harmonie beruhende Tiefendimension des Seelenlebens« (Dilthey 1997 S. 275-276). »In der Instrumentalmusik ist kein bestimmter Gegenstand, sondern ein unendlicher, d.h. unbestimmter. Dieser ist aber nur im Leben selbst gegeben. So hat die Instrumentalmusik in ihren höchsten Formen das Leben selbst zu ihrem Gegenstand. Ein musikalisches Genie wie Bach wird von jedem Klang in der Natur, ja von jeder Gebärde, vom unbestimmten Geräusch angeregt zu entsprechenden musikalischen Gebilden, gleichsam Bewegungsthematen, die einen allgemeinen vom Leben redenden Charakter haben« (ebd. S. 277). Daran schließen später etwa Aaron Ridley (1995) und Lydia Goehr (1992) an – nicht wörtlich und nicht explizit Dilthey zitierend, aber der Sache nach.
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Als Symbol emotiven Lebens deutet Susanne Langer Musik: »Musik ist eine ›signifikante Form‹, und ihre Art des Bezeichnens ist die eines Symbols, eines komplex ausgedrückten sinnlichen Objektes, das kraft seiner dynamischen Struktur genau die Formen lebendiger Erfahrung ausdrücken kann, die Sprache logisch nicht darlegen kann« (Lange 1953, S. 32). Musik ist eine besondere Form von Symbolismus, der imstande ist, die Natur unserer emotionalen Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Es geht um »articulation«, nicht »assertion«, um »expressiveness«, nicht »expression«. Musik ist ein »nicht-transitives Sich-Zeigen« (Eggers 2014, S. 34) Bezogen auf Shusterman – vielleicht auch Aron Ridley und Lydia Goehr – könnte man Musikwahrnehmung als eine Sphäre von Ganzheits-, Selbsterfahrungen, von explizit intendierten nicht-begrifflichen Erfahrungen verstehen, die um ihrer Nichtbegrifflichkeit willen gesucht werden, die mehr als andere Künste Selbstbezüglichkeit erzeugen und voraussetzen und um dieser Eigenschaft willen gesucht werden. Vielleicht deshalb, weil existentielle Dimensionen des Menschseins angesprochen werden: Zeit, Geräusch, Hören als alter Sinn, inwendiger Sinn.7 Weil Musik gerade auch – mehr als andere Künste – auf Propriozeptionen geht, auf das Spüren einer menschlichen integrativen Tiefendimension des Ungeschiedenseins von Körper und Geist, Leib und Seele, Existenzerfahrung in dem elementaren oder fundamentalen, gerade nicht analytischen Sinn. Musik würde wegen der Erfahrung der Sinnlichkeit im emphatischen Sinn des, Sich als in der Welt Spürens und Sich als sich selbst Spürens gesucht: sich als sich selbst in der Welt wahrnehmen. Oder auch gerade umgekehrt: Wo Fremdheits- und Vertrautheitserfahrungen verschmelzen, kollabieren, implodieren, sich kontaminieren.
Resümee: Musikwahrnehmung als intermodale Wahrnehmung Vor diesem Hintergrund wäre die vorliegende Frage des Verhältnisses zwischen Wahrnehmung und Begriff im Kontext des Hörens von Musik (Hörwahrnehmung in musikalischen Kontexten) auf den Umstand zu beziehen, dass Wahrnehmungen nicht modal isoliert sind, sondern stets in einem synästhetischen Wechselverhältnis stehen. Auch auditive Wahrnehmung ist intermodale Wahrnehmung. Und: Es gibt keine absolute Deutungslosigkeit. Keine strenge Dichotomie zwischen Wahrnehmung und Begriff.
7
Vgl. dazu die ästhetische Position von Michaelis (1795) in Bezug zur Anthropologie Immanuel Kants.
MusikWahrnehmung – ein nicht-begriffliches Wissen?
Literatur Besseler, H. (1925/1978): Grundfragen des musikalischen Hörens, urspr. HabilVortrag Freiburg i.Br. 1925; in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 32 (1925). S. 35-52. wiederabgedruckt in: H. Besseler (1978): Aufsätze zur Musikästhetik und Musikgeschichte, Leipzig. S. 29-53. Budd, M. (1985): Understanding Music. In: Proceedings of the Aristotelian Society. Supplementarty Volumes, Vol. 59, 1985. S. 233-248. DeBellis, M. (1995): Music and Conceptualization. Cambridge. Dilthey, Wilhelm (1997): Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a.M. (5. Auflage). Eggers, K. (2014): Ludwig Wittgenstein als Musikphilosoph. München. Goehr, L. (1992): The Imaginary Museum of Musical Works: An Essay in the Philosophy of Music. Oxford. Gruhn, W. (1989/1998): Wahrnehmen und Verstehen. Untersuchungen zum Verstehensbegriff in der Musik, Wilhelmshaven (1989, 2. Auflage 1998). Hartmann, N. (1953): Ästhetik, Berlin. Langer, S.K. (1942/1979): Philosophy in a New Key. A Study in the Symbolism of Reason, Rite, and Art, 3. Auflage, Cambridge/Mass. (University Press, 1957) Langer, S.K. (1953): Feeling and Form: A Theory of Art Developed from Philosophy in a New Key. New York. Lommel, M. (2008): Der Rhythmus als intermodale Kategorie. In: Joachim Paech und Jens Schröter (Hg.), Intermedialität Analog/Digital. Theorien – Methoden – Analysen, München. S. 79-89. Lerdahl, F./Jackendoff (1983): A generative Theory of Tonal Music. Cambridge. Mahrenholz, S. (2000): Musik und Erkenntnis. Eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie, Stuttgart und Weimar (2. Auflage). Mahrenholz, S. (2011): Kritik des Musikverstehens. In: Neue Zeitschrift für Musik, 172/4, S. 26-30. Michaelis, C. F. (1795): Über den Geist der Tonkunst. Mit Rücksicht auf Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft. Ein ästhetischer Versuch. 2. Bd. Leipzig. Mohr, G. (2012): Musik als erlebte Zeit. In: Philosophia naturalis, 49/2012, S. 319347. Mohr, G./j. Kreuzer (Hg.) (2012): Vom Sinn des Hörens. Beiträge zur Philosophie der Musik. Würzburg. Ridley, A. (1995): Music Value and the Passions. Cornell University Press. Shusterman, R. (1994): Kunst leben. Die Ästhetik des Pragmatismus. Übers. v. Barbara Reiter, Frankfurt a.M.: Fischer; darin: »Form und ›Funk‹: die ästhetische Herausforderung durch die populäre Kultur«. S. 109-156, und »Die hohe Kunst des Rap«. S. 157-208.
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»Als die Malerei sich erst einmal von der naturalistischen Wiedergabe der Dinge freigemacht hatte, war der Weg auch offen zu weiteren Konsequenzen […] Dies geschah durch expressionistische, kubistische, orphische und andere Ausdrucksweisen. Schließlich musste daran die endgültige Auflösung jeder Form in geraden Linien und die Umwandlung der naturalistischen Farbgebung in die glatte reine Farbe anschließen« (de stijl, Heft 1. S. 130) schreibt die Künstler-Bewegung De Stijl 1917 nach ihrer Gründung und für Hans L.C. Jaffé ist »diese Reinigung umso bedeutsamer, als sie die Richtung zur Bildung einer allgemeinen brauchbaren Sprache der bildenden Kunst angibt« (Jaffé 1965, S. 18).
1.
Einleitung
Die Gründung der niederländischen Künstlerbewegung De Stijl 1917 hatte Vorläufer in der Kunstgeschichte und fand in einem gesellschaftspolitischen Umfeld statt, das auf Veränderung und optimistischen Neuanfang in vielen Bereichen der Wissenschaft, Kunst und Kultur im Übergang vom 19. zum 20.Jahrhundert ausgerichtet war. Die systematischen empirischen Grundlagenforschungen in der Medizin, Anthropologie, Psychologie etc., bestärkt durch Weiterentwicklungen in der Naturwissenschaft und Technik sowie populär diskutierte Erkenntnisse der Naturphilosophie im Kontext der Relativitätstheorie zur Bedeutung von Raum, Zeit, Materie etc. veränderten auch den Blick der Kunst auf die Wirklichkeit.1 Herausgefordert durch die zunehmende Qualität der Photographie ergab sich die Frage, welche 1
Zum hier behandelten Thema auch S.J. Schmidt (2009, S. 9): »Allen voran ging es um eine Umwandlung der Konzepte und Erfahrungen von Wirklichkeit […] Die Wirklichkeit verlor – paradox gesagt – ihre Realität im Gefolge so unterschiedlicher Angriffe auf traditionelle Wirklichkeitsvorstellungen wie Nietzsches Perspektivismus oder Vaihingers Philosophie des Als-Ob. Psychoanalyse und Soziologie vervielfältigten sozusagen die Wirklichkeit in eine Vielzahl möglicher Wirklichkeiten. Physiker wie Mach, Einstein oder Bohr verdeutlichten die konstruktive Rolle des Beobachters und seiner Apparaturen bei der Analyse physikalischer Phänomene vor allem im atomaren Bereich.«
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Aufgaben einer mimetisch arbeitenden Kunst noch bleiben, wenn die Abbildung der Wirklichkeit durch die Technik immer vielfältiger, realistischer und perfekter gelingt. Die Antwortversuche sind von der Kunstgeschichte mit Verweis auf die verschiedenen Stilentwicklungen (Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Dadaismus etc.) vielfältig kommentiert worden. Im hier zu besprechenden Zusammenhang ist bedeutsam, dass mit der abstrakt-konstruktiven und später konstruktiv-konkreten Kunst eine Bewegung begann, die von sich behauptete, Wirklichkeit nicht mehr – in welcher Weise auch immer – umzugestalten, sondern sie durch die Mittel der Kunst in neuer Form erkennen zu können. Um dieses Ziel zu erreichen, erschien es, in Analogie zur linguistischen Terminologie, notwendig, der bisher eher bedeutungsstiftenden »semantisch« und situativ-wirkungsvoll »pragmatisch« ausgerichteten Kunstpraxis, ein elementarisches »syntaktisches« Fundament zu geben, von dem aus Kunst nicht mehr nur mimetisch beschreibend, sondern in Bezug auf eine eigene »Sprache« auch erklärend wirksam werden kann. Diese übergeordnete Zielsetzung stellt die Schnittmenge verschiedener Einzelbewegungen (Suprematismus, Neoplastizismus, Bauhaus, De Stijl, Zürcher Konkrete) dar, die sich vor und nach dem ersten Weltkrieg in Europa (vor allem in Russland, Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz) entwickelten, wie HansPeter Riese (2008) betont: »Die aus dem Versuch der ästhetischen Umsetzung dieser Konzepte entstandene Kunst, die wir unter dem Begriff Konstruktiv/Konkret zusammenfassen, weist deshalb nicht nur eine europäische Dimension von Anfang an auf, sondern hat auch eine gemeinsame theoretische Basis, die sich in den Ländern trotz einer weitgehenden Isolation voneinander entwickelte« (Riese 2008, S. 8). Als ein wichtiger Ausgangspunkt auf dem Weg zu einem neuen Kunstverständnis gilt bis heute das »Schwarze Quadrat auf weißem Grund« (1913/1920) von Kasimir Malewitsch. Als erster Künstler machte er Ernst mit dem Anspruch, ein von gegenständlichen Bezügen und Rückerinnerungen gereinigtes Oeuvre zu schaffen.2 Auch wenn Malewitsch selbst diesen Schritt als Suprematist noch schwärmerisch
2
Der Entschluss, eine »reine Kunst« oder »absolute Kunst« zu entwickeln, ist bei einer Reihe von Künstlern nach 1910 erkennbar, die aus unterschiedlichen Stilformen dieses Ziel verfolgen. So kann z.B. Kandinskys Aquarell von 1910 als Endstufe einer zunehmenden Abstraktion verstanden werden. Und Hans Arp nennt 1918 als Bildhauer und Maler seine Bild- und Formvorstellungen »Konkretion«, um auf eine Formvision hinzuweisen, die völlig frei ist von der Formenwelt sichtbarer Erscheinungen. Vorausgegangen waren dieser Ablösung von mimetischen Kunstvorstellungen u.a. die Versuche von Paul Cézanne, die »Natur« in seinen Bildern dadurch neu zu gestalten, indem er sie auf geometrische Grundformen (wie Kugel, Kegel und Zylinder) reduzierte (vgl. Rotzler 1977, S. 9f.).
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als eine Bewegung auf das »Unendliche zu«, auf die Zone »gegenstandsloser Vollkommenheit« bezeichnete, in der der Gegensatz von Natur und Mensch, Geist und Materie aufgehoben sei, hatte er doch die Tür aufgestoßen zu einem völlig neuen Kunstraum, der in den folgenden Jahren möbliert werden sollte.3 Anschließend waren u.a. zwei Bewegungen sowohl durch ihre konsequent nicht-mimetischen Kunstwerke als auch durch ihre umfangreichen theoretischen Begleittexte daran wesentlich beteiligt: die niederländische »De Stijl«-Bewegung der 1920-1930er Jahre und die »Zürcher Konkreten« der 1930-1960er Jahre. Auf sie soll im Folgenden aus exemplarischer Sicht, unter Vernachlässigung anderer ebenfalls wirkungsvoller Avantgarden wie z.B. die russischen Konstruktivisten oder das Bauhaus, näher eingegangen werden, bevor abschließend die kritische Frage gestellt wird, welche Konsequenzen eine solche form-farben-orientierte »Sprache« für die weitere Kunstentwicklung haben kann.
2.
De-Stijl-Bewegung
Mit der Bezeichnung »De Stijl« (dt. Der Stil) gründeten 1917 Theo van Doesburg und Piet Mondrian in Leyden (Holland) eine künstlerische Bewegung, der sich bis 1928 eine Reihe von bildenden Künstlern (Georges Vantongerloo, Vilmos Huszar, Bart van der Leck, Friedrich Vordemberge-Gildewart), Architekten (Robert van’t Hoff, J.J. R. Oud, Jan Wils, Gerrit Rietveld, Cornelius van Esten) sowie Typographen und Designer für unterschiedliche Zeit anschlossen. Als Theoretiker und Organisator der Bewegung, die sich schnell als Gruppe4 verstand, gab van Doesburg die gleichnamige Zeitschrift (de stijl) heraus, die als monatliches Informationsorgan zum programmatischen Forum zentraler Ideen wurde und die neue Kunstentwicklung, über die Präsentation der jeweiligen Kunstwerke hinaus, auch in argumentativer Weise wesentlich beeinflusste. Zentraler Gedanke war die Ablösung der Individualität traditioneller Kunst zugunsten einer Universalität, die zu strenger Gegenstandslosigkeit verpflichtet und, einer
3
4
Nach zeitgenössischen Überlieferungen malte Kasimir Malewitsch 1913 das berühmt-berüchtigte »Schwarze Quadrat auf weißem Grund« im Alleingang und unabhängig von europäischen Entwicklungen. Es wurde erstmals 1915 ausgestellt in einer Reihe der »letzten Bilder« als Verabschiedung von der Welt des Sichtbaren (vgl. Ruhrberg 2000, S. 164). Darauf weist Rotzler hin, wenn er in Bezug zu anderen Bewegungen hervorhebt: »Nach dem Zeugnis von van Doesburg, das verbindliche Resultat gemeinsamer Besprechungen darstellt, hat Mondrian die Grundpositionen des Stijl abgesteckt. Es ist nur natürlich, dass in den gleichzeitigen Arbeiten der einzelnen Mitglieder individuelle Unterschiede fast ganz zurücktreten, die Werke sich erstaunlich gleichen« (Rotzler 1977, S. 78). Eine Ausgangsposition, die jedoch nicht lange eingehalten werden konnte und schon 1925 zum Austritt von Piet Mondrian aus der Gruppe führte.
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radikalen Reduktion von Farbe und Form folgend, eine elementare Erneuerung der Architektur, Bildhauerei, Malerei, Typographie und Dichtung anstrebte. Die dadurch geschaffenen grundlegenden ästhetischen Ordnungsvorstellungen sollten nach Auffassung einer Reihe von Mitgliedern nicht nur die Welt der Kunst und Kultur verändern, sondern auch zu einem neuen universellen Lebensprinzip werden.
2.1
Ziele und Prinzipien
Das zentrale Ziel, die grundlegende Erneuerung der Kunst und Kultur, war nach Auffassung der Stijl-Gruppe nur zu erreichen, wenn die Kunst und wichtige Kulturträger sich der zentralen Elemente Farbe und Form vergewissern und eine völlig neue abstrakte Formen-Sprache entwickeln. Konkret bedeutete dies: • • •
Die strenge Reduktion auf die Primärfarben Rot, Gelb und Blau sowie die Nichtfarben Schwarz und Weiß. Die Entwicklung geometrischer Ordnungen aus horizontalen und vertikalen Elementen zu autonomer Selbstständigkeit. Die Vermeidung individueller Gestaltung und natürlicher Formen mit dem Ziel einer umfassenden Allgemeingültigkeit und Objektivität.
Antrieb für dieses radikale Umdenken war die Vorstellung, eine Kunst zu schaffen, die von allen »zweitrangigen Attributen« wie Inhalt und Unklarheit des Ausdrucks, sowie individueller oder rein zufälliger Einflüsse »befreit« ist. Durch eine solche »Reinigung« der bildenden Künste von Zufälligkeiten, persönlichen Absichten und natürlichen Vorgaben sollten durch bildnerische Mittel jene sogenannten allumfassenden universellen Gesetzmäßigkeiten des Kosmos transparent und zugänglich gemacht werden. In letzter Konsequenz bedeutete das für die Stijl-Gruppe: »Ein neues Leben, eine neue Wirklichkeit sollte entstehen, nach universellen Prinzipien; Prinzipien, die die Maler des Stijl zum ersten Male in der Geschichte vollständig sichtbar gemacht hatten« (Jaffé 1965, S. 15). Im Manifest I, das von van Doesburg und Mondrian in der Gründungsphase 1918 dazu mit punktuellem Bezug zu Philosophen wie Platon, Spinoza und Hegel sowie unter bewusst formulierten Gegensätzen (alt-neu, subjektiv-objektiv, individuell-universell) verfasst wurde. Um diese umfassende kulturelle und gesellschaftliche Veränderung erreichen zu können, war es notwendig, innerhalb der bildenden Kunst entsprechende Voraussetzungen zu schaffen, und das war im Selbstverständnis dieser Zeit in letzter Konsequenz der Versuch, eine eigene, allgemeingültige »Sprache der Kunst« zu entwickeln. Ein großes Ziel, das nur gelingen konnte, wenn sich die Künstler bei ihren Produktionen aller subjektiven Emotionen entledigen, auf die fundamentalen Farben und Formen besinnen und diese mit Bezug zu objektiven Organisationsformen
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(u.a. der Geometrie und Mathematik) präsentieren. Dabei war es für van Doesburg und Mondrian wichtig, dass diese Orientierung an Maß, Zahl und abstrakter Linie nicht nur als Übernahme eines formalen Systems in der Bildkonstruktion erscheint, sondern durch die Kunst ein Erkenntnissystem geschaffen wird, das auf der Vernunft gründet, wie Riese betont: »Mathematik, oder Geometrie als ihre Teildisziplin, sind also für die Künstler des De Stijl Methoden der Erkenntnis, nicht Modi der Konstruktion« (Riese 2008, S. 39).
2.2
Legitimation und gesellschaftlicher Anspruch
Bei der Rechtfertigung für dieses neue Denken und künstlerische Handeln gab es zunächst den absoluten ästhetischen Grundsatz: »Die Art des Malens kann nur durch die Art des Malens erklärt werden« (de stijl IV, S. 35). Für van Doesburg bedeutete das: »Der Grund war, daß das Ästhetische bis jetzt noch keine unabhängige Existenz erhalten hatte. Die Befreiung der Kunst aus den Banden der Moral, Religion und Natur mit dem Ziel, eine freie Aussage des menschlichen Geistes zu sein, ist deshalb ein wichtiger Teil des Wissens um die künstlerische Entwicklung« (de stijl II, S. 129). Diese inhaltliche »Befreiung« von bestimmten kulturell tradierten materiellen und geistigen Vorgaben, gegenüber denen die Kunst nach Auffassung der StijlBewegung bisher eher »Mittel der Darstellung« als einen »eigenständigen Zweck« vermitteln konnte, bedeute jedoch nicht, dass die Kunst nur noch ein formales Ausdruckmedium werden sollte, was van Doesburg besonders wichtig war: »Es ist wirklich so, daß dem modernen Kunstwerk der thematische Gegenstand fehlt. Aber es fehlt ihm nicht das Thema selbst. Sein Thema bezieht sich auf die Natur der Malerei: auf ästhetisches Gleichgewicht, Einheit, Harmonie in einem höheren Sinne« (de stijl IV, S. 33). Und Mondrian ergänzt diese Auffassung anspruchsvoll, wenn er betont: »Die Gesetze, die in der Kunstwelt immer bestimmender werden, sind die großen verborgenen Gesetze der Natur, die die Kunst auf ihre eigene Weise erfaßt« (Mondrian, Circle, S. 47, zitiert bei Jaffé 1965, S. 118). Um diese weitreichenden Ansprüche im Diskurs über die Kunst als einer eigenständigen »Sprache« begründen zu können, wurden in den Gründerjahren einerseits Anleihen bei der Philosophie (u.a. Hegel, Spinoza) gemacht. Andererseits spielten die nach der Jahrhundertwende populär diskutierten Erkenntnisse in der Physik zur Quantenphysik (Max Planck) und Relativitätstheorie (Albert Einstein) eine gewisse Rolle. Die Neuorientierung in den Naturwissenschaften, die Suche nach den kleinsten Bausteinen der Materie beflügelten auch in anderen Kulturbereichen die Bemühungen um die Suche nach dem »Elementaren«, dem »Absoluten«, den spezifischen und gleichzeitig allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten,
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dem »Universalen« im Mensch-Welt-Bezug. Damit verbunden war das Gefühl, auf diesem Wege eine Verwissenschaftlichung in den verschiedenen Kulturbereichen (Malerei, Architektur, Musik, Tanz etc.) erreichen zu können. Begünstigt wurden diese Bestrebungen durch die Fortschritte in der modernen Technik (Photographie, Automobil, Flugzeug etc.), die auch zu jeweils eignen neuen Positionsbestimmungen (z.B. Futurismus) herausforderten. Gleichzeitig sollte bei dieser eindeutigen Ausrichtung auf eine rationale, objektive, allgemeingültige Kunstproduktion und Rezeption vermieden werden, dass das künstlerische Oeuvre ohne eigenen Gehalt nur als die Umsetzung formaler (mathematischer) Bedingungen erscheint, was besonders Mondrian in der Gründungsphase betonte: »Gefühl und Verstand betätigen sich zwischen beiden Polen Natur und Geist, zwischen denen das abstrakte Leben sich vollzieht. Wo der Verstand in direkte Berührung mit dem Geist kommt, offenbart sich die Vernunft, Aus der Vernunft steigt der universale Gedanke. Diesem universalen Gedanken, der in der Seele erlebt, also zum Gefühlsausdruck umgestaltet wird, verdankt die abstrakt-reale Malerei ihr Entstehen […] Nur durch das universale Gestaltungsmittel lässt sich der universale Gedanke in Bestimmtheit darstellen: Jede besondere Form stellt individuelles Denken dar« (Mondrian 1917/18 in Jaffé 1967, 86). Schon dieser knappe Textauszug zeigt das Ringen und die Suche der Stijl-Gruppe nach einer angemessenen Rechtfertigung des neuen Weges in der Kunst zwischen Individualismus/Universalismus, Denken/Fühlen und Farbe/Form. Dabei bezog sich dieses Bemühen weniger auf die reale Kunstproduktion als deren theoretische Legitimation. Ihr schenkte die Stijl-Gruppe eine große Aufmerksamkeit und dokumentierte dies auch im regelmäßig erschienenen Publikationsorgan. Ein Beispiel für die weitläufige Suche, das eigene, als revolutionär empfundene Denken und Handeln in einen größeren Rahmen einzuordnen, ist u.a. Mondrians Versuch, Bezüge zur Philosophie herzustellen, vor allem der Philosophie Spinozas und der Theosophie seines Landsmannes Schoenmaekers. Spinoza hatte 1663 in seiner Schrift »Ethica, geometrico demonstrata« die Frage nach einer angemessenen Erkenntnismethode gestellt und auf die Mathematik verwiesen. Durch sie kommt nach Spinoza der suchende und forschende Mensch der Wahrheit am nächsten. Eine zeitgemäße Übertragung von Spinoza fand Mondrian in Schoenmaekers System des sogenannten »positiven Mystizismus«, worunter dieser eine »plastische Mathematik« in neu-platonischem Denkstil verstand. Nach diesem »lernen wir, die Wirklichkeit in unseren Vorstellungen in Konstruktionen zu übersetzen, die mit der Vernunft kontrollierbar sind, damit wir diese gleichen Konstruktionen später in der vorhandenen Wirklichkeit wiederfinden, um so die Natur mit der gestaltenden Sicht zu durchdringen« (Schoenmaekers, Het nieuve wereldbeeld, S. 51, in: Jaffé 1965, S. 67).
konstruktiv konkrete kunst – Grundlage einer genuinen »Form-Farben-Sprache«?
Anders als Mondrian, der auf der Suche nach dem Absoluten in der Kunst und einer philosophischen Rechtfertigung auch in späteren Jahren sich nicht von einem engen konstruktiven Weg abbringen ließ, betonte van Doesburg einerseits die deutliche Hinwendung zur Wissenschaft, wie sie insbesondere die russische Avantgarde im konstruktiven Diskurs vertrat. Andererseits zeigte er aber auch Wege auf, um eine frühzeitige Ghettoisierung der Stijl-Bewegung zu vermeiden. »Die meisten Maler arbeiten wie Zuckerbäcker oder Putzmacher. Wir dagegen arbeiten auf der Grundlage von (euklidischer und nicht-euklidischer) Mathematik und Wissenschaft, d.h. mit intellektuellen Mitteln (van Doesburg 1930/2001, S. 27). Um diese Abgrenzung und Neuorientierung in der künstlerischen Praxis auch praktikabel werden zu lassen, schlägt er einen disziplinrelevanten und gegenstandsübergreifenden Dreischritt vor: »Ausdrucksmittel: Als Ausdrucksmittel sind zu unterscheiden: 1. Äußerst verschiedene Formen (Mensch, Blume, Baum). 2. Formelemente (Kreis, Zylinder, Kegel). 3. Flächenelemente (Fläche, Linie, Farbe). Diesen drei Kategorien entsprechen drei Konstruktions-Kategorien. Der ersten: die natürliche, organische Konstruktion, der zweiten: die anorganische künstlerische Konstruktion, der dritten: die plastische (künstlerische) Konstruktion. Die historische Entwicklung der Kunst zeigt ganz deutlich die Reihenfolge der natürlichen Form, der Form-Flächenelemente« (van Doesburg 1929, S. 628). In diesem Rückblick zeigt sich eine deutlich pragmatischere Auffassung über das »Neue« in der Kunst und ihr Verhältnis zur Gesellschaft, als sie Mondrian aus seinen philosophischen Bezügen glaubte ableiten zu müssen. Schon 1922 auf dem Kongress der »Union internationaler fortschrittlicher Künstler« in Düsseldorf hatte van Doesburg eine Erklärung verfasst, in der es heißt: »Die Kunst ist ein allgemeiner und realer Ausdruck der schöpferischen Energie, die den Fortschritt der Menschheit organisiert, das heißt, sie ist Werkzeug des allgemeinen Arbeitsprozesses« (Doesburg/Richter/Lissitzky/u.a. 1922 in Jaffé 1967, S. 167). Diese Ausweitung der Legitimation, über rein ästhetische Rechtfertigungsversuche hinaus zugunsten gesellschaftlicher utilitaristischer Erwartungen und Hoffnungen, war immer ein zweiter Anspruch der de Stijl-Bewegung gewesen5 und vielleicht auch ein Grund dafür, dass die hochgesteckten Ziele innerhalb der Kunst, eine eigene »Sprache« zu entwickeln, nur unzureichend und inkonsequent verfolgt bzw. umgesetzt worden waren. Mitverantwortlich dafür war auch der frühe Tod
5
Dabei spielte die russische Avantgarde (insbesondere El Lissitzky, Kandinsky, Tatlin), die eine Verknüpfung von kunsttheoretischen Ansprüchen mit gesellschaftspolitischen Veränderungen nach der Russischen Revolution 1917 forderte, eine wesentliche Rolle.
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von van Doesburg 1931, der zur Auflösung der de Stijl Gruppe führte,6 sowie die gesellschaftlichen Umwälzungen in Europa durch den Stalinismus, Nationalsozialismus und Faschismus, die zunehmend eine Weiterentwicklung in den betroffenen Ländern verhinderten – bis auf eine Ausnahme: Die neutrale Schweiz, die neben den USA für einige Künstler und manche weiterführenden Ideen der konstruktiv konkreten Kunst zur Rettungsinsel wurde.
3.
Die Zürcher Konkreten
Im Anschluss an die Kunstausstellung 1936 in Zürich wurde die »Allianz, Vereinigung moderner Künstler« gegründet. Sie vereinigte sogenannte »Ungegenständliche«, d.h. abstrakte und konkrete Künstler sowie Surrealisten und hatte das Ziel, durch möglichst viele Ausstellungen den zeitgenössischen Kunstbewegungen in der neutralen Schweiz Präsentationsmöglichkeiten zu bieten. Wenige Jahre nach Auflösung der »de Stijl«-Gruppe und Schließung des »Bauhauses« bot sich dadurch eine Möglichkeit, die Ideen konstruktiver konkreter Kunst, trotz Stalinismus und NS-Diktatur, weiterzuentwickeln und Grundlagen für einen Neuanfang nach dem zweiten Weltkrieg zu legen. Besondere Bedeutung erhielten in der Folgezeit neben Camille Graeser, Leo Leuppi und Verena Loewensberg vor allem die Künstler Max Bill und Richard Paul Lohse, die durch ihre vielseitigen Arbeiten in bildender Kunst, angewandter Kunst und Architektur sowie umfangreicher theoretischer Begründungen, zur weiteren Vertiefung und Verbreitung beitrugen. Später häufig als Zürcher Konkrete bezeichnet7 , waren sie vor allem an der Systematisierung konstruktiv konkreter Ideen und deren Ausweitung auch auf die Bereiche der angewandten Kunst (Typographie und Industrie-Design) beteiligt.
3.1
Ziele und Perspektiven
Im Wissen um die unterschiedlichen Entwicklungen der logisch-rationalen Formensprache der europäischen Avantgarde in den 1910er und 1920er Jahren sahen
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Zwar unternahm der Bildhauer Georges Vantongerloo, ein früheres Mitglied der De Stijl Gruppe, mit dem Maler Auguste Herbin und Etienne Beöhy (beide keine Konstruktivisten im engeren Sinne) noch den Versuch, mit der Gruppe »Abstraction-Creation, Art non-figuratif« die zentralen Ideen weiterzuentwickeln. Sie war zwar quantitativ durch ihr offenes Programm und eigener Zeitschrift ein Erfolg (über 400 Künstler zwischen 1932-1936), aber inhaltlich gab es keine Grundlage für neue konstruktiv konkrete Projekte. Anders als die De Stijl-Gründung, die zunächst eine enge Gruppenbildung favorisierte, verband die Zürcher Konkrete nur die übergreifende Idee konstruktiv konkreter künstlerischer Arbeit, die trotz z.T. gemeinsamer Präsentation z.B. von Max Bill und Richard Paul Lohse auch von deutlichem Konkurrenzdenken bestimmt wurde.
konstruktiv konkrete kunst – Grundlage einer genuinen »Form-Farben-Sprache«?
es Max Bill (1908-1994) und Richard Paul Lohse (1902-1988) als ihr übergeordnetes Ziel an, das Erbe dieser Kunstbewegungen mit internationalem Renommee weiterzuentwickeln. Dies zeigt sich schon in einer ersten Begriffsklärung durch Max Bill im Katalog zur Züricher Ausstellung 1936, in der er in Abgrenzung gegenüber dem Bereich der abstrakten Kunst auf bisherige gemeinsame Prinzipien (u.a. durch die Schreibweise) verwies und gleichzeitig den Begriff »konkret« in Anlehnung an Theo van Doesburg präzisiert: »konkrete kunst nennen wir jene kunstwerke, die aufgrund ihrer ureigenen mittel und gesetzmässigkeiten – ohne äusserliche anlehnung an naturerscheinungen oder deren transformierung, also nicht durch abstraktion – entstanden sind. konkrete kunst ist in ihrer eigenart selbstständig. sie ist der ausdruck des menschlichen geistes, für den menschlichen geist bestimmt, und sie sei von jener schärfe, eindeutigkeit und vollkomenheit, wie dies von werken des menschlichen geistes erwartet werden muss. konkrete malerei und plastik ist die gestaltung von optisch wahrnehmbarem. ihre gestaltungsmittel sind die farben, der raum, das licht und die bewegung […]. konkrete kunst ist in ihrer letzten konsequenz der reine ausdruck von harmonischem mass und gesetz. sie ordnet systeme und gibt mit künstlerischen mitteln diesen ordnungen das leben […]. sie erstrebt das universelle und pflegt dennoch das einmalige. sie drängt das individualistische zurück, zugunsten des individuums« (Staber 1966, S. 7-8). Zentraler Gedanke ist, in Weiterführung konstruktiv konkreter Kunst, die Welt nicht nur unterschiedlich zu interpretieren, sondern sie durch eigenes Gestalten erkennen, verändern und beeinflussen zu wollen. Entsprechend wird dabei eine Ästhetik wirksam, die nicht das Schöne präzisiert, sondern nach den Erkenntnismöglichkeiten durch Kunst fragt. Für Bill besitzt Kunst mit diesem Anspruch einen Sonderstatus, da sie, befreit von Nützlichkeitserwartungen und zweckrationalen Vorgaben, dem Menschen eine Freiheits-Sphäre bietet, ein Reservat, in dem keine Kompromisse gemacht werden müssen. Wobei Freiheit nicht mit beliebiger Vielfalt verwechselt werden darf. Im Gegenteil ergibt sie sich für ihn erst im Rückgriff auf eine Elementarisierung in der Kunst. In Analogie zum Alphabet und dessen überschaubarer Zahl an Buchstaben und Regeln (im Unterschied zur großen Zahl an Ausdrucksmitteln z.B. der chinesischen Sprache) oder der begrenzten Notation der Musik sollte sich aus einem Minimum an elementaren Mitteln ein Maximum an Ausdrucksmöglichkeiten ergeben. Entsprechend wäre es eine vordringliche Aufgabe der Kunst, ihre elementaren Basisbedingungen in einem eigenen System zu bestimmen. Wobei geometrische Ordnungsprinzipien eine grundlegende Rolle spielen sollten. Indem der Künstler sie beachtet, macht er für Bill im Sinne Hegels ein »geistiges Experiment«. Als Beispiel dient ihm dabei die Musik und dort u.a. speziell die Bach’sche Fuge, denn »diese musikalische form beruht nicht auf naturerscheinung, sondern ist die rein geistige schöpfung des themas, welches durch phantasievolle, plan-
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und gesetzmäßige bearbeitung verwandelt und gesteigert wird und dadurch die der musik eigene wirkung, eines totalen ablaufs innerhalb von raum und zeit, vollendet entstehen lässt« (Bill 1936, 1944, 1946, S. 29 in Riese 2001, S. 203). Trotz dieses Anspruchs einer geistigen Schöpfung schließt Bill als Bauhausschüler nicht aus bzw. forciert dies später, dass die dadurch geschaffenen Objekte auch zu Gebrauchsgegenständen werden können: »durch die formung nehmen die entstehenden werke konkrete form an, sie werden aus ihrer rein geistigen existenz in tatsache umgesetzt, sie werden zu gegenständen, zu optischen und geistigen gebrauchsgegenständen« (Bill 1936,1944, 1946, S. 29 in Riese 2008, S. 202). Wodurch die alte Trennung zwischen reiner Kunst und utilitaristischen Gegenständen, die noch die Anfänge der konstruktiven Kunstbewegung bestimmt hatte, überbrückt wurde. Anders als noch van Doesburg wenige Jahre vorher spricht Bill auch nicht mehr von »konkreter kunst«, sondern von konkreter gestaltung. Entsprechend ist die Orientierung an der Logizität der Mathematik für ihn nicht eine schlichte Übernahme der Mathematik in der Kunst, sondern die Anwendung logischer Prinzipien bei der konkreten Gestaltung durch den Künstler, wie er 1949 betont: »die mathematische denkweise in der heutigen kunst ist nicht die mathematik selbst, ja sie bedient sich vielleicht kaum dessen, was man unter exakter mathematik versteht. sie ist vielmehr eine anwendung logischer denkvorgänge zur gestaltung von rhythmen und beziehungen, von gesetzen, die individuellen ursprung haben, genauso wie andererseits auch die mathematik ihren ursprung hat im individuellen denken der bahnbrechenden mathematiker. wie die euklidische geometrie für den heutigen wissenschaftler nur noch bedingt gültigkeit besitzt, so gilt sie auch für die kunst nur noch beschränkt. genauso, wie der begriff der endlichen unendlichkeit für mathematisches und physikalisches denken notwendiges hilfsmittel ist, so ist er notwendiges mittel künstlerischen gestaltens geworden« (Bill 1949 in Weinberg-Staber 2001, S. 81). Dreißig Jahre später erweitert Bill diese Perspektive und bewertet sie in ihrer Komplexität neu: »heute ziehe ich es vor, diesen gestaltungsprozess nicht mehr, wie vor dreißig jahren, als mathematische, sondern als logische methode zu bezeichnen. das heißt, jeder teil des kreativen vorgangs entspricht schritt für schritt logischen operationen und deren logischer überprüfung« (Bill 1978 in Holz 2001, S. 162). Deutlich zeigt sich in dieser Orientierung an der Mathematik als logischem System das Bemühen, dem eigenen künstlerischem Handeln einen nicht gegenständlichen Rahmen, gleichsam eine »Grammatik« zu geben, durch die die elementaren Formen (Dreieck, Kreis etc.) und Farben (Primärfarben) eine nicht naturalisierte, eigenständige geistige Ordnung erhalten. Anders als in einem philosophischen Diskurs waren die konstruktiv konkreten Kunstbewegungen aber immer auch aufgefordert, die theoretischen Legitimationsbemühungen in eine künstlerische Praxis umzusetzen. Während dies der »ersten Generation« konstruktiv kon-
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kreter Künstler nur ansatzweise gelang, sind bei Bill und Lohse dazu ernsthafte Bemühungen erkennbar. Wie ein roter Faden werden Bills weltweit platzierten Plastiken und seine Malerei bestimmt durch die Verwendung »gleicher Elemente« und »gleicher Gruppen«, wodurch eine komplexe Wirkung entsteht, »im umgekehrten Verhältnis zur Reduktion der Mittel« (Staber 1971, S. 11). Ein Beispiel dafür ist schon seine erste systematische Untersuchung des Formprinzips, die er in der Graphikmappe »quinze variations sur un même theme« 1938 in Paris vorstellte, wo er aus einem Dreieck in systematischen Einzelschritten ein Achteck entwickelt und in jedem Schritt die Formen oder Farben verändert werden. Dieses erkennbare Bemühen um Reduktion und gleichzeitiger Vielfalt drückt sich auch aus in der Kennzeichnung seiner Plastiken, die er z.B. »konstruktion aus einem kreisring«, »unendliche schleife aus einem kreisring«, »familie von fünf halben kugeln« oder »kontinuität« nennt. Ähnliches gilt für seine Malerei, in der ein möglichst neutraler formaler Unterbau die Farbaktion bestimmt. Auf diese Weise entstehen vor allem Bildkombinationen, die eine kontrollierte und variable Verteilung der darin verwendeten Farben zeigen und die er z.B. »acht farben im horizontal-diagonal-quadrat«, »konstruktion mit zwei gruppen«, »konstruktion aus zehn vierecken«, »energie mit weissen flächen«, »vier überlagerte helligkeiten« etc. nennt. Bills Orientierung an geometrischen Grundformen, seit Malewitsch und Mondrian ein zentrales Thema der Avantgarde, besitzt für ihn, zwar in anderer (konsequenterer) Ausgestaltung, eine wesentliche Bedeutung innerhalb seiner Funktionsästhetik (Riese 2008, S. 217), wie Riese diese Spezifizierung nennt. Auch wenn die Bilder von Richard Paul Lohse durch ihre geometrischen Farbkombinationen denen von Bill zunächst sehr ähnlich sind und beide Schweizer Künstler gemeinsam die Zürcher Schule der Konkreten vertraten, entwickelte Lohse eigene Ziele und Prinzipien, die man nach Riese eher als Strukturästhetik (Riese 2008, S. 217) bezeichnen kann.8 Während Bill funktional denkt und in Analogie zu Geometrie und Musik versucht, auch für die Kunst einen funktionalen Formbegriff zu etablieren, entwickelt Lohse ein Struktursystem der Kunst, bei dem sich die spezifische »Inhaltlichkeit in logisch nachvollziehbaren Schritten aus dem System heraus« (Riese 2008, S. 214) ergibt. Dadurch entstehen Bilder, die durch ihre farbigen Flächen zunächst häufig keiner übergeordneten Figur zu entsprechen scheinen und erst bei intensiver Beschäftigung, einem erneuten »Lesen« der meist reihenförmig angeordneten, rechteckigen Felder, ihre systematische Struktur erkennen lassen, wofür Albrecht (2002, S. 68, 83-84 u. 88) Anleitungen bietet.
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Gleichartigkeit und Ähnlichkeit sind hier die übergeordneten Prinzipien bei der Schaffung einer Ordnung und der anschließenden Entschlüsselung des Formsystems (vgl. Schröder 2008, S. 70 f).
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Dabei hat Lohse das ganze Gewicht »auf die Reinheit des konstruktiven, ideellen Ansatzes und auf seine konsequente Durchführung verlegt« (Albrecht 2002, S. 64). D.h., zentral für seine Arbeiten ist eine vorausgehende Planung, die sich in einer rationalen Methode der Bildgestaltung widerspiegelt. Die auf diese Weise immer genau komponierten Arbeiten zeichnen sich durch zwei wesentliche Strukturmerkmale aus: durch spezifische Form-Bedingungen und besondere Farb-Konfigurationen. Bei der Form-Gestaltung orientiert sich Lohse ebenso wie Bill mit Bezug auf Mondrian an Rechtecken bzw. Quadraten, dem rechten Winkel und geraden Linien. Im Bemühen, einen elementaren überindividuellen Ausgangspunkt für die Bildkomposition zu finden, spielt der rechte Winkel eine besondere Rolle, da diesem innerhalb der Geometrie ein absoluter Wert zugeschrieben wird. Dies prädestiniert ihn als Grundlage einer Bild-Gestaltung, die möglichst unabhängig von persönlichen oder kulturellen Wahrnehmungsbedingungen ist. Lohse nennt das auch die Suche nach der »Anonymität« der Form. Durch Reihungen der Quadrate, Rechtecke und Linien ergeben sich in der Bildgestaltung unterschiedliche Proportionen, die bei bestimmter Betrachtung eine Dynamik hinsichtlich horizontaler, vertikaler oder diagonaler Sichtweise ergeben können. Obwohl er dabei nur die operationale Methode der Addition und der Reihung benutzt, ist es erstaunlich, welche Variabilität sich dadurch ergeben kann. Dabei unterscheidet er zwischen »Modularen Ordnungen« und »Seriellen Ordnungen«: Modulare Ordnungen gehen mit Bezug auf den Begriff Modul von einem Grundmaß bzw. feststehenden Maßrelationen oder Proportionen aus. Bekannt sind solche Modulordnungen z.B. seit Jahrhunderten in der Architektur. Anders als dort, wo die plastische Form z.B. eines griechischen Tempels hinter der naturalistischen Baustruktur verborgen ist, geht es Lohse darum, solche elementaren Formen in seiner Kunst offenzulegen. Werden sie bei einem Bild konsequent geplant, ergeben sich »weitere horizontale, vertikale, diagonale und rotative Bewegungen« (Lohse, Interview 1970 in Amman 1971). Serielle Ordnungen werden dagegen von Reihenthemen bestimmt, worunter gleichmäßige, progressive und degressive Abläufe zu verstehen sind, die den Eindruck von horizontalen, vertikalen und diagonalen Bewegungen auf der Bildfläche erzeugen. Dabei wird der Bewegungseffekt der Reihen durch an- und abschwellende Impulse erzeugt. Ohne Beachtung der Farbe sind solche verändernden und dynamischen Eindrücke bei einer Bildwahrnehmung jedoch nur schwer zu erreichen. Die Farbe ist daher neben den elementaren Formen (rechter Winkel, Quadrat, Linie) ein zentraler Faktor der Strukturästhetik. Durch die farbigen Differenzierungen entstehen einzelne Flächenelemente, die sich durch Helligkeits- und Farbkontraste voneinander absetzen, wobei die Formelemente als Rechteck, Quadrat oder Streifen oft erst durch die Farbe wirklich gegeben sind. D.h., der Kontrast oder die Ausdeh-
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Abb. 1
In: Albrecht 2002, S. 68.
nung der Form eines Elements wird erst durch die Farbe erkennbar bzw. ist mit dieser identisch. »Form und Farbe heben sich als Gegensatz auf. Es entstehen die Probleme großer Zahlenordnungen und limitierter Farbfolgen, der Farbdurchdringung, der Farbengleichheit, der Farbkombinatorik« (Lohse 1973 in: Holz u.a. 2002, S. 215). Ebenso wie bei den Formen, bei denen Lohse dem rechten Winkel und daraus abgeleiteten Formen eine überindividuelle »Anonymität« zuweist, um von dort aus, die Vielfalt des »limitiert-unlimitierten Systems« zu dokumentieren, ist er auch bestrebt, dies für die Farbgestaltung zu erreichen. Hilfreich sind dabei zunächst die fundamentalen Gesetzmäßigkeiten, die sich vor allem aus dem Komplementärgesetz der Farben ableiten lassen. Unklar bleibt für ihn aber, wie weit dieser,
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Abb. 2
In: Albrecht 2002, S. 88.
aus der psychisch-physischen Wahrnehmung des Menschen entwickelten Systematik, auch eine allgemeine naturwissenschaftlich objektivierbare Bedeutung zugeschrieben werden kann, um die überpersönliche »Anonymität« für den Bereich der Farbe in der Kunst zu erreichen. Lohse beendet seine Suche nach einem neutralen Ausgangspunkt mit einem Kompromiss, worauf Albrecht verweist: »Jedoch ist die Tendenz oder sogar Nähe der in der Malerei verwendeten, ›reinen‹ Farben zu den physikalischen Spektralfarben nicht zu übersehen. Das Spektrum wiederum zeigt unter normalen Bedingungen immer die gleiche Folge reiner bunter Qualitäten […]. Der überindividuelle Ausdruck der reinen Farben kann in dem gleichen Sinne verstanden werden, wie es vorher für den rechten Winkel und das Rechteck dargelegt worden ist« (Albrecht 2002, S. 74). Auf der Basis der elementaren »anonymen« Form- und Farbbestimmung entwickelt Lohse seine »neue Gestaltung« einer Bildentstehung. Zentral ist die Farbe. Ausgehend vom immer vorher geplanten Thema kann sie: A. Elemente verbinden und trennen B. Rhythmen bilden und Reihungen aktivieren durch: Gruppenordnungen bzw. Strukturordnungen; diagonale und symmetrisch-asymmetrische Systeme; rotative Systeme bzw. modulare Ordnungen; serielle Systeme bzw. serielle Ordnungen. Zu A. Eine einfache Weise, zwei Elemente miteinander zu verbinden, ist die gleiche Farbgebung. Bei gemeinsamer Grenze fließen sie ineinander, bilden eine größe-
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re Einheit. Sind sie getrennt angeordnet, muss der Betrachter ein Zwischenfeld gedanklich überspringen etc. Zu B. Die einfache Rhythmisierung kann durch regelhafte Wiederholung eines Elements oder einer Gruppe gleichbleibender Abstände erreicht werden. Bei ständigem Wechsel durch Dopplung, Auslassung oder Umkehrung kann sich u.U. auch der Eindruck einer Dynamik ergeben. Auf diese Weise entsteht ein Bild als Strukturfeld mit hohen Symmetrieeigenschaften und einer scheinbar unbegrenzten Variationsbreite. Wesentlich dafür ist die Vielfalt der Farbabstufungen, die oft Symmetrien ergeben, die dem ersten Blick noch verborgen bleiben, und auch dort erst nach erneutem »Lesen« der Bildgestaltung erkannt wird. Ebenso wie Bill versucht auch Lohse, dem Betrachter dies durch die Kennzeichnung seiner Bilder, wie dem hier gezeigten, zu erleichtern (vgl. Abb. 3 »Vier gleiche asymmetrische Gruppen innerhalb eines regelmäßigen Systems«). Mit dieser systematischen, konstruktiven und planvollen Arbeitsweise glaubt Lohse, einen wesentlichen Beitrag zur Kunstentwicklung seiner Zeit geleistet zu haben, wie er 1980 rückblickend in einem Vortrag betonte: »Keine andere Kunstform als die konstruktive hat innerhalb der visuellen Gestaltung einen so großen Anteil an der für unsere Zeit charakteristischen Erscheinung: dem strukturellen Denken. Ohne dieses und ohne die grundsätzliche theoretische und praktische Vorleistung der konstruktiven Kunst wäre die Ausweitung zu anderen Ausdrucksformen innerhalb der systematischen Gestaltung nicht möglich gewesen« (Lohse 1980 in Holz u.a. 2002, S. 91).
3.2
Legitimation
Die Versuche, das eigene Denken und Arbeiten immer wieder zu rechtfertigen und in einen weiteren (gesellschaftlichen) Rahmen einzuordnen, zeigt sich auch in Begleittexten von Ausstellungen. So schreibt Lohse 1946 zu einer Ausstellung von Max Bill in der Galerie des Eaux-Vives in Zürich: »Die Verbindung von funktionell logisch sich entwickelnden Formen und Farben und der gleichzeitigen ästhetischen Gestaltung derselben ist eine Aufgabe, welche sich jedem Schaffenden, der nach überindividuellen Ordnungen strebt, heute stellen muss. Die konkrete Kunst weist auf Probleme hin, die mit der Formung des Raumes an und für sich zu tun haben, sei dies in der Architektur oder der Kunst. Die konkrete Kunst besitzt dadurch einen universellen Charakter. Oft für denjenigen, der im Kampfe um sein Brot steht, nicht leicht erkennbar, manifestiert sich doch in diesen Arbeiten eine soziale Grundhaltung, welche aus der Vereinzelung zu einer überindividuellen Ordnung gelangen will. Diese Haltung ist es auch, die
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Abb. 3: Richard Paul Lohse, »Vier gleiche asymmetrische Gruppen innerhalb eines regelmäßigen Systems«, 1962/3 Öl auf Leinwand 120x120. Copyright Richard-Paul Lohse-Stiftung, Zürich, mit Lesehinweisen von Albrecht (2002).
In: Albrecht 2002, S. 83-84.
jeden interessieren muss, der aus einer solchen Einstellung heraus die Arbeiten Bills betrachtet und auf sich wirken lässt« (Lohse 1946 in: Holz u.a. 2002, S. 66). Wobei die Interpretation auch für Lohses eigene Arbeit gelten kann, wie die Einordnung und Bewertung seiner Werke durch den Philosophen Hans Heinz Holz (2001) in seinem Buch zu »Seins-Formen« des Konstruktivismus zeigen: »In Lohses Werk geht also mehr ein als nur ein formaler Schematismus. Aus ihnen spricht eine Bildgesinnung, der zufolge der ästhetische Gehalt zugleich als ein
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ethischer Imperativ auftritt: Bildrationalität ist ein Gebot zur rationalen Lebensführung, rationale Lebensführung ist die Bedingung der Möglichkeit menschlicher Freiheit. Lohses Bilder sind äußerst formalisierte Modelle einer Welt, in der ein Gleichgewicht aller einzelnen unter einem Gesetz hergestellt ist, das die Harmonie und Gelungenheit des Ganzen garantiert« (Holz 2001, S. 92f.). Beide Rechtfertigungsversuche, sowohl die immanente Legitimation mit philosophischen Bezügen zur konstruktiven konkreten Kunst auf dem Hintergrund der Kunstgeschichte als auch ihr bewusster Bezug zu gesellschaftlichen Entwicklungen einer Epoche, bestimmen das Selbstverständnis der Zürcher Konkreten. Wobei im Gegensatz zu Lohse Bill sich enger an der inhaltlichen Begründung formaler Kriterien seiner Werke (mit Bezug auf die logischen Prinzipien der Mathematik) orientiert, aber gleichzeitig gegen eine philosophische bzw. soziologische Überhöhung des immanenten Arbeitsbezugs votiert: »ganz besonders gefährlich ist es nun, sich über fragen der philosophie, der kunst, der weltanschaung zu unterhalten, wenn man von verschiedenen begriffsdefinitionen ausgeht. denken wir nur an die unterschiedlichen auslegungen der begriffe ›geist‹, ›demokratie‹ oder ›freiheit‹, so ist es nicht verwunderlich, dass begriffe in der kunst, die scheinbar weit weniger lebenswichtig sind für den fortbestand einer gesitteten gesellschaft, auch weniger in ihrer präzisen definition bekannt sind« (Bill, 1944/45, 1947, 1960 in Weinberg-Staber 2001, S. 47). Diese Skepsis gegenüber voreiligen philosophischen Deutungsversuchen hinderte Bill jedoch nicht, als Gründungsdirektor (und Architekt) der »Ulmer Hochschule für Gestaltung« 1954 den bekannten Philosophen Max Bense von der TU Karlsruhe als Gastdozent zu verpflichten. Dessen »exakte Ästhetik«, die auf informationstheoretischer und semiotischer Basis beruht, lässt viele Bezüge zur Konkreten Kunst erkennen. Gleichzeitig warnte Bense aber auch davor, den Begriff des Mathematischen in einer sich rasant verändernden Welt einseitig zu benutzen, um die. wie er es nennt, »Seinsweise« des Menschen zu erfassen. »Denn die technische Welt lässt es nicht zu, dass man ohne Theorie in ihr lebt« (Bense 1949, S. 243). Wobei eine solche Theorie, Bense nennt sie »existentielle Ontologie«, nicht mehr in Kategorien des 19.Jahrhunderts erfasst werden kann. Vielmehr benötigen die komplexen Strukturen einer technischen Existenz in einer technischen Gesellschaft Erkenntnisprozesse durch den selbstbestimmten freien Menschen, für den die Kunst, speziell die konstruktive konkrete Kunst, einen wesentlichen Beitrag als »zweckfreie« Erkenntnisweise leisten kann. Dies entspricht auch Lohses Vorstellungen, der bei der Übernahme mathematischer Modelle immer davor warnte, dass deren »schlichte Übernahme als Nachbildung« stets nur »Oberfläche« abbilden kann, nicht aber zur »strukturellen Wesenheit eines Phänomens« vordringen kann (vgl. Lohse 1945 In: Holz u.a. 2002, S. 109).
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Während Bill bei diesen Diskussionen eher den direkten immanenten Bezug zum Kunstwerk betont, versucht Lohse immer auch, in Tradition der Gründergeneration konstruktiv konkreter Kunst, eine direkte Beziehung seiner Arbeiten zum gesellschaftlichen Umfeld, herzustellen, wenn er betont: »Dadurch, dass wir uns die Mühe nehmen, die Elemente der Form auf ihre Werte zu untersuchen, mit diesen zu arbeiten, versuchen wir, eine Basis zu schaffen, die eine reale Beziehung zu der fortschreitenden gesellschaftlichen Entwicklung darstellt« (Lohse 1945, in H.H. Holz 2002 u.a. S. 110). Dieser idealisierte Anspruch entspricht auch Benses frühen Ansichten, die er 1949 als Utopie einer technischen Gesellschaft entwickelte: »Das technische Stadium erkennt, dass es ein Zeitalter geben wird, in dem die Gesellschaft eine klassenlose Gesellschaft und in dem der Staat ein absterbender Staat sein wird. Das technische Bewusstsein, das ursprünglich ein mathematisches, ästhetisches, rationales Bewusstsein war, füllt sich auf, sättigt sich und wird zugleich gesellschaftliches, ökonomisches, politisches, klassenkämpferisches, ethisches, revolutionäres und historisches Bewusstsein« (Bense 1949, S. 214). Vor dem Hintergrund solcher utopischen Erwartungen an die zukunftsrelevante Wirkung eigener Arbeiten ist es nicht überraschend, dass die lange ausbleibende Resonanz auf die konstruktive konkrete Kunst nicht zu einer selbstkritischen Beurteilung hinsichtlich einer möglichen Überforderung der Rezipienten führte. Vielmehr deutete Lohse die nur sehr begrenzte Anerkennung in der allgemeinen Kunstöffentlichkeit der 1950er Jahre als das Ergebnis einer praktizierten »ideologischen Rezeption« traditioneller Kunstkritiker, die die tiefere Bedeutung der neuen Kunstauffassung nicht wahrnehmen wollen, nur oberflächlich klassifizieren und pauschalisieren, was Lohse 1979 noch einmal in Erinnerung ruft: »Obwohl durch ihre Grundhaltung dem Rationalismus der Zivilisation verwandt, blieb sie eine Kunst der Außenseiter, der eine modellhafte Leitung zur Gestaltung einer sozialen Umwelt nicht abgesprochen werden kann. In der Kritik an der Notwendigkeit dieser Leistung verbinden sich die Extreme: der Irrationalismus mit sozialpolitischer Kritik […] (und die) Verherrlichung des Technokratischen, der es nicht gelingt, […] eine dem Volk verständliche, kritischrealistische Darstellung zu vermitteln. Im Gegensatz dazu steht die Kritik des Irrationalismus, die konstruktive Kunst sei die Kunst der Industriegesellschaft […] Durch ihren Rationalismus trage sie zur Verödung des Lebens und zur Versklavung des Menschen als Roboter bei« wobei für Lohse bemerkenswert ist, »beide Strömungen […] erheben gleichzeitig den Anspruch, wirklichkeitsbezogen zu sein« (Lohse 1979, in H.H. Holz u.a. 2002, S. 218) Diese Erfahrungen mit populärer kulturpolitischer Kritik veranlassten Lohse jedoch nicht, seine Vorstellung eines dialektischen Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft zu revidieren, da für ihn bei diesen Fragen in einem anderen Zeithorizont gedacht werden muss, denn oft » ist es so, dass sich Parallelerscheinungen
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zu gleicher Zeit ereignen, dennoch lassen sich Tendenzen und Wirkungen erkennen […] und die Anwendung ähnlicher Methoden erstrecken sich […] oftmals wie ein unterirdischer Strom, um nach einer weit auseinander liegenden Zeitspanne in vollendeteren Formulierungen wieder aktiv zu werden« (ebd. S. 219). Aus voller Überzeugung, dass »systematische Gestaltungsmethoden […] Parallelen zu den Strukturen unserer Zivilisation« sind, und gleichzeitig diese in ihrer gesellschaftlichen Wirksamkeit in Frage stellen können, leitete Lohse den kulturkritischen Anspruch ab, auch bei begrenzter Anerkennung in der Gegenwart auf dem richtigen Weg in eine Zukunft zu sein, in der die konstruktive Kunst »durch die Verwendung objektiver Mittel, die Durchschaubarkeit ihrer Methoden, die Möglichkeit der Vorausberechenbarkeit […] modellhaft auf die Veränderung der Umwelt« (ebd. S. 224) einwirken kann. D.h., Lohse zweifelt nicht an sich und seinen Zielen und Prinzipien einer Umgestaltung der Kunst, sondern bezweifelt nur, dass die Gesellschaft auch so weit ist, um die Potentiale konstruktiver Kunst wertschätzen zu können. Diese Skepsis gegenüber einer angemessenen Rezeption konstruktiv konkreter Kunst zeigt auch noch seine Dankesrede an die Würdenträger der Stadt Zürich anlässlich seines 85. Geburtstages: »Wenn nicht einige mutige Künstler und verständnisvolle Direktoren gewesen wären […]. Max Bill, Hans Fischli, Siegfried Giedion […] wäre die Situation in den 30er und frühen 40er Jahren noch härter gewesen […] Die Koryphäen, die unsere Arbeit als unschweizerisch bezeichneten, haben jedoch nicht nur die konstruktive und konkrete Kunst abgelehnt, sondern auch die gleichgesinnten Architekten, wie z.B. Corbusier […]. Es brauchte erst die Resonanz aus dem Ausland, bis die Schweiz auf uns aufmerksam wurde und die Qualität unserer Arbeit glaubhaft erscheinen ließ […] Der Mangel, die konstruktive und konkrete Kunst als eine der Epoche adäquate Ausdrucksform zu erkennen, liegt in der allgemeinen Ignoranz gegenüber den spezifischen Phänomenen dieser Gegenwart und der einseitigen ästhetischen Kunsterziehung […]. Noch wird nicht erkannt, dass die konstruktive und konkrete Kunst eine Parallele zu den Erscheinungen der Zivilisation darstellt, jedoch gleichzeitig eine kritische Manifestation zu dieser ist« (Lohse 1987, in: Holz u.a. 2002, S. 40-41). Lohse übersah dabei, dass die Schweiz, zumindest in ihrer offiziellen kulturpolitischen Öffentlichkeitsarbeit u.a. durch »Pro Helvetia«, schon seit Längerem gern diese Kunstentwicklung in Bezug gesetzt hatte zu typischen Schweizer Lebensprinzipien: »Angesichts dieser weit verbreiteten Vorurteile ist es nicht erstaunlich, dass die Zürcher Schule der Konkreten und die rationalen Formen der Abstraktion auch in der Auslandstätigkeit von Pro Helvetia eine wichtige Rolle spielen. In den 1950er Jahren fällt die Eingliederung der geometrischen Abstraktion in die kulturelle
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Außenpolitik mit der Anerkennung dieser Kunstrichtung durch die öffentlichen Stellen […] In der ausländischen Wahrnehmung der Schweiz festigt die geometrische Abstraktion das Bild eines Landes, in dem das ästhetische Ideal von einer auf Gleichgewicht und Harmonie geprägten Formensprache bestimmt wird. […] In den Augen der ausländischen Kunstkritiker und Journalisten bestätigen die Werke der Zürcher Schule der Konkreten die der Schweiz oft zugeschriebene Qualitätsarbeit und die vom Protestantismus abgeleitete puritanische Mentalität« (Kadelbach 2020).
4.
Wechselseitiger Einfluss auf benachbarte Kulturbereiche
Neben solchen unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Anleihen oder Identifikationen gab es eine direkte Weiterentwicklung konstruktiv konkreten Denkens und Arbeitens im Bereich der angewandten Kunst (Werbegraphik, Typographie und Design), auf die hier nicht näher eingegangen werden soll. Bedeutsamer in diesem Rahmen ist die Frage, ob und in welchem Umfang es Verbindungen, Analogien oder Schnittmengen zu andern Kulturbereichen gab. Eine verbindende zentrale Idee war die Suche nach kleinsten (fundierenden) Elementen und der jeweilige Versuch, für sie, in Bezug zu einem formalen Ordnungsrahmen, neue (genuine) Sinn- und Bedeutungsaussagen zu entwickeln. Etwa zeitgleich lassen sich dazu Entwicklungen zwischen den zwei Weltkriegen in der Literatur (Dadaismus, Konkrete Poesie), Musik (12-Ton-Musik) und dem Tanz (u.a. »Triadisches Ballett«), mit unterschiedlichen Anknüpfungen an die konstruktiv konkreten Kunstbewegungen, erkennen.
4.1
Sprache und Literatur
Die »Neue Literatur« war ein zentrales Thema in der Aprilausgabe 1920 von »de stijl«, in der es u.a. heißt: »Der Organismus unserer zeitgenössischen Literatur zehrt noch von den sentimentalen Gefühlen einer geschwächten Generation. Das Wort ist tot« (de stijl III, S. 49). Gleichsam als Antwort veröffentlicht van Doesburg im gleichen Heft unter dem Pseudonym I.K. Bonset seine » X-Beelden« (X-Bilder) sowie Fragmente einer Novelle »Het andere gezicht« (Das andere Gesicht). Der erste Aphorismus ist eine Anerkennung des Dadaismus: »Falls sich hinter ›Unsinn‹ ein tieferer Sinn versteckt als der der Norm, dann ist ›Unsinn‹ nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig. Auf diese Art wird der Dadaismus neue übersinnliche Normen schaffen« (de stijl III, S. 84). In »Grundlagen einer neuen Ausdruckweise in Versen« schreibt van Doesburg anschließend:
konstruktiv konkrete kunst – Grundlage einer genuinen »Form-Farben-Sprache«?
»Diese Dichtung ist keine Philosophie und sicherlich keine Geschichte, sie dient nicht dem Verstehen. Sie ist selbst Existenz, ausgedrückt durch Ton, Tonbeziehung und Tonkunst. Um dies zu verwirklichen, müssen wir uns von der Vielzahl und der Fülle trennen, mit der uns die begreiflich logische Kultur Westeuropas während der letzten 50 Jahre belastet […] Zuerst muß die Wiederherstellung des inneren Klangs des Worts angegangen werden. Um es von seiner Vergangenheit zu befreien, ist es notwendig, das Alphabet seinen abstrakten Tonwerten entsprechend zu erneuern. Das bedeutet zugleich die Wiedergewinnung der dichterischen Membrane unserer Ohren, die in solch großem Ausmaß geschwächt sind, daß lange phonogymnastische Übungen notwendig sind. Durch meine letzten Tonbilder habe ich diesem Leerlauf entgegengewirkt. Durch sie habe ich ein Alphabet geschaffen, daß dem inneren Klang und der Dichtung entspricht. Ausgehend von dieser geometrischen Dichtung kann sich eine in unserer Zeit notwendige poetische Sprache entwickeln. Obgleich formlos, sind diese Verse streng an Tempogesetze gebunden, wobei jede störende pathetisch-zweitrangige Geste vermieden wird« (de stijl IV, S. 100-102). D.h., die Methode und Zielsetzung der Literatur sind denen von Stijl in der Malerei und plastischen Kunst ähnlich, wie van Doesburg später betont: »Schöpferische Syntax, das Wort, die Sprache, der Satz werden geeignet sein, die menschliche Mentalität so tief und wesentlich zu verändern, daß ein ganz neuer Weg des Sehens und Denkens die Folge sein wird« (de stijl VII, S. 3). Van Doesburg veröffentlicht seine Ansichten zum Dadaismus unter einem Pseudonym, da er einerseits diese grenzüberschreitenden Aktivitäten im Bereich der Sprache und Literatur begrüßte, andererseits aber auch deren Bedeutung für die bildende Kunst verneinte. Rückblickend schrieb er dazu 1929: »Denn aus dem Chaos der alten zertrümmerten Welt schuf der Dadaismus mit dem Wort eine neue imaginäre Welt, die Welt der Umgestaltung, der reinen Dichtung. Es ist also kein Zufall, daß die zwei einander diametral entgegengesetzten Richtungen, Neo-Plastizismus und Dadaismus (jetzt Surrealismus) eine Parallele bildeten: die schöpferische Wortkunst. So läßt sich auch erklären, warum die Führer der Stijl-Bewegung mit dem Dadaismus sympathisierten und ihre Sympathie öffentlich kundgaben« (van Doesburg 1929 S. 376). Die Mitglieder der Zürcher Schule für konkrete Kunst knüpften an diese Tradition an und verfeinerten aus ihrer Sicht analoge Modellüberlegungen, wie z.B. Lohse durch das modulare und serielle Ordnungssystem mit Bezug auf eine spezielle Farbsystematik. Eine neue Perspektive im Verhältnis von Kunst und Sprache ergab sich durch Eugen Gomringer, der 1944 in Basel die konkrete Kunst kennengelernt hatte. Mit anderen jungen Literaten und Dichtern der Nachkriegsjahre blickt er aus Sicht
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der Sprache auf die sich seit ca. drei Jahrzehnten etablierende konstruktiv konkrete Kunstbewegung. Bezugnehmend auf die »poètes à l’ écart«, eine Anthologie zu den Möglichkeiten einer »konkreten« Literatur, entwickelte sich mit Eugen Gomringer, Arno Holz, Carlos Williams u.a. eine Bewegung, die versuchte, eine neue Art von nicht-mimetischer Literatur, eine Konkrete Poesie zu schaffen. Anders als in der Kunst, die sich noch ihre alphabetische Basis entwickeln musste, gab es in der Sprache diese Ausgangssituation schon. Entscheidend war jedoch, dass diese Basisbedingungen in anderer Weise für ein eigenständiges Bedeutungssystem entwickeln werden mussten, das sich nur auf die Buchstaben und Wörter selbst beziehen sollte. Als Orientierung galt dabei u.a. die Manifestation des »Art Concret« (Paris 1930), der gefordert hatte, »nichts ist konkreter, nichts realer als eine Linie, eine Farbe, eine Fläche«. Bedeutsam war auch die Betonung einer neuen Raum-Zeit-Struktur in der Dichtung. In Abgrenzung zur traditionellen Vorstellung, die vor allem den zeitlichen Aspekt (z.B. den Verszyklus) als eine formal rhythmische Einheit ansieht, war es nach dem Brasilianer Augusto de Campos und dem von ihm und Decio Pignatari entworfenen »pilot plan for concrete poetry« wichtig, auch die räumliche Perspektive in der Poesie zu beachten, wie ein Textauszug zeigt: »Die konkrete Dichtung stellt fest, daß der historische Verszyklus (als formalrhythmische Einheit) abgeschlossen ist, und wird sich zunächst des graphischen Raums als Strukturelement bewußt. Raum wird genannt: die Raumzeitstruktur an Stelle einer nur linear-zeitlichen Entwicklung. […] Das konkrete Gedicht ist Mitteilung seiner eigenen Struktur. Es ist sich selbst genügendes Objekt und nicht Darstellung eines anderen äußeren Objekts oder mehr oder weniger subjektiver Gefühle. Sein Material: das Wort (Laut, Seh-Form, Semantik). Sein Problem: die funktionellen Beziehungen dieses Materials […] Konkrete Dichtung: totale Verantwortung vor der Sprache. Vollkommener Realismus. Gegen eine Dichtung des persönlichen und hedonistischen Ausdrucks« (Pignatari 1955, S. 7). Für Gomringer, der sich davon leiten ließ, sind Worte nicht Bedeutungsträger, sondern visuelle und phonetische Ausdrucksmittel, die durch graphische Anordnung des Textes eine bestimmte inhaltliche Bedeutung vermitteln. Die auf diese Weise entstehenden Gedichte nennt er in seinem Manifest »vom vers zur konstellation« (1954) »konstellationen«. Sie sind für ihn »die einfachste gestaltungsmöglichkeit der auf dem wort beruhenden dichtung […] mit der konstellation wird etwas in die welt gesetzt. sie ist eine realität an sich und kein gedicht über« (Gomringer 1954, S. 8) Bezogen auf die erkennbaren Grundsätze der konkreten Dichtung zeigen sich deutliche Parallelen zu jenen der konkreten Malerei wie z.B.:
konstruktiv konkrete kunst – Grundlage einer genuinen »Form-Farben-Sprache«? 1. Anspruch einer nicht-mimetischen Aussage durch Bezug auf die eigene Materialität. 2. Beachtung des Raumes, neben der traditionellen Bedeutung der Zeit. 3. Kombination elementarer Einheiten unter Beachtung simultaner Konfigurationen. 4. Betonung von bestimmten Formen und Bedeutungsbildungen durch optische Präsentation. 5. Ablehnung jeglicher Subjektivierung und Metaphorik bei der Präsentation.
Trotz dieser selbstbewussten und zukunftsweisenden Initiative war nicht zu übersehen, dass die erhoffte revolutionäre Ausbreitung der neuen fundamentalen Art der Dichtung nur eine begrenzte Aufmerksamkeit in der Literatur erfuhr, obgleich ihre indirekte Wirkung auf »grenzüberschreitende« Aktionen wie z.B. »Lautpoesie und neue Musik« mit z.T. großen Festivals in Amsterdam, London, Stockholm oder Berlin dies für Insider so nicht erkennen ließ. Ein Grund für die geringe Akzeptanz im allgemeinen Kulturbetrieb liegt im gleichsam vorprogrammierten Paradox konkreter Literatur: Es ergibt sich aus dem Gegenstand selbst, der semantisch/pragmatisch sozialisierten Sprache.9 Anders als graphische Mittel der Kunst oder die akustische Musik ist die Sprache immer schon über die kulturellen Praxen, in denen sie ihren Sinn erhält, mit gebrauchsrelevanten Bedeutungen (Wittgenstein 1967) »grundiert« und damit nur schwer kontextlos und elementarisiert verstehbar. Das Ziel einer Sensibilisierung für kategoriale Darstellungsformen bzw. die Offenlegung von immer schon wirksam werdenden impliziten Bedeutungszuschreibungen ist einer darauf nicht vorbereiteten kulturellen Öffentlichkeit nur schwer zu vermitteln. Dies ist eine Herausforderung, die bis in die Gegenwart reicht, und Eugen Gomringer, wesentlicher Wegbereiter der konkreten Poesie, tritt heute noch mit über neunzig Jahren aktiv dafür ein.
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Für Siegfried J. Schmidt sind die Entwicklungsmöglichkeiten Konkreter Dichtung enge Grenzen gesetzt. »Weitere Entwicklungsmöglichkeiten werden dadurch begrenzt, dass Konkrete Dichtung ihre Strategie der Identitätsbildung durch Differenz bzw. Negation oder Zerstörung nahezu aufgebraucht hat. Bewusst negiert wurden […] Konventionelles narratives, episches oder lyrisches Sprechen mit seinem linear-sukzessiven Textaufbau, das Prinzip der Mimesis und damit thematischer Rekurrenz, Subjektivität und Expressivität, die Einhaltung klassischer Gattungsmuster, metaphorisches Sprechen, Wahrheitsansprüche und thematische Komplexität« (Schmidt 2004, 27). D.h. »Protest kann nicht auf Dauer gestellt, Spontaneität nicht verwaltet, Zerstörung nicht wiederholt werden« (ebd. S. 29) – außer es gelingt, Wiederholungen zu konzipieren, die eine gewisse Differenz sichtbar machen, was für Schmidt sich u.U. in Bezug zu postmodernen Kunstentwicklungen abzeichnen könnte.
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4.2
Musik und Tanz
In der Musik sahen viele Mitglieder der De Stijl-Gruppe eine Kunstform, der auf dem Weg zu einer eigenständigen Sprache der Kunst eine prototypische Bedeutung zugesprochen werden kann. Sowohl in ihrer realen Performanz als Klangereignis als auch mit ihrer tradierbaren Notations-Schrift hat sie sich eine Unabhängigkeit von mimetischen Erwartungen geschaffen, für die in der bildenden Kunst erst noch die Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Eine Annäherung versuchte van Doesburg in Zusammenarbeit mit Antony Kok unter dem Pseudonym Bonset in seinem Dada-Beitrag »Letterklangbeelder« (Buchstabenklangbilder), in dem er eine neue Form einer musikalischen Poesie skizziert. Eine besondere Beziehung zur Musik entwickelte auch Mondrian. Sie wird in den ersten Jahren wesentlich geprägt durch seine Freundschaft zu dem Komponisten van Domselaar, der dies u.a. auch in einem Musikstück zum Ausdruck bringt, in dem die Malerei Mondrians thematisiert wird durch fünfzehn Takte harmonisch-musikalischen Gleichgewichts bei gleichzeitigen, gegenläufigen Klangbildern. Nach seiner Übersiedlung nach Paris lernte Mondrian den holländischen Komponisten Daniel Ruyeman kennen. In der Folge komponierte dieser ein Musikstück, in dem elementare musikalische Klänge so hörbar werden, dass sowohl ihre konstituierenden Effekte als auch ausgleichende Balancen wahrgenommen werden können. Mondrian wiederum dokumentierte sein vertieftes Musikinteresse in zwei Artikeln zur künftigen Musikentwicklung. Er verwirft darin das traditionelle melodische System musikalischer Komposition, wendet sich gegen individuelle Ansprüche der Komponisten und ausführenden Musiker und fordert als Ziel einer zukünftigen Musik eine »neo-plastische Musik« auf der Basis einer objektiven Musiksprache. Um dies alles realisieren zu können, müssten aus seiner Sicht auch neue Instrumente Anwendung finden, die gleichförmige und verschiedenartige Klänge hervorbringen können, ohne dass dadurch menschliche Gefühle berührt werden. Das Ziel sollte es immer sein, Kompositionen zu schaffen, die alle Unbestimmtheit, Sentimentalität und Emotionalität vermeidet und auf der Basis von neuen Rhythmen, in denen nicht die Wiederholung von Gleichem, sondern Gegensätze das Musikgeschehen dominieren. Werden solche Musikstücke aufgeführt, könnten im Sinne eines »Gesamtkunstwerks« dann auch z.B. in den Pausen neo-plastische Bilder gezeigt werden. Mondrian war sich zwar bewusst, dass dies noch sehr utopische Vorstellungen sind, hoffte jedoch, dass sich aus solchen übergreifenden Ideen Zielperspektiven für eine bereichsübergreifende Kultur in der Zukunft ergeben könnten. Der Tanz als die körperlich wahrnehmbare Bewegungs-Erfahrung von Raum in der Zeit, wurde in Verbindung mit der Musik (als Raumerfahrung) und dem Film (als Zeiterfahrung) in der Regel als eigenständiger künstlerischer Gegenstand wahrgenommen. In Abgrenzung zur traditionellen Tanzgeschichte interessierte sich eine
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kleine, aber ideenreiche Gruppe, vor allem für die Möglichkeiten elementarer Bewegungssequenzen in Verbindung mit einer entsprechenden Musik. Im Heft VII »de stijl« beschreibt Valentin Parnac einen Tanz, den er »Epopée« nennt und der in Moskau im Meyerhold-Theater aufgeführt worden war. Im Tanz werden räumliche Konfigurationen gezeigt, die den Prinzipien der bildenden Kunst im Stijl zu entsprechen scheinen, da sie als abstrakt angesehen werden können und keinen persönlichen Inhalt haben. Dieser Eindruck einer Entnaturalisierung wird dadurch verstärkt, dass der menschliche Körper, der sonst ein dominierendes Ausdrucksmittel im Tanz ist, durch ein einfaches lineares Schema ausgedrückt wurde. Nach Auffassung von Jaffé ist der Beitrag von Parnac: »das einzige Zeugnis über die Tätigkeit des Stijl auf dem Gebiet des abstrakten Tanzes. Es muß jedoch zugegeben werden, daß der Einfluß des Stijl sich in den folgenden Jahren sehr stark im Tanz und vielleicht sogar noch stärker in der Choreographie auswirkte. Dort wurde in zunehmendem Maße die gebogene Linie vermieden, und es wurde in gleichem Maße ein Schema der choreographischen Komposition übernommen, das auf dem Gegensatz von horizontalen und vertikalen Bewegungen beruhte (wobei es) außerordentlich schwierig ist, Beispiele dieser neuen Tendenz anzuführen, da Fotografien selten sind, die zudem nur einen Augenblick der Entwicklung festhalten« (Jaffé 1965, S. 192). Eine besondere, bis in die Gegenwart reichende, Bedeutung erhielt 1922 das erstmals in Stuttgart aufgeführte »Triadische Ballett« von Oskar Schlemmer.10 Nach postkubistischen Landschaften und Figurinen-Ballett, die auf Pantomime basierten, entwickelte er mit Bezug zum Marionettentheater von Kleist das Formenrepertoire und einen Figurenstil, in denen sowohl die Figur im Raum als auch raumplastische Kostüme (Kugel, Kegel, Scheibe) den Tanzauftritt der entpersönlichten Tänzer bestimmen. Nachdem Schlemmers Bemühen, Arnold Schönberg für eine Vertonung zu gewinnen, fehlgeschlagen waren, reagierte Paul Hindemith positiv und schrieb für drei Tänze eine Partitur, die jedoch durch verschiedene Umstände nicht zur Aufführung kam. Rückblickend war damit die Chance vertan, die drei eigenständigen Kulturentwicklungen in einem echten »Gesamtkunstwerk« zu präsentieren.
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»Nach seiner Uraufführung 1922 in Stuttgart fand das ›Triadische Ballett‹ kaum Beachtung; erst 1977 wurde es wieder zum Leben erweckt. Damals nahm sich der Ausdruckstänzer Gerhard Bohner des Werks an und beauftragte für die musikalische Neukomposition HansJoachim Hespos. Ganz im Sinne Schlemmers, der sich bereits für die Uraufführung eine zeitgenössische Musik gewünscht hatte, sich dann aber mit einem Arrangement von Tarenghi, Debussy und Händel zufriedengeben musste« schreibt Isabelle Jacob in der Zürcher Zeitung (7.6. 2014), bezogen auf eine Aufführung des Bayrischen Staatsballetts 2014 in München.
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Gegenüber dieser differenzierten und grenzüberschreitenden Beobachtung der Tanz- und Musikentwicklung sahen die Zürcher Konkreten in der Musik vor allem ein Modell für ein eigenes elementares »naturunabhängiges, geistiges« System, das mit wenigen Elementen eine unendlich erscheinende Zahl an Variationsmöglichkeiten bietet. Beispielhaft zeigt sich dies für Bill, wie schon angedeutet, u.a. in der »Bach’schen Fuge«, denn »diese musikalische form beruht nicht auf naturerscheinungen, sondern ist die rein geistige schöpfung des themas, welches durch phantasievolle, plan- und gesetzmäßige bearbeitung verwandelt und gesteigert wird, und dadurch die der musik eigene wirkung eines totalen ablaufs innerhalb von raum und zeit, vollendet entstehen lässt« (Bill 1936, 1944, 1946, S. 29 in: Riese 2008, S. 203). Deutlich zeigt sich, dass nicht die semantischen und pragmatischen Bedeutungen des musikalischen Aussagesystems, sondern der Blick auf die »Syntax« der Musik zu analogen Strukturüberlegungen anregen sollte. Unklar bleibt dabei, inwieweit die Zürcher Konkreten Kontakte zu jenen Musikern hatten, die sich zum Teil zeitgleich auch weiter um eine nicht-mimetische neue Musikform bemühten, wie z.B. Arnold Schönberg und Anton Weber u.a. mit ihren 12-Ton-Kompositionen. Welche wechselseitigen Anregungen sich daraus u.U. hätten entwickeln können11 , zeigte Michael Parsons als Musiker und Komponist auf dem Kolloquium »Musik und konkrete Kunst« 2000 in Erfurt in einer Vergleichsanalyse: »Musik findet zeitlich statt, während die Elemente eines gestalteten Werks der darstellenden und bildenden Künste gleichzeitig räumlich präsent sind. Visuelle Wahrnehmung ist aber auch ein zeitlicher Prozess: Wir verschaffen uns einen Eindruck von einem Werk der bildenden Kunst als Ganzes, indem wir seine Bestandteile der Reihe nach und im Wechsel vergleichen; […]. Ein Werk der bildenden Kunst kann konkrete Spuren des zeitlichen Prozesses seiner eigenen Gestaltung aufweisen […] Schönberg beschrieb die Beziehung zwischen Zeit und Raum in der Musik wie folgt: ›Musik ist eine Kunst, die zeitlich stattfindet. Aber die Art und Weise, auf die das Werk sich selbst dem Komponisten präsentiert […] ist davon unabhängig; Zeit wird als Raum betrachtet. Durch das Niederschreiben des Werkes wird Raum in Zeit verwandelt. Der Zuhörer erlebt dies andersherum; erst nachdem das Werk zeitlich abgelaufen ist, kann man es als Ganzes sehen‹« (Parsons 2002, S. 30). Entscheidend ist, dass die Fähigkeit, »Erfahrungselemente zu vergleichen und im Zusammenhang zu sehen, zu ordnen und auszuwählen«, immer in einem geistigen oder kognitiven Raum stattfindet, und dadurch »entwickelt sich das Verständnis für ein Musikstück; eine Folge von Ereignissen wird im Kopf als Ganzes erfasst […] Auf diese Weise macht man sich ein räumliches Bild des Werkes; die Erfahrung 11
Vgl. dazu vor allem Schawelka, K. (1993).
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von Raum und Zeit bildet ein ganzes, und beide Aspekte können nicht voneinander getrennt werden« (ebd. S. 30). Anschaulich wird dies am Beispiel von Schönbergs Suite für Klavier Opus 25, die er 1921 und 1923 mit Bezug auf seine neu formulierte Zwölftontechnik geschrieben hatte, und auf die Parsons näher eingeht. Gleichzeitig wird man bei der Werkanalyse an Lohses Beschreibungen seiner modularen und seriellen Ordnungen erinnert: »Alle sechs Stücke basieren auf derselben Reihe von 12 Tönen, und sie offenbaren die erstaunliche Vielfalt der thematischen und harmonischen Invention, die Schönberg von einer einzigen Reihe und ihren Abwandlungen herleiten konnte. Es werden Umkehrungen und rückläufige Formen der ursprünglichen Reihe verwendet« (ebd. S. 30). Noch deutlicher als bei Schönberg zeigt sich die enge Beziehung von konstruktivkonkreter Kunst und Zwölftonmusik bei Anton Weberns Gedanke der Spiegelsymmetrie, die sich besonders bei seinen Variationen für Klavier Opus 27 ergeben, die er 1935/36 geschrieben hat: »Das Verstehen der Zeitsymmetrie in Weberns Variationen für Klavier scheint von einer räumlichen Analogie abzuhängen. Die zeitliche Klangfolge wird wie ein Gegenstand im Raum behandelt. Die Symmetrie der Tonfolge und ihre rückläufige Form wird als räumliche Spiegelung behandelt. Der Gedanke der Spiegelsymmetrie ist derselbe wie bei den bildenden Künsten, aber die Art und Weise wird in der Musik anders wahrgenommen« (ebd. S. 31). Weberns Ziel war es, so viele Verbindungen wie möglich zu schaffen, wobei die folgende Wortkomposition die klangliche Kompositionsstruktur visuell erkennen lässt:
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Dieses Beispiel zeigt, welches Gestaltungspotential sich fast zeitgleich in den Bereichen Kunst, Musik und Sprache zwischen den zwei Weltkriegen und in den Nachkriegsjahren entwickelte, ohne dass die Zeit ausreichte bzw. in den einzelnen Disziplinen schon reif war, um daraus jenen allgemeinen grenzüberschreitenden Blick zu entwickeln, durch den tieferliegende Gemeinsamkeiten elementarer Begründungsbemühungen hätten erkannt werden können – wobei weiterhin die Frage offen bleibt, ob eine kulturpolitische Öffentlichkeit dazu auch bereit gewesen wäre.12
5.
Ergebnis und Grenzen konstruktiv konkreter Initiativen
Versucht man aus heutiger Sicht die Ambitionen der konstruktiv konkreten KunstAvantgarde für ein neues Verständnis, eine eigenständige Sprache der Kunst, zu bewerten, fällt die Beurteilung doppeldeutig aus: A. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ist die Entwicklung der Kunst von konstruktiv konkreten Bewegungen nachhaltig beeinflusst worden. So gehören die Werke der ersten Generation z.B. von Wassily Kandinskys Absoluter Malerei, Kasimir Malewitschs Suprematismus oder Piet Mondrians Neoplastizismus zum festen Bestandteil des kulturellen Erbes und sind in Ausstellungen und auf dem Kunstmarkt bis heute präsent. Wesentlich beigetragen dazu hat die einfache Antwort dieser Kunstbewegungen auf die klassische Frage: Was soll das Kunstwerk bedeuten? Im Gegensatz zu traditionellen Deutungsangeboten, die meist, eingebunden in Schulbildungen oder Stildiskussionen, einen direkten oder verfremdenden Bezug zur abgebildeten Wirklichkeit interpretieren, beschränkt sich die konstruktiv konkrete Kunst darauf, Farben, Formen, Linien etc. dem Rezipienten anzubieten – ohne damit auf die traditionsreiche Frage einzugehen. Vielmehr erwartet sie vom Betrachter bzw. bieten ihm nach Holger Kube-Ventura (2018) die Chance: »in der konzentrierten, aber absichtslosen Beobachtung Grundsätzliches zu verstehen. Konkrete Kunst versteckt nichts und hält nichts zurück: Anders als bei vielen auf Kontexte und Hintergrundwissen basierenden Kunstformen ist bei konkreter Kunst Alles zur Gänze zu sehen und zu verstehen, was in offen gelegter Regelhaftigkeit zu sehen sein kann und auch zu sehen sein muss. Restlos. Und nichts weiter als das« (Kube-Ventura 2018, S. 12).
12
Eine weiterführende Frage ergibt sich unter dem Stichwort »Synästhesie«. Darunter versteht man das Phänomen, dass eine Sinnesqualität, wie z.B. das Hören einer Melodie, das Sehen einer Farbe, das Hören eines Wortes noch auf eine andere Sinnesqualität »überspringt« oder in anderer Form noch einmal repräsentiert wird (vgl. Emrich, H.M./Zedler, M. [2000], S. 20).
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Die Auffassung einer eigenständigen Kunstbewegung, die nicht nur versucht, dieses »neue Sehen« über ihre Werke selbst zu vermitteln13 , sondern dies auch von Anfang an durch ambitionierte theoretische Begleittexte flankierte. Von besonderer Bedeutung sind dabei, wie gezeigt wurde, die Schriften von van Doesburg, in denen er immer wieder fordert, die Sinnesorgane so zu trainieren, dass die Fähigkeit zur Konstitution von ästhetischer Wirklichkeit gesteigert wird. Mit diesem exponierten Denken beeinflusste er auch das zunächst noch von anderen Ideen geprägte Bauhaus, vor allem Josef Albers und Oskar Schlemmer, obwohl er dort niemals als Lehrer tätig werden konnte. Sein funktionaler Anspruch, unter Beachtung geometrischer Bedingungen, an die Gestaltung von Kunstwerken, aber auch von Gebrauchsgegenständen, hat neben vielen anderen Mitstreitern über das Bauhaus hinaus bis heute die Welt der angewandten Kunst (Design, Typographie, Werbegraphik, Möbel etc.) beeinflusst. Es ist daher nachvollziehbar, dass die Zürcher Konkreten Bill und Lohse vor allem van Doesburgs Auffassung konstruktiv konkreter Kunst in und nach dem zweiten Weltkrieg weiterentwickelten. Vor allem Lohse versuchte durch seine Strukturästhetik das Fundament für eine Form-Farben-Logik der Kunst weiter auszubauen. Für den Philosophen Hans Heinz Holz gelingt Lohse dabei nach Hans Peter Riese, »ein dialektisches Verfahren, […] in dem das Irrationale – also der subjektive Kunstwille – und das rationale – also die objektive Struktur des Bildes – so ineinander verschränkt sind, ›dass die optisch einsichtige Logizität der Entwicklung den Ursprung des Irrationalen aus dem Rationalen erkennen lässt‹ (Holz 2001, S. 11). Hier bezeichnet Holz genau jenen erkenntnistheoretischen Zusammenhang, der notwendigerweise gegeben sein muss, um aus den formalen Strukturen eine ästhetische Kategorie gewinnen zu können« (Riese 2008, S. 230). Eine Bedingung, bei der nach Siegfried J. Schmidt aber immer zwei Voraussetzungen erfüllt sein müssen, um eine adäquate Wahrnehmung dieser neuen Kunstvorstellung zu ermöglichen: Zum einen müssen sich die Rezipienten als »Co-Produzenten« verstehen, die den bewussten »Erzeugermechanismus« konstruktiv konkreter Künstler nachvollziehen können und »freiwillig das Spiel des Konstruktivismus mitspielen, die Regeln der Bezugnahme und Weiterverbreitung kennen und in Differenz zur Rezeption anderer Kunstvarianten bewusst anwenden« (Schmidt 2009, S. 16).14 13
14
Dass dies im Gegensatz zu einigen Kritikern, die die praktische Umsetzung geometrischer Vorgaben als angewandte Mathematik kennzeichnen, auch gelingt, betont Britta Schröder: »Tatsächlich erscheint der Objektivierungsprozess, der in den Werken der Konkreten von der Komposition zum System und vom Äquilibrium der Formen letztlich zur unhierarchischen Struktur hinführte, in seiner Folgerichtigkeit so autonom und zwingend, dass es naheliegt, ihn als aus der Kunst selbst generierten […] zu begreifen« (Schröder 2008, S. 45). »Ein so beschaffenes Werk tritt […] auch dem Betrachter ganz anders entgegen. Da jeder Verweis-Charakter auf Außerbildliches fehlt, das Werk sich weder auf andere Dinge der Welt
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Zum anderen ist die dabei wirksam werdende reflexive Differenzbildung, geprägt durch die Negation der Tradition, »gegen den Verschleiß von Sprache, Themen und Gestaltungsmöglichkeiten […] gegen Subjektivität und Emotionalität als künstlerische Prinzipien […] (und einer) Reflexion auf die absoluten Elementarformen künstlerischer Produktion« (ebd., S. 16), was ein Programm darstellt, das nur derjenige verstehen kann, der »die Referenz auf dieses Programm herstellen kann, fähig ist, die Werke ›zu lesen‹« (Schmidt 2009, S. 16). B. Diese Bedingungen, die auch für das am weitesten durchdeklinierte FormFarben-Konzept von Lohse gelten, lassen aber auch das Dilemma dieser neuen Kunst-Bewegung erkennen: Ihr gelang es mit Begriffen wie Modul, Proportion, Symmetrie oder Rhythmus, basierend auf den Vorgaben Farbe, Form, Linie etc., zwar ein eigenes System mit einer selbstbezüglichen Relationalität zu entwickeln. Aber diese neuen Gestaltungsprinzipien verloren nicht nur nach relativ kurzer Zeit den »äußeren« gesellschaftsverändernden Anspruch (bezüglich Demokratisierung, Technisierung etc.), sondern erwiesen sich auch nach »innen« hinsichtlich der Entwicklung einer eigenen »Produktions-Ästhetik« als nicht nachhaltig. So stellen die konstruktiv konkreten Kunstwerke innerhalb der Kunstgeschichte heute eine anerkannte, aber auch zeitlich begrenzte Stilrichtung dar, die, wie andere vor ihr, durch neue post-rationale Kunstbewegungen abgelöst wurde. Ein wesentlicher Grund dafür liegt u.a. darin, dass es nicht gelang, den paradigmatischen Anspruch auch mit einer ästhetisch relevanten Philosophie zu begründen. Ein Beispiel dafür ist u.a. der Begriff der »Logizität«, den Max Bill in seinen theoretischen Schriften verwendet und damit hofft, eine ästhetische Dimension seiner Werke entwickeln zu können.15 Hier ist Riese zuzustimmen, wenn er kritisch darauf hinweist, dass damit die theoretische Debatte um ästhetische Begründungen verengt und vorzugsweise mathematisch begründet und gelöst wird. Im Sinne einer Tautologie werden bestimmte Parameter vorausgesetzt, die man dann dadurch zu beweisen sucht, indem man ihre Voraussetzungen anwendet. Die ästhetischen Ergebnisse dieses Verfahrens schaffen »ein sich immer mehr geschlossenes System, aus dem man praktisch nicht mehr ausbrechen kann, […] Die meisten Künstler, die sich auf sie eingelassen haben, hatten diese Kraft nicht und es verwundert nicht, dass viele letztlich künstlerisch an dieser Theorielastigkeit gescheitert sind« (Riese 2013, S. 39).
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noch auf das Individuum Künstler noch auf transzendente Konzepte bezieht, ist eine neue Rezeption gefordert. Der Betrachter muss sich unmittelbar und direkt einlassen, denn ihm stehen aus seinem Erfahrungsschatz keinerlei Hilfsmittel zur Entschlüsselung zur Verfügung« (Hoffmann 2012, S. 1) So ist es bezeichnend, dass in einer rückblickenden Analyse der konstruktiv-konkreten Kunstentwicklung 1957 der Maler und Autor Karl Gerstner seine Arbeit mit der Titel-Frage versah: »Kalte Kunst?«. Die anschließende Fachdiskussion belegt, welchem Legitimationsdruck diese »neue« Kunst auch nach einem halben Jahrhundert ausgesetzt ist.
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Eine kurzzeitige Befreiung aus einem solchen Zirkelschluss schien sich mit der aktiven Einbindung des Kybernetikers und KI-Forschers Max Bense in den 1960er Jahren abzuzeichnen. Durch den weiter gespannten Bogen der Abstraktion entstand für viele jüngere Künstler der Eindruck, man könne dem permanenten Vorwurf der konstruktiv konkreten Kunsttradition, sie präsentiere nur angewandte Mathematik, entgehen. In dieser Debatte ging es, schreibt Riese »also darum, das Spezifische des künstlerischen Denkens […] gegenüber dem wissenschaftlich kausalen Denken zumindest teilweise zurückzugewinnen« (Riese 2008, 229). Eine genauere Analyse zeigt jedoch, »die Kybernetiker […] können keine ästhetischen Urteile begründen, ihre Methode bleibt, indem sie die Häufigkeit der Zeichen in einem gegebenen Werk angibt, statistisch. Die Kunst ringt darum, ihre auch theoretische Autonomie und damit ihre ontologische Dimension neu zu begründen« Riese 2008, S. 229), was diese quantitative universelle Theorie nicht leisten kann. Dies wurde dann immer offensichtlicher in der sich anschließenden ComputerKunst, »in der postkonkrete ›systematisch-konstruktive‹ Methoden auf die Spitze getrieben wurden, […] (was) zunehmend zu gleichförmigen und ununterscheidbaren ästhetischen Ergebnissen« (Riese 2008, S. 229) führte. Resümierend kann man feststellen: Die konstruktiv konkrete Kunstbewegung hat versucht, die materiellen und formrelevanten Voraussetzungen bei der Bildung ästhetischer Urteile kenntlich zu machen und dabei in minimalistischer Weise gezeigt, wozu eine nicht-gegenständliche Kunst fähig sein kann. Ein Blick auf die Welt, der ihr bis heute Anerkennung in Museen und Galerien gebracht hat. Diese Wertschätzung als eine wichtige (zeitlich begrenzte) Stilentwicklung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist gleichzeitig aber auch eine Relativierung des globalen Anspruchs der Gründergeneration. So übersah sie, dass es nicht ausreicht, einen formalen Konstruktionsgedanken in den Vordergrund zu rückten und eine ontologische Seins-Kategorie auf der Ebene der konstruktiven Realität zu fixieren, um eine zukunftsweisende Vorstellung von dem zu entwickeln, was eine nichtmimetische, erklärende, »neue« Kunst leisten müsste. Dieser Mangel einer eigenständigen Kunst-Theorie, hinsichtlich der eigenen künstlerischen Tätigkeit, konnte auch nicht ausgeglichen werden durch partielle philosophische Bezüge oder verbale »Seh-Hilfen« (Lohse) für den Rezipienten. Diese reflexiven Versuche reichten nicht aus, um eine eigenständige »Sprache« der Kunst entwickeln zu können. Gleichzeitig zeigt sich darin das Paradox, das sich daraus ergibt, dass die konkrete Konstruktionslogik ein intensives verbales Einführungs- und Begründungsnarrativ notwendig macht, um zu zeigen, worin der Gehalt dieser von allen mimetischen Interpretationen befreite Kunst liegt, die aber – als elementare Sprache einer neuen Kunst – ohne weitere Bezüge von und für sich selbst sprechen können sollte.
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Innere Form und Habitus – Kendo, das japanische Fechten Jörg Potrafki
Prolog Als der 32-jährige Champion der japanischen Meisterschaft gegen den 65-jährigen Leiter der zentralen Fechthalle antrat, war der Kampf ein ungleicher. Nachdem die beiden Kontrahenten ihre Schutzrüstung angelegt und sich voreinander verbeugt hatten, zogen sie ihre Bambusschwerter symbolisch zum Zweikampf. Sofort begann die Konfrontation mit aller Ernsthaftigkeit. In gerader, eindrucksvoller Körperhaltung standen sie sich »Auge in Auge« gegenüber. Getrennt wurden die Kämpfer nur durch ihre Bambusschwerter, die in der Mitte gekreuzt den zu überwindenden Sicherheitsabstand markierten. Obwohl sich beide Protagonisten nur wenig bewegten, schienen sie permanent gegeneinander zu kämpfen. Die Auseinandersetzung war zunächst eine innere. Kurze, scharfe Kampfschreie aus den Tiefen der beteiligten Körper machten die knisternde Spannung im dojo akustisch wahrnehmbar. Lediglich die Spitzen der beiden Bambusschwerter klatschten wie elektrisiert aneinander, um sich dann aber sofort wieder zu lösen. Der jüngere Herausforderer suchte vorwärts drängend nach einer Gelegenheit zum ersten, entscheidenden Schlag mit dem Bambusschwert. Doch beim geringsten Anschein einer Offensive stoppte ihn der Ältere jäh durch einen harten Stoß zur geschützten Kehle. Die fortwährenden, aber erfolglosen Angriffsversuche des jungen Champions dauerten mehrere Minuten, bis dieser kurz zu verharren schien. In diesem Augenblick hob sein Gegenüber, der alte Fechter, das Bambusschwert in einer großen Ausholbewegung über den Kopf, um es mit auffälliger Leichtigkeit dem Jüngeren auf den Kopfschutz zu knallen. Der Kampf war entschieden.
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Abb. 1: Freikampf als Prüfstein
Einleitung Die geschilderte Situation ist typisch für Zweikämpfe im Kendo; im Alltag der japanischen Fechtwelt ist sie jederzeit beobachtbar. Ohne Zweifel ist der 32-jährige Polizist der bessere Athlet – immerhin steht er an der Spitze einer berufsmäßigen Sportelite in Japan –, doch der ältere Herr besitzt einen Vorteil im Leistungsvergleich, der alleinige Bedeutung erhält: Er trifft den jungen Herausforderer in eindeutiger Klarheit mit seinem Bambusschwert auf den Kopf. Dieser schlichte und anscheinend leicht auszuführende Schlag zum Kopf ist allerdings weit mehr als eine – mit bewegungswissenschaftlicher Perspektive – beobachtete sportmotorische Fertigkeit, die den sportlichen Sieg in einem Wettkampf hervorbringt. Betrachtet man die ursächlichen Zusammenhänge genauer, so verweist das Eingangsbeispiel auf Erfahrungen des Körpers, die in einem lebenslangen Entwicklungsprozess gereift sind und in spezifischen Handlungssituationen ihre Wirkung entfalten. Konkret in unserem Beispiel: der alte Fechter trifft den anderen im richtigen Augenblick und mit der richtigen Technik. Würde man den erfolgreichen Protagonisten um eine Erklärung der siegbringenden Technik bitten, so erhielte man mit großer Wahrscheinlichkeit die einfache Antwort: »Man schlägt zum Kopf!«. Obwohl diese kurze Erwiderung für den theoretischen Nachvollzug kaum ausreichen dürfte, verweist sie dennoch auf ein Spezifikum der japanischen Fechtkunst, das in der grundlegenden Bedeutung der Praxis liegt, keinesfalls aber im rationalen Diskurs über sie.
Innere Form und Habitus – Kendo, das japanische Fechten
Die folgenden Ausführungen werden die weitreichende Bedeutung des Körpers für spezifische Lernprozesse aufzeigen, die entscheidende Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung des Individuums in der japanischen Fechtkunst erhalten. Da die erworbenen Werte und Haltungen häufig im Kontext des gesellschaftlichen Wertekanons stehen, ergeben sich – nahezu beiläufig – kleine Einblicke in die Kultur Japans. Darüber hinaus hoffe ich, etwas von der Faszination der japanischen Fechtkunst weiterzugeben, die mich seit 32 Jahren erfasst. Die Ausführungen sind in fünf Themenkomplexe gegliedert: 1. 2. 3. 4. 5.
1.
Der Phänotyp Kendo Das Konstrukt vom do als Lebensweg Waza, keiko und Form im Prozess der Aneignung Der Lehrer als ganzheitliches Modell Abschließende Überlegungen
Der Phänotyp Kendo
Kendo, die japanische Fechtkunst der Gegenwart, besitzt einen historischen Ursprung, der im tödlichen Schwertkampf des Mittelalters liegt. Während gesellschaftliche Konventionen und soziokulturelle Entwicklungen der Moderne die prägende Leben-Tod-Konstellation des echten Kampfes längst auflösten, bleibt der Todesbezug in Philosophie und Trainingsalltag des Kendo gegenwärtig. Kendo in Japan ist heute Kampfkunst, Wettkampfsport und Traditionspflege gleichermaßen, doch der freie Kampf steht unverändert im Zentrum des Handelns. Das primäre Ziel in diesem ernsten Sport-Kampf liegt in der Überprüfung der individuellen Entwicklung, die aus der Verbindung von Reife des Charakters und der sportmotorischen Fertigkeiten entsteht. Die Verwendung von sportgemäßen Schutzrüstungen und Bambusschwertern, den shinai, ermöglicht den Kämpfern einen geregelten Wettkampf abzuhalten, der die ursprünglich tödliche Bedeutung für die Protagonisten imaginativ erlebbar macht. Regeln und Trefferziele verweisen auf den tödlichen Kontext. So zählen als Treffer im Kendo nur gültige Schläge zu Kopf – men –, Unterarme – kote –, Rumpf – do – und der einzige gültige Stoß zur Kehle des Gegners – tsuki -. Alle Trefferziele sind durch die angelegte Rüstung besonders geschützt, weitere Treffermöglichkeiten gibt es nicht. Die Ziele repräsentieren lebenswichtige Zentren, deren Verletzung in einem Schwertkampf nahezu immer mit dem Tod, in jedem Fall mit Kampfunfähigkeit und Niederlage verbunden war. Für den Phänotyp der Fechtkunst bleibt festzuhalten, dass mit den vorgegebenen Trefferzielen der tödliche historische Kontext in die unblutige Auseinandersetzung der Gegenwart rück-
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übersetzt wird. Die Protagonisten erleben den Kampf als reales Geschehen einer ernsten, körperlichen Auseinandersetzung.
2.
Das Konstrukt vom do als Lebensweg
Das Verständnis vom do als Lebensweg fand über den Buddhismus Eingang in die japanische Kultur und besitzt noch heute andauernde Gestaltungskraft für Individuen und Gesellschaft. Aspekte einer individuellen Spiritualität in der Fechtkunst entstanden insbesondere aus dem Zen-Buddhismus, der die Synthese von Fechtkunst und Lebensaufgabe hervorbrachte. Do ist der verbindende Terminus von Kampfkünsten und darstellenden Künsten Japans, denn aus der Sicht des Buddhismus ist es unerheblich, welche Tätigkeit den gewählten Lebensweg kennzeichnet. So darf festgestellt werden, dass beispielsweise die Selbstverteidigungskunst Judo, die Teezeremonie Chado oder die Blumenzeremonie Kado denselben spirituellen Ursprung aufweisen und gleichermaßen der übergeordneten Zielsetzung des Herstellens von individueller Harmonie mit dem Selbst folgen. Hier abzuleiten ist das philosophische Verständnis vom do als lebenslange Entwicklungsaufgabe, die das Subjekt zu bearbeiten hat. In der Kultur Japans wurden die traditionellen Methoden zur Verwirklichung des Weges durch umfassende Konzepte gesellschaftlicher, institutioneller Erziehung ausgeformt. An dieser Stelle allerdings muss darauf verzichtet werden, den umfangreichen soziohistorischen Kontext Japans zu beschreiben. Im Kendo bindet do den persönlichen Weg an das Schwert bzw. an das shinai. Dieses individual-philosophische Verständnis besteht noch in der Gegenwart fort und ist verbindendes Prinzip einer viele hunderttausend Menschen umfassenden Gemeinschaft innerhalb und außerhalb Japans.
3.
Waza, keiko und Form im Prozess der Aneignung
Um mit dem shinai erfolgreich kämpfen zu können, müssen die oben demonstrierten Schlagtechniken erlernt und beherrscht werden. Der japanische Begriff waza bezeichnet diesen Lernprozess der Technik. Das Training in der Fechtkunst wird als keiko bezeichnet. Zusammengesetzt aus den Zeichen für »Denken« – kei – und »Altertum« – ko – übersetzt Ando diesen Begriff sinnhaft als »respektvolle Betrachtung traditioneller Wege« (Andou 1995: 50). Demzufolge ist das Training im Kendo als Diskurs mit der Vergangenheit anzusehen. Keiko beinhaltet jedoch mehr als die Pflege von starren Traditionen, denn aus der Vergangenheit werden qualitative Maßstäbe für das Fechten der Gegenwart gewonnen. Traditionspflege und Handlungsmotorik stehen somit in einem sinn-
Innere Form und Habitus – Kendo, das japanische Fechten
haften Zusammenhang, der vorgibt, wie geschlagen wird. Das »Wie« verweist auf die waza, die in einem langen Übungsprozess, dem keiko, angeeignet wird. Mit dem keiko wird die Form erschaffen, in der die waza entsteht. Im Kendo führen keiko und waza zur Ausprägung eines personalen Stils und weit darüber hinaus, denn Denken, Handeln und Wertvorstellungen des Individuums werden umfassend geprägt. Die sinnhafte Verknüpfung von Gegenwart und Vergangenheit ist in der japanischen Bezeichnung für die Fechtkunst grundlegend verankert: Der Terminus Kendo setzt sich aus den Bildzeichen für »Schwert« – ken – und »Weg« – do – zusammen, so dass Kendo als »Weg des Schwertes« übersetzt wird. Diese Bezeichnung ist noch heute uneingeschränkt gültig. Und das, obwohl die tödlichen Stahlschwerter längst durch die weniger gefährlichen shinai ersetzt wurden. Das Aneignen der waza im Kendo ist ein radikal körperhaftes Lernen, das sich in tausendfachen Wiederholungen spezifischer Übungen manifestiert. Gebunden an die spezifische Form werden einfache Bewegungsabläufe mit dem shinai eingeübt und gefestigt, bis die waza ins Unbewusste abgesunken ist. Hat der Körper »begriffen«, geschieht die Anwendung der Technik unterhalb von Willen und Verstand. Der Körper reagiert lediglich, scheinbar einem neuronalen Reiz-ReaktionsSchema folgend. In der Diktion der Fechtkunst wird diese Zielstellung als ki-ken-taiichi bezeichnet, die »Einheit von Geist-Schwert-Körper« in der jeweils angewandten waza. Die Umsetzung des ki-ken-tai-ichi steht im Mittelpunkt des Lernprozesses aller Fechter. In diesem insgesamt sehr langwierigen Lernprozess grundlegender Fertigkeiten entstehen vielfältige Anknüpfungspunkte für ein individuelles Verständnis von »Kendo als lebenslange Übung«. Die wichtige Perspektive, Kendo auch als alter Mensch erfolgreich betreiben zu können, ergibt sich aus der Tatsache, dass großartige Fechter die physiologischen Leistungsdefizite im Kampf mit Jüngeren durch mentale Stärke ausgleichen können. Die Situationsbeschreibung am Anfang thematisierte diese höchste Qualität im Kendo. Die Wichtigkeit des Körpers für diesen Zusammenhang ist hervorzuheben, da über den Körper Denken, Fühlen und Handeln der Subjekte im Kendo geformt wird. In mehrjährigen, körperhaften Lernund Erfahrungsprozessen werden grundlegende motorische Fertigkeiten angeeignet, die allmählich im Sinne von Erfahrungen im Körper eingelagert, ›inkorporiert‹ werden und als Sache des Habitus in spezifischen Situationen zur Anwendung kommen. Die Übertragung des Konstrukts vom Habitus im Sinne Bourdieus auf die japanische Fechtkunst scheint hilfreich zu sein, da mit ihm das innere Handlungszentrum des Fechters umrissen werden kann. Abgelöst von rationalen Entscheidungen schlägt der Kämpfer »einfach« − im richtigen Augenblick und mit der »richtigen« Technik in nahezu jeder Handlungssituation. Gemäß dem Habitus-Konzept wird das Gelernte zum Erfahrungswissen, das vom erworbenen »Präferenzsystem« – ei-
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ne Umschreibung Bourdieus (1998: 41) – in besonderen Handlungssituationen als adäquate Reaktion des Körpers angepasst wird. Die »strukturierte Struktur« bei Bourdieu (1987) – oder »inkorporierte Geschichte« bei Krais/Gebauer (2008: 22) – wird vom Habitus als spontane Bezugnahme auf Aktuelles organisiert. Die Anwendung des Erfahrungswissens kann im Kendo anhand des Kampfes konkretisiert werden. Im freien Kampf wird die bruchteilhafte Gelegenheit durch den Fehler des Gegenübers sofort vom Körper erkannt und mit der sinnentsprechenden Technik beantwortet, ohne dass es den Protagonisten bewusst wird. Trotz dieser Unwillkürlichkeit bleiben die gesellschaftlichen Normen für den Kampf sakrosankt: Der erzielte Treffer ist ein Schlag zum Kopf, der als geschütztes Körperteil ein regelgerechtes Ziel darstellt, nicht aber ein Schlag zur ›verbotenen‹ Schulter. In der beschriebenen Situation der Fechtkunst überlagern sich individuelle und gesellschaftliche Aspekte, die den Handlungsrahmen des Fechters bestimmen. Der blitzartige Angriff verläuft immer im Rahmen der Regeln, die das handelnde Subjekt als gesellschaftliche Norm inkorporiert hat. Man schlägt nicht zur Schulter, obgleich keine ernsthaften Konsequenzen zu befürchten wären. Diese Selbstreglementierung des Kämpfers verläuft als nahezu automatische Reaktion in einer außergewöhnlichen Handlungssituation; sie entspringt keiner rationalen Entscheidung des Subjekts, sondern »geschieht einfach«. Allerdings darf diese Reaktion keinem verinnerlichten Handlungsautomatismus zur Einhaltung von Normen zugeschrieben werden. In der gleichen Ausgangssituation würde nämlich der erfahrene Fechter sehr wohl zur Schulter schlagen, wenn der Gegner zur Vermeidung des Treffers den Kopf zur Seite nimmt. Die Feigheit des Gegners würde die gültigen Normen und – damit einhergehend – die Selbstreglementierung des Fechters außer Kraft setzen: In diesem Fall darf zur Schulter geschlagen werden. Diese Modifikation in der bruchteilhaften Handlungssituation des Kampfes ist auf das generierende Prinzip des Habitus – die strukturierende Struktur – zurückführbar. Erfahrungswissen wird hiernach spezifischen Situationen angepasst. Das folgende Beispiel verdeutlicht den Prozess des Erfahrungsgewinns durch Waza und Form im lebenslangen Kendo. Kurz nach seinem 60. Geburtstag beschloss Tomio Yamanouchi (1913 – 2005) die Grundfertigkeit des Ausholens und Schlagens mit dem shinai neu zu erlernen. Dies war höchst ungewöhnlich, da Yamanouchi sein ganzes Leben lang Kendo übte und als Inhaber des 8. Dan bereits zur Elite der Fechtwelt gehörte. Yamanouchi folgte dem oben erläuterten Prinzip von waza, indem er eine Million Grundschläge – suburi – in zweieinhalb Jahren ausführte. Zur einfachen Einschätzung dieser individuellen Leistung: 200 bis 300 Grundschläge sind zu Beginn der täglichen Übungseinheiten junger Menschen üblich und anspruchsvoll; Yamanouchi – damals über 60-jährig – führte mehr als 1.000 Schläge pro Tag aus, und das fast zweieinhalb Jahre lang! Nach Abschluss dieser langen Prozedur reflektierte Yamanouchi sein Handeln:
Innere Form und Habitus – Kendo, das japanische Fechten
»Nach 300.000 Schlägen lernte ich, wie das Bambusschwert zu halten ist. Zwischen 700.000 und 800.000 Schlägen lernte ich, wie das Schwert richtig geschwungen wird. Als ich eine Million Schläge erreichte, hatte ich ein unglaubliches Gefühl in den Handflächen, wenn ich mit dem Schwert schlug und stieß« (Ozawa 2007: 14). Yamanouchi unterzog sich dieser asketischen Übung, weil er die Grundlagen seines Könnens als unzureichend erachtete. Doch nach Bewältigung dieser Selbstschulung wurde er – einem Initiationsprozess entsprechend – zu einer »neugeborenen« Fechterpersönlichkeit auf höherer Stufe. Am Ende hatte er ein individuelles Gefühl für das shinai und dessen Handhabung erworben. Die weiterentwickelte Persönlichkeit Yamanouchis war aus der extremen Auseinandersetzung mit waza entstanden, die er über die Formung seines Körpers zum Bestandteil des Inneren machte. Etwa 12 Jahre später in Tokyo konnte ich diesen großen Fechter in seinem Lebensalltag beobachten. Der 72-Jährige bewegte sich sehr langsam und erhaben, was zu einer beeindruckenden physischen Präsenz beitrug. Faktisch schien dies im Widerspruch zu seiner geringen Körpergröße von ca. 1,65 m zu stehen, offensichtlich jedoch trug jede Bewegung Yamanouchis das Bewusstsein überragender Stärke. Diese Beobachtung galt für Alltag und Fechtkunst gleichermaßen. Die schlichte Alltagsmotorik des Aus-dem-Auto-Steigens vollzog sich im gleichen Rhythmus wie der Fechtkunst-spezifische Schlag zum Kopf des Gegners im freien Kampf. Die Verbindung aus Selbstkontrolle und Stärke ging von Yamanouchi in einem Maße aus, wie ich es niemals wieder im Kendo beobachtet habe. Yamanouchi repräsentierte damals die höchste Qualität im Kendo. Betrachten wir nun die Kennzeichen großer Qualität in der Fechtkunst. Anhand der Fotos von zwei Fechtgrößen in Kendo-typischer Position möchte ich die lebenslangen Wirkungen von waza und keiko aufzeigen (siehe Abbildung 2). Großartige Fechtkunst ist erkennbar an der Gesamterscheinung der Person, die im Kendo als »Kampfhaltung« − kamae – bezeichnet wird. Beim kamae sind äußere Haltung und innere Haltung zu unterscheiden. Ein großes äußeres kamae beinhaltet eine gerade, aber natürliche Körperhaltung, die dem Beobachter innere Größe und Stärke des Gegenübers vermittelt. Das shinai wird mit lockerer Griffhaltung der Hände in der Mitte des Körpers gehalten und weist auf die Kehle des Gegners, wodurch die Kontrolle über das Zentrum gegeben ist. Die erhabene Form des äußeren kamae bleibt in Stand und Bewegung gleichermaßen erhalten und soll die Voraussetzungen schaffen, jederzeit angreifen zu können. Diese Bedingungen gelten ebenso für das innere kamae, das der Einstellung zum Kampf entspricht; sinnbildgemäß soll der Geist »angespannt« und »sprungbereit« sein. Im Idealfall sind innere und äußere Haltung sehr unterschiedlich, aber komplementär: Größe und Lockerheit außen bei gleichzeitiger maximaler Anspannung
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Abb. 2: T. Yamanouchi, 8. Dan; S. Tamari, 9. Dan
innen. Ein starkes kamae ist unüberwindbar und wird vom Gegenüber als »bedrohlich« und »überlegen« wahrgenommen. Das übergeordnete Ziel des Trainings im Kendo liegt nun darin, diese Haltung zu erlernen und niemals aufzugeben. Im lebenslangen Übungsprozess verbinden sich kamae und Persönlichkeit des Fechters zu einer Einheit. Die Persönlichkeit drückt sich im kamae aus, sie wird durch das kamae dargestellt. Gleichzeitig bestimmt das kamae die Persönlichkeit des Fechters. Das Erscheinungsbild entsprechender Fechtgrößen strahlt Würde und Erhabenheit aus, die der emphatische Beobachter als Aura wahrnehmen kann. Die Glaubwürdigkeit dieser Erscheinung ist direkt mit der Alltagspraxis der Fechtkunst verbunden, die im freien Kampf liegt. Im ernsten Zweikampf – wie eingangs beschrieben – wird diese »Glaubwürdigkeit« regelmäßig und eindeutig überprüft. Der Sieg über den Kontrahenten bestätigt die »Echtheit« der Persönlichkeit.
4.
Der Lehrer als ganzheitliches Modell
Ein japanisches Sprichwort besagt: Nur wer die Form beherrscht, kann den Inhalt verstehen!
Innere Form und Habitus – Kendo, das japanische Fechten
Im Kendo werden die Grundfertigkeiten in mimetischen Prozessen angeeignet. Günstigenfalls ist es heute der Lehrer – sensei –, der seinen Schüler in die waza einführt und dessen Lebensweg im Kendo über weite Strecken begleitet. Die symbiotische Verknüpfung von waza und sensei steht in der Gegenwart für den Idealtypus zur Weitergabe großartiger Fechtkunst. Anhand des sanma-no-kurai der YagyuSchule, eine der berühmtesten Fechtschulen Japans im 17. Jahrhundert, kann dieser enge Zusammenhang aufgezeigt werden (siehe Abbildung 3). Noch heute nimmt dieses philosophische Verständnis Einfluss auf den Trainingsprozess.
Abb. 3: Sanma-no-kurai
Nach Ozawa bezeichnen die drei Punkte in dem Kreis den Übungsverlauf. ›A‹ steht für das Lernen der korrekten Techniken, ›B‹ für deren Überprüfung und ›C‹ für das Üben und Wiederholen der waza (vgl. Ozawa, 2007: 13a). Der Lehrer erklärt kurz die grundlegenden Techniken und der Schüler übt diese solange, bis sie unbewusst ablaufen. Eingriffe von außen erfolgen nur, wenn die Bewegungen ungünstig oder fehlerhaft sind. Ziel dieser Methode ist es, dem Lernenden ausreichend Zeit zu geben, die er auf dieser Lernstufe benötigt. Vom eigenen Willen angetrieben übt der Schüler immer weiter, bis er große Fortschritte erzielt; wodurch der oben dargestellte Kreis sinngemäß eher einem spiralförmigen Verlauf entspricht. Diese besondere, im Buddhismus begründete Lehrer-Schüler-Beziehung für das praktische Tun findet sich nicht nur im japanischen Modell, sondern in seiner Grundstruktur auch im westlichen Kulturkreis. So verweist bereits Aristoteles‹ »Nikomachische Ethik« im Zusammenhang des Tugend-Begriffs auf die Wichtigkeit der Handlungen und des Lehrers beim Lernen: Durch Zitherspielen wird man z.B. ein guter Zitherspieler und auch ein schlechter Zitherspieler, und Entsprechendes gilt vom Baumeister und jedem anderen Handwerker oder Künstler. Wer nämlich gut baut, wird dadurch ein guter Baumeister,
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und wer schlecht baut, ein schlechter. Wäre dem nicht so, so bedürfte es keines Lehrers, sondern jeder käme als Meister oder Stümper auf die Welt. Gerade so ist es nun auch mit den Tugenden« (Aristoteles 2009: 36). Im Kendo sind es ebenso die Handlungen, die die Qualität des Lehrers hervorbringen. Im freien Kampf als Überlegener unterweist er den Schüler nonverbal in der Anwendung der richtigen waza und gleichzeitig in der richtigen Haltung, die er als Gesamtpersönlichkeit vorlebt. Das Lehrmedium des Lehrers ist dabei der Körper, der das shinai führt. Entwickelt sich das Lehrer-Schüler-Verhältnis zu einer engen Vertrauensbeziehung zwischen den Subjekten, so erlangt diese Zweier-Beziehung besondere Bedeutung für die Fechtwelt insgesamt, da sie das Soziale mit der Tradition verbindet. Sie entspricht dann einem intergenerativen Prinzip zur Weitergabe großartiger Fechtkunst.
5.
Abschließende Überlegungen
Die japanische Fechtkunst entspricht einer Körperpraktik, in der die Einheit von Handeln und Erfahrungsgewinn durch einen niemals endenden Übungsprozess mit dem shinai entsteht. Im Kendo entwickelt sich Qualität ausschließlich durch Körperübungen und Gewinn von Reife. In der Person des sensei entsteht das Modell, dem es zu folgen gilt. Die Technik wird als waza erlebt und inkorporiert. Das umfassende Verständnis von Keiko bindet diesen Prozess an alte Auffassungen und Erfahrungen, die als traditionelle Form den individuellen Übungsprozess umschließen. Beziehe ich mich abschließend auf die Überschrift dieser Tagung »KörperWissen-Form«, so bedürfte diese aus der Sicht der Fechtkunst einer wichtigen Korrektur. Im Kendo entsteht die Sachlogik durch Neuordnung der hier verwendeten Begriffe zu »Körper-Form-Wissen-Körper«. Am Beispiel Yamanouchis hoffe ich aufgezeigt zu haben, dass dieser niemals endende Entwicklungsprozess zur erfüllten Könnerschaft führt; und höchstwahrscheinlich zur Lebensfreude.
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Innere Form und Habitus – Kendo, das japanische Fechten
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Abbildungen/Quellen Abb. 1: Freikampf als Prüfstein: Archiv JP Abb. 2: T. Yamanouchi, 8. Dan, S. Tamari, 9. Dan: Archiv JP Abb. 3: Sanma-no-kurai: Eigene Darstellung
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Spielen und Fragen – ein Labyrinth Henning Eichberg
Einleitung Die Frage, was das Spiel sei, hat häufig zu Definitionsversuchen geführt. Der Vielfalt und Widersprüchlichkeit dieser Definitionen kann man – wie Ludwig Wittgenstein – mit der philosophischen Warnung gegenübertreten: Frage bloß nicht danach, was das Spiel sei! (Gebauer 2001, 204). Und dennoch fragen wir immer wieder. Denn wir wollen das Spiel verstehen. Dabei stoßen wir jedoch auf einen wesentlichen Unterschied zwischen Definition und Verstehen. Mit der Definition zieht man Grenzen um ein Phänomen herum, während man mit dem Verstehen Einsicht in ein Phänomen und seine Zusammenhänge gewinnt. Wer verstehen will, muss keine Definition anzielen – und wer etwas definiert hat, hat es noch lange nicht verstanden. Die folgenden Überlegungen sollen zunächst kritisch bei der Definitionsfrage ansetzen und sich dann einem konkreten Phänomen zuwenden, dem Labyrinth als einer Figur spielerischer und verunsicherter Bewegung. Zur Deutung des Spiels erweist sich der chinesische Philosoph Lin Yutang als hilfreich, der auf die »spielerische Neugier« des Affen hinwies und auf den Affenkönig Sun Wukong. Auch Friedrich Nietzsche zeigte an Zarathustra das spielerische Streben als existentiell. Beide sagten zugleich etwas aus über das Fragen und Infragestellen und damit auch über das Verfahren der Philosophie als eine Weise des Fragens. Damit erhebt sich das Problem, wie Frage und Spiel zusammenhängen mögen. Ist Spiel etwa eine Art, Fragen an die Welt zu richten? Ist das Stellen einer Frage selbst eine Weise des Spielens? Und wie verhält sich das Spiel damit zur Denkbewegung der Philosophie?
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Henning Eichberg
1.
Das Spiel definieren?
1.1
Grenzen der Definitionen
Unter den zahlreichen Definitionsversuchen des Spiels haben einige mittlerweile einen klassischen Rang erhalten. Spiel sei eine Aktivität in freier Selbstbestimmung und ohne ökonomischen Nutzen, schrieb Johan Huizinga (1938). Damit wurde der Homo Ludens idealisiert und zuleich jener Agon des griechischen Altertums, den Huizinga als Spiel verstand – oder nach Lämmer (1996) missverstand. Wie passen zur These vom freien und selbstbestimmten Spiel jene Kriegsspiele, Manöver und Sandkastenspiele, die in der Militärausbildung üblich und obligatorisch sind? Nicht zuletzt ist auch fraglich, welcher Begriff von Freiwilligkeit dem zugrundeliegt, wenn Kinder einander herausfordern: Komm, wir spielen! – Wie sollte man sich dem entziehen können? Spiel sei Metakommunikation, meinte demgegenüber Gregory Bateson (1972) und bemühte sich damit um ein formales Verständnis. Der Satz »This is play« ziehe eine Linie zwischen dem Spiel und dem Nicht-Spiel. Die These von der Metakommunikation stößt allerdings ebenfalls an ihre Grenzen, wo das (Sandkasten-)Spiel ein Teil jenes militärischen Trainings ist, das sich als ernsthafte Arbeit versteht und keineswegs als Spiel vom »wirklichen Leben« abgrenzt. Auch in der kommerziellen Reklame erscheint das Spiel, und zwar als Kaufanreiz und durchaus unabgegrenzt von ökonomischen Gewinnstrategien. Während die genannten Bestimmungsversuche philosophische Anerkennung gefunden haben, bewegen sich verschiedene andere Definitionen eher im Bereich des common sense – und mögen insofern von Fall zu Fall weit wirksamer sein als die philosophischen Versuche. Dazu gehören insbesondere die pädagogische und die sportive Variante. Spiel sei eine Art des Lernens und bringe letztlich Entwicklungsgewinn für das Leben. Das ist eine verbreitete Sicht, die insbesondere von Pädagogen und Entwicklungspsychologen geteilt wird. Aber auch die Spielzeugindustrie kann daran mit (kommerziellem) Gewinn anknüpfen und beruft sich auf den Lern- und Entwicklungsgewinn des Spielens.1 Allerdings trägt die Lernthese mit ihrer Koppelung von Spiel, Kind, Entwicklung und Zukunftsorientierung nicht zu einem Verständnis dessen bei, warum gerade auch alte Menschen spielen. Spiel sei verbunden mit einem allgemeinmenschlichen Streben nach Perfektion, heißt es auch vielfach. Man sieht das Spiel als Ausgeburt eines naturhaft-biologi-
1
So schrieb die dänische Spielzeugfirma LEGO auf ihrer Website: »We believe in a simple yet critical message: Play unlocks learning and development benefits that last a lifetime.« – htt p://www.legofoundation.com/en-us/who-we-are/our-bold-journey/ (Zugang 28.1.14)
Spielen und Fragen – ein Labyrinth
schen Bedürfnisses, das im Sport gipfele. Spiel und Sport seien, so der amerikanische Sportwissenschaftler Scott Kretschmar (2014), aus biologischer Sicht zu verstehen als »eine Art Vehikel zur Selbstregulierung des menschlichen Organismus […] Der Mensch hat einen Hang dazu, der Beste zu sein.« Allerdings, so Kretschmar, gehe es »im Sport und im Spiel in erster Linie nicht ums Gewinnen, sondern darum, seine eigene Leistungsfähigkeit zur Schau zu stellen und zu erproben. Das ist der eigentliche Sinn von Sport« (Kretschmar 2014, S. 20) Die Perfektionsthese übergeht allerdings alle jene karnevalistischen Züge im Spiel, die gerade die Unzulänglichkeit des Körpers herausstellen. Im Sackhüpfen zum Beispiel werden gerade das Stolpern, Purzeln und Straucheln und damit groteske Aspekte der Körperlichkeit inszeniert: Der menschliche Körper ist existentiell unperfekt (Eichberg 2010). Auch das Würfelspiel ist nicht gerade dazu geeignet, die Perfektionsthese zu belegen.
1.2
Kritik der Definitionen – und die differentielle Phänomenologie des Spiels
Einen anderen Weg als die philosophischen Definitionsversuche schlug hingegen Roger Caillois (1958) vor. Spiel sei nämlich etwas ganz Unterschiedliches: zum einen Glücksspiel – zum anderen Agon, Kampf und Wettkampf – außerdem Maske und Verkleidung – und nicht zuletzt Rausch und Grenzüberschreitung. Damit bewegte Caillois sich, trotz seines Ausgangspunktes bei Huizinga, weg von der Definition als einer Abgrenzung »des« Spiels hin zu einer differentiellen Phänomenologie. Caillois’ differentielle Betrachtung wurde besonders theoriehaltig durch seine Unterscheidung von paidia und ludus. Als paidia bezeichnete er das spontane, spielerische und unstrukturierte Spiel, wie man es insbesondere bei Kindern findet. Ludus hingegen sei das strukturierte, formalisierte und regelhafte Spiel, wie es zum Beispiel in den römischen ludi et circenses und im modernen Sport erscheint. Mit dieser Differenzierung kam Caillois zugleich denjenigen Unterschieden entgegen, die das Spiel in verschiedenen Sprachen erfährt. Während Caillois in seiner eigenen Sprache, dem Französischen, nur ein einziger Begriff zur Verfügung stand, le jeu – ähnlich wie im Deutschen »das Spiel« – kennt das Englische den Unterschied zwischen play und game. Play entspricht weitgehend Caillois’ paidia, während game dem ludus entspricht. Tiere zum Beispiel spielen play und keine games. (Animal games wie Hahnenkampf und Pferderennen sind von Menschen inszeniert und gehen nicht vom Tierspiel aus.) Und andererseits heißen die Olympischen Spiele stets Olympic Games und nicht etwa Olympic Play. Sieht man sich allerdings unter den Sprachen weiter um, so treten mehr als nur diese dualen Verhältnisse hervor. Das zeigt sich im dänischen Gegenüber von leg und spil sowie im schwedischen lek und spel. Die beiden Begriffspaare ähneln zwar einerseits dem Dualismus des englischen play und game, andererseits aber weichen
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sie auch davon, z.T auch untereinander ab. So heißen die Olympischen Spiele auf Schwedisch zwar Olympiska Spel, wie es den englischen games entspricht, auf Dänisch jedoch Olympiske Lege, also eher play (Eichberg 2012). Aus den sprachlichen Differenzierungen tritt bei näherer Betrachtung eine (zumindest) trialektische Figur hervor, in der sich das spontane Spiel (play, leg, paidia) einerseits, das Regelspiel (game, spil, ludus) andererseits und das Schauspiel (scene play oder display, aber dänisch nicht leg, sondern skuespil) zum dritten gegenüberstehen. Einen weiteren Einblick in solche Differenzierungen ermöglicht der baskische Dualismus von jolas und joko (Abrisketa 2012). Er entspricht ebenfalls der Zweiheit von play und game, leg und spil, lek und spel, paidia und ludus. Im Baskischen ist jolas das nichtkompetitive, informelle Spiel, Spiel »als ob«, unter Einschluss von Scherz und Maskerade. Joko hingegen ist Wettkampf und kann auch auf ernsthafte Aktivitäten angewandt werden wie Glücksspiel und sogar Arbeit. Am baskischen Nationalsport Pelota kann man nun ein Miteinander dieser zwei Spieldimensionen beobachten: Es geht darum, das Spiel in Gang zu halten – und es zu gewinnen. Als Sport und zudem als Wettsport ist Pelota eindeutig joko, also game. Aber als Kinderspiel ebenso wie als fließende Konfiguration von Energien zwischen (professionellen) Spielern, Ball und Mauer ist Pelota jolas, also play. Joko ist dadurch charakterisiert, dass es die soziale Ganzheit aufteilt in Oppositionspaare – als Pelota-Wettkampf, Kampf, agonistisches Entweder-Oder. Im Kontrast dazu löst sich im jolas der Spieler auf in den anderen und trägt damit zu einer Ganzheit bei, die begeistert und nicht zuletzt auch das Publikum einschließt. Indem sich die Trennung zwischen »mir« und »dem anderen« verflüchtigt, bringt Pelota als Ritual Gefühle der Gemeinschaft, der Kommunion und emotionale kollektive Leidenschaft hervor. Im jolas erscheint das »Heilige« des Fests, fiesta. Die Ekstase solcher Kommunion im Spiel kann man mit den Worten Emile Durkheims kennzeichnen: Man »fühlt sich besessen und von einer äußeren Kraft beherrscht«. Man ist nicht mehr nur »man selbst«, sondern zugleich ein anderer. Der Spielbegriff enthält also beides, Spaltung (im joko) und Vereinigung (im jolas) – und obendrein ein Oszillieren zwischen beiden. Solche Analyse dürfte auch für das Fußballspiel aufschlussreich sein. Von Differenzierungen dieser Art her ergibt sich eine grundlegende Kritik des Unternehmens, das Spiel als solches zu definieren. Dabei kann man mit Gewinn auf die selbstkritische Zusammenfassung zurückgreifen, mit der der amerikanisch-neuseeländische Spielforscher Brian Sutton-Smith (1997) nach seinen langjährigen Studien in diesem Feld der Spielforschung eine neue Wende gab. Er fasste die zahlreichen Spieldefinitionen und -ideologien in sieben »Rhetoriken« des Spiels zusammen, die teils vormoderne Wurzeln haben, teils aber spezifisch modern sind – und die alle problematisch sind:
Spielen und Fragen – ein Labyrinth
1. Spiel erschien im vormodernen Verständnis als viererlei: •
• •
•
Spiel mit dem Schicksal. Insbesondere im Glücksspiel, aber nicht nur dort, geht es um die Bewältigung von Chaos, um die Herausforderung des Zufalls. Auch der auf dem Rasen rollende Ball ist nie ganz unter Kontrolle. Spiel der Macht. Hier sind Konflikt, Kampf (Agon), Rivalität und Wettkampf charakteristisch. Gegebenenfalls ist auch Aggression im Spiel. Spielerische Bekräftigung von Identität. Spiel trägt bei zur sozialen Zugehörigkeit, zu Tradition, Gemeinschaft und Gruppenintegration. Hier liegen Spiel und Fest dicht beieinander. Spiel als Leichtfertigkeit. Spiel ist nutzlos und unterscheidet sich damit von der Arbeit. Das Spielen kam daher in der Frühen Neuzeit als »Spielteufel« in Verruf (Schildo 1562) – und dieser Vorwurf wurde in der Industriekultur wiederbelebt und produktivistisch neu akzentuiert.
2. Mit der westlichen und industriekulturellen Moderne entfalteten sich drei neuartige Spiel-Rhetoriken und wurden weitgehend beherrschend: •
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Spiel als Beförderung des Fortschritts. Insbesondere das Kinderspiel diene der Entwicklung, der biologischen und psychologischen Evolution des Einzelnen. Die pädagogische Lernthese und die sportive Perfektionsthese, beide oben bereits erwähnt, waren Ausdruck der modernen Fortschrittsrhetorik. Spiel als Entfaltung des Selbst. Die individuelle Persönlichkeit suche im Spiel subjektives Erleben und Vergnügen. Der Freiheitsbegriff des »freiwilligen« Spiels ist eng mit diesem Selbst verbunden. Der Mensch als Selbst ist im Spiel von sich selbst motiviert – und in der Extase tritt er über sich hinaus. Spiel mit dem Imaginären. Insbesondere mit der Romantik erschien das Spiel als eine Angelegenheit der Phantasie, der Vorstellungskraft, der Kunst und Kreativität. Traum und Poesie waren Welten des Spiels. Das Spiel wurde damit der Ästhetik zugeschrieben – und der Irrationalität.
Sutton-Smith veranstaltete mit seiner differentiellen Beschreibung und damit Relativierung und Kritik der Spielrhetoriken einen Kahlschlag unter allen existierenden Spieltheorien. Keine von ihnen kann man fürderhin naiv als gegeben nehmen. Aber was geschieht nach dem Kahlschlag? Die Kritik ist in ihrer Radikalität in der Tat schwer auszuhalten, und darum schloss Sutton-Smith daran eine eigene Idee des Spiels an: Im Spiel komme die Variabilität des Menschen zum Ausdruck, ein menschlicher »neonataler unrealistischer Optimismus«. Allerdings konnte er sich dazu eine selbstkritische Überlegung nicht versagen: ob es sich nämlich bei dieser Deutung nicht doch erneut um eine Art von evolutionistischem Biologismus handele.
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2.
Das Labyrinth – ein Fall spielerischer Bewegung
Folgt man hingegen konsequent der kritischen und differentiell-phänomenologischen Linie gegenüber »dem Spiel«, wo führt das hin? – Wenn wir vermeiden wollen, damit in rein abstrakte Gedankengefilde zu geraten, ist der Blick auf eine konkrete Spielfigur angebracht. Wir wählen hier das Labyrinth, das auch seinerseits zu verwunderten Fragen Anlass gegeben hat. Aus dem alten Norden sind labyrinthische Steinsetzungen bekannt, die in die frühe Eisenzeit, möglicherweise in die Bronzezeit zurückweisen (Kern 1982; auch Seifried 2002, Thordrup 2002, Eichberg 2009). Sie bezeichnen eine spiralförmige Grundform, bei denen ein krummer Weg von einem Eingang her in meist sieben oder elf Umgängen, nach rechts und links alternierend, auf ein Zentrum zuführt, und zwar ohne Scheidewege. Im Zentrum muss man sich umwenden, um denselben Weg zurückzugehen.
Labyrinthische Steinsetzung in Visby, Gotland/Schweden
Im Mittelmeerbereich reicht das Labyrinth zeitlich weiter zurück und erscheint auf Felszeichnungen bereits seit der Steinzeit. Am berühmtesten wurde es in Kreta, wo der Mythos das Labyrinth einerseits als das Gefängnis des Ungeheuers Minotauros beschrieb und andererseits als den Tanzboden der Ariadne. Labyrinthe der gleichen Form wie auf den minoischen Münzen finden sich als Steinsetzungen auch in Indien und als magische Figuren in Sumatra. In Amerika ist die Figur bei Hopi- und Pima-Indianern im Südwesten der USA ebenfalls bekannt. Das Labyrinth findet sich jedoch keineswegs in allen Kulturen – auch dies ist ein Zeichen dafür, dass es sich nicht um eine »natürliche« Form handelt, sondern um eine kulturelle Figur. Historisch gesehen tauchte das Labyrinth in unregelmässigen Abständen auf. In der Renaissance wurden Gartenlabyrinthe zur Mode und dienten dem Spazieren und Lustwandeln; hier vermischte sich die Vorstellung vom Labyrinth mit derjenigen des Irrgartens, so dass beide heute oft irrtümlich gleichgesetzt werden.
Spielen und Fragen – ein Labyrinth
Wiederentdeckt wurde das Labyrinth dann von den Romantikern der frühen Turnbewegung und wurde zur Lauffigur in deutschen und russischen Turnanlagen von 1810 bis 1850 (Massmann 1844). Danach verschwand es wieder aus der Welt von Turnen, Gymnastik und Sport. In Dänemark wurden seit den 1960/70er Jahren erneut Labyrinthe gebaut, und man tanzte in ihnen. Beim Labyrinth handelte es sich also nicht nur, wie oft angenommen, um eine symbolische Figur (so Attali 1996), sondern um einen Raum von und für Bewegungen (Eichberg 2009). Welcher Art die Bewegungen im Labyrinth waren, dazu ergibt sich aus den vielfältigen und zum Teil widersprüchlichen historischen Quellen jedoch kein einheitliches Bild: •
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Häufig ist dort die Rede von Laufübungen und Laufspielen. Darauf wies schon der älteste belegte Name des Labyrinths, das etruskische »truia«; verwandt mit dem lateinischen »amptruare«, bezeichnete es eine Art von Sprunglauf. »Truia« gab den deutschen und nordischen Labyrinthen ihren Namen, den »Trojaburgen«, auf Dänisch Trøjborg; aufgrund dieses Namens wurde das Labyrinth mit der antiken Stadt Troja verbunden (oder verwechselt). Auch im 17. Jahrhundert veranstaltete man in deutschen Labyrinthen vereinzelt Wettläufe. Und nach 1810 erschien das Labyrinth als eine Form des Laufs in der Jahn’schen Turnbewegung, und die Jahn-Schüler Eiselen (1829) und Massmann (1844) verfassten die ersten eigentlichen Labyrinthbücher. Als eine rituelle Sonderform wurde im Pommern des 18. Jahrhunderts ein Narrenlauf im Labyrinth beschrieben. Auch das Hinkespiel »Himmel und Hölle« und die Hinkesschnecke hat man auf das Labyrinth zurückgeführt. Daneben finden sich verschiedene Belege für das Reiten im Labyrinth. In der Kaiserzeit des antiken Rom ritt man labyrinthische Formationen des Troiae lusus (Pfister 1977). In altnordischen Sagen findet man die Geschichte vom König Adils, der in einen labyrinthischen »Disensaal« ritt, mit seinem Pferd strauchelte und sein Leben verlor. – In französischen Kathedralen nutzte man Fußbodenlabyrinthe außer zu Prozessionen auch zum Ballspiel – auf welche Weise, das ist unklar. Und das antike kretische Labyrinth war verbunden mit Ringen oder anderem Zweikampf, Theseus gegen den Minotauros. Eine Hauptaktivität im Labyrinth war jedoch der Tanz. Vom Labyrinth als Ariadnes Tanzboden sprach bereits der altkretische Mythos. Im FinnlandSchwedischen hieß das Labyrinth »Jomfrudans«, Jungfrauentanz. Kettentänze wie den baskischen Schneckentanz hat man ebenfalls mit dem Labyrinth in Zusammenhang gebracht, und auch die Tanzketten des bretonischen Fest noz winden sich in labyrinthischen Formen. Oft war das Labyrinth ein Ort für Flirtspiele mit erotischen Bezügen.
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Auf die Frage, wie und warum man sich im Labyrinth bewegte, gibt es keine umfassende Antwort. Aber im sprachlichen Überbau der körperlichen Aktivitäten findet sich vielleicht ein Hinweis – in der linguistischen Ablautreihe des Wunderns. Im Labyrinth kann man wandern, wandeln – und sich wandeln. Wandelburg war der Name des Labyrinths im pommerschen Stolp im 18.Jahrhundert. Im Zentrum des Labyrinths muss man sich umwenden. In den labyrinthischen Gängen muss man sich winden – aus Stolp sind auch die Bezeichnungen Windelburg und Windelbahn belegt. Und all das gibt Anlass dazu sich zu wundern. Wunderkreis und Wunderlauf nannten die Berliner Turner ihre Labyrinthanlagen in den Jahren 1818-1844. Das Wundern in seinem Zusammenhang mit dem Wandern, Wenden und sich Winden mag für das philosophische Verständnis des Spiels aufschlussreich sein. Wundern ist eine Art des Fragens – und das Labyrinth erscheint konfigural verwandt mit dem Fragezeichen.
3.
Spielerische Neugier bei Lin Yutang
Damit wenden wir uns zurück zur Philosophie des Spiels. 1937 veröffentlichte der chinesische Philosoph Lin Yutang sein Buch The Importance of Living, das als sein Hauptwerk gilt. Hier versuchte er sich an einer chinesischen Phänomenologie des Lebens. Ausgebildet in Harvard und Leipzig und lange Zeit wohnhaft in Amerika, war er mit westlichen Philosophien vertraut. Seine Hauptaufgabe sah er in der Vermittlung der klassischen chinesischen Literatur und Philosophie nach Westen. Lin Yutangs Philosophie nahm ihren Ausgangspunkt bei der menschlichen Körperlichkeit als einer Basis menschlichen Lebens, sozusagen bei einem »körperlichen Materialismus«. Gern bediente er sich dabei traditioneller Tierbilder. Die Kuh etwa sei zufrieden, der Affe hingegen könne traurig und unzufrieden sein. In dieser poetischen Biologie spielte der Affenkönig Sun Wukong eine wichtige Rolle – der Affe bahnte den Weg zum Menschen. Und der Mensch setzte den Weg fort von der Langeweile zum Traum. Dabei nun spielt die spielerische Neugier eine wichtige Rolle. Auf die Frage, wie der Aufstieg des Menschen in die Zivilisation möglich wurde, verweist Lin Yutang auf die zunehmenden Handfertigkeiten des Menschen, die wir rückblickend noch bei den Affen in ihren »müßigen Augenblicken«, wo sie mit ihren Händen »herumfummeln«, erkennen können. Spielerische Neugier strebt nach etwas – und das ist mehr als nur Essen. Bei diesem Streben spielt die Hand eine besondere Rolle mit ihrem spielerischen Fummeln. Mit der Hand suchen wir nach etwas, und das beginnt bereits mit den Läusen, nach denen der Affe sucht. Er sucht sie nicht nur, um sie zu essen, sondern aus Neugier und als soziales Spiel. Das vom Lausen herkommende Spiel finden wir in der Wissenschaft, im Sex und im Plaudern. Lin Yutang entwarf in diesem Zusammenhang ein eindrucksvolles Bild von
Spielen und Fragen – ein Labyrinth
jenem Spieler und Fummler, der ein Mensch wurde. Es ist der unberechenbare Strolch (scamp), der Eigensinnige, der Tramp und Vagabund – »Mary, Mary, quite contrary«. (Auf dänisch nennt man ihn Rasmus modsat, d.h. Rasmus, der immer das Gegenteil sagt.) Dieser Strolch bildet einen markanten Kontrast gegenüber der Figur des disziplinierten und gehorsamen Soldaten, wie sie zu jener Zeit das Ideal des bürgerlichen Normalindividuums darstellte. Lin Yutang schrieb im Zeitalter des Faschismus. Insofern kann man seine Lebensphilosophie als eine antifaschistische Phänomenologie lesen. Von der Spielphilosophie her gesehen ergibt sich also die Zwischenfrage, ob die spielerische Neugier etwa ein drittes Verständnis neben der Freiheit (Huizinga) und der Metakommunikation (Bateson) darstelle. Und zudem mag sich eine bildhafte Verbindung aufdrängen von jenem neugierigen Lausen, Fummeln und Suchen her, hin zum Suchen in den krummen Wegen des Labyrinths und zu der spielerischen Neugier, mit der der Parcours-Läufer die urbane Umwelt erkundet (Larsen 2013).
4.
Nach etwas streben – Nietzsche als Spieler
Der chinesischen Philosophie spielerischer Neugier lässt sich jenes Bild zur Seite stellen, das Friedrich Nietzsche (1883/1980) in »Also sprach Zarathustra« auf der Suche nach Bedingungen entwarf, durch die der Mensch sich vielleicht von seinen tradierten Fesseln befreien kann – durch Formen des Spiels, des vogelgleichen Fliegens und Tanzens. So beschwor er z.B. das rollende Rad und den Ball: • •
»Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen« (1980, S. 294). »Wahrlich, ein Ziel hatte Zarathustra, er warf seinen Ball: nun seid ihr Freunde meines Zieles Erbe, euch werfe ich den goldenen Ball zu« (1980, S. 336).
Außerdem finden wir den Würfel und das klingende Spiel: • • •
Über den Willen zur Macht: »Das ist die Hingebung des Größten, dass es Wagnis ist, und Gefahr und um den Tod ein Würfelspielen« (1980, S. 371). »Der Mensch aber ist das mutigste Tier: damit überwand er jedes Tier. Mit klingendem Spiele überwand er noch jeden Schmerz« (1980, S. 407). Ein Vorspiel bin ich besserer Spieler, o meine Brüder! Ein Beispiel! Tut nach meinem Beispiel« (1980, S 455).
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•
»Oh Himmel über mir, du Reiner! Hoher! […] – dass du mir ein Tanzboden bist für göttliche Zufälle, dass du mir ein Göttertisch bist für göttliche Würfel und Würfelspieler!« (1980, S. 416).
Vor allem aber ist da der Tanz, Sprung und das Fliegen: • •
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»Und verloren sei uns der Tag, wo nicht einmal getanzt wurde! Und falsch heiße uns jede Wahrheit, bei der es nicht ein Gelächter gab!« (1980, S. 457). »Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher! Und vergesst mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch: ihr steht auch auf dem Kopf!« (1980, S. 530). »Sie haben schwere Füße und schwüle Herzen – sie wissen nicht zu tanzen. Wie möchte solchen wohl die Erde leicht sein …. wer aber seinem Ziele nahekommt, der tanzt« (1980, S. 529) »Nach meinem Fuße, dem tanzwütigen, warfst du einen Blick, einen lachenden fragenden schmelzenden Schaukel-Blick … da schaukelte schon mein Fuß vor Tanz-Wut … .trägt doch der Tänzer sein Ohr – in seinen Zehen!« (1980, S. 470). »Das ist meine Lehre: Wer einst fliegen lernen will, der muß erst stehn und laufen und klettern und tanzen lernen – man erfliegt das Fliegen nicht!« (1980, S. 442) »Wer die Menschen einst fliegen lehrt, der hat alle Grenzsteine verrückt; alle Grenzsteine selber werden ihm in die Luft fliegen, die Erde wird er neu taufen – als ›die Leichte‹« (1980, S. 336) »Ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen vestünde« (1980, S. 307).
Gleichzeitig fragt Zarathustra, ob diese Aktivitäten ausreichen, um den neuen Übermenschen zu schaffen. Denn es geht nicht darum, dass man spielt, tanzt oder fliegt, sondern wie man dies tut: •
•
•
»Ach! Ach! Flogt ihr schon hoch genug? Ihr tanztet: aber ein Bein ist doch kein Flügel. Ihr guten Tänzer, nun ist alle Lust vorbei: Wein ward Hefe, jeder Becher ward mürbe« (1980, S. 554) »Ihr höheren Menschen, euer Schlimmstes ist: ihr lerntet alle nicht tanzen, wie man tanzen muß – über euch hinweg tanzen! Was liegt daran, daß ihr mißrietet […]. So lernt doch über euch hinweg lachen! Erhebt eure Herzen, ihr guten Tänzer hoch! höher! Und vergeßt mir auch das gute Lachen nicht« (1980, S. 531) »Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher, kein Ungeduldiger, kein Unbedingter, einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt; ich selber setze mir diese Krone auf« (1980, S. 530).
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Aber da war auch noch ein anderes im Spiel, das besonders der Faschismus, bei seinem Bemühen, philosophische Bedingungen des Übermenschen in wörtlichem Sinne in reale Programmatik umzusetzen, gern in Anspruch nahm, wie der Verweis auf den Willen zur Macht, den Vorrang leiblicher Vernunft, die Bedeutung des Krieges als Weg zur Auferstehung etc.: • • • •
• • •
Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll, was habt ihr getan, ihn zu überwinden?« (1980, S. 279) Ja, ein Unverwundbares, Unbegrabbares ist an mir, ein Felsensprengendes: das heißt mein Wille« (1980, S. 369). »Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ich’s dich – Wille zur Macht!« (1980, S. 72) »Der Wissende sagt Leib bin ich ganz und gar, und nicht außerdem; und die Seele ist nur ein Wort für etwas am Leibe. Der Leib ist eine große Vernunft, eine Vielheit mit einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Herde und ein Hirt« (1980, S. 300) »Meine Brüder im Kriege! Ich liebe euch von Grund aus, ich bin und war euresgleichen. Und ich bin euer bester Feind« (1980, S. 311). »Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt« (1980, S. 312). »Ja, noch bist du mir aller Gräber Zertrümmerer: Heil dir, mein Wille! Und nur wo Gräber sind, gibt es Auferstehungen« (1980, S. 369).
Die faschistische Deutung setzte jedoch voraus, dass Nietzsche damit tatsächlich eine Botschaft verband – aber war das der Fall? Nietzsche ist ein Spieler der Widersprüche, die zwar Anlässe für ideologische Vereinnahmung bieten, aber in ihrer Doppeldeutigkeit und Metaphorik gerade keine Handlungsanweisungen darstellen: • •
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»Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll« 1980, S. 279). »Niemals noch gab es einen Übermenschen. Nackt sah ich beide, den großen und den kleinen Menschen: – Allzuähnlich sind sie noch einander. Wahrlich, auch den größten fand ich – allzumenschlich!« (1980, S. 351). Ich liebe den, welcher sich schämt, wenn der Würfel zu seinem Glücke fällt und der dann fragt: bin ich denn ein falscher Spieler?« (1980, S. 282). also, ihr höheren Menschen, sah ich oft euch beiseite schleichen. Ein Wurf mißriet euch. Aber, ihr Würfelspieler, was liegt daran! Ihr lerntet nicht spielen und spotten, wie man spielen und spotten muß! Sitzen wir nicht immer an einem größeren Spott- und Spieltische?« (1980, S. 528).
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Um im Bilde zu bleiben: da gab es einerseits den Lobpreis des »hohen Spiels«. Aber andererseits auch ein Gegenbild. Die »höheren Menschen« erscheinen dem Zarathustra eher als groteske Wesen, als Karikaturen und Verstümmelungen des Menschlichen. Die Bilder sprechen eine Sprache des Widerspruchs: Widerspruch zwischen der Aufwärtsbewegung hin zum Übermenschen – und dem Krampf des Höherstrebens. Widerspruch zwischen dem Pfeil der Zeit – und der ewigen Wiederkehr, dem Kreis. Widerspruch zwischen dem geraden Willen – und der Rechtwinkligkeit des Strebens und der krummen Linie des Spiels. Widerspruch zwischen dem Übermenschen dort oben – und der Treue zur Erde hier unten. Nietzsche philosophierte mit seinem dunklen Spiel gewissermaßen als Punker. Die Widersprüchlichkeit prägte nicht nur den Inhalt seiner Philosophie, sondern auch die Form seines Redens. Das Fragen und Versuchen ist ein Widerspruch zum apodiktischen Stil, mit dem Zarathustra spricht. Das Ausrufezeichen dominiert über das Fragezeichen. Postulate reihten sich an Postulate – eben jene, die der Faschismus naiv für das Ganze und Wahre nahm und als seine eigene Sprache adoptierte – nicht aber ein tastendes Fragen.
5.
Vom Spiel zur Frage
Apropos Frage: In Charles M. Schulz’ Comicserie Peanuts fragt Sally Brown: Was ist lustig an einem Ballon? Sallys Frage lässt sich als eine ironische Version zu Nietzsche lesen: »Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern? – so fragt der letzte Mensch und blinzelt.« Aber Sally ist kein letzter Mensch, sondern eine fragende Philosophin. Lustig am Spiel ist nämlich nicht der Ballon, sondern das spielerische Streben. Der Spaß des Spiels liegt weder in der Sache, mit der man spielt, noch im Individuum, das spielt. Er liegt in der spielerischen Neugier als einer Beziehung: Spiel ist ein Streben nach dem anderen, und: Dieses Streben bedeutet nicht Perfektion, nicht Vollkommenheit, wie sie der Olympismus anstrebt. Der Mensch ist und bleibt unvollkommen. Mit Lin Yutang: das Gelächter verweist auf die Unvollkommenheit der Welt – der eigensinnige Strolch und Vagabund ist ein Gegenbild zum perfekten Soldaten. Nun wohl, Neugier fragt – aber was ist die Frage überhaupt für ein Phänomen? Eine Bewegung spielerischer Neugier, eine Figur labyrinthischen Wunderns, ein Zentrum philosophischen Denkens? Ist das Fragezeichen vielleicht ein Symbol des Spiels? »Alle Wahrheit ist krumm«, stellte Nietzsche fest. In diese Krummheit begegnen in der Tat das Fragezeichen und das Labyrinth einander:
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Die konfiguralen Übereinstimmungen zwischen dem Fragen und dem labyrinthischen Spiel fordern zu einer eingehenderen Betrachtung heraus: die krumme Linie – der offene Punkt – die Asymmetrie im anscheinend Symmetrischen – die Schwingung. Wir haben es mit Figuren des Wunderns zu tun. Sie machen das Gewisse und Feste fließend. Sie bringen »die Verhältnisse zum Tanzen«. Die Phänomenologie des Spiels führt damit zu einer Phänomenologie des Fragens – und die Sprache mag dabei ebenso anregend sein wie jene Ablautreihe des Wanderns, Wendens, Windens und Wunderns hilfreich war bei der Deutung des Labyrinths. So wie das Spiel nicht eins ist, ist auch das Fragen nicht eins und erfordert eine differentielle Phänomenologie. Das Fragen kann sich primär auf Sachverhalte richten. Hier sprechen wir davon, etwas zu »erfragen«, zu »erkunden«, zu »erforschen« oder zu »erfahren«. In der Forschung zielt das »Interview« meist auf die Sache, die der Befragte zu sagen hat. Der fragende Forscher weiß nicht, aber der Befragte weiß – vielleicht. Das Fragen zur Sache ist verwandt mit der Suchbewegung, wie sie sich auch im Spiel findet. Suchend, »untersuchend«, »erforschend«, auf Englisch quest und research (re-search), fragend streben wir nach etwas da draußen. Das suchende Fragen kann auch tentativ sein: wenn wir etwas »versuchen« oder »ausprobieren«. Der »Versuch« ist die durchdachte Einrichtung, die von einer Frage zu einem Ergebnis führen soll. Noch zielgerichteter ist der »Test«, dessen Frage auf ein Richtiges oder Verkehrtes hinausläuft. Auch das Versuchen ist mit dem Spiel verwandt. Das Fragen kann sich jedoch auch auf die Person des Befragten richten, über den wir etwas wissen wollen. Hier sprechen wir auch von »ausfragen«. Dabei kann aber auch die Macht des Fragenden ins Spiel kommen, und damit nähern wir uns der »Inquisition«. Der Fragende weiß, und der Befragte wird bloßgestellt. Die inquisitorische Art des Fragens kann, psychoanalytisch gesehen, als »obszön« erscheinen (Bodenheimer 1984). Auch im Spiel ist die zwischenmenschliche Beziehung bedeutsam – und die Macht keineswegs abwesend.
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Anders sieht es aus, wenn »Neugier« das Fragen antreibt. Die Neugier kann sich als Absicht auf den Befragten oder auf die erfragte Sache richten. Die Neugier finden wir im Spiel, wo Lin Yutang von playful curiosity sprach. Das erfragte »Neue« kann einerseits das neu zu Lernende sein, wie es im Spiel die von Sutton-Smith so genannte »Rhetorik des Fortschritts« ausmacht. Das Fragen kann aber auch von einer ungerichteten Neugier angetrieben sein, absichtslos und ohne dass man weiß, wohin die Frage letztlich führt – und wohin das Spiel führt. Das »Erfahren« verweist sprachlich zugleich auf das Fahren, das Reisen (Bollnow 1974). Auch das Fahren kann wie das auf Erfahrung gerichtete Fragen einerseits zielgerichtet sein, andererseits aber auch ungerichtet: Man weiß nicht, wohin die Reise führt. Die geschlossene Frage engt den Spielraum des Antwortens intentional ein, die offene Frage zielt hingegen ins Ungewisse. Die curiosity der spielerischen Neugier führt jedoch, wenn sie ins Deutsche übertragen wird, in eine etwas andere Richtung: »Kurios« ist etwas, das »wunderlich« ist. Das Fremdartige strange verwundert uns. Damit sind wir beim labyrinthischen Spiel des Wunderns, Wanderns, Wendens und sich Windens. Goethe pointiert dies, wenn er darauf verweist, dass etwas oft »respektabler« erscheinen kann, wenn es »wunderlicher« angeboten wird. Das wirft auch ein Licht auf das für Religionen so bedeutsame Wunder (Flasch 2013: 85 und 114-120). Das Wunder lässt uns »staunen«. Während das bestaunte Wunder jedoch zur Gläubigkeit führen mag, hat das verwunderte Fragen zugleich Untertöne der Ungläubigkeit. Ein als gegeben angenommener Sachverhalt wird durch das Fragen »fragwürdig«, er wird zum Problem. Wir können die Verhältnisse »infrage stellen«. Das Fragen erscheint hier als eine Art des »Zweifelns«, und dieses kann wiederum unsicher ins Ungewisse weisen, oder es kann gerichtet sein – und zwar gegen etwas. »Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt«, schrieb Karl Marx (1844/1976, S. 381). (Leider entwickelte er zwar einen »wissenschaftlichen«, nicht aber einen tanzwissenschaftlichen Sozialismus.) Der »Wunderkreis« des Labyrinths ist noch auf eine andere Weise sprachlich aufschlussreich. Auf Dänisch heißt das Labyrinth trelleborg, und dieses Wort verweist auf die – spielerische? tänzerische? – Bewegung des »Drillens« (at drille). Das dänische Drillen, verwandt dem deutschen »Drall«, bedeutet: sich herumdrehen, aber auch jemanden narren, betrügen, foppen oder verspotten. Im Englischen macht thrill den Kern des Spiels aus (Creveld 2013: 2 und 8). Diesen thrill oder Drall können wir wohl auch im Fragezeichen wiedererkennen. Es bezeichnet einen bestimmten Rhythmus – die Frage hat rhythmischen Charakter. Dieses muss phänomenologisch differenziert werden. Die unterschiedlichen Bedeutungen sind jedoch nicht scharf getrennt. Gleichzeitig zeigt sich, dass das Fragen weder nur eine Frage mündlicher Rede ist (bei der man am Ende die Stimme hebt), noch nur eine Frage des Schreibens (mit dem Fragezeichen am Satzende). Sondern das Fragen verweist
Spielen und Fragen – ein Labyrinth
auf körperliche und emotionale Bewegungen, nicht zuletzt auf das Spiel: Wer kann mich fangen? Geht meine Patience auf? Wird meine Mannschaft diesmal siegen? Welche Zahl wird der Würfel beim nächsten Wurf zeigen? Wohin rollt der Ball? Ob ich nun wohl endlich Geld gewinne (beim Glücksspiel)? Was bringt mir die Zukunft (beim Werfen der Orakelsteine)? Kannst du weiter springen als ich? Hast du etwa die besseren Karten in der Hand? Was kann ich mit diesem Stab alles anfangen? Die Fragen sind so vielfältig wie die Spiele. Jedenfalls erscheint das Spiel hier also als eine Art, Fragen an die Welt zu richten – und zwar jenseits von Sprache und Schrift, durch praktisches Tun und Bewegung. Bei dieser Beobachtung geht es nicht etwa um einen neuen Versuch, das Spiel zu definieren, sondern es entfaltet sich ein neues Problem: Wie sieht das Spiel aus der Sicht des Fragens aus? Wie sieht das Fragen aus der Perspektive des Spiels aus? Anders gesagt: Wie beleuchten die Phänomenologie des Spielens und die Phänomenologie des Fragens einander? Die Aufmerksamkeit auf das Fragen und Spielen ist zugleich aufschlussreich für das Verständnis der Philosophie. Philosophie wird oft gleichgesetzt mit Wissenschaft und strebt dann danach, ein anderes »exaktes« akademisches Fach zu werden. Aber das philosophische Denken ist grundlegend verschieden von science. Science bringt faktuelles Wissen hervor und richtet das Hauptaugenmerk auf korrekte Antworten und Ergebnisse. Ein wissenschaftliches Resultat kommt als Aussagesatz daher – punktum. Es kann getestet werden, es ist entweder richtig oder verkehrt. Philosophie hingegen fragt. Ihre Erzählungen lassen sich nicht testen – und machen uns doch klüger, indem sie zu neuen Fragen führen. Warum ist etwas und nicht nichts? Was ist der Mensch? Warum spielt der Mensch, und was ist nicht Spiel? Warum lachen Menschen? Und gleichzeitig hängen Fragen mit Antworten auch irgendwie zusammen – und Antworten mit Fragen. Das erfordert zum Schluss eine akademische Selbstkritik. Solange meine eigenen Schriften nicht zum Lachen sind, habe ich ein Problem – oder?
Resümee Spiel ist ein undefinierbares Phänomen, und dennoch fragt man in Kulturstudien immer wieder danach, was das Spiel sei. Wir nähern uns hier dem Problem über den konkreten Fall des Labyrinths – einen Fall spielerischer und verwunderter Bewegung. Zwei Philosophen können bei der Deutung des Spiels hilfreich sein. Der chinesische Philosoph Lin Yutang sprach von der »spielerischen Neugier« und bediente sich dabei der Figur des Affenkönigs Sun Wukong. Und Friedrich Nietzsche beschrieb spielerisches Streben an der Figur des Zarathustra, in dem der Philosoph sich selbst als Spieler, als »Wahrlacher«, als Punker darstellte – ein Spiel der Widersprüche. Diese Zusammenhänge beleuchten nicht nur das Spiel, sondern auch das grundlegende Verhältnis zwischen dem Spielen
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und dem Fragen. Geht es also nicht nur um die Frage nach dem Spiel, sondern auch um das Spiel als Frage – und um die Phänomenologie der Frage selbst? Und wie verhalten sich Spiel und Frage damit zur Denkbewegung der Philosophie?
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Spielen und Fragen – ein Labyrinth
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Körper-Wissen – Chancen und Risiken im Wuchern der Neurodiskurse? Maud Hietzge »The real bodies produce the imaginary bodies but they need the real bodies to do something […]. There is no real body without an imaginary body. The body is already double.« (Martin Nachbar, Human Animal Dance 2013 [Vimeo.com/93634067])
1.
Einleitung
Nach einigen Jahrzehnten andauernden Körperbooms (Meuser 2004) stellt sich die Frage, ob die Wiederentdeckung des Körpers durchdacht genug strukturiert war – und welche neuen Probleme sich daraus ergeben haben. So wird an Neologismen wie embodying (Schmitz & Degele 2010) oder knowing (Johnson 2021) statt knowledge verstärkt deutlich, dass die Thematisierung des Körpers eine diskursive Verschiebung von der Substanz- auf die Prozessperspektive durchläuft. Hatte die Soziologie den Körper seit den 1970er Jahren, angestoßen durch die Arbeiten Bourdieus und Foucaults, in seiner gesellschaftlichen Bedeutung »wiederentdeckt« (Kamper & Wulf 1982) und damit v.a. die vorherige Ignoranz des eigentlich Offensichtlichen korrigiert, wurde der Körper seit den 1990er Jahren zum Fokus sozialwissenschaftlicher (Turner 1991, Shilling 1993), feministischer (Butler 1993) und medizinsoziologischer (Turner 1992) Theoriebildung. Im Paradigma der Neurowissenschaften wird der Körper aktuell durch eine wiederum darauf aufsattelnde naturwissenschaftliche Perspektive als Schlüssel der Erkenntnis schlechthin konzipiert, was – im Vexierspiel der Diskursverschiebungen – einem Übergriff der sciences auf die genuine Perspektive der humanities entsprechen dürfte und den Aspekt gelebter Leiblichkeit (vgl. Gugutzer 2002, 2012, Crossley 1995) vor lauter Körperboom erneut unterschlägt. Die genuine Gedoppeltheit des Körpers (vgl. obiges Zitat von Martin Nachbar) lässt sich besser verstehen, wenn man sich selbst auch als Tier unter Tieren zu sehen bereit ist – und auch letzteren Ansätze von Imagination zugesteht (vgl.
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Haraway 2007). Die Perspektive der Neurowissenschaften könnte hier prinzipiell eine integrative Funktion übernehmen, die Fallstricke erscheinen jedoch momentan immens, sodass ihre Aufnahme als Theorie kultureller Praxis kritisch betrachtet werden sollte. Die Faszination der pädagogischen Fachöffentlichkeiten am Paradigma der Neurowissenschaften bedarf reflexiver Aufmerksamkeit, da deren Expertise per se höher geschätzt zu werden scheint als die eigene. Umgekehrt lesen Neurowissenschaftler meist keine erziehungswissenschaftlichen Bücher. An der Aura der »harten« Naturwissenschaften wird gern partizipiert – wenn auch angesichts mangelnder Reziprozität mit ambivalenten Konsequenzen. Bilder von aufblinkenden fMRT-Impulsen im Gehirn suggerieren, dass diese Bilder einen unmittelbaren Einblick in den menschlichen Geist bei der Arbeit erlauben, was sich bei seriöser Betrachtung als haltlos erweist; unzählige bunte Bilder des menschlichen Gehirns ohne fasslichen Inhalt finden sich im Netz. Der folgende Artikel beschreibt zunächst einige problematische zeitgenössische Versuche, aus neurowissenschaftlicher Forschung direkt Folgerungen für pädagogisches Handeln abzuleiten. Hierzu wird eine Perspektive entwickelt, die sich auf diskurstheoretische1 Erwägungen stützt. Die Geschichte der Neurowissenschaften offenbart deren gewaltige paradigmatische Entwicklung, aber auch deren konstitutive Fehlschlüsse2 ; es wird hier ein vorläufiges Fazit versucht, das auch Hinweise auf eine sinnvolle (sport-)pädagogische Rezeption geben möchte. Insbesondere der Ansatz der Philosophy of Cognition weist Argumentationen auf, die für eine differenzierte begriffliche Fassung des für die Sportwissenschaften relevanten Terminus KörperWissen nutzbar gemacht werden können. Die Inspiration durch den Diskurs der Neurowissenschaften kann gewinnbringend sein, ohne neurodidaktischen Etikettierungen blind aufzusitzen. Hier lohnt es sich, nach Differenzierungen leibphänomenologischer Ansätze zu fahnden. Die Gedoppeltheit des Körpers als Instrument und als gelebte Leiblichkeit, wie sie Plessner ohne Abrutschen in ein dualistisches Konzept angelegt hatte, bzw. als Organismus und Träger sozialer Symbolik, erfasst noch nicht, wie der biologische Körper durch soziale und durch Technik vermittelte Prozesse infiltriert und im Detail geformt wird, die sowohl sein Erscheinungsbild als auch sein Funktionieren betreffen (vgl. Haraway 1995). Das Interesse an human machine interfaces (MMS), das in Stephen Hawking ein lebendes Symbol gefunden hat, nährt sich durch Hoffnungen, geschädigten
1 2
Vgl. z.B. die Suche: https://www.google.com/search?q=Wie+es+im+Gehirn+aussieht Zur Rezeption neurowissenschaftlicher Arbeiten in der Erziehungswissenschaft vgl. Übersicht in Becker (2006); sie unterscheidet als typische Rezeptionsmuster direkte Aufnahme, kritische Begrenzung sowie kritische Übersetzung, um einen Rahmen für letztere wird es später gehen.
Körper-Wissen – Chancen und Risiken im Wuchern der Neurodiskurse?
Personen ein »selbstbestimmtes Leben« zu ermöglichen.3 Dies auf Gesunde auszudehnen, also Enhancement anzustreben, wird in der Medizinethik (Müller, Clausen, Maio 2009) äußerst kritisch diskutiert.
2.
Die Annexion pädagogischer Felder durch neurodidaktische Interdiskurse
2.1
Die Produktion populärer Interdiskurse
Auf diesem Kern satteln andere Diskurse auf, die die Überdeterminierung des Faszinosums Gehirn zum Zweck eines generalisierten Verbesserungsdrangs betreiben. Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, tauchte der Begriff der Neurodidaktik zum ersten Mal in Verbindung mit den Zahlenland-Publikationen von Gerhard Preiss4 in den 1980er Jahren auf (vgl. Friedrich 2005). Der Gedanke folgte anfangs der probat erscheinenden Idee, Erkenntnisse der »harten« Neurowissenschaften für die pädagogische Praxis nutzbar zu machen, insbesondere um (reformpädagogisch inspirierte) Grundsätze pädagogischen Handelns wissenschaftlich robuster zu begründen. Zunächst wurde hier weder ein Konzept ausgearbeitet noch wurde dieser Ansatz als eigenständige Didaktik gewertet. Die Wette auf die Zukunft lösten andere ein. Neurodidaktische Publikationen erleben ihren Boom in Deutschland seit der Jahrtausendwende (z.B. Spitzer 2003, Hermann 2006, Heckmair & Michl 2012) und umfassen unterschiedliche Konzeptionen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, konkrete didaktische und grundlegende pädagogische Leitlinien aus den Ergebnissen der neueren Hirnforschung abzuleiten (vgl. Becker 2007). Damit einher geht de facto der Anspruch, dass nur die Kenntnis der materiellen Vorgänge im Gehirn effektive Lerngestaltung ermögliche. Neurodidaktik erhebt damit den Anspruch, Fachdidaktiken ablösen zu können. So äußert sich beispielsweise Manfred Spitzer in öffentlichen Disputen häufig nicht nur computerfeindlich (digitale Demenz) und alarmistisch, sondern zieht aus neurowissenschaftlichen Konzepten direkte pädagogische Schlussfolgerungen (Paulus 2003, Bopp 2006), die empirisch so nicht gerechtfertigt sind (vgl. Stern 2006). Spitzer formuliert dabei wundersam dualistisch, dass der Geist im Körper wohne und daher vom degenerierten Körper geschädigt werden könne (Spitzer 14.9.2012 in der FAZ) –
3 4
Ausschreibung des CITEC Bielefeld (Prof. Dr. Thomas Schack) am 1.5.2015, dvs E-MailVerteiler. Preiss war derzeit Professor an der PH Freiburg und erzielte eine entsprechende Denomination, allerdings ohne den Begriff mit einem bündigen Konzept und mit realistischen Erwartungen zu füllen.
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eine neue Sündenfallphilosophie. Die folgende Analyse ist daher durch erhebliche Skepsis an der wissenschaftlichen Fundierung der Neurodidaktik getragen, erhebt aber nicht den Anspruch, für alle Ansätze mit dem Etikett Neurodidaktik treffend zu sein, vielmehr beschränkt sie sich auf exemplarische, in Erziehungs- und Sportwissenschaft rezipierte Ansätze. Stellvertretend für einen zweifelsohne breiteren Interdiskurs werden im Folgenden einige Argumentationsmuster analysiert. Ein Interdiskurs ist dadurch gekennzeichnet, dass er eine Übersetzungsleistung zwischen einem (wissenschaftlichen) Spezialdiskurs und den öffentlichen Diskursen in Medien, Dokumenten, an Stammtischen etc. darstellt. Link (1978) zufolge sind Interdiskurse durch extreme Komplexitätsreduktion gekennzeichnet; es wird also zu untersuchen sein, ob das auf die ausgewählten Ansätze der Neurodidaktik zutrifft oder nicht. Ein sprachliches Anzeichen kann die Verwendung von Analogien sein, die eben keine logische Verbindung fundieren können, sondern eine Übertragung setzen, die andere Aspekte ausblendet. Kollektivsymbolen (Link 1978) kommt dabei die Aufgabe zu, bestimmte Sinnstrukturen wiederum in Spezialdiskurse zurück zu spiegeln, die dann eine strukturelle Gleichschaltung aufweisen, ohne dass es einer rational legitimierten Order bedürfte. Interdiskurse sind demnach veritable Zeitgeist-Maschinen, die im Widerspruch zum Anspruch der Wissenschaftlichkeit stehen können und damit eventuell das Gegenteil des ursprünglich Intendierten bewirken, nämlich gerade keine wissenschaftliche Begründung für aus Alltagserfahrung generierte pädagogische Normen zu liefern. Weiterhin steht zu befürchten, dass auch akademische Interdisziplinarität restriktive Züge annehmen (vgl. Weber 2010) und zur Selbstkolonialisierung der Geistes- und Sozialwissenschaften beitragen kann.
2.2
Neurodidaktische Deutungsansprüche
Gerald Hüther äußert sich mannigfaltig als Neurobiologe zu Fragen des Deutschen Bildungssystems und sagt dabei zweifellos viel Richtiges und dies allgemein verständlich. Die Argumentationen lassen dennoch bisweilen zu wünschen übrig: »Unsere Schule stellt rein analytisch-kognitive Fähigkeiten in den Mittelpunkt – dadurch fallen viele Kinder durch die Erbsensortieranlage, die Schule geworden ist. Das dreigliedrige System mit seinem Begabungskonzept stammt aus dem vorigen Jahrhundert. Es kommt aber heute nicht mehr so darauf an, möglichst viel auswendig zu lernen. […] Im 21. Jahrhundert brauchen wir so etwas nicht mehr. […] Die Hirnforschung bestätigt: Nur wenn man mit innerer Beteiligung lernt […] werden im Hirn jene neuroplastischen Botenstoffe ausgeschüttet, die die Verankerung von neuen Netzwerken fördern« (Hüther 2012, S. 18). Obiges Zitat unterstellt die Identität von dreigliedrigem Schulsystem mit einer anachronistischen pädagogischen Grundhaltung (voriges Jahrhundert, auswendig ler-
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nen), was nicht unbedingt miteinander einhergehen muss. Schule wird mit Erbsensortieranlage übersetzt, was angesichts der Selektivität des deutschen Schulsystems nicht ganz unberechtigt erscheint, aber zumindest mit einer überzogenen Analogie arbeitet. Dass die Bedeutsamkeit des Lernstoffs Interesse generiert, dafür braucht man keine Hirnforschung zu bemühen. »Sie erinnern uns damit nur an manches, was wir längst wussten, ehe wir uns die Ökonomisierung unseres Bewusstseins gefallen ließen« (Eppler 2009, S. 21), die die humanistischen Bildungsideale durch die Vorstellung vom Humankapital ersetzt. Sympathische, aber pauschale Aussagen kennzeichnen die populären Publikationen Hüthers (vgl. Hüther 2001), die dadurch häufig eher einen missionarischen bzw. interdiskursiven Eindruck vermitteln. Gerhard Roth (Becker & Roth 2004, Roth & Grün 2006) anerkennt grundsätzlich die Grenzen seiner Disziplin und bemüht sich zunächst um eine neutrale Haltung, in der Bezüge zwischen Neurowissenschaften und Pädagogik, Psychologie, Philosophie etc. hergestellt werden sollen, die Bewusstsein, Willen und Schuldfähigkeit fundierter erklären: »Gehirne verarbeiten Bedeutungen und nicht Erregungen. Erregungen sind das, was Hirnforscher registrieren; das bedeutet aber nicht, […] diese Erregungen seien das Eigentliche« (Roth 2006, S. 26). Als Absolvent der Biologie und der Philosophie ist Roth in humanities und sciences zuhause und möchte den Eindruck einer feindlichen Übernahme vermeiden. Er erklärt eher grundsätzlich den gesicherten Stand der Forschung und die Experimente, die dazu maßgeblich beigetragen haben. Dies betrifft u.a. die in der Tat differenzierten Lokalisierungen und Befunde zu zeitlichen Verlaufsmustern der Wahrnehmungsverarbeitung (Roth 2003). Bei Roth wird deutlich, wie komplex und schwer interpretierbar die Befunde tatsächlich sind, hier – im Vergleich mit menschlichen Gehirnen – bei eher einfach strukturierten Makaken: »Unklar ist allerdings, wie sich diese Resultate zu den oben genannten Befunden einer erhöhten Entladungsrate bei Aufmerksamkeit verhalten und was eine erhöhte Synchronisation im Gamma-Band bewirkt. Eine häufig diskutierte Möglichkeit ist die erhöhte Wirkung synchronisierter Neuronen eines bestimmten Netzwerkes auf nachgeschaltete (z.B. limbische, exekutive oder motorische) Neuronen oder eine erhöhte Umstrukturierung des lokalen Netzwerkes im Zusammenhang mit Lernen und Gedächtnisbildung« (Roth 2003, S. 211). Dies bedeutet, Bewusstseinsprozesse sind durch Verzögerung, Rückprojektionen des integrativen assoziativen Kortex auf den primären visuellen Kortex, also durch komplexe Integrationen von emotionalen und kognitiven Anteilen gekennzeichnet. Prozesse in subkortikalen und sensorischen sowie motorischen Arealen der Großhirnrinde sind in toto nicht bewusstseinsfähig. Liegt dem Bewusstwerden eines Vorgangs immer eine erhöhte kortikale Aktivität zugrunde, so sind zuvor unterschiedliche Hirnareale am Prozess beteiligt, lediglich deren Resultat bemerken wir. Was der Kernspin aufzeichnet, ist dann die Sekunden später erfolgende Erhöhung
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der Durchblutung, nicht der Prozess selbst und schon gar nicht seine Funktionalität. In letzter Konsequenz ist unser Erleben – Roth zufolge – eine Wirklichkeitskonstruktion des realen Gehirns, das uns nicht zugänglich ist noch sein könnte. Hier findet das Verstehen seine Grenze, was auch die Folgerung eingeschränkter Willensfreiheit als argumentativ unausgegoren erscheinen lässt (vgl. Barkhaus 2003) – ein Thema für sich. Auch Roth lässt sich verleiten und macht in einem Interview in GEO kompakt (2011) genau das, was er eigentlich vermeiden wollte, nämlich aus ungesicherten Korrelationen pseudo-neurowissenschaftliche Erkenntnisse zu popularisieren: Er unterstellt dort z.B. einen angeblich genetisch bedingten Zusammenhang zwischen musikalischer und mathematischer Begabung und den Mangel solcher Fähigkeiten bei Mädchen, die nicht aufholbar seien (?). Dafür sei bei Frauen das Wernicke- und Broca-Areal besser durchblutet, das für Sprache zuständig sei. Wieviel erklärt eine verbesserte Durchblutung? Folgt daraus etwa, dass sich Beziehungskrisen durch die geringere Durchblutung limbischer Areale beim Mann erklären lassen? Als problematisch kann man es daher ansehen, dass Roth zum Zeitpunkt des Interviews Präsident der Studienstiftung des Deutschen Volkes war, während er hier in grob vereinfachender Weise einer sachlichen Pädagogik mit überkommenen Gemeinplätzen die Handlungsgrundlage entzieht.
2.3
Sportwissenschaft auf der Suche nach Anerkennung im dominanten Diskurs
Frieder Beck (2014), versehen mit einem Vorwort von Klaus Roth, möchte durch Sport die sogenannten Exekutiven Funktionen trainieren, sodass Sport schlau macht, wie eine ältere Publikation von Renate Zimmer (2004) bereits unterstellte. Dopamin wird von Beck als Dünger für das Gehirn gepriesen, als handele es sich beim Gehirn um ein Maisfeld, wobei die – übrigens geringe und an Zusatzbedingungen geknüpfte – antidepressive Wirkung von Ausdauersport als Erklärung herangezogen wird. Das heißt, auch jenseits der sinnvollen Aussagen bzgl. aktivierender und motivierender Funktionen greift auch Beck fälschlich zu kausalen Schlüssen aus Korrelationen, wenn er unterstellt: »Wer sich mit 11 Jahren mehr und intensiver bewegte, war 5 Jahre später besser in Mathematik […]. Bis zum Alter von 16 Jahren verbesserten sich die Schulnoten analog zur Steigerung der körperlichen Aktivität« (Beck 2014, S. 19). Andere Erklärungen wie Bereitschaftszustände aufgrund persönlicher und gesellschaftlicher Zuschreibungen, die dann auch entsprechende Leistungen begünstigen, oder der alles beeinflussende familiäre Hintergrund werden hier nicht als Erklärungsmöglichkeit erwähnt. Die Argumentation bleibt bei allen netten Analogien insgesamt unterkomplex, aber übergriffig auf das Feld der Pädagogik. Auch Knörzer & Schley (2010) möchten erreichen, dass die Sportwissenschaft die Zeichen der Zeit erkennt, und auch der Sport als Ursache kognitiver Verbes-
Körper-Wissen – Chancen und Risiken im Wuchern der Neurodiskurse?
serungen etabliert wird. Dabei möchten sie zwar direkte Handlungsanweisungen vermeiden (2010, S. 8), betonen aber dennoch, der Sport solle ressourcenorientiert im Interesse eines guten Lebens betrieben werden, weil er die Voraussetzungen für pädagogische oder therapeutische Veränderungen günstig beeinflusse. Diese normative Aussage hätte man auch komplett ohne jeden neurowissenschaftlichen Bezug formulieren können. Stattdessen hätte es sich angeboten, lang erprobte therapeutische Ansätze, wie den der Sensorischen Integration nach Ayres oder der ergotherapeutischen Methode der Kognitiven Übung nach Perfetti, aufzugreifen. Hier bestehen funktionierende Handlungsstrategien, die lediglich aktualisiert werden müssten, statt sich einem angeblich neuen neurodidaktischen Ansatz zu überantworten. Darauf wird später zurückzukommen sein. Trotz des disziplinären Hintergrunds der Autoren sind ihre populären Publikationen also nicht dem Spezialdiskurs der Neurowissenschaften zuzuordnen, sondern folgen dem Muster der Collage und sind daher dem unscharfen Inter-Diskurs der Wissenstransition zuzuordnen; sie bewegen sich zwischen Erkenntnisaufbereitung und ungesicherten Glaubensbekenntnissen an die Macht des Neuroimaging. So wurden die angeblichen Geschlechtsunterschiede im räumlichen Vorstellungsvermögen (vgl. Pease & Pease 2000) und die ganzheitlichere Verschaltung des menschlichen Gehirns in älteren Studien behauptet und in der Öffentlichkeit gebetsmühlenartig wiederholt, obwohl sie sich in späteren Forschungen so nicht reproduzieren ließen (Schmitz 2003); die Relation zwischen Anatomie und Funktion gilt als ungeklärt (Fine 2010). Auch gibt die Schnelligkeit der Anwendung zu denken, wenn es sich etwa um Effekte von emotionalen Neurofeedback-Trainings auf prosoziales Verhalten in ökonomischen Kontexten handelt. Weiterhin fällt auf, dass der Körperbegriff ungeklärt bleibt: Ist es der ausführende Körper oder ist das physische Substrat des Gehirns selbst gemeint? In der Sportwissenschaft, so ist zu vermuten, geht es ja um den Körper, doch um welchen Aspekt genau? Im Körper schneiden sich biologische, lebensgeschichtliche und historische Sedimente, er ist das »Unterfutter unserer Kultur« (Jeggle 1986, S. 21), das sich nicht als Appendix von Neuronen ausblenden lässt. Publikationen aus der Sportwissenschaft, die hier genauer zu arbeiten versuchten, kamen denn auch zu bescheideneren Aussagen. So konnte Moser (2002) zeigen, dass die Korrelationen zwischen motorischen und kognitiven Leistungen entweder schwach ausgeprägt oder nicht vorhanden sind. »Vor dem Hintergrund dieser Studien ist eine Beeinflussbarkeit kognitiver Prozesse durch Bewegung, insbesondere bei nicht behinderten Kindern, äußerst unwahrscheinlich. Wenn auch korrelative Zusammenhänge keine Rückschlüsse auf Kausalbeziehungen zulassen, so müssten im Falle eines ursächlichen Zusammenhangs umgekehrt jedoch höhere als die hier gefundenen Korrelationen erwartet werden, was aber nicht der Fall ist« (Moser 2002, S. 280). Insgesamt kommt Moser (2002, S. 284) in seiner Studie an norwegischen Grundschülern zu dem durchaus interessanten Ergebnis,
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dass es gerade der sprachliche Bereich ist, der die geringen Zusammenhänge zwischen kognitivem und motorischem Entwicklungsstand bei 6/7-jährigen Kindern erklärt, was die Bedeutung komplexer Beziehungsgeflechte unterstreicht und für eine komplexere Herangehensweise spräche. Claudia Völcker-Rehage (2005) geht von dem Gedanken aus, dass Gehirnbereiche, die für motorische Funktionen zuständig sind, sich auch als an kognitiven und sensorischen Abläufen beteiligt erwiesen haben. Beim Vergleich motorischer und kognitiver Leistungen konzentriert sie sich auf die optische Differenzierungsleistung, die ja in der Tat durch Bewegungserfahrungen förderlich beeinflussbar sein dürfte, was sich insbesondere für die 4-Jährigen bestätigt, aber keine Kausalkette rechtfertigt. Zur Kontrolle wurde das Sportengagement der 4-6-jährigen Kinder mit untersucht, wobei keine signifikanten Korrelationen festgestellt werden konnten. Das Fazit der Autorin, dass eine ganzheitliche koordinative und kognitive Förderung im Kindergartenalter empfehlenswert sei, hatte schon vorher überzeugt; ihre Hoffnung auf die zu erwartenden Befunde bildgebender Verfahren, wie sie auch Wildor Hollmann angekündigt hatte, hat sich bislang aber nicht erfüllt. Die Fixierung auf kognitive Prozesse, die sich durch Sport irgendwie verbessern sollen, vor allem durch mehr Aktivität (welche?), erscheint problematisch, da die Interaktionen zwischen materieller Umwelt, visueller und sensomotorischer Wahrnehmung bzw. Erfahrung und ihren gegenseitigen Beeinflussungen nicht hinreichend genau einbezogen werden (können). Die Reduktion des Gehirns auf eine zu verbessernde anatomische Mechanik ist ein fataler Fehlschluss. Einen vergleichbaren Fehler hat die Neuropharmakologie begangen, als sie im Interesse von Verkaufszahlen Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer als Allheilmittel gegen Depressionen empfahl und damit bei leichten Depressionen durch die Verursachung bipolarer Störungen mehr Schaden als Nutzen angerichtet hat, oder Ritalin als konzentrationsförderndes Mittel bei Gesunden indizierte. Nach Art eines chemischen Backteigs wurden und werden viel zu einfache Vorstellungen generalisiert (vgl. Hasler 2012).
2.4
Zwischenstand der Überlegungen
Die Folgerungen der Neurodidaktik, Anbindung an konkrete Erfahrungen und soziale Einbindung, Berücksichtigung von Interessen und individuellen Prozessen, Mobilisation von Vorwissen und Bezug zu übergeordneten Zusammenhängen, Zeit für Reflexion und positive Emotionen sind auch ohne Hirnforschung sinnvolle Prinzipien pädagogischen Handelns. Dennoch ist anzuerkennen, dass es auf der Basis des Verständnisses der Komplexität assoziativer Prozesse schwerer geworden ist, unilinearen Frontalunterricht als Lehr-Lern-Struktur zu präferieren. Elsbeth Stern formuliert provokant einleitend (vgl. Blakemore & Frith 2006), dass der Versuch, mit Hilfe der Neurowissenschaften das Bildungssystem zu verbessern,
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mit dem Plan vergleichbar sei, mittels einer neurophysiologischen Beschreibung von Hunger die Unterernährung in der Welt zu bekämpfen. Die Beliebigkeit normativer Statements im Gewande der Neurosemantik bedient einen ›hippen‹ Neuro-Interdiskurs und muss sich mit dem Verdacht konfrontieren lassen, sich dem Glorienschein naturwissenschaftlicher Dignität lediglich anzubiedern. So treibt der Neuro-Interdiskurs im Graubereich der Weiterbildung ein anmaßendes Unwesen, was an untenstehendem Zitat aus dem Klappentext von Heckmair & Michl, »Bewegtes Lernen im Fokus der Hirnforschung« (2010), deutlich wird: »Hirnforscher haben eine neue Debatte um Erziehung und Bildung angefacht. Ihre Protagonisten erklären den etablierten Erziehungswissenschaftlern und ignoranten Institutionen, wie Lernen funktioniert. In diesem Buch geht es um die Emotionen und das Erleben, den Körper und die Bewegung, die Gruppe und die Gemeinschaft. Welche Rolle spielen sie beim Lernen? Wie können Lehrende und Studierende, Erziehende und Therapierende von den Erkenntnissen der Neurowissenschaft profitieren? Der Band enthält den frei nutzbaren und unbegrenzt reproduzierfähigen Kriterien- und Indikatorenkatalog zur Neurodidaktik. Als Hochschuldozentin oder Lehrer, als Personalentwicklerin oder Erwachsenenbilder, als Coach oder Trainerin können Sie ihre Konzepte und Programme mit diesem Test überprüfen. Die Autoren stehen Ihnen mit Rat und Tat zur Seite.« Ein gigantischer Anspruch soll mit einem Katalog von Gebrauchsanweisungen für die Praxis eingelöst werden (Pflüger 2006, 44), das ist nicht mehr nur übergriffig, sondern phagozytiert die Humanwissenschaften. Rezeptwissen wird vor Reflexion des Unterrichtsgeschehens gesetzt, soll Sicherheit geben und funktionierenden Unterricht garantieren. Allgemeinplätze werden hier in die Form eines Lehrbuchs zum Selbststudium gegossen, an dessen Grundlage blind geglaubt werden soll. Insbesondere bildgebende Methoden (vgl. Bopp 2006) sind viel zu grob, um damit mehr als primitive Lernprozesse zu untersuchen und zu sehr allgemeinen Aussagen zu kommen. Beispielsweise gibt eine der meistzitierten Neuro-ImagingStudien zu adulter Neogenese von Nervenzellen durch Jonglieren (Draganski et al. 2004) in der Zeitschrift Nature lediglich an, dass erhöhte Aktivität in bestimmten Regionen stattfindet, die auf kortikale Plastizität schließen lässt – zweifellos richtig, aber wer war auch so leichtgläubig, dies zuvor für unmöglich zu halten, was für Ratten doch bereits 1912 nachgewiesen worden war? Irgendetwas tut sich, aber was eigentlich? Weitergehende Folgerungen werden daraus im Text seriös auch nicht abgeleitet. Die zitierten Studien verzichten darauf, sich normativ im Sinne einer Handlungsanweisung zu äußern, sondern warnen teilweise explizit davor (Becker & Roth 2004). Ähnlich den Prozessen bei der populären Übertragung der Evolutionstheorie Darwins und Haeckels auf soziale Prozesse besteht hier die Gefahr, ideologischen Deutungen aufzusitzen.
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Sigrid Schmitz (2003) formuliert zum Human Brain Project des amerikanischen NIMH: »Funktionelle Atlanten versprechen mir zusätzlich den Blick in das Gehirn bei der Arbeit. Sie zeigen mir, wo im Gehirn die Neuronen-Netze feuern, wenn ich Farben oder Punkte anschaue, wenn ich einen Arm hebe, wenn ich spreche, wenn ich denke« (ebd., S. 217) – sie zeigen mir nicht, ob ich besser denke, wenn ich den Arm hebe. Was genau davon welche Netzwerke wie beeinflusst, bleibt ungeklärt. Was wir erhalten, sind relativ banale Daten; was wir daraus machen, hat aber weitreichende Konsequenzen – u.a. die Enteignung der Pädagogik durch eine entgrenzte Medizin (Viehöver & Wehling 2011), die die Normierung von Körpern und pharmazeutisches Neuro-Enhancement betreibt. Der Körper wird zum – naturalisierten – Objekt digitaler Visualisierungstechnik und verändert damit seine Erfahrungsqualität dramatisch. Die alte Mär vom Geist in der Maschine wird noch immer eher geglaubt als die Zumutung der Identität bzw. dem Emergenzcharakter von Körper und Geist. Das Umdenken, das daraus resultieren müsste, könnte umfassender nicht sein und entspricht in den Konsequenzen einer kopernikanischen Wende, die den überhöhten menschlichen Geist seiner Aura entledigt, ohne ihn in Biologie aufzulösen und ohne Konzepte des freien Willens (was ist damit gemeint?) und der Schuldfähigkeit5 damit fundamental aushebeln zu können. Paradoxerweise verliert das menschliche Subjekt, nicht Herr im eigenen Verstand, im Anthropozän (vgl. Crutzen 2002) seine substantielle Aura unwiederbringlich. Für unseren Zusammenhang war vor allem die Hoffnung auf Legitimation interessant, Bewegen könne kognitive Fähigkeiten verbessern. Kognition bezeichnet dabei im weitesten Sinne alle Prozesse, die mit Gewahrwerden und Erkennen zusammenhängen. Differenzierter wurden die Benefits von Bewegung für Kognition beispielsweise durch Colcombe & Kramer (2003) thematisiert, die die Aufmerksamkeitsregulation (sog. exekutive Kontrollhypothese) fokussieren. Nicht die bessere Durchblutung des Gehirns wirkt hier, sondern allenfalls die schlechtere während der Belastung (zugunsten der Muskulatur), was das Rauschen nervlicher Belastungen abstellt und nachher indirekt neue Fokussierung erleichtern dürfte. Neuere Forschungen sprechen eher für eine selektive Förderung motorischer Funktionen. In der Meta-Analyse von Sibley & Etnier (2003) ergaben sich für die Altersgruppe der 4-7-Jährigen positive Effekte auf Testergebnisse für Wahrnehmung, Intelligenz und Schuleignung, jedoch keine auf Gedächtnisleistung.
5
Der LIBET-Versuch hatte zutage gefördert, dass Aktionsimpulse im Neocortex erst als Handlungsentschluss registriert werden, wenn das Aktionspotential schon unterwegs ist, und daraus wurde gefolgert, das Ich wäre eine bloße Illusion. Dummerweise entstehen genau die gleichen Potentiale, wenn der Proband beschließt, auf die Handlung zu verzichten. Die Aussagekraft der Studie wurde also bei weitem überdehnt.
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Funktional orientierte Studien sprechen dafür, dass körperliche Fitness positiven Einfluss auf vorbereitende Aufmerksamkeit und effiziente kognitive Kontrolle hat, eine andere Studie belegt Hippocampus-Wachstum (Alfermann & Linde 2012, S. 297). Die heterogenen Befunde, die sich für die 8-10-J. und 13-18-J. übrigens so nicht bestätigten, werden dennoch zunächst als Ermutigung für zu erwartende bessere Belege gewertet (ebd., S. 298). Die Autorinnen sind vorsichtig genug, in ihrem Fazit zu dem Schluss zu kommen, »dass andere Faktoren als die körperliche Fitness wie beispielsweise psychologische Mechanismen« (ebd., S. 301) die moderaten bzw. geringen Effekte von physischer Aktivität und kognitiver Leistung erklären könnten. Schlussendlich kommen die Autorinnen seltsamerweise dennoch zu der Ansicht, dass spezifische physiologische Einflüsse verantwortlich seien und nennen dafür Raumvorstellung und Verarbeitungsgeschwindigkeit, was aber vage bleibt. Welche Effekte hätte im Vergleich Spazierengehen, Malen oder Musikmachen? Wir wissen es nicht. Dass komplexe koordinative Aufgaben eher zu intensiverer Vernetzung, aerobe Ausdauerleistungen eher zu Kapillarisierung führen dürften, erstaunt wenig. Wenn einzelne Befunde eine Korrelation zwischen koordinativen und intellektuellen Fähigkeiten zeigen, heißt das noch nicht, dass das eine direkt auf das andere zurückgeführt werden kann, zumal sich die Ergebnisse unterschiedlicher Studien widersprechen (Krombholz 1988, Becker et al.1991).6 Für neurodidaktische Ansätze ist also insgesamt kennzeichnend, dass das materielle Substrat des Lernens in der Struktur und den physiologischen Prozessen im Gehirn-Organ isoliert gesucht wird. Der Einfluss der materiellen Umwelt und der integrativen Lernprozesse unter Beteiligung des ganzen Körpers geraten aus dem Blick. Hier soll weiter unten eine Korrektur versucht werden, die mit zentralen neuro- bzw. kognitionswissenschaftlichen Publikationen im Einklang steht, die die Rückkehr des abwesenden Körpers in der Kognitionswissenschaft (Rohrer 2005, S. 339) bewerkstelligt haben.
3.
Neuroscience – Fußabdrücke der Genese einer Wissenschaft
Aus der Geschichte der Neurowissenschaft lässt sich einiges über die Abhängigkeit der Interpretation von Daten vom Denkparadigma lernen. Die Faszination am menschlichen Gehirn ist weit älter als der aktuelle Neuro-Boom. Für unsere Zwecke sind hier nicht alle Kuriositäten und Ausfall-Dokumentationen in der Geschichte der Neuroanatomie von Belang (vgl. Sacks 1985). Die ersten Ansätze der Anatomie datieren in die Zeit der Renaissance, obwohl seit der Antike bereits erste Kenntnisse über Nervenbahnen bestanden. Andreas Vesalius (1514-1564) gilt als Begründer des morphologischen Denkens in der Medizin, 1537 führte er die erste öffentliche 6
Zur vertieften Darstellung des Forschungsstands vgl. hierzu Everke & Woll (2006).
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Sektion durch. 1543 erschien bei einem Baseler Verleger sein Hauptwerk De humani corporis fabrica, in dem er eine Abstammungslinie vom Affen zum Menschen vermutete und sehr exakte Zeichnungen der Anatomie lieferte, die diejenigen Galens in den Schatten stellten.7 Dennoch blieb für Jahrhunderte das menschliche Selbstverständnis an den Glauben an einen unabhängigen Geist gekoppelt. Der noch geringe Wissensstand über funktionelle Zusammenhänge erzeugte Fehlkonzeptionen, wie sie der Fall des Vorarbeiters Phineas Gage (Damasio 1994) offenbart. Damasio schildert an diesem Fall exemplarisch den Schritt von der Phrenologie, die in bestimmten Hirnarealen bestimmtes Verhalten beheimatet sah, hin zur spezifischeren funktionellen Hirnanatomie. Bei Gages schwerem Dynamitunfall von 1848 durchschlug eine Stange vollständig sein Gehirn, er überlebte aufgrund exquisiter Wundversorgung und ohne kognitive Einbußen. Bei Gage waren präfrontale, ventro-mediale Regionen des Frontallappens beschädigt, er konnte keine geplanten Lebensentscheidungen mehr treffen und verhielt sich fortan sozio-emotional unangemessen. Dies führte zum völligen Zusammenbruch seines sozialen Lebens – benevolentia und veneratio (Wohlwollen und Verehrung) seien zerstört worden, so die zeitgenössische Deutung nach Galls Lehre von den Gehirnzentren (vgl. Damasio 1994, S. 40-43), die ein aufkommendes funktionelles Denken noch statisch an bestimmte Areale band. Gage konnte zwar noch denken, aber nicht entscheiden oder dies mit den Auswirkungen auf seine Mitmenschen abgleichen. Die Pointe von Damasio besteht dabei in der propagierten Annäherung zwischen Kognition und Emotion, in der Intuitionen als sedimentierte Erfahrungen aufgrund früherer Praxis ohne deren volle Bewusstheit als kognitive Leistungen rehabilitiert werden. Auch an Vernunftsmechanismen sind demnach niedere Organisationsstufen neuronaler Steuerung maßgeblich beteiligt. So schädigt die Ausschüttung von Cortisol im Stressmechanismus Zellen im Hippocampus und behindert den Übergang ins Langzeitgedächtnis; emotionale Empfindungen (unter Beteiligung von Strukturen im Limbischen System und präfrontalen Cortex) spiegeln Körperzustände, die früher als Seele umschrieben wurden. Damasio vertritt mit seiner Theorie der somatischen Marker seit den frühen 1990er-Jahren die Idee, dass ohne emotionale Färbung als Verbindung zu Körperzuständen rationale Prozesse auch gar nicht funktionieren. Damit hat er eine Grundlage für eine integrierte Sicht auf körperlich basierte Wissensbestände gelegt; zu analytischen Zwecken getrennte Aspekte laufen stets Gefahr ontologisiert zu werden. Hier fällt auch die Unklarheit der jeweils verwendeten Körperbegriffe in Neurowissenschaften und Soziologie bzw. Pädagogik auf; der neurowissenschaftliche Diskurs bezieht sich dabei eher auf kortikale Steuerung. Die dualistischen Begriffe Seele und Geist verflüchtigen sich bei Damasio, ohne dass sie vereinfachend auf neurobiologische 7
Vgl. https://www.spektrum.de/magazin/anatom-der-ersten-stunde/1002205
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Mechanismen reduziert würden. Repräsentationen, synonym mit »Wissen« (ebd., S. 150f), existieren demnach als Muster von Aktivitäten in begrenzten NeuronenKomplexen im Sinne von Entladungsdispositionen. Genau genommen genügt das bereits als Argument gegen die Verabreichung von Neurotransmittern als Enhancement, was etwa so unspezifisch wirkt wie das Reparieren einer Armbanduhr durch Einwerfen eines Zahnrads. In den sekundären Assoziationszentren erfolgt die Integration der jeweiligen einzelnen Sinnesleistungen, in den tertiären Assoziationszentren die Integration zwischen allen Sinnesleistungen überhaupt. Solch ein tertiäres Zentrum findet sich z.B. in den Übergangsregionen zwischen sekundären visuellen, auditiven, taktilen bzw. kinästhetischen Assoziationsarealen (Brodmann-Area 39/40). Hinter der Tätigkeit dieses tertiären Zentrums kann man funktionell die höchste Integration menschlichen Wahrnehmens und Erkennens vermuten, ohne dass hier von Bewusstsein zu sprechen wäre. Die Rückkopplung zu den Kernen des Thalamus dient dem Abgleich mit bereits früher gemachten Erfahrungen. Die topographische und funktionelle Einteilung der primären, sekundären und tertiären Zentren entspricht übrigens in etwa der Abfolge bei verschiedenen Stadien der Myelinisierung der Nervenscheiden. Die Entwicklung des Neocortex ist weitgehend auf die Entfaltung assoziativer Areale zurückzuführen, die beim Menschen gegenüber den Wirbeltieren am stärksten ausgebildet sind. Die Neurowissenschaften machen damit den Unterschied zwischen Tier und Mensch in der Komplexität der Integration sensorischer Daten zu einem graduellen, verdeutlichen aber illusionslos die Materialität menschlichen Denkens und Verhaltens, z.B. auf der Ebene der Synchronisierung von Nervenverbänden. Insgesamt können wir sachlich auf folgende Denkprinzipien zurückgreifen, die von den Neurowissenschaften etabliert wurden und erkenntnistheoretisch bedeutsam sind: • • •
Prinzipielle Ununterscheidbarkeit von Körper und Geist Fundamentale Kopplung von Emotionen und Kognitionen Funktionelle Integration statt Lokalisation isolierter Fähigkeiten
Noch gilt für Embodying-Prozesse in neurologischer Hinsicht, dass sie für soziale Einflüsse eine Blackbox darstellen, in denen Kultur grau bleibt (Brügelmann 2003). Auch Damasios Dispositionsbegriff verbleibt vage und lässt den tatsächlichen Einbezug sozialer Bezugssysteme vermissen. Immer wieder stellt sich ein Übersetzungsproblem zwischen den Disziplinen, dessen Lösung aus ganz anderen Wissensbeständen kommen könnte. Insgesamt ist von den Neurowissenschaften und ihrer erkenntnistheoretischen Reintegration ein epistemologisches Denken vorbereitet worden, das in unserem Alltagsbewusstsein noch nicht angekommen
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ist. Neurodidaktische Kurzschlüsse erweisen dieser schwierigen Reintegration mit dem Ziel einer integrierten Erkenntnistheorie jedenfalls einen Bärendienst.
4.
»Philosophy of Cognition« – Ansatz zur Re-Integration neuround kognitions-wissenschaftlicher Befunde
Die Philosophy of Cognition verabschiedet überkommene Vorstellungen eines ghost in the machine bzw. des psycho-physischen Parallelismus, ohne der biochemischen Erklärung des Bewusstseins aufzusitzen. Sprechen viele neurodidaktische Publikationen wie mit gespaltener Zunge auf den Feldern der naturwissenschaftlichen Daten und der pädagogischen Folgerungen, so kann gerade die von Norbert Gissel (2007) abgelehnte neophänomenologische Denktradition hilfreich werden, den Spalt zu überwinden. Die Denkanstöße von Alva Noe (Action in Perception, 2004), Shaun Gallagher (How the body shapes the mind, 2005) und Lawrence Shapiro (Embodied Cognition, 2011) werden im Folgenden aufgegriffen. Shapiro (2011) setzt sich auf der Basis seiner früheren Veröffentlichung, The Mind Incarnate, mit der zweiten Generation der Kognitionswissenschaft auseinander und macht einen äußerst hilfreichen Sortierversuch zu Konzepten von Embodiment. 1. Die Konzeptualisierungshypothese geht davon aus, dass die Eigenschaften eines Organismus bestimmen, welche Konzepte dieser erlangen kann (vgl. Lakoff & Johnson 1980). Sie arbeitet mit Beispielen wie der Farbwahrnehmung und ist über Priming-Prozesse hinaus allerdings wenig aussagefähig (Shapiro 2011, S. 112). 2. »Replacing the old vision of cognition as disembodied symbol processing, beginning with inputs from the sensory system and ending with commands to the motor system, is a new vision of cognition as emerging from continuous interactions between a body, a brain, and a world« (2011, S. 156). In diesem Ansatz erhalten Körperwahrnehmung und Einflüsse der Umwelt einen höheren Stellenwert (e.g. auch Brooks und Beer). Jedoch besteht die empirische Basis dieses Ansatzes v.a. auf Robotik und kann große Teile des menschlichen Verhaltens nicht erklären. 3. Die Konstitutionshypothese ist es dann, die mit dem Fokus auf Kognition als körperlicher Aktivität (e.g. Clark) und Einbeziehung der Umwelt (e.g. Wilson) Ernst macht. Der entscheidende Punkt ist hier, dass Konstituenten des kognitiven Systems außerhalb des Gehirns einbezogen werden müssen. »Whereas the standard cognitive scientist might approach the knot with scissors in hand, hoping to untangle it by cutting it into its separate strands, Wilson, Clark, and other supporters of Constitution see the knot not as tangled mess, but as an integrated […] whole« (2011, S. 200). Hier setzt die Philosophy of Cognition ein. Alva Noe vergleicht die biologistische Fehlkonzeption des menschlichen Bewusstseins mit dem Versuch, das Wesen des Tanzes in der Muskulatur des Tänzers allein entdecken zu wollen. Als von Witt-
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genstein beeinflusster Denker begreift er Wahrnehmung als Handlung, für die das Input-Output-Schema nicht hinreichend sei: Wahrnehmen, Handeln und Denken seien nicht voneinander zu trennen. Wahrnehmungen beruhten dabei auf der Integration mit körperlichen Fähigkeiten. »The basis of perception, on our enactive, sensorimotor approach, is implicit practical knowledge of the ways movement gives rise to changes in stimulation« (2004, S. 8). Auch für die visuelle Wahrnehmung bezieht sich Noe einerseits auf Gibson, andererseits auf phänomenologische Ansätze und distanziert sich vom Repräsentationalismus. Klingen einige seiner Aussagen etwas apodiktisch (2004, S. 228), so ist sein enactive approach für den Sport insofern interessant, als er sensomotorische Wissensbestände wie die Neuinterpretation von Sinnesdaten auf der Retina im Bewegungsfluss inklusive impliziten knowing how-Wissensbeständen zum Angelpunkt seines Konzepts macht. Hier ist kritisch anzumerken, dass sicherlich von einem konstanten Einfluss sensomotorischer Daten in der Wahrnehmungsverarbeitung auszugehen ist, dass sie aber nicht der Ursprung jeglicher Wahrnehmung sein müssen (vgl. Dennet 1993). Auch ältere Arbeiten wie die »node theory« (MacKay 1987) versuchten hier bereits auf Theoriebildung innerhalb der Neurowissenschaften zu drängen, die ihre Daten zu wenig mit Sinn ausstatte; »premature concern with formal or computational adequacy can obscure attention to fundamental properties of a theory such as its ability to account for available laws« (MacKay 1987, S. XV). Auf MacKay geht die Idee zurück, drei Prozessstränge der neuronalen Integration anzunehmen und neben content knowledge und sequenzing das timing theoretisch eigenständiger aufzuwerten, was für den Aufbau von Koordinationen eine interessante Perspektive bietet. Shaun Gallagher setzt daran mit How the body shapes the mind (2005) an. Dabei wird z.B. auch der Raum nicht mehr absolut gedacht, sondern in Relation zur eigenen Bewegung repräsentiert. Gallagher nutzt argumentativ dabei eine inverse Logik, nämlich den Plan der Naturalisierung der Phänomenologie, die immer am Körper/Leib ansetzt: »the phenomena it studies are part of nature and are therefore also open to empirical investigation« (Gallagher & Zahavi 2008, S. 32). Die Bedeutung eines Verhaltens sei immer in der Aktion zu suchen und Intersubjektivität daher primär. Ihn interessiert die formale Struktur der Erfahrung, wobei eine gemeinsame Sprache für Phänomenologie und Neurowissenschaften genutzt werden sollte (sog. Neurophänomenologie). Ziel ist es, irreführende Vorstellungen wie die des Homunkulus zu ersetzen durch prozessuale Strukturen; im Gehirn lagern keine Aussagen, sondern werden Impulse sinnvoll verschaltet (vgl. Shapiro 2011). Gallagher unterscheidet dabei Körperschema als nicht reflexives System sensomotorischer Prozesse von Körperbild (Einstellungen und Dispositionen), das persönliche Aneignung verlangt; dies scheint sich an die Unterscheidung von Körper und Leib bei Plessner anzulehnen. Gallagher (2005) referiert in der Folge experimentelle Untersuchungen, wobei aber nicht immer ganz klar wird, worin der verbesserte Erklärungswert der geforderten Synthese genau besteht; zumindest taucht hier
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am Horizont auf, dass auch höchst persönliche und sozial modulierte Erfahrungsqualitäten neuronale »nodes« beeinflussen können, Verhalten hemmen oder verstärken können. Sowohl Noe als auch Gallagher entwerfen also ansatzweise einen theoretischen Rahmen für eine Synthese von Neurowissenschaft und Phänomenologie. Gallagher tut dies am Beispiel neonatalen Imitationsverhaltens in der Mimik konkret, welches auf einer Interaktion von visueller Wahrnehmung und Propriozeption beruhen müsse und also auf Intermodalität beruht; diese ist also nicht nachrangig, sondern vorgängig. Damit wird die intensive und ursprüngliche Assoziation unterschiedlicher Perzepte deutlich gemacht: »Since the visual perception and proprioceptive awareness involved in such imitation are in fact instances of conscious experience, then conscious experience from the very beginning is structured by embodiment in certain ways« (Gallagher 2005, S. 78). Diese Schwelle der bewussten Wahrnehmungsverarbeitung wird in der Psychologie gemeinhin recht spät angesetzt (vgl. auch Tomasello 2006); intermodale Translation hingegen spricht dafür, dass die Basis der Selbstwerdung bereits in der frühen Integration von visuellen und propriozeptiven Wahrnehmungsintegrationen begründet liegt. Bewegungserfahrungen verbessern also nicht kognitive Leistungsfähigkeit, sie legen deren Basis in der frühkindlichen Entwicklung. Hier wird klar, dass ein phänomenologisch inspirierter Denkansatz in der Neurowissenschaft zu anderen Fragen und Methodologien Anlass geben kann, der einen echten Mehrwert produziert und u.a. den Aufbau gestischer Kommunikation auf einem Kontinuum unterschiedlicher Bewusstseinsgrade integriert erklären kann. Die Philosophy of Cogniton stellt insgesamt einen Rahmen bereit, der die Vorteile der Konstitutionshypothese so aufarbeitet, dass der Diskurs der Neurowissenschaften mit einem pädagogischen Diskurs anschlussfähig gemacht werden kann, ohne in die Fallen neurodidaktischer Kurzschlüsse zu tappen. Norbert Gissel (2007) moniert den Nachholbedarf der Sportwissenschaft bei der Rezeption neurowissenschaftlicher Forschung. Als Gefahren werden reduktionistische und funktionalistische Sichtweisen benannt, wobei er phänomenologische Ansätze ebenfalls allgemein kritisiert, da ein »auf phänomenaler Introspektion beruhendes Selbstbewusstsein sogar eine riesige Selbsttäuschung« sein könne (2007, S. 5). Dabei bezieht sich Gissel auf Metzinger (1993), der »perspektivisch organisierte Repräsentationsräume« (1993, S. 290) als subjektive Beiträge zur Welt auffasst und das Gehirn als virtuelles Organ deutet. Gissel befindet sich damit im Einklang mit dem alten neurodidaktischen Denkkollektiv, das den Ansatz am ineffektiven Einzelnen zum Verschwinden bringt (vgl. Meyer-Drawe 2008). Mit der Behauptung »jede Erfahrung des Körpers ist eine identitätsbildende Erfahrung« (Gissel 2007, S. 16), rächt sich der obige Pauschalangriff: Schizophrene, Menschen mit Amputationen, Folteropfer, Autisten u.a. offenbaren, dass es auch dissoziati-
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ve Erfahrungen gibt und der Identitätsbegriff hier nur einen Paravent vor das zu Verstehende schiebt. Im Paradigma der Neurowissenschaften lässt sich dann jedes unangepasste Verhalten als Hirnstörung interpretieren (Salascheck 2012, S. 199). Individualität tritt nur mehr als Messfehler oder Abnormität in Erscheinung. Erst auf Basis der Konstitutionshypothese wäre aber eine Erklärung mit Bezug zu körperlichen Aktionen in bestimmten Umwelten möglich, die den alten Identitätsbegriff aussetzen. Eine phänomenologisch gerahmte Neurowissenschaft wäre dann verpflichtet, die »embodied, enactive, and contextual nature of perception« (Gallagher & Zahavi, 2012, S. 241) in den Mittelpunkt zu stellen und eine einsinnige biologistische Dateninterpretation zu verhindern.
5.
Chancen für die Verknüpfung von Neurowissenschaften und Neurophänomenologie
Bisher wurde am Beispiel der Sportwissenschaft deutlich: Sie konnte sich zwar auf kompakte Entwürfe körperbasierter Epistemologien berufen, aber hat dies vordergründig im Rahmen von Fitnessdiskursen genutzt, um auf direkte Outputs sportlicher Tätigkeiten für kognitive Leistungssteigerungen verweisen zu können. Das genuine Thema des Eigenwerts koordinativer Lernprozesse, emotionaler Qualitäten und Ausdrucksdimensionen hat darunter gelitten; übrig geblieben ist eine »›flattened‹ biomedical epistemology« (Rose 2006). Die Idee der Körperlichkeit von Wissen und das Ende des Körper-Geist-Dualismus bergen aber noch immer ein weit interessanteres Potential.
5.1
Körperlichkeit von Wissen
In der Wissenssoziologie und Tanzforschung spielte der Begriff des Körperwissens in den letzten Jahren eine ansteigend wichtige Rolle (Hirschauer 2008, Klinge 2008, Keller & Meuser 2011). Er geht auf Michael Polanyi zurück, der über Donald Schön und Theodore Schatzki Einfluss auf Konzepte für den Aufbau von Wissen genommen hat (Knorr-Cetina 2001). Als Ursprungstext kann Polanyis »The Tacit Dimension« (1966) gelten, das 1985 unter dem Titel »Implizites Wissen« auf Deutsch erschien und unter anderem von Neuweg (»Könnerschaft und implizites Wissen«, 1999) lerntheoretisch weiter ausgebaut wurde. Polanyi beobachtet das Beobachten der Entstehung von Wissen: »The experimenter observes that another person has a certain knowledge that he cannot tell, and so no one speaks of a knowledge he himself has and cannot tell« (1966, S. 8). Tacit knowledge wird als Relation zwischen dem ersten und zweiten Term einer Beziehung konzipiert, die zwei verschiedene Arten von Wissen kombiniert: »Such is the functional relation between the two terms of tacit knowing: we know the
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first term only by relying on our awareness of it for attending to the second« (1966, S. 10). Über den »proximalen« Term können wir nicht sprechen, er ist strukturell unbewusst. »We may say, in general, that we are aware of the proximal term of an act of tacit knowing in the appearance of its distal term, we are aware of that from which we are attending to another thing, in the appearance of that thing. We may call this the phenomenal structure of tacit knowing« (ebd., S. 11). Dinge werden uns bewusst anhand von »going on inside our body in terms of the position, size, shape, and motion of an object, to which we are attending« (ebd., S. 13). Die Selbstwahrnehmung in Relation zur Außenwelt beruht also auf komplexen Inkorporationen, deren Resultate wir realisieren. Probleme identifizieren bedeutet, etwas zunächst verborgen Vorhandenes zu differenzieren: »we can have a tacit foreknowledge of yet undiscovered things« (S. 23). Die Rehabilitation von Intuition für praktische Entscheidungsprozesse (vgl. Kibele 2002, Raab & Laborde 2011, Hotz 2011) lässt sich damit in einem phänomenologisch eingebetteten neurowissenschaftlichen Konzept strukturell begründen. Für sportliche Handlungen impliziert dies, dass körperliche Wissensformen unterschiedlich bewusste Integrationsgrade aufweisen können. Was zunächst kaum mehr als ein metaphorischer Brückenschlag zu sein schien, wird allmählich zu einem Forschungsprogramm, in dem sich Neurowissenschaften und Neophänomenologie begegnen können. Knoblauch (2003) bringt die vielfältigen, in den letzten 20 Jahren ausgerufenen Turns auf den gemeinsamen Nenner des »Endes der linguistischen Wende« als Konsequenz der Aufmerksamkeitsdrift weg vom Sprachsystem hin zur Sprachverwendung und Gestenforschung – weswegen sich die Sektion Sprachsoziologie zur Wissenssoziologie umorientiert habe (2003, S. 18). Die Entdinglichung des Sozialen sieht Knoblauch auch in den methodischen Dogmen begründet, die die deutsche Soziologie prinzipiell einer Telefonauskunft ähnlich mache: »talking heads about talking heads« (ebd., S. 85) – dies wird unter dem aktuellen Management von Corona noch einmal verschärft (vgl. https://kulturwissenschaften.de/aktuelles /reichertz-aufruf-forum). Hirschauer (2008) somatisierte den Wissensbegriff weiter, der zunächst die Wissensabhängigkeit und diskursive Determiniertheit des Körpers deutlich mache (2008, S. 83): Der Körper wird mit einer Schreibfläche verglichen, der das hergeben muss, »was man von ihm verlangt«. Der Körper aber ist Träger impliziten Wissens, das nicht einfach abfragbar ist, sondern im Verhalten sichtbar wird, sich intersubjektiv nachvollziehbar zeigt. Hier ist anzumerken, dass neuerdings auch die Verkörperlichung der Soziologie durch denselben Autor kritisiert wird.8 Eine Entfaltung des Körperwissen-Konzepts lässt sich mit Ansätzen der Philosophy of Cognition konzeptionell begründen. Bockrath (2008) nutzt die Begriffe 8
Vortrag »Verkörperung der Sinnschicht« von Stefan Hirschauer am 26.11.2021 auf der OnlineTagung »Verkörperte Gesellschaft Revisited« der DGS.
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des impliziten und körperlichen Wissens, was zur Vermeidung verkürzter Kompetenzdiskurse nutzbar gemacht werden kann, indem auf die unbewussten Anteile nicht verzichtet wird: »consciousness emerges gradually from the ›mindlessness of a slug« […] the long distance driver(s) […] have no memory of the past« (Sage 2011).9 Auf diese Weise wird deutlich, dass mit Körperwissen eine geeignete Leitmetapher zur Verfügung steht, um Kompetenzen unter Einbezug körperlicher Wahrnehmungen, körperlicher Erfahrung und körperlicher Erkenntnis in einem genuinen Ansatz erfassen zu können. Körperwissen wird dabei als Kategorie eingeführt, die auch implizite Kompetenzen bezeichnet, die weder mit kognitivem Wissen (knowing that) noch mit handwerklichem Können (knowing how) identisch sind, sondern deren assoziative Integration meinen. Körperwissen meint also nicht Gewusstes über den Körper, sondern die nicht bewusst zugänglichen Wissensbestände, die durch körperliche Aktionen fest im (leiblichen) Gedächtnis verankert werden. Seine zentralen Kennzeichen sind Implizitheit, Stabilität, Vernetzung und Handlungsrelevanz. Intentionalität ist damit nicht suspendiert, aber rückgebunden an Intuitionen als alltagsrelevanten Ankern für Entscheidungen.
5.2
Bildungsrelevante Bezüge
Gängige Kompetenzkonzepte der empirischen Erziehungswissenschaft verzichten leichtfertig auf bildungstheoretische Bezüge im Interesse forschungsökonomisch griffiger Operationalisierungen. Allerdings ist es auch für die Pädagogische Psychologie ein offenes Geheimnis, dass es sich dabei um vereinfachte, Performanz lastige Konstruktionen handelt, wie selbst Klieme & Hartig (2007) konzedieren. Unter Einbeziehung von Körperlichkeit ist eine Neubestimmung möglich, wie es Reinders (2007) und Pfadenhauer (2010) als Desiderat benannt haben, nämlich unter Einbeziehung des Körpers und seiner reflexiven Möglichkeiten Differenzen zu setzen. Als Alternative zu atomistischen Ansätzen müssten nicht pauschal ganzheitliche Herangehensweisen (z.B. Seewald 2000) gelten, sondern solche, die eine angemessene Komplexität bewahren; Ganzheitlichkeit wird hier also übersetzt als integrierte Komplexität, deren interne Bezüge zu klären sind. Gefragt werden soll u.a. nach der Beziehung von Wissen und Können. The »knowledge that I have of my own body differs altogether from the knowledge of its physiology […]. But suppose that tacit thought forms an indispensable part of all knowledge, then the ideal of eliminating all personal elements of knowledge would, in effect, claim at the destruction of all knowledge. The ideal of exact 9
Sage spricht übrigens zwar von Emergenz, definiert Bewusstsein dann aber als Summe von Informationsaufnahmekapazität plus Information, sodass ihm der geknüpfte Faden der strukturellen Integrationseffekte wieder aus der Hand läuft.
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science would turn out to be fundamentally misleading and possibly a source of devastating fallacies« (Polanyi 1966, S. 20). Darüber hinaus interessieren auch die lebenszeitlichen Verläufe erneut. Neurobiologische Befunde über die zweifellos gegebene Bedeutung der ersten drei Lebensjahre für den Aufbau von irreversiblen Verschaltungen im Gehirn bergen Gefahren: die Verschulung der frühen Kindheit, die Vernachlässigung der späteren Plastizität – kein ernsthafter Neurologe würde Derartiges fordern. Übersetzungsarbeit ist hier notwendig, wie sie die Philosophy of Cognition zu leisten versucht – und die populäre Neurodidaktik, Beifall heischend, verfehlt. Polanyis zukunftsweisendes Theorem stellt zum ersten Mal in der Wissenschaftsgeschichte die basale Bedeutung strukturell schweigenden Wissens heraus, das zudem als persönlich gekennzeichnet ist. Dass wir über letzte Dinge zwar streiten können, jedoch nie zu einem Konsens kommen, dürfte an ihren schweigenden Gründen liegen. Dieser Gedanke weist über die Rehabilitation handwerklichen Könnens als Wissen weit hinaus, Einen ersten Versuch der Zusammenschau bietet das Handbuch »Schweigendes Wissens« (Kraus, Budde, Hietzge, Wulf 2017). Schweigendes Wissen ist dennoch nicht empirisch völlig unzugänglich, vielmehr können sich Wissensbestände in Handlungszusammenhängen zeigen (Volbers 2011) und sind so der Rekonstruktion partiell zugänglich. Am Gezeigten können implizite Kompetenzen in ihrer situativen Aktualisierung sichtbar werden. Der Körper erwirbt in der Auseinandersetzung mit der Umwelt ein mit deren Regelmäßigkeiten harmonisiertes System von Dispositionen, was mehr impliziert, als eine Bourdieu’sche Gedächtnisstütze zu sein, denn es wird vorab strukturiert, was wie erleb- und erfahrbar wird, woran Teilhabe möglich wird etc. Der Begriff des Embodiment/Embodying indiziert insgesamt die entscheidende Wende der Kognitionswissenschaft hin zur Zentralstellung körperlicher Prozesse für intelligentes Verhalten, die die Rede von der Wechselwirkung von Körper und Psyche (vgl. Storch, Cantieni, Hüther & Tschacher 2006) als kontraproduktiv erweist, da dies nach wie vor sauber trennbare Entitäten unterstellt. Wenn von Embodiment im Sport die Rede ist, überrascht bisweilen die Oberflächlichkeit des Bezugs. So beschreibt in einem Interview mit der AOK die Ulmer Sportwissenschaftlerin Sabine Kubesch (Transferzentrum für Neurowissenschaften Ulm), warum Sport so wichtig sei: für die Erhöhung der Konzentrationsfähigkeit, die Steigerung der Dopamin-Konzentration, die Aktivierung durch mehr Noradrenalin, die Angstreduktion durch Serotonin etc. – wobei die emergente Komplexität der Prozesse im chemischen Experimentierkasten vollständig verloren geht. Vielmehr gilt, den Diskurs der Neurowissenschaften skeptisch zu betrachten, wo vorschnelle neurodidaktische Schlüsse gezogen werden, wo z.B. das Unterrichtsfach »Glück« eingeklagt wird (Fritz-Schubert 2008) oder der curriculare Inhalt »mentale Stärke entwickeln« (vgl. Knörzer & Schley 2010) zweifelhafte historische Assoziationen aufruft. Gehirnbiologische Forschungsparadigmen
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»paaren sich vortrefflich mit effizienzorientierten Bildungsideen und Erziehungsdoktrinen« (Thole 2009, S. 315): Disziplin, Gehorsam, Selektion – just das Gegenteil dessen, was der Neurobiologe Hüther folgert, nämlich eine vollständig an durchaus ungeklärten Potentialen orientierte Revision des deutschen Schulsystems (taz, 5.9.2012). Entscheidend ist vielmehr, der Medikalisierung pädagogischer Diskurse und der Zerebralisierung des Lernens zu begegnen, die durch seriöse neurowissenschaftliche Befunde gerade nicht gestützt wird. Dagegen können Forschungsprogramme zur Subjektivierung in sozialwissenschaftlichen Kontexten für die neuere interaktionistische Kognitionsforschung einen wichtigen Bezug herstellen, dem zufolge Embodiment mentale und sprachliche Kategorisierung formt (e. g. Rohrer 2007). Möglicherweise könnte dies auch einer Integration eines gemeinsamen Gegenstands der Sportwissenschaft als Wissenschaft vom bewegten Körper zuträglich sein, die bisher an der Unvereinbarkeit der Paradigmen scheitert. Relevanzen und Perspektiven in Handlungsvollzügen sowie implizite Gedächtnisprozesse auf sensomotorischer Basis sind unabdingbare Elemente einer adäquaten Theorie des menschlichen Bewusstseins (Wilson 2004). Die Verknüpfung heterogener Ansätze unter der Ägide der Philosophy of Cognition ermöglicht eine vertiefte Sicht auf die Zusammenhänge zwischen Wahrnehmung, Erleben, Erfahrung, Erkenntnis und stellt damit eine körperbezogene Alternative in Anbetracht des bildungspolitisch-erziehungswissenschaftlichen Qualitätsdispositivs dar. Früher mythisch anmutende Bezeichnungen wie der der Intuition lassen sich als stummes Vorwissen von noch nicht sprachlich explizierter Reflexion sachlich fassen, was einen Rest von Unbestimmtheit (Marotzki 1990) für Bildungsprozesse zwingend und logisch begründet erhält.
6.
Fazit
Neurodidaktik hat sich als Sammelbegriff für verschiedene anwendungsorientierte Ansätze etabliert, die für sich in Anspruch nehmen, didaktische bzw. pädagogische Konzepte unter wesentlicher Berücksichtigung der Erkenntnisse der Neurowissenschaften zu entwickeln. Alles in allem kann aus den aktuellen Forschungsbefunden lediglich die Schlussfolgerung gezogen werden, »dass physische Aktivität zwar zu einer Veränderung […] schwer zu definierender Prozesse führt, jedoch […] kaum zu spezifischen kognitiven Veränderungen« (Mulder 2007, S. 208). Die Proliferation populärwissenschaftlicher Veröffentlichungen unter dem Neuro-Label hat seit den 1990ern ungeachtet der von Friedrich (2005) klar formulierten Grenzen naturalistische Fehlschlüsse produziert, die die Bedingungen von Lernen normativ deuten und insbesondere die frühkindliche Erziehung zu überfrachten drohen. Die Ergebnisse der Hirnforschung sind jedoch viel zu unspezifisch bzw. physiologisch
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detailliert, als dass sich direkte didaktische Folgerungen daraus ziehen ließen. Das vertiefte Verständnis neurobiologischer Abläufe kann pädagogisches Handeln absichern, begründet aber keine mechanistischen Handlungsrezepte für die Artikulation von Lerngelegenheiten (Thole 2009, S. 313). Insbesondere die Umweltabhängigkeit neuronaler Plastizität könnte hier von Interesse sein (vgl. Rittelmeyer 2002). Die Logik neurowissenschaftlicher Forschung bliebe andernfalls nicht darauf beschränkt, Wissen über Steuerungsfunktionen zu generieren, sondern schriebe sich über Selbstverbesserungsdispositionen auf fatale Weise in den Körper ein. Die Anlehnung an die phänomenologisch inspirierten Ansätze der Philosophy of Cognition liefert zurzeit zumindest einen sinnvollen Referenzrahmen, um eine gleichberechtigte Begegnung von Neuro- und Erziehungswissenschaft zu begründen und den Aufbau von Körperwissen im Sinne einer Rückfrage an die Neurowissenschaften zu stellen, das sich auf die Ebenen von Wahrnehmung, Erleben, Erfahrung und Erkenntnis beziehen kann. Die verlockende Aussicht auf eine generelle Legitimation von Sport erliegt jedoch einem Kurzschluss, Lernen beinhaltet mehr als das Wachstum von Synapsen oder chemische Konzentrationsveränderungen. Vor allem erscheint es kontraindiziert, Heranwachsenden einen biochemischen Begriff des Selbst mit auf den Weg zu geben, der ihnen eine somatische Selbstverantwortung auferlegt, die diskursiv zum »spirit of biocapital« (Rose 2007) anschlussfähig ist und selbstkontrollierende Apps anheim gibt, die Praktiken des Quantified Self Vorschub leisten.
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Autor*innenverzeichnis
Franz Bockrath (geb. 1958), Prof. am Institut für Sportwissenschaften der Technischen Universität Darmstadt. Schwerpunkte: Kulturgeschichte des Sports und Philosophie der Zeit und der Bewegung. Letzte Buchveröffentlichungen: Zeit, Dauer und Veränderung. Zur Kritik reiner Bewegungsvorstellungen (2014); Stadtraum und Sportkultur (2017); Kraft, Körper und Geschlecht (Hg. zus. mit K. Schulz: 2018); Sport und Skandal (Hg. 2021). Kontakt: [email protected]; 06151-16 24115. Henning Eichberg (geb. 1942, gest. 2017) ab 1982 Professor für Soziologie an den Universitäten Odense und Kopenhagen. Forschungsschwerpunkte: Geschichte des Körpers, Soziologie und Anthropologie der Bewegungskultur, Raum und Bewegung, soziale Bewegungen und methodische Fragen. Mitbegründer verschiedener internationaler Forschungsnetzwerke. Publikationen: Kultursoziologische Studien über Indonesien, Syrien, Grönland, Irland, Bretagne, Analysen zur Technikgeschichte und Entwicklung des Sports, gesellschaftspolitische Kommentare in Deutsch und Dänisch sowie zahlreiche Übersetzungen ins Englische, Französische, Finnische, Japanische und Chinesische. Elk Franke (geb. 1942) Professor für Sportsoziologie bzw. Sportphilosophie/ Sportpädagogik an der Universität Osnabrück (bis 1994), der Humboldt-Universität zu Berlin (bis 2009), der Universität Bremen (bis 2013). 1989 – 1991 Präsident der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft und Mitglied im dortigen Ethikrat (2004-2010). Forschungsschwerpunkte: Ethik und Ästhetik des Sports, Handlungstheorie sowie Bildungstheorie im Sport. Publikationen: Aufsätze und Bücher zu diesen Themen (vgl. www.sportphilosophie.de). Kontakt: [email protected] u. [email protected] Maud Hietzge Dr. Akad. ORätin, PH Freiburg seit 2003, FACE-Kooperation zur Lehrerbildung mit Universität Freiburg. ECER-Sektion Sportpädagogik. Lehrschwerpunkt Sportpädagogik und Spiele, Forschungsschwerpunkte: Videographische Unterrichtsforschung/Praxeologie, Körperwissen/Körpersoziologie,
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Wissen um die Form. Zur Voraussetzung kultureller Theoriebildungen
Interpretative Methoden der qualitativen Sozialforschung, künstlerische Forschung zum Weltkulturerbe Tango. Kontakt: [email protected] Sabine Huschka (geb. 1964) lebt und arbeitet als Tanz- und Theaterwissenschaftlerin in Berlin. Zzt. wiss. Mitarbeiterin im Graduiertenkolleg »Das Wissen der Künste« an der Universität der Künste Berlin. Zuvor Leitung des DFGForschungsprojekts »Transgressionen. Energetisierung von Körper und Szene« (2015-2020). Habilitation (Uni. Leipzig) zur Wissenskultur Tanz. Internationale Vertretungsprofessuren für Performance Studies, Theater- und Tanzwissenschaft und diverse Publikationen (www.tanz-wissen), u.a. »Choreographierte Körper im theatron u. Theorie ästhetischen Wissens« (2020), »Moderner Tanz. KonzepteStile-Utopien« (2002/2012). Kontakt: [email protected] Jürgen Kriz (geb. 1944), Prof. Dr. em. für Psychotherapie und Klinische Psychologie an der Universität Osnabrück, hatte auch Professuren in Statistik, Forschungsmethoden und Wissenschaftstheorie an sozialwissenschaftlichen Fakultäten; Gastprofessuren in Wien, Zürich, Berlin, Riga, Moskau und den USA, approbierter Psychotherapeut, Ehrenmitglied etlicher Psychotherapieverbände; Auszeichnungen u.a.: Viktor-Frankl-Preis (Wien 2004), AGHPT-Award (Berlin 2014), Margrit-Egnér-Preis (Zürich 2019), Bundesverdienstkreuz (2020); 25 Bücher und rd. 300 Fachpublikationen, Hg. der Reihe »Basiswissen Psychologie« (Springer, zzt. 30 Bände). Kontakt: [email protected] Hans Lenk (geb. 1935), Prof. Dr. em. für Philosophie am KIT/Universität Karlsruhe, Olympiasieger 1960 (Rudern, Achter), Co-Trainer WM-Achter 1966. Ehem. Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, Vizepräsident der Weltgemeinschaft für Philosophie (FISP), 2005-2008 Präsident des Institut International de Philosophie (Weltakademie der Philosophie, Paris), seit 2008 Ehrenpräsident des I.I.P. Publikationen: 160 Bücher in 20 Sprachen. Kontakt: [email protected] Georg Mohr (geb. 1956) studierte Philosophie, evangelische Theologie und Erziehungswissenschaften. Promotion 1989, Habilitation 1996 in Philosophie. Seit 1998 Prof. für praktische Philosophie an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik (u.a. Musikphilosophie), Praktische Philosophie (Moralphilosophie, Rechtsphilosophie), Theoretische Philosophie, Geschichte der Philosophie. Publikationen in diesen Bereichen u.a. Das sinnliche Ich. Sinn und Bewußtsein bei Kant (1991), ein Werkkommentar zur Kritik der reinen Vernunft (Suhrkamp 2004,
Autor*innenverzeichnis
aktuelle Neuauflage), mit L. Sieb (Hg.) zur Ethik und politischen Philosophie (1997), mit J. Kreuzer (Hg.) zur Philosophie der Musik (2012). Kontakt: [email protected] Jörg Potrafki (geb. 1961) beendete 1990 das Studium an der Freien Universität Berlin mit dem ersten Staatsexamen in den Fächern Sport und Sozialkunde. Seit 1993 unterrichtete er als Studienrat an einem Berliner Oberstufenzentrum Politikwissenschaft und Sport. 1912 promovierte er in Erziehungswissenschaft an der FU Berlin mit einer soziokulturellen Arbeit zur japanischen Fechtkunst Kendo. 1919 beendete er altersbedingt den Schuldienst. Als international anerkannter Kendo-Lehrer mit dem 7. Dan besucht er regelmäßig Japan zu Trainingszwecken. Kontakt: [email protected] Oswald Schwemmer (geb. 1941) war zunächst ab 1982 Professor für Philosophie in Marburg und Düsseldorf sowie ab 1993-2011 für Anthropologie, Kulturphilosophie und Wissenschaftstheorie der Kulturwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Publikationen: Zahlreiche Aufsätze und Bücher zu den genannten Forschungsschwerpunkten unter besonderer Berücksichtigung spezieller Fragen wie Willensfreiheit, Kunstrezeption, mediale Repräsentation, neuronale Entwicklungen etc. Von besonderer Bedeutung ist die Cassirer-Rezeption (seit 1995 Herausgabe nachgelassener Texte von Ernst Cassirer mit K.Ch. Köhnke u. J. Krois).
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Kulturwissenschaft Tobias Leenaert
Der Weg zur veganen Welt Ein pragmatischer Leitfaden Januar 2022, 232 S., kart., Dispersionsbindung, 18 SW-Abbildungen 20,00 € (DE), 978-3-8376-5161-4 E-Book: PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5161-8 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5161-4
Michael Thompson
Mülltheorie Über die Schaffung und Vernichtung von Werten 2021, 324 S., kart., Dispersionsbindung, 57 SW-Abbildungen 27,00 € (DE), 978-3-8376-5224-6 E-Book: PDF: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5224-0 EPUB: 23,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-5224-6
Erika Fischer-Lichte
Performativität Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2021, 274 S., kart., Dispersionsbindung, 3 SW-Abbildungen 23,00 € (DE), 978-3-8376-5377-9 E-Book: PDF: 18,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5377-3
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Kulturwissenschaft Stephan Günzel
Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2020, 192 S., kart. 20,00 € (DE), 978-3-8376-5217-8 E-Book: PDF: 16,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5217-2
Maximilian Bergengruen, Sandra Janßen (Hg.)
Psychopathologie der Zeit Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2021 Januar 2022, 176 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-5398-4 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5398-8
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)
POP Kultur und Kritik (Jg. 10, 2/2021) 2021, 176 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-5394-6 E-Book: PDF: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-5394-0
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