Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt: Bericht über die 4. Arbeitstagung, Wien 14. und 15. April 1971 [Reprint 2019 ed.] 9783110655766, 9783486477818


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German Pages 329 [328] Year 1974

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Inhalt
Vorwort
Alfons Dopsch und die Wiener Schule der Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Die Wirtschaftspolitik der österreichischen Landesfürsten im Spätmittelalter und ihre Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt
Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt in den Niederlanden vom Spätmittelalter bis zur Schwelle des Industriezeitalters
Entstehung, Entwicklung und Gliederung der gewerblichen Arbeiterschaft in Nord Westdeutschland 1800—1875. Unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses staatlicher Maßnahmen
Der Einfluß der Eisenbahnpolitik auf die Struktur der Arbeitsmärkte im Zeitalter der Industrialisierung
Strukturelle Krisen im ländlichen Textilgewerbe Nordwestdeutschlands zu Beginn der Industrialisierung
Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt in der Schweiz im 19. Jahrhundert
Der Arbeitsmarkt der Dienstboten im 17., 18. und 19. Jahrhundert
Zeitgenössische deutsche Reflexionen über die Rolle des Faktors Arbeit in den frühen Phasen der britischen Industrialisierung (1750—1850)
Arbeitslosenversicherung vor 1914: Das Genter System und seine Übernahme in Deutschland
Das Reichsministerium für Wiederaufbau in seiner wirtschaftspolitischen Funktion für den Arbeitsmarkt 1919/20
Diskussion
Schlußbetrachtung. Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt vom Spätmittelalter bis zur Industrialisierung
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Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt: Bericht über die 4. Arbeitstagung, Wien 14. und 15. April 1971 [Reprint 2019 ed.]
 9783110655766, 9783486477818

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W I R T S C H A F T S P O L I T I K UND ARBEITSMARKT

SOZIAL-

U N D WIRTSCHAFTSHISTORISCHE

STUDIEN

Herausgegeben von A L F R E D H O F F M A N N und M I C H A E L

MITTERAUER

Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Universität Wien

Wissenschaftliche A r b e i t a u f d e m G e b i e t d e r S o z i a l - u n d Wirtschaftsgeschichte steht heute in e i n e m b e s o n d e r e n S p a n n u n g s f e l d . D i e Geschichtswissenschaft erkennt i m m e r k l a r e r d i e B e d e u t u n g gesellschaftlicher G r u n d l a g e n f ü r d i e B e a n t w o r t u n g ihrer F r a g e s t e l l u n g e n . T r a d i t i o n e l l e T h e m e n m ü s s e n u n t e r diesem A s p e k t neu durchdacht w e r d e n . V o n Seiten d e r S o z i a l w i s s e n s c h a f t e n e r f ä h r t d i e historische D i m e n s i o n s t ä r k e r e B e a c h t u n g — ein reiches A u f g a b e n f e l d f ü r die ihr n a h e s t e h e n d e n historischen T e i l disziplinen. D i e „ S o z i a l - und wirtschaftshistorischen S t u d i e n " b e m ü h e n sich u m einen möglichst weiten thematischen R a h m e n . S o w o h l S p e z i a l u n t e r suchungen w i e Ü b e r b l i c k s d a r s t e l l u n g e n w e r d e n A u f n a h m e finden. N e u zeitliche u n d mittelalterliche A r b e i t e n sollen e i n a n d e r das G l e i c h g e w i c h t h a l t e n . V o n P r o b l e m s t e l l u n g u n d Q u e l l e n l a g e her ergibt sich i n s o f e r n ein räumlicher A k z e n t — i m M i t t e l p u n k t stehen Österreich u n d seine N a c h b a r l ä n d e r —, als d i e v e r ö f f e n t l i c h t e n U n t e r s u c h u n g e n in erster L i n i e aus d e r F o r s c h u n g s a r b e i t a m I n s t i t u t f ü r Wirtschafts- und Sozialgeschichte der U n i v e r s i t ä t Wien h e r v o r g e h e n .

WIRTSCHAFTSPOLITIK UND ARBEITSMARKT Bericht über die 4. Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Wien am 14. und 15. April 1971

Im Auftrag der Gesellschaft herausgegeben von

HERMANN K E L L E N B E N Z

R. O L D E N B O U R G

i)

VERLAG MÜNCHEN

1974

© 1974 Verlag f ü r Geschichte und Politik Wien Druck: R. Spies & Co., 1050 Wien Einband: Renate Usdian-Boyer ISBN 3-486-47781-1 Auch erschienen im Verlag f ü r Geschichte und Politik Wien ISBN 3-7028-0070-Q

INHALT

Vorwort

7

ALFRED HOFFMANN Alfons Dopsch und die Wiener Schule der Wirtschafts- und Sozialgeschichte

9

MICHAEL MITTERAUER Die Wirtschaftspolitik der österreichischen Landesfürsten im Spätmittelalter und ihre Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt

15

J A N A. V A N HOUTTE und R A Y M O N D V A N UYTVEN Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt in den Niederlanden vom Spätmittelalter bis zur Schwelle des Industriezeitalters

47

K A R L H E I N R I C H KAUFHOLD Entstehung, Entwicklung und Gliederung der gewerblichen Arbeiterschaft in Nord Westdeutschland 1800—1875. Unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses staatlicher Maßnahmen

69

FRITZ B L A I C H Der Einfluß der Eisenbahnpolitik auf die Struktur der Arbeitsmärkte im Zeitalter der Industrialisierung . . . .

86

GERHARD ADELMANN Strukturelle Krisen im ländlichen Textilgewerbe Nordwestdeutschlands zu Beginn der Industrialisierung

110

6

Inhalt

E R I C H GRUNER Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt in der Schweiz im 19. Jahrhundert

129

ROLF ENGELSING Der Arbeitsmarkt der Dienstboten im 17., 18. und 19. Jahrhundert

159

H A N S J. TEUTEBERG Zeitgenössische deutsche Reflexionen über die Rolle des Faktors Arbeit in den frühen Phasen der britischen Industrialisierung (1750—1850)

238

HANSJOACHIM HENNING Arbeitslosenversicherung vor 1914: Das Genter System und seine Übernahme in Deutschland

271

H U G O OTT Das Reichsministerium für Wiederaufbau in seiner wirtschaftspolitischen Funktion für den Arbeitsmarkt 1919/20

288

DISKUSSION

307

H E R M A N N KELLENBENZ Schlußbetrachtung. Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt vom Spätmittelalter bis zur Industrialisierung

320

VORWORT

Auf der dritten Tagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Mannheim im Frühjahr 1968 wurde beschlossen, die nächste Veranstaltung in Wien abzuhalten, zumal eine Einladung von Herrn Kollegen A. H o f f m a n n vom Institut f ü r Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien vorlag. Diese Tagung wurde am 14. und 15. August 1971 in den Räumen der Wiener Universität durchgeführt. Entsprechend dem Mannheimer Beschluß standen Zusammenhänge zwischen der Wirtschaftspolitik und dem Arbeitsmarkt im Mittelpunkt. Das Schwergewicht lag auf der Phase der Frühindustrialisierung bzw. dem Industriezeitalter, aber entsprechend den früheren Veranstaltungen wurden, um den historischen Rahmen nicht zu eng zu halten, auch zwei Themen aufgenommen, die den spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Verhältnissen galten. Es referierten die Herren Alfred H o f f m a n n (Wien), Michael Mitterauer (Wien), J. A. van H o u t t e (Löwen) und R. van Uytven (Gent), Karl Heinrich Kaufhold (Göttingen), Fritz Blaich (Regensburg), Gerhard Adelmann (Bonn), Erich Gruner (Bern), Rolf Engelsing (Berlin), H a n s J. Teuteberg (Hamburg), Hansjoachim Henning (Tübingen), H u g o Ott (Freiburg i. Br.) sowie Willi Boelcke (Hohenheim), dessen Vortrag als Uberleitung zur Mitgliederversammlung der Gesellschaft f ü r Agrargeschichte und Agrarsoziologie gedacht war. Allen Referenten, ebenso den Herren, die zur Diskussion sprachen, sei gedankt. G a n z besonders sei H e r r n Kollegen H o f f m a n n und seinen Mitarbeitern d a f ü r gedankt, daß sie es auf sich nahmen, die Tagung vorzubereiten und uns die Gastfreundschaft der Wiener Universität sicherten. Jeder, der an diesen schönen Apriltagen als Teilnehmer in Wien weilte, wird sich auch gerne an den Empfang erinnern, den Frau Bundesminister f ü r Wissenschaft und Forschung Dr. Hertha

Vorwort

8

Firnberg uns gab, und ebenso wird allen, die Zeit und Gelegenheit hatten, die schöne Exkursion mitzumachen, das Burgenland unvergessen bleiben. Die Referate, soweit sie von den Referenten zur Verfügung gestellt wurden, und die Diskussionsbeiträge werden hier in Drude vorgelegt. Die Gesellschaft bezeichnet es als besonderes Glück, daß Herr Hoffmann die von ihm begründete Schriftenreihe zur Verfügung stellte. Nürnberg, Herbst 1973

H. Kellenbenz

ALFRED HOFFMANN

ALFONS D O P S C H UND DIE WIENER SCHULE DER WIRTSCHAFTS- UND SOZIALGESCHICHTE

Der Versuch, mit wenigen Strichen die charakteristischen Züge der Situation der Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der philosophischen Fakultät der Wiener Universität im Zusammenhang mit dem Werdegang dieses Instituts zu zeichnen, f ä l l t mir angesichts der damit verbundenen, recht komplexen Probleme und Imponderabilien nicht ganz leicht. Im übrigen k a n n ich auf zwei Studien unseres Kollegen Hassinger hinweisen, in denen ausführlich auf die Entwicklung der Wirtschaftsgeschichte in Österreich und auf seine hohen Schüler eingegangen w i r d . Fassen wir zunächst die Person des Institutsgründers, Professor Alfons Dopsch, ins Auge, der von 1898 bis 1936 hier gewirkt hat, so ergab sich seine Zuwendung zur Wirtschaftsgeschichte aus seinem eigenen Entwicklungsgang. Ausgebildet an der klassischen Schule der Hilfswissenschaften, nämlich dem 1854 gegründeten Wiener Institut für österreichische Geschichtsforschung, wurde er als Mitarbeiter der Monumenta Germaniae vor allem mit dem Zeitalter der Karolinger enger vertraut. Daraus sind nachfolgend die beiden S t a n d a r d w e r k e über die Wirtschaftsentwicklung dieser Periode und über die Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung erwachsen. Diese beiden W e r k e haben gewissermaßen auch für die bei der 1922 erfolgten Gründung dieses Instituts verwendete Bezeichnung „Seminar für Wirtschafts- und Kulturgeschichte" Pate gestanden. Der sehr vielseitig veranlagte Gelehrte hat aber seine ersten, heute noch grundlegend gebliebenen wissenschaftlichen Veröffentlichungen der zu Beginn seines Wirkens eben emporblühenden Sonderdisziplin der sogenannten österreichischen Reichsgeschichte, d. h. der inneren Geschichte der Staatwerdung und Struktur der Donaumonarchie, gewidmet. Daraus ergaben sich wiederum starke Beziehungen zur Rechtsgeschichte, zur Landesgeschichte und auch

10

Alfred H o f f m a n n

zur Ständegeschichte, insbesondere f ü r die Zeit des hohen und auch späteren Mittelalters. Weiters hat Dopsch infolge der seitens der Akademie der Wissenschaften auf Antrag Inama-Sterneggs ihm übertragenen Ausgabe der mittelalterlichen landesfürstlichen Urbare seit 1900 eine Hinwendung zur eigentlichen Wirtschaftsgeschichte, insbesondere der Agrargeschichte und Geschichte der Grundherrschaft vollzogen. In diesem Zusammenhang muß aber darauf hingewiesen werden, daß Dopsch nicht sozusagen der Begründer der Wirtschaftsgeschichte gewesen ist, die, wie Hassinger gezeigt hat, schon auf eine Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzende landesgeschichtliche Forschung zurückreicht. Dopsch hatte nie einen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeschichte inne, sondern einen solchen für allgemeine und österreichische Geschichte; jedoch war seiner kraftvollen, organisatorisch hervorragend begabten Persönlichkeit eine befriedigende Wirksamkeit im traditionellen Rahmen des Instituts für Geschichtsforschung versagt geblieben, und daher hat er schließlich beim Ministerium die Gründung eines eigenen Seminars durchgesetzt. Wie erst jüngst einer seiner bedeutendsten Schüler, nämlich Theodor Mayer, hervorhob, hatte Dopsch, der ein ganz hervorragender Lehrer war, eine seinerzeit geradezu als revolutionär empfundene Wendung in der Geschichtsbetrachtung herbeigeführt. Suchte er einerseits die herrschenden Dogmen der rechtshistorischen Schule zu brechen, so warnte er andererseits vor jeder romantischen Verklärung der „großen Geschichte", und ein strenger, kritischer Realismus durchzog seine ganze Methode. Jedoch hat, typisch für die österreichische Geschichtswissenschaft, Dopsch nie ein theoretisch fundiertes Programm entwickelt, obwohl er immerhin als einziger österreichischer Historiker ein Menschheitsproblem, nämlich die Kontinuitätsfrage, mit konstruktiven Thesen aufrollte. In seiner 1927 veröffentlichten Methodologie der Wirtschaftsgeschichte bringt er hauptsächlich seine Einwände gegen die herrschende Lehre der Rechtshistoriker vor, tritt f ü r empirische Beobachtungen, f ü r enge Verbindung mit der Landesgeschichte, f ü r eine von Einzelheiten ausgehende historischgenetische Erklärung der Gegenwart, eine befreiende und befruchtende Anwendung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, f ü r enge Kontakte mit Prähistorie, Geistes-, Sprachwissenschaft,

D o p s d i und die W i e n e r Wirtschaftsgeschichte

11

Archäologie, Kunstgeschichte und Geschichte ein. Gegenüber Soziologie seiner Zeit hat er jedoch starke Bedenken

der

geäußert.

Stets betonte er die N o t w e n d i g k e i t einer Loslösung von den Schranken territorialer oder völkischer Betrachtungsweisen und trachtete zu einem möglichst universalen Vergleich fortzuschreiten. Auffallend erscheint nur, d a ß Dopsch kein Verhältnis zu den wissenschaftlich bedeutenden Vertretern der N a t i o n a l ö k o n o m i e an der Wiener Universität gefunden hat; diese waren z w a r Gegner der sogenannten „Historischen Schule", lehnten jedoch keineswegs die

realistische

Wirtschaftsgeschichte

schaftsgeschichte im Sinne und

hielt

eine

ab.

Menger

Inamas als strenge

gegenseitige

Hilfestellung

von

Theorie der Wirtschaft für nutzbringend.

deutete

Wirt-

Quellenforschung Geschichte

und

Ebenso bestand

kein

K o n t a k t zu jenem Wiener Kreis, dem die 1 8 9 3 erfolgte Gründung der Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu verdanken war, wie dem Historiker Ludo Moriz H a r t m a n n , dem Ö k o n o m e n Alfred

Grünberg

und anderen,

zum Teil

auf

der

juristischen

Fakultät wirkenden Professoren. Aus der T ä t i g k e i t dieser Gelehrten sind hauptsächlich Abhandlungen zur neueren österreichischen Wirtschaftsgeschichte hervorgegangen, wobei sich auch ein starkes Interesse an der sozialen P r o b l e m a t i k der eigenen Gegenwart zeigte. Übrigens waren es gerade die bedeutendsten Schüler von Dopsch, wie Th. M a y e r , Anfang

ihrer

L. Bittner,

H . v. Srbik, die sich vor allem

wissenschaftlichen

Laufbahn

ebenfalls

schung der frühneuzeitlichen österreichischen gewidmet,

aber

späterhin

dann

mehr

der

der

am

Erfor-

Wirtschaftsgeschichte großen

politischen

Geschichte zugewendet haben. D a m i t kommen wir bereits a u f eine gewisse T r a g i k im Schicksal Dopschs und seines Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte zu sprechen. Z u r Zeit der Gründung 1922 stand Dopsch im Alter von 54 J a h r e n Laufe

im Zenit

seines langen,

bis

seines wissenschaftlichen 1953

währenden

Lebens

Ruhmes; hat

im

Dopsch

fünf Ehrendoktorate erhalten, und er war Mitglied von elf gelehrten Gesellschaften und Akademien geworden. Aus aller

Herren

Länder kamen H ö r e r in sein Seminar, in dem er bereits nach ganz modernen

Methoden,

nämlich

in

Form

einer

freien

Arbeits-

gemeinschaft mit intensiver Anregung zu selbständigem, kritischem Denken, lebhaften Debatten und Auseinandersetzungen arbeitete. Dopsch hat ferner eine eigene Publikationsreihe geschaffen, in der

12

Alfred Hoffmann

er die wertvollsten wissenschaftlichen Arbeiten seiner Schule veröffentlichte. Aber nur 14 Jahre lang existierte das Seminar als selbständiges Institut, denn Dopsch w u r d e aus Ersparnisgründen schon 1936 im Alter von 68 Jahren in den Ruhestand versetzt, d a s Seminar als Unterabteilung dem allgemeinen Historischen Seminar unter der Leitung O. Brunners eingegliedert. Erst nach 1946 gelang es seiner früheren Assistentin, Professor E . Patzelt, die Wiedererrichtung des Instituts zu erreichen; es dauerte aber dann noch weitere 15 Jahre, bis ein eigener Lehrstuhl f ü r Wirtschafts- und Sozialgeschichte errichtet wurde, von dem auch das Institut seine jetzige Bezeichnung übernommen hat. Neuestens wurden in Anerkennung der sowohl wissenschaftlich wie pädagogisch bedeutsamen Stellung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte an allen philosophischen Fakultäten der österreichischen Universitäten eigene Lehrstühle für dieses Fach eingerichtet, in G r a z auch noch an der juristischen F a k u l t ä t . Auf der Hochschule f ü r Welthandel in Wien bestehen schon seit 1928 ein Lehrstuhl und ein Institut dieser Fachrichtung; desgleichen an der neuen Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Linz. In mehr als einer Hinsicht mußte seit dem Bestand des eigenen Lehrstuhls, der 1961 errichtet wurde, von vorn angefangen und d a s P r o g r a m m des Instituts neu überdacht werden. Gewiß kann in sehr vielen Belangen die von Dopsch geprägte Tradition fortgeführt werden. So etwa in der weiteren Verfolgung der Kontinuitätsprobleme, in der Anwendung der strengen quellenkritischen Methode, in der engen Verbindung mit der landesgeschichtlichen und der bodenverbundenen Feldforschung, in der Gestaltung der seminaristischen Lehrveranstaltungen u. a. m. U n vermeidlich war jedoch bei grundsätzlicher Beibehaltung und Fortsetzung der Erforschung des Mittelalters eine gewisse Schwergewichtsverlagerung auf die Neuzeit, ferner die stärkere Betonung der ja an sich ohnedies mit der Wirtschaftsgeschichte unzertrennlich verbundenen Sozialgeschichte, für die sich heute die Hörerschaft sehr lebhaft interessiert. Sosehr die universale, großräumige Betrachtungsweise von Dopsch weiterhin aktuell bleibt, läßt sich die bei seinen Karolinger-Forschungen angewandte Methode einer Verbindung mit allen nur möglichen Nachbardisziplinen rein arbeitstechnisch für spätere Perioden nicht mehr in dieser Weise aufrechterhalten. H i e r kann jedoch im Wege gemeinsamer Lehr-

Dopsch und die Wiener Wirtschaftsgeschichte

13

Veranstaltungen, sei es mit Rechtshistorikern, N a t i o n a l ö k o n o m e n , Soziologen usw. bei der B e h a n d l u n g einzelner Themen w i e d e r eine fruchtbringende B e g e g n u n g herbeigeführt werden. N a c h wie v o r bleibt es eine A u f g a b e , mittels einer a u f den reichen Schätzen der Wiener Archive beruhenden Q u e l l e n f o r s c h u n g die besondere wirtschaftliche u n d soziale S t r u k t u r der einstigen D o n a u m o n a r c h i e zu klären, die j a in gewisser Hinsicht das eigentliche „ M i t t e l " - E u r o p a dargestellt hat. E i n e solche Forschung erscheint u m so mehr als n o t w e n d i g , als hier die sogenannten N a c h folgestaaten und auch die amerikanischen H i s t o r i k e r schon eine ungleich intensivere T ä t i g k e i t entfaltet haben. D i e v e r s t ä r k t e A u f m e r k s a m k e i t f ü r dieses T h e m a bietet zugleich A n l a ß z u engeren K o n t a k t e n mit den Fachgelehrten dieser L ä n d e r u n d erfordert darüber hinaus die O r g a n i s i e r u n g gemeinsamer U n t e r nehmungen. Ferner w i r d m a n sich mehr, als es bisher geschehen ist, allen quantitativen Q u e l l e n , der V e r w e r t u n g statistischer U n t e r l a g e n , w i d m e n müssen. H i e r besteht die N o t w e n d i g k e i t und Absicht, die M e t h o d e des T e a m w o r k s , der Reihenuntersuchungen, auch m i t H i l f e m o d e r n e r Rechenmaschinen a n z u w e n d e n . Solche R e i h e n werden bereits hinsichtlich der alten Adelsstrukturen der österreichischen L ä n d e r , im besonderen des Wirtschaftsadels, der s t ä d t i schen Führungsschichten, der S o z i a l s t r u k t u r Wiens (auf G r u n d der Verlassenschaftsakten) in A n g r i f f genommen, wie denn ü b e r h a u p t die Erforschung der T y p o l o g i e der alten G r o ß s t a d t Wien die Entwicklung eigener Problemstellungen erfordert. D i e a u f sozial- u n d wirtschaftsgeschichtliche Themen a n g e w a n d t e , in Österreich schon f r ü h ausgebaute landesgeschichtliche Forschung w i r d sowohl einzelne Wirtschaftslandschaften wie mit A u s w e r t u n g der K a t a s t e r auch kleinste Einheiten erfassen. Reiche, aus der Montanwirtschaft h e r v o r g e g a n g e n e Q u e l l e n harren der Erschließung ebenso wie der aus der F i n a n z i e r u n g der G r o ß s t a a t s a u f g a b e n der D o n a u m o n a r c h i e erwachsene Niederschlag. Auch der österreichische Seehandel soll nicht g a n z vergessen werden u n d ist G e g e n s t a n d einer eigenen Dissertationsreihe. F ü r die Verkehrsgeschichte liegen ebenfalls bereits einige Untersuchungen v o r . I m Z u s a m m e n h a n g mit dem v o n der A k a d e m i e der Wissenschaften herausgegebenen österreichischen Städtebuch w i r d der vergleichenden Stadtgeschichtsforschung die ihr gebührende A u f m e r k s a m k e i t

Alfred Hoffmann geschenkt und überhaupt der Zentralort-Forschung eine systematische Arbeit gewidmet. Letztlich wäre auch die von Dopsch im alten Seminartitel ausdrücklich hervorgehobene Kulturgeschichte nicht ganz zu vernachlässigen, wobei vor allem der aus den sozialen Verhältnissen erwachsene Konsum und Bedarf an materiellen wie geistigen Gütern zu berücksichtigen wäre, um nicht in bloße antiquarische Sammlereien alten Stils zu verfallen. Wenn Dopsch seinerzeit die Forderung erhoben hatte, d a ß die Wirtschaftsgeschichte erst neu geschrieben werden müsse, so glaube ich, daß wir doch derzeit im Begriffe sind, auf dem Wege zu diesem Ziel schon ein gutes Stück vorwärts zu kommen. Es erübrigt sich, noch einige Worte in bezug auf die Lehre zu verwenden. Von A n f a n g an war hier der Schwerpunkt auf seminaristische Veranstaltungen gelegt worden, und das System von Arbeitsgemeinschaften für bestimmte Themenkreise erfährt einen ständigen Ausbau. D a im Rahmen des Geschichtsunterrichtes auf den allgemeinbildenden hohen Schulen nunmehr auch die sogenannte Sozialkunde eingebaut ist, kommt der Ausbildung der künftigen Mittelschullehrer in Sozial- und Wirtschaftsgeschichte eine besondere Bedeutung zu, die in den künftigen Studienplänen eine entsprechende Berücksichtigung finden wird. Vor zehn Jahren habe ich den Lehrstuhl des Instituts mit einem einzigen Assistenten übernommen: nunmehr wurde ein zweiter a. o. Lehrstuhl für Sozialgeschichte geschaffen, es sind vier Assistentenstellen systemisiert, dazu kommen noch drei mit Stipendien ausgestattete Forschungsassistenten. Die bescheidenen Anfänge haben den Vorteil gehabt, daß sich hier allmählich eine echte Gemeinschaft von Institutsleitung, Assistenten, Dissertanten und H ö r e r n zu entwickeln vermochte, in die bisher kein störender Mißton gefallen ist. Ohne viel Aufsehen zu machen, wurde in aller Stille eine im guten Sinne moderne Forschungs- und Lehrstätte entwickelt. Der von Alfons Dopsch geprägte Geist, die von ihm gewissermaßen vorweggenommene „Revolution", hat sich somit bis in die Gegenwart herein als fruchtbar bewährt.

MICHAEL MITTERAUER

DIE WIRTSCHAFTSPOLITIK DER ÖSTERREICHISCHEN L A N D E S F Ü R S T E N IM S P Ä T M I T T E L A L T E R U N D I H R E AUSWIRKUNGEN AUF DEN ARBEITSMARKT

Betrachtet man die Verwendung des Begriffes „Wirtschaftspolitik" in der wirtschaftshistorischen Literatur, so läßt sich diesbezüglich bei der Darstellung mittelalterlicher Verhältnisse häufig eine gewisse Unsicherheit beobachten 1 . Eine derartige Unsicherheit ist verständlich. Allzu groß ist die Gefahr, durch die Verwendung von modernen Termini einen ganzen Komplex von Vorstellungen und Assoziationen, die wir aus unserer heutigen Umwelt mit ihnen verbinden, in eine Zeit zurückzuprojizieren, für die sie keine Geltung haben. Andererseits werden wir aktuelle, auf die Gegenwart bezogene historische Fragestellungen, die wir an weit zurückliegende Epochen herantragen, letztlich doch nur mit unserer heutigen Terminologie zu bewältigen imstande sein. Die Flucht in das Vokabular der behandelten Zeit selbst ist kein Ausweg, zwingt sie doch wiederum zur Definition von nicht geläufigen und daher erklärungsbedürftigen Begriffen in der Sprache der eigenen Zeit. So wird es wohl erlaubt sein, etwa auch für die Behandlung mittelalterlicher Verhältnisse, eine der Zeit selbst fremde Begriffssprache zu gebraudien, wenn die verwendeten Termini soweit formalisiert sind, daß sie spezifisch zeitgebundene und damit in der Übertragung anachronistische Implikationen ausschließen. Faßt man Wirtschaftspolitik als Summe der gestaltenden Maßnahmen, die seitens der Obrigkeit im Hinblick auf den Wirtschaftsprozeß, die Wirtschaftsstruktur bzw. die Wirtschaftsordnung ge1 Zu diesem terminologischen P r o b l e m U . Dirlmeier, Mittelalterliche H o h e i t s t r ä g e r im wirtschaftlichen W e t t b e w e r b , V S W G Beiheft 51, 1 9 6 6 , 2 2 5 ff., mit w e i t e r f ü h r e n d e n Literaturhinweisen. Dirlmeiers eigener Vorschlag, „die Leistungen und Absichten mittelalterlicher Herrschaftsausübung im Bereich der Wirtschaft als k o n s t r u k t i v e n Fiskalismus' oder ,wirtschaftspolitischen Fiskalismus'" zu kennzeichnen (S. 2 2 8 ) , erscheint freilich auch nicht v o l l befriedigend.

16

Michael Mitterauer

troffen werden 2 , so ist es in diesem Verständnis sicherlich berechtigt, von einer landesfürstlichen Wirtschaftspolitik im späten Mittelalter zu sprechen. D e r Zusatz „landesfürstlich" gibt freilich zugleich einen beschränkenden Hinweis. Es ist nicht eine Staatsgewalt im modernen Sinne, von der diese das Wirtschaftsleben gestaltenden Maßnahmen ausgehen. Die Wirtschaftspolitik des Spätmittelalters ist in ganz andere gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge eingeordnet. Hinsichtlich ihres Trägers, hinsichtlich der Organe der Durchführung, hinsichtlich des Kreises der jeweils Betroffenen, aber auch hinsichtlich der Ausrichtung auf bestimmte Ziele und der Möglichkeiten, diese zu erreichen, sind ganz spezifische Voraussetzungen zu bedenken 2 a . Primäre Aufgabe auch der wirtschaftspolitischen Tätigkeit des Landesfürsten im späten Mittelalter ist die Wahrung bzw. die Wiederherstellung der Friedensordnung des Landes. N u r auf G r u n d dieser Funktion als oberster Schutzherr im L a n d e ist er überhaupt berechtigt, in Belange des Wirtschaftslebens einzugreifen. D i e Wirtschaftspolitik ist daher keine selbständige Komponente. Sie steht vielmehr in engstem Zusammenhang mit der Gesamtheit genereller Ordnungsmaßnahmen und kann nicht ohne weiteres von diesen isoliert betrachtet werden. Die Ausrichtung auf die allgemeine Wahrung der Rechts- und Friedensordnung des Landes zeigt sich deutlich in den Begründungen wirtschaftspolitischer Maßnahmen, wie sie uns etwa in der Arenga bzw. der N a r r a t i o diesbezüglicher Privilegien und M a n d a t e überliefert sind. Der „gemeine N u t z e n " , die Sicherung der „ N a h r u n g " , die Behebung der N o t einer bestimmten Bevölkerungsgruppe werden hier als Motive angeführt. In diesem Zusammenhang ist auch die Gewährleistung von Arbeitsmöglichkeiten und die Regulierung der Arbeitslöhne Beweggrund landesfürstlicher Eingriffe in das Wirtschaftsleben. Von hier aus ergeben sich Querbeziehungen zur Arbeitsmarktproblematik, auf die — soweit die spärlichen Quellenüberlieferungen Aussagen erlauben — besonders eingegangen werden 2 Vgl. dazu K . Schiller, Wirtschaftspolitik, H a n d w ö r t e r b u c h der Sozialwissenschaften 12, 1965, 210. 2 a Zusammenfassend zu diesem F r a g e n k o m p l e x H . H a s s i n g e r , Politische K r ä f t e und Wirtschaft 1 3 5 0 — 1 8 0 0 , H a n d b u c h der deutschen S o z i a l und Wirtschaftsgeschichte, hrsg. v o n H . A u b i n und W . Z o r n , 1, 1971, 608 ff.

W i r t s c h a f t s p o l i t i k der österreichischen L a n d e s f ü r s t e n

17

soll. Die Begründung wirtschaftspolitischer Maßnahmen des Landesfürsten in dessen Schutzfunktion hat zur Folge, daß derartige Maßnahmen vor allem in Krisenzeiten begegnen, etwa nach Naturkatastrophen, Seuchen, verheerenden Kriegswirren. Es handelt sich bei ihnen also nicht um kontinuierliche, auf lange Sicht geplante lenkende Eingriffe in das Wirtschaftsleben, sondern häufig bloß um Notverordnungen. Die Sdiutzfunktion kommt freilich dem Landesfürsten nicht gegenüber allen Bewohnern des Territoriums in gleicher Weise zu. Neben ihm üben adelige und geistliche Herren in ähnlicher Weise Schutz und Schirm über ihre Holden aus. Auch sie haben daher in ihrem engeren Bereich in gewissem Sinne wirtschaftspolitische Maßnahmen zu setzen. Die wirtschaftspolitische Tätigkeit des Landesfürsten hingegen betrifft in erster Linie die seiner Herrschaftsgewalt unmittelbar Unterstellten, vor allem Bürger der landesfürstlichen Städte, aber auch die Bauern der landesfürstlichen Herrschaften sowie die Bergleute in den landesfürstlichen Montanbezirken. Bei wirtschaftspolitischen Maßnahmen, die die ganze Bevölkerung des Territoriums angehen, ist der Landesherr auf das Zusammenwirken mit allen anderen Herrschaftsträgern des Landes angewiesen. Ein Rechtsgutachten des Wiener Theologieprofessors Heinrich von Langenstein aus dem ausgehenden 14. Jahrhundert über die Rentenkaufgesetzgebung Herzog Rudolfs IV. — eine einzigartige zeitgenössische Stellungnahme zu ökonomischen Fragen, auf die noch mehrfach zurückzukommen sein wird — betont ausdrücklich, daß die Rechtmäßigkeit derartiger Maßnahmen den „consensus fidelium" voraussetze 3 . Die Landstände sind also als mitgestaltender Faktor spätmittelalterlicher Wirtschaftspolitik zu berücksichtigen. Je nach ihrem politischen Gewicht kann ihnen dabei sogar eine tragende Rolle zukommen. Neben der Sicherung und Wiederherstellung der allgemeinen Rechtsordnung des Landes, des Landesfriedens im weitesten Sinne, sind die wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Landesfürstentums jedoch auch sehr stark auf die Wahrung der eigenen Rechte und Interessen, vor allem die Steigerung der Einkünfte, ausgerichtet. Vielfach finden sich in landesfürstlichen Urkunden, die sich auf das Wirtschaftsleben beziehen, Formulierungen wie „damit unser mäut 3 W. T r u s e n , Spätmittelalterlidie V S W G Beiheft 4 3 , 1961, 203 ff.

2

Kellenbenz, Wirtschaftspolitik

Jurisprudenz

und

Wirtschaftsethik,

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Michael Mitterauer

und zöll nicht abgeen" und ähnliche4. Möglichst hohe Einnahmen aus Steuern, Ungeld, Zoll, Domänen und Montanbetrieben sind immer wieder erklärtes Ziel landesfürstlicher Wirtschaftspolitik. Dabei wechselt primitiver und kurzsichtiger Fiskalismus mit zielstrebig aufeinander abgestimmten Maßnahmen zur allgemeinen Belebung der Wirtschaft, aus der der Landesfürst hinsichtlich seiner Einnahmen genauso Nutzen zieht wie die gesamte Bevölkerung. Eine umfassendere, wirtschaftspolitische Konzeption, wie sie bei Meinhard II. von Tirol vermutet wurde und wie man sie wohl zu Recht bei seinem Urenkel Rudolf IV. annehmen darf, ist freilich bei spätmittelalterlichen Landesfürsten seltene Ausnahme 5 . Im allgemeinen scheinen die auf weite Sicht zu erwartenden Folgen bestimmter Eingriffe in das Wirtschaftsleben wenig bedacht worden zu sein bzw. die Kenntnis über derartige Zusammenhänge gefehlt zu haben 6 . Der punktuelle und wenig planmäßige Charakter spätmittelalterlicher Wirtschaftspolitik steht sicher in starkem Kontrast zu unseren heutigen Vorstellungen. Im Interesse der Steigerung der landesfürstlichen Einnahmen ist auch eine neue Akzentsetzung der Wirtschaftspolitik zu sehen, die sich in Österreich unter Friedrich III. ansatzweise abzuzeichnen beginnt. Im Montanwesen — und zwar konkret bei den Salinen — läßt sich damals ein Übergang von bloßer obrigkeitlicher Ordnungspolitik zu unternehmerischer Initiative seitens des Landesfürsten feststellen 7 . Es scheint sich dieser Wandel unter dem Einfluß 4 Z u m Beispiel O r d n u n g K a i s e r Friedrichs I I I . für den Kleinhandel in den S t ä d t e n und M ä r k t e n Kärntens v o n 1357 (E. Schwind/A. Dopsch, A u s g e w ä h l t e U r k u n d e n zur Verfassungsgeschichte der deutsch-österreidiisdien E r b l a n d e , 1895, 383). 5 Zur Wirtschaftspolitik Meinhards I I . v o n Tirol H . Wiesflecker, M e i n h a r d der Zweite, Veröffentlichungen des Instituts f ü r österreichische Geschichtsforschung 16, 1955, 204 ff. 6 Dies gilt etwa f ü r die kurzsichtige M ü n z p o l i t i k der meisten österreichischen Landesfürsten im Spätmittelalter, v o n der noch ausführlich zu sprechen sein wird (vgl. S. 32 ff.). Über die bei der P l a n u n g wirtschaftspolitischer Maßnahmen angestellten ökonomischen Überlegungen fehlen uns freilich im allgemeinen entsprechende Quellenaussagen. Eine Reflexion über die zu e r w a r t e n d e n Folgen, wie sie etwa bei der R e a k t i o n H e r z o g Albredits V. a u f die Behinderung des österreichischen Weinhandels durch Bayern in A n s ä t z e n erkennbar wird (vgl. S. 25), ist uns nur ausnahmsweise überliefert. 7

F. Tremel, Der F r ü h k a p i t a l i s m u s in Innerösterreich, 1954, 64.

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einer interessanten Personengruppe vollzogen zu haben, die sehr treffend als „Kameralunternehmer" bezeichnet wurde 8 . Es handelt sich bei ihnen um Pächter von Kammergutseinnahmen, die diese unter dem Titel eines Hubmeisters, Pflegers, Kämmerers, Amtmanns etc. verwalteten und aus ihnen enormen Gewinn zogen. Die Funktion dieser „Kammeralunternehmer" ist keineswegs richtig charakterisiert, wenn man sie als landesfürstliche „Wirtschaftsbeamte" oder „Finanzbeamte" einstuft. Gerade das Fehlen eines eigenen Beamtenapparats der Wirtschaftsverwaltung ist ja für die Wirtschaftspolitik des Spätmittelalters bezeichnend. Die Wirtschaftspolitik der österreichischen Landesfürsten im Spätmittelalter stand schließlich in starkem Maße auch im Dienst außerwirtschaftlicher Zielsetzungen. Sie wurde von einzelnen Herrscherpersönlichkeiten als Mittel zur Ausweitung der landesfürstlichen Macht gebraucht — eine Tendenz, die man in manchen Fällen durchaus als frühmerkantilistisch bezeichnen könnte. Gerade wirtschaftliche Maßnahmen boten in vieler Hinsicht günstige Ansatzpunkte zu einer flächenhaften Erfassung des Raumes und konnten so dazu beitragen, eine einheitliche Territorialgewalt auszubauen. Die Einführung des Ungeldes durch Rudolf IV. als allgemeine Besteuerung des Weinkonsums etwa bedeutete einen entscheidenden Einbruch in die Sphäre der adeligen und geistlichen Herrschaftsträger des Landes. Friedrich III. benützte die aus dem Bergregal abgeleiteten Kompetenzen, um im Gebiet der niederösterreichischen Eisenwurzen unter Umgehung der Grund- und Gerichtsherren einen direkten Kontakt zu den Bürgern der Herrschaftsmärkte herzustellen. In Tirol hat schon in der zweiten H ä l f t e des 13. Jahrhunderts Meinhard II. in solchem Sinne Wirtschaftspolitik als Herrschaftspolitik betrieben. Es handelt sich hier freilich um Einzelpersönlichkeiten, die in ihren wirtschaftspolitischen Maßnahmen neue Wege gingen, die diesbezüglich ihrer Zeit in mancher Hinsicht voraus waren. Kurze Phasen dynamischer und unkonventioneller Wirtschaftspolitik wechseln so in der Geschichte der österreichischen Länder im Spätmittelalter mit Perioden gleichiförmiger Privilegienerneuerung. Rudolf IV. und Friedrich III. konnten besonders einschneidende Wirtschaftskrisen zum Ausgangs-

8 A . H o f f m a n n , D i e Wirtschaft i m Zeitalter Friedrichs III., Ausstell u n g s k a t a l o g Friedrich I I I . Kaiserresidenz Wiener N e u s t a d t , 1966, 178.

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punkt ihrer Politik machen. Vor allem Rudolf ging aber weit über die Verfügung von Notmaßnahmen hinaus. Audi hinter der Wirtschaftspolitik dieses Fürsten steht also ein Herrschaftskonzept, wie es in seinen großen Privilegienfälschungen am anschaulichsten Gestalt angenommen hat. Das Bestreben, auf dem Weg über wirtschaftspolitische Maßnahmen dem Ziel eines flächenhaft geschlossenen Territoriums näherzukommen, zeigt sich besonders in jenen Ländern der Habsburger, in denen ihre Landeshoheit am schwächsten ausgebildet war, vor allem also in Kärnten, wo ihnen erst im 16. Jahrhundert die volle Eingliederung der Salzburger und Bamberger Hochstiftsterritorien gelang. Audi hier hat übrigens die Montanpolitik Friedrichs I I I . als Integrationsfaktor gewirkt. Ein derartiges Übergreifen in die Sphäre konkurrierender Herrschaftsträger blieb freilich der Ausnahmefall. In der Regel waren der Wirtschaftspolitik der Landesfürsten durch den Bereich seiner direkten Obrigkeit Grenzen gesetzt. Insofern ist die ganz unterschiedliche Herrschaftsstruktur der einzelnen österreichischen Länder im Hinblick auf die sehr unterschiedlichen Möglichkeiten der Beeinflussung des Wirtschaftslebens seitens des Landesfürsten zu berücksichtigen. Es sei dies an einem Beispiel erläutert. Als durch die enormen Menschenverluste der Pestjahre 1348/49 ein großer Arbeitskräftemangel eintrat, versuchte man verschiedentlich, durch Festsetzung von Maximaltarifen für Taglöhner Abhilfe zu schaffen. In Tirol erließ 1352 — also elf Jahre vor dem Anfall des Landes an die Habsburger — Markgraf Ludwig der Brandenburger eine Landesordnung, in der er die Lohnhöhe fixierte, und zwar einheitlich in den Gerichten des Etschtals nach den vor fünf Jahren geltenden Sätzen und in denen des Inntals nadi neu angegebenen. Nur im Eisacktal sollte die Festsetzung erst nach Übereinkunft mit dem Brixener Bischof gemeinsam für die landesfürstlichen wie für die hochstiftischen Gerichte erfolgen. Die Maximaltarife galten in gleicher Weise für Stadt und Land, sowohl für bäuerliche Hilfskräfte wie auch für Handwerksleute. Die Aufzählung der Gerichte erfaßte das ganze Territorium 9 . Im selben Jahr, bloß wenige Wochen nach der Tiroler Landesordnung, erließ Herzog Albrecht I I . für Österreich eine Lohn9

Sdiwind/Dopsch, Ausgewählte Urkunden, 184 n 100.

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Satzung. G a n z anders als in Tirol wurden hier freilich nur die M a x i m a l t a r i f e für die Weingartenarbeiter geregelt 1 0 . Aus späteren Erneuerungen bzw. Durchführungsbestimmungen ist zu ersehen, daß diese Ordnung im wesentlichen auf die Stadt Wien bezogen war, wo die Weingartenarbeiter eine zahlenmäßig sehr starke Unterschicht ausmachten 1 1 . Von landesfürstlichen Lohntarifen für ländliche Tagwerker ist in Österreich auch sonst nichts zu hören. Bestimmungen bezüglich dieser Personengruppe finden sich hingegen in den Weistümern einzelner Herrschaften 1 2 . D e r Unterschied ist bezeichnend. D i e doch wesentlich differierenden Maßnahmen der beiden Fürsten gegen das Steigen der Löhne in den Jahren nach dem „schwarzen T o d " sind nicht aus Verschiedenheiten in der wirtschaftlichen Situation der beiden Länder, sondern aus den ganz anders gelagerten Einflußmöglichkeiten zu erklären, die wiederum mit den jeweiligen herrschaftlichen Verhältnissen zusammenhängen. In Tirol hatte Meinhard II. durch einen einmaligen Konzentrationsprozeß von Gerichts- und Besitzrechten, die sich primär aus Kirchenvogteien ableiteten, in der zweiten H ä l f t e des 13. Jahrhunderts ein neues Territorium geschaffen, das hinsichtlich der gleichmäßig flächenhaften Durchgestaltung der fürstlichen Obrigkeit Ansätze zu neuzeitlicher Staatlichkeit um Jahrhunderte vorwegnahm. In dem aus der alten babenbergischen M a r k hervorgegangenen H e r z o g t u m Österreich unter der Enns war die Situation viel komplizierter. D i e Sphäre direkten landesfürstlichen Einflusses w a r durch adelige und geistliche Herrschaften stark eingeschränkt. D i e Wurzeln dieser Entwicklung führen weit zurück und können hier nicht behandelt werden. Die Steiermark nahm zwischen diesen beiden extrem verschiedenen Ländertypen eine Mittelstellung ein, Kärnten war, wie schon betont, hinsichtlich der Hoheitsrechte total zersplittert. D a s Hochstiftsland Salzburg hingegen gelangte schon etwas früher als Tirol zu einer ganz ähnlichen Struktur, freilich auf dem ent-

1 0 D i e Rechte und Freiheiten der S t a d t Wien, bearb. v. J . A. Tomaschek 1, 1877, n 47. 1 1 Tomaschek, Rechte und Freiheiten 2, 1879, n 107, 115 und 117. 12 H . H o n - F i r n b e r g , Lohnarbeiter und freie Lohnarbeit im Mittelalter und zu Beginn der N e u z e i t , Veröffentlichungen des Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der U n i v e r s i t ä t Wien 1 1 9 3 5 , 93 ff.

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gegengesetzten Weg, nämlich dem der Entvogtung. Für die landesfürstliche Wirtschaftspolitik waren hier jeweils grundverschiedene Voraussetzungen gegeben. Wirtschaftspolitisdie Maßnahmen des Landesfürsten, die auf eine Veränderung der bäuerlichen Verhältnisse abzielen, finden wir diesen sehr unterschiedlichen strukturellen Bedingungen entsprechend innerhalb der habsburgischen Länder des Spätmittelalters im wesentlichen nur in Tirol. Es ist hier ein kontinuierliches Bemühen der Landesherren zu beobachten, das bäuerliche Besitzrecht zu verbessern 18 . In der Begünstigung freier Leiheformen konnten hier die Habsburger an die bauernfreundliche Politik Meinhards II. und seiner Söhne anknüpfen 1 4 . Einen Rückschlag brachte bloß die eben erwähnte Landesordnung von 1352, die in Hinblick auf den Arbeitskräftemangel im ländlichen Bereich das freie Abzugsrecht der Bauern beschränkte 15 . Es handelte sich hier freilich um eine vorübergehende Notmaßnahme, die die Gesamtentwicklung kaum beeinflußte. Die große Landesordnung von 1404 bestätigte dann auch das freie Veräußerungsrecht der Bauern bezüglich ihrer Erbzinsgüter als altes Gewohnheitsrecht. Das Interesse der Landesherren an einem starken, wirtschaftlich gefestigten Bauernstand hatte neben politischen und militärischen Motiven auch fiskalische Gründe, standen doch die bäuerlichen Abgaben unter den an und für sich sehr beträchtlichen Kammereinkünften eindeutig an der Spitze 16 , ganz anders als im Herzogtum Österreich, wo schon im 13. Jahrhundert die Einkünfte aus den Regalien die aus den Domänen bei weitem übertrafen 17 . Sieht man von Tirol ab, so ist in allen anderen Ländern, die im späten Mittelalter zum Hause Österreich gehörten, hinsichtlich der landesfürstlichen Wirtschaftspolitik von den Städten auszugehen. Die Möglichkeit, in das wirtschaftliche Leben des Landes gestaltend einzugreifen, ist hier im wesentlichen auf das landesfürstliche 1 3 H . W o p f n e r , Die L a g e Tirols zu A u s g a n g des Mittelalters und die Ursachen des Bauernkrieges, 1908, 144 f. 1 4 Wiesfledcer, Meinhard der Zweite, 240. 1 5 H . W o p f n e r , Beiträge zur Geschichte der freien bäuerlichen E r b leihe Deutschtirols im Mittelalter, 1903, 117 ff. 1 6 Wiesfledcer, Meinhard der Zweite, 240. 1 7 O. Brunner, Die Finanzen der S t a d t Wien von den A n f ä n g e n bis ins 16. Jahrhundert, 1929, 34.

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Städtewesen beschränkt. Der Bergbau als ein weiterer maßgeblich vom Landesfürsten beeinflußter Wirtschaftsbereich gewinnt erst im 15. Jahrhundert gleichrangige Bedeutung. Die Stadtgründung als Mittel der Wirtschaftspolitik spielt seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert in den österreichischen Ländern keine Rolle mehr. Audi die neuen Stadtanlagen der Zeit König Ottokars waren bereits fast ausnahmslos bloß Verlegungen älterer Wirtschaftsmittelpunkte 18 . Als letzter hat Meinhard II. in Tirol auf dem Weg über Stadt- bzw. Marktgründungen wirtschaftliche Konkurrenzkämpfe ausgefoditen, so durch die Anlage von Gries gegen das damals noch tridentinische Bozen 19 . Die von Rudolf IV. in Krain gegründete Neustadt Rudolfswert ist ein später Nachzügler 20 . Ausgangspunkt landesfürstlicher Einflußnahme auf das Wirtschaftsleben über das Städtewesen ist im späten Mittelalter die Privilegienerteilung. Stadtrechtsverleihungen bzw. Gunsterweise für die Bürger einzelner Städte stehen am Anfang. Durch Übertragung gleicher Rechte an alle landesfürstlichen Städte eines Landes wird eine gewisse Vereinheitlichung erreicht, die von punktuellen Maßnahmen zu einer stärker territorial bezogenen Wirtschaftspolitik führt. Am frühesten ist dieser Prozeß im Land Österreich ob der Enns zu beobachten, wo schon um die Mitte des 14. Jahrhunderts die fünf landesfürstlichen Städte — es werden später sechs bzw. sieben — als eine geschlossene Gruppe dem Herzog gegenüberstehen 21 . Im Land unter der Enns mit seiner viel komplexeren Struktur des Städtewesens waren die entscheidenden wirtschaftspolitischen Maßnahmen primär bloß auf die Hauptstadt Wien bezogen, die an Größe und Bedeutung alle anderen herzoglichen Städte bei weitem übertraf. So wurde etwa das Recht auf Ablöse der Grund- und Überzinsen um den achtfachen Zinsbetrag

1 8 Eine Ausnahme bildet das 1 2 6 8 gegründete Marchegg, das eine dörfliche Vorgängersiedlung hatte („Chundorf"). 1 9 Wiesflecker, M e i n h a r d der Zweite, 1 6 2 ; Dirlmeier, Mittelalter^ liehe Hoheitsträger, 1 3 2 . 2 0 A . Dimitz, Geschichte K r a i n s 1, 1 8 7 9 , 2 4 0 . Auch hier w i r d freilich Siedlungsverlegung v e r m u t e t : H. Fischer, Die Siedlungsverlegung im Zeitalter der Stadtbildung, 1 9 5 2 , 124 f. 2 1 A . H o f f m a n n , Der oberösterreichische Städtebund im Mittelalter, Jahrbuch des oberösterreichischen Musealvereins 9 3 , 1 9 4 8 , 1 0 7 ff.

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— einer der einschneidendsten wirtschaftspolitischen Eingriffe der österreichischen Herzoge im Spätmittelalter — von R u d o l f I V . im J a h r e 1360 zunächst nur den Wiener Bürgern verliehen 2 2 . Erst in den folgenden Jahren erhielten Krems, Stein, Tulln, Klosterneuburg und Wiener N e u s t a d t — jeweils einzeln — dasselbe Privileg 2 8 . Über die landesfürstlichen S t ä d t e eines Landes gingen die Bemühungen um eine Vereinheitlichung in der Regel nicht hinaus. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Versuch R u d o l f s I V . 1363 verlieh er den Bürgern v o n H a l l nicht nur Zollfreiheit innerhalb des von ihm eben erworbenen Landes Tirol, sondern auch in seinen beiden Enklaven Schärding und N e u b u r g am Inn sowie an den großen österreichischen Donaumauten L i n z und Stein, offenbar in der Absicht, d a m i t eine wirtschaftliche Integration seines Länderkomplexes zu fördern. D a s Experiment scheint verfrüht gewesen zu sein. 1372 hob R u d o l f s Nachfolger Albrecht I I I . die Privilegierung wieder a u f 2 4 . D i e Entwicklung allgemeiner wirtschaftspolitischer Regelungen aus einzelnen stadtrechtlichen Bestimmungen läßt sidi schön am Beispiel Wien verfolgen. D i e von den letzten Babenbergern verliehenen Stadtrechte haben die Handelspolitik der österreichischen Landesfürsten im Spätmittelalter entscheidend beeinflußt. Im Privileg Friedrichs II. von 1244 findet sich erstmals das Verbot der Einfuhr ungarischen Weins, das dann Jahrhunderte hindurch immer wieder erneuert und im Stadtrecht Albrechts II. von 1340 auch auf welsche Weine ausgedehnt wurde 2 5 . Der Weinbau und Weinhandel war die Haupterwerbsquelle der Wiener Bevölkerung. Ein starkes Exportgewerbe fehlte dieser mittelalterlichen Großstadt 2 6 . D e r Wohlstand der Wiener Bürger und ihre f ü r den Landesfürsten so wesentliche Steuerkraft hing v o m Weinhandel ab. In den Weingärten um die S t a d t verdienten sich aber auch tausende Taglöhner ihren Lebensunterhalt. Schon den Zeitgenossen war die enorme R o l l e des Weins für das Wirtschaftsleben der Stadt und des Tomaschek, Rechte u n d Freiheiten 1, n 61. M . V a n c s a , Geschichte N i e d e r - und Oberösterreichs 2, 1927, 1 5 5 ; Trusen, Spätmittelalterliche Jurisprudenz, 142. 2 4 H a l l e r Buch, Schlern-Schriften 106, 1953, 59. 25 Urkundenbudi zur Geschichte der Babenberger in Österreich 1, 1955, 294 n 4 3 2 ; Tomaschek, Rechte und Freiheiten 1, n 37. 2 6 Brunner, Finanzen, 11. 22

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Landes voll bewußt. In einer Urkunde Rudolfs IV. heißt es, daß „wein in disem landen ze Österreich ain solich grozz, namhaft und redleich stuckh ist, des sich alle unser stet und sunderleich die stat ze Wienn allermaist betragent, und auch nahent ir aller grozzister pau und pest aribait ist" 27 . 1403 betont eine Stellungnahme der Wiener Bürger: „nu leyt doch unser maiste narung an den weinwachss" 28 . Der Schutz der Weinwirtschaft war daher eines der obersten Ziele landesfürstlicher Wirtschaftspolitik. Neben die immer schärferen Importbeschränkungen trat die Förderung des Exports. Im Wiener Eisenbuch, der Privilegiensammlung der Stadt, ist eine Vereinbarung mit Karl IV. eingetragen, die gleichzeitig die Einfuhr österreichischen Weins nach Böhmen und Mähren und die Ausfuhr von Getreide aus diesen Ländern nach Österreich bewilligt 29 — ein f ü r die wirtschaftliche Stellung der beiden Länder charakteristisches Dokument. Die Beschränkungen des Weinhandels nach Süddeutschland traf die Wirtschaft des Landes schwer, so die 1390 durch König Wenzel erfolgte Verleihung des Stapelrechtes an Passau, das f ü r 1424 nachweisbare Einfuhrverbot des Salzburger Erzbischofs 30 sowie der vom bayerischen Herzog 1435 eingeführte Aufschlag auf den Weinzoll 31 . Das vom Wiener R a t als Gegenmaßnahme vorgeschlagene Verbot der Getreideausfuhr durch Gäste wurde seitens Herzog Albrechts V. mit der Begründung abgelehnt, daß er mit solchen Repressalien nicht den Anfang machen wolle. Bürgern der landesfürstlichen Städte wurde jedoch der Getreideexport nach Oberdeutschland untersagt. Schon vor diesen den Weinhandel beschränkenden Maßnahmen seitens der westlichen Nachbarländer scheint es zu einem Uberangebot am inländischen M a r k t gekommen zu sein. 1417 verbot Herzog Albrecht die Anlage neuer Weingärten, da dadurch der „landwein unwert und das getraid, das niemand empern mag, armen leut und menicleih teuer wirdet" 3 2 . Die Bestimmung wurde 1426 erneuert

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Tomaschek, Rechte und Freiheiten 1, n 57. J. Schlager, Wiener Skizzen des Mittelalters, N F 3, 1846, 355. 29 K. Stolz, Die Wiener Nahrungs- und Genußmittelpolitik im Mittelalter, 1927, 13. 30 H . Widmann, Geschichte Salzburgs 2, 1909, 256. 31 Quellen zur Geschichte der Stadt Wien II/2, bearb. von K. Uhlirz, 1900, 135, n 2541. 32 Quellen zur Geschichte der Stadt Wien II/2, 33 n 2068. 28

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und 1453 durch den Befehl zum Abbruch neuangelegter Weingärten verschärft 53 . Der Übergang vom Getreidebau zum rentableren Weinbau, zu dem es vor allem in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts wegen der sinkenden Agrarpreise gekommen war und der eine starke Abwanderung aus den ländlichen Gebieten um Wien bewirkt hatte 34 , scheint so im 15. Jahrhundert zu einer Krisensituation geführt zu haben, die ein wiederholtes Eingreifen des Landesfürsten notwendig machte. Schon Jahrzehnte zuvor hat übrigens Heinrich von Langenstein vor der Zurückdrängung des Getreidebaus zugunsten des Weinbaus entschieden gewarnt und die diesbezügliche Handelspolitik der österreichischen Landesfürsten scharf verurteilt. Das Interesse des Herzogs am Weinbau war aber auch noch durch ein anderes Moment bestimmt. Rudolf IV. hatte 1359 mit den Ständen des Landes gegen Verzicht auf weitere Münzverrufungen die allgemeine Einführung des bisher nur in den Städten als Getränkesteuer eingehobenen Ungeldes vereinbart — wohl die in ihrer Tragweite bedeutendste wirtschaftspolitische Maßnahme dieses Herzogs 35 . Das Ungeld war seither eine der wichtigsten landesfürstlichen Einnahmequellen. Der Konsum von Wein wurde daher sehr gefördert, der von Bier hingegen nach Möglichkeit zurückgedrängt. Neben gewerblichen Beschränkungen hinsichtlich der Zahl der Brauer 36 sowie der zur Ausschank berechtigten Brauhäuser griff man auch hier zum Importverbot 37 ; so wurde 1459 die Einfuhr von Bier aus Böhmen und Mähren untersagt 38 . Ihre Politik der Weinimportverbote haben die Habsburger auch nach Tirol übertragen. 1372 erfolgte ein analoges Mandat Herzog Leopolds III., hier zugunsten der Bozener Bürger 36 . Die Einfuhr von welschen Weinen wurde dann auch in der großen Landesordnung Leopolds IV. von 1404 untersagt, in der zugleich auch

Ebda., 80 n 2 2 7 6 und 3 4 9 n 3 5 1 6 . A . G r u n d , Die Veränderungen der Topographie im W i e n e r W a l d und Wiener Becken, 1 9 0 1 , 1 3 4 f f . 3 5 Schwind/Dopsch, A u s g e w ä h l t e U r k u n d e n , 1 9 1 n 1 0 3 . 3 6 F. Popelka, Geschichte des H a n d w e r k s in Obersteiermark bis zum J a h r e 1 5 2 7 , V S W G 19, 1 9 2 6 , 9 5 . 3 7 Stolz, W i e n e r Nahrungsmittelpolitik, 23. 3 8 Tomaschek, Rechte und Freiheiten 2, n 1 5 0 . 3 9 Schwind/Dopsch, Ausgewählte Urkunden, 2 5 6 n 1 2 8 . 33 34

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ein Ausfuhrverbot für Getreide ausgesprochen wurde 40 , eine Bestimmung, die im Laufe des 15. Jahrhunderts in Hinblick auf die Proviantversorgung der Montangebiete noch größere Bedeutung gewann. Neben dem Wein hatten vor allem die Montanprodukte f ü r das Wirtschaftsleben der habsburgischen Länder im Spätmittelalter eine derart große Bedeutung, daß der Landesfürst immer wieder mit handelspolitischen Maßnahmen eingriff. Noch größer war hier das fiskalische Interesse. Zu der Steuerleistung der mit Bergbauerzeugnissen handeltreibenden Städte und den Zolleinnahmen kamen noch die Pachtsummen der Montangebiete selbst bzw. bei den Salinen nach deren Übernahme in Eigenregie der Unternehmergewinn. Audi bezüglich der wichtigsten Montanprodukte — Salz und Eisen — war eine sehr starke Konkurrenz eines Nachbarterritoriums gegeben, nämlich des Erzbistums Salzburg, die die österreichischen Landesfürsten im eigenen Interesse und in dem der Bürger ihrer Städte auszuschalten trachteten. In der Auseinandersetzung Albrechts I. mit dem Salzburger Erzbischof, in deren Verlauf die Saline Gösau zerstört wurde, ging es zunächst bloß um die Einrichtung eines neuen Bergbaubetriebes, noch nicht um dessen Absatzgebiet. Diese Frage wurde erst aktuell, als die Produktion im österreichischen Salzkammergut im Verlauf des 14. Jahrhunderts stark zugenommen hatte. 1398 kam es zu einem Vertrag zwischen Herzog und Erzbischof 41 . Nördlich der Donau sollte nur Halleiner Salz gehandelt werden, südlich nur Gmundener. Dieser Vertrag wurde zwar mehrfach erneuert, aber von beiden Seiten nicht eingehalten 42 . Die Bemühungen des Gmundener Salzamtmanns in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, das Halleiner Salz südlich des Stroms zu verdrängen, zeigen deutlich, wie sehr die landesfürstliche Wirtschaftspolitik bei der Schaffung flächenhaft geschlossener Absatzgebiete von der Mitwirkung adeliger und geistlicher Herrschaften abhängig war 4 3 . Umgekehrt verkauften Bürger landesfürstlicher Städte, vor allem die Ennser, Wopfner, Erbleihe, 205 n 17. Urkundenbuch des Landes ob der Enns 11, 1956, 672 n 751. 4 2 H. Srbik, Studien zur Geschichte des österreichischen Salzwesens, Forschungen zur inneren Geschichte Österreichs 12, 1917, 178 ff. 4 3 F. Krackowizer, Geschichte der Stadt Gmunden in Oberösterreich 2, 1899, 362 f. 40

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nördlich der Donau Gmundener Salz u n d wurden dabei vom Herzog unterstützt. König Ladislaus erließ schließlich 1453 ein grundsätzliches Verbot der Einfuhr fremden Salzes in sein Land 4 4 . Zu ähnlichen Festsetzungen von Absatzgebieten kam es in Innerösterreich. Herzog Albrecht III. bestimmte 1390 für das Ausseer Salz die gesamte Steiermark und große Teile Kärntens, während Krain dem Meersalz überlassen blieb 45 . Kärnten aber war bisher von Hallein aus versorgt worden, so daß es zum Konflikt mit dem Erzbischof kam. Mit schärfsten Maßnahmen ging Herzog Ernst seit 1414 gegen die Salzburger Montanprodukte in seinen Ländern vor. Er verbot nicht nur den Handel mit Halleiner Salz, sondern auch mit dem ebenfalls aus einem erzbischöflichen Bergbaubetrieb stammenden Hüttenberger Eisen und verlieh seinen Mandaten durch Beschlagnahme Nachdruck. Erst nach seinem Tode konnte 1427 dieser Handelskrieg durch einen für Salzburg sehr kostspieligen Ausgleich beendet werden. In der Ausschaltung auswärtiger Konkurrenzware und der Durchsetzung des ausschließlichen H a n dels mit Erzeugnissen des Kammergutes hat wohl kein anderer Habsburger im späten Mittelalter so radikal durchgegriffen. Eine Abgrenzung der Absatzgebiete erfolgte jedoch auch zwischen den einzelnen Bergbaubetrieben der habsburgischen Länder, und zwar sowohl beim Salz wie auch beim Eisen. Die Grenzziehung zwischen Ausseer und Gmundener Salz stimmte nicht mit der steirisch-österreichischen Landesgrenze überein. Die jeweiligen Rechte der Salzbelieferung wurden daher bei Länderteilungen berücksichtigt 46 . Die Reformordnungen Friedrichs III. f ü r das steirisdie Erzbergrevier, durch die Vordernberg und Innerberg endgültig getrennt wurde, hatte auch bezüglich des Eisens eine Abgrenzung der Einzugsbereiche des Handels zur Folge 47 . So ist es durch die große Bedeutung des Montanwesens in den österreichischen Ländern schon relativ früh zu stark reglementierenden, territorial bezogenen Eingriffen in den Handelsverkehr gekommen. 44

Srbik, Salzwesen, 178. Srbik, Salzwesen, 125 f. 46 Srbik, Salzwesen, 119. 47 L. Bittner, Das Eisenwesen in Innerberg-Eisenerz bis zur Gründung der Innerberger Hauptgewerkschaft im Jahre 1625, Archiv für österreichische Geschichte 89, 1901, 470 ff.; H . Pirchegger, D a s steirische Eisen bis 1564, 1937, 47. 45

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Mit den handelspolitischen Maßnahmen hängen die Straßenzwangsbestimmungen eng zusammen. Die Festlegung von Absatzgebieten bedingte das Verbot bzw. die zwangsweise Benützung von bestimmten Verkehrswegen. Die Wurzeln des in den österreichischen Ländern im Spätmittelalter so ausgeprägten Systems rechtmäßiger und unrechtmäßiger Straßen reichen freilich viel weiter zurück. Es ist im Prinzip durch die Verteilung der rechtmäßigen Marktorte und der mit ihnen korrespondierenden Zollstätten bedingt 48 . Diese Verteilung wiederum erklärt sich aus der jeweiligen herrschaftlichen Struktur des Landes. Landesfürstliche Privilegien für einzelne Verkehrsmittelpunkte haben dieses Gesamtsystem beeinflußt und damit zu immer stärkeren räumlichen Bindungen des Handelsverkehrs geführt. So haben sich etwa die systematisch zum Stapelrecht ausgebauten Niederlagsbestimmungen des ältesten Wiener Stadtrechts im ganzen österreichischen und steirischen Raum auf die routenmäßige Fixierung des Handels stark ausgewirkt 49 . Eine über Straßenzwang und Straßensicherung hinausgehende Verkehrspolitik der Landesfürsten finden wir im wesentlichen nur in Tirol. Hier kam es schon im 14. Jahrhundert zu einer großzügigen Neutrassierung des Hauptverkehrsweges nach Italien im Eisacktal sowie vor allem zu einer umfassenden Transportorganisation, dem sogenannten Rodfuhrwesen 50 . Die Schaffung dieses einmaligen Verkehrssystems, das den Tiroler Handel sehr förderte, war wiederum nur auf Grund der besonderen Struktur dieses Landes möglich, in dem der Landesfürst flächenhaft geschlossen über die Gerichtsgewalt verfügte. Auf dem Weg über die Zollpolitik beeinflußten die österreichischen Landesfürsten den Handelsverkehr zunächst bloß durch Verleihung von Zollfreiheiten. Solche Privilegien wurden erst einzelnen Städten, dann ganzen Städtegruppen zuteil, häufig auf der Basis der Reziprozität, wobei die Tendenz zu einer stärkeren wirtschaftlichen Integration des jeweiligen Landes unverkennbar 4 8 M. Mitterauer, Zollfreiheit und Marktbereidi, Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreidi 19, 1969, 343 und 347 ff. 4 9 F. Kurz, Österreichs Handel in älterer Zeit, 1822, 32 ff.; Hoff mann, Städtebund, 124. 5 0 Wopfner, Die Lage Tirols, 1 3 7 f f . ; O . S t o l z , Geschichte des Zollwesens, Verkehrs und Handels in Tirol und Vorarlberg, Schlern-Schriften 108, 1953, 1 8 4 , 1 9 4 ff. und 2 4 0 ff.

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ist 51 . Ganz neue Perspektiven eröffnete die Aufnahme des Rechts auf Errichtung neuer Zollstätten in die Bestätigung des von Rudolf I V . gefälschten großen Freiheitsbriefes durch Kaiser Friedrich I I I . 145 3 5 2 . Friedrich hat von diesem praktisch sich selbst verliehenen Recht sehr ausgiebig Gebrauch gemacht — zum Teil schon vor 1453 —, indem er sogenannte „Aufschläge" einrichtete, die interessanterweise bereits Ansätze von Grenzzöllen erkennen lassen. Die aus rein fiskalischen Überlegungen geschaffene zusätzliche Belastung des Warenverkehrs hat freilich die ohnehin schon sehr triste Lage der österreichischen Wirtschaft um die Mitte des 15. Jahrhunderts weiter verschlechtert. Wie die Ordnungen des Straßen- und Zollwesens, so waren auch die wirtschaftlich-rechtlichen Bindungen des Stadt-Land-Verhältnisses im Prinzip im Spätmittelalter bereits vorgegeben. Die herkömmlichen Regelungen des Handels- und Gewerbewesens, die die Kaufleute und Handwerker der Städte in ihrer Erwerbsgrundlage sichern sollten, haben sich jedoch im 14. und 15. Jahrhundert in vieler Hinsicht als nicht mehr tragfähig erwiesen, so daß sich der Landesfürst zum Eingreifen veranlaßt sah, nicht nur auf Grund seiner rechts- und friedenswahrenden Funktion, sondern auch in Hinblick auf seine Steuer- und Zolleinnahmen, die durch die wirtschaftliche Schwächung der Stadtbürger gemindert worden wären. Es waren vor allem zwei Personengruppen, die seitens der Bürger in ihren diesbezüglichen Beschwerden als Urheber der Schwierigkeiten angeführt werden: die auswärtigen Kaufleute, insbesondere die Oberdeutschen, die auf dem Lande „Fürkauf" trieben, d. h. nicht in den Städten bzw. den diesen gleichberechtigten Marktorten ihre Handelsgeschäfte abschlössen, und die Untertanen geistlicher und weltlicher Herrschaften, die nicht zu Kaufmannshandel und Gewerbeausübung berechtigt waren, jedoch mit Billigung und oft sogar im Auftrag ihrer Herren den Stadtbürgern Handelskonkurrenz machten 53 . Die Minderung der Herrschaftseinkünfte durch den sinkenden Wert der in Geld fixierten Grundrenten ist als Hintergrund dieses wirt51 A. Luschin von Ebengreuth, Die Handelspolitik der österreichischen Herrscher im Mittelalter, 1893, 14 ff. 5 2 Hoffmann, Die Wirtschaft im Zeitalter Friedrichs III., 175. 5 3 A. Hoffmann, Wirtschaftsgeschichte des Landes Oberösterreich 1, 1952, 79; ders., Städtebund, 126 ff.

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schaftlichen Konkurrenzkampfes zu sehen. Die von den Landesfürsten zur Ordnung der wirtschaftlichen Stadt-Land-Beziehungen getroffenen Maßnahmen scheinen auf den ersten Blick sehr vielfältig, in der Grundtendenz sind sie jedoch im großen und ganzen recht ähnlich. Neben Verboten des „Fürkaufs" oder des „Gäuhandels" im allgemeinen finden sich Mandate, die den Kaufmannshandel auf den Sonntagsmärkten oder bei den Pfarrkirchen und Dingstätten, den sogenannten „Gäumärkten", untersagen und hier nur den Lebensmittelverkauf zulassen. Dazu kommen Verbote unrechter Niederlagsorte und Ladstätten bzw. Bestätigungen des alleinigen Niederlagsrechtes von Städten und Märkten innerhalb eines bestimmten Gebietes, verschiedene Formen von Bannmeilenbestimmungen, Schankverbote und -beschränkungen, Bestimmungen über Landhandwerker und deren Verkaufsrechte in Zunftordnungen etc. Ausgangspunkt ist wiederum zumeist das Privileg bzw. die Rechtsbestätigung für eine einzelne Stadt, also eine lokale Regelung. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts finden sich dann bereits Ordnungen, die für größere Landesteile — etwa die Obersteiermark 54 — oder ganze Länder — etwa Österreich ob der Enns — gelten 55 . Der Übergang zu generellen Ordnungen ist wiederum stark von der jeweiligen Landesstruktur abhängig, wie auch lokale Regelungen — etwa Bannmeilenrechte — durch diese Voraussetzungen in ihrer Form stark differenziert erscheinen56. Ein Ausgreifen über die landesfürstlidien Städte hinaus auf deren Umland war eben der landesfürstlichen Wirtschaftspolitik je nach herrschaftlichen Gegebenheiten in unterschiedlicher Weise möglich. Als Begründung nennen die verschiedenen Fürkaufs- und Gäuhandelsverbote bzw. ähnlichen landesfürstlidien Maßnahmen neben dem Schutz des bürgerlichen Handels und den fürstlichen Zollinteressen die Absicht, Teuerungen und Lebensmittelknappheit zu verhindern. Dies gilt vor allem in jenen Gebieten, wo größere nichtagrarisch lebende Bevölkerungsgruppen auf Lebensmittelzufuhr von auswärts angewiesen waren, nämlich in den Montanbezirken. Gerade in der näheren und weiteren Umgebung der Bergbaudistrikte finden wir daher besonders früh Fürkaufs54 55 58

Popelka, Geschichte des Handwerks in Obersteiermark, 95. Schwind/Dopsdi, Ausgewählte Urkunden, 257 n 129. Mitterauer, Zollfreiheit, 231 ff.

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verböte 57 . So war etwa die große Reorganisation des steirischen Eisenwesens unter Friedrich III. in den Jahren 1448/49 von solchen Gäuhandelsverboten in den niederösterreichischen Proviantversorgungsgebieten begleitet 58 . Die mittelalterlichen Ordnungsmodelle reichten jedoch bald diesbezüglich nicht mehr aus. Schon vier Jahrzehnte später erließ derselbe Herrscher eine umfassendere Proviantordnung für die steirischen Bergwerke. Jedem der großen Bergwerksorte, Aussee, Schladming, Vordernberg und Innerberg, wurde ein bestimmtes Gebiet zugeteilt, aus dem es mit Lebensmitteln versorgt werden sollte. Eine Ausfuhr von Proviant aus diesen Gebieten wurde streng untersagt 59 . Friedrich III. hat damit den Grundstein zu dem für das österreichische Bergwesen in der Zeit des Merkantilismus so charakteristischen Widmungssystem gelegt. Ähnlich wie der Fürkauf waren auch die Münzverhältnisse ein häufiger Klagepunkt städtischer Beschwerden. Audi in dieser Frage gab es gegensätzliche Interessen ständischer Gruppen, zwischen denen der Landesfürst zu entscheiden hatte. Durch das kontinuierliche Sinken des Geldwertes waren vor allem Adel und Geistlichkeit betroffen, die von Abgaben zu leben hatten, die im Spätmittelalter schon fast ausschließlich in Geld geleistet wurden. Die handeltreibende Bürgerschaft hingegen lehnte jedweden radikaleren Eingriff in das Eigenleben der Münze ab. Mit dem Argument, daß dadurch allgemeine Teuerung eintreten würde, wandten sich die Städte gegen alle Versuche, die Landesmünze aufzuwerten 60 . Seit der frühen Babenbergerzeit w a r der Wiener Pfennig weit über Österreich hinaus die dominierende Münze, vor allem in den östlichen Nachbarländern 61 . Der von Italien im ersten Viertel des Zuerst 1400 für Aussee belegt (Srbik, Salzwesen, 10S). Mitterauer, Zollfreiheit, 290 ff. Etwa gleichzeitig begegnen solche Zusammenhänge auch in Tirol. Vgl. S. Worms, Schwazer Bergbau im 15. Jahrhundert, 1905, 118. 5 9 F. A. Schmidt, Chronologisch-systematische Sammlung der Berggesetze der österreichischen Monarchie 1/3, 1839, 66 n 37. 60 A. F. Pribram, Materialien zur Geschichte der Preise und Löhne in Österreich 1, 1938, 25. 6 1 Brunner, Finanzen, 21 ff. Allgemein zur habsburgischen Münzpolitik: A. Luschin von Ebengreuth, Das Münzwesen in Österreich ob und unter der Enns im ausgehenden Mittelalter, Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich N F 13/14, 1914/15, 252 ff. 57

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14. Jahrhunderts ausgehenden Ausbreitung der Goldwährung schloß sich zunächst Ungarn und dann Böhmen an 62 . Der Versuch Albrechts II., auch seinerseits zur Goldprägung überzugehen, mißlang. Seither beherrschte der ungarische Gulden zumindest in den östlichen Teilen der habsburgischen Länder als Oberwährung den großen Zahlungsverkehr. Die Gulden-Pfennig-Relation verschlechterte sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts von 1 : 94 auf 1 : 15 0 63 . Schon mit der Regierung Friedrichs des Schönen war der Feingehalt des Wiener Pfennigs stark herabgesetzt worden. Die häufige, mitunter jährlich durchgeführte Münzverrufung, die die Herzoge im Interesse ihres hohen Schlagschatzgewinnes betrieben und die praktisch einer regelmäßigen Besteuerung des Bargeldbesitzes gleichkam, ließ die Entwertung weiter fortschreiten. Auch der Verzicht Herzog Rudolfs IV. auf die Münzverrufung gegen Bewilligung des Ungeldes 1359 brachte keine Verbesserung der Währungsverhältnisse. Die fortschreitende Geldentwertung wurde nun vor allem durch das Saigern bedingt, das Aussortieren der schwereren Geldstücke aus den ihrem Gewicht nach sehr ungleichen Geprägen, ein Unternehmen, das beim jährlichen Wechsel kaum eine Rolle gespielt hatte. Mehrmalige Versuche der Landesfürsten, durch Ausgabe höherwertiger sogenannter „weißer Pfennige" die schlechteren „schwarzen" zu ersetzen und damit die Münzen aufzuwerten, scheiterten am Widerstand der Städte sowie an der mangelnden Konsequenz der Durchführung, so 1399, 1416, 1435/37 und 145 6 6 4 . Ebensowenig Erfolg hatten Verbote des Umlaufs ausländischer Münzen, wie sie für 1407 und 1410 belegt sind 65 . Vor allem aus Salzburg und Bayern drang minderwertige Münze nach Österreich ein. Die wirtschaftliche Abhängigkeit von den oberdeutschen Händlern zwang zur Annahme dieser schlechten Pfennige, während die eingeführte Ware mit vollwertigen Gulden bezahlt werden mußte. Verhandlungen mit Bayern und Salzburg über eine gemeinsame Währungsreform unter König Ladislaus führten zu keiner Einigung. Nach Ladislaus' Tod 1457 kam es zum vollen Ausbruch der Krise. Die Auseinandersetzung zwischen Friedrich III. und seinem Bruder Albrecht VI. in 62 63 M 65

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Vancsa, Geschichte Nieder- und Oberösterreichs 2, 1 1 3 . Brunner, Finanzen, 24. Pribram, Materialien, 13. W. Rausch, Handel an der Donau 1, 1969, 1 1 9 .

Kellenbenz, Wirtschaftspolitik

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den folgenden Jahren bewirkten ganz allgemein eine katastrophale Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation. Unter dem Druck der durch die Kriegsausgaben bedingten Finanznot gingen beide Fürsten zur Ausprägung ganz minderwertiger Münzen über, der sogenannten „Schinderlinge". Betrügerische Münzmeister, die anstelle der Münzerhausgenossen mit Prägung und Wechsel beauftragt wurden, sowie die Verleihung des Münzrechtes an adelige Söldnerführer der kaiserlichen Partei beschleunigten die Entwicklung. 1460 wurde die dringend notwendige Münzreform in Angriff genommen. Es kam zur Ausgabe höherwertiger Silbermünzen, die im Verhältnis 1 : 4 eingetauscht werden mußten. Die besonders hart betroffene Stadt Wien behauptete damals, daß nicht einmal der Krieg die Leute so arm gemacht hätte wie diese Münzerneuerung 66 . Eine entscheidende Sanierung hat dieser Aufwertungsversuch freilich nicht gebracht. Zu einer Stabilisierung kam es erst in den siebziger Jahren unter dem Einfluß des Tiroler Münzwesens. In Tirol gab es schon seit der Zeit Meinhards II. ein höheres Silbernominale, den Kreuzer 6 7 , eine Einführung, zu der man sich in Österreich das ganze Spätmittelalter hindurch nicht hatte durchringen können. Die reichen Silbergruben von Schwaz ermöglichten in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Ausgabe einer dem Gulden gleichwertigen Silbermünze, die dann auch in Österreich übernommen wurde. I m Zusammenhang mit den gegen die Wirtschaftskrise der Schinderlingszeit gerichteten Maßnahmen entstanden in Österreich die ersten allgemeinen Preisregulierungen 68 . Höchstpreisverordnungen — vor allem für die Güter des täglichen Bedarfs — hatte es natürlich in einzelnen Städten schon viel früher gegeben. Es handelte sich dabei jedoch um Satzungen des Rats. Direkte Eingriffe des Landesfürsten lassen sich diesbezüglich in den österreichischen Städten nicht nachweisen. Sie begegnen hingegen im 15. Jahrhundert wiederholt in den landesfürstlichen Montanbezirken, freilich auch hier lokal beschränkt. Generelle Preisregulative für 96 67

Fontes rerum Austriacarum I I / 7 , 1 8 5 3 , 1 9 3 n 105. Wiesflecker, Meinhard der Zweite, 2 3 3 ff.

6 8 Rausch, H a n d e l an der D o n a u 1, 152 ff.; H . Klein, Die Tuchweberei a m unteren Inn und der unteren Salzach im 15. und 16. J a h r hundert, Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 1 0 6 , 1 9 6 6 , 118 f.

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ein ganzes L a n d , wie sie 1460 Friedrich I I I . für Österreich unter der Enns und Steiermark, Erzbischof Siegmund f ü r Salzburg und 1461 Albrecht V I . für das L a n d ob der Enns erließ, sind eine neuartige Maßnahme. Auch in ihrem Inhalt gehen diese Preisverordnungen weit über ältere V o r f o r m e n hinaus. Sowohl für „ P f e n n w e r t e " — also die Lebensmittel des täglichen Bedarfs — als auch für Fernhandelsgüter und Handwerkserzeugnisse werden ganz detaillierte Bestimmungen getroffen. Auch die Höchstlöhne für Zimmerleute, Maurer und Dienstboten sind in die Preissatzungen aufgenommen. Es handelt sich um typische Notmaßnahmen, wie sie nur im Hinblick auf die durch Kriegswirren und Münzerneuerung hervorgerufene enorme Teuerung dieser J a h r e zu erklären sind. D i e Pflicht des Landesfürsten, in Notzeiten mit Preissatzungen einzugreifen, hat schon Heinrich von Langenstein in seinem Gutachten aus dem ausgehenden 14. Jahrhundert betont und dabei komplizierte Überlegungen angestellt, wie denn der gerechte Preis im einzelnen festgestellt werden könnte 6 9 . Der Wiener Gelehrte forderte auch eine allgemeine obrigkeitliche Festsetzung der Löhne für Landarbeiter, Weingartenarbeiter und Handwerksgesellen, und z w a r nicht nur f ü r Zeiten des Arbeitskräftemangels zum Schutz der Dienstgeber gegen allzu hohe Lohnforderungen, sondern auch f ü r Zeiten eines Überangebots an Arbeitskräften zum Schutz der Arbeitnehmer 7 0 . D e facto haben jedoch alle aus dem österreichischen R a u m überlieferten Lohnsatzungen nur Maximaltarife fixiert. Nicht Unterschreiten, nur Uberschreiten der festgelegten Lohntarife w u r d e unter Sanktion gestellt. Auch hinsichtlich des betroffenen Personenkreises entsprach die Lohnpolitik des Landesfürsten keineswegs den Vorstellungen des großen Gelehrten. Im städtischen Bereich erfaßten solche Satzungen nur drei Gruppen: das Dienstpersonal der Bürger — Knechte, Mägde, Hausdiener, Köchinnen —, die Bauarbeiter, und z w a r sowohl ungelernte H i l f s k r ä f t e wie auch im T a g - und Wochenlohn arbeitende Meister — Steinmetze, Maurer Zimmerleute etc. — und schließlich die Weingartenarbeiter. Für das Dienstpersonal bieten die Preisordnungen der Schinderlingszeit Ansatzpunkte. Aber auch schon nach der großen Pestepidemie 1348/49 scheint der H e r z o g diesbezüglich eingegriffen zu 69 70

3*

Trusen, Spätmittelalterliche Jurisprudenz, 71 ff. Ebda., 47.

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haben. Ein Chronist berichtet über die damalige Situation: „Und wurden Diener und Dienerinnen so tewr, das man ir hart bekam." 7 1 Auf Geheiß Herzog Albrechts II. faßte der R a t der Stadt Wien 1353 bzw. 1356 Beschlüsse, die offenbar ein Abwerben von Dienstpersonal durch die finanzkräftigeren Erbbürgerfamilien verhindern sollten 72 . Lohnsatzungen sind freilich keine erhalten. Die Lohnfixierung für die Bauarbeiter im Preisregulativ von 1460 hat schon viele Vorgänger. So wurden diesbezüglich 1412, 1430 und 1439 Bestimmungen erlassen 73 . Die Bauarbeiter spielten innerhalb der städtischen Bevölkerung vor allem in Wien zahlenmäßig eine große Rolle. Der Wiederaufbau der mehrfach durch Großbrände heimgesuchten Stadt, vor allem aber der Bau der Stephanskirche, zog zahlreiche Arbeitskräfte an: Die Nachfrage scheint jedoch zeitweise noch über das Angebot hinausgegangen zu sein, da 1439 über die beschwerliche H ö h e der Lohnforderungen geklagt wird. Die Lohnsätze der Baugewerbe galten auch f ü r die Steinmetze der Dombauhütte. N u r bei einigen wenigen führenden Meistern wurden nachweislich Ausnahmeregelungen getroffen 74 . Die bedeutendste der drei Gruppen dürften in Wien die Weingartenarbeiter gewesen sein. Von der Festsetzung der Hauerlöhne durch die Satzung Herzog Albrechts II. von 1352 war schon die Rede. Das Problem des Arbeitskräftemangels scheint hier jedoch weiterhin aktuell gewesen zu sein. Bereits 1353 erneuerte der Herzog sein Mandat, erhöhte dabei die Lohnsätze in Hinblick auf eine inzwischen vorgenommene Münzerneuerung und gebot, Weingartenarbeiter, woher sie auch kommen, zu beherbergen 75 . 1364 verfügte Rudolf IV. die Auflösung aller Bestandsverträge über Weingärten in der Umgebung Wiens, um dadurch die „rechten mittleren Löhne" zu erhalten, und ordnete gleichzeitig an, bei der bisherigen Form der Aufnahme von Taglöhnern zu bleiben 76 . Noch 1412 bzw. 1413 bestätigte Herzog Albrecht V. die diesbezüglichen Regelungen seines Urgroßvaters, mit deren Durchführung der R a t 71 Deutsche Fortsetzung des Anonymus Leobiensis, ed. Hieronymus Pez, Scriptores rerum Austriacarum 1, 1721, Sp. 971. 72 Tomaschek, Rechte und Freiheiten 1 n 49 und 54. 73 Brunner, Finanzen, 341. 74 Ebda., 344 f. 75 Tomaschek, Rechte und Freiheiten 1, n 48. 7 « Ebda., n 47.

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der S t a d t Wien betraut war, und z w a r nicht nur innerhalb des Burgfrieds, sondern auch innerhalb einer R a s t u m die Stadt, hier freilich im Einvernehmen mit den herrschaftlichen Amtleuten 7 7 . Z u r Kontrolle der Einhaltung der Maximaltarife wurde bei jedem Stadttor eine sogenannte „Mietstatt" eingerichtet. N u r hier durften Lohnverabredungen zwischen Weingartenbesitzern und Taglöhnern durchgeführt werden. Vier Geschworene hatten im A u f t r a g des Rats diese Abmachungen zu überwachen. Aus der Zeit um 1400 ist eine ausführliche Ordnung darüber erhalten 7 8 . Ebenso wie die landesfürstlichen Lohnsatzungen enthält sie auch Angaben über Arbeitszeit und sonstige Arbeitsbedingungen. Abgesehen v o m Baugewerbe, das in Hinblick auf die Verwendung zahlreicher ungelernter H i l f s k r ä f t e eine Sonderstellung einnahm 7 9 , hat der Landesfürst in die Lohnregelungen des H a n d w e r k s nicht eingegriffen. In seinen Preissatzungen hat er sich mit der Fixierung des Höchstpreises f ü r die E n d p r o d u k t e bestimmter Gewerbe begnügt 8 0 . Soweit es zur Festsetzung von gleichmäßigen Lohnbedingungen kam, gingen derartige Regelungen von den Handwerkszechen selbst aus, wie das etwa für die Bäcker f ü r 1429 belegt ist 8 1 . D i e Gewerbepolitik des Landesfürsten versuchte im wesentlichen nur, die Autonomie der Zechen zu beschränken, sofern andere Bevölkerungsgruppen bzw. seine eigenen fiskalischen Interessen beeinträchtigt waren 8 2 . In wirtschaftlicher Hinsicht ergaben sich dabei vor allem zwei Aspekte: Preisverabredungen zum Schaden der Konsumenten und Abschließungstendenzen gegenüber neuen Bewerbern um die Zulassung zur Gewerbeausübung. Derartige Bestrebungen zu verhindern, war das Ziel aller landesfürstlichen Einungsverbote. Schon 1276 hob K ö n i g Ottokar, nachdem Wien durch zwei Großbrände zerstört worden war, alle 7 7 Tomaschek, Rechte und Freiheiten 2, n 107, 115, 117; d a z u B r u n n e r , Finanzen, 214 ff. 7 8 Tomaschek, Rechte und Freiheiten 2, n 107. 79 E. Kelter, Geschichte der obrigkeitlichen Preisregelungen, 1935, 91 f. 8 0 Rausch, H a n d e l an der D o n a u , 168. 8 1 G . O t r u b a , Berufsstruktur und B e r u f l a u f b a h n v o r der industriellen R e v o l u t i o n , D e r niederösterreichische Arbeiter 4/2, 1952, L X X X I I I . 8 2 H . Lentze, D i e rechtliche S t r u k t u r des mittelalterlichen Z u n f t wesens in Wien und in den österreichischen S t ä d t e n , Mitteilungen des Vereins f ü r Geschichte der S t a d t Wien 15, 1935, 16 ff.

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„unanimitates" der Gewerbetreibenden in der Stadt auf fünf Jahre auf, um die Zuwanderung von Handwerkern anzuregen. 1281 erließ König Rudolf in seinem Freiheitsbrief für Wien ein Verbot von Handwerksvereinigungen unter besonderer Hervorhebung der Lebensmittelgewerbe. Ähnliche Maßnahmen sind aus der frühen Habsburgerzeit für mehrere Städte des Landes überliefert. Wie die gleichzeitigen Bestätigungen von Zechordnungen zeigen, ging es dabei nicht um das Verbot von Zusammenschlüssen an sich, sondern nur um die Verhinderung autonomer Satzungen, durch die f ü r die Allgemeinheit Schaden entstand. Am radikalsten ist hier wiederum Rudolf IV. vorgegangen. 1361 hob er alle bestehenden Zechen und Einungen in Wien auf, kassierte generell deren historisch gewachsene Sonderrechte, gleichgültig, ob sie auf landesfürstlicher Verleihung oder autonomer Satzung beruhten, und dehnte dann in der Folgezeit diese Bestimmungen auch auf andere österreichische Städte aus. Mit einer Einführung allgemeiner Gewerbefreiheit, wie sie in der älteren Literatur angenommen wurde, haben diese Maßnahmen nichts zu tun. Im Gegenteil, Rudolf hat selbst f ü r eine starke Reglementierung des Gewerbewesens gesorgt. Das zeigt deutlich eine von ihm bestätigte Musterordnung für die Wiener Fleischhauer 83 . Das Neue an seiner R e f o r m ist die volle Übertragung der Gewerbehoheit an Bürgermeister und Rat der Städte, die genauso wie der Landesfürst selbst alles Interesse hatten, gegen den Gruppenegoismus von Handwerksverbänden vorzugehen. In diesem Sinne haben auch weiterhin die österreichischen Landesfürsten in das Gewerbewesen eingegriffen, so etwa wenn Friedrich III. 1459 gegen die Kartellbildung von fünf großen Messererhandwerken im Land unter und ob der Enns vorging, die sich als die einzig „redlichen" erklärten und alle anderwärts arbeitenden Gesellen mit Aussperrung bedrohten 8 4 . Auch in Tirol haben die habsburgischen Landesfürsten aus gleichen Motiven in einigen Fällen die Bestätigung von Zunftordnungen verweigert 85 . Die Maßnahmen der Landesfürsten gegen Abschließungstendenzen in den Zünften hatten ganz allgemein zum Ziel, eine möglichst zahlreiche und in Arbeit stehende Bevölkerung der landesfürstlichen Städte zu erreichen, weil dadurch wirtschaftlicher Wohlstand 83 84 85

Tomasdiek, Rechte und Freiheiten 1, n 68. Otruba, Berufsstruktur, L X X X . Wopfner, Die Lage Tirols, 140 und 208 f.

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und damit zugleich auch entsprechende Steuerleistung gewährleistet schienen 86 . Diese Absicht gilt im besonderen für die Reformgesetze Rudolfs IV., der damit tatsächlich einen starken Zustrom von Handwerkern in seine durch Katastrophen entvölkerte Landeshauptstadt erreichte. Aber nicht nur seine Gewerbepolitik ist in diesem Zusammenhang zu sehen, sondern auch eine Reihe anderer Maßnahmen, vor allem sein so umstrittenes Gesetz über die Ablösbarkeit der auf den städtischen Grundstücken und Häusern lastenden Renten, der sogenannten „Überzinse" 8 7 . Als Vorbild können analoge Bestimmungen Friedrichs des Schönen bzw. des Bischofs von Passau in St. Pölten gedient haben 8 8 . D i e Verfügung R u d o l f s war also nichts absolut Neues. Sie ging jedoch in der Radikalität der Durchführung — Androhung von Verzugsstrafen, Besteuerung nicht abgelöster Renten etc. — weit über die früheren Praktiken hinaus. Vor allem die Kirche war aufs schwerste betroffen. Dementsprechend kritisch waren auch die Stellungnahmen der drei Wiener Professoren, die unter R u d o l f s Nachfolger v o m R a t der Stadt Wien um ein Gutachten ersucht wurden. Der Wohlstand des Bürgertums hingegen wurde durch die Möglichkeit des Erwerbs unbelasteten Grund- und Hausbesitzes sehr gefördert. Für die regionale Mobilität war dieser Ansporn zur Zuwanderung von großer Bedeutung. Neben den Landesstädten sind die Bergbaubezirke als Bereiche direkter landesfürstlicher Einflußnahme zu nennen. In Hinblick auf die reichen Bodenschätze des Ostalpenraumes, deren Ausbeutung gerade im Spätmittelalter einen einmaligen Aufschwung erlebte, kommt dem Bergbau im Zusammenhang wirtschaftspolitischer Maßnahmen der österreichischen Landesfürsten in dieser Zeit besondere Bedeutung zu. Eine Reihe wirtschaftlicher Aspekte des Bergwesens wurde bereits erwähnt: Die stärkere Betonung des Bergregals im Interesse der Durchsetzung der Landeshoheit, der Übergang zu Regiebetrieben im Salinenwesen, die fiskalischen Interessen am Bergbau und am H a n d e l mit den Montanprodukten, die Fürkaufsverbote zur Sicherung der Proviantversorgung sowie 8® H o f f m a n n , Wirtschaftsgeschichte des L a n d e s Oberösterreich 1, 131. 8 7 Trusen, Spätmittelalterliche Jurisprudenz, 138 ff., mit weiterführenden Literaturangaben. 8 8 Vancsa, Geschichte N i e d e r - u n d Oberösterreichs, 152 f.

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die Anfänge des Widmungswesens. Einige Punkte sind noch zu ergänzen. Hauptsächliches Instrument landesfürstlicher Montanpolitik waren die Bergordnungen. Sie reichen in einigen habsburgischen Territorien schon sehr weit zurück. Die Tiroler Grafen etwa konnten auf Vorbilder der Bischöfe von Trient aus dem ausgehenden 12. und beginnenden 13. Jahrhundert zurückgreifen 89 . Erwähnenswert erscheinen ferner die vor 1325 entstandene O r d nung f ü r das steirische Silberbergwerk in der Zeiring und die 1342 vom Salzburger Erzbischof f ü r den Goldbergbau im Gasteiner und Rauriser Tal getroffenen Bestimmungen 90 . Maßgeblich wurden dann die steirischen Bergbauordnungen der Zeit Herzog Emsts (1406—1425), vor allem die von Schladming, die Emsts Bruder Friedrich 1427 in Tirol f ü r Gossensaß, dessen Sohn Siegmund 1447 bzw. 1440 für Schwaz zum Vorbild nahm 9 1 . Die Schwazer Ordnung wiederum hat bis tief in die Neuzeit hinein in den habsburgischen Ländern exemplarisch gewirkt. Die ältesten Bergordnungen sind freilich arm an wirtschaftlich interessanten Bestimmungen. Es geht in ihnen primär um die Regelung der Rechtsbeziehungen zwischen Bergherrn und Berggemeinde bzw. innerhalb derselben. Ähnlich wie bei den Stadtrechten entwickelten sich aus den landesfürstlichen Bergordnungen erst langsam spezifisch wirtschaftliche Maßnahmen, die mitunter schon in einem umfassenderen territorialwirtschaftlichen Zusammenhang eingeordnet sind. Solche Erscheinungen finden sidh hier freilich erst im 15. Jahrhundert. Von den gesamtwirtschaftlichen Verflechtungen der Montanbetriebe sei neben den schon behandelten Fragen der Proviantversorgung und des Handels mit den Montanprodukten vor allem auf die Bedeutung der Waldwirtschaft hingewiesen. Der enorme H o l z - und Kohlebedarf der Bergwerke — Betrieb von Sudhäusern, Schmelzwerken, Blähhäusern etc. — führte diesbezüglich schon f r ü h zu Problemen. In Hallein mußte der Erzbischof 1237 — also 89 Schwind/Dopsch, Ausgewählte Urkunden, 18 n 12; Wopfner, Die Lage Tirols, 142; G. Schreiber, Der Bergbau in Geschichte, Ethos und Sakralkultur, 1962, 118. 90 Schwind/Dopsch, Ausgewählte Urkunden, 170 n 92 und 181 n 97. 91 Schwind/Dopsch, Ausgewählte Urkunden, 311 n 177; Worms, Schwazer Bergbau, 21.

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bereits wenige Jahrzehnte nach der Eröffnung des Salinenbetriebs — die Holzbezugsrechte regeln 92 . Zu krisenhaften Erscheinungen kam es in der zweiten H ä l f t e des 15. Jahrhunderts in Tirol wie auch in der Steiermark. Die Bauern beschwerten sich über die Einschränkung ihrer Waldrechte sowie über die f ü r den Waldbestand gefährliche Raubwirtschaft; der Bergbauunternehmer 9 3 . In Tirol geriet selbst der Hof hinsichtlich des Holzbezugs in Schwierigkeiten. Die Bergordnungen entschieden in dieser Frage weitgehend zugunsten der Montanbetriebe. In der Steiermark und im Land ob der Enns hat Friedrich III. durch großflächige Waldwidmungen ein zukunftweisendes Ordnungssystem geschaffen 94 . I m ausgehenden Mittelalter kam es — vor allem im Edelmetallbergbau — zu einer stärkeren Differenzierung zwischen den unternehmerischen K r ä f t e n unter den Gewerken und der eigentlichen Bergarbeiterschaft, deren Interessenskonflikte wiederholt ein Eingreifen des Landesfürsten notwendig machten. Insbesondere in den Tiroler Bergordnungen finden sich in dieser Zeit zahlreiche Regelungen über Arbeitsverträge, Arbeitszeiten und Arbeitslöhne 95 . Bezüglich der Arbeitsverträge bestimmen die Bergordnungen, d a ß diese nach Übernahme des Angelds durch den Arbeiter unbedingt als verpflichtend anzusehen seien. Der Bergrichter hatte die Einhaltung der übernommenen Arbeitsverpflichtung notfalls mit Zwangsgewalt durchzusetzen. Derartige Maßnahmen des Kontraktschutzes waren notwendig, weil in der Blütezeit des Tiroler Bergbaus bis weit hinein in das 16. Jahrhundert stets großer Arbeitskräftemangel herrschte. Die Gewerken aber versuchten, einander tüchtige Arbeitskräfte abzuwerben. Audi scheinen die Bergknappen, in der Sicherheit, ohnehin sofort wieder aufgenommen zu werden, die übernommenen Verpflichtungen nicht entsprechend eingehalten zu haben, vor allem was die Arbeitszeit betraf. Umgekehrt mußten die Gewerken vom Landesfürsten zu termingerechter Lohnauszahlung verhalten werden. Auch wurde ihnen verboten, den Lohn in Lebensmitteln abzustatten, da es dabei häufig zur Übervorteilung der Arbeiter kam. Mit der Frage der Arbeitszeit beschäftigen sich die Tiroler Berg92 93 94 95

Salzburger Urkundenbuch 3, 1918, 485 n 933. W o p f n e r , D i e Lage Tirols, 151; Worms, Schwazer Bergbau, 71 ff. H o f f m a n n , D i e Wirtschaft im Zeitalter Friedrichs III., 172. Worms, Schwazer Bergbau, 35 ff., 43 ff., 59 ff., 91 ff.

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Ordnungen wiederholt. Schon 1447 wurde f ü r die Schwazer Bergknappen der Achtstundentag festgelegt. Sehr umstritten war die Regelung der arbeitsfreien Tage. Gegen widerrechtlich eingeschaltete Ruhetage mußte wiederholt vorgegangen werden. Vor allem der Montag wird dabei besonders angeführt. U m die Knappen „in pessern willen", d. h. bei guter Stimmung zu halten und ein Abwandern zu vermeiden, bewilligte ihnen Herzog Siegmund 1479 fünf zusätzliche Feiertage ohne Lohnabzug. Bei den 1485 ausgebrochenen Unruhen stand neuerlich die Frage der Ruhetage im Mittelpunkt. Der Herzog legte den Streit bei, indem er arbeitsfreie Zeit an den Vigiltagen kirchlicher Hochfeste zugestand. Preis- und Lohnsatzungen finden sich in den Montangebieten schon relativ früh. Für die Saline Aussee ordnete Herzog Ernst 1409 an, daß die Geschworenen Höchstpreise f ü r die Güter des täglichen Bedarfs festzusetzen hätten, und zwar angepaßt an die ebenso fixierte Lohnhöhe. Der Eindruck des Hallstätter Knappenaufstandes von 1392 mag bei dieser Maßnahme eine Rolle gespielt haben 96 . In Tirol versuchte der Landesfürst zunächst, von sich aus Lohntarife festzusetzen. In der Bergordnung f ü r Gossensaß von 1427 sind stark differenzierte Angaben über Tag- und Wochenlöhne enthalten 97 . Es handelt sich hier wiederum um Maximaltarife, die freilich in Hinblick auf den großen Arbeitskräftemangel nicht eingehalten werden konnten. Schon bald darauf klagt der Bergrichter von Gossensaß in einem Bericht an den Herzog, daß die Lohnordnung laufend durchbrochen werde, „von solher arbait und newen funden wegen so dan in kurtz im lande allenthalben auferstanden sind, da durch die arbaiter umb solche gesatzte Ion tewer sind, dartzu ainer dem andern sein arbaiter heimlichen unterdinget und von im zewhet merern Ion wider di gesatzte" 8 8 . Der Silberboom dieser Jahre überrollte das vom Herzog aufgestellte Lohnsystem. Die Eigendynamik des Wirtschaftslebens erwies sich stärker als die Versuche der Obrigkeit, regulierend einzugreifen. Der Landesfürst zog sich daher in seinen späteren Bergordnungen auf allgemeine Bestimmungen zurück wie: „. . . das ieder man gehalten werd also was ainem recht ist das dem andern auch sei und niemand wider den andern gevorteilt oder beswärt werd geverlich 14

Srbik, Salzwesen, 109. "7 Worms, Schwazer Bergbau, 101 n 1. 98 Ebda., 46 f.

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oder unpillich, sunder jederman gleich und recht beschech, dem armen als dem reichen getraulich und ungeverlich." 99 Die Lohnfestsetzung wurde den Organen der Gewerken, den sogenannten „Hutleuten", im Einvernehmen mit den Geschworenen überlassen. In keinem anderen Bereich haben sich die österreichischen Landesfürsten im Spätmittelalter derart intensiv mit Fragen der Lohnarbeit befaßt wie im Montanwesen. Gerade Tirol bietet hier gute Vergleichsmöglichkeiten. Den zahlreichen Bestimmungen der Bergordnungen über Arbeitslöhne, Arbeitszeiten, Arbeitsbedingungen stehen ganz wenige Regelungen auf Landesebene gegenüber, die sich mit den Taglöhnern im agrarischen Bereich beschäftigen. Die Festlegung von Maximaltarifen f ü r die Landarbeiter in der Landesordnung von 1352 war, wie schon gesagt, durch eine besondere Krisensituation bedingt. Es wurde hier die Lohnhöhe differenziert nach männlichen und weiblichen Arbeitern sowie in Hinblick auf die jahreszeitlich unterschiedlich lange Arbeitsdauer fixiert und gleichzeitig die Verpflichtung ausgesprochen, d a ß alle, auch die neu hinzuziehenden Arbeiter, gegen diese Entlohnung zu dienen hätten 1 0 0 . 1420 bestätigte der Herzog einen Beschluß einer Ständeversammlung, der allen Richtern des Landes befahl, nicht im Dienst stehende Knechte binnen acht Tagen aus dem Gericht zu verweisen 101 . Was sonst in Tirol bezüglich der Aufnahme der Arbeitsbedingungen von Taglöhnern bestimmt wurde, findet sich in den Weistümern der Gerichte, wurde also offenbar auf lokaler Ebene geregelt. In den übrigen habsburgischen Ländern werden um Lohn dienende bäuerliche Arbeitskräfte in den landesfürstlichen Ordnungen überhaupt nicht berücksichtigt. Auch in den Städten haben wir gesehen, daß der Landesfürst in Fragen der Lohnarbeit primär in Krisenzeiten selbst eingreift, und auch dann nur bei ganz bestimmten Großgruppen der Stadtbevölkerung. Das zünftisch organisierte H a n d w e r k bleibt mit Ausnahme der Bauarbeiter, die eine Sonderstellung einnahmen, diesbezüglich völlig ausgeklammert. Generelle Lohnsatzungen für Handwerksgesellen fehlen. Die Fixierung von Maximallöhnen seitens des Landesfürsten hatte zum Ziel, in Zeiten des Arbeitskräftemangels ein Steigen der 99 100 101

Ebda., 47. Sdiwind/Dopsch, Ausgewählte Urkunden, 184 n 100. Hon-Firnberg. Lohnarbeiter, 67.

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Löhne zu verhindern. Es war dies als Maßnahme zum Schutz der ärmeren Dienstgeber gedacht. Der arme wie der reiche Gewerke, Weingartenbesitzer etc. sollte durch Fixierung einer angemessenen Lohnhöhe in gleicher Weise die Chance haben, zu Arbeitskräften zu kommen. Das oben gebrachte Zitat aus der Schwazer Bergordnung Herzog Siegmunds zeigt diese Tendenz beispielhaft. Man trachtete eine Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt möglichst zu vermeiden, ein Motiv, das ganz allgemein die mittelalterliche Wirtschaftsordnung bestimmte. Wir finden es bei Handwerkszechen genauso wie in bäuerlichen Gerichtsgemeinden. Die Lohnhöhe sollte keine Direktionsfunktion ausüben, jedenfalls nicht innerhalb eines genossenschaftlich organisierten Personenverbandes. Die Herstellung einer gewissen Chancengleichheit innerhalb dieses Verbandes sollte jedem ihrer Angehörigen eine ausreichende Erwerbsmöglichkeit sichern. Hingegen wurde einer durch unterschiedliche Lohnhöhe bedingten Mobilität zwischen verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Bereichen kaum entgegengewirkt. So haben die österreichischen Landesfürsten — abgesehen vielleicht von den erwähnten Beschränkungen des Weinbaus im 15. Jahrhundert — nichts dagegen unternommen, daß die günstigeren Erwerbschancen im städtischen H a n d w e r k und in der Weingartenarbeit zahlreiche bäuerliche Arbeitskräfte anzogen. Im Gegenteil — sie haben diese Entwicklung sogar zeitweise sehr gefördert. Die Stadtpolitik Rudolfs IV. bildete diesbezüglich einen Höhepunkt. Aber auch schon sein Vater Albrecht befahl, daß man Weingartenarbeiter, woher auch immer sie kämen, aufzunehmen habe 102 . Bei den als Maßnahmen gegen die Landflucht gedeuteten Bestimmungen handelt es sich um Verbote bzw. Beschränkungen der Aufnahme herrschaftlicher Eigenleute, also um den Schutz von Besitzrechten, auf den man sich freilich erst recht besann, als man im frühen 15. Jahrhundert das Interesse an verstärkter Zuwanderung zu den Städten verlor. Die weitgehende persönliche Freizügigkeit der bäuerlichen Bevölkerung in den österreichischen Ländern läßt der Frage der Aufnahme von Eigenleuten wenig Bedeutung zukommen. Auf dem Wege der Lohnsatzungen, aber auch durch andere Regelungen von Arbeitsbedingungen haben die österreichischen 102

Tomaschek, Rechte und Freiheiten 1, n 48.

Wirtschaftspolitik der österreichischen Landesfürsten

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Landesfürsten des Spätmittelalters in den ihrer direkten Herrschaftsausübung unterworfenen Bereichen — also primär in den Städten und den Bergbaugebieten — die Konditionen, unter denen es zum Abschluß von Arbeitskontrakten kam, in mancher Hinsicht beeinflußt. Dies gilt ebenso in vermittelter Form für die Auswirkungen der Gesamtheit ihrer wirtschaftspolitischen Maßnahmen auf die allgemeinen Lebens- und Erwerbsbedingungen in diesen Bereichen. Sie haben umgekehrt eine Reihe von Eingriffen in das Wirtschaftsleben aus besonderen Gegebenheiten des Arbeitskräfteangebots motiviert. Man kann in diesem Sinne also sehr wohl von Wechselwirkungen zwischen Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt sprechen, soweit eine Verwendung dieses Begriffs für das Spätmittelalter anerkannt wird. Nach den eingangs angestellten Überlegungen steht dem eigentlich nichts im Wege. Der Begriff „Arbeitsmarkt" erscheint formal genug, um auch auf weit zurückliegende Epochen angewandt zu werden. Und wenn man bedenkt, daß in spätmittelalterlichen Preisordnungen der Preis menschlicher Arbeitsleistung in einem Zuge mit dem von Marktwaren angeführt wird, so mag auch von den Quellen der Zeit her gesehen die Verwendung dieses Terminus nicht gerade anachronistisch sein 103 . Es wäre freilich verfehlt, anzunehmen, daß dieser spätmittelalterliche Arbeitsmarkt bzw. seine fachlich und räumlich stark voneinander differenziert zu denkenden Teilmärkte, die auch nach ihrem Umfang natürlich nicht nach heutigen Maßstäben zu messen sind, seitens des Landesfürsten bloß durch wirtschaftspolitische Maßnahmen beeinflußt worden wären. Es sei dies abschließend an einem extrem gewählten Beispiel illustriert: Ein besonders dynamisierender Faktor der spätmittelalterlichen Arbeitsmarktverhältnisse war sicher das Söldnerwesen. Für den Solddienst boten sich primär jene relativ mobilen Personengruppen an, die in den Städten und in den Montandistrikten Lohnarbeit leisteten, die Handwerksgesellen und die Bergknappen. Beide Gruppen waren wehrhaft. Die Tiroler Landesfürsten haben im 15. Jahrhundert vielfach mit Knappenaufgeboten, die sie in Sold nahmen, Kriege geführt 1 0 4 . Ähnlich verhielt es sich mit den Gesellen in den

1 0 3 Zu den diesbezüglichen Bestimmungen 1 4 6 0 / 6 1 vgl. S. 35. 1 0 4 Schreiber, Bergbau, 535 und 6 0 0 f.

der

Preissatzungen

von

Michael Mitterauer

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städtischen Aufgeboten b z w . Söldnertruppen 1 0 5 . Die Übergänge waren hier also fließend. Durch den Solddienst tritt n u n der Landesfürst selbst — vermittelt durch seine Söldnerführer — als Dienstgeber auf dem Arbeitsmarkt auf — ein durch die Veränderungen der Wehrverfassung bedingter, ganz neuartiger F a k t o r . Sicherlich ist die Möglichkeit, Söldneraufgebote aufzustellen, von ökonomischen Voraussetzungen abhängig. Es ist gewiß kein Zufall, d a ß gerade die über reiche E i n k ü n f t e aus dem Bergbau v e r f ü g e n den Landesfürsten als erste zu Söldnerheeren übergehen. Aber dieser Zusammenhang mit der landesfürstlichen Wirtschaftspolitik ist doch stark vermittelt. Wollte man die Rolle der landesfürstlichen Politik für die Arbeitsmarktverhältnisse der Zeit näher analysieren, so müßte m a n also sehr vielfältige Aspekte in die Untersuchung einbeziehen, wie ja auch die wirtschaftspolitischen M a ß n a h m e n der Landesfürsten insgesamt erst im umfassenden K o n t e x t seiner Territorialpolitik richtig verständlich werden. 105

P. Hollnsteiner, Das Lehrlings- und Gesellenwesen im 15. Jahrhundert, phil. Diss. Wien (masch.), 113.

Österreichs

J A N A . VAN H O U T T E UND RAYMOND VAN U Y T V E N

WIRTSCHAFTSPOLITIK IN D E N N I E D E R L A N D E N BIS Z U R SCHWELLE DES

UND ARBEITSMARKT VOM SPÄTMITTELALTER INDUSTRIEZEITALTERS

Es liegt nicht in unserer Absicht, die alte Streitfrage über das Bestehen und die eventuelle Motivation einer bewußten Wirtschaftspolitik bei den mittelalterlichen Behörden wieder aufzugreifen, die in der Neuzeit wenigstens in den Ansätzen allgemein angenommen werden 1 . Im folgenden verstehen wir unter Wirtschaftspolitik jede Aktion und jede H a l t u n g der Obrigkeit auf gleich welchem Gebiet, die auf die Wirtschaft einen deutlichen Einfluß ausgeübt haben, ohne daß diese Folgen notwendigerweise bewußt hätten angestrebt sein müssen. I m Interesse der D a r stellung haben wir nicht gezögert, den Begriff noch weiter auf alle Optionen der führenden Wirtschaftskreise auszubreiten. Unter Obrigkeit werden hier nicht nur der Fürst und seine Regierungsbeamten verstanden, sondern auch die Stadtbehörden, die im Spätmittelalter und bis in die Neuzeit mehr als der Fürst den Blick auf die Interessen der Wirtschaft gerichtet hielten. Erst die H e r z ö g e von Burgund, die seit 1384 allmählich die unterschiedlichen niederländischen Territorien, ausgenommen das Fürstbistum Lüttich, unter sich vereinigt hatten, oder besser gesagt ihre finanziellen Beamten der Rechnungshöfe, schienen aus begreiflichen Gründen stärker ein A u g e für diese Probleme zu haben. Auch der Begriff „ A r b e i t s m a r k t " ist in der Zeit vor dem Industriezeitalter ein ziemlich vager Begriff. „Arbeit im Lohndienst" ist in der T a t in dieser Zeit offenbar kein hinlängliches Kriterium zur Abgrenzung des Arbeitsmarktes. D e r Zunftmeister, 1 V g l . i m allgemeinen: C . H . W i l s o n , S o c i e t y and the State, i n : T h e C a m b r i d g e E c o n o m i c H i s t o r y o f E u r o p e 4, hrsg. v o n E . E. Rieh und C . H . Wilson, 1967, 4 9 5 ff.; f ü r den deutschen R a u m insbesondere j e t z t : H . H a s singer, Politische K r ä f t e u n d Wirtschaft, in: H a n d b u c h der deutschen Wirtschafts- u n d Sozialgeschichte 1, hrsg. v o n H . A u b i n u n d W. Z o r n , 1971, 6 0 8 — 6 5 7 .

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der oft selber Arbeitgeber und Unternehmer eines kleinen Betriebes war, war vielmals bzw. konnte bisweilen auftreten als Akkordarbeiter von Rohstoffen, die Dritten gehörten. Dies galt für Weber sowohl als für Walker, für Maurer wie für Bräuer, Bäcker und Schneider. Die mittelalterlichen Ordnungen, die in der Mehrzahl völlig oder fast unverändert in der Neuzeit ihre Wirkung behielten, hatten übrigens ausdrücklich die Möglichkeit vorgesehen, daß der Meister seine eigene Werkstatt aufgäbe und sich als Taglöhner an Privatpersonen oder an einen glücklicheren Berufsgenossen verdinge 2 . Die zahlreichen kleinen Landwirte waren außerdem gezwungen, ein Nebeneinkommen zu suchen, indem sie selbst oder ihre Angehörigen industrielle Akkordhausarbeit leisteten, oder indem sie sich in größeren Betrieben als Lohnarbeiter verdingten 3 . Die älteste Form einer Wirtschaftspolitik oder dessen, was als solche gelten kann, w a r die Fürsorge der Obrigkeit zur Sicherung der städtischen Ernährung und zum Schutz des Verbrauchers. Um das zu gewährleisten, wurde eine Infrastruktur von öffentlichen Verkaufshallen und Betriebseinrichtungen, wie Schlachthäuser, Grütebereitung für die Bräuer usw., ausgebaut und wurden für die verschiedenen Sektoren spezialisierte Aufseher der Obrigkeit ernannt. Als unmittelbare Folge dieser Sorge der Obrigkeit zur Regelung des Handels und des Gewerbes stellen wir fest, daß im 13. Jahrhundert Handwerksleute und Kleinhändler überall in sozial-wirtschaftliche Gruppen eingeteilt sind. Diese Ansicht wurde schon von H. Pirenne im Jahre 1910 in dessen Les anciennes démocraties des Pays-Bas vertreten, aber sie wurde 1951 von 2 Zum Beispiel das Reglement der Brüsseler W e b e r v o n 1365 (F. Favresse, Règlements inédits sur la v e n t e des laines et des draps et sur les métiers de la draperie bruxelloise. 1 3 6 3 — 1 3 9 4 , Bulletin de la Commission royale d'Histoire 1 1 1 , 1 9 4 6 , 206 f.), der Mechelner W e b e r v o n 1 2 9 5 (H. Joosen, Recueil de documents relatifs à l'histoire de l'industrie drapiere à Malines des origines à 1 3 8 4 , ebenda 99, 1 9 3 5 , 472—474). 3 J . A . v a n Houtte, S t a d t und Land in der Geschichte des flandrischen G e w e r b e s im Spätmittelalter und in der Neuzeit, in: Wirtschaft, G e schichte und Wirtschaftsgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag v o n Friedrich Lütge, 1966, 90 ff., neugedruckt i n : Wirtschaftliche und soziale Probleme der gewerblichen Entwicklung im 1 5 . bis 16. u n d 1 9 . J a h r hundert, Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, hrsg. v. F. Lütge, 10, 1968, 92 ff.

Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt: Niederlande

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C. WyfFels in bezug auf Flandern und Brabant nach erschöpfender Quellenuntersuchung kräftig bestätigt, während er die militärische Organisation und das karitativ-religiöse Element nur als sekundäre Faktoren kennzeichnete 4 . Die organisierende Aufsicht der Obrigkeit war das wirkliche Stimulans f ü r die Handwerksleute zum Zusammenschluß und zum Streben, die Ernennung der Aufseher unter ihre Kontrolle zu bringen, was ihnen im allgemeinen in Flandern, Brabant und in den sonstigen jetzt belgischen Landschaften, in den nördlichen Niederlanden dagegen nur in einzelnen Städten wie Dordrecht und Utrecht gelang 5 . In diesem Zusammenhang vollzog sich der Zusammenschluß der Berufsgenossen zu einer Korporation mit wirtschaftlichen und bald sogar politischen Befugnissen. Das Streben der Obrigkeit nach Schutz des Verbrauchers hat in dieser Weise zu einer Spezialisierung der Arbeitskräfte und zur besseren Arbeitsverteilung geführt, mit der erfreulichen Folge einer erhöhten Produktivität, die dem Verbraucher wie dem Produzenten zugute kam. Aus dem Wachstum der Zunftkorporationen entstand gleichwohl eine Strukturierung des Arbeitsmarktes, durch die der Übergang vom einen Sektor zum andern nicht nur von den Erfordernissen der technischen Fertigkeit gehemmt wurde, sondern auch von den juridischen Schranken der Zünfteeinteilung. Dieser Tendenz entsprach vielfach eine Vermehrung der Zahl der Zünfte: deren gab es in Brügge 55 im Jahre 1364, 1684 aber, trotz dem Erlöschen verschiedener überholter Berufe, 74 6 . Man kam stark in die Versuchung, diese Schranken unüberwindlich zu gestalten und somit 4 C. WyfFels, D e oorsprong der ambachten in Viaanderen en Brabant, Verhandelingen der Koninklijke Vlaamse Academie voor Wetenschappen, Letteren en Schone Künsten van België, Klasse der Letteren 13, 1951. 5 A. van Vollenhoven, Ambachten en neringen in Dordrecht, Diss. Leiden, 1923; J. C. Overvoorde u. J. G. Ch. Joosting, De gilden van Utrecht tot 1528. Verzameling van rechtsbronnen, Werken uitgegeven door de Vereeniging tot uitgave der bronnen van het oude vaderlandsche recht 19, 1896—1907; S. Muller Fzn., De gilden en het regeeringstoezicht op handel en nijverheid in de Middeleeuwen, De Gids 1897, 2, 490—537; 1898, 2, 255—289, 485—511, neugedruckt: ders., Schetsen uit de Middeleeuwen, 1900, 109—158. 6 H. van Houtte, Histoire économique de la Belgique à la fin de l'Ancien Régime, Université de Gand. Recueil de travaux publiés par la Faculté de Philosophie et Lettres 48, 1920, 12.

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Kellenbenz, Wirtschaftspolitik

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der freien Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ein Ende zu bereiten, in der Absicht, auf diese Weise den stagnierenden städtischen Markt sich selber und seinen Nachkommen vorzubehalten. Die Obrigkeit selber hat bisweilen in bestimmten Sektoren die Anzahl der Arbeitskräfte genau und unabänderlich festgelegt. Man könnte hier aber diese Arbeitskräfte eher als Beamte betrachten, als Bediener eines öffentlichen Dienstes, da sie vielfach im Hafenbetrieb und im Transportwesen eingesetzt waren und dort die fiskalischen und andere Kontrollen erleichterten. So w a r die Zahl der Schubkarrenleute zu Antwerpen im Jahre 1448 auf 50 festgelegt und die der Gepäckträger 1430 auf 36 7 . In gewisser Hinsicht waren anfänglich auch die Bediensteten des Ernährungssektors von der Obrigkeit in der Zahl beschränkt, einfach deshalb, weil die Verkaufsstände in den öffentlichen Hallen naturgemäß beschränkt waren. Das ist außergewöhnlich gut ersichtlich geblieben bei den Metzgern, sogar in dem Maße, daß sie in den meisten niederländischen Städten rechtens einen erblichen Beruf ausübten 8 . Unter Umständen konnten sich aus dieser Sachlage extreme Fälle entwickeln, wie bei den Genter Metzgern: im Jahre 1679 gehörten die 116 Verkaufsstände der Genter Fleischhalle den Vertretern von nur sieben, 1795 sogar von nur vier zunftbereditigten Familien, von denen eine mehr als die Hälfte, genau 60, innehatte 9 . Möglicherweise waren auch noch andere Zünfte rechtens erblich, wie die der Fischverkäufer, die übrigens mit den Metzgern überall eng verbunden waren, oder in Gent die sogenannten „freien Schiffer". Diese Erblichkeit de iure darf nicht verwechselt werden mit der Erblichkeit de facto, auf die zahlreiche Zünfte während der wirtschaftlichen Depression des Spätmittelalters hinstrebten. Einrichtung von Fähigkeitsprüfungen, lange Lehrzeiten und ständige Erhöhung der Meistergelder und sonstiger finanzieller Lasten F. Prims, Geschiedenis van Antwerpen 6/2, 1937, 64 f. H. v a n Werveke, Ambachten en erfelijkheid, Mededeelingen van de Koninklijke Vlaamsdie Academie voor Wetenschappen usw., Klasse der Letteren 4, 1, 1942, 15. 9 H. v a n Werveke, De Gentse Vleeshouwers onder het Oud Regime. Demografisdie Studie over een gesloten en erfelijk ambaditsgild, Handelingen der Maatsdiappij voor Geschiedenis en Oudheidkunde te Gent 3, 1948, 3—32. 7

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Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt: Niederlande

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waren die bekannten Mittel zum Fernhalten der Neuanwärter. Das vielzitierte Beispiel der Genter Bräuer macht deutlich, d a ß auf diese Weise in einigen Jahrzehnten die faktische Erblichkeit erreicht werden konnte. Von 280 neuen Meistern zwischen 1420 und 1449 waren 76 Prozent Meistersöhne, von 264 zwischen 1450 und 1479 94 Prozent, von 183 zwischen 1480 und 1509 95 P r o zent, und zwischen 1510 und 1539 waren die 225 neuen Meister sämtlich Söhne von Zunftmitgliedern 1 0 . Diese faktische Erblichkeit brachte auch mit sich, daß die Anzahl der neuen Meister stagnierte, so wie übrigens die städtische Bevölkerung und ihre Bedürfnisse während dieser Periode. Neulich wurde nachdrücklich gewarnt vor übereiligen Verallgemeinerungen in dieser Hinsicht. Anhand des Beispiels der Brügger Böttcher wurde gezeigt, d a ß derartige erbliche und ausschließende Tendenzen nicht immer und überall vorkamen 1 1 . Man könnte übrigens noch weitere Beispiele in diesem Sinne anführen. So scheint auch bei den Zünften der Maurer und der Weber zu Brüssel die Erblichkeit nicht ausschlaggebend gewesen zu sein u n d entsprachen auch die Eintritte vor allem der wirtschaftlichen Konjunktur 1 2 . Wenngleich nähere Forschungen erwünscht sind, glauben wir voraussetzen zu dürfen, daß Zünfte, die wesentlich Kleinhändler u n d Versorgungsbetriebe, die auf einiges Kapital angewiesen waren, umfassen, eher zur Ausschließung neigten und auch eher dazu kommen konnten, weil ihr Einfluß im politischen Bereich nicht zu übersehen war. Dagegen wurden Z ü n f t e mit einer eher massenhaften Beschäftigung, die also hauptsächlich Lohnempfänger erfaßten, weniger exklusiv gehalten. Die Immobilität und die Abgeschlossenheit des städtischen Arbeitsmarktes waren gewiß nicht absolut. Stets haben die Behör10 H . van Werveke, Gand. Esquisse d'histoire sociale, Reihe: Notre Passé, 1946, 55. 11 J. P. Sosson, La structure sociale de la corporation médiévale. L'exemple des tonneliers de Bruges de 1350 à 1500, Revue belge de Philologie et d'Histoire 44, 1966, 457—478. 12 D. de Stobbeleir, Le nombre des nouveaux members et la corporation des maçons, tailleurs de pierre, sculpteurs et ardoisiers bruxellois (1388—1503), in: Hommage au Professeur Paul Bonenfant, 1965, 293—333; J. Cuvelier, Le registre aux statuts, ordonnances et admissions du métier des tisserands de laine ou grand métier de Bruxelles ( X V e — X V I I I e siècle), Bulletin de la Commission Royale d'Histoire 81, 1912, 121—146.



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den die Interessen der Verbraucher und der städtischen Wirtschaft beachtet. Zahllose Maßnahmen, die unzweifelhaft dazu beschaffen waren, die etablierten Zünftler vor neuen Konkurrenten zu schützen, waren doch auch in gewissem Sinne ein Schutz f ü r die Verbraucher. Die Beschränkung der Lehrlinganzahl pro Meister entsprach nicht bloß einer Art wirtschaftlichem Malthusianismus der Zunftmeister, sondern sicherte auch die tüchtige Berufsausbildung der Lehrlinge und somit die Qualität der Produkte. Beide Erwägungen galten ebenso in bezug auf die lange Lehrzeit und die Fähigkeitsprüfungen. Das Verbot, außerhalb der von der Arbeitsglocke vermerkten Stunden bzw. mit Kunstlicht oder nachts zu arbeiten, die auferlegten Produktionshöchstzahlen sowie andere Vorschriften, die gleichartige hemmende Wirkungen erzielten, wie die zahlenmäßige Beschränkung der Arbeitskräfte oder der Produktionsmittel pro Betrieb, waren so geartet, daß sie die Qualität auf hohem Niveau handhabten. Diese Maßnahmen hatten überdies den Vorteil, daß die kleinen Meister in ihrem Dasein gesichert wurden gegenüber vereinzelten reicheren Zunftgenossen. Die Atomisierung der Produktion, wie die Zunftordnung sie vorschrieb, hatte zur Folge, daß eine Monopolbildung stark erschwert und die Arbeitsbeschaffung gleichmäßig verteilt wurde. Während des 15. Jahrhunderts gelang es jedoch einigen großen Brüsseler Schmiedemeistern, fast alle Lieferungen an den Hof zu monopolisieren 13 . Diese Betrachtungen führen uns bereits auf das Gebiet der Preispolitik, einer der wichtigsten Sorgen der mittelalterlichen und neuzeitlichen Obrigkeiten, nicht nur weil diese die Verbraucher schützen wollen, sondern auch weil sie versuchen mußten, den Absatz der eigenen Gewerbe im Ausland zu sichern. D a die Industrie vor der industriellen Revolution besonders arbeitsintensiv war, war der Lohn neben dem Rohstoff von ausschlaggebender Bedeutung bei der Preisbestimmung der Fertigware und somit beim Absatz. Nichtsdestoweniger stand das iustum pretium der Arbeit, also der gerechte Lohn, im Vordergrund. Wie in bezug auf jeden anderen Preis kam theoretisch der gerechte Lohnpreis

13 J. P. Sosson, L'artisanat bruxellois du salaires et puissance économique, Cahiers bis 252.

métal: hiérarchie sociale, bruxellois 7, 1962, 246

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auf dem freien M a r k t zustande. Es gab in der Tat in jeder Stadt auch materiell einen Arbeitsmarkt: an einer bestimmten Stelle, durchwegs an der Hauptkirche oder auf dem umliegenden Friedhof, kamen am Morgen die Arbeitsuchenden — Zunftmeister, die vorläufig nicht in der Lage waren, als selbständige Unternehmer aufzutreten, und Gesellen —, sich den Bürgern und Zunftmeistern anzubieten. Die Obrigkeit wachte über den ordnungsmäßigen Verlauf dieses Arbeitsmarktes. Es war verboten sich anzubieten, wenn man bereits Arbeit hatte; andererseits durfte derjenige, der mit einem Arbeitgeber einen bestimmten Lohn vereinbart hatte, sich von einem Dritten vertreten lassen; wenn dieser aber für einen niedrigeren Lohn arbeiten wollte, kam diese Ermäßigung dem Arbeitgeber zugute 14 . Trotz dieses „Arbeitsmarktes" wurden die Löhne vielfach von der Obrigkeit, durchwegs vom städtischen Magistrat, seit der Burgunderzeit aber auch von der Territorialbehörde bestimmt, oft im Einvernehmen mit bzw. als Schiedsgericht zwischen den beiden Parteien 15 . Lohnsatzungen konnten übrigens schwerlich von der zentralen Obrigkeit vorgeschrieben werden, da die Verschiedenheit und der Partikularismus der regionalen Strukturen zu groß waren 10 . Diese Satzungen bezogen sich vor allem auf die Sektoren, in denen die Arbeitsbeschaffung ziemlich massenhaft war oder in denen sie sich plötzlich durch Konjunkturschwankungen oder durch einen Witterungsumschlag empfindlich ändern konnte. In den Niederlanden waren diese Sektoren natürlich an erster Stelle das Textil-

14 Zum Beispiel in Mecheln (1270) (Joosen, Recueil de documents relatifs à l'industrie drapiere, 463—468) und Brüssel (1365) (Favresse, Règlements inédits, 205—210). 15 H. van Werveke, D e economische en sociale gevolgen van de muntpolitiek der graven van Viaanderen (1337—1433), Annales de la Société d'Emulation de Bruges 74, 1931, 1—15, neugedruckt in: ders., Miscellanea mediaevalia, 1968,243—254; R. van Uytven, Stadsfinanciën en Stadsekonomie te Leuven van de X l l e tot het einde der XVIe eeuw, Verhandelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Wetenschappen usw., Klasse der Letteren 44, 1961, 574—576. 16 Vgl. dazu die Anmerkungen des Rates von Holland über einen Entwurf zur Lohnregelung, der von den Brabantisdien Ständen im Jahre 1561 ausgegangen war (C. Verlinden u. J. Craeybeckx, Prijzenen Lonenpolitiek in de Nederlanden in 1561 en 1588—1589, Koninklijke Commissie voor Gesdiiedenis, in -8°, 1962, 41).

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und das Baugewerbe, in geringerem Maße die Landarbeit. Da die städtische Arbeitsreserve naturgemäß beschränkt war, konnte ein plötzlicher Wirtschaftsaufschwung die Löhne in die Höhe treiben und den wirtschaftlichen Ertrag untergraben. Umgekehrt aber konnte das immer sich wiederholende Sterben, verursacht durch Krieg, Hungersnot und Pest, den Arbeitsmarkt mit demselben Ergebnis heimsuchen. Deshalb hatten Lohnsatzungen nicht immer den erwünschten Erfolg und es war besser zu versuchen, die relative Abgeschlossenheit des städtischen Arbeitsmarktes ab und zu zu durchbrechen, indem man die Zunft für offen erklärte oder, wie in Oudenaarde nach der Pest vom Jahre 1555, die Zahl der bei einem Meister zugelassenen Lehrlinge erhöhte 17 . Der städtische Arbeitsmarkt war in der Tat ziemlich isoliert. Das wird besonders klar ersichtlich, wenn man die üblichen Nominal- und Reallöhne und sogar ihre unterschiedliche Evolution in den verschiedenen Städten miteinander vergleicht 18 . Die Behörden sahen jedoch darauf, daß diese Schwankungen geziemende Grenzen nicht überschritten, da sie sonst doch der Gefahr ausgesetzt wären, geschulte Arbeitskräfte zu verlieren oder umgekehrt fremde Arbeitskräfte nicht mehr anziehen zu können. Die verhältnismäßige Isolierung des städtischen Arbeitsmarktes war nicht nur die Folge des Strebens nach Exklusivität und der Monopolsucht der Zünfte, sondern entsprach zugleich dem berechtigten Wunsch der städtischen Behörden, Arbeitslosigkeit und Armut der eigenen Untersassen zu vermeiden. Daher das Verbot, Wolle außerhalb der Städte kämmen und Tuch weben oder walken zu lassen. Natürlich spielte auch die Sorge um die Qualität der Produktion dabei eine Rolle. Dies vielleicht war noch mehr der Grund, weshalb die Mechanisierung, in der Gestalt von W a l k mühle und Spinnrad, die auf dem Lande benutzt wurden, in den Städten lange verpönt blieb, als der Wunsch, die ArbeitsbeschafA. Pinchart, Histoire de la tapisserie dans les Flandres, 1878, 100. Vgl. dazu E. Scholliers, Loonarbeid en Honger. De levensstandaard in de X V e en X V I e eeuw te Antwerpen, 1960, 1 5 1 — 1 5 4 ; H. van der Wee, De economie als factor bij het begin van de opstand in de Zuidelijke Nederlanden, Bijdragen en Mededelingen betreffende de gesdiiedenis der Nederlanden 83, 1969, 29, jetzt auch in englischer Übersetzung: The Economy as a Factor in the Start of the Revolt in the Southern Netherlands, Acta Historiae Neerlandica 5, 1971, 64; Verlinden u. Craeybeckx, Prijzen- en Lonenpolitiek, 1 6 5 — 1 6 8 . 17

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Wirtschaftspolitik und A r b e i t s m a r k t : Niederlande

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f u n g sicherzustellen 19 . Umgekehrt hat die städtische Obrigkeit freilich zugunsten der Tuchhändler immer Walker und Weber „aus anderen gesetzmäßigen Städten" als vollwertige Arbeitskräfte betrachtet, wenn die Konjunktur das erforderte. Die Mobilität dieser Fachleute w a r sehr groß. Brüssel ordnete 1363 an, daß Weber, die in England, Mecheln oder Ypern gearbeitet hatten, sich frei in der Stadt ansiedeln konnten, unter der Bedingung, daß sie ein Zeugnis guten Benehmens, ausgestellt in ihrer letzten Werkstätte, vorzeigen konnten. Auch Leiden wurde regelmäßig von Walkern und Webern aus dem belgischen Raum besucht 20 . Andererseits waren die Zunftmonopole ohne Zweifel das größte Hindernis für die Tätigkeit fremder Arbeitskräfte in der Stadt. Der Zunftschutz galt natürlich vor allem den Meistern, aber auch die Gesellen konnten sich sicher am A n f a n g auf einigen Schutz verlassen. Sogar die städtischen ungeschulten Gehilfen erfreuten sich einigen Schutzes gegen fremde Wettbewerber. In Antwerpen z. B. durften fremde Maurergehilfen nur angeworben werden, wenn keine eigenen Zunftgesellen zur Verfügung standen. Überdies durften sie nur vierzehn Tage im J a h r in der Stadt arbeiten 2 1 . Die Antwerpener Schiffer durften fremde Arbeiter erst anwerben, wenn sich keine aus Antwerpen anboten 2 2 . Die Zunftmonopole konnten aber immer wieder außer Kraft gesetzt werden, wenn außerordentliche Umstände das rechtfertigten. Als die Brüsseler Tuchschererzunft 1467 nur noch sechs Mitglieder hatte, und dieser Mangel an Arbeitskräften das daniederliegende Tuchgewerbe noch weiter zu untergraben drohte, wurde die Zunft einfach für offen erklärt 2 3 . Als Vergeltungsmaßnahme für den Aufstand vom Jahre 1477 in Löwen wurden dort die Zünfte der Weber, Walker, 19

R. van Uytven, De volmolen: motor van de omwenteling in de industriële mentaliteit, Alumni 38, 1968, 61—76, jetzt auch in englischer Obersetzung: The Fulling Mill: Dynamic of the Revolution in Industrial Attitudes, Acta Historiae Neerlandica 5, 1971, 1—14. 20 Favresse, Règlements inédits, 208 f.; N . W. Posthumus, De geschiedenis van de Leidsche lakenindustrie 1, Diss. Amsterdam, 1908, 302, 313—317. 21 E. Scholliers, De Handarbeiders: De 16de eeuw, Flandria Nostra 1, 1957, 266. 22 F. Prims, Geschiedenis van Antwerpen 5/2, 1935, 19. 23 G. Desmarez, L'organisation du travail à Bruxelles au X V e siècle, Mémoires de l'Académie royale de Belgique, Classe des lettres, in -8°, 65, 1904, 499.

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Säger und Weingärtner aufgehoben 2 4 . Bisweilen wurden auch Sondermaßnahmen getroffen, die während bestimmter lebhafter Perioden im Laufe des Jahres ein genügendes Arbeitsangebot sichern sollten. So waren die Herentalser Walker verpflichtet, während der sechs Wochen, die jeweils den Jahrmärkten in Antwerpen oder Bergen-op-Zoom vorangingen, in ihrer Stadt anwesend zu sein, um den Tuchmachern zu Diensten zu stehen 25 . Im ländlichen Städtchen Guines, unweit Calais, dagegen war es verboten, während der Erntemonate neue Arbeiter für die Textilbranche anzuwerben, da diese sonst der Landarbeit entzogen worden wären 2 6 . Im Lütticher Kohlenrevier war es den Bergleuten noch 1487 untersagt, außerhalb der Erntezeit ihre Arbeit zu verlassen. Im Anfang des 17. Jahrhunderts war dieser Vorbehalt erloschen 27 . 15 8 8 wurde sogar angeordnet, daß zur Verhinderung aller „secrete Monopoliën" die Arbeitnehmer dazu verpflichtet waren, dieselbe Arbeit wie im vorigen Jahr zu leisten 28 . Der industrielle Vorsprung der Niederlande, zumal anfänglich ihrer südlichen, heute belgischen Landschaften, unter anderem auf dem Gebiet der Textilien und der Kupferschmiederei, ist letzten Endes zurückzuführen auf die adäquate Organisation ihres Arbeitsmarktes und auf ihre hohe Berufsausbildung, da diese Regionen, was Wolle und Kupfererz, was also die Rohstoffe angeht, die vor der industriellen Revolution in diesen Gewerben den zweiten entscheidenden Faktor darstellten, auf das Ausland angewiesen waren. Dasselbe trifft in Antwerpen seit dem 16. Jahrhundert und 24

V a n U y t v e n , Stadsfinanciën en Stadsekonomie, 5 6 6 f. J. R. Verellen, Lakennijverheid en lakenhandel v a n Herentals in de 14e, 15e en 16e eeuw, Taxandria 27, 1955, 86. 29 G. Espinas, Le droit économique et social d'une petite ville artésienne à la fin du moyen âge: Guines, Bibliothèque de la Société d'Histoire du droit des pays flamands, picards et wallons 20, 1949, 35. D a g e g e n untersagte die Stadt Lier in den Jahren 1424 und 1425 den H a n d w e r k e r n , während der Erntemonate die Stadt zu verlassen und sich auf dem Lande für Feldarbeit zu verdingen. H . van der Wee, D i e Wirtschaft der Stadt Lier zu Beginn des 15. Jahrhunderts. A n a l y s e eines Zollbuches u n d eines Wollinspektionsregisters, in: Beiträge zur Wirtschafts- und Stadtgeschichte. Festschrift für H . A m m a n n , 1965, 145. 25

27 J. Lejeune, La formation du capitalisme moderne dans la principauté de Liège au X V I e siècle, Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l'Université de Liège 87, 1939, 142 f. 28 Verlinden u. Craeybeckx, Prijzen- en Lonenpolitiek, 130.

Wirtschaftspolitik und A r b e i t s m a r k t : N i e d e r l a n d e

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in den Vereinigten Provinzen seit dem 17. Jahrhundert in bezug auf die Veredelungsbetriebe zu, in letzter Zeit als Trafiken bekannt, die zum Großteil überseeische Rohstoffe, wie Zucker, Tee, Tabak, Baumwolle und Diamanten, verarbeiteten. Natürlich war dieser Vorsprung durch die vorzügliche Verkehrssituation dieser Landschaften ermöglicht worden. Diese nicht oder kaum mechanisierten Gewerbe waren besonders verletzlich, da eine einfache Migration geschulter Arbeitskräfte schon zur Übermittlung des technischen Know-how und zur Entstehung von Konkurrenz an anderen Orten genügte. Derartige Migrationen kamen um so leichter vor, da diese Gewerbe in bezug auf Rohstoffe und Absatz vom Fernhandel abhängig waren und die geringste Stauung daher massenhafte Arbeitslosigkeit und soziale Unruhen hervorrief. Es ist also kein Zufall, daß das Aufkommen der Brabanter Tuchmacherei am Anfang des 14. Jahrhunderts mit dem Entstehen einer „Flamenstraße" in den Städten des Herzogtums Brabant zusammenfällt, in die die aus Flandern weggezogenen Weber und Walker kamen 29 . Einige Jahrzehnte später hat England bei der Entwicklung seiner eigenen Tuchindustrie bewußt die Hilfe der Einwanderer aus den südlichen Niederlanden in Anspruch genommen 30 . Die zunehmende Konkurrenz auch in Holland, Italien und sogar in der Schweiz, jeweils gestärkt von aus den südlichen Niederlanden emigrierten Arbeitskräften 81 , und die nachlassende Nachfrage nach schwerem Gewebe machten ein Umschalten auf weniger teueres und leichteres Tuch notwendig. Man fand dafür, wie es schien, in Osteuropa und im Mittelmeerraum einen guten Markt. Die strenge und bis ins Detail ausgearbeitete Zunftordnung, die unter anderem die Wahrung der Gleichheit unter den Zunft2 9 Das w a r der F a l l in A n t w e r p e n 1 2 5 7 (F. Prims, Gesdiiedenis van A n t w e r p e n 2/2, 1 9 2 9 , 48 f.), in L ô w e n 1 3 1 7 (J. Cuvelier, L a formation de la ville de L o u v a i n des origines à la fin du X I V e siècle, Mémoires publiés par l ' A c a d é m i e royale de Belgique, Classe des Lettres. Collection in - 4 ° , 2e série 10, 1935, 1 7 2 ) und auch in Sint-Truiden 1 3 5 5 (J. L. Charles, L a ville de S a i n t - T r o n d au moyen âge, Bibliothèque de la F a c u l t é de Philosophie et Lettres de l'Université de Liège 173, 1965, 171). 3 0 H . E . de Sagher, L ' i m m i g r a t i o n des tisserands flamands et b r a b a n çons en Angleterre sous E d o u a r d I I I . , Mélanges d'histoire offerts à H . Pirenne 1, 1 9 2 6 , 1 0 9 — 1 2 6 . 3 1 R . Doehaerd, H a n d e l a a r s en neringdoeners. I. D e en de middeleeuwen, Flandria N o s t r a 1, 1 9 5 7 , 3 9 4 — 3 9 6 .

Romeinse

tijd

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J. A. van H o u t t e und R. van U y t v e n

mitgliedern beabsichtigte, wurde aber nur zögernd den neuen Verhältnissen angepaßt. Doch wurde überall versucht, mittels allerhand Vorteile, Zunft- und Bürgergebührenerlasses, Umzugsunterstützung, billiger Darlehen usw., erfahrene Arbeitskräfte, die die neuen Techniken beherrschten, anzuziehen 32 . Letzten Endes stellte sich aber heraus, daß dies alles nicht viel nutzte und daß die größeren Zentren der Konkurrenz aus den kleineren und aus den Dörfern, die aus verschiedenen Gründen billiger produzieren konnten, nicht gewachsen waren. D o r t nämlich waren die Z ü n f t e jünger oder bestanden überhaupt nicht, so daß es immer möglich blieb, Produktionskosten auszusparen und sich fortwährend der Nachfrage anzupassen. Außerdem waren dort die Löhne wegen des Fehlens strenger Zunftmonopole niedriger, wodurch auch arbeitersparende technische Neuigkeiten Eingang finden konnten. Weiters waren im allgemeinen der Steuerdruck und der Lebensstandard niedriger 33 . Was sich in dieser Hinsicht im Spätmittelalter ereignete, wiederholte sich in weit größerem Maße während der Religionswirren im ausgehenden 16. Jahrhundert. Die Folgen der Auswanderung aus den spanischen Niederlanden sind so allgemein bekannt, daß es hier genügen kann, mit nur einem Wort darauf hinzuweisen. Wir möchten nur kurz daran erinnern, daß die Vereinigten Provinzen, aus Gründen der gemeinsamen Sprache und vielleicht auch eines verschwommenen Bewußtseins gemeinsamer nationaler Zusammengehörigkeit, von den Auswanderern als Immigrationsziel viel stärker vorgezogen wurden als andere Gebiete, die ebenfalls wohlhabend und — insoweit religiöse Überlegungen der Emigration zugrunde lagen —• reformiert waren und als solche auch in 32 J. A. van Houtte, Nijverheid en Landbouw, in: Algeraene Geschiedenis der Nederlanden 4, 1952, 202—207; für einzelne Städte wie Ypern, Brügge und Löwen s. J. Demey, D e ,mislukte' aanpassingen van de nieuwe draperie, de saainijverheid en de lichte draperie te Ieper van de X V I e eeuw tot de Franse Revolutie, Tijdschrift voor Geschiedenis 63, 1950, 222—235; J. A. van H o u t t e , D e draperie v a n Leidse lakens in Brügge 1503—1516, Album Antoon Viaene, 1970, 331—339; W. v a n Waesberghe, De invoering van de nieuwe textielnijverheden te Brügge en hun reglementering (einde 15e—16e eeuw), Appeltjes van het Meetjesland 20, 1969, 218—238; V a n Uytven, Stadsfinancien en Stadsekonomie, 361—373. 33 Van Houtte, Stadt und Land.

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Betracht hätten kommen können. D i e bestehenden Gewerbe, wie z. B . die Tuch- und Leinenmacherei erfuhren

dank

der

in Leiden bzw.

neu hinzugekommenen

Haarlem,

Arbeitskräfte

einen

entscheidenden Aufschwung. Neue Betriebe, wie die D i a m a n t e n schleiferei in Amsterdam, hatten ihnen das Entstehen zu verdanken. N u n waren die Umstände, die im Spätmittelalter zugunsten der Kleinstädte und der D ö r f e r gewirkt hatten, auch in diesem F a l l e aktiv. W a r e n doch die neuen holländischen Heimstätten zur Zeit ihres Aufschwungs im Vergleich mit den großen

Industrie-

städten Flanderns und Brabants verhältnismäßig recht bescheiden, während andererseits ihre Zunftorganisation sich niemals, wie es in Flandern und B r a b a n t der Fall gewesen war, zu einer selbständigen Handarbeiterorganisation hatte entwickeln können 3 4 . Gelegentlich hören wir von noch späteren Auswanderungswellen, etwa zur Zeit Colberts, als flämische Teppichweber und Spitzenklöpplerinnen nach Frankreich gezogen sein sollen. N u n erscheint er doch bemerkenswert, daß, insoweit wir das wissen, die Regierung der spanischen Niederlande kein Auswanderungsverbot gewerbliche Arbeitskräfte ausgefertigt hat, was aber in

für

diesem

merkantilistischen Zeitalter keine Seltenheit gewesen wäre. Sollte die

spanische

Obrigkeit

in

ihrer

politischen

und

militärischen

Bedrängnis überhaupt nicht zu der Einsicht gelangt sein, daß dieser Verlust an geschulten Arbeitskräften die Wirtschaft ihres niederländischen Territoriums gefährdete? Tatsache ist, daß sie sich mit den elementarsten Rezepten der merkantilistischen Handelspolitik begnügte, nämlich einerseits dem V e r b o t oder der

Erschwerung

der Ausfuhr von Rohstoffen und der E i n f u h r von

Fertigwaren,

andererseits der Begünstigung der E i n f u h r von Rohstoffen und der Ausfuhr von Fertigwaren, und daß sie nur mit ihrem Protektionismus, insoweit ihre politische und diplomatische Lage dessen H a n d habung wenigstens nicht verhinderte, einigermaßen auf den Arbeits3 4 N . W . Posthumus, Geschiedenis v a n de Leidsche lakenindustrie 2, 1 9 3 9 , 1 — 1 5 2 ; S. C . R e g t d o o r z e e G r e u p - R o l d a n u s , Geschiedenis der H a a r l e m m e r bleekerijen, Diss. A m s t e r d a m , 1936, 2 2 — 2 7 ; E . Sabbe, D e Belgische vlasnijverheid. I. De Zuidnederlandsche vlasnijverheid tot het v e r d r a g v a n Utrecht. 1 7 1 3 , Rijksuniversiteit te Gent. W e r k e n uitgeven door de Faculteit v a n de Wijsbegeerte en Lettern 95, 1 9 4 3 , 3 0 8 — 3 1 5 ; J . G. v a n Dillen, D e economische positie en beteekenis der J o d e n in de Republiek en in de Nederlandsche koloniale wereld, in: Geschiedenis der J o d e n in N e d e r l a n d , hrsg. v . H . B r u g m a n s u. A . F r a n k 1, 1 9 4 0 , 5 7 4 .

60

J. A. van Houtte und R. van Uytven

m a r k t einzuwirken versuchte, gleich ob er nun städtisch oder ländlich war 3 5 . Das Angebot billiger Arbeitskräfte auf dem Land war übrigens groß infolge der spezifischen Struktur der niederländischen Landwirtschaft. In ausgedehnten Teilen des Landes herrschte der zersplitterte Kleinbetrieb vor; anderswo, wie von alters her in den Marschen an der Küste und seit dem 16. Jahrhundert im Limburger Land, traf man vor allem eine Meiereiwirtschaft an, die mit verhältnismäßig wenigen Arbeitskräften zu führen w a r ; schließlich war im belgischen Hochland sowie in den Sandböden der Kempen oder Twentes der landwirtschaftliche Ertrag ausgesprochen spärlich. So mußte aus jedem Betrieb eine verhohlene Arbeitslosigkeit entstehen, die durch gewerbliche Tätigkeit aufgehoben werden konnte. Dies galt an erster Stelle der Tuchmacherei, aber auch der Leinenweberei — obwohl gesagt werden muß, daß dieses Gewerbe ursprünglich viel mehr agrarisch war, weil es weniger auf fremde Rohstoffe angewiesen war — und sogar der Erzeugung billiger Teppiche. Die Twenter Leinenindustrie schaltete seit dem 18. Jahrhundert auf Mischgewebe aus Leinen und überseeischer Baumwolle um 36 . Die Städte haben zwar versucht, die Industrialisierung des Landes zu verbieten, aber zahlreiche Dörfer verstanden es oft mit Unterstützung ihres H e r r n oder des Fürsten, eine sogenannte privilegierte Tuchmacherei zu erhalten, da das Aufheben der verhohlenen Arbeitslosigkeit und die Industrialisierung im allgemeinen eine Erhöhung des Wohlstandes und damit des Steuerertrages mit sich brachten 37 .

35 S. Despretz-van de Casteele, H e t protectionisme in de Zuidelijke Nederlanden gedurende de tweede helft der 17e eeuw, Tijdsdirifl voor Geschiedenis 78, 1965, 294—317. 36 J. Mertens, De laat-middeleeuwe landbouweconomie in enkele gemeenten van het Brugse platteland, Pro-Civitate, Historische Uitgaven, Reihe in - 8 ° , 27, 1970, 41—43; J. Ruwet, L'agriculture et les classes rurales au Pays de Herve sous l'Ancien Régime, Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l'Université de Liège 100, 1943, 54—56; B. H . Slicher van Bath, Een samenleving onder spanning. Gesdiiedenis van het platteland in Overijssel, 1957; Z. W. Sneller, La naissance de l'industrie rurale dans les Pays-Bas aux X V I I e et XVIIIé siècles, Annales d'Histoire Economique et Sociale 1, 1929, 193—202. 37 Manche Belege dazu in G. Espinas u. H. Pirenne, Recueil de documents relatifs à l'histoire de l'industrie drapière en Flandre.

Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt: Niederlande

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Als Ersatz des alten Tuchgewerbes k o n n t e in den Städten nur eine Luxusindustrie in Betracht kommen, die, w e g e n der hohen Anforderungen an Ausbildung und technischer Fähigkeit, die sie bedingte, v o n den ländlichen Arbeitskräften nicht ausgeübt werden konnte u n d die dank der hohen Preise ihrer Produkte auch die höheren Kosten, die auf der städtischen P r o d u k t i o n lasteten, tragen konnte. O b w o h l die Leinenmacherei naturgemäß gut d a z u geeignet war, die überflüssigen Arbeitskräfte aus der Tuchmacherei a u f zufangen, hat sie diese A u f g a b e nie v ö l l i g erfüllt, weil sie mit ihrem gängigen Erzeugnis viel besser auf dem Land gedeihen konnte. N u r feinere Leinensorten und D a m a s t erzielten in den Städten einigen Erfolg 3 8 . Günstiger w a r hier das Teppichgewerbe, das ja ein kostspieligeres Luxuserzeugnis lieferte und daher weniger Belästigung v o n den Bauernwebern erfuhr. Sie spielten denn auch dankbar und ziemlich massenhaft die R o l l e des Abnehmers auf dem Arbeitsmarkt 3 8 . A n d e r e Kunstgewerbe, die seit dem Spät-

Première Partie: des origines à l'époque bourguignonne, Commission royale d'histoire, in - 4 ° , 4 Bde., 1906—1924, u. H . E. de SagherRecueil de documents relatifs à l'industrie drapiere en Flandre. 2 e partie: Le Sud-Ouest de la Flandre depuis l'époque bourguignonne, Commission royale d'histoire in - 4 ° , 3 Bde., 1951—1966. Vgl. auch E. C. G. Brünner, D e Order op de Buitennering van 1531. Bijdrage tot de kennis van de economisdie gesdiiedenis van het graafschap Holland in den tijd van Karel V., Diss. Utrecht, 1918. 38 Sabbe, De Belgische vlasnnijverheid. Derartige Umsdialtungen sind belegt in Löwen um 1436 (R. van Uytven. De sociale crisis der XVIe eeuw te Leuven, Belgisch Tijdsdirift voor Filologie en Gesdiiedenis 36, 1958, 360), in Antwerpen um 1430 (F. Prims, Gesdiiedenis van Antwerpen 6/2, 1937, 37), in Brüssel um 1473 (J. Cuvelier, Le registre aux statuts, 127 f.). 39 Die Literatur über die Teppichweberei ist hauptsächlich kunsthistorisch. Vgl. im allgemeinen R. A. d'Hulst, Vlaamse Wandtapijten van de X l V e tot de X V I I I e eeuw, 1960, u. H . Göbel, Wandteppiche. I. Die Niederlande, 2 Bde., 1923. Der wirtschaftsgeschichtlidie Standpunkt ist besser vertreten in einigen lokalen Beiträgen: J. Versyp, De Geschiedenes van de tapijtkunst te Brügge, Verhandelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Wetensdiappen usw., Klasse der Schone Künsten 8, 1954; E. Duverger, De externe geschiedenis van het Gentse tapijtweversambadit, Artes textiles 2, 1955, 53—104; R. van Uytven, De Leuvense legwerkers van het begin der X l V e tot het einde der X V I e eeuw, Artes textiles 5, 1959/60, 5—30; J. Cuvelier, De tapijtwevers van Brüssel, Verslagen en Mededeelingen van de Konink-

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J. A . van Houtte und R. v a n U y t v e n

mittelalter und der frühen Neuzeit aufblühen, sind die Stickerei, die Holzschnitzerei und -skulptur, die Modebetriebe, die Feinleder- und Metallgewerbe, zumal die Kupferbearbeitung, die in vielen südniederländischen Städten einen starken Auftrieb bekam vom Zustrom der besonders erfahrenen Arbeiter aus Dinant nach der Zerstörung dieser Stadt durch Karl den Kühnen (1466) 40 . Die hohe Spezialisierung in diesen Betrieben machte sie aber durchwegs wenig geeignet, das Problem der Arbeitsbeschaffung zu lösen, während andererseits die Zünfte, wie gesagt, geneigt waren, sich soviel wie möglich vor Neuanwärtern abzuschließen. Nur in Antwerpen — und in den Städten die unmittelbar unter dem Einfluß der Antwerpener Metropole und ihrer Expansion standen, wie Mecheln, Lier und Herzogenbusch, wo die Herstellung englischen Tuchgewebes, der lebhafte Handel und Verkehr und zahlreiche neue Gewerbe, die daraus entstanden, Arbeitsgelegenheiten geschaffen hatten — war die Nachfrage nach Arbeitskräften groß genug, um die Reallöhne während der Inflation des frühen 16. Jahrhunderts anzukurbeln 41 . Daß diese Lohnerhöhung in der Tat eine Folge der Spannung auf dem Arbeitsmarkt war und nicht der Obrigkeitseinmischung und der Zunftorganisation, wird ersichtlich aus der Tatsache, daß die Löhne erst allgemein stiegen, auch in den weniger progressiven Gebieten, nach 1556, nachdem das große Sterben die Arbeitsbeschaffung drastisch verringert hatte 42 . Die lijke Vlaamsdie Academie voor Taal- en Letterkunde 1912, 373—414. Über die ländliche Teppichweberei H. Pirenne, Note sur la fabrication des tapisseries en Flandre au X V I e siècle, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 4, 1906, 644—656. 40 Darüber zusammenfassend: Van Houtte, Nijverheid en Landbouw, 209—214 u. R. van Uytven, La Flandre et le Brabant „terres de promission" sous les ducs de Bourgogne ?, Revue du Nord 43, 1961, 296—299. 41 H. van der Wee, The Growth of the A n t w e r p Market and the European Economy (Fourteenth-Sixteenth Centuries), Université de Louvain. Recueil de travaux d'histoire et de philologie, 4. Reihe, H. 28 bis 30, 1963, 1, 541—544, 2, 384—388, 3, graphische Darstellungen 17—23 u. 39—40; Scholliers, Loonarbeid en Honger, 126—154, 251. Vgl. zuletzt die zusammenfassende Übersicht: R. van Uytven, Sociaaleconomische evoluties in de Nederlanden voor de Revoluties ( X l V e — X V I e eeuw), Bijdragen en Medelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden 87, 1972, 60—93. 42 Daselbst sowie Verlinden u. Craeybedtx, Prijzen- en lonenpolitiek, 15—23.

Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt: Niederlande

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Zünfte konnten und die Obrigkeit wollte sogar die Verteidigung der kleinen Meister nicht mehr auf sich nehmen, die sie bis dahin immer gegen die reicheren zu schützen versucht hatten. In bezug auf die großen Antwerpener Bauunternehmen Gilberts van Schoonbeke wurden sogar sämtliche Zunftprivilegien widerrufen 4 3 . Eine Schererwerkstatt, die in Antwerpen 1536 nur acht Arbeiter zählen durfte, war schon 1555 in der Lage, derer 16 zu beschäftigen, und einige Jahre später gab es schon welche mit 22 Arbeitern. Einige kleine Antwerpener Tuchfärber, die die Festlegung einer Höchstzahl von vier Bütten p r o Meister und vor allem die strenge Handhabung dieser Bestimmung befürworteten, erörterten naiv, daß ohnedies nur die H ä l f t e der Färbereien mit zwei Drittel der bisherigen Arbeiter hinreichen würden. Eine klarere und unverdächtigere Anerkennung der Ersparnis der Lohnkosten durch Zusammenfassung der Betriebe könnte man schwerlich finden44. Das Streben nach Konzentration und Rationalisierung war ja überall merkbar. In Nieuwkerke, dem Tuchmacherdorf nahe Ypern, hatte man 1459 den Tuchmachern noch verboten, zugleich Weber u n d Färber zu sein, da dies hinsichtlich der Qualität und der Arbeitsbeschaffung zum Nachteil gereiche; 1534/35 wurde aber erlaubt, alle Teile des Arbeitsprozesses in eigener Werkstatt und sogar mittels fremder Arbeitskräfte auszuführen 4 5 . In Diest verlangten die Färber nach dem Vorbild anderer Städte die Aufhebung der früheren Trennung zwischen Rot- und Blaufärber 4 6 . 1569 wurde die Zahl der Webstühle pro Meister in Löwen freigegeben 47 . Uberall auch mußten die Walker sich die Einführung der Walkmühle gefallen lassen, die außer Lohnersparnis auch Zeitgewinn bedeutete 48 . Anstatt der alten Zunft43 H. Soly, De brouwerijonderneming van Gilbert van Schoonbeke (1552—1562), Belgisch Tijdschrift voor Filologie en Geschiedenis 46, 1968, 357, 362 f. 44 E. Scholliers, Vrije en onvrije arbeiders, voornamelijk te Antwerpen in de X V I e eeuw, Bijdragen voor de Geschiedenis der Nederlanden 11, 1956, 285—322; ders., De Handarbeiders. II. De 16de eeuw, Flandria Nostra 1, 261—280. 45 H. E. de Sagher, Recueil de documents relatifs à l'industrie drapiere en Flandre, 2" partie, 3, 1966, 103—107, 134—137. 46 Diest, Stadtarchiv, Archiv der „Draperie". 47 Van Uytven, Stadsfinanciën en Stadseconomie, 350 f. 48 Ders., De volmolen, 68—73; ders., The Fulling Mill, 7—11.

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J. A. van Houtte und R. van Uytven

ethik „dat d' werck alomme te bat ende ten voordele van den ingesetenen van Loevenen gevrocht ende gedeylt worden" (d. h.: d a ß die Arbeit überall zum Besten und zum Vorteile der Einsassen Löwens ausgeführt und geteilt werde) 4 9 , kam nun der Leitsatz: „ D e het beste weeft ende aldergetrouwelycste doet die sal de meeste neringe hebben"( d. h.: Wer am besten webt und mit der größten Sorgfalt arbeitet, soll die meiste Arbeit haben) 50 . In Antwerpen wurde die Färberzunft wiederholt, unter anderem 1562 und 1583, f ü r offen erklärt 51 . Immer mehr kleinere Meister mußten ihre Betriebe unter dem Wettbewerb größerer aufgeben und verstärkten so die Masse der reinen Lohnarbeiter. Noch weniger geschützt waren natürlich die Gesellen, obwohl sie versuchten, Geselleninnungen (compagnonnages) zu errichten, um sich zu schützen. Die Stadtverwaltungen reagierten aber mit Verordnungen und Aktionen gegen Streiks, die in Zeiten der Hochkonjunktur besonders zweckmäßig waren. Zum Brechen des Ausstandes verfügten sie übrigens immer über die Masse der Unterstützten, die sie unter Druck setzen konnten, damit sie f ü r niedrigere Löhne arbeiteten. Sie schalteten sogar, unter Mitwissen der Zentralbehörden, die Diener der öffentlichen Wohltätigkeit als eine Art Zwangsarbeitsvermittler ein. Überdies konnte der städtische Arbeitsmarkt noch immer f ü r fremde Arbeitskräfte geöffnet werden, die es deswegen von Seiten der Arbeitsverweigerer regelmäßig entgelten mußten 5 2 . Die Zunftschranken, die den freien Wettbewerb auf dem städtischen Arbeitsmarkt eingedeicht hatten, scheinen allmählich zu verschwinden. So wurde z. B. von der Stadt Antwerpen und von verschiedenen Wohltätigkeitsanstalten auch anderswo eine Reihe großer Arbeiten ausgeführt, mit dem Zweck, während einer zeitweiligen Krise arbeitslosen Textilarbeitern und Bereitern englischen Tuches zu ermöglichen, sich durchzubringen 53 . Die Versuche zur G r ü n d u n g neuer Gewerbe auf städtischer Grundlage seit dem 49 J. Verhavert, Het ambachtswezen te Leuven, Universiteit te Leuven. Publicaties op het gebied der Geschiedenis en der Philologie, 3. Reihe, 1940, 68. 50 Van Uytven, Stadsfinancien en stadsekonomie, 351. 51 Prims, Geschiedenis van Antwerpen, 8/2, 1942, 26—28. 52 Zusammenfassend darüber: Scholliers, De Handarbeiders, 272—279. 53 Zum Beispiel in Antwerpen 1564 (Prims, Geschiedenis van Antwerpen 8/2, 17) und Lier (Van der Wee, The Growth 2, 98).

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Ende des 15. Jahrhunderts und die fieberhafte industrielle Expansion des 16. Jahrhunderts hatten den Anschein, auch die Isolierung der städtischen Arbeitsmärkte zu durchbrechen. Die zentrale Marktlage Antwerpens u n d der Einfluß des Antwerpener Handelskapitals, für das ein großer Teil der Industrie der südlichen Niederlande auch nach dem Ende der Antwerpener Blütezeit, direkt oder indirekt, produzierte, konnten diese Vereinheitlichung nur beschleunigen. Seit der Trennung der Niederlande spielten in den nördlichen Territorien die Händler Amsterdams und einigermaßen auch anderer Hafenstädte die gleiche Rolle. Es k o m m t noch hinzu, daß sich vom 16. Jahrhundert ab die Umrisse eines größeren Arbeitsmarktes deutlicher abzeichnen. Ein wachsender Teil der Gesellschaft schien als reine Lohnarbeiter zu fungieren. Diese Entwicklung wurde aber, im belgischen Raum, nach der allgemeinen Krise des ausgehenden 16. Jahrhunderts unterbrochen 54 . Die Entvölkerung durch Sterben und Auswanderung hat den Arbeitsmarkt angespannt gehalten, wenn auch die fieberhafte Expansion nach 1585 deutlich zu Ende war. Die Löhne blieben daher, trotz der Lohnvorschriften der Stadtverwaltungen, Provinzkörperschaften und zentralen Behörden ziemlich hoch 55 . Zusammen mit der industriellen Entwicklung anderswo und dem unverkennbaren H a n d i k a p der Schließung der Scheide 56 hat dies in anderthalb Jahrhunderten den Antrieb zur Betriebsvergrößerung, Konzentration und Rationalisierung größtenteils gebrochen. Das bedeutet nicht, daß im 17. und in der ersten H ä l f t e des 18. Jahrhunderts 54

C. Verlinden, En Flandre sous Philippe II.: durée de la crise économique, Annales. Economies. Sociétés. Civilisations 7, 1952, 21—30, hat mit Redit betont, daß die Krise nicht so lange dauerte, als vorher angenommen wurde. Die Krise war jedoch reell und tief. Vgl. dazu auch K. Maddens, De krisis op het einde van de X V I e eeuw in de kasselrij Kortrijk, Leiegouw 1, 1959, 75—93; ders., Het uitzicht van het Brugse Vrije op het einde van de XVIe eeuw, Handelingen van . . . Société d'Emulation te Brügge 97, 1960, 31—73; ders., De krisis o p het einde van de XVIe eeuw in de kasselrij Ieper, Belgisch Tijdschrift voor Filologie en Geschiedenis 39, 1961, 365—390; Van Uytven, De sociale krisis te Leuven, 372—379; W. Brûlez, Anvers de 1585 à 1650, Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 54, 1967, 75—99. 55 Van der Wee, The Growth 3, 90—93; Van Uytven, Stadsfinanciën en Stadsekonomie, 572, 589; Scholliers, Loonarbeid en Honger, 139—156; Verlinden u. Craeybeckx, Prijzen- en Lonenpolitiek, 24—32. 58 Brûlez, Anvers de 1585 à 1650, 90—94.

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Kellenbenz, W i r t s d i a f t p o l i t i k

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J. A. van Houtte und R. van Uytven

das Wirtschaftsleben völlig lahmgelegt war 5 7 . In einigen größeren Zentren, wie z. B. Brügge und Gent, fanden sich noch bedeutende Kaufleute-Unternehmer vor, die ein paar hundert Leuten mittels des von alters her bekannten Verlagssystems Arbeit beschafften. Einige von ihnen hatten sogar wie früher etwa zehn Webstühle unter ihrem Dach. Es ist aber klar, daß überall, sogar in Hondschoote, der städtische Magistrat sich zur alten Vorliebe für den industriellen Kleinbetrieb und den Wirtschaftsmalthusianismus zurückbekannt hatte. Die Konzentration und der Kapitalismus waren vor allem kommerzieller Art 5 8 . Das deutliche Sich-Abzeichnen der lohnbeziehenden Arbeitermasse und die Vereinheitlichung des Arbeitsmarktes, die im 15. und vor allem 16. Jahrhundert in Gang gesetzt waren, sollten erst im 18. Jahrhundert wieder aufgenommen werden, als der dynamische Merkantilismus der österreichischen Regierung auch in den südlichen Niederlanden zur Anwendung kam. Von 1749 bis 1763 erteilte sie nicht weniger als 226 Betrieben allerhand Vergünstigungen handels-, Steuer- und arbeitspolitischer Art: neben Schutzzöllen und Steuerermäßigungen wurden progressiven Unternehmern billige Arbeitskräfte aus Armen- und Waisenhäusern, Gefängnissen und Kasernen zur Verfügung gestellt und vom Zunftzwang befreit. Städtische und Provinzialbehörden blieben hinsichtlich ihrer eigenen Ressorts hinter der Regierung nicht zurück. Wenn auch die Regierungsinstanzen nach 15 Jahren diese Politik etwas mäßigten, möglicherweise unter dem Einfluß des aufkommenden Physiokratismus, so waren doch in manchen Fällen die Grundlagen lebensfähiger Großbetriebe sichergestellt, die ununterbrochen zur gewerblichen Expansion des 19. Jahrhunderts führen sollten 59 . O b das Verwaltungspersonal merkantilistisch oder physiokratisch dachte, in der Frage seiner Haltung den Zünften gegenüber war es sich einig. Dieses Erbe einer vergangenen Epoche war der Entfal5 7 J. A . van Houtte, Onze zeventiende eeuw „ongelukseeuw"? Mededelingen van de Koninklijke Vlaamse Academie voor Wetenschappen usw., Klasse der Letteren 15/8, 1953; J. Craeybeckx, Les industries d'exportation dans les villes flamandes au X V I I e siècle, particulièrement à Gand et à Bruges, Studi in onore di A. Fanfani 4, 1962, 4 1 3 — 4 6 8 . 5 8 Craeybeckx, Les industries d'exportation, 4 3 1 — 4 5 3 ; E. Coornaert, La draperie-sayetterie d'Hondsdioote, 1930. 5 9 Van Houtte, Histoire économique, 154—172.

Wirtschaftspolitik und A r b e i t s m a r k t : N i e d e r l a n d e

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tung neuer wirtschaftlicher Initiativen, ja der menschlichen Freiheit ein Hindernis. K a n n es dann wundernehmen, daß von 1777 an Pläne erwogen wurden, um die Zünfte aufzuheben? Sieben J a h r e später wurde ein wichtiger Schritt gemacht, indem alle Beschränkungen der Zahl der Arbeitskräfte aufgehoben wurden. Weiter k a m es vorläufig nicht. D i e Wirren, die zur brabantischen Revolution von 1789 führten, verhinderten weitere Maßnahmen auf diesem Gebiet. Der Sieg dieser reaktionären U m w ä l z u n g hatte sogar einen zeitweiligen Rückschritt zur Folge. Es war der nächsten Revolution, der französischen, vorbehalten — als sie sich 1794 auf Belgien ausdehnte — , die von der fortschrittlichen H a b s b u r g e r regierung eingeleiteten Reformen endgültig durchzuführen und damit den Weg zur industriellen Revolution zu eröffnen 6 0 . In den Vereinigten Provinzen war nach der Spaltung der Niederlande ein verfassungsmäßiges Gebilde entstanden, das f a k tisch nur den städtischen Behörden einen Einfluß auf das Wirtschaftsleben zugestand, die Stadtverwaltungen aber auch in den H ä n d e n des Unternehmerstandes beließ 61 . M a n wird sich k a u m darüber wundern, daß vor allem in den Exportbranchen, die Leidener Tuchindustrie v o r a n , und in den Veredelungsgewerben das seit dem 16. Jahrhundert wirksame Streben nach Unternehmerfreiheit, Großbetrieb usw. und andererseits die Unterdrückung der Arbeiterinteressen behördlich wirksam unterstützt wurden 6 2 . Wenn es hier seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert in manchen Fällen zu Krise und Niedergang kam, so war einerseits der C h a r a k t e r der Republik als bevölkerungsmäßig kleines L a n d inmitten merkantilistischer Großstaaten daran schuld, während andererseits die Großmachtrolle, die der niederländische Staatenbund im 17. J a h r hundert gespielt hatte, seiner Bevölkerung eine fast unerträgliche Steuerlast aufgebürdet hatte, deren Widerhall auf die Lebenshaltungskosten eine weitere Senkung der Löhne verhinderte 6 3 . In Anbetracht der übermächtigen Stellung Amsterdams im S t a a t e E b e n d a , 54—115. S. J . Fockema A n d r e a e , D e N e d e r l a n d s e S t a a t onder de R e p u b l i e k , Verhandelingen van de K o n i n k l i j k e N e d e r l a n d s e A c a d e m i e v a n Wetenschappen, A f d e l i n g Letterkunde, N e u e Reihe 68, 3, 2 1962. 6 2 Charakteristisch z. B. N . W . Posthumus, Geschiedenis der Leidsche lakenindustrie 3, 1939, 655 ff. 6 3 C . H . Wilson, T a x a t i o n a n d the Decline of Empires, B i j d r a g e n en Mededelingen v a n het Historisch Genootschap 77, 1963, 10—-23. 60 61



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J. A . van Houtte und R. van Uytven

war von dessen Zentralbehörde keine wirksame Wirtschaftspolitik in bezug auf den Arbeitsmarkt zu erwarten. War doch die Hauptstadt mit ihren weltweiten Handels- und Schiffahrtsinteressen durchaus freihändlerisch gesinnt. So kam es in den Vereinigten Provinzen niemals zu einem ausgesprochenen Merkantilismus, und Holland verpaßte den Anschluß an die Frühzeit der Industriellen Revolution 64 . Deren erste Anzeichen sollten sich hier erst nach der Abtrennung Belgiens 1830 offenbaren, als ausgewanderte Textilunternehmer die reichlich verfügbaren Reserven eines pauperisierten Arbeitsmarktes in Anspruch zu nehmen anfingen. Es sollte aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts andauern, bis das Königreich der Niederlande endgültig seinen Eintritt in die Reihe der Industriestaaten machen würde. 8 4 J. G. van Dillen, Betekenis van het begrip Mercantilisme in de economische en politieke gesdiiedsdirijving, Tijdschrift voor Gesdiiedenis 72, 1959, 200—205, neugedruckt in: ders., Mensen en achtergronden, Historische Studies, uitgegeven vanwege het Instituut voor Gesdiiedenis der Rijksuniversiteit te Utrecht 19, 1964, 143—148.

KARL HEINRICH KAUFHOLD

ENTSTEHUNG, ENTWICKLUNG U N D GLIEDERUNG DER GEWERBLICHEN ARBEITERSCHAFT I N N O R D W E S T D E U T S C H L A N D 1800—1875 Unter besonderer Berücksichtigung des Einflusses staatlicher M a ß n a h m e n

VORBEMERKUNG

Die folgenden Ausführungen w u r d e n als Kurzreferat nach einem Stichwortmanuskript vorgetragen. Bei der Ausarbeitung für die Veröffentlichung wurde auf ihre Erweiterung und Vertiefung verzichtet, u m ihre Form und ihre Intention — als knapper Diskussionsbeitrag — nicht zu verwischen. Den Teilnehmern an der Diskussion danke ich für w e r t v o l l e Hinweise, die nach Möglichkeit bei der Ausarbeitung berücksichtigt wurden. I . FRAGESTELLUNG UND METHODE

1. M i t dem Thema w i r d ein entscheidender Teilaspekt der in den letzten J a h r e n viel diskutierten Frage der frühen Industrialisierung Deutschlands angesprochen: die Entwicklung des Produktionsfaktors Arbeit in dem im frühindustriellen Wachstumsprozeß führenden Wirtschaftssektor, dem Gewerbe. In diesem wiederum verdient unter den Gesichtspunkten der Industrialisierung und des Wachstums, wie auch der Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise, die Entwicklung i m Großgewerbe, genauer in der modernen Fabrik, besonderes Interesse. Gegenstand der Darstellung soll daher in erster Linie die Fabrikarbeiterschaft sein, also die in der modernen (großgewerblichen) Fabrik unter kapitalistischen Bedingungen lohnabhängig Tätigen. Doch ist deren Erfassung schon vom Begriff her schwierig, da z. B. bereits über die Definition der modernen Fabrik alles andere als Einmütigkeit besteht 1 . In der historischen Realität w i r d sie 1 Auf die lebhafte Diskussion über die Abgrenzung der gewerblichen Betriebsformen, zu der seit Karl Bücher immer neue Beiträge geliefert

70

Karl Heinrich Kaufhold

durch zahlreiche Übergangsformen zur Fabrik hin weiter erschwert, durch die Quellenlage aber, die durch (zumindest unter dem hier interessierenden Gesichtspunkt) mangelhafte statistische Erfassung der gewerblich Beschäftigten gekennzeichnet ist, über eine gewisse Annäherung hinaus unmöglich gemacht. Dieser Probleme sollte m a n sich im folgenden stets bewußt bleiben. Neben der Fabrikarbeiterschaft dürfen freilich, wie sich zeigen wird, auch die übrigen gewerblichen Arbeiter nicht vergessen werden. Es waren dies im wesentlichen die Gesellen, Gehilfen und Lehrlinge im Kleingewerbe (Handwerk) sowie die Hausgewerbetreibenden, beide nach den Quellen zum Teil schwer voneinander zu scheiden. 2. Das Thema f ü h r t zu einer Reihe von Fragen hinsichtlich der gewerblichen Arbeiterschaft: a) Welche Entwicklung hat sie unter dem Einfluß der Industrialisierung genommen, besonders: aa) Wie hat sich die Fabrikarbeiterschaft enfaltet? bb) Welche Rückwirkungen gingen davon auf die übrige gewerbliche Arbeiterschaft aus (Abbau, Umschichtung, Statusänderungen)? b) Welche Kräfte haben auf diese Entwicklung gewirkt, besonders: Ist ein bestimmender Einfluß staatlicher Maßnahmen zu erkennen? Die herrschende Meinung 2 sieht die Entstehung der Fabrikarbeiterschaft zeitlich wie kausal im Gefolge der Befreiungs- und Reformgesetzgebung der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts. Ich referiere ihre Argumente in gedrängter Kürze 3 : Die genannte Gesetzgebung befreite den Faktor Arbeit aus feudalen u n d staatlichen Zwängen und schuf mit der Einführung der Gewerbefreiheit, der Freizügigkeit, der Abschaffung von Eheworden sind, kann hier nur hingewiesen werden. Ihre vollständige Behandlung würde den Rahmen dieser Ausführungen sprengen, jede Auswahl aber wegen des komplexen Charakters des Gegenstandes unvoll2 ständig unbefriedigend sein. Vgl.und z. B. F. Lütge, Deutsche Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 3, 1966, 445 hinsichtlich der Bauernbefreiung, 450 f. hinsichtlich der Gewerbefreiheit. 3 Dabei bin ich mir bewußt, daß dies die Argumentation übervereinfachen und überpointieren und damit zu Mißverständnissen führen kann.

Gewerbliche Arbeiterschaft in Nordwestdeutschland

71

erlaubnissen und der Etablierung eines freien Arbeitsvertrages und Arbeitsmarktes einen offenen Raum, in dem sich die Fabrikarbeiterschaft ausdehnen konnte. Die den Reformen folgende liberale Politik des Staates wirkte in die gleiche Richtung. So setzten Bauernbefreiung und Gewerbefreiheit Arbeitskräfte in Massen frei, die in die Fabriken strömten. In dieser Argumentation spielen die staatlichen Maßnahmen für die Entwicklung der gewerblichen Arbeiterschaft also eine sehr wichtige, wenn nicht die entscheidende Rolle. Demgegenüber soll hier die Frage gestellt werden, ob eine solche Beweisführung nicht Gefahr läuft, den Einfluß staatlicher Maßnahmen zu stark zu gewichten. Zugespitzt formuliert: Hatten diese Maßnahmen den entscheidenden Einfluß oder waren sie nur ein Faktor? Und, wenn letzteres bejaht wird: Welcher Stellenwert kam ihnen zu? 3. Eine Antwort darauf verlangt eine Überprüfung der Fakten nach den oben zu 2 gestellten Fragen. Dafür stehen zwei Methoden zur Verfügung: a) Prüfung der Entwicklung in einzelnen Betrieben oder Gruppen von Betrieben („mikroökonomische" Methode). Ihre Vorteile sind Präzision und Detailliertheit, ihre Nachteile Mangel entsprechender Quellen, hoher Arbeitsaufwand, vor allem aber die Frage der Repräsentanz der so gewonnenen Ergebnisse. b) Prüfung der Entwicklung im gesamten gewerblichen Bereich und in seinen einzelnen großen Zweigen („makroökonomische" Methode). Die Repräsentanz ihrer Ergebnisse ist gesichert, und sie erlaubt einen umfassenden Uberblick über das Untersuchungsobjekt. Nachteilig ist vor allem das recht grobe Raster, das sie über die Erscheinungen legt und das Fehleinschätzungen begünstigt. Für eine Untersuchung wie die vorliegende ist zweifellos die makroökonomische Methode die günstigere, da sie am leichtesten den gewünschten Gesamtüberblick gibt. Ihr kommt auch die Quellenlage entgegen, da die benötigten Angaben in den veröffentlichten Gewerbetabellen relativ leicht zugänglich sind. So wird sie im folgenden bei dem Versuch benutzt werden, einige Entwicklungslinien für Nordwest-Deutschland herauszuarbeiten. Untersucht wurden Westfalen (preußische Provinz) und Hannover (Königreich, ab 1866 preußische Provinz), wobei Westfalen wegen der besseren Materiallage im Vordergrund steht. Die folgenden

72

K a r l Heinrich K a u f h o l d

Ausführungen basieren auf den amtlich erhobenen Gewerbetabellen 4 und sind demgemäß allen Bedenken ausgesetzt, die diesen gegenüber erhoben, hier aber nicht weiter diskutiert werden können 5 . Ihre Aufbereitung verursachte erhebliche Schwierigkeiten 6 ; insbesondere das Problem der Vergleichbarkeit machte dabei zu schaffen.

II.

ENTWICKLUNGSTENDENZEN

Vorweg sei bemerkt, daß im folgenden aus Zeitmangel nur zwei Abschnitte unterschieden werden: a) 1800 bis zirka 1850 (genau 1849 wegen der in diesem Jahre erhobenen Gewerbestatistik), also der Abschnitt des Übergangs vom (vorindustriellen) agrarisch-kommerziell-kleingewerblichen zum industriellen Zeitalter. b) Zirka 1850 bis 1875 (dieses J a h r wurde wegen der Gewerbezählung, der ersten seit 1861, gewählt), also die erste Phase des industriellen Zeitalters oder, wenn man so will, die des sogenannten „take-off". Natürlich deckt eine solche grobe Aufteilung viele Einzelzüge und Differenzierungen zu, ist also nicht ohne Bedenken; doch scheint sie angesichts des hier verfolgten Zieles, lediglich einen Uberblick zu bieten, vertretbar (und dem Hörer vielleicht sogar erwünscht, weil sie ihm ein Zuviel an Zahlen erspart). 1. In Westfalen (für Hannover fehlen entsprechend lange Zeitreihen) nahm die Gesamtzahl der gewerblichen Arbeiter zwischen 1800 und 1875 erheblich zu: V g l . d a z u den A n h a n g . V g l . d a z u z. B. K . H . K a u f h o l d , D a s preußische H a n d w e r k in der Z e i t der Frühindustrialisierung in: W . F i s c h e r ( H r s g . ) : B e i t r ä g e z u m Wirtschaftswachstum u n d zur Wirtschaftsstruktur im 16. und 19. J a h r h u n d e r t , Schriften des Vereins für Socialpolitik, 6 1 , 1 9 7 1 , 1 7 0 . D e r gelegentlich — in unterschiedlicher Schärfe — geäußerten Meinung, alle aus den Gewerbetabellen des 19. J a h r h u n d e r t s gezogenen Schlüsse seien w e g e n der Mängel dieser Tabellen w e i t g e h e n d o d e r g a r vollständig w e r t l o s , v e r m a g ich mich nicht anzuschließen. Die T a b e l l e n haben F e h l e r und Unzulänglichkeiten, schlechthin falsch und d a m i t u n v e r w e n d b a r scheinen sie aber, soweit sich das feststellen läßt, nicht zu sein. 4

5

6

V g l . d a z u den A n h a n g .

Gewerbliche Arbeiterschaft in Nordwestdeutschland

73

Setzt man so betrug sie

1800 = 100, 1849 = 172, 1875 = 272. Die durchschnittlichen 7 Zuwachsraten pro Jahr beliefen sich f ü r die Zeiträume von 1800 bis 1849 auf 1,4 v. H., von 1849 bis 1875 auf 2,3 v. H . Auch der Anteil der gewerblichen Arbeiterschaft an der Bevölkerung stieg von ca. 9,0 v . H . 1800 auf 10,6 v . H . 1849 und 13,0 v . H . 1875. Insgesamt bestätigt sich der Eindruck einer kräftigen Expansion des gewerblichen Sektors auch von dieser Seite her. Besonders deutlich wird der „ Wachstumsschub " zwischen 1849 und 1875. 2. Doch besagen solche globalen Zahlen im Hinblick auf das Thema noch nicht allzuviel. Um hier weiterzukommen, muß der zu pauschale Begriff der gewerblichen Arbeiterschaft sachgerecht differenziert werden. Dabei setzen allerdings die von der zeitgenössischen Gewerbestatistik verwandten Erhebungskategorien rasch Grenzen, wie gleich zu zeigen sein wird. Es empfiehlt sich daher — um nicht sofort an diese Grenzen zu stoßen —, bei der weiteren Gliederung der gewerblichen Arbeiterschaft Begriffe zu verwenden, die sich auch von der Statistik her ohne allzu große Schwierigkeiten mit Inhalt füllen lassen. Danach soll unterschieden werden zwischen a) Großgewerbe (Fabriken) und b) Kleingewerbe (Handwerk), zwei Begriffen, die in Richtung auf das Thema weiterführen, andererseits aber auch der eben erhobenen Forderung gerecht werden 8 . Zum Großgewerbe rechnen danach Gewerbebetriebe, die entweder in der Regel für den Verkauf an Wiederverkäufer, also nicht für den Absatz unmittelbar an den Kunden, tätig waren und/oder eine bestimmte Betriebsgröße (1875: mehr als fünf Beschäftigte) überschritten. 7 Einfache arithmetische Mittelwerte; wie hier auch im berechnet. 8 D a z u siehe den Anhang.

folgenden

74

Karl Heinrich K a u f h o l d

Dem Kleingewerbe gehörten dagegen diejenigen Gewerbetreibenden an, die in der Regel unmittelbar f ü r den Bedarf der Verbraucher arbeiteten und/oder eine bestimmte Beschäftigtenzahl (1875: fünf Beschäftigte) nicht überschritten 9 . Schon diese Definitionen zeigen freilich, daß beide Begriffe nicht gerade Muster an Schärfe und Präzision sind und zwischen ihnen eine breite Überlappungszone besteht, in der die Zuordnung der Betriebe zweifelhaft sein kann. Sie lassen weiter erkennen, daß das Großgewerbe (Fabrik) nicht voll identisch mit der Fabrik im modernen Sinne, sondern ein Begriff sui generis ist. Trotz dieser Mängel sollte man jedoch, und zwar aus den oben genannten Gründen, mit beiden Größen arbeiten, dabei allerdings nicht vergessen, daß es sich bei ihnen nicht um exakte Kategorien, sondern um „Arbeitsgrößen" handelt. 3. Das Großgewerbe — mit ihm zu beginnen — zeigte im Wachstum der in ihm beschäftigten Arbeiterschaft in den beiden Phasen eine Entwicklung, deren Unterschiedlichkeit mir charakteristisch zu sein scheint: Setzt man, wieder f ü r Westfalen (siehe oben) . . . 1800 = 100, so betrugen die Indizes für 1849 = 153, für 1875 = 268. Die durchschnittlichen Zuwachsraten pro Jahr beliefen sich f ü r die Zeit von 1800 bis 1849 auf 1,1 v. H., von 1849 bis 1875 auf 7,5 v. H . Während das Großgewerbe also bis 1849 unter der Wachstumsrate der gesamten gewerblichen Arbeiterschaft lag, übertraf es diese in der Phase von 1849 bis 1875 um mehr als das Dreifache. Hier zeigt sich ein geradezu explosiver Wachstumsschub. So aufschlußreich solche Zahlen auch sein mögen: Der bisher verwendete Begriff des Großgewerbes ist noch zu ungenau, um die eigentliche Zielgruppe, die Fabrikarbeiterschaft, zu erfassen. Hierzu wäre eine Aufteilung der im Großgewerbe tätigen Arbeiter nach mindestens drei weiteren Kriterien erforderlich: a) Betriebsgröße, b) Art des Betriebes (Fabrik, Manufaktur usw.), c) Art der Einordnung des Arbeiters in den Betrieb (ständiger oder Saison-Arbeiter, Heimarbeiter usw.). 9

Wegen der Zuordnung im einzelnen vgl. den Anhang.

Gewerbliche Arbeiterschaft in Nordwestdeutschland

75

Eine solche Aufteilung ist nach den Gewerbetabellen nicht möglich. H i e r liegt also eine entscheidende Begrenzung ihres Aussagewertes für das Thema. Jedoch läßt sich a u f zwei Wegen weiterkommen: a) Beobachtung der Entwicklung solcher Betriebe, deren F a b r i k charakter unzweifelhaft ist (z. B . Maschinenspinnereien,

Dampf-

mühlen, Zuckerfabriken). Ein solches V e r f a h r e n ergäbe interessante Einzelergebnisse, aber kein repräsentatives Gesamtbild 1 0 . b) Berechnung durchschnittlicher Betriebsgrößen für das ganze G e w e r b e oder für seine Teilbereiche, um das betriebliche G r ö ß e n wachstum wenigstens in Durchschnittswerten

zu erfassen.

Dabei

kann entsprechend der geschichtlichen Erfahrung unterstellt werden, d a ß mit steigender Betriebsgröße die Tendenz zum F a b r i k betrieb zunimmt, ohne daß sich dafür allerdings ein Schwellenwert angeben ließe. V o n diesen Möglichkeiten wird die zu b gewählt, da sie repräsentativer und damit aussagekräftiger ist. Freilich gestatten veröffentlichten

Gewerbetabellen

die

die

Durchschnittsberechnungen

für Westfalen erst a b 1 8 4 9 , für H a n n o v e r ab 1861. Danach

stieg

die

durchschnittliche

Betriebsgröße

im

Groß-

gewerbe in Westfalen von 11,2 1 8 4 9 auf 30,6 1 8 7 5 , in H a n n o v e r von Die

Tendenz

Fabrikbetrieb

9,9 1 8 6 1 auf 2 4 , 2 1 8 7 5 . zur



war

Betriebsvergrößerung also

eindeutig.



und

Betrachtet

damit

man

zum

einzelne

Branchen, lassen sich zum Teil noch kräftigere Zunahmen erkennen. D a f ü r

einige Beispiele.

So wuchsen

die

durchschnittlichen

Betriebsgrößen in der Produktion von Textilien

in Westfalen von 17,3 1 8 4 9 auf 62,7 1 8 7 5 ,

Metallwaren

in Westfalen von 11,3 1 8 4 9 auf 54,9 1 8 7 5 ,

in H a n n o v e r von 15,7 1 8 6 1 auf 51,7 1875, Nahrungs- und Genußmitteln

in H a n n o v e r von

7,4 1 8 6 1 auf 37,3 1 8 7 5 .

In einzelnen Gruppen dieser Branchen waren

teilweise

noch

stärkere Steigungen zu beobachten. Insgesamt wuchsen also die Betriebe im Durchschnitt unverkennb a r a n ; innerhalb des Großgewerbes w a r die Tendenz zur Betriebs10 Zumal die Gewerbestatistik Betriebe erfaßte.

bis

1846

nur

wenige A r t e n

solcher

Karl Heinrich Kaufhold

76

Vergrößerung während der ganzen Untersuchungszeit deutlich zu erkennen. Dennoch wäre es zu gewagt, aus dieser Tendenz unmittelbare Folgerungen hinsichtlich des Wachstums der Fabrikarbeiterschaft abzuleiten. Z w a r wurde — u n d das nach aller E r f a h r u n g sicherlich zu Recht — unterstellt, d a ß eine zunehmende durchschnittliche Betriebsgröße in einer sich industrialisierenden Wirtschaft auf eine steigende Zahl von Fabrikarbeitern schließen läßt, doch bleibt damit noch die Quote (die sich wahrscheinlich im Prozeßablauf veränderte) offen, mit der die Fabrikarbeiterschaft im einleitend formulierten Sinne an der gesamten großgewerblichen Arbeiterschaft beteiligt war. U m das an einem Beispiel deutlich zu machen: T r o t z aller Vorsicht bei der Berechnung 1 1 können (und sind es wahrscheinlich auch) in das Großgewerbe Verlagsunternehmen a u f genommen worden sein, die — durch Z ä h l u n g der Beschäftigten beim Verleger — scheinbar Großbetriebe, in Wirklichkeit aber nur eine Summierung von Klein- u n d Kleinstbetrieben waren. V o r allem im Textilgewerbe ist die Wahrscheinlichkeit solcher falschen Einstufungen recht hoch. Sie könnten, wenn überhaupt, nur durch regionale oder lokale Studien aufgedeckt werden. Im hier gewählten R a h m e n bleiben sie eine Fehlerquelle, die um so mehr zu beachten ist, als ihre Größe nicht abgeschätzt werden kann. I m m e r h i n gestattet die amtliche Gewerbestatistik, f ü r einige Z e i t p u n k t e einen quantitativ wesentlichen Teil der Fabrikarbeiterschaft mit größerer Sicherheit zu ermitteln. 1858 sind in Westfalen, 1875 in Westfalen und in H a n n o v e r die Betriebe mit mehr als 50 Arbeitern 1 2 gesondert gezählt worden. An ihrem Fabrikcharakter könnten allenfalls im Textilgewerbe Zweifel bestehen 1 3 . Jedenfalls ist er wahrscheinlicher als bei den oben verw a n d t e n Durchschnittswerten, wenn auch diese Zählungen nicht frei von Bedenken 1 4 sind. 11

Vgl. dazu den Anhang. 1858 die mit 50 und mehr Arbeitern. 13 In der Diskussion wies H e r r Prof. Adelmann, Bonn, darauf hin, daß nach seinen Forschungen 1858 in die westfälischen Tabellen im Textilgewerbe auch Verlagsbetriebe aufgenommen worden seien. 14 Vgl. dazu für 1858 den „Bericht über die Verhandlungen der Commission für die Revision der Vorschläge, betreffend die Ausführung der Gewerbestatistik im Deutschen Reiche", Beilage zu Heft 3 der Zeit12

Gewerbliche Arbeiterschaft in Nordwestdeutschland

77

In Betrieben der genannten Art waren beschäftigt: In Westfalen 1858 36,0 v. H., 1875 57,5 v. H. der gesamten gewerblichen Arbeiterschaft, und 1858 61,0 v. H., 1875 79,5 v. H. der Arbeiter des Großgewerbes. In Hannover 1875 34,0 v. H. der gesamten gewerblichen Arbeiterschaft, und 55,1 v. H. der Arbeiter des Großgewerbes. In Westfalen zeigte sich damit eindeutig ein steigender Trend. Der Anteil der Arbeiter in „Großbetrieben" (im oben definierten Sinne) an der gesamten gewerblichen Arbeiterschaft und an den Arbeitern im Großgewerbe nahm von 1858 bis 1875 in annähernd gleichen Raten zu. Daraus folgt: Mit großer Wahrscheinlichkeit wuchs die Fabrikarbeiterschaft in den sechziger und siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Verhältnis zur übrigen gewerblichen Arbeiterschaft überproportional. Hatte sie in Westfalen ausgangs der fünfziger Jahre noch mindestens ein Drittel aller gewerblich Beschäftigten ausgemacht, so 1875 schon (auch dies ein Mindestwert) fast 60 von Hundert. Innerhalb des Großgewerbes stellte sie bereits 1858 mindestens ein knappes Drittel der Beschäftigten; 1875 waren es vier Fünftel. Alle diese Zahlen sind ein guter Beleg für den Konzentrationsprozeß, der sich bereits in dieser Zeit in Teilen des Großgewerbes vollzog. Interessant ist für 1875 der Vergleich zwischen Westfalen und Hannover. In Hannover lagen die Anteile der „Großbetriebe" an der gesamten gewerblichen Arbeiterschaft wie auch an der des Großgewerbes weit hinter denen Westfalens zurück und ungefähr auf der Höhe, welche diese Provinz bereits 1858 erreicht hatte. Da Hannover insgesamt im Grad der Industrialisierung hinter Westfalen zurückstand, wundert diese „Phasenverschiebung" nicht: Der niedrigere Stand der Konzentration der gewerblichen Arbeiterschaft spiegelt das geringere Maß der industriellen Durchdringung. 4. Es bleibt noch übrig, das Kleingewerbe — das im wesentlichen schrift des Königlich Preußischen Statistischen Bureaus, 1 5 , 1 8 7 5 , 4 f f . und f ü r 1 8 7 5 die Einführung v o n Ernst Engel z u r Veröffentlichung der Gewerbestatistik 1 8 7 5 : „Die definitiven Ergebnisse der Gewerbezählung v o m 1. 12. 1875", Theil 1, Preußische Statistik 40, 1 8 7 8 .

78

Karl Heinrich Kaufhold

mit dem H a n d w e r k gleichgesetzt werden kann — näher zu betrachten, um im einleitend angesprochenen Sinne eventuelle Auswirkungen der Industrialisierung und der eben erörterten Prozesse im großgewerblichen Bereich auf seine Entwicklung zu ermitteln. Dabei ist vor allem an das immer wieder vorgetragene Argument von der „Auszehrung" des Kleingewerbes zugunsten der Fabriken zu denken, also von der Übernahme von ihre Selbständigkeit aufgebenden Handwerksmeistern, aber auch von Gesellen als Lohnarbeitskräfte durch die wachsenden Fabriken. Audi hier gestattet die Statistik einen langfristigen Überblick nur für Westfalen. Die Zahl der im H a n d w e r k abhängig tätigen K r ä f t e (Gesellen, Gehilfen, Lehrlinge) betrug bei 1800 = 100 1849 = 249 1875 = 285. Die durchschnittlichen jährlichen Zuwachsraten beliefen sich entsprechend f ü r die Zeit von 1800 bis 1849 auf 2,8 v. H., von 1849 bis 1875 auf 0,8 v. H . Auch hier erweist sich wie im Großgewerbe die Zeit um 1850 als Wendepunkt, freilich mit umgekehrtem Vorzeichen: N a h m die Zahl der Arbeiter im Großgewerbe von da an wesentlich stärker zu als vorher, so fiel die durchschnittliche Wachstumsrate der handwerklichen Hilfskräfte deutlich ab. Die These von der „Auszehrung" des H a n d w e r k s scheint also berechtigt zu sein. Doch wäre es voreilig, die Untersuchung hier abzubrechen. Denn anders als im Großgewerbe, wo die Geschäftsleitung in der Regel nicht persönlich in der Produktion im engeren Sinne mitwirkte, war Mitarbeit des Meisters in der Werkstatt im H a n d w e r k der Normalfall. Um das Gewicht des Handwerks innerhalb der gewerblichen Arbeiterschaft richtig zu bemessen, muß daher auch die Entwicklung der Meisterzahlen berücksichtigt werden. In Westfalen betrug sie bei 1800 = 100 1849 = 155 1875 = 271. Durchschnittliche jährliche Wachstumsraten: 1800—1849 = 1,1 v. H . 1849—1875 = 3,0 v. H .

Gewerbliche Arbeiterschaft in Nordwestdeutschland

79

Die Zunahme der Meisterzahlen zeigte also ein der bei den Hilfskräften entgegengesetztes Bild: in der ersten Phase w a r sie deutlich geringer als in der zweiten. Es bleibt noch übrig, die Gesamtentwicklung im H a n d w e r k (Meister und Hilfskräfte) f ü r Westfalen darzustellen. Setzt man wieder 1800 = 100, so ergeben sich für 1849 = 180 und f ü r 1875 = 276. Die durchschnittlichen jährlichen Wachstumsraten betrugen: 1800—1849 1,6 v. H . 1849—1875 2,1 v. H . Das heißt also (was nach den oben geschilderten Abläufen nicht verwundern kann): ein relativ gleichmäßiges Wachstum. Dessen Träger wechselten freilich: bis 1849 waren es die Hilfskräfte, danach die Meister 15 . Insgesamt kann damit von einer „Auszehrung" des Kleingewerbes im herkömmlich behaupteten Sinne kaum die Rede sein. Gerade die Meister, die nach dieser Ansicht in die Fabriken gingen („verproletarisierten"), nahmen in der Industrialisierungsphase (1849 bis 1875) stark zu. Andererseits scheinen die Hilfskräfte stärker abgewandert oder vielleicht auch gar nicht erst in das H a n d w e r k gekommen zu sein, sondern sich gleich der Fabrik zugewandt zu haben. Es wäre daher verfehlt, die genannte Auffassung gleichsam auf den Kopf zu stellen und aus den skizzierten Prozessen auf eine uneingeschränkt positive Entwicklung des Kleingewerbes zu schließen. Sie sollten lediglich darauf hinweisen, d a ß Strukturwandlungen im Rahmen einer Industrialisierung bei stärkerer zeitlicher und sachlicher Differenzierung der Betrachtung in der historischen 15

Diese Tendenzen schlugen sich übrigens auch in den durchschnittlichen Betriebsgrößen nieder. Sie betrugen in Westfalen 1800 1,4 1849 1,6 1875 1,4 Hannover 1861 1,8 1875 1,4. Damit zeigte sich ein Gipfel in der Jahrhundertmitte infolge des starken Zustroms von Hilfskräften in der ersten Jahrhunderthälfte und ein Abfall bis 1875 als Ergebnis der gegenläufigen Entwicklung der Zuwachsrate bei Meistern und Hilfskräften.

80

K a r l Heinrich K a u f h o l d

Realität nicht immer so geradlinig verliefen, wie es nach der (notwendig generalisierenden) Theorie scheint. Uber Wert und Unwert der Theorie ist damit nichts gesagt. 5. Die in diesem Abschnitt geschilderten Entwicklungstendenzen lassen sich in vier Thesen zusammenfassen: a) Die gewerbliche Arbeiterschaft wuchs absolut und relativ, und zwar ab 1849 schneller als vorher. b) Bis 1849 nahm die gewerbliche Arbeiterschaft im Kleingewerbe (Handwerk) stärker zu als im Großgewerbe, von da an zeigte das Großgewerbe eine wesentlich stärkere Wachstumsrate. c) Innerhalb des Großgewerbes scheint, auch hier wahrscheinlich verstärkt ab 1849 (doch kann das nur vermutet werden), eine starke Tendenz zum fabrikmäßigen Betrieb vorgeherrscht zu haben, wie steigende Betriebsgrößen und hohe und zunehmende Anteile von Betrieben mit über 50 Arbeitern zeigen. d) Das Kleingewerbe (Handwerk) hat auch nach 1849, als es relativ stark hinter dem Wachstum des Großgewerbes zurückblieb, seine Stellung in der gewerblichen Arbeiterschaft im ganzen behauptet, allerdings nur, wenn man die Meister der gewerblichen Arbeiterschaft zurechnet. Diese Thesen beziehen sich auf das Gewerbe als Ganzes. Die mir zur Verfügung stehende Zeit verbietet eine Differenzierung nach Berufsgruppen, die wichtige Unterschiede zutage förderte 16 . I I I . WIRKENDE KRÄFTE

Zum Schluß ist zu fragen: Welche Kräfte standen hinter den eben angedeuteten Entwicklungstendenzen und wirkten auf sie ein? Es bedarf keiner Betonung, daß auch hier nur Hinweise möglich sind und nicht das ganze Feld der Bestimmungsfaktoren abgesteckt werden kann — das käme einer Theorie der Industrialisierung gleich. Jedoch soll, der eingangs formulierten Fragestellung gemäß, dem Einfluß staatlicher Faktoren, vor allem der Befreiungs- und Reformgesetzgebung, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. 1. Jeder Erklärungsversuch wird von der allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Situation ausgehen müssen, in der sich 1 6 Ich hoffe, diese Fragen zu einem späteren Zeitpunkt ausführlicher darstellen zu können.

Gewerbliche Arbeiterschaft in Nordwestdeutschland

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auch Nordwestdeutschland (freilich mit gewissen Besonderheiten) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befand und die hier, da sie zum Gemeingut der Wirtschaftsgeschichte gehört, nur schlagwortartig angerissen zu werden braucht: Verarmung breiter Bevölkerungsschichten, auch vorher wenigstens leidlich gesicherter (z. B. Kleinbürgertum) Pauperismus. Dieses Massenelend wird oft in kausalen Zusammenhang mit Industrialisierung und Entstehung der Fabrikarbeiterschaft gebracht, gehört aber, wie Abel überzeugend gezeigt hat 17 , noch der vorindustriellen Epoche an. Kennzeichnend für diese Situation war vor allem die starke Zunahme der Unterschichten, des „Pöbels" (im Sinne von Werner Conze 18 ), vor allem auf dem Lande. Vielerlei wirkte dabei zusammen, etwa der Rückgang der Sterblichkeit, aber auch die Aufhebung oder Lockerung von Heiratsordnungen und dgl., welche die (legale) Proliferation an den Nachweis einer die „Nahrung" sichernden „Stelle" 19 banden und damit auf die Bevölkerungsvermehrung repressiv wirkten 2 0 . So begann sich die „Bevölkerungsweise" (Mackenroth) 21 allmählich zu ändern, ohne daß sich der Nahrungsspielraum zunächst ausweitete. Im Gegenteil: Die Gemeinheitsteilungen engten durch den Fortfall der Allmende die Nahrungsmöglichkeiten der unterbäuerlichen Schicht ein, und die aufkommende Industrie schädigte durch ihre überlegene Konkurrenz ländliche Nebengewerbe, die gerade den Unterschichten Verdienst gegeben hatten. Beide Entwicklungen machten sich im Untersuchungsgebiet vielleicht noch stärker als in anderen Teilen Deutschlands bemerkbar 22 . 1 7 W . Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur, 2 1966, 226 ff.; besonders aber ders.: Der Pauperismus in Deutschland am Vorabend der industriellen Revolution. 1970, passim. 1 8 W. Conze, Vom „Pöbel" zum „Proletariat". Hier zitiert nach dem durchgesehenen Abdruck bei H. U. Wehler (Hrsg.): Moderne deutsche Sozialgeschichte, 1966, 1 1 1 — 1 3 6 . Der Aufsatz arbeitet die hier angesprochenen Entwicklungslinien ausführlich heraus, so daß auf ihn verwiesen werden kann. 19 Vgl. dazu G. Mackenroth, Bevölkerungslehre, 1953, 412 ff. 20 Das Absinken bäuerlicher (oder teilbäuerlicher) Schichten in die Untersdiicht spielte dagegen im Untersuchungsraum, u. a. wohl bedingt durch das Anerbenrecht, keine gravierende Rolle. 21 Zu diesem Begriff Mackenroth, Bevölkerungslehre 4 1 3 ff. 22 Dabei wirkte es sich besonders nachteilig aus, daß die das ländliche Gewerbe konkurrenzierenden Industriewaren zumeist (in der Regel aus

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K e l l e n b e n z , Wirtschaftspolitik

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2. So stand in den pauperisierten Unterschichten ein großes Potential für die Rekrutierung als gewerbliche Arbeiter zur Verfügung, eine zahlenstarke „industrielle Reservearmee". Nur w a r die industrielle Entwicklung in Nordwestdeutschland in der Phase bis 1850 noch nicht so weit fortgeschritten, daß Fabriken diese Massen im stärkeren Umfange beschäftigen konnten. Daher kam es zum Druck auf das Handwerk als nächstliegende Ausweichmöglichkeit mit der Folge, daß die Zuwachsrate seiner Hilfskräfte die der des Großgewerbes weit übertraf. Nach 1850, in der Zeit des ersten ausgeprägten industriellen Aufschwunges, konnte die nun rasch wachsende Industrie dagegen diese Kräfte in großem Umfange aufnehmen. Zugleich suchte sie (wegen ihrer in der Regel höheren Löhne meist mit Erfolg), gelernte Handwerker als Facharbeiter an sich zu ziehen. So kam es zu einer radikalen Umkehrung der Verhältnisse: im Großgewerbe, vor allem in den Fabriken, eine hohe Zuwachsrate, im Handwerk dagegen ein starker Rückgang dieser Rate im Vergleich zur vorhergehenden Phase und entsprechend ein im Verhältnis zum Großgewerbe erheblich langsameres Wachstum der Zahl der Hilfskräfte. Nur die Stellung als selbständiger Handwerksmeister scheint noch attraktiv geblieben zu sein, wenn man ihre relativ hohe (und gegenüber der Zeit bis 1850 kräftig gestiegene) Zuwachsrate so interpretieren darf 2 3 . 3. Bezieht man diese Überlegungen auf die eingangs gestellte Frage nach der Bedeutung der staatlichen Maßnahmen, besonders der Befreiungs- und Reformgesetze, auf die Entstehung und Entwicklung der gewerblichen Arbeiterschaft, so zeichnet sich etwa folgende Antwort ab: a) Das Handwerk hat in der ganzen Zeit seine Stellung im wesentlichen halten, in der ersten Phase (bis 1850) sogar ausbauen können. In dieser Phase (in die die Einführung der Gewerbefreiheit fiel!) setzte es nicht etwa Menschen für die Fabriken frei, sondern nahm im Gegenteil aus den Unterschichten Arbeitskräfte zusätzlich auf. Nach 1850 gab es zwar an die Industrie laufend Fachkräfte ab, doch wurden diese Abgänge stets durch Zugänge aus der England) importiert wurden, der arbeit-nehmenden Tendenz der Industrie also in der Region keine arbeit-gebende korrespondierte. 2 3 Angesichts der weithin noch ungeklärten Wirtschaftsgeschichte des Handwerks im 19. Jahrhundert ist hier allerdings gegenüber Folgerungen aus globalen Zahlen Vorsicht am Platze.

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sonstigen Bevölkerung in das Handwerk überkompensiert. Man kann also nicht sagen, daß die Gewerbefreiheit im Handwerk per Saldo größere Mengen Arbeit für die Fabriken freigesetzt habe. b) Die wichtigste Quelle für die Fabrikarbeiterschaft scheinen die Unterschichten, besonders die ländlichen, gewesen zu sein. Den Zug der Entwicklung zeigt der Titel von Conzes schon genanntem Aufsatz 2 4 „Vom Pöbel zum Proletariat" treffend auf. Diese Unterschichten waren so zahlreich, daß es nicht der Bauernbefreiung bedurfte, um auf dem Lande Arbeitskräfte freizusetzen 25 : Müßige oder unterbeschäftigte Hände gab es dort schon um 1800 reichlich26. Zusammenfassend: Es spricht viel dafür, daß die staatlichen Maßnahmen, besonders die Reformen, für die Herausbildung und Entfaltung der Fabrikarbeiterschaft und überhaupt für die Entwicklung der gewerblichen Arbeiterschaft in der Zeit von 1800 bis 1875 nicht das Gewicht gehabt haben, das ihnen von der herrschenden Meinung beigemessen wird. Das heißt nicht, ihnen jeden Einfluß abzusprechen. Doch war die Entwicklung des Arbeitsmarktes primär durch säkulare sozialökonomische Trends beeinflußt, die auch den Reformen und der Wirtschaftspolitik der Zeit ihren Rahmen setzten. Vgl. A n m . 18. D a m i t wird nicht bestritten, d a ß die B a u e r n b e f r e i u n g solche freisetzenden Wirkungen hatte. D i e freigesetzten B a u e r n waren nach der hier vertretenen Ansicht nur nicht das einzige, nicht einmal das q u a n t i tativ wichtigste ländliche R e s e r v o i r f ü r die Fabrikarbeiterschaft. 2 6 Einen schönen Beleg d a f ü r liefern f ü r Westfalen die Untersuchungen von S. Reekers, Westfalens B e v ö l k e r u n g 1818—1955, Veröffentlichungen des Provinzial-Instituts f ü r Westfälische L a n d e s - u n d V o l k s k u n d e . Reihe I, 9, 1956. S i e zeigen (besonders auf S. 8) im Vergleich der B e v ö l kerungszahlen der westfälischen K r e i s e von 1818 bis 1871 besonders nach 1843 in den Kreisen mit starker unterbäuerlicher Schicht, aber ohne größere F a b r i k e n (z. B. Tecklenburg, Halle, W a r b u r g ) z. T. erhebliche Abwanderungen, die in den e b e n f a l l s nicht industrialisierten Kreisen ohne starke unterbäuerliche Schicht, e t w a im zentralen Münsterland, nicht beobachtet w u r d e n . 24 23

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Karl Heinrich Kaufhold ANHANG

A. Benutzte Quellen Die in den Berechnungen verwendeten Zahlen wurden entnommen: 1. für 1800: L.Krug, Betrachtungen über den National-Reidithum des Preußischen Staates und über den Wohlstand seiner Bewohner, 2. Theil, 1805, 173—203 (Handwerker), 219—377 (Fabrikentabellen); ergänzt durch die Angaben bei S. Reekers, Beiträge zur statistischen Darstellung der gewerblichen Wirtschaft Westfalens um 1800; Teil 1 : Paderborn und Münster, Westfälische Forschungen 17, 1964, 83—176; Teil 2 : Minden-Ravensberg, ebenda 18, 1965, 75—130; Teil 3 : Tecklenburg-Lingen, Reckenberg, Rietberg und Rheda, ebenda 19, 1966, 27—78; Teil 4 : Herzogtum Westfalen, ebenda 20, 1967, 58—108; Teil 5 : Grafschaft Mark, ebenda 21, 1968, 98—161. 2. für 1849: Tabellen und amtliche Nachrichten über den Preußischen Staat für das J a h r 1849. Hrsg. von dem Statistischen Bureau zu Berlin. Bd. V. Die Gewerbetabelle, enthaltend: Die medianischen Künstler und Handwerker für 1849 und 1852, 1854. Bd. VI, Abt. A. Die Tabelle der Fabrikations-Anstalten und FabrikUnternehmungen aller Art für das J a h r 1849 . . . , 1855. 3. für 1858: Tabellen und amtliche Nachrichten über den Preußischen Staat für das J a h r 1858. Hrsg. von dem Statistischen Bureau zu Berlin, 1860, 560—579. 4. für 1861: Tabellen der Handwerker, der Fabriken sowie der Handels- und Transportgewerbe im Zoll-Vereine. Nach den Aufnahmen im Jahre 1861 vom Centrai-Bureau des Zoll-Vereins zusammengestellt. o. J. 5. für 1875: Die Ergebnisse der Gewerbezählung vom 1. Dez. 1875 im Deutschen Reiche. 2 Teile, Statistik des Deutschen Reichs. Hrsg. vom Kaiserlichen Statistischen Amt, 34, 1879. B. Zur Gliederung nach Klein- und Großgewerbe Der zur Verfügung stehende Raum gestattet es leider nicht, die den im Text verwandten Indizes und Prozentangaben zugrunde liegenden absoluten Zahlen hier zu veröffentlichen. Ebenso ist es nicht möglich, die — zum Teil größere Umformungen erfordernde — Aufbereitung, mit deren Hilfe sie aus den zu A genannten Quellen gewonnen wurden, im einzelnen darzulegen. Nur auf einen besonders wichtigen (und zugleich besonders schwierigen) Punkt, die möglichst sachgerechte Aufteilung der Betriebe und der Beschäftigten nach Groß- und Kleingewerbe, sei näher eingegangen. Sie w a r lediglich für 1875 relativ eindeutig, wo bereits bei der Erhebung nach Betrieben mit bis zu fünf Beschäftigten (Kleingewerbe) und mehr als fünf Beschäftigten (Großgewerbe) unter-

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schieden wurde. Für die Zählungen davor wurde hier im Grundsatz so verfahren, daß die Gewerbezweige (Berufe), die nach ihrer durchschnittlichen Betriebsgröße und nach sonstigen Merkmalen vorherrschend handwerklichen Zuschnitt hatten, dem Kleingewerbe, die übrigen dem Großgewerbe zugerechnet wurden. Dabei w a r die Aufnahme in die Handwerker- oder Fabriken-Tabelle der amtlichen Statistik Preußens und des Zollvereins ein wichtiges Indiz. Doch wurden nach den oben genannten Kriterien vorwiegend kleingewerbliche Berufe, wie etwa die Müller (mit Ausnahme der Dampfmühlen) oder die Weber, auch dann dem Kleingewerbe zugeordnet, wenn sie (wie die genannten Berufe) die amtliche Statistik in der Fabrikentabelle aufführte. Mit dieser — im einzelnen gewiß anfechtbaren — Methode ließ sich eine wenigstens annähernde Vergleichbarkeit der nach verschiedenen Grundsätzen erhobenen Gewerbetabellen erreichen, die von einigen Kontrollrechnungen bestätigt wurde.

FRITZ BLAICH

DER E I N F L U S S DER E I S E N B A H N P O L I T I K A U F DIE S T R U K T U R D E R A R B E I T S M Ä R K T E IM ZEITALTER D E R I N D U S T R I A L I S I E R U N G

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Folgen wir Hans Rosenberg, so wirkte die Eisenbahn im Zeitalter der Industrialisierung als „Marktbildner", denn sie beseitigte die Schwierigkeiten der Raumüberwindung, erleichterte den Transport von Rohmaterialien nach den Fabrikationsstätten und der Fertigwaren nach den binnenländischen Absatzmärkten und nach den Ausfuhrhäfen, sie steigerte den Warenumlauf, die Arbeitsproduktivität und die Nachfrage nach Baumaterialien, sie verbilligte die Produktionskosten, brachte das internationale Anleiheund Effektenwesen mit zur Ausbildung, dehnte die Weltkonkurrenz auch auf den Rohproduktenhandel aus und drückte dem gesamten Verkehr den Stempel größerer Beschleunigung, Regelmäßigkeit, Massenhaftigkeit und Sicherheit auf 1 . In diesem „Loblied" auf die Eisenbahn fehlt eine Kategorie von Märkten. Die Märkte der Investitions- und der Konsumgüter werden erwähnt, ebenso die Geld- und Kreditmärkte, nicht aber die Märkte, auf denen die Dienstleistungen rechtlich freier Menschen angeboten und nachgefragt werden 2 . Ein Blick auf die Literatur zur Geschichte des Eisenbahnwesens in Deutschland lehrt überdies, daß in den vorliegenden Untersuchungen Fragen des Güterverkehrs und der Gütertarifspolitik ganz eindeutig im Vordergrund stehen 3 . Die

1 H. Rosenberg, Der weltwirtschaftliche Struktur- und Konjunkturwandel von 1848—1857, in: H . B ö h m e (Hrsg.), Probleme der Reichsgründungszeit 1 8 4 8 — 1 8 7 9 , 1968. 2 Zur Definition des „Arbeitsmarktes" siehe E. Willeke, A r t . „Arbeitsmarkt", in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften 1, 1956, 321 f. 3 Siehe die umfangreiche Bibliographie bei F. Voigt, Verkehr, 2/1 : Die Entwicklung des Verkehrssystems, 1 9 6 5 , 6 4 3 — 6 5 7 . Vgl. ferner B. Schultz, Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Eisenbahn, 1922. V o r w o r t V.

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Folgerung liegt also nahe, d a ß die Eisenbahn, obwohl sie neben Waren auch Personen beförderte, offenbar die Arbeitsmärkte nicht oder nicht in nennenswertem U m f a n g f o r m e n oder gar bilden konnte. Andererseits bot gerade die S t r u k t u r dieser Arbeitsm ä r k t e — etwa u m 1850 — einen A n s a t z p u n k t zu einer U m w a n d l u n g durch ein modernes, d. h. schnelles, regelmäßig verkehrendes u n d — gemessen a m Einkommen der Berufstätigen — relativ billiges Verkehrsmittel. Die strukturellen Eigenarten vieler Arbeitsmärkte in der Phase der Frühindustrialisierung beruhten einmal auf den realisierten M a r k t f o r m e n . Einem Überangebot vor allem ungelernter Arbeitsk r ä f t e standen meist nur wenige Unternehmer als Nachfrager gegenüber, manchmal sogar nur ein einziger; man denke an G e r h a r t H a u p t m a n n s D r a m a „Die W e b e r " : In der Ortschaft Peterswaldau im schlesischen Eulengebirge hatte in den vierziger J a h r e n des 19. J a h r h u n d e r t s der F a b r i k a n t Dreissiger ein Nachfragemonopol nach der Arbeitsleistung der dort ansässigen Weber u n d Färbereiarbeiter. Gerade beim Vorliegen eines lokalen oder regionalen Nachfragemonopols auf dem Arbeitsmarkt machte sich eine Besonderheit des Gutes „Arbeitsleistung" in verhängnisvoller Weise geltend. Je tiefer nämlich der L o h n sank, u m so geringer w u r d e das Einkommen, über das der Arbeiter verfügte, u n d um so stärker der Z w a n g , mehr zu arbeiten oder Frau u n d Kinder arbeiten zu lassen. D a m i t aber w u r d e das Angebot an Arbeitsleistung erneut erhöht, u n d der Nachfragemonopolist k o n n t e die Löhne weiter drücken 4 . Wegen dieser anormalen Reaktion der Anbieter auf den Arbeitsmärkten — wachsendes Angebot bei sinkendem Lohn — w a r ein größerer Anteil der Arbeiter am Sozialprodukt nur v o n zwei M a ß n a h m e n zu e r w a r ten: 1. Durch einen gewerkschaftlichen Zusammenschluß konnten die Arbeiter „gegengewichtige M a r k t m a c h t " bilden, die sie in die Lage versetzte, mit dem Unternehmer höhere Löhne auszuhandeln. 2. Durch eine Erweiterung der lokalen Arbeitsmärkte mit H i l f e eines modernen Verkehrsmittels k o n n t e auch auf der Nachfrageseite des Arbeitsmarktes ein gewisser W e t t b e w e r b hergestellt 4

W. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, »1960, 44 f.

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•werden, womit zumindest der ständige Druck auf die Lohnhöhe beseitigt werden konnte 5 . Der zuerst beschriebene Weg zur Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter war in Deutschland aus ökonomischen und aus politischen Gründen im Zeitalter der Industrialisierung nicht gangbar. Erfahrungsgemäß bilden sich gewerkschaftliche Organisationen zunächst unter den qualifizierten Arbeitskräften, nicht aber unter angelernten oder ungelernten Arbeitern; auch in Deutschland umfaßten die zwischen 1863 und 1878 gegründeten 30 zentralen Berufsverbände sozialistischer Richtung fast ausschließlich gelernte Arbeiter 6 . Überdies war die gewerkschaftliche Tätigkeit während der Dauer des Sozialistengesetzes zwischen 1878 und 1890 erheblich behindert 7 . Also blieb nur der zweite Weg offen, der Versuch, durch eine Erschließung der Arbeitsmärkte mit Hilfe eines Verkehrsmittels das Nachfragemonopol zu beseitigen. Die zweite Besonderheit vieler Arbeitsmärkte im Zeitalter der Industrialisierung w a r das räumliche Nebeneinander von Teilmärkten mit völlig unterschiedlicher Struktur des Angebots und der Nachfrage. Dieser Fall sei hier am Beispiel der oberrheinischen Tiefebene dargestellt. In Rheinhessen, in der hessischen Provinz Starkenburg, in der vorderen Rheinpfalz, in Baden und im Elsaß wuchs die Bevölkerung — besonders zwischen 1830 und 1850 — stark an. Die ständig neu hinzukommenden Arbeitskräfte konnte der völlig einseitig strukturierte ländliche Arbeitsmarkt jedoch nicht mehr aufnehmen. Die Folge war eine Massenauswanderung aus dem Oberrheingebiet, vor allem nach Nordamerika und nach Südosteuropa, die in vielen Landschaften in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreichte 8 . Auf der anderen Ebenda, 46. F. J. Furtwängler, Die Gewerkschaften. Ihre Geschichte und internationale Auswirkung, 1 9 5 6 , 1 5 . Z u r theoretischen Begründung dieser Erscheinung siehe R. G. Lipsey/P. O. Steiner, Economics, 1 9 6 6 , 3 8 7 . 7 Furtwängler, Gewerkschaften, 16 f. 8 Vgl. hierzu H. Kube, Die Industrieansiedlung in Ludwigshafen am Rhein bis 1 8 9 2 (Chemie und Metallverarbeitung), Phil. Diss. Heidelberg, 1 9 6 2 , 35 f . ; G. K . Michel, Die Entwicklung der Bevölkerung und ihrer beruflichen Gliederung im südlichen Starkenburg in den letzten 1 5 0 J a h r e n , Phil. Diss. Gießen, 1 9 3 0 , 26 f . ; J . G . A c k e r m a n n , Die Entwicklung und berufliche Gliederung der Bevölkerung im nördlichen S t a r k e n b u r g in den letzten 1 5 0 Jahren, Phil. Diss. Gießen, 1 9 3 2 , 8 f.; 5 6

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Seite entwickelten sich in diesem Gebiet industrielle Zentren, insbesondere im R a u m Mainz-Weisenau-Gustavsburg, FrankfurtOffenbach, Darmstadt, Worms, Mannheim-Ludwigshafen, Karlsruhe und Mülhausen im Elsaß. Die meisten Industriebetriebe in diesen Städten hatten sich ursprünglich wegen der niedrigen Transportkosten an diesen Standorten angesiedelt 9 , spätestens nach dem Abklingen der Gründerkrise, also um 1880, erreichte ihr Bedarf an Arbeitskräften jedoch einen derartigen Umfang, daß er sich nicht mehr aus der allernächsten Umgebung des Industriestandortes decken ließ 10 , die Nachfrage am städtischen Arbeitsmarkt überstieg also das Angebot beträchtlich. Einem sofortigen Ausgleich dieser Arbeitsmärkte mit den benachbarten Teilmärkten, in denen das Angebot drückend überwog, stellten sich indessen schwerwiegende Hindernisse entgegen. Zunächst hatten nicht alle Industrien dauerhafte Arbeitsplätze anzubieten. In vielen Wirtschaftszweigen bestanden noch ausgesprochene „Kampagneindustrien", deren Produktionskapazität nicht das ganze Jahr hindurch ausgelastet war, während die Beschäftigungslage in der besonders arbeitsintensiven Bauwirtschaft ohnehin in hohem Maße von der Witterung abhing. Neben das Problem der zeitweiligen Erwerbslosigkeit trat die Frage der Unterbringung zuwandernder Familien in der Stadt. Noch im Jahre 1890 stellte D r . Wörishoffer, „der Leiter der vorbildlichen badischen Fabrikinspektion und wohl beste neutrale Kenner der süddeutschen Arbeitsverhältnisse" 11 , nach einer Enquete fest: „Ohne Zweifel ist das Wohnen der Arbeiter die dürftigste Seite ihrer ganzen Existenz." 12 Diese Feststellung galt nicht nur f ü r den im Vergleich zum Einkommen der Arbeiter H. Bentz, Die Gliederung und Entwicklung der Berufsbevölkerung in Rheinhessen, Phil. Diss. Gießen, 1930, 14 f., 27; K. Kollnig, Wandlungen im Bevölkerungsbild des Pfälzischen Oberrheingebietes, 1952, 28 f. 9 Vgl. F. Gerber, Mannheim als Industriestandort, Phil. Diss. Heidelberg, 1930, 24. 10 Vgl. H. Döhn, Eisenbahnpolitik und Eisenbahnbau in Rheinhessen 1835—1914, Phil. Diss. Mainz, 1957, 183. 11 G. A. Ritter, Die Arbeiterbewegung im Wilhelminischen Reich. Die sozialdemokratische Partei und die freien Gewerkschaften 1890—1900, 2 1963, 223, Anm. 24. 12 Die sociale Lage der Fabrikarbeiter in Mannheim und dessen nächster Umgebung. Hrsg. im Auftrage des Großh. Ministeriums des Innern von F. Wörishoffer, Oberregierungsrath und Vorstand der Großh. badischen Fabrikinspektion, 1891, 221.

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hohen Mietzins, sondern auch für die unzureichende hygienische Ausstattung der Wohnräume 1 3 . Unter der ländlichen Bevölkerung bestanden Wanderungswiderstände psychologischer A r t . Zu nennen w ä r e hier die Verwurzelung in H e i m a t und Familie, aber auch im angestammten Beruf als L a n d w i r t oder ländlicher Handwerker. D a s wohl markanteste Beispiel f ü r derartige Wanderungswiderstände in der deutschen Sozialgeschichte bildet die Weigerung der schlesischen Weber um 1840 gegen eine Umsiedlung in die Bergbaugebiete Oberschlesiens, die versucht worden war, um ihnen aus ihrer N o t zu helfen 1 4 . D i e hier aufgezählten Widerstände, die auf den beiden Teilmärkten einen raschen Ausgleich zwischen angebotener und nachgefragter Arbeitsleistung verhinderten, konnte indessen ein modernes Verkehrsmittel überwinden. A l s ein solches Verkehrsmittel bot sich im Zeitalter der Industrialisierung nur die Eisenbahn an. D a s Straßennetz war lückenhaft und schlecht ausgebaut 1 5 , und dort, wo Postkutschen einen regelmäßigen Verkehr aufrechterhielten, waren die Beförderungskapazitäten zu gering und die Beförderungspreise zu hoch 16 . D a s F a h r r a d schließlich war, abgesehen v o m Stand seiner technischen Entwicklung, bis etwa 1890 noch viel zu teuer, um als Massenverkehrsmittel — auf kurzen Strecken — Verwendung zu finden17. Es ist also zu fragen, ob die „Eisenbahnpolitik" — ein zeitgenössischer Ausdruck, der die Methoden der Finanzierung, die Streckenführung, die Zugfolge und die Tarifpolitik ebenso umf a ß t e wie die grundlegende Entscheidung für ein Privat- oder ein 1 3 E b e n d a , 202 f.; W . T r e u e , H a u s u n d Wohnung im 19. J a h r h u n d e r t , S t u d i e n zur Medizingeschichte des 19. J a h r h u n d e r t s 3 : Städte-, Wohnungsu n d Kleiderhygiene des 19. J a h r h u n d e r t s in Deutschland, 1969, 3 4 — 5 2 ; f e r n e r B. Schultz, Volkswirtschaftliche Bedeutung, 87 f. 1 4 Siehe hierzu E . Willeke, V o n der raumgebundenen menschlichen A r b e i t s k r a f t . Eine qualitative Theorie des „ A r b e i t s m a r k t e s " , 1937, 280—282. 1 5 Vgl. E . Freund, D a s Straßenwesen in R h e i n l a n d - P f a l z . GeschichteZustand-Verkehr-Finanzierung, S t a a t s w . Diss. Mainz, 1956, 2 0 — 2 5 . 1 6 Vgl. A. Uecker, D i e Industrialisierung D a r m s t a d t s im 19. J a h r hundert, Phil. Diss,. Heidelberg, 1928, 20. 1 7 R . Lerch, Das F a h r r a d und seine B e d e u t u n g für die Volkswirtschaft, Schmollers J b . für Gesetzgebung, V e r w a l t u n g und Volkswirtschaft 24, 1900, 337 f.; P . G e r h a r d , D i e Entwicklung der Mannheimer Industrie v o n 1895 bis 1907 und ihr Einfluß a u f das Wohnungswesen, Phil. Diss. H e i d e l b e r g , 1912, 28.

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Staatsbahnsystem 1 8 — nicht doch die Struktur der Arbeitsmärkte zu ändern vermochte. Die folgenden Ausführungen, die sich mit dieser Frage beschäftigen, beschränken sich geographisch auf das Oberrheingebiet, das sich als „beispielgebendes Modellstück" 1 9 deswegen anbietet, weil in diesem Gebiet mit hohem Bevölkerungsüberschuß und einigen industriellen Zentren verschiedenartige Eisenbahngesellschaften „Eisenbahnpolitik" betrieben. D a s Großherzogtum Baden entschied sich von A n f a n g an für eine Staatsbahn, Hessen begnügte sich mit einer bescheidenen staatlichen Kontrolle über die private Ludwigsbahn, die erst 1896 verstaatlicht wurde. Die Main-Neckar-Bahn war eine staatliche Eisenbahn, die gemeinsam von drei Bundesstaaten, nämlich F r a n k f u r t , ab 1866: Preußen, Hessen und Baden, betrieben wurde. D i e Eisenbahnen in der R h e i n p f a l z blieben bis 1909 Privatbahnen, während das Elsaß — ab 1871 — eine Staatsbahn besaß, die einzige „Reichsb a h n " , die aber bei der Reichsgründung ein von privaten französischen Gesellschaften errichtetes Bahnnetz übernommen hatte 2 0 .

II Freilich bedurfte es einiger technischer und organisatorischer Voraussetzungen, um durch eine Mobilisierung der Arbeitskräfte mit H i l f e der Eisenbahn eine Veränderung der Struktur der Arbeitsmärkte herbeizuführen. Zunächst mußten eine Eisenbahnlinie und ein H a l t e p u n k t vorhanden sein. War außerdem noch der Beförderungstarif niedrig, dann hatten die Landbewohner Gelegenheit, sich ohne großen Zeitverlust und bei geringem K o s t e n a u f w a n d in der S t a d t nach einer Verdienstmöglichkeit umzusehen, und der Gelegenheitsarbeiter oder der „Wanderarbeiter", der seine Familie v o m Frühjahr bis zum Herbst allein ließ 21 , gelangte, wenn seine 1 8 Vgl. Art. „ E i s e n b a h n p o l i t i k " (Verf. v. Wittek) i n : V. Röll (Hrsg.), E n z y k l o p ä d i e des Eisenbahnwesens 4, 2 1913, 93—108. w H . H e r z f e l d , A u f g a b e n der Geschichtswissenschaft im Bereidi der Kommunalwissenschaften, Archiv f ü r Kommunalwissenschaften 1, 1962, 35. 2 0 Siehe hierzu die Artikel über die einzelnen Eisenbahngesellschaften in: R ö l l (Hrsg.), E n z y k l o p ä d i e des Eisenbahnwesens, 10 Bde., 2 1 9 1 2 bis 1923; E . K e d i , Geschichte der deutschen Eisenbahnpolitik, 1911, 75 f. 2 1 Vgl. G . Schmoller, Ü b e r den Einfluß der heutigen Verkehrsmittel, Preußische Jahrbücher 31, 1873, 427.

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Arbeitskraft gerade benötigt wurde, schnell zu seinem Arbeitsplatz. Eine weitere Voraussetzung, bequeme An- und Abfahrtszeiten und eine hinreichend häufige Zugfolge, erlaubte dem Arbeiter, der werktags eine Schlafstelle in der Stadt hatte oder der im „Schlafsaal" der Fabrik übernachtete, sonntags den Besuch seiner Familie, und sie brachte schließlich auch eine tägliche Pendelwanderung in Gang. In welcher Weise gelang es nun der Eisenbahnpolitik im Zeitalter der Industrialisierung, diese Voraussetzungen zu schaffen? Was zunächst die Linienführung der Eisenbahnen anbetrifft, so stand in der Phase der „partikularistischen Eisenbahnpolitik", die von 1835 bis in die fünfziger Jahre währte 2 2 , der Güterverkehr eindeutig im Vordergrund, insbesondere bei den privaten Eisenbahngesellschaften. Die 1849 eröffnete Strecke Ludwigshafen— Bexbach der Pfälzischen Ludwigsbahn, einer von Kaufleuten gegründeten Gesellschaft, sollte vorwiegend dem Transport von Gütern zwischen Rhein und Saar dienen 23 . Eine andere private Eisenbahngesellschaft, die Taunusbahn, die 1839/40 den Bahnverkehr zwischen Frankfurt und Wiesbaden aufnahm, erklärte zwar, ihre Bahn rechne vornehmlich mit Personenbeförderung, ein erheblicher Güterverkehr werde schon angesichts des Wettbewerbs der Mainschiffahrt nicht zu erwarten sein. Diese Feststellung sollte indessen nur die Bedenken Mainzer Kaufleute gegen den Bau dieser Bahn zerstreuen, in Wirklichkeit hoffte die Gesellschaft, den Gütertransport zwischen Frankfurt und dem Rhein zu übernehmen. Wie wenig der Taunusbahn an Einnahmen aus dem Personenverkehr gelegen war, bewies sie 1851, als Beamte des Herzogtums Nassau Verkehrsstatistiken anfertigten und die Gesellschaft daraufhin auf die Möglichkeiten einer Ausdehnung des Personenverkehrs hinwiesen. Die Gesellschaft erwiderte stolz, „sie wolle das arme Volk gern dem Marktschiff überlassen" 24 . Die

22 V g l . O . S c h ä f e r , D i e badische Eisenbahnpolitik von 1 8 3 3 — 1 8 9 0 , A r c h i v f ü r Eisenbahnwesen 58, 1935, 1 3 4 3 f. 2 3 R . Wenisch, Ludwigshafen als Verkehrsmittelpunkt in den J a h ren 1 8 3 5 — 1 8 5 3 , Mitteilungen des Historischen Vereins der P f a l z 56, 1 9 5 8 , 1 7 8 f. 2 4 A . Detig, F r a n k f u r t , seine Eisenbahnen und die Entwicklung des V e r k e h r s auf den Eisenbahnen bis 1 8 6 6 , Phil. Diss. F r a n k f u r t , 1 9 2 1 , 2 4 , 36.

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badische Staatsbahn berücksichtigte bei der Planung ihrer ersten Linie zwischen Mannheim und der Schweizer Grenze auch das Verkehrsaufkommen aus der Personenbeförderung, das sie durch statistische Erhebungen über die Zahl der Eilwagenreisenden, der Extraposten, der Passagiere der Rheindampfer, der „Hotelfremden" sowie der Lohnkutscher und Lohnpferde der größeren Städte abzuschätzen versuchte. Diese statistische Untersuchung, die sich auf den Personenverkehr vor dem Bau der Bahn stützte und die Möglichkeit einer Ausweitung dieses Verkehrs nach Inbetriebnahme der Bahn vernachlässigte, schien den Vorrang des Güterverkehrs zu beweisen 25 . Stellte man jedoch bei der Planung einer Eisenbahnlinie den Transport von Waren in den Vordergrund, so ergab sich die Forderung nach einer möglichst gradlinigen Verbindung der wichtigen Handels- und Industriestädte, unter Aussparung volkreicher Dörfer und Kleinstädte, die nur zusätzliche Stationen und Aufenthalte bedeutet hätten 2 6 . Die zwischen 1843 und 1846 erbaute Main-Neckar-Bahn f ü h r t z. B. von F r a n k f u r t als Durchgangsstrecke schnurgerade nach Darmstadt, obwohl eine schwache Ausbiegung der Strecke nach Osten bereits damals Orte wie Langen und Neu-Isenburg an den Bahnverkehr angeschlossen hätte 2 7 . Es war indessen nicht allein die Bedeutung des Güterverkehrs, die den Bau der ersten Eisenbahnlinien in einer für den lokalen und regionalen Personenverkehr ungünstigen Weise beeinflußte. Die Strecke Mannheim—Heidelberg der badischen Staatsbahn, die 1840 in Betrieb genommen wurde, war ursprünglich als gradlinige Verbindung geplant. Gegen diesen Plan erhoben die badischen Landstände Einspruch und forderten, durch eine Ausbiegung der Strecke nach Osten die beiden großen Dörfer Seckenheim und Wieblingen an den Verkehr anzuschließen. Als die Einwohner der beiden Dörfer von diesen Bestrebungen erfuhren, baten sie jedoch 25 E. Kech, Die Gründung der großherzoglich badischen Staatsbahnen, Phil. Diss. Basel, 1904, 58—60. 26 Siehe hierzu F. Lerner, Die Folgen der Annexion für H a n n o v e r , Kurhessen, Nassau und Frankfurt am Main. Grenzbildende Faktoren in der Geschichte, Historisdie Raumforschung 7, 1969, 171. 27 R. Haas, Die Abhängigkeit des deutschen Eisenbahnnetzes von seiner geschichtlichen Entwicklung, Archiv für Eisenbahnwesen 63, 1940, 413 f.

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in verschiedenen Eingaben flehentlich, man möge sie und ihre Landwirtschaft doch mit den Segnungen des Dampfrosses verschonen. Daher folgte die Bauleitung dem ursprünglichen Plan 2 8 . Doch nicht allein eine engstirnige „Kirchturmspolitik", auch die „Kleinstaaterei" wirkte sich vor 1871 ungünstig auf die Streckenführung der Eisenbahn aus. Als Beispiel seien die 14 Jahre dauernden Verhandlungen über die 19 km lange Bahnlinie von F r a n k f u r t nach Bad Homburg erwähnt, an der nicht weniger als fünf Staaten, die Freie Stadt Frankfurt, das Großherzogtum Hessen, das Herzogtum Nassau, das Kurfürstentum Hessen und die Landgrafschaft Hessen-Homburg, beteiligt waren. 1860 konnte der Bahnbetrieb auf dieser Strecke zwar eröffnet werden, aber nur unter Umgehung des kurhessischen Gebietes, denn Kurhessen befürchtete durch die Eisenbahn eine Benachteiligung seines Staatsbades Nauheim 2 9 . Im Elsaß schließlich waren die bis 1871 erbauten Eisenbahnlinien darauf abgestimmt, die Verkehrsverbindungen mit dem inneren Frankreich herzustellen 30 . Am Vorrang des Güterverkehrs änderte sich noch nichts, als zwischen 1860 und 1875 im Oberrheingebiet das Eisenbahnnetz durch zahlreiche Anschlußbahnen als Träger eines lokalen und regionalen Verkehrs erweitert wurde, nachdem die Hauptbahnen im wesentlichen fertiggestellt worden waren 3 1 . Aber diese „Nebenbahnen" waren natürlich ganz anders als die „Durchgangsstrecken" der Hauptbahnen geeignet, Teilmärkte eines regionalen Arbeitsmarktes miteinander zu verbinden. Der Ausbau des Nebenbahnnetzes verlief allerdings innerhalb der einzelnen Staaten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität. Die private hessische Ludwigsbahn baute unrentable Linien, die im volkswirtschaftlichen Interesse wünschenswert waren, erst nach Zusicherung kostspieliger Staatsgarantien, „was bei der Lässigkeit der Regierung eine große Anzahl von Projekten oft um viele Jahre hinauszögerte" 8 2 . Die badische Eisenbahnpolitik hatte als Datum 28

Schäfer, Die badische Eisenbahnpolitik, 1343. P. Orth, Die Kleinstaaterei im Rhein-Main-Gebiet und die Eisenbahnpolitik 1830—1866, Phil. Diss. Frankfurt, 1938, 90. 30 Schäfer, Badische Eisenbahnpolitik, 1395 f. 31 Die Erweiterung ist um diese Zeit im gesamten deutschen Eisenbahnnetz zu beobachten. Vgl. G. Stolper, K. Häuser, K. Borchardt, Deutsche Wirtschaft seit 1870, 2 1966, 46 f. 32 Döhn, Eisenbahnpolitik und Eisenbahnbau, 721. 29

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in ihrem Bauprogramm nur die vorhandenen finanziellen Mittel zu berücksichtigen, nicht aber die einzelwirtschaftliche Rentabilität jeder Teilstrecke 83 . Daher konnte der Eisenbahnausschuß der zweiten badischen Kammer bereits 1865 mit berechtigtem Stolz feststellen: „Es dürfte wohl kaum einen Staat geben, welcher im Verhältnis zu seiner Bevölkerung und seinem Flächenraum eine auch nur annähernd gleich große Zahl (22) von Anschlußbahnen aufzuweisen hätte." 34 Erst mit dem Beginn der achtziger Jahre rückten die Arbeitsmärkte in das Blickfeld der „Eisenbahnpolitik". Die industrielle Entwicklung am Oberrhein hatte derartige Fortschritte gemacht, daß nun die Zufuhr auswärtiger Arbeitskräfte dringend notwendig wurde 35 . Die Industriestandorte selbst, z. B. die Stadt Mainz, setzten sich jetzt für den Bau von Lokalbahnen ein 36 , ebenso aber einzelne einflußreiche Unternehmer, so der Wormser Lederfabrikant Freiherr Heyl zu Herrnsheim 37 . Alle Staaten im Oberrheingebiet erkannten die Bedeutung der Neben- und Lokalbahnen für die Versorgung der Industriezentren mit Arbeitskräften. Als die badische Regierung feststellte, daß ihre finanziellen Mittel nicht ausreichten, um solche Bahnen schnell und in genügender Anzahl zu bauen, beschloß sie, zur Vervollständigung ihres Staatsbahnnetzes die private Unternehmerinitiative auszunutzen 38 . Also erteilte sie privaten Gesellschaften die Bau- und Betriebserlaubnis, gewährte meist noch eine Zinsgarantie, behielt sich aber das Ankaufsrecht, das Recht der Aufsicht über Bau, Betrieb und Tarifgestaltung und das Recht des jederzeitigen Anschlusses der Privatbahn an das Staatsbahnnetz vor. Um den Bau von Eisenbahnen, die vorwiegend dem Personenverkehr dienten, weiter zu beschleunigen, erlaubte sie ab 1879 die Benutzung der Landstraßen zum Verlegen von Schienen sowie einfachste Konstruktionen und

Haas, Abhängigkeit des deutschen Eisenbahnnetzes, 421. Schäfer, Badisdie Eisenbahnpolitik, 1371. 3 5 Döhn, Eisenbahnpolitik und Eisenbahnbau, 183. 3 6 Vgl. H. Dröll, Sechzig Jahre hessischer Eisenbahnpolitik 1836 bis 1896, 1912, 236 f. 3 7 G. Kriegbaum, Die parlamentarische Tätigkeit des Freiherrn C. W. Heyl zu Herrnsheim, 1962, 74 f. 3 8 Vgl. Art. „Badisdie Staatseisenbahnen" (Verf. Roth), in: Roll, Enzyklopädie 1, 347 f. 33 34

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einen vereinfachten Betrieb 39 . So wurde z . B . 1885 die mit privatem Kapital erbaute Lokalbahn Ettlingen—Karlsruhe eröffnet, die nur dem Personenverkehr diente, 1886 die ebenfalls private Bahnlinie Mannheim—Weinheim, die vorwiegend Personen beförderte 40 . Im Großherzogtum Hessen begann der Ausbau des Bahnnetzes im Hinblick auf den regionalen und lokalen Personenverkehr mit dem Gesetz über den Bau von Lokal- und Straßenbahnen vom 2 9 . 5 . 1884 41 . Freilich mußte die hessische Regierung erheblich höhere Beträge an Zuschüssen, Zinsgarantien und Steuerbefreiungen aufwenden, um die private hessische Ludwigsbahn zu bewegen, derartige Bahnlinien einzurichten. In Rheinhessen mußte der Staat in manchen Fällen einen Reinertrag bis zu 8000 Mark jährlich pro Kilometer garantieren, ehe Ende der achtziger Jahre die überwiegend dem Personenverkehr dienenden Strecken wie Worms—Oifstein und Worms—Rheindürkheim—Guntersblum in Betrieb genommen werden konnten 42 . Auch im Elsaß begann um 1880 der Bau von Lokalbahnen für den Personenverkehr. Bauträger waren zunächst private Gesellschaften, die finanzielle Unterstützungen des Landes oder der Kommunen erhielten. 1886 befanden sich bereits 78 km vorwiegend schmalspurige Lokalbahnen in Betrieb und weitere 83 km waren im Bau, als nicht zuletzt auch aus politischen und militärischen Erwägungen das Reich die Ergänzung des elsässischen Bahnnetzes übernahm 43 . Ab 1880 zeigte sich dann bei allen Bahngesellschaften das Bestreben, die bereits bestehenden Eisenbahnlinien mit Bahnhöfen und Haltepunkten zu versehen, die speziell dem lokalen und Schäfer, Badisdhe Eisenbahnpolitik, 1 3 7 9 , 1 3 9 3 . Ebenda, 1 3 8 9 , u . A r t . „Badische Staatseisenbahnen", in: Roll, E n z y klopädie 1, 348. Uber die weitere Entwicklung des badischen L o k a l b a h n netzes unter besonderer Berücksichtigung des A r b e i t e r b e r u f s v e r k e h r s siehe W . Huber, Die Entwicklung der badischen Eisenbahnen seit d. J. 1 9 0 0 in historisch-statistischer Darstellung, Phil. Diss. Heidelberg, 1 9 2 7 . 4 1 G r o ß h e r z o g l . Hessisches Regierungsblatt 1 8 8 2 , 51 f. 4 2 A r t . „Hessische Eisenbahnen" ( V e r f . Firnhaber), in: Roll, E n z y k l o pädie 6, 1 8 9 ; H. Dröll, Sechzig J a h r e hessischer Eisenbahnpolitik, 2 9 8 . 4 3 L. Strauss, Die Entwicklung des Reichseisenbahnnetzes unter der deutschen V e r w a l t u n g 1 8 7 1 bis 1 9 1 4 , in: M. Schlenker (Hrsg.), Die w i r t schaftliche Entwicklung Elsaß-Lothringens 1 8 7 1 bis 1 9 1 8 , 1 9 3 1 , 534 f . M

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E i s e n b a h n p o l i t i k u n d Struktur der A r b e i t s m ä r k t e

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regionalen Personenverkehr dienten. Allerdings war es offensichtlich in erster Linie die Nachfrageseite am Arbeitsmarkt, also die Unternehmer und ihre Verbände, die den Bau solcher Bahnhöfe durchsetzte oder zumindest anregte. Den Personenbahnhof „Worms-Speyrer Vorstadt" z. B. benutzten vorwiegend die Arbeiter der Lederwerke des Freiherrn Heyl zu Herrnsheim, um an ihre Arbeitsplätze zu gelangen 44 . Die Stadt Mainz förderte die Besiedelung und den industriellen Ausbau des „Gartenfeldes" durch die Errichtung einer Bahnstation, weil „bei der in Mainz herrschenden Wohnungsnot ein großer Teil der Arbeiter aus der Umgegend herangezogen werden mußte" 4 5 . Den Wünschen der Mannheimer Industrie, die dringend auswärtige Arbeitskräfte benötigte, kam die hessische Ludwigsbahn entgegen, als sie den Stadtteil Neckarstadt an die „Riedbahn" 4 6 anschloß und dort den Bahnhof „Mannheim-Neckarstadt" errichtete, der vorwiegend dem Berufsverkehr diente 47 . Audi die Handelskammer F r a n k f u r t setzte sich ab 1880 für die Einrichtung besonderer Personenbahnhöfe oder zumindest geschützter Wartehallen im Raum Frankfurt ein 48 . Neben den technischen Voraussetzungen war f ü r eine Mobilisierung der Arbeitskraft mit Hilfe der Eisenbahn die H ö h e der Beförderungspreise ausschlaggebend. Bereits 1853 stellte der N a t i o nalökonom Karl Knies die folgende Rechnung auf: „ . . . man denke nur etwa an einen armen Handwerker, dessen Tagverdienst 48 kr. beträgt und der zu einer Fußwanderung nach einem 8 Stunden entfernten Platze genöthigt ist. Abgesehen von allen Extraausgaben, die eine Reise auch dem Aermsten bringt, müßte er wenigstens 1 fl. 36 kr. Arbeitsverdienst und, ich will nur sagen 1 fl. f ü r die Lebensmittel zweier Tage darangeben, während er jetzt auf einer baierischen Bahn, selbst ohne Rücksicht auf eine etwaige freie

44

D ö h n , E i s e n b a h n p o l i t i k u n d Eisenbahnbau, 164. D r ö l l , Sechzig Jahre hessischer E i s e n b a h n p o l i t i k , 2 3 6 f. 46 D i e s e B a h n w u r d e 1878 erbaut. V g l . Art. „Hessische Eisenbahnen", in: R ö l l , E n z y k l o p ä d i e 6, 1 8 7 f . 47 D r ö l l , Sechzig Jahre hessischer E i s e n b a h n p o l i t i k , 193. Dieser B a h n hof diente n o d i bis 1972 d e m A r b e i t e r b e r u f s v e r k e h r . 48 Geschichte der H a n d e l s k a m m e r zu F r a n k f u r t a. M . ( 1 7 0 7 — 1 9 0 8 ) . Beiträge z u r F r a n k f u r t e r Handelsgeschichte, hrsg. v o n der H a n d e l s k a m m e r z u F r a n k f u r t a. M., 1908, 9 4 5 . V g l . auch D r ö l l , Sechzig Jahre hessischer E i s e n b a h n p o l i t i k , 2 1 5 , 2 7 9 . 45

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Kellenbenz, Wirtschaftspolitik

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Retourfahrt, in einem Vormittag für eine Reise und seine Geschäfte Zeit genug behält, und also nur 48 kr. für die Fahrt, 15 f ü r seinen Lebensunterhalt zu verwenden braucht." 49 Diese Rechnung, welche die Vorzüge des Eisenbahnverkehrs so sehr betonte, beruhte freilich auf den niedrigen Beförderungstarifen der bayrischen Staatsbahn. Von neun Eisenbahngesellschaften, deren Personentarife Knies einander gegenübergestellt hatte, erwies sich die bayrische als die billigste, es folgten die Staatsbahnen Württembergs und Badens, danach die restlichen sechs, ausschließlich privaten Bahngesellschaften 50 . Diese Preisdifferenz zwischen den privaten und den staatlichen Eisenbahngesellschaften war leicht zu erklären. Der Staat konnte den Verwaltungsbehörden seiner Bahn vorschreiben, gemeinwirtschaftliche Gesichtspunkte in der Tarifgestaltung zu berücksichtigen, ohne dabei den „höchstmöglichen Gewinn" anzustreben. Allerdings konnten in der Aufbauphase des Eisenbahnnetzes die meisten Staaten, die dem Prinzip der Staatsbahn gefolgt waren, nicht darauf verzichten, bei ihrem Eisenbahnbetrieb eine Rente zu erwirtschaften, aus der die f ü r die Verzinsung des eingesetzten Kapitals und f ü r eine mäßige Tilgungsquote notwendigen Mittel aufgebracht wurden 5 1 . Die Tarifpolitik der deutschen Privatbahnen hingegen wurde durch das einzelwirtschaftliche

49

K. Knies, Die Eisenbahnen und ihre Wirkungen, 1853, 82. Knies ermittelte für die einzelnen Wagenklassen folgende Fahrpreise pro Kilometer, die er in eine einheitliche Währungseinheit, nämlich ffrs., umrechnete: 50

Gesellschaft Rheinische Bahn Berlin-Frankfurt/Oder Berlin-Sächsische Grenze Leipzig-Dresden Leipzig-Magdeburg Berlin-Stettin Badische Staatsbahnen Württembergische Staatsbahnen Bayrische Staatsbahnen

1. 0,106 0,170 0,100 0,100 0,098 0,098 0,097 0,076 0,057

2. 0,080 0,099 0,074 0,072 0,064 0,070 0,066 0,046 0,039

3. Klasse 0,050 0,057 0,041 0,048 0,042 0,039 0,049 0,029 0,024

Knies, Eisenbahnen, 26. 51 Vgl. A. Budienberger, Finanzpolitik und Staatshaushalt im Großherzogtum Baden in den Jahren 1850—1900. Zugleich ein Beitrag zur deutschen Finanzpolitik, 1902, 128 f.

Eisenbahnpolitik und S t r u k t u r der Arbeitsmärkte

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Gewinnstreben geprägt 5 2 . In den Staaten, die den Eisenbahnverkehr privaten Unternehmern überlassen hatten, konnte die Regierung allenfalls gegen Mißbräuche im Tarifsektor einschreiten. Manchmal wurde die Tarifautonomie einer Privatbahn auch noch durch die K o n k u r r e n z einer in ähnlicher Richtung verlaufenden Eisenbahnlinie begrenzt. Eine solche Situation bestand auch am Oberrhein, nachdem 1878 die private hessische Ludwigsbahn eine zweite Verbindung zwischen F r a n k f u r t und Mannheim eröffnet hatte 5 3 . Der Wettbewerb mit der Main-Neckar-Bahn betraf freilich nur den Güter- und Personenverkehr zwischen diesen beiden Städten und nicht den Lokalverkehr, in dem jede der beiden Bahngesellschaften ein Beförderungsmonopol für eine bestimmte Teilstrecke besaß. D i e Differenz zwischen den Tarifen privater und staatlicher Bahnverwaltungen bestand deshalb auch am Oberrhein. A m 1. 5. 1851 kostete z. B. die Beförderung in der 4. Klasse über eine Meile bei der privaten Taunusbahn neun Kronen, der MainNeckar-Bahn sechs Kronen und der badischen Staatsbahn sechs K r o nen 5 4 . Die Initiative zu einer tariflichen Begünstigung des lokalen Personenverkehrs ergriff zuerst die badische Staatsbahn. Sie führte am 1. 5. 1843 die sogenannten „ S t e h w a g e n " ein, die an der Seite offen und oben ungedeckt waren, d a f ü r aber 80 Personen aufnehmen konnten, und die der „armen Bevölkerung" auf kurzen Strecken als preiswertes Transportmittel dienen sollten 55 . Diese Idee wurde bald auch von privaten Gesellschaften nachgeahmt, so etwa von der pfälzischen Ludwigsbahn, doch offenbarte die weitere Entwicklung dieser Wagenklasse den Unterschied zwischen privater und staatlicher Eisenbahnpolitik. Nachdem etliche Bittschriften an den L a n d t a g zu Karlsruhe gelangt waren, verbesserte die badische Bahn 1847 die Stehwagen, indem sie die Waggons bedecken ließ und sie mit Bänken ausstattete. Allerdings kostete die

5 2 A. Günther, D i e Gemeinwirtsdiaftlichkeit der deutschen Eisenbahnen in ihrer geschichtlichen und inhaltlichen Entwicklung, Archiv für Eisenbahnwesen 70, I 9 6 0 , 11. 5 3 H a a s , Abhängigkeit des deutschen Eisenbahnnetzes, 415. 5 4 Detig, F r a n k f u r t , seine Eisenbahnen, 36. 5 5 Schäfer, Badische Eisenbahnpolitik, 2 2 5 ; K . Kalchschmidt, D i e E n t wicklung der Personentarife auf den Großh. B a d . Staatsbahnen, Phil. Diss. H e i d e l b e r g , 1909, 17 f.

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Anschaffung eines solchen „Stehwagens" nunmehr 1800 Gulden, während für einen Waggon 3. Klasse nur 200 Gulden mehr aufzuwenden waren 56 . Einen solchen Preis wollten die privaten Bahngesellschaften nicht bezahlen und stellten deshalb den Verkehr mit den „Stehwagen" ein, nachdem ihre primitiv ausgerüsteten Waggons immer wieder zu Beanstandungen Anlaß gegeben hatten 57 . Aus fiskalischen Gründen mußten freilich auch die badischen Staatsbahnen ab 1. 5. 1853 diese Wagenklasse wieder aufgeben. Wegen des außerordentlich niedrigen Tarifs wurden die Stehwagen nach Ansicht der Eisenbahnverwaltung häufig auf Kosten der anderen Klassen benutzt, so daß die Gesamteinnahmen aus dem Personenverkehr immer mehr zurückgingen, denn im Jahre 1852 benutzten 66,67 Prozent der Reisenden die 4. Wagenklasse, die aber nur 37 Prozent der gesamten Einnahmen aus dem Personenverkehr brachte58. Obwohl der Landtag die 4. Wagenklasse aus sozialen Erwägungen gern beibehalten hätte, konnte er sich dennoch nicht der Erkenntnis verschließen, daß sidi seine Staatsbahn noch in der Aufbauphase befand und deshalb weitgehende sozialpolitische Experimente auf Kosten der Ertragsfähigkeit noch nicht unternehmen konnte. Nach der Abschaffung der Stehwagen ging die Gesamtzahl der beförderten Personen innerhalb eines Jahres um 25 Prozent zurück. Die „arme Bevölkerung" blieb also entweder zu Hause oder ging wieder zu Fuß 59 . Uberhaupt war in dieser Zeit die Nachfrage nach Beförderungsleistungen im Personenverkehr der Eisenbahn außerordentlich preisempfindlich. Als z. B. 1848 der Beförderungstarif der Lokalbahn von Frankfurt nach Offenbach, die vorwiegend dem Personenverkehr diente, von drei auf vier Kronen angehoben werden sollte, kündigte der Stadtrat von Offenbach Exzesse der „ärmeren Bevölkerung" an 60 . Wegen der hohen Personentarife der Taunusbahn gingen die Bewohner nassauischer Dörfer weiterhin zu Fuß nach Mainz oder benutzten das Marktschiff 81 , und im Ingelheimer Grund behielt

56 57 58 59 90 61

Schäfer, Badische Eisenbahnpolitik, 2 5 5 . Döhn, Eisenbahnpolitik und Eisenbahnbau, 88. Kalchschmidt, Entwicklung der Personentarife, 1 9 . Schäfer, Badische Eisenbahnpolitik, 2 5 5 f. Detig, Frankfurt, seine Eisenbahnen, 45. Detig, Frankfurt, seine Eisenbahnen, 36.

Eisenbahnpolitik und Struktur der Arbeitsmärkte

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die Bevölkerung aus Sparsamkeitsgründen nodi bis in die neunziger Jahre den „Mainzer Gang" bei 62 . Eine Preisermäßigung für Reisende, welche die Eisenbahn auf einer bestimmten Strecke dauernd benutzten, führte die hessische Ludwigsbahn mit dem Beginn ihres Betriebes im Jahre 1853 in Form der „Abonnementsbilletts" ein 63 . Ab 1861 verkaufte auch die badische Staatsbahn „Abonnementskarten", die für eine beliebige Zahl von Fahrten zwischen zwei Stationen innerhalb eines bestimmten Zeitraums galten 64 , 1862 folgte die Main-Neckar-Bahn deren Beispiel 65 . Eine stärkere Ausrichtung auf die Erfordernisse des Berufsverkehrs erfuhr die Tarifpolitik der oberrheinischen Eisenbahnverwaltungen erst in den siebziger und achtziger Jahren, zur gleichen Zeit, als sich in der Wissenschaft und in der Politik soziale Erkenntnisse und sozialpolitische Forderungen durchzusetzen begannen; man denke an den berühmten „Verein für Socialpolitik", dessen Gründung 1872 erfolgte, und an die kaiserliche Sozialbotschaft von 1881, die eine umfangreiche Sozialgesetzgebung einleitete 66 . 18 72 führte die badische Staatsbahn versuchsweise auf Antrag der Handelskammer Pforzheim einen speziellen Tarif für die Arbeiter ein, die von den Bahnstationen der Linie Durlach— Pforzheim—Mühlacker nach Pforzheim zur Arbeit fuhren. Dieser Versuch verlief enttäuschend, denn da es einen Pendelverkehr im modernen Sinne nodi nicht gab und die meisten Arbeiter, zumal die Bauhandwerker, nur an bestimmten Tagen in Pforzheim arbeiteten, waren die Abonnementskarten preisgünstiger als die auf bestimmte Züge beschränkten Arbeiterwochenkarten 67 . Ebenfalls 1872 führte die hessische Ludwigsbahn „Arbeiterretourbillette" „zu ermäßigter Taxe" für bestimmte Züge ein 68 , und die

D ö h n , Eisenbahnpolitik und Eisenbahnbau, 1 1 1 . M. Schilling, Analytische Untersuchung der wirtschaftlichen und kulturellen Einflußsphäre der S t a d t D a r m s t a d t , Naturwiss. Diss. Frankf u r t a. M., 1 9 3 5 , 88. D r ö l l gibt irrtümlich an, diese K a r t e n seien erst 1 8 6 8 eingeführt worden. 64 Kalchschmidt, Personentarife, 43 f. 4 5 Schilling, Analytische Untersuchung, 88. •• Vgl. Stolper, Häuser, Borchardt, Deutsche Wirtschaft, 5 0 f. 6 7 Kalchschmidt, Personentarife, 51 f . • 8 Schilling, Analytische Untersuchung, 9 1 . 62

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Main-Neckar-Bahn gab ab Januar 1874 Wochenbillette „zu ermäßigter Taxe" aus 69 . Ein Gesudi von Arbeitern aus Neckarhausen, die täglich zur Arbeit nach Mannheim fuhren, bewog die badische Eisenbahnverwaltung, sich Anfang der achtziger Jahre erneut mit der Frage eines speziellen Tarifs für den Arbeiterberufsverkehr zu beschäftigen. Angesichts des enttäuschend verlaufenen Pforzheimer Experiments rang sich die Verwaltung zu einem bemerkenswerten Entschluß durch. Sie erklärte sich 1884 bereit, für bestimmte Züge stark ermäßigte Wochenkarten auszugeben, „da bei der hohen wirtschaftlichen Bedeutung dieser Einrichtung für ganze Bevölkerungsklassen die Rentabilitätsfrage erst in zweiter Linie in Betracht zu ziehen sei". Nach dem Willen der Verwaltung sollten diese neuartigen Wochenkarten sowohl der Landbevölkerung erleichterte Gelegenheit geben, „ihrem Verdienst, den sie in ihrem Heimatsort vielfach nicht findet, nachzugehen, als auch den Arbeitern in den Städten die Möglichkeit zu geben, billige und gesunde Wohnungen in den naheliegenden Ortschaften aufzusuchen und sich dadurch einen billigeren Lebensunterhalt zu verschaffen" 70 . Mit dieser Entscheidung betonte die badische Staatsbahn erneut die sozialen Zielsetzungen, die sie seit ihrem Bestehen verfolgte, und bewies andererseits, daß eine Staatsbahn als Instrument staatlicher Sozialpolitik eingesetzt werden konnte 71 . Sicher, auch private Gesellschaften wie die hessische Ludwigsbahn förderten den Berufsverkehr, aber sie mußten dabei immer auf die Rentabilität ihres Betriebes achten, überdies konnte sie der Staat niemals zu einer bestimmten Tarifpolitik zwingen. So stellte die Großherzogliche Badische Fabrikinspektion 1890 fest, der Arbeiterverkehr werde weitaus am billigsten von der badischen Staatsbahn und von der Main-Neckar-Bahn besorgt, „während die anderen im Privatbesitz befindlichen Bahnen verschiedener Gattung sich erheblich mehr bezahlen lassen" 72 . Die meisten Eisenbahngesellschaften am Oberrhein bemühten sich, neben preisgünstigen Arbeiterfahrkarten auch die Zugfolge mit der Arbeitszeit der städtischen Industrien abzustimmen. 1872 Ebenda, 92. Kalchschmidt, Personentarife, 53. 71 Vgl. E. Müller, Zur badischen Eisenbahngesdiidite, Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 102, 1914, 206 f. 7 2 Wörishoffer, Sociale Lage der Fabrikarbeiter, 86. 99

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führte die hessische Ludwigsbahn „Arbeiter-Extrazüge" auf den Strecken Darmstadt—Griesheim, Darmstadt—Dieburg und Darmstadt—Reinheim ein 73 . Die Main-Neckar-Bahn errichtete 1874 zwischen Darmstadt und Frankfurt drei neue Personenbahnhöfe und verstärkte die „Lokalzüge" auf dieser Strecke 74 . Führend auf dem Gebiet des „Lokalverkehrs" war jedoch die badische Staatsbahn. Sie besaß 1886 ein Netz von Vorortbahnen in der Umgebung der Städte Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe, Freiburg und Basel. Auf diesen Vorortstrecken verkehrten „Lokalzüge" in dichter Folge, die überdies noch besondere, für den Berufsverkehr angelegte Haltepunkte wie „Heidelberg-Peterskirche" oder „Freiburg-Basler Straße" bedienten 75 . Um die Jahrhundertwende gebührte der badischen Bahn auf dem Sektor des Lokalverkehrs nadi dem Urteil der Zeitgenossen „der Ehrenplatz unter den deutschen Eisenbahnverwaltungen" 7 6 . Dieses Urteil galt freilich nur für die Eisenbahnpolitik der Staatsbahn, denn nach dem Bericht der badischen Fabrikinspektion aus dem Jahre 1890 klagten die Arbeiter im Raum Mannheim über eine — namentlich nicht genannte — Privatbahn, die „im Winter einen Arbeiterzug einstellte, obgleich noch nahezu 50 regelmäßige Teilnehmer an demselben vorhanden waren, und die Bahn wesentlich höhere Taxen für Arbeiterfahrkarten erhebt als die Staatsbahn" 7 7 . Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß spätestens von der Mitte der siebziger Jahre ab die technischen und organisatorischen Voraussetzungen gegeben waren, um mit Hilfe der Eisenbahnen die Struktur der Arbeitsmärkte zu verändern, freilich mit einer Einschränkung. Die „flächenmäßige Bedienung" einer Region konnte zwar durch den Ausbau des Bahnnetzes verbessert werden, aber es konnte nicht jedes Dorf einen Eisenbahnanschluß erhalten 78 . Wer nicht das Privileg besaß, an oder bei einer Bahnlinie zu wohnen, mußte entweder einen Fußmarsch auf sich nehmen oder

Schilling, Analytische Untersuchung, 91. Dröll, Sechzig Jahre hessischer Eisenbahnpolitik, 215. 7 5 A. Kuntzemüller, Die Badischen Eisenbahnen, 2 1953, 135; Kalchsdimidt, Personentarife, 46. 7 * C. Heiss, Wohnungsreform und Lokalverkehr, 1903, 89. 7 7 Wörishoffer, Sociale Lage der Fabrikarbeiter, 86. 7 8 Siehe hierzu F. Voigt, Verkehr und Industrialisierung, Zeitschrift für die gesamte Staatswissensdiaft 109, 1953, 217. 73

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auf Arbeit in der Stadt verzichten. So ermittelten 1896 Beamte der Gewerbeaufsicht im elsässischen Industriezentrum Mülhausen, „daß von den ca. 23.000 Arbeitern etwa der 3. Theil auswärts wohnt, zum Theil in Entfernungen bis zu 10 und 12, vereinzelt bis zu 20 Kilometer. Davon hatte Mitte Dezember vorigen Jahres kaum die Hälfte die Eisenbahn oder die verschiedenen Straßenbahnen benützt; bei Ueberarbeit war und ist die Benutzung dieser Fahrgelegenheit überhaupt ziemlich ausgeschlossen." 79 Audi in Ludwigshafen mußten im Jahre 1895 noch viele Werksangehörige der BASF täglich mehrere Stunden zu Fuß gehen, um zu ihrer Arbeitsstätte zu gelangen 80 . III Wie aber wurden — abgesehen von dieser Einschränkung — die technisch-organisatorischen Voraussetzungen für einen Arbeiterverkehr mit der Bahn genutzt? Schon im ersten Stadium des Bahnbetriebs vor 1850 entwickelte sich ein lebhafter lokaler Personenverkehr. Die Taunusbahn, die ursprünglich gehofft hatte, vor allem am Güterverkehr zwischen dem Rhein und Frankfurt zu verdienen, bezog 1848 75 Prozent ihrer Einnahmen aus dem Personenverkehr 81 . Die 4. Wagenklasse der badischen Staatsbahn wurde im Jahre 1844, als sie das erste Mal ein volles Jahr in Betrieb war, bereits von 44,95 Prozent aller Reisenden benutzt, während ihr Anteil an den Einnahmen aus dem Personenverkehr 21,88 Prozent betrug. Die Frequenz der Stehwagen dehnte sich dann ohne Unterbrechung weiter aus, 1851 fuhren 67,76 Prozent aller beförderten Personen in diesen Wagen, die rund 40 Prozent der Einnahmen aus den Personentransporten abwarfen 8 2 . Mit dem Ausbau des lokalen Eisenbahnnetzes, das am Anfang der siebziger Jahre einsetzte, begann der eigentliche „Berufs7 8 Die Gewerbeaufsicht in Elsaß-Lothringen im Jahre 1896 (Verf. Dr. H.), Soziale Praxis. Centralblatt für Sozialpolitik 7, 1897/98, Spalte 326. 80 Im Reiche der Chemie. Hrsg. zum hundertjährigen Firmenjubiläum der Badischen Anilin & Soda-Fabrik AG, Ludwigshafen am Rhein, 1965, 70. 81 Orth, Kleinstaaterei, 42. 82 K. Müller, Die badischen Eisenbahnen in historisch-statistischer Darstellung, 1904, 292.

Eisenbahnpolitik und S t r u k t u r der Arbeitsmärkte

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verkehr". Bei der Main-Neckar-Bahn stieg die Frequenz des Lokalverkehrs: von 1.041.010 Personen im Jahre 1869 auf 1.626.122 Personen im Jahre 1873 auf 1.776.370 Personen im Jahre 1874 auf 1.856.235 Personen im Jahre 1875 auf 1.982.136 Personen im Jahre 1876 auf 2.033.916 Personen im Jahre 1877. Nach kurzen Rückgängen in den Jahren 1878 und 1879 erreichte sie 1880 wieder den Umfang des Jahres 1877. Die Statistik der verkauften Wochenkarten zeigte überdies, daß die Zunahme im Personenverkehr zum großen Teil auf einer Steigerung der ermäßigten Fahrten im Nahverkehr beruhte. Der Rückgang im Lokalverkehr in den Jahren 1878 und 1879 bewies dessen Abhängigkeit von der konjunkturellen Lage 8 3 . Der in Baden 1885 eingeführte Lokalzugstarif im Vorortverkehr erfreute sich rasch großer Beliebtheit, wie die Frequenzzahlen zeigen 84 : Jahr

Zahl der beförderten Personen

1885

89.073 554.192 882.043 1.198.061 1.325.318 1.409.570

1886

1887 1888

1889 1890

Die „Rentabilitätsgrenze" der „Tageswanderung" wurde auf diese Weise immer weiter auf das Land hinausgeschoben. Bereits in den sechziger Jahren fuhren Arbeiter aus Landgemeinden über eine Strecke von 20 km Länge täglich zur Arbeit nach Frankfurt und Offenbach 85 . Nach den Ermittlungen der Badischen Fabrikinspektion wohnten um 1890 11,8 Prozent aller in Mannheim beschäftigten Arbeiter in einer Entfernung von mehr als 10 km von ihrem Arbeitsort. Solange die lokalen Personenzüge noch 83 84 85

Dröll, Sechzig J a h r e hessischer Eisenbahnpolitik. 216. Kalchschmidt, Eisenbahntarife, 47. Ackermann, Entwicklung und berufliche Gliederung, 61.

106

Fritz B l a i d i

nicht verkehrten, hatten von dieser G r u p p e nur diejenigen Arbeit gefunden, die bereit waren, die Woche über in der Stadt zu übernachten 8 6 . Gerade diese „WochenWanderung" gefährdete indessen anfangs die Rentabilität der Arbeiterzüge. So stellte die hessische Ludwigsbahn z. B. 1872 fest, daß Sonderzüge f ü r Berufstätige, die zwischen D a r m s t a d t und dem O d e n w a l d verkehrten, nur samstags und montags voll besetzt waren, doch hatten schon nach einem J a h r die günstigen Tarife die meisten Arbeiter zum täglichen „Pendeln" bewegt 8 7 . Allerdings beseitigte der Lokalzugsverkehr die „Wochenw a n d e r u n g " nicht dort, wo die Entfernung so groß oder der Anmarsch zur nächsten Bahnstation so weit war, daß die Tageswanderung nicht mehr rentabel war. Aus entlegenen Gegenden des Odenwaldes kamen deshalb auch in den neunziger Jahren noch Bewohner nach D a r m s t a d t und Mannheim zur Arbeit und übernachteten dort die Woche über 8 8 . Einen Anreiz zur Aufrechterhaltung der „Wochenwanderung" bot ferner die betriebliche Sozialpolitik, die manche Mängel des Schlafstellenwesens beseitigte. 1891 berichtete die Badische Fabrikinspektion über einen Arbeiter in Mannheim: „Seit 9 Jahren ist er an seiner jetzigen Stelle, welche 3 V 2 Stunden von seinem Wohnort entfernt ist. Er kehrt nur am S a m s t a g dorthin zurück und benützt während der Woche den Schlafsaal der Fabrik für 50 Pf. in der Woche." 8 9 Zum Vergleich sei angeführt, daß 49,8 Prozent der Arbeiter damals einen durchschnittlichen Wochenverdienst von 15 bis 24 M a r k hatten, und daß außerdem bei einer täglichen Arbeitszeit bis zu zwölf Stunden die Freizeit, die man „zu H a u s e " hätte verbringen können, ohnehin k a r g bemessen war 9 0 . IV Bis 1890 hatte also die Eisenbahnpolitik die Integration der „räumlichen Teilarbeitsmärkte" 9 1 im Oberrheingebiet vollzogen, Wörishoffer, Sociale L a g e der Fabrikarbeiter, 81. Schilling, Analytische Untersuchung, 91. 8 8 F. E. Wunder, D i e Versorgung der Mannheimer Industrie mit auswärts wohnenden Arbeitern, Phil. Diss. Heidelberg, 1914, 4. 8 9 Wörishoffer, Sociale L a g e der Fabrikarbeiter, 273. 9 0 E b e n d a , 107, 240. 9 1 Willeke, Von der raumgebundenen menschlichen Arbeitskraft, 289. 86

87

Eisenbahnpolitik und Struktur der Arbeitsmärkte

107

mit der Einschränkung freilich, d a ß die flächenmäßige Bedienung durch den schienengebundenen Verkehr gering war, verglichen mit der Transportleistung der modernen Straßenfahrzeuge 9 2 . Abschließend soll nun die Frage erörtert werden, welchen Gruppen auf den Arbeitsmärkten diese Integration Vor- oder Nachteile gebracht hat. Für die Bewohner der Landgemeinden bedeutete jede Arbeitsmöglichkeit in der Stadt eine Verbesserung ihrer sozialen Lage. Das mehr oder weniger regelmäßige Einkommen aus industrieller Tätigkeit ergänzte die Einkünfte aus dem landwirtschaftlichen Zwergbetrieb, um den sich während der Woche Frau und Kinder kümmerten. Nach einer Statistik der landwirtschaftlichen Betriebsgrößen vom 14. 6. 1895 erreichte Baden einen Durchschnitt von 3,15 ha, wobei in den Kreisen Mannheim, Schwetzingen, Karlsruhe und Rastatt die durchschnittliche Betriebsgröße unter 2 ha lag 93 . Parzellenbetriebe, deren Größe 2 ha nicht überstieg, kennzeichneten auch die Einzugsgebiete der hessischen und pfälzischen Industriezentren 9 4 . Der „Industriebauer" verknüpfte den Vorteil eines relativ regelmäßigen Lohnempfanges, der sich auf dem Lande überhaupt nicht oder zumindest nicht in dieser H ö h e erzielen ließ, mit der billigen Lebenshaltung und vor allem mit der günstigen Wohnungslage 95 . Den Preis dieser beiden Vorzüge bildete der A u f w a n d für die Eisenbahnfahrt, der aber zusehends geringer wurde, je mehr sozialpolitische Erwägungen die Gestaltung der Tarife beeinflußten. Nutznießer der Erschließung der ländlichen Arbeitsmärkte durch die Eisenbahnpolitik waren aber in erster Linie die Unternehmer, deren Betriebe nach dem Abklingen der „Gründerkrise" und mit dem Beginn eines neuen wirtschaftlichen Aufschwunges um 1880 96 auf die Versorgung mit auswärtigen Arbeitskräften dringend angewiesen waren, wie z. B. die Textilindustrie Mülhausens, die 92

Voigt, Verkehr und Industrialisierung, 217. M. Hecht, D i e Badische Landwirtschaft am A n f a n g des X X . Jahrhunderts, 1903, 14 u. Karte 3. 94 Vgl. Kube, Industrieansiedlung, 35 f.; Ackermann, Entwicklung und berufliche Gliederung, 47 f., 58 f.; O . Eberhardt, D i e industrielle Entwicklung der Stadt Worms, Phil. Diss. Heidelberg, 1922, 164. 95 Wunder, Versorgung der Mannheimer Industrie, 54 f. 98 Vgl. F. Oelssner, D i e Wirtsdiaftskrisen 1: Die Krisen im vormonopolistischen Kapitalismus, 1949, 266 f. 93

108

Fritz Blaich

ein Drittel ihrer gesamten Belegschaft aus Landgemeinden bezog 97 . Das Reservoir an Arbeitskräften, das die Eisenbahn dem städtischen Arbeitsmarkt zuführte, stellte relativ bescheidene Lohnforderungen. Überdies war dieses Angebot an Arbeitsleistung ausgesprochen elastisch im Hinblick auf die Nachfrage. Schrumpfte die Produktion als Folge einer Rezession, eines Streiks oder nur infolge der ungünstigen Witterung, so konnte man die vom Lande kommenden Arbeitskräfte kurzfristig entlassen, ohne daß sich sozialer Zündstoff anhäufte, denn der landwirtschaftliche Eigenbesitz wirkte „wie der Abzugskanal eines Schleusenbeckens, in den bei Freisetzung die Arbeitskräfte abströmen u n d aus dem sie bei zunehmender Beschäftigung an ihre Arbeitsplätze zurückkehren" 9 8 . Außerdem stellte das Land gesunde und robuste Arbeitskräfte, wobei sich die landwirtschaftliche Tätigkeit als wertvoller Ausgleich zu der vielfach gesundheitsschädigenden Fabrikarbeit erwies. Der Wormser Industrielle Freiherr Heyl zu Herrnsheim, der „ K r u p p " von Worms, hatte diesen Sachverhalt durchschaut, als er die Forderung nach einem Ausbau des Arbeiterverkehrs auf der Eisenbahn mit dem Argument begründete, er wolle seinen Arbeitern „durch ein bequemes Erreichen der Arbeitsstätte die Vorzüge des gesunden Lebens auf dem Lande . . . erhalten" 9 9 . Wie bereits erwähnt, waren es deshalb auch die Unternehmer, einzelne Industriezweige und die Industrie- und Handelskammern, die den Bau und den Betrieb von Lokalbahnen anregten u n d förderten. Auch die „Eisenbahnausschüsse", die, in Baden und in den Reichslanden in den siebziger Jahren eingeführt, die staatliche Eisenbahnpolitik durch Ratschläge und Gutachten formten, wurden anfangs nur von der Industrie und vom Handel besetzt 100 . Bezeichnend ist, daß der erste Ausschuß dieser Art 1874 durch die Initiative der Industrieund Handelskammer Mülhausen im Elsaß zustande kam 1 0 1 . 07

Gewerbeaufsicht in Elsaß-Lothringen, Spalte 326. Willeke, V o n der raumgebundenen menschlichen Arbeitskraft, 318. 99 Kriegbaum, Parlamentarische Tätigkeit, 74, A n m . 89. 100 A. v o n der Leyen, D i e Vertretung der wirthschaftlichen Interessen bei den Eisenbahnen, Schmollers Jb. für Wirtschaft, V e r w a l t u n g und Gesetzgebung 12, 1888, 1071 f.; P . H a c k e r , D i e Beiräte für besondere Gebiete der Staatstätigkeit im Deutschen Reiche und in seinen bedeutenden Gliedstaaten, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Erg.H. 4, 1903, passim. 101 v. d. Leyen, Vertretung der wirthschaftlichen Interessen, 1073. 98

Eisenbahnpolitik und Struktur der Arbeitsmärkte

109

Keinen N u t z e n aus der Veränderung der Struktur der Arbeitsmärkte zogen die städtischen Arbeiter. Zwar hatte man vor allem in Baden gehofft, die Sozialtarife der Staatsbahn würden manchen Arbeiter in der Stadt bewegen, seine Familie auf dem Lande billiger und besser unterzubringen, doch vermochten auch die Lokalzugstarife keine Rückwanderung von der Stadt auf das Land auszulösen 102 . Ungünstig beeinflußte hingegen die Integration städtischer und ländlicher Arbeitsmärkte den Anteil der städtischen Arbeiter am Sozialprodukt. Welche Lohnforderungen diese Gruppe ohne das zusätzliche „ländliche" Angebot an Arbeitsleistung hätte durchsetzen können, läßt sich zwar statistisch nicht erfassen, doch besteht kein Zweifel, daß der je nach der konjunkturellen Lage regulierbare Zustrom auswärtiger Arbeitskräfte auf die Entwicklung der städtischen Löhne im Sinne der „industriellen Reservearmee" der marxistischen Wirtschaftstheorie 103 dämpfend gewirkt hat. i«2 Wörishoffer, Sociale Lage der Fabrikarbeiter, 75 f. 103

Siehe hierzu Art. „Industrielle Reservearmee", i n : ö k o n o m i s c h e s Lexikon, Teil A — K , 1967, 9 4 6 f.

GERHARD ADELMANN

S T R U K T U R E L L E K R I S E N IM L Ä N D L I C H E N TEXTILGEWERBE NORD WESTDEUTSCHLANDS ZU BEGINN DER INDUSTRIALISIERUNG*

Die strukturellen Krisen im ländlichen Textilgewerbe Nordwestdeutschlands zu Beginn der Industrialisierung wurden der Öffentlichkeit im allgemeinen erst auf ihrem Höhepunkt während der 1840er Jahre bewußt, doch reichen ihre Anfänge in die ersten Jahrzehnte des 1 9 . Jahrhunderts zurück. In den fünfziger und sechziger Jahren zeichnet sich bereits eine Besserung der Lage auf einzelnen regionalen Arbeitsmärkten ab. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lagen die Zentren der ländlichen Textilgewerbe Nordwestdeutschlands 1 im preußischen Minden-Ravensberg, im Fürstentum Lippe, dem hannoverschen Landdrosteibezirk Osnabrück sowie dem Tecklenburger Land und Münsterland im preußischen Regierungsbezirk Münster 2 . Alle * Mit Anmerkungen versehene, geringfügig erweiterte Fassung des in Wien gehaltenen Kurzreferats. 1 Die rheinische Textilverarbeitung bleibt als stärker städtisch orientiertes Gewerbe außer Betracht. 2 Über die ländlichen Textilgewerbe des behandelten Raums vgl. die neueren zusammenfassenden Literaturstudien von H. Aubin, Das westfälische Leinengewerbe im Rahmen der deutschen und europäischen Leinwanderzeugung bis zum Anbruch des Industriezeitalters, Vortragsreihe der Gesellschaft für Westfälische Wirtschaftsgeschichte e. V. 11, 1964; E. Schmitz, Leinengewerbe und Leinenhandel in Nordwestdeutschland (1650—1850), Schriften zur Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsgeschichte 15, 1967; sowie die aus Literatur und Statistiken schöpfenden Arbeiten von K. Horstmann, Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung in Minden-Ravensberg, Lippe und Osnabrück im ersten und zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts, in: Raumordnung im 19. Jahrhundert 1, Historische Raumforschung 5, Forschungs- und Sitzungsberichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung 30, 1965, 97 ff.; und insbesondere S. Reekers, Beiträge zur statistischen Darstellung der gewerblichen Wirtschaft Westfalens um 1800, Westfälische Forschungen 17, 1964, 83 ff.: Paderborn und Münster; ebd. 18, 1965, 75 ff.: MindenRavensberg; ebd. 19, 1966, 27 ff.: Tecklenburg-Lingen, Reckenberg, Rietberg und Rheda.

Krisen im ländlichen Textilgewerbe

111

Gebiete verarbeiteten ganz überwiegend Flachs und H a n f , und zwar fast nur auf dem Lande in dezentralisierten Betriebsstätten. Ravensberg und Lippe waren Leinengebiete, die mittlere bis feine Sorten 3 produzierten, Tecklenburg und Osnabrück dagegen bekannt als Produzenten von H a n f - und Flachsleinwand gröberer Sorten, des sogenannten Löwendlinnens. Das Münsterland verfertigte im wesentlichen mittlere und gröbere Flachsleinensorten und verarbeitete daneben auch schon den Konkurrenzrohstoff des Leinens, die Baumwolle 4 , jedoch zunächst hauptsächlich in den Städten Bocholt, Warendorf und Gronau und deren weiteren Umland im Verlagssystem. In der Literatur werden die ländlichen Textilgewerbe Nordwestdeutschlands im allgemeinen als Nebengewerbe bezeichnet, die der bäuerlichen Bevölkerung, vor allem in den Wintermonaten, als Füllarbeit gedient haben. Der Allgemeingültigkeit dieser Auffassung muß ich widersprechen, denn Einzeluntersuchungen lassen f ü r Minden-Ravensberg 5 , Lippe 6 , Tecklenburg 7 und vermutlich auch f ü r die münsterländischen Grenzkreise das Vorhandensein einer beträchtlichen Anzahl von hauptberuflich im Textilgewerbe tätigen Landbewohnern erkennen, die nur nebenberuflich ein Stück Acker bearbeiteten oder sogar einzig auf den Verdienst aus ihrer textilgewerblichen Tätigkeit als Weber oder Spinner angewiesen waren. Untersucht man die Gründe für die sich verschlechternde Lage auf den Arbeitsmärkten der ländlichen Textilgebiete während der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts, so heben sich neben dem strukturell bedingten Rückgang des alten Leinengewerbes noch weitere Ursachen heraus: alle Textilgebiete 3 Daneben wurde in Ravensberg auch Löwendlinnen hergestellt wie in Minden. Reekers, Beiträge 18, 96. 4 Zur westmünsterländischen Baumwollverarbeitung vgl. die Angaben bei G. Adelmann, Die deutsch-niederländische Grenze als textilindustrieller Standortfaktor, in: Landschaft und Geschichte. Festschrift für Franz Petri zu seinem 65. Geburtstag. Hrsg. v. G. Droege, P. Schüller, R. Schützeichel, M. Zender, 1970, 9 ff. 5 H. Riepenhausen, Die bäuerliche Siedlung des Ravensberger Landes bis 1770, 1938, 108 f.; Horstmann, Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung, 99 f.; vgl. unten 114. • P. Wendiggensen, Beiträge zur Wirtschaftsgeographie des Landes Lippe, 1931, 279 f.; C. Biller, Der Rückgang der Hand-Leinwandindustrie des Münsterlandes, 1906, 53. 7 A. Gladen, Der Kreis Tecklenburg an der Schwelle des Zeitalters der Industrialisierung, 1970, 50; vgl. unten 113.

112

Gerhard Adelmann

sind Gebiete überdurchschnittlicher Bevölkerungsdichte 8 , sind zugleich Agrargebiete mit außergewöhnlich hohem Anteil klein- und unterbäuerlicher Schichten 9 , die maximal über 80 Prozent der gesamten ländlichen Bevölkerung ausmachen 10 . Gerade diese Schichten aber zeichnen sich durch einen besonders hohen Bevölkerungszuwachs aus, vermehren also auf die Dauer das Arbeitskräftepotential des Gebietes insgesamt und insbesondere jener Gruppe v o n Arbeitskräften, die nicht mehr allein in der Landwirtschaft ihre Nahrung finden konnte, sondern immer stärker auf die Eink ü n f t e aus textilgewerblicher Tätigkeit angewiesen w a r . Nach den Untersuchungen von Wilms 1 1 , Riepenhausen 1 2 und Seraphim 1 3 ist in Teilen unseres Untersuchungsgebietes die Entwicklung des Heuerlingswesens geradezu auf die Ausbreitung des Textilgewerbes zurückzuführen. Fassen wir die Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage bestimmenden Faktoren in einer Gleichung zusammen 1 4 , so stehen sich Bevölkerung bzw. Arbeitskräftepotential einerseits und die auf den regionalen Arbeitsmärkten vorhandenen Arbeitsplätze in der 8 Vgl. unter anderem Horstmann, Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung, 98 ff., 115; A . M a r k o w , Das Wachstum der Bevölkerung und die Entwicklung der Aus- und Einwanderungen, Ab- und Zuzüge in Preußen und Preußens einzelnen Provinzen, Bezirken und Kreisgruppen von 1824 bis 1885, 1889, passim; H. Uekötter, Die Bevölkerungsbewegung in Westfalen und Lippe 1818—1933, 1941, insb. 80 ff.; S. Reekers, Westfalens Bevölkerung 1818—1955. Die Bevölkerungsentwicklung der Gemeinden und Kreise im Zahlenbild, 1956, passim; F. Herzog, Das Osnabrücker Land im 18. und 19. Jahrhundert. Eine kulturgeographische Untersuchung, 1938, 126 f., 166; G. Uelschen, Die Bevölkerung im Wirtschaftsgebiete Niedersachsen 1821—1939, 1942. 9 Vgl. „Die soziale Schichtung der Bevölkerung Westfalens im Jahre 1825" bei W. Köllmann, Friedrich Harkort 1: 1793—1838, 1964, 195 ff. 10 In Tecklenburg z. B. 86,1 Prozent. Gladen, Der Kreis Tecklenburg, 135. 11 W. Wilms, Großbauern und Kleingrundbesitz in Minden-Ravensberg, Jahresbericht d. Hist. Verf. f. d. Grafschaft Ravensberg zu Bielefeld = JBHVR, 1913, 54. 12 Riepenhausen, Bäuerliche Siedlung, 108, 110 f. 13 H . - J . Seraphim, Das Heuerlingswesen in Nordwestdeutschland, 1948, 14 f. 14 Vgl. dazu grundsätzlich W. Köllmann, Bevölkerung und Arbeitskräftepotential in Deutschland 1815—1865. Ein Beitrag zur Analyse der Problematik des Pauperismus, Landesamt für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Jahrbuch 1968, 1968, 209 ff.

Krisen im ländlichen Textilgewerbe Landwirtschaft

und

im

ländlichen

113

Textilgewerbe

andererseits

gegenüber. Sie erreichten in unserm Untersuchungsgebiet nur ein äußerst labiles Gleichgewicht, das nur so lange g e w a h r t blieb, w i e B e v ö l k e r u n g s b e w e g u n g und A r b e i t s p l a t z a n g e b o t a u f dem a g r a r und textilwirtschaftlichen S e k t o r sich synchron entwickelten. A b e r das w a r spätestens seit 1 8 2 1 nicht mehr der F a l l . D i e vorerst noch immobilen, w e i t e r wachsenden k l e i n - und unterbäuerlichen Schichten wurden durch die zwischen 1 8 2 1 und 1 8 5 0 f o r c i e r t e n G e m e i n heitsteilungen 1 5 in ihrem agrarwirtschaftlichen

Nahrungsspielraum

durchweg in allen ländlichen T e x t i l g e b i e t e n , die zugleich

Agrar-

gebiete geringerer B o d e n g ü t e w a r e n , noch weiter eingeengt.

Der

Verlust an bisheriger A l l m e n d e n u t z u n g k o n n t e nur zum T e i l durch Zupachtung oder e t w a gar den E r w e r b aufgeteilten Markenlandes

ausgeglichen

werden.

ehemaligen

Für Tecklenburg

etwa

hat

soeben A l b i n G l a d e n 1 6 nachgewiesen, d a ß die k l e i n - und u n t e r bäuerlichen

Schichten

seit

den

Gemeinheitsteilungen

ihre

Vieh-

haltung r a d i k a l einschränken, in vielen F ä l l e n die einzige

Kuh

abschaffen m u ß t e n . I n f o l g e der fortschreitenden agrarischen Ü b e r völkerung

wuchs

nicht

nur

in

Tecklenburg,

sondern

auch

M i n d e n - R a v e n s b e r g , L i p p e o d e r Osnabrück der L a n d h u n g e r

in der

H e u e r l i n g e so sehr, d a ß sie b e r e i t waren, Pachtpreise zu zahlen, die

den

Reinertrag

Pachtstellen

aus

der

überstiegen 1 7 .

nebenberufliche

landwirtschaftlichen

Unter

Textilgewerbe

diesen

Nutzung

Umständen

zwangsläufig

zur

wurde

der das

Haupterwerbs-

quelle, w e n n nicht gar z u m H a u p t g e w e r b e . F ü r viele T e c k l e n b u r g e r H e u e r l e u t e w a r die „ P a c h t s t e l l e " , wie G l a d e n 1 8 vorsichtig f o r m u lierte,

„kaum

weitergehen

mehr

als eine B l e i b e " .

und folgern, d a ß

Ich möchte

einen

Schritt

auch in T e c k l e n b u r g manche

so-

g e n a n n t e „ H e u e r l i n g e " nichts anderes als „ E i n l i e g e r " , oder „ M i e t l i n g e " in Heuerlingshäusern w a r e n , die das T e x t i l g e w e r b e h a u p t beruflich

ausübten.

Für

Ravensberg

hat

1853

der

Mindener

R e g i e r u n g s r a t u n d spätere preußische F i n a n z m i n i s t e r C a r l m a n n B i t t e r in seinem erst kürzlich edierten Bericht

über

Herden

1 5 Seraphim, Heuerlingswesen, 19 f.; W. Conze, Die liberalen Agrarreformen Hannovers im 19. Jahrhundert, 1947, 15 f.; Gladen, Kreis Tecklenburg, 27. " Gladen, Kreis Teklenburg, 21. 17 Vgl. insb. ebd., 133. 18 Ebd., 135.

8

Kellenbenz, Wirtschaftspolitik

114

Gerhard Adelmann

N o t s t a n d in der Senne 19 auf den bedeutenden Anteil nichtbäuerlicher Bevölkerung hingewiesen, aus der sich die Masse der hauptgewerblich tätigen Berufsspinner rekrutierte. Carl Biller 20 hat bereits 1906 in seiner Untersuchung über den Rückgang der H a n d leinwandindustrie des Münsterlandes auf den Gegensatz zwischen dem nebenberuflichen Leinengewerbe der münsterländischen Landbevölkerung und dem vielfach hauptberuflichen ländlichen Webert u m in Minden-Ravensberg aufmerksam gemacht, wo verschiedentlich selbst die Spinnerei im Hauptberuf betrieben wurde. Er spricht v o n ganzen Spinnerkolonien in den Kreisen Lübbecke, Halle, Bielefeld, Herford wie Wiedenbrück und Paderborn 2 1 . Exaktes Zahlenmaterial, das Aufschluß über die Berufszugehörigkeit der unterbäuerlichen Schichten geben könnte, liegt in Ravensberg bisher nur für das Amt Heepen in der N ä h e Bielefelds vor. Anhand der Einwohnerlisten und der Katasterkarten der zwanziger Jahre hat Gustav Engel 22 etwa f ü r die kleine Gemeinde Altenhagen 87 Spinnerfamilien und 41 Weberfamilien, also insgesamt 128 nichtbäuerliche Familien ermittelt. Ihnen stehen nur 18 volle Ackerwirtschaften gegenüber, die sich Hilfspersonal leisten konnten. J e nachdem, ob die Textilverarbeitung hauptberuflich oder nebenberuflich neben der Landwirtschaft ausgeübt wurde, haben sich die Krisen der ländlichen Textilgewerbe auf die einzelnen regionalen Arbeitsmärkte mit unterschiedlicher Intensität ausgewirkt. Als rückschauende Historiker sind wir in der Lage, diese Krisen als strukturelle Krisen zu erkennen, als das Ergebnis des weltweiten, nicht aufzuhaltenden Prozesses der Industrialisierung. D e n Zeitgenossen hingegen erschienen die Krisen vielfach als temporäre Notlagen, die mit politisch bedingten Absatzstockungen u n d kurzfristigen konjunkturellen Depressionszeiten wie auch durch Agrarkrisen vollauf zu erklären waren. Erst auf dem Höhep u n k t der Krise erkannten auch die Hauptbetroffenen, die Spinner

19 Abgedruckt in JBHVR 64 1964/65, 25 f.; siehe auch die Berichterstattung Bitters 1851/52 in Staatsarchiv Münster, Oberpräsidium (zitiert STAM, OP) n 385 Bd. I, insb. Bl. 31 ff., 49, 118 ff.; n 387, Bl. 32 ff. 20 Biller, Rückgang der Hand-Leinwandindustrie, 53. 21 Ebd., 12, 70, 142 f. 22 G. Engel, 1864—1964. Bielefelder Webereien Aktiengesellschaft Bielefeld. Festschrift zur Hundertjahrfeier, 1965, 32 f.

Krisen im ländlichen Textilgewerbe

115

und Weber 23 , die Industrialisierung, „die Maschine, die fürchterlichste Geißel der Menschheit", als die eigentliche Ursache ihrer Notlage, ohne daß sie bereit oder fähig waren, im Ubergang zu eben diesem Maschinenwesen das einzige, auf die Dauer allein wirksame Heilmittel ihrer Not zu sehen. Die Industrialisierung als produktionstechnischer und produktionsorganisatorischer Umstellungsprozeß von der heimgewerblichen Handarbeit zur fabrikindustriellen Maschinenarbeit hat auf die ländlichen Textilgewerbe Nordwestdeutschlands in dreifacher Weise eingewirkt. Zunächst einmal durch die Industrialisierung der ausländischen Konkurrenz, und zwar bis zur Mitte der dreißiger Jahre allein als Substitutionskonkurrenz der billigen mechanischen Baumwollgarne und -gewebe, ab 1836 auch durch die Mechanisierung der englischen und belgischen Flachsspinnerei und seit den vierziger Jahren der dortigen Leinenweberei. Erst in zweiter Linie machte sich die deutsche Industrialisierung auf die ländlichen Textilgewerbe durch die Gründung mechanischer Spinnereien und Webereien nach 1850 speziell in den Städten unseres Untersuchungsgebietes bemerkbar. In einer dritten und letzten Phase nach 1870 zog die Industrie mit der Gründung mechanischer Webereien selbst auf das Land. In Nordwestdeutschland war bis 1850 allein die zuerst genannte technisch-fortschrittlichere Konkurrenz der bereits industrialisierten ausländischen Textilindustrie auf die ländlichen Textilgewerbe spürbar, und zwar um so schmerzlicher und destruktiver, als sie dem Lande nur Arbeits- und Verdienstmöglichkeit entzog, ohne wie die spätere einheimische Industrialisierung selber neue Arbeitsplätze zu schaffen. Der Rückgang des ländlichen Leinengewerbes in der ersten Jahrhunderthälfte ist nicht nur der Konkurrenz 24 der ausländischen 23 In den Akten, insb. STAM, OP, n 1042, Bd. II, finden sich zahlreiche Eingaben von Spinnern und Webern gegen die Einführung der Maschinenspinnerei. Vgl. die zusammenfassende Darstellung bei H. Schmidt, Vom Leinen zur Seide. Die Geschichte der Firma C. A. Delius & Söhne und ihrer Vorgängerinnen und das Wirken ihrer Inhaber f ü r die Entwicklung Bielefelds 1 7 2 2 — 1 9 2 5 , 1926, 205 f f . ; auch G.Engel, Ravensberger Spinnerei A - G Bielefeld. Festschrift zum 100jährigen Bestehen, 1954, 43 f. 24 Vgl. für Ravensberg Schmidt, Vom Leinen zur Seide, 133 ff.; allgemein Biller, Rückgang der Hand-Leinwandindustrie, 45 ff.

8*

116

Gerhard Adelmann

Baumwoll- und Leinenindustrie zuzuschreiben. Audi die Schutzzollpolitik der europäischen Staaten trug dazu bei, den deutschen Leinenexport in alte Absatzgebiete zu ersdiweren, zum Teil sogar unmöglich zu machen 25 . Trotzdem schlagen sich die Exportbehinderungen bis in die vierziger Jahre hinein nicht in einem Produktionsrückgang, sondern in einem seit 1838 rapiden Sinken des Produktionswertes bei stabilen oder sogar steigenden Flachspreisen nieder. Diese Ertragsminderung geht hauptsächlich zu Lasten der Produzenten. Vor allem die Löhne der Spinner, aber auch der Weber sanken. Preisverfall und damit Verdienst- und Lohnrückgang zeigten sich zuerst und am stärksten in der Handspinnerei. Schon seit 1820 hatten die Preise des Leinengarns sinkende Tendenz 26 , die sich ab Ende der dreißiger Jahre verstärkte und um 1848 einen katastrophalen Tiefpunkt erreichte, als z. B. die Garnausfuhr Ravensbergs ganz stockte 27 . Hatte in guten Zeiten, so heißt es in einem Schreiben 28 an das Oberpräsidium der Provinz Westfalen, gemeint sind die 1830er Jahre, eine Spinnerfamilie 4—5 Taler wöchentlich verdienen können, so betrug jetzt der Tagesverdienst einer Familie im Höchstfall 20 Pfennig 29 . Die Preisminderung der Gewebe ist je nach den einzelnen Sorten außerordentlich differenziert. Bei den feineren Leinen der Bielefelder Umgebung betrug sie von 1840 bis 1848 mindestens 20 bis 25 Prozent, wahrscheinlich etwas mehr, wenn auch 50 Prozent, wie die Weber in einer Eingabe an die Regierung behaupteten, übertrieben sein dürfte 30 . Für die gröberen Leinensorten des Lipperund Münsterlandes liegen zu wenige konkrete, zum Teil widersprüchliche Angaben vor. Sie erlauben es nicht, mehr als einen generellen Preisrückgang zu konstatieren. Immerhin sank auch in 2 5 Schmidt, V o m Leinen zur Seide, 1 3 8 f . ; Biller, Rückgang der H a n d Lein wandindustrie, 44 f. Zum Rüdegang der ländlichen Textilgewerbe vgl. auch K ö l l m a n n , Bevölkerung, 2 2 6 f. 2 6 Bitter, J B H V R 64, 1964/65, 39. 2 7 Nach den Zusammenstellungen bei Schmidt, V o m Leinen zur Seide, 1 2 6 f. 2 8 Inhaltliche Wiedergabe ebd., 127. 2 9 Tagesverdienst und nicht Wochenverdienst, wie v o n K ö l l m a n n , Bevölkerung, 227, nach W . Schulte, V o l k und Staat. W e s t f a l e n im V o r m ä r z und in der R e v o l u t i o n 1848/49, 1 9 5 4 , 1 2 5 , angenommen. 3 0 Schmidt, V o m Leinen zur Seide, 1 2 5 .

Krisen im ländlichen Textilgewerbe

117

diesen Gebieten das Einkommen aus textilgewerblicher Arbeit derart, d a ß die betroffene Bevölkerung sich nach anderen Verdienstmöglichkeiten, vor allem durch Wanderarbeit, umsehen mußte. Der Wert der Löwendlinnenproduktion Osnabrücks 31 und Tecklenburgs fiel von 1838 bis 1849/50 um über 50 Prozent, bei zumindest für Osnabrück nachweisbar gleichbleibender, in verschiedenen J a h r e n sogar steigender Produktionsmenge. An der Mengen- und Wertstatistik der Osnabrücker Legge läßt sich somit einmal die aus der Marktformenlehre bekannte anomale Reaktion der Anbieter auf dem Arbeitsmarkt belegen, die bei sinkenden Löhnen mehr Arbeit anbieten, also zusätzliche Arbeitskräfte mobilisieren und längere Arbeitszeiten in Kauf nehmen. Ebenso dürften die Weber in den übrigen Textilgebieten Nordwestdeutschlands reagiert haben. Doch trotz verstärkter Arbeitsleistung w a r das Einkommen der Weberfamilien in den vierziger Jahren nicht zu halten, wie eine Reihe amtlicher Untersuchungen kurz vor und nach 1850 bezeugen 3 2 . Auf dem Höhepunkt der Krise Ende der vierziger J a h r e wuchs sich die mit starken Einkommensverlusten einhergehende Unterbeschäftigung der ländlichen Textilgewerbler, die man geradezu als Normalsituation des ländlichen heimgewerblichen Arbeitsmarktes dieser Zeit ansprechen kann, sogar zu tatsächlicher Arbeitslosigkeit aus, eine Erscheinung, die wir gewohnt sind, erst als eine Eigenart des industriellen Arbeitsmarktes zu betrachten. Verfolgt man in den Gewerbetabellen die Entwicklung der Webstuhl- und Beschäftigtenzahlen in Minden-Ravensberg, dem Regierungsbezirk Münster und in Lippe, so ergibt sich ein Bild, das meinen bisherigen Ausführungen zu widersprechen und alle bewegten zeitgenössischen Klagen über den Notstand Lügen zu strafen scheint. Minden-Ravensberg 3 3 zählte 1796 5379 Leinenweber, 1849 5493 3 4 . Das Kerngebiet der Leinenweberei, MindenRavensberg, weist demnach keine Veränderung in den absoluten 3 1 H. W i e m a n n , Die Osnabrücker Stadtlegge, Mitteilungen des Vereins f ü r Geschichte und Landeskunde v o n Osnabrück 35, 1 9 1 0 , 60. 32 Vgl. auch A n m . 2 7 und 26. 3 3 Reekers, Beiträge 18, 1 3 0 . 34 Im ganzen Regierungsbezirk Minden 5 7 7 9 . Tabellen und amtliche Nachrichten über den preußischen S t a a t f ü r das J a h r 1 8 4 9 , 6, A, 1 8 5 5 , 704 ff.

118

Gerhard Adelmann

Zahlen der „hauptberuflichen" gewerblichen Leinenweber auf. Für den Regierungsbezirk Münster sind Gewerbetabellen 35 fortlaufend von 1816/19 bis 1831 und dann wieder ab 1846 überliefert. 1819 zählte man 11.523 haupt- und nebenberufliche Webstühle, 1849 3 6 11.792. Also auch hier haben sich die absoluten Zahlen der insgesamt gehenden Webstühle praktisch nicht verändert. Die Unterscheidung in haupt- und nebenberuflich betriebene Webstühle wurde im Regierungsbezirk ganz willkürlich gehandhabt, oft von Zählung zu Zählung wechselnd, so daß nur die Summe beider der Wirklichkeit nahekommt. Sind auch die absoluten Zahlen der Webstühle und der Weber in Minden-Ravensberg und im Regierungsbezirk Münster erstaunlicherweise „stabil" geblieben, so ging doch der Anteil der Leinenweber an der Gesamtbevölkerung beträchtlich zurück. In MindenRavensberg 3 7 z. B. kamen 1796 36,3 Leinenweber auf je 1000 der Bevölkerung, 1849 nur noch 21,1. Ihr Anteil an der gewerblich tätigen Bevölkerung fiel von 91,2 auf 56,2 Prozent. Ein ähnlicher Bedeutungsrückgang ist auch im Regierungsbezirk Münster festzustellen 38 . Die relative Bedeutung der Leinenweberei nahm also auch nach den Gewerbetabellen ab. Die Zahlen der Spinner sind in den preußischen Gewerbetabellen nicht erfaßt, höchstens heißt es mal in einer Anmerkung: „Alles spinnet". Doch fand sich in den Akten des Oberpräsidiums zu Münster 3 9 eine Nachweisung der Regierung Minden vom 6. Oktober 1838, die für Minden-Ravensberg 22.594 Spinnerfamilien angibt, während die Handwerkertabelle von 18 4 9 4 0 nur nodi 18.927 Leinengarnspinner ausweist. Bei den Minden-Ravensbergischen Spinnern zumindest läßt sich ein absoluter Rückgang von immerhin 16,2 Prozent während der Krise in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch statistisch nachweisen. Die Entwicklung des lippischen Leinengewerbes ist statistisch nur in größeren Abschnitten faßbar, ihr Zustand um die JahrhundertSTAM, Reg. Münster, Nr. 120, Bd. 1—3. Tabellen und amtliche Nadiriditen für 1849, 6, A, 678 ff. 3 7 Reekers, Beiträge 18, 130. 3 8 Biller, Rückgang der Hand-Leinwandindustrie, 146, und Reekers, Beiträge 17, 176, für das Textil- und Bekleidungsgewerbe des Oberstifts Münster. 3 9 STAM, OP, N r . 1042, Bd. I, Bl. 161'. 4 0 Tabellen und amtlidie Nachrichten für 1849, 5, 1854. 35 36

Krisen im ländlichen Textilgewerbe

119

mitte leider nicht zu fixieren. V o n 1 8 0 0 bis 18 36 zeigen die Erhebungen eine Zunahme der Webstühle v o n 3450 auf 4 0 7 1 4 1 . Die nächste Zählung erfolgte erst 1 8 6 1 und wies einen starken, uns allerdings nicht weiter überraschenden Rückgang auf 1 9 7 2 Webstühle a u f 4 2 . Denn in der zweiten Jahrhunderthälfte registrieren alle Statistiken 43 unseres nordwestdeutschen Untersuchungsraumes den rapiden Rückgang und fast vollständigen Untergang des ländlichen Leinengewerbes. Den lippischen Webstuhlzählungen kann man nicht entnehmen, ob der absolute Rückgang zwischen 1 8 3 6 und 1 8 6 1 schon vor 1 8 5 0 einsetzte. Die Tatsache der bereits in der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts, zumindest seit 1 8 3 8 , ausgebrochenen Existenzkrise des lippischen Leinengewerbes findet auch hier nicht in den Gewerbetabellen, sondern nur in anderen Quellen, wie etwa den bereits herangezogenen Nachweisen über den Preis- und Lohnverfall, ihren Niederschlag. Die weitgehende Stabilität der Zahl der nordwestdeutschen Leinenwebstühle und Leinenweber in der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts läßt sich nur durch den dargelegten allgemeinen Lohnrückgang erklären, wie bereits Sdimoller 4 4 f ü r Gesamtpreußen aufgezeigt hat. Wendiggensen, Beiträge zur Wirtschaftsgeographie, 273. H. Schierenberg, Blüte und Verfall der lippischen Leinenindustrie, 1914, 108. 43 Tabellen und amtliche Nachrichten für 1849, 6, B, 1063 (1849 und 1852); desgl. für das Jahr 1855,1858, 207£f.; desgl. für das Jahr 1858,1860, 436 ff.; STA Detmold, Reg. Minden, I/G, Nr. 63, 64, 65. Im Regierungsbezirk Münster ist die Zahl der in der Statistik ausgewiesenen Leinenwebstühle erst seit 1858 rückläufig, weil Weber, die zur Baumwollgarnverarbeitung übergingen, zunächst ihre Webstühle noch als Leinenwebstühle deklarierten. Vgl. Biller, Rückgang der Hand-Leinwandindustrie, 146 ff.; Zur Statistik des Königreichs Hannover. (Aus dem Statistischen Bureau) 10: Gewerbestatistik 1861, 1864, 36 f.; STA Osnabrück, Rep. 340, Nr. 5928; Wiemann, Osnabrücker Stadtlegge, 60 f.; W. Woltmann, Zur Statistik der Leinenindustrie und des Leggewesens der Provinz Hannover, 1873, 14 ff., 135 f.; H. Hornung, Entwicklung und Niedergang der hannoverschen Leinwandindustrie, 1905, 18, 96 ff.; H. Schierenberg, Die Wiedererrichtung der Lemgoer Legge und der zu Oerlinghausen, Mitteilungen aus der lippischen Geschichte und Landeskunde 11, 1921, 61 f.; R. Tiemann, Das lippische Gewerbe im Lichte der Gewerbepolitik des 19. Jahrhunderts, 1929, 36. 44 G. Schmoller, Zur Geschichte der deutschen Kleingewerbe im 19. Jahrhundert, 1870, 550. 41

42

120

Gerhard Adelmann

Wachsende Überbevölkerung

einerseits und sinkende

Arbeits-

e i n k o m m e n der v o n der f a b r i k i n d u s t r i e l l e n K o n k u r r e n z in ihrer E x i s t e n z bedrohten ländlichen L e i n e n g e w e r b e andererseits engten den N a h r u n g s s p i e l r a u m der unterbäuerlichen Schichten d e r a r t ein, d a ß die A r b e i t s m a r k t s i t u a t i o n a u f die eine oder a n d e r e Weise eine Lösung

erheischte.

Das

Ungleichgewicht

zwischen

Bevölkerung

b z w . A r b e i t s k r ä f t e p o t e n t i a l und A r b e i t s p l a t z a n g e b o t in den l ä n d lichen T e x t i l g e b i e t e n Nordwestdeutschlands k o n n t e e n t w e d e r durch eine Verringerung

des Bevölkerungswachstums

oder

durch

A u s w e i t u n g und Verbesserung des A r b e i t s p l a t z a n g e b o t s

eine

behoben

w e r d e n . I n den meisten T e x t i l r e g i o n e n haben V e r ä n d e r u n g e n sow o h l der B e v ö l k e r u n g als auch des A r b e i t s p l a t z a n g e b o t s schließlich z u r Ü b e r w i n d u n g der K r i s e geführt. D o c h lag das G e w i c h t der V e r ä n d e r u n g e n regional unterschiedlich entweder s t ä r k e r a u f der B e v ö l k e r u n g s b e w e g u n g oder auf der Seite des A r b e i t s p l a t z a n g e b o t s . So lange die K r i s e der ländlichen T e x t i l g e w e r b e sich weiter verschärfte und in der ersten J a h r h u n d e r t h ä l f t e noch k e i n e eigene r e g i o n a l e Industrialisierung neue A r b e i t s p l ä t z e schuf, m u ß t e ein Ausgleich völkerung

zunächst

allein

erfolgen.

durch

eine

Verlangsamung

Verminderung des

der

„natürlichen"

ÜberBevöl-

kerungswachstums u n d W a n d e r u n g s v e r l u s t e waren d a n n auch in a l l e n untersuchten G e b i e t e n die zeitlich ersten und r e g i o n a l unterschiedlichen mehr o d e r minder w i r k s a m e n Auswege aus der Krise. W o l f g a n g K ö l l m a n n hat in seiner Studie über B e v ö l k e r u n g

und

A r b e i t s k r ä f t e p o t e n t i a l in Deutschland 1 8 1 5 — 1 8 6 5 auch die n a t ü r liche Bevölkerungsbewegung und die W a n d e r u n g s b i l a n z W e s t f a l e n s in einzelnen

Entwicklungsphasen

Geborenenüberschußziffern

in

der

dargestellt. D e m n a c h ersten

Hälfte

des

sind 19.

die

Jahr-

hunderts leicht rückläufig. Sie erreichen ihren tiefsten W e r t 1 8 4 7 / 4 8 , um

sich

reagierte

nach die

1850

wieder

zu

Wanderungsbilanz

normalisieren45. auf

die

Ausgeprägter

Verschlechterung

der

wirtschaftlichen L a g e . D i e G e s a m t z i f f e r n der P r o v i n z W e s t f a l e n 4 9 ergäben

allerdings

f ü r unseren R a u m eine zu günstige B i l a n z der W a n d e r u n g s b e w e gung. W i r müssen daher den R e g i e r u n g s b e z i r k A r n s b e r g als das G e b i e t beginnenden

industriellen

Ausbaus

und eines Zieles

der

W a n d e r u n g ausklammern, um die W a n d e r u n g s v e r l u s t e der R e g i e 45 49

Köllmann, Bevölkerung, 214. Ebd., 219.

Krisen im ländlichen Textilgewerbe

121

rungsbezirke Minden und Münster, der Zentren der absterbenden ländlichen Leinengewerbe, in ihrem ganzen Ausmaß zu bestimmen. Sie betrugen nach M a r k o w 4 7 von 1824 bis 1885 im Regierungsbezirk Minden 58 Personen auf 10.000 der mittleren Bevölkerung, im Regierungsbezirk Münster 21, dagegen in der gesamten Provinz Westfalen „ n u r " 5, weil der Regierungsbezirk Arnsberg einen Wanderungsbeginn von 40 pro 10.000 der Bevölkerung auswies. Unterteilt man den Zeitraum von 1824 bis 1885 in die drei Abschnitte 1824—1848, 1849—1866 und 1867—1885, so zeigt sich für Minden und Münster übereinstimmend, daß die Wanderungsverluste, die sich ja aus Auswanderungs- und Abwanderungsziffern zusammensetzen, bis 1848 a m geringsten (19 bzw. 10) sind, 1849—1866 am höchsten (88 b z w . 36) und auch 1867—1885 (mit 73 und 18) noch ganz beträchtlich über denen vor 1849 liegen 4 8 . Die G r ü n d e sind schnell aufgezählt. Einmal erreichte die Krise der ländlichen Textilgewerbe erst Ende der vierziger J a h r e ihren Höhepunkt. Auf eine Besserung der verzweifelten Arbeitsmarktsituation wagte man nun nicht mehr zu hoffen. D a s zeigen die anschwellenden Auswanderungsziffern in allen, auch den nichtpreußischen Osnabrücker 4 9 und Lipper textilwirtschaftlich bestimmten Landkreisen 5 0 . Zum anderen fällt die Binnenwanderung, also die Abwanderung in Bezirke überschüssigen Arbeitsplatzangebots erst nach 1850 mit der westdeutschen Industrialisierung ins Gewicht. Sie machte seit den sechziger Jahren den Hauptanteil der Wanderungsverluste der ländlichen Textilgebiete aus. Schon 1832 hatte der Oberpräsident von Westfalen v. Vincke die „Translokation" westfälischer Heuerlinge in die östlichen Provinzen 5 1 angeregt. Dieser Gedanke taucht in den Überlegungen der verschiedenen Lokal-, Provinzial- und Zentralbehörden zur Steuerung der N o t in den Jahren 1847—1849 immer wieder auf. Doch ist er nie verwirklicht worden, weil staatlicherseits keine Mittel bereitgestellt wurden und „die S p i n n e r " nach einem Gutachten der Regierung Minden „zu arm waren, um als Ansiedler auf den im

M a r k o w , Wachstum der B e v ö l k e r u n g , 138 f., 169. Ebd., 139, 169. 4 9 Zur Statistik des Königreichs H a n n o v e r 9, 1863, X V I ; H e r z o g , Osnabrücker L a n d , 167 f. 5 0 Uekötter, Bevölkerungsbewegung, 40 ff. (für Westfalen und L i p p e ) . 5 1 S T A M , O P , n 370, Bl. 54. 47

48

122

Gerhard Adelmann

Osten zu parzellierenden Domänen angesetzt zu werden" 5 2 . Als 1847 alle Versuche der Behörden, dem ländlichen Leinengewerbe aufzuhelfen, offensichtlich erfolglos geblieben waren, beantragte die Mindener Regierung als letztes Mittel die „Beförderung der Auswanderung der arbeitslosen Heuerlinge" 5 3 . Weder die preußische noch die hannoversche oder die lippische Regierung haben die Auswanderung aktiv gefördert, sie also nicht als Mittel der Arbeitsmarktpolitik benutzt, ihr aber auch keine Hindernisse in den Weg gelegt. Allein aus dem Fürstentum Osnabrück wanderten zwischen 1832 und 1858 40.313 Menschen nach Amerika und Australien aus 54 . Oder um eine weitere Zahl zu nennen: Lippe verlor noch zwischen 1871 und 1910 mit über 34.000 Ab- und Auswanderern weit mehr als 20 Prozent der Gesamtbevölkerung 55 . Die Wanderungsverluste Lippes hätten noch wesentlich höher gelegen, wenn nicht die Zahl der Wanderarbeiter, die als Ziegeleiarbeiter in den industriellen Aufbaugebieten während der Bausaison Arbeit fanden, umgekehrt proportional zum Rückgang des Leinengewerbes angewachsen wäre 56 . Im Grunde sahen die meisten Lokalbehörden, die das Elend ihrer „Untertanen" aus eigener Anschauung kannten, es als ein „Glück" an, daß, wie der Tecklenburger Landrat v. Diepenbroick-Grüter sich ausdrückte, „Amerika bedarf, was wir zuviel haben" 57 . Denn die Auswanderung war vor 1850 neben dem wirtschaftlich bedingten Verzicht auf Familiengründung das wirksamste Mittel, um das Mißverhältnis zwischen Nahrungsspielraum und Übervölkerung abzubauen, zumal die seit dem 18. Jahrhundert in Nordwestdeutschland weit verbreitete Saisonarbeit in der Form der Hollandgängerei sich wegen der wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Niederlande in den 1830er und vierziger Jahren kaum noch lohnte 58 . S T A M , O P , n 1 0 4 2 , Bd. I, Bl. 3 9 9 (12. 4. 1847). Ebd., Bl. 398'. V g l . audi Schmidt, V o m Leinen zur Seide, 1 5 2 . 5 4 Zur Statistik des Königreichs H a n n o v e r 9, 1 8 6 3 , X V I . 5 5 E. Kittel, Geschichte des Landes Lippe. Heimatchronik der Kreise D e t m o l d und Lemgo, 1 9 5 7 , 340 f. 5 6 Wendiggensen, Beiträge zur Wirtschaftsgeographie, 2 8 0 , nach F. Fleege-Althoff, Die lippischen W a n d e r a r b e i t e r , 1 9 2 8 , 1 2 5 . 5 7 Gladen, Kreis Tecklenburg, 1 4 0 . 5 8 A . Wrasmann, D a s Heuerlingswesen im Fürstentum Osnabrück 2, Mitteilungen des Vereins f ü r Geschichte und Landeskunde v o n Osnabrück 44, 1 9 2 1 , 1 2 3 f. 52

53

Krisen im ländlichen Textilgewerbe

123

Überblickt man die Maßnahmen, mit denen man von staatlicher und privater Seite versuchte, während der strukturellen Krise der ländlichen Textilgewerbe die wirtschaftliche Tragfähigkeit des nordwestdeutschen Raumes wiederherzustellen und zu erhöhen, so kann man sie drei Hauptkategorien zuordnen: 1. der hier nicht aufzählbaren Vielfalt von letztlich meistens vergeblichen Versuchen, den gesunkenen Stellenwert der Arbeitsplätze im textilen Heimgewerbe zu heben oder andere Heimgewerbe einzuführen; 2. den auf die Dauer nicht erfolglosen, aber doch im Vergleich zum Arbeitskräftepotential unzureichenden Bemühungen, neue landwirtschaftliche Arbeitsplätze zu schaffen, worauf ich hier allerdings nicht eingehen kann; 3. den schließlich erfolgreichen, doch nicht in allen Gebieten gewagten Übergang zur Industrialisierung der heimischen Wirtschaft. Die Versuche des Staates, das gefährdete Leinengewerbe zu erhalten, zielen in Preußen, Hannover und Lippe zunächst darauf ab, die handwerkliche Ausbildung der Heimgewerbetreibenden zu heben, um die Qualität der Garne und Gewebe zu verbessern. Seit 1825 entstanden mit finanzieller Unterstützung der Regierungen Spinnschulen hauptsächlich in Westfalen, aber auch einige in Lippe und Osnabrück 59 . Ihren Zweck, die Kunst des Feinspinnens und später, als die englischen Maschinenspinnereien ebenfalls feines Leinengarn fabrizierten, die Kunst des Schnellspinnens zu verbreiten, haben die Spinnschulen nirgends erreicht. Sie waren schließlich nichts weiter als Arbeitsanstalten f ü r arme Kinder, die den Armenetat der Gemeinden entlasteten. Als 1854 der preußische Handelsminister von der H e y d t den jährlichen Staatszuschuß von zeitweilig rund 2000 Talern strich, gingen die letzten noch verbliebenen Spinnschulen ein. Das Handelsministerium hatte im Gegensatz zu den Provinzial- und Lokalbehörden von Anfang an die Ansicht vertreten, daß das alte ländliche Handgewerbe seinem unabänderlichen Untergang entgegenginge und jeder Versuch, es zu 58 Engel, Ravensburger Spinnerei, 50 f.; Biller, Rückgang der H a n d Leinwandindustrie, 120 ff.; J. Blotenberg, D e r G n a d e n f o n d s zur Beförderung der Leinen-Manufactur in Bielefeld, J B H V R 62, 1960/61, 51 ff.; Sdiierenberg, Wiedererrichtung, 51; H.Schröter, H a n d e l , Gewerbe und Industrie im Landdrosteibezirk Osnabrück 1815—1866, Osnabrücker M i t teilungen 68, 1959, 333 f. (dort meist mit gemeindlicher und privater Unterstützung).

124

Gerhard A d e l m a n n

halten, daher nutzlos, ja widersinnig sei 60 . Dennoch förderte die preußische Regierung auch andere regionale Stützungsmaßnahmen in Minden-Ravensberg 6 1 , dem Zentrum des westfälischen Leinengewerbes, um wenigstens die sozialen H ä r t e n der schweren, aber notwendigen Ubergangszeit zur Industrialisierung zu mildern. Ich nenne nur die Förderung des Flachsbaues, die Errichtung von Flachsmagazinen zum verbilligten Einkauf für die notleidenden Spinner, und einer Leihekasse, die Gewebe zwischen zwei Drittel und fünf Sechstel des Wertes belieh, alles gut gemeinte regionale Projekte, die jedoch um 1849 selbst ihren sozialkaritativen Sinn verfehlten, weil gerade die ärmsten Spinner und Weber sich ihrer wegen totalen Geldmangels nicht bedienen konnten. Aus dem 1849 mit 35.000 Talern dotierten „gewerblichen Aufhilfefonds für die Kreise Wiedenbrück, Halle, Herford, Minden und Lübbecke" flössen allein der Bielefelder Leihekasse 15.000 Taler zu, eine Summe, die hauptsächlich den reicheren Webern zugute kam 62 , also fehlgeleitet war. Der Restbetrag von 20.000 Talern und 4000 Taler aus anderen staatlichen Mitteln wurden nach Zwecken und Gebieten breit gestreut, zur Errichtung und Unterstützung von Spinnvereinen, von Web-, N ä h - und Strickschulen, Anschaffung von Webgeräten und anderen Apparaten verwandt 6 3 . Diese Subventionen erleichterten zwar nur unwesentlich die strukturellen Anpassungsschwierigkeiten der Branche, doch halfen sie wenigstens, akute Nöte der Spinner und Weber zu lindern. Im übrigen waren die Betroffenen auf die kargen Sätze der kommunalen Armenfürsorge, die nur durch staatliche zinslose Darlehen vor dem Zusammenbruch bewahrt wurde 64 , sowie auf spontane und organisierte private Hilfe 6 5 angewiesen.

90 Biller, Rückgang der Hand-Leinwandindustrie, 128 f . ; S T A M , O P , n 1042, Bd. I und II. 61 D a s Folgende nach S T A M , O P , n 1042, Bd. I und II; Schmidt, V o m Leinen zur Seide, 150 ff.; Blotenberg, G n a d e n f o n d s , 41 ff. 62 Jahresbericht der Handelskammer zu Bielefeld für 1849 und 1850, 13 f. 63 Blotenberg, Gnadenfonds, 56 f. 64 Schmidt, Vom Leinen zur Seide, 148. 65 Ebd., 155; Engel, Bielefelder Webereien, 38 ff. Auch in Lippe wurde 1848 ein „Verein zur Unterstützung bedürftiger Weber" gegründet, den die Lippische Regierung unterstützte. S T A D e t m o l d , L 77 A, Fach 143, n 16, Bd. I, Bl. 29 ff.

Krisen im ländlichen Textilgewerbe

125

Reiner Notlinderung diente auch die Verbilligung von Lebensmitteln durch staatliche Subventionen während der anhaltenden Lebensmittelteuerung 1847 66 . Der Bau der Köln—Mindener Eisenbahn von 1843 bis 1847 erfolgte nicht aus Gründen der Arbeitsbeschaffung, doch bot er einer gewissen Zahl von „arbeitslosen" Textilgewerbetreibenden Verdienst, allerdings — das muß auch gesagt werden — zu schlechten Arbeitsbedingungen, die 1845 sogar eine Arbeitsrevolte auslösten 67 . Kann man den auf privater Initiative und staatlicher Zinsgarantie basierenden preußischen Eisenbahnbau in Nordwestdeutschland 9 8 nur bedingt und indirekt als Mittel staatlicher Arbeitsmarktpolitik ansprechen, so um so mehr die seit 1844 staatlich initiierten und vorfinanzierten Straßenbauten 6 9 und sonstigen Erdarbeiten der Landgemeinden in den textilen Notstandsgebieten Westfalens. Immerhin haben die Maßnahmen der preußischen Behörden zur Verbesserung der Infrastruktur die spätere regionale Industrialisierung positiv beeinflußt und insofern bei langfristiger (10- bis 15jähriger) Betrachtung mit zur Überwindung der krisenhaften ländlichen Arbeitsmarktsituation beigetragen. Zu dem viel berufenen Wundermittel einer drastischen Zollerhöhung auf Maschinengarne hat sich die preußisch-zollvereinsländische Zollpolitik trotz unzähliger Petitionen der betroffenen Bevölkerung und ihrer konstitutionellen Vertretungen ebensowenig drängen lassen wie die hannoversche Regierung 70 . Ihr

" Schmidt, V o m Leinen zur Seide, 151. S T A M , O P , n 1042, Bd. I, Bl. 392 ff.; n 370, Bl. 170, n 385, Bd. I, Bl. 3 1 ' f f . ; Schmidt, V o m Leinen zur Seide, 150 f.; Schulte, Volk und Staat, 153 f. ,e H . D i t t und P. Schöller, D i e Entwicklung des Eisenbahnnetzes in Nordwestdeutschland, Westfälische Forschungen 8, 1955, 150 ff. 69 Vgl. generell S T A M , O P , n 360, Bd. III, n 1042, Bd. I und I I ; S T A D e t m o l d , I / U , n 539; Schmidt, V o m Leinen zur Seide, 150; Schulte, Volk und Staat, 132. Für die Notstandsarbeiten in der Senne S T A M , O P , n 370, 385, 387; STA D e t m o l d I / U , n 545. 70 C. Noback, D i e Leinen-Industrie in Deutschland. Untersuchungen über ihren Verfall und Beleuchtung der zu ihrer A u f h ü l f e vorgeschlagenen Mittel. Eine handelspolitische Abhandlung, 1850, 21 ff.; Biller, Rückgang der Hand-Leinwandindustrie, 48; Schmidt, V o m Leinen zur Seide, 149, 152 f.; K . K i e l , Gründe und Folgen der Auswanderung aus dem Osnabrücker Regierungsbezirk, insbesondere nach den Vereinigten 67

126

Gerhard A d e l m a n n

Widerstreben entsprang nicht nur der liberalen Anschauung, daß es nicht Aufgabe staatlicher sektoraler und regionaler Wirtschaftsförderung sei, den notwendigen Ausleseprozeß durch den Wettbewerb zu verhindern oder zu verlängern, sondern vor allem der richtigen Beurteilung der tatsächlichen Lage der nordwestdeutschen Leinenweberei. Sie war seit den vierziger Jahren auf den Import von Maschinengarn angewiesen 71 . Hohe Garnzölle hätten die Weberei um ihre letzten Exportchancen gebracht, ohne die Handspinnerei retten zu können. Im Unterschied zu Hannover und Lippe suchte indessen Preußen seine relativ freihändlerische Zollpolitik durch eine aktive Gewerbepolitik zu kompensieren und die Privatinitiative der Unternehmer zum Bau von Maschinenspinnereien durch gezielte Förderung 72 zu ermuntern, obgleich sich der Erfolg erst in den fünfziger Jahren einstellte, als auch die privatwirtschaftlichen Erwägungen der Unternehmer für die Industrialisierung sprachen. Überschlägt man den staatlichen Beitrag zum Entstehen und zur Entwicklung der Bielefelder Leinenindustrie und der westmünsterländischen Baumwollindustrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, so kann man die materiellen finanziellen Anreize, die der preußische Staat etwa durch Spindelprämien und Maschinenschenkungen gewährte, nur gering ansetzen. Die Gründung der Ravensberger Spinnerei AG 1854 mit einem Grundkapital von 2 Millionen Talern wäre gewiß auch ohne die staatliche Prämie von 55.000 Talern, die übrigens sogleich dem Reservefonds zugeführt wurde 73 , zustande gekommen. Die westmünsterländischen Spinnereigründungen haben sich, von Ausnahmen abgesehen, der Staaten, im Lichte der hannoverschen Auswanderungspolitik betrachtet. ( 1 8 2 3 — 1 8 6 6 ) , Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück 61, 1 9 4 1 , 114 f. 7 1 Schmidt, V o m Leinen zur Seide, 126, 2 1 4 f . ; in e t w a auch H o r n u n g , Entwicklung und Niedergang, 48. 7 2 Zur preußischen Industrialisierungspolitik vgl. allgemein U . P . R i t ter, Die Rolle des Staates in den Frühstadien der Industrialisierung. Die preußische Industrieförderung in der ersten H ä l f t e des 19. J a h r hunderts, 1 9 6 1 ; zur Förderung der Maschinenspinnerei speziell in Minden-Ravensberg vgl. unter anderem E . Schönfeld, H e r f o r d als G a r n und Leinenmarkt in zwei Jahrhunderten ( 1 6 7 0 — 1 8 7 0 ) , J B H V R 1 9 2 9 , 1 2 6 ff.; H . Potthoff, D i e Einführung der mechanischen Flachsspinnerei in Bielefeld, Ravensberger B l ä t t e r 1 9 0 2 , 37 ff.; Schmidt, V o m Leinen zur Seide, 201 ff.; Engel, Ravensberger Spinnerei, 55 ff. 73

Engel, Ravensberger Spinnerei, 69.

127

Krisen im ländlichen Textilgewerbe

Spindelprämie nicht erfreuen k ö n n e n 7 4 . Die direkten Staatshilfen wie die gewerbe- und industriefreundliche preußische Wirtschaftspolitik haben vor allem in der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts und selbst nach 1 8 5 0 dazu beigetragen, die psychologischen H e m mungen der Unternehmer vor dem R i s i k o des industriellen Beginns abzubauen, und ein der Industrialisierung

günstiges K l i m a

ge-

schaffen. Ein Zeugnis, daß man der hannoverschen und lippischen Wirtschaftspolitik keineswegs ausstellen kann. Beide Regierungen haben es an wirtschaftspolitischer Planung 7 5 in Richtung auf die Industrialisierung fehlen lassen, wenn auch die immer wieder in der Literatur 7 6 auftauchende Behauptung, die lippische Regierung habe die Mechanisierung verboten, quellenmäßig nicht zu belegen ist 7 7 . D i e Nicht-Industrialisierung

des Lipper und

Osnabrücker

Leinengewerbes hat gewiß viele Gründe. M a n kann das Fehlen eines einheimischen textilgewerblichen Unternehmertums oder die Ungunst der wirtschaftsgeographischen Voraussetzungen ins Feld führen, darf aber das wirtschaftspolitische Versagen der Regierung angesichts

der strukturellen

Krise

der Leinengewerbe

nicht

zu

gering einschätzen, allerdings auch nicht überbewerten, denn auch im preußischen Tecklenburg 7 8 unterblieb die Mechanisierung des Löwendlinnengewerbes.

Lippe

Osnabrücker-Tecklenburger

und

die ländlichen

Gebiete

des

Landes sinken nach 1 8 5 0 für einige

J a h r z e h n t e zu wirtschaftlichen Passivräumen im ehemaligen ländlichen Textilgebiet Nordwestdeutschlands herab. D i e Wanderungsverluste jener R ä u m e liegen noch lange Zeit weit über dem Durchschnitt derjenigen nordwestdeutschen Textilbezirke, in denen der Biller, Rückgang der H a n d - L e i n w a n d i n d u s t r i e , 1 3 7 f. Tiemann, Das lippische Gewerbe, 3 6 , 4 4 ff.; H o r s t m a n n , Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung, 1 0 5 f . ; Denkschrift über die Gewerbeverhältnisse H a n n o v e r s beim E i n t r i t t in den Preußischen Staat. Überreicht v o n der Direktion des Gewerbevereins für H a n n o v e r , 1867, 4 ff.; M . Jänecke, Die Gewerbepolitik des ehemaligen Königreichs H a n n o v e r in ihren Wandlungen 1 8 1 5 — 1 8 6 6 , 1 8 9 2 . 74

75

7 6 Tiemann, Das lippische Gewerbe, 4 5 ; Wendiggensen, Beiträge zur Wirtschaftsgeographie, 2 7 9 ; R . Böger, Wirtschaft im Strukturwandel, in: Landkreis L e m g o . Landschaft, Geschichte, Wirtschaft, 1 9 6 3 , 1 3 0 ; ders. auch in: Kittel, Geschichte des Landes Lippe, 3 3 9 . 7 7 Vgl. auch H o r s t m a n n , Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwiddung, 1 0 6 , und Engel, Bielefelder Webereien, 5 1 , Anm. 1. 7 8 F. E . Hunsche, 2 5 0 J a h r e L a n d k r e i s Tecklenburg 1 7 0 7 — 1 9 5 7 , 1957, 5 7 ff.

128

Gerhard Adelmann

Ü b e r g a n g zur industriellen F e r t i g u n g erfolgte 7 9 . N u r in und u m Bielefeld gelang die Industrialisierung a u f der Basis des alten Leinengewerbes und seiner neuen Tochterindustrien, der Wäscheu n d Konfektionsindustrie, der Nähmaschinen- und Textilmaschinenindustrie. In den westmünsterländischen Grenzkreisen verd r ä n g t e die B a u m w o l l v e r a r b e i t u n g , seit 1845 im fabrikindustriellen Betrieb, das ländliche Leinengewerbe nach 1850 mehr und mehr. R a v e n s b e r g u n d dem Westmünsterland ist gemeinsam, daß sich hier die Arbeitsmarktsituation schon b a l d nach 1850/60 normalisierte, weil die K o n t i n u i t ä t v o n altem T e x t i l g e w e r b e und neuer T e x t i l industrie gewahrt blieb. 7 9 Markow, Wachstum der Bevölkerung, 140 f., 143, 174, 183 f., insb. 190 und 192 f.; Uekötter, Bevölkerungsbewegung, 40—47.

ERICH GRUNER WIRTSCHAFTSPOLITIK IN DER

SCHWEIZ

UND

ARBEITSMARKT

I M 19. J A H R H U N D E R T

Vielleicht sind Sie schon einmal mit dem A u t o in die Schweiz hinein- oder durch sie hindurchgefahren. D a n n haben Sie möglicherweise auf den unfertigen und d a r u m oft unterbrochenen A u t o bahnen die R o u t e verloren und sich dabei über die unerfreulichen Auswirkungen des Föderalismus im schweizerischen Straßenbau geärgert. Diesem Föderalismus ist auch die schlechte statistische Materialbasis im ökonomischen u n d sozialen Bereich der Schweiz zuzuschreiben: die Fabrikarbeiter werden z. B. gesamtschweizerisch erstmals 1882 und die Gewerbe- u n d Industriebetriebe sogar erst 1905 gezählt. Diese Lücken werden leider nicht durch historischstatistische Monumentalwerke, wie sie die U S A z. B . besitzen, gefüllt. Auch Wirtschaftspolitik u n d Arbeitsmarkt werden entscheidend v o m Föderalismus g e p r ä g t . Es sind nicht nur Rohstoffa r m u t und Binnenlage, welche den Schweizer notgedrungen zum Unternehmer im Weltmaßstab machen. Es sind auch die Chinesischen Mauern des schweizerischen K a n t o n a l i s m u s , welche ihn z u m Pionier in der Erschließung neuer, weit entlegener M ä r k t e und z u m Anhänger internationaler Freizügigkeit f ü r Waren und Menschen machen. E s sind also die Realitäten sowohl der schweizerischen Forschungsgrundlagen wie die der Wirtschaft selbst, welche die Thematik der folgenden A u s f ü h r u n g e n begrenzen. E s muß deshalb beispielsweise die Bedeutung des Einzelbetriebs in der Rekrutierung, Ausbildung u n d Gliederung der Arbeiter fast g a n z ausgeklammert werden. So läßt es beispielsweise selbst das sehr reichhaltige Archiv der F i r m a Rieter in Winterthur nicht zu, über den U m f a n g der gesamten Belegschaft vor dem J a h r e 1870 etwas Genaues auszusagen 1 . Nicht einmal wissenschaftlich hochquali1 H . H o f f m a n n , D i e A n f ä n g e der Maschinenindustrie in der deutschen Schweiz 1800—1875, 1962, 17.

9

Kellenbenz, Wirtschaftspolitik

130

Erich Gruner

fizierte Firmengeschichten schenken diesem Aspekte Beachtung. Wir werden uns deshalb vor allem allgemeinen Fragen der Arbeitsmarktgestaltung zuwenden: dem Einfluß der Standortgebundenheit und des oft über Jahrhunderte tradierten technischen „know how" auf den Arbeitsmarkt, der Rolle der Schweiz als internationaler Arbeitsmarktdrehscheibe, und den Wirkungen, welche vom Staat als dem Schöpfer der Wirtschafts- und Sozialpolitik und von den organisierten Sozialpartnern auf die Gestaltung des Arbeitsmarktes ausgehen. D a die Schweiz, vor allem für das 19. Jahrhundert, keine allgemein zufriedenstellende Wirtschaftsgeschichte besitzt, so scheint mir als Einleitung eine kurze Skizze ihres wirtschaftlichen und bevölkerungsmäßigen Wachstums in diesen Zeitraum unentbehrlich. In einer Analyse der Wachstumsetappen der schweizerischen Volkswirtschaft setzt Walter Wittmann die „Take-off"-Periode auf die Zeit von 1800 bis 1825 fest 2 . Die Begründung, wonach damals die Mechanisierung beginne und die Anlaufperiode ins 18. Jahrhundert zu verlegen sei, scheint mir nicht stichhaltig. Denn außer der Baumwollspinnerei bleiben alle traditionellen Hauptindustrien der Schweiz (Baumwoll- und Seidenweberei, Stickerei, Uhrenfabrikation) bis 1850 dem im 18. Jahrhundert aufgebauten verlagsmäßigen Kleinbetrieb treu. Die eigentliche Take-off-Periode kann doch wohl erst um die Jahrhundertmitte beginnen. Denn erst damals wird das 50 Jahre dauernde Ringen um einen zentral regierten Bundesstaat entschieden. Erst nach 1850 werden somit die Grundlagen für einen einheitlichen Wirtschaftsraum geschaffen. Der große „Spurt" fällt folglich nach meiner Meinung eher in das Vierteljahrhundert von 1850 bis 1875. Sein Ende wird durch den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise begrenzt und trifft mit einem auch politisch relevanten Ereignis zusammen. Erst die 1874 total revidierte Bundesverfassung macht dank der Verstärkung der Zentralgewalt eine gesamtschweizerische Wirtschaftspolitik möglich. Das Reifestadium schließlich wäre, ähnlich wie im Deutschen Reich, auf die beiden Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg zu verlegen. Bei allen Parallelen mit der deutschen Entwicklung fallen doch bezeichnende Besonderheiten auf. So erlebt die Schweiz, eine Folge der kantonal zersplitterten Agrargesetzgebung, keine eigentliche 2 W. Wittmann, Die T a k e - o f f - P e r i o d e der schweizerischen Volkswirtschaft, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 1 1 9 , 1 9 6 3 , 5 9 2 ff.

Wirtschaftspolitik und A r b e i t s m a r k t : Schweiz

131

Agrarrevolution. Ein Hinweis: An den überlieferten, vorwiegend klein- und mittelbetrieblichen Besitzverhältnissen wird während des ganzen 19. Jahrhunderts nichts geändert 3 . Immerhin vermag sie auch so ihre ernährungsmäßige Eigenversorgung zwischen 1800 und 1850 von zirka 66 auf 80 Prozent zu steigern. Damit wird sie in die Lage versetzt, die stark ansteigende Bevölkerung zu ernähren, wenn auch recht kümmerlich, vorwiegend durch Intensivierung des Kartoffelbaus. Die billigen Wasser- und Arbeitskräfte erlauben es, die Baumwollspinnerei zum großen Teil auf dem Wege der Selbstfinanzierung zu mechanisieren. Die Kapitalbildung übersteigt infolgedessen in der ersten Jahrhunderthälfte den inländischen Bedarf und dient der ausländischen Nachfrage. Die für das „Take-off" bezeichnende Investitionsrate von 5 bis 10 Prozent hätte also noch gar keine Verwendung gefunden. Ganz anders im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts. Selbst das um ein Vielfaches vermehrte Kapitalangebot — die erste Aktienanleihe (15 Millionen) der Schweizer Kreditanstalt von 1856 wird um 200 Millionen überzeichnet 4 — vermag dem rasch ansteigenden Investitionsbedarf nicht mehr zu genügen. Der Eisenbahnbau muß zum Teil mit ausländischem Kapital finanziert werden. Die Krise der siebziger Jahre wirkt sich vor allem für die Textilindustrie und die Eisenbahnen ruinös aus. Das Kapital der Hauptlinien geht zum Teil in ausländischen Besitz über 5 . In der Krisenzeit geht der Übergang zum Reifestadium vor allem von der Eisen- und Maschinenindustrie aus, die von der Depression weniger tangiert 3 W . Bickel, Landwirtschaft und Landwirtschaftspolitik in der Schweiz, 1 9 6 1 , 18 ff.; H. Brugger, Die schweizerische Landwirtschaft in der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts, 1 9 5 6 , 1 6 f . ; G . - A . C h e v a l l a z , L'agriculture, in: C e n t cinquante ans de l'histoire vaudoise, 1 8 0 3 — 1 9 5 3 , 1 9 5 3 , 1 1 0 ; K . G e i s e r , Studien über die bernische Landwirtschaft im 18. J a h r h u n d e r t , 1 8 9 5 , 1 3 ; E . J . W a l t e r , Soziologie der alten Eidgenossenschaft, 1 9 6 6 , 82. Nach all diesen A n g a b e n beträgt am Ende des 18. J a h r h u n d e r t s der U m fang des größeren Teils aller G ü t e r z i r k a 5 h a ; andere Angaben lauten: 3 — 1 0 ha. In ausgesprochen wohlhabenden Gegenden erreichten die großen G ü t e r einen Durchschnitt v o n 1 0 — 3 0 ha. D e r erstmals 1 9 0 5 genau ermittelte gesamtschweizerische Durchschnitt v o n 5 ha ( f ü r 60 P r o z e n t aller G ü t e r ) hat sich also scheinbar kaum v e r ä n d e r t . U m 1 8 5 0 w i r d im P a y s de V a u d ein Gesamtdurchschnitt aller G ü t e r v o n 7 ha angegeben.

W . A . J ö h r , Schweizerische K r e d i t a n s t a l t 1 8 5 6 — 1 9 5 6 , 1 9 5 6 , 45 f. Ebenda, 1 3 7 ff. 1 8 9 5 sind 95 P r o z e n t der G o t t h a r d b a h n — und 5 5 — 6 0 Prozent der N O B und C B - A k t i e n — in ausländischem Besitz. 4

5

9*

132

Erich Gruner

wird. Zusammen mit der Elektro- und Aluminium-Industrie wird sie zum ausgesprochenen Leitgewerbe dieser Wachstumsperiode. So steigt die Leistung der installierten Turbinen zwischen den Jahren 1890 und 1914 von 37.000 auf 755.000 PS an. Daneben erhöht sich der Investitionsbedarf. Zunächst wird die bisher rein verlagsmäßig betriebene Uhren-, Schuh- und Stickereifabrikation mechanisiert. Sodann werden neue Hauptindustrien aufgebaut, vor allem die der Chemie und Genußmittel (Nestle etc.). Schließlich wird damals das Alpen-Eisenbahnnetz vollendet: Lötschberg, Simplon, Rhätisdie, Furka-Oberalp und Jungfraubahn. Die Zahl der Aktiengesellschaften vermehrt sich im selben Zeitraum von 1135 auf 5142. Deren nominelles Kapital steigt von 974 auf 3542 Millionen; dasjenige der Banken von 67 auf 376 Millionen. Das Volkseinkommen nimmt zwischen 1895 und 1913 von 2,17 auf 3,87 Milliarden zu. Es wächst realiter um 35 bis 40 Prozent, freilich bei einer Bevölkerungszunahme von zirka 20 Prozent 6 . Gleichzeitig wird der für die Schweiz so typische Industrie- und Kapitalexport erneut intensiviert. Das im Ausland angelegte Kapital beläuft sich 1913 auf 6,3 Milliarden 7 . Wie ist die schweizerische Wirtschafts- und Sozialpolitik mit den natürlichen und politischen Gegebenheiten, die sich der Industrialisierung und der Mobilität des Arbeitsmarktes entgegenstellen, fertig geworden? Der Kampf gegen die natürliche Armut des Landes, gleichsam eine existentielle Daueraufgabe der Schweiz, fällt ihr bedeutend leichter als die Uberwindung der föderalistischen Zerklüftung. Unfähig, sich zollpolitisch zu schützen, kämpft man zunächst für ein extremes handelspolitisches Laissez-faire. So verteidigt der Bundesrat die freihändlerische Konzeption des ersten schweizerischen Zollgesetzes (1849) mit dem einzigen Argument, daß das Gedeihen der inländischen Produktion „ausschließlich in der Blüte von Handel und Exportindustrie zu finden" sei8. Als Ebenda, 1 4 7 ff. R . B e h r e n d t , Die Schweiz und der Imperialismus, 1 9 3 2 , 6 7 f f . D i e jährlichen Zinserträge aus Industrie- und Handelsniederlassungen belaufen sich a u f zirka 2 0 0 Mio F r . , diejenigen aus fremden Titeln a u f 2 2 5 Mio Fr., w ä h r e n d der Zinsendienst an ausländische Besitzer schweizerischer Effekten jährlich nur 6 0 M i o F r . ausmacht. 6

7

8 Bericht der nationalrätlichen Kommission zum Zollgesetz von 1849, Schweizerisches Bundesblatt 1849, 2, 1 9 3 .

Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt: Schweiz

133

wichtigstes Erfordernis f ü r die Erhaltung der internationalen Konkurrenz erscheint die billige Arbeitskraft. Als Beispiel f ü r entsprechende sozialpolitische Maßnahmen, die mangels Kompetenzen noch nicht von der Eidgenossenschaft ausgehen können, sei die malthusianisch orientierte kantonale Armengesetzgebung genannt. D a noch keine interkantonale Freizügigkeit besteht, so f ü h r t diese in agrarischen Kantonen zum untauglichen Versuch, die sogenannten arbeitsunwilligen Armen in Zwangsarbeitsanstalten unterzubringen. Sie endet schließlich in einer von den entsprechenden Regierungen geförderten Massenauswanderung, nach dem Prinzip, daß „das Leben in Amerika f ü r den Staat die wohlfeilste Zwangsanstalt sei" 9 . In den Industriekantonen fördert sie hingegen die Eingliederung der Armen in den industriellen Arbeitsprozeß. So kann der Anteil der Armengenössigen hier auf drei bis fünf Prozent gesenkt werden, während er in den Agrarkantonen bis etwa 1860 auf acht bis zehn Prozent verharrt. Im übrigen beschränken sich die Kantone wirtschaftspolitisch darauf, eine industriefreundliche moderne Finanz-, Steuer- und Schulpolitik anzubahnen und ihr Privatrecht nach dem Vorbild des „Code civil" oder des „österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuches" umzugestalten 10 . Doch vermag sich die uneingeschränkte Verkehrs- und Vertragsfreiheit erst dann voll im Interesse einer industrieorientierten Arbeitsmarktpolitik auszuwirken, als die Bundesverfassung von 1848 den längst unzeitgemäß gewordenen Wirtschaftsföderalismus beseitigt. Sie garantiert nun freien Verkauf, freie Ein- und Ausfuhr von Kanton zu Kanton, aber immer noch keine unbeschränkte Niederlassungsfreiheit. So stehen der Binnenwanderung bis zur Verfassungsrevision von 1874 noch mehr Schranken entgegen als der ausländischen Einwanderung! Die erneuerte Bundesverfassung von 1874 verankert die Handels- und Gewerbefreiheit als Grundrecht, schafft also ein verfassungsrechtliches Unikum. Sie versucht damit, allen Privatpersonen die freie wirtschaftliche Betätigung in einem denkbar weiten Rahmen möglich zu machen. Wie so oft hinkt auch in diesem Fall das Recht hinter der faktischen Entwicklung nach. Denn 9

E. Gruner, Die Arbeiter in der Schweiz, 1968, 89. Züridi und einige ostschweizerische Kantone wahren freilich durch Übernahme einheimischen Rechts eine historische Kontinuität. 10

134

Erich Gruner

bereits beginnt derselbe Staat sich als H ü t e r der Wohlfahrt aller zu betätigen. Die kantonale Steuerpolitik setzt den Unternehmern mit Steuerprogression und Erbschaftssteuern zu. Die eidgenössische Sozialpolitik schränkt 1877 durch das erste Fabrikgesetz mit dem Elfstundentag und einer sehr weitgehenden Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit die bisher kaum angefochtene Freiheit des Arbeitgebers auf dem Arbeitsmarkt empfindlich ein. Verschiedene Versuche, die Schattenseiten der ungehemmten Konkurrenz durch eine fachgerechte Schulung des Nachwuchses mit H i l f e eines Gewerbebildungsgesetzes einzudämmen, enden in einem bloßen Subventionsbeschluß. Die Bundeshilfe wird unter anderem abhängig gemacht vom Vorhandensein privater fachlicher Nachwuchsschulung 11 . In ihrer internationalen Konkurrenzfähigkeit bedroht, suchen sich die besonders krisenbetroffenen Textilbranchen auf Inlandabsatz umzustellen und rufen energisch nach Zollschutz. Rein exportorientierte Industrien mit kleinbetrieblicher Struktur, wie die Uhrenbranche und die Stickerei, versuchen der Lohn- und Preisunterbietung durch Schließung des Arbeitsmarktes Herr zu werden. Doch erweist sich das Mittel, die Kombination kartellmäßiger Preisfestlegung mit tarifvertraglicher Lohnregulierung, als unwirksam. Schließlich setzt sich aber die Kartellierung trotz dem anfänglichen Widerstand von Außenseitern dennoch durch, ähnlich wie im Deutschen Reich. Der Entscheid des Reichsgerichts von 1897, wonach Kartelle nicht gegen die Gewerbefreiheit verstoßen, leitet hier bekanntlich einen epochemachenden wirtschaftspolitischen Wandel ein 12 . Die Schweiz folgt der Kartellpraxis des Reichsgerichts. Damit wird aber die Gestaltung der Wirtschaftspolitik in dieser zentralen Frage vorwiegend zu einer zivilrechtlichen Streitfrage und damit zu einer Angelegenheit des Bundesgerichts. Im Unterschied zu Deutschland wirkt sich die kartellfreundliche Praxis in der Schweiz indirekt auch arbeitsmarktpolitisch aus 18 . Denn infolge der engen Interessengemeinschaft von 11 Botschaft des Bundesrates an die hohe Bundesversammlung über die gewerbliche Enquete v o m 20. N o v e m b e r 1883, 1883, als Separatum aus dem Bundesblatt publiziert. 12 F . B ö h m , Das Reichsgericht und die Kartelle, Ordo 1, 1948, 197 ff.; B. Röper, Der wirtschaftliche Hintergrund der Kartell-Legalisierung durch das Reichsgericht 1897, Ordo 3, 1950, 239 ff. 13 E. Gruner, D i e H a n d e l s - und Gewerbefreiheit und die schweizerische Wirtschaftsordnung. Artikelserie in N e u e Züridier Zeitung n 2363, 2371

Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt: Schweiz

135

Unternehmerkartellen und Gewerkschaften, wie sie in der Uhrenindustrie zu treffen ist, wird z. B. die Arbeitersperre gegen Preisund Lohnunterbieter oder der „Numerus clausus" zwecks Anpassung der Produktion an den Bedarf als rechtlich zulässig erklärt 1 4 . So schränken also die kleinbetrieblichen Industrie- und Gewerbezweige die freie Gestaltung des Arbeitsmarktes gleichsam neben der Verfassung vorbei ein, d. h. auf sozusagen privatkollektivistische Weise. Demgegenüber begnügen sich die übrigen Leitindustrien mit wirtschaftsrechtlichen Maßnahmen: Schutz des Urheberrechts, der Fabrik- und Handelsmarken, der Erfindungspatente etc. 15 . Dank diesem Rechtsschutz vermögen sie sich das „Know h o w " ihrer technischen und wissenschaftlichen Angestellten zu sichern. Hier herrscht also, wie übrigens auch auf dem Sektor des Bauwesens, ein ganz anderes Verhältnis zum Faktor Arbeitskraft vor. Es fehlt hier der Arbeiterstamm, der seine technischen Fähigkeiten und Kenntnisse gleichsam von Generation zu Generation vererbt hat. Man muß sich ein entsprechendes Arbeitskräftereservoir erst schaffen, und man findet es zu einem großen Teil im Ausland. Untersuchen wir zunächst, bevor wir auf die Einwanderung ausländischer Arbeitskräfte eingehen, wie sich die Situation des schweizerischen Arbeitsmarktes unter demographischem Aspekt präsentiert. Die schweizerische Bevölkerung hat sich zwischen 1800 und 1914 mehr als verdoppelt. Die Zunahme um 224 Prozent ist aber weniger groß als etwa die im Gebiete des Deutschen Reiches (257 Prozent) oder gar die in England und Wales (405 Prozent). Einem Geburtenüberschuß von 2,27 Millionen steht, wie aus den Tabellen 1 und 2 ersichtlich ist, ein Wanderungsverlust von 510.000 gegenüber. Dieser wird aber durch einen Wanderungsgewinn von 459.000 weitgehend wettgemacht. Der schweizerische Arbeitsmarkt kennzeichnet sich mithin durch eine gewaltige interund 2381, 19.—21. 8. 1958, Entscheide des Schweizerischen Bundesgerichts, 25,2, 800 f. und 30,1, 283. 14 Von Interesse ist die Begründung, die in BGE 30,2, 283 gegeben wird: „Le principe de . . . la liberté peut conduire au monopole de fait, ce monopole peut profiter à un individu ou à un groupe; ce qui est permis à chacun est permis au groupe." 15 E. Gruner, 100 Jahre Wirtschaftspolitik, Ein Jahrhundert schweizerischer Wirtschaftsentwiddung, 1964, 35 ff.

136

Eridi Gruner

nationale Austauschaktion aus. Die auswanderungsbedingten demographischen Hohlräume werden durch Ausländer ausgefüllt. Ähnlich wie heute läßt sich die Schweiz also, anteilsmäßig gesehen, als die größte internationale Arbeitsmarktdrehscheibe Europas betrachten. Gliedern wir nach drei Wachstumsetappen, fällt freilich auf, daß diese sich stark voneinander unterscheiden. Im Zeitalter des Pauperismus, das bis zirka 1870 reicht, und in den stark krisenbetroffenen achtziger Jahren sind die Wanderungsverluste eklatant. Erst die Periode des Aufschwungs ( 1 8 9 0 — 1 9 1 4 ) zeigt mit 299.000 Einwanderern einen auffallenden Wanderungsgewinn von 176.000. Aus Tabelle 6 ist ersichtlich, daß sich der Ausländerbestand in diesem Zeitraum mehr als verdoppelt. Kein anderes europäisches Land kommt ihr in dieser Beziehung auch nur im entferntesten nahe. Nebenbei: 1910 befinden sich 3,3 Promille aller Reichsdeutschen, 35 Promille aller Badenser und 5,7 Promille aller Italiener in der Schweiz. Wie aber hängen diese demographischen Verschiebungen mit Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt zusammen? Über die berufliche Struktur der Auswanderer sind wir leider nur mangelhaft und nur durch ausgewählte Querschnitte orientiert. Diejenige der Einwanderer kennen wir erst seit 1890 genauer. Als Indikatoren für die ökonomisch relevanten Verschiebungen auf dem schweizerischen Arbeitsmarkt können uns zunächst die Wandlungen innerhalb der Struktur der Erwerbstätigen einigen Aufschluß gewähren (Tabellen 3 und 4). Sie zeigen das allmähliche Verschwinden der Erwerbstätigen in der Heimindustrie zugunsten derer in der Fabrikindustrie und den Anstieg der im Baugewerbe Beschäftigten (Tabelle 3). Der Tabelle 4 entnehmen wir ferner den Rückgang der Arbeitskräfte in der Textilindustrie, vor allem in der Baumwollbranche, dagegen einen mehr oder weniger ausgeprägten Aufschwung in der Uhren-, Nahrungsmittel- und vor allem in der Metall- und Maschinenindustrie. U m die internationale Austauschfunktion des schweizerischen Arbeitsmarktes zu erhellen, dürfen wir zunächst von der Hypothese ausgehen, daß die Einwanderer jene Arbeitsplätze einnehmen, welche die wachsende Wirtschaft neu schafft und welche die einheimische Bevölkerung nicht selbst besetzen will oder kann. Zur Verifizierung und Differenzierung dieser Hypothese verfügen wir in der Frühzeit leider nur über einige vereinzelte Indizien. So wird

Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt: Schweiz

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e t w a u m die J a h r h u n d e r t m i t t e geklagt, d a ß jeder a u s w a n d e r n d e Schweizer durch zwei e i n w a n d e r n d e Schwaben ersetzt w e r d e 1 6 . Tatsächlich s t a m m e n d a m a l s drei Viertel der in der Schweiz arbeitenden Deutschen aus B a d e n und W ü r t t e m b e r g 1 7 . Abgesehen v o n den zahlreichen weiblichen Hausangestellten handelt es sich meist u m H a n d w e r k e r . Sie finden einesteils im Kleingewerbe, z. B . als Schneider, Schuhmacher, Bierbrauer, Zimmerleute, andernteils als Facharbeiter in der Maschinenindustrie Unterschlupf. D i e Tabellen 6 u n d 7 erteilen über die jährliche Z u n a h m e der A u s länder nach N a t i o n e n u n d über den prozentuellen Anteil der H a u p t n a t i o n e n a m gesamten A u s l ä n d e r k o n t i n g e n t Auskunft. Ihnen ist z u entnehmen, d a ß in diesem Z e i t r a u m neben der deutschen anfänglich auch eine starke französische u n d zeitweise italienische E i n w a n d e r u n g stattfindet. In der Zeit des „ T a k e - o f f " massieren sich die A u s l ä n d e r hauptsächlich in bestimmten K a n t o n e n (Zürich, Bern, Basel, W a a d t , G e n f ) . A u s diesen u n d ähnlichen T a t b e s t ä n d e n ist zu schließen, daß sich die A u s l ä n d e r d a m a l s zur H a u p t s a c h e als B a u a r b e i t e r beim H a u s - u n d Eisenbahnbau betätigen. D a v o n zeugen auch die starken Schwankungen bei der italienischen E i n w a n d e r u n g . Sie stimmen zunächst genau mit den H o c h und T i e f beim E i s e n b a h n b a u überein. D i e rapide A b n a h m e der F r a n z o s e n nach 1870 h ä n g t damit z u s a m m e n , daß sie v o n 1870 an auch in der französischen Schweiz im B a u s e k t o r durch Italiener ersetzt werden 1 8 . Diese wenigen G r u n d z ü g e , welche die internationale Alimentierung des schweizerischen A r b e i t s m a r k t e s in der M i t t e des 19. J a h r hunderts illustrieren, lassen sich für die Zeit nach 1880 e t w a s genauer belegen. V o r allem besitzen wir nun auch A n g a b e n über die E r w e r b s s t r u k t u r der A u s w a n d e r e r . In den achtziger J a h r e n sind zwei Drittel der statistisch erfaßten A u s w a n d e r e r agrarischer P r o v e n i e n z . D i e E m i g r a n t e n industrieller H e r k u n f t stammen z u m Großteil aus K a n t o n e n , die v o n der T e x t i l k r i s e stark betroffen sind. In einzelnen K a n t o n e n bricht diese s o g a r gänzlich z u s a m m e n , 1 6 R . A. Natsch, D i e H a l t u n g eidgenössischer und kantonaler Behörden in der A u s w a n d e r u n g s f r a g e , 1803—1874, Diss. phil. I, Bern, Z H 1966,

121.

1 7 R . Schläpfer, D i e A u s l ä n d e r f r a g e in der Zürich 1969, 18; G r u n e r , Arbeiter, 86 ff. 1 9 Gruner, Arbeiter, 88 ff.

Schweiz, Diss. phil.

I,

138

Erich Gruner

so in Glarus die Stoffdruckerei. Nach der Analyse des Fabrikinspektorates ist der Anteil der Heimarbeiter unter den Wegziehenden sehr gering. Denn sie verfügen, wie in der Uhrenindustrie, über eigene Produktionsmittel, oder sie besitzen, wie meist in der Textilindustrie, ein H a u s und etwas Grund und Boden. Von den Fabrikarbeitern seien vorwiegend die flottanten Arbeitskräfte bereit, statt einem neuen schweizerischen einen ausländischen Arbeitsplatz zu suchen 19 . Ein Querschnitt durch die zahlenmäßig schwächer gewordene Auswanderung während der Jahrhundertwende zeigt ein etwas anderes Bild 20 . Der Anteil der Auswanderer des ersten Erwerbssektors geht von zwei Dritteln auf ein Drittel zurück, und zwar zur Hauptsache zugunsten von Erwerbstätigen des dritten Sektors. Ein Hinweis f ü r den damals wie heute gleich starken Drang vieler Schweizer, von der H a n d zur Kopfarbeit hinüberzuwechseln. U m 1900 muß aber das Angebot die Nachfrage noch übertroffen haben. Die auswandernden Kaufleute und Techniker hegen die Erwartung, dank ihren Fähigkeiten und auch dank ihren sprachlichen Kenntnissen im Ausland schneller ein höheres Niveau der Lebenshaltung zu erreichen 21 . A n d r é Siegfried spricht in dieser Beziehung von einer „émigration de qualité" 2 2 . Sie steht wohl in Zusammenhang mit der zunehmenden Gründung schweizerischer Industrieniederlassungen im Ausland. Der Wandel der Sozialstruktur der Auswanderer läßt vermuten, daß diese mit den Veränderungen der gesamtschweizerischen Erwerbsstruktur gewisse Parallelen aufweist. Die Vorliebe der Schweizer, vom zweiten in den dritten Erwerbssektor hinüberzuwechseln, läßt sich tatsächlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch f ü r die in der Schweiz bleibenden Erwerbenden nachweisen. Es zeigen sich hier auffallende Parallelen mit den sozialen Verschiebungen der Gegenwart. Heute läßt freilich der Trend mehr auf die schweizerische Vorliebe f ü r eine privatwirt19

W. H. Dawson, Social Switzerland, 1897, 48 ff. Handwörterbuch der Schweizerischen Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, hrsg. von N . Reichesberg, 1905, 397, Artikel Auswanderungswesen. 21 S. Lehmann, Grundzüge der schweizerischen Auswanderungspolitik, Diss. rer. pol. Bern, 1949, 48; Behrendt, Die Schweiz und der Imperialismus, 139. 22 A. Siegfried, La Suisse démocratie-témoin, 1948, 103. 20

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schaftliche Angestelltenposition schließen. Vor dem Ersten Weltkrieg stößt man dagegen auf eine ausgeprägte Neigung, eine Anstellung in öffentlichen Unternehmungen zu suchen. Nach einer Untersuchung aus dem Jahre 1914 waren damals z. B. zwei Drittel aller eidgenössischen Arbeiter und Angestellten ehemalige Handwerker 2 3 . Die heute noch ebenso starke Abneigung der Schweizer gegen gewisse handwerkliche Berufe, besonders im Bereich des Baugewerbes, erscheint mithin beinahe als Konstante. Man ist geneigt, sie auf die vorwiegend ländliche Siedlungsweise der Schweizer (vgl. Tabelle 5) u n d auf den überraschend großen Anteil von Grund- und Hausbesitzern zurückzuführen. Nach Franscinis Statistik kommen um 1850 auf 100 schweizerische Familien 80 mit Grundbesitz! Wir wissen ferner, d a ß um 1850 in der Textil-Heimindustrie der Kantone Zürich, St. Gallen, Appenzell und Aargau sechs Siebentel der Beschäftigten von einem Subsidiäreinkommen aus landwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit leben 24 . D a ß die Einwanderer von 1850 an vorwiegend jene Arbeitsplätze einnehmen, welche die Schweizer infolge ihrer Vorliebe f ü r besser bezahlte Berufe oder infolge ihrer ländlichen Wohnweise verschmähen, läßt sich für die Zeit nach 1890 zahlenmäßig illustrieren (Tabelle 10). Wir gliedern dabei nach etwas gröberen Kategorien (Erwerbs- oder Berufsgruppen mit überdurchschnittlichem, durchschnittlichem und unterdurchschnittlichem Ausländeranteil, d. h. mehr als ein Drittel, 15 bis 33 Prozent, weniger als 15 Prozent). Es ergibt sich dann die folgende Dreiteilung. In die erste Gruppe fallen die Erwerbstätigen des Bausektors, besonders Maurer und Eisenbahnarbeiter. In der zweiten Gruppe befinden sich Handwerker (Buchbinder, Sattler usw.), vor allem aber Spezialarbeiter in der Maschinenindustrie und im Druckereigewerbe, ferner Angestellte im Gastgewerbe. Die dritte Gruppe setzt sich aus Angehörigen der traditionellen Leitindustrien der Uhren- und Textilbranche zusammen. Tabelle 11 zeigt, daß auch die Plätze in der schlechter entlöhnten Textil-Fabrikindustrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend von Ausländern eingenommen werden. Leider fehlt mir der Raum, um auf die hoch28 24

Schläpfer, Ausländerfrage, 79. Gruner, Arbeiter, 92 ff.

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wichtige Bedeutung deutscher Einwanderer auf dem akademischen Arbeitsmarkt einzugehen. Wie die Sache von „draußen" ausgesehen hat, illustriert das „Bonmot": „Schwäble, setz a Brill auf, geh in d' Schweiz nei, kannscht Professor sei." 2 5 Zum Schluß soll der schweizerische Arbeitsmarkt noch kurz unter folgenden zwei Aspekten betrachtet werden: Erstens: Wie weit werden Nachfrage und Angebot durch fach- und standortspezifische Besonderheiten der einzelnen Erwerbszweige geprägt? Zweitens: Wie weit wirken sich solche Besonderheiten allenfalls auf das soziale Verhalten der beiden Arbeitsmarktpartner aus? Das Resultat sei vorweg kurz mitgeteilt: die drei Typen, die sich diesbezüglich erkennen lassen, dedien sich ungefähr mit den drei Kategorien, die sich auf Grund des Größenanteils der Ausländer ergeben haben. Wir beginnen mit der Gruppe mit unterdurchschnittlichem Ausländeranteil. Der Arbeitsmarkt der Uhren- und Textilindustrie ist gekennzeichnet durch die verlagsmäßig-kleinbetriebliche Struktur und durch die Zähigkeit, mit der sich die Heimarbeit in diesen Zweigen hält. Tabelle 11 vermittelt einen groben Eindruck davon, wie sich das Verhältnis zwischen Heim- und Fabrikarbeitern in den wichtigsten Branchen wandelt. Diese Industrien sind infolge ihrer exportorientierten Fabrikation von Luxus- und Spezialartikeln sehr krisenempfindlich. Trotzdem zeichnet sich ihr Arbeitsmarkt durch geringe Ab- und Zuwanderung aus. Diese ist um so geringer, je weniger die verlagsmäßige Produktion durch die Fabrikindustrie verdrängt wird. In der Uhrenindustrie z. B. wird die Mobilität des Arbeitsmarktes durch die folgenden Eigenarten der Produktionsstruktur eingeschränkt. Die komplizierten Fabrikationsprozesse, in denen die Einzelbestandteile der Uhr zunächst separat hergestellt und sodann zum Ganzen zusammengesetzt werden, erfordern eine Vielzahl hochspezialisierter Fachbranchen. Diese sind an bestimmte Talschaften und Orte gebunden. Zur fachlichen kommt also eine räumliche Arbeitsteilung. Die Fachkenntnisse werden über Generationen gleichsam vererbt. Die Produktionsmittel befinden sich in der Hand der Heimarbeiter, wie dies Karl Marx in seinem 2 5 U. Im Hof, Die schweizerischen Varianten der Universität, in: Festgabe Hans von Greyerz, 1967, 605.

kleindeutschen

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„Kapital" festgehalten hat. Daraus ergeben sich folgende Grundzüge f ü r die Regulierung des Arbeitsmarktes. Man versucht, das Gleichgewicht von Nachfrage und Angebot in erster Linie durch Mehr- oder Minderbeschäftigung von Familienmitgliedern und durch Einschränkung oder Ausdehnung der Arbeitszeit zu erreichen. Darüber hinaus strebt man mit H i l f e gewohnheitsrechtlicher tarifvertraglicher Preis- und Lohnvereinbarungen und der Kontingentierung des Arbeitsangebots (Numerus clausus) danach, die Schwankungen auf dem Absatz- und Arbeitsmarkt auszugleichen. Soziale Konflikte entstehen vorwiegend dann, wenn die Vertragsdisziplin beim einen der beiden Partner durchbrochen wird oder wenn die Unternehmer die Nachfrage nach Arbeitern durch Mechanisierung drosseln. Selbst die bekannte anarchistische Bewegung der Zeit der Ersten Internationale strebt als Hauptziel die Stabilisierung der Produktion und damit des Arbeitsmarktes an. N u r glaubt sie, dieses Ziel sei durch das Mittel der Kollektivierung erreichbar. In der Aufschwungphase von 1890 bis 1914 sind die sozialen Konflikte gerade dort am heftigsten, wo die überlieferte Position der Gewerkschaften durch den Übergang zur fabrikmäßig betriebenen Herstellung der U h r in Großbetrieben in Frage gestellt wird. Denn dort müssen die Fabrikarbeiter um die faktische Anerkennung des Koalitionsrechtes kämpfen. Nebenbei gesagt: um die „de jure "-Anerkennung des Koalitionsrechtes, die in der Bundesverfassung von 1874 endgültig erfolgt, haben die Schweizer Arbeiter nur in einzelnen Kantonen ringen müssen 26 . In der verlagsmäßig strukturierten Textilindustrie treffen wir — abgesehen von einzelnen Variationen — ähnliche Verhältnisse wie in der Uhrenindustrie an. Das „Know how", das auch dort durch jahrzehntelange Erziehung sorgfältig gepflegt wird, gibt der heimischen Arbeitskraft einen Vorsprung. Der Glarner Fabrikinspektor Schuler quantifiziert ihn als eine vergleichsweise um 30 Prozent erhöhte Leistungsfähigkeit 27 . Die Schwankungen des Arbeitsmarktes werden mit H i l f e der Subsidiärverdienste aus landwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit aufgefangen. Dort, wo die Mechanisierung spezialisierte Fach-Heimarbeiter, vor allem Baum26

Gruner, Arbeiter, 949 ff. F. Schuler, Z w a n z i g Jahre Normalarbeitstag in der Schweiz, Zeitschrift für Sozialwissenschaft 1898, 58 ff., 585 ff., 592 ff. 27

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wollweber freisetzt, versuchen diese zunächst in anderen verlagsmäßig betriebenen Erwerbszweigen unterzukommen, z. B. in der Tabakheimarbeit, in der Seidenweberei u n d in der Stickerei. Diese zieht in der Ostschweiz dank ihrer zeitweise sehr hohen Verdienste alle verfügbaren Arbeitskräfte wie ein Magnet an. Über die Rekrutierung der Arbeitskräfte in der fabrikmäßig betriebenen Textilindustrie gibt Rudolf Braun in seinem bekannten Werk „Sozialer und kultureller Wandel in einem ländlichen Industriegebiet im 19. und 20. Jahrhundert" erschöpfende Auskunft. Braun stellt fest, daß der Arbeitsmarkt der Fabrik-Textilindustrie in zwei Schüben alimentiert wird. Der erste liefert der mechanisierten Baumwollspinnerei in der ersten H ä l f t e des 19. Jahrhunderts die Arbeitskräfte. Der zweite setzt um die Jahrhundertmitte ein, nachdem die Konjunktur der Handweber abzuklingen begonnen hat und diese geradezu mit Bittschriften an die Unternehmer gelangen, mechanische Webereien zu errichten. So bilden sich im Zürcher Oberland die eigentlichen Fabrikdörfer, während sich die Heimarbeiterdörfer entleeren. Nachdem die Verfassung von 1874 alle Freizügigkeitsschranken beseitigt hat, setzt auch der Auszug aus agrarischen, vorwiegend katholischen Gegenden in die Fabrikgegenden ein. Es fehlt mir der Raum, auf das von Braun ausführlich geschilderte Phänomen der Arbeiterstammbildung einzugehen. Erst im 20. Jahrhundert vermag die Textilindustrie, wie oben gezeigt worden ist, ihren Bedarf nicht mehr mit schweizerischen Arbeitskräften zu decken. Die gewerkschaftliche Organisation ist in der Textilindustrie mit großen Schwierigkeiten verbunden. Denn es ist äußerst schwierig, die verschiedenartigen Interessen der ostschweizerischen Heimarbeiter, der patriarchalisch an den Arbeitgeber gebundenen Stammarbeiter und der flottanten Zuwanderer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Konflikte vom Ausmaß des Crimmitschauer-Textilarbeiter-Streiks von 1904 fehlen in der Schweiz. Doch die grundsätzliche Abneigung gegen die Gewerkschaft als solche veranlaßt auch die Schweizer Textilfabrikanten, sich nach deutschem Vorbild in einem Arbeitgeberverband zu organisieren. Das soziale Verhalten der deutschen Unternehmer auf dem Arbeitsmarkt wird indessen vor allem in der schweizerischen Metall- und Maschinenindustrie zu einem fast peinlich genau befolgten Leitbild erhoben. Die heute als Weltfirmen bekannten

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Großbetriebe dieser Branche, von Roll, Fischer-Stahl, Escher-Wyss, Sulzer, Rieter, Brown-Boveri usw., bleiben sehr lange in ihren werkstättenbedingten Kinderschuhen stecken. Um die Jahrhundertmitte beschäftigen sie alle mit Ausnahme von Escher-Wyss weniger als 100 Arbeiter. 1870 zählen nur 25 von den 146 Fabrikbetrieben mehr als 100 Arbeiter, und nur zwei, Escher-Wyss und Sulzer, mehr als 1000 2 8 . 20 Jahre später sind es sieben. Um 1910 werden von der Fabrikstatistik, die jetzt leider nur mehr die Betriebe mit 500 und mehr Arbeitern separat ausweist, 21 Betriebe mit insgesamt 25.000 Arbeitern registriert. Dies entspricht einem Durchschnitt von 1250 Mann je Betrieb. Die Standorte der Metall- und Maschinenindustrie verteilen sich relativ gleichmäßig über dörfliche, mittel- und großstädtische Siedlungen. Obschon sie sich mit denen der Textil- und Uhrenindustrie nicht decken, legen sich der Rekrutierung der Arbeitskräfte anfänglich große Schwierigkeiten in den Weg. Dadurch wird auch das langsame Wachstum dieses Industriezweiges teilweise erklärt. Es dauert Jahrzehnte, bis man überhaupt das Bedürfnis verspürt, wissenschaftlich geschultes, höheres technisches Personal einzustellen. Als J . J . Sulzer 1851 den Engländer Charles Brown einstellt, der 40 Jahre später mit einem anderen Ausländer zusammen, Walter Boveri, die weltbekannte Firma gründen sollte, schreibt er: „Daß ein englischer Ingenieur in unser Geschäft kommen sollte, hatte ich mir nie träumen lassen." 29 Heinrich Sulzer und Rudolf Ernst holen ihr technisches „Know how" noch nicht an der 1854 gegründeten E T H , sondern bei Redtenbacher in Karlsruhe 3 0 . Während der ersten 35 Jahre ihres Bestehens diplo-

H o f f m a n n , A n f ä n g e der Maschinenindustrie, 38 ff., 151 ff. E b e n d a , 1 4 8 . N o c h 1 8 7 3 v e r t r i t t J . J . B o u r c a r t in seinem „Katechismus für Baumwollspinnerei", freilich vorwiegend für diesen Produktionszweig, die Meinung, d a ß sich der P r a k t i k e r zur Ausübung aller K a d e r funktionen a m besten eigne, abgesehen v o m D i r e k t o r , der eine Fachschule besuchen müsse. 28

29

30 Ebenda, 1 4 8 . E i n weiteres Indiz für die Abhängigkeit schweizerischer Industrien v o m deutschen „know h o w " und v o m deutschen K a p i t a l zeigt sich e t w a darin, d a ß sich der V e r w a l t u n g s r a t der A l u minium A G im K a n t o n Schaffhausen bis 1 9 1 4 mehrheitlich aus Deutschen zusammensetzt ( E m i l Rathenau, C a r l Fürstenberg, L u d w i g Delbrück usw.). Vgl. Geschichte der Aluminium-Industrie A G Neuhausen 1 8 8 8 bis 1 9 3 8 , 1, 1 9 4 2 .

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miert die E T H insgesamt nur 354 Schweizer als Ingenieure gegenüber 388 Ausländern. Die gesamte Schülerschaft der E T H setzt sich zwischen 1854 und 1890 zu 52,2 Prozent aus Ausländern und nur 47,8 Prozent aus Schweizern zusammen 31 . Ähnlich liegen die Dinge bei den Arbeitern. Sulzer beschäftigt 1836 ausschließlich aus Preußen stammende Gesellen 32 . Der Bildung eines sorgsam ausgesuchten Stammes schweizerischer Arbeiter kommt deshalb noch größere Bedeutung zu als etwa in der Textilindustrie. So entnehmen wir den Jahresberichten verschiedener Schaffhauser Firmen der Metallindustrie, daß man selbst in Flautezeiten weiterproduziert, „weil man die mühsam und mit großen Opfern vereinigten und organisierten Arbeitskräfte nicht wieder in alle Winde zerstieben sehen wollte" 3 3 . Die betriebliche Sozialfürsorge (Kosthäuser, Arbeitersiedlungen) ist vorwiegend auf dasselbe Ziel ausgerichtet 34 . Schon frühzeitig bildet sich unter den Unternehmern ein sozialpolitischer Korpsgeist heraus, der unter einem ähnlichen Vorzeichen steht. 1890 beschließen diese z . B . verbandintern die Einführung des Zehnstundentags. 1897 gründen sie einen Verband für Freizügigkeit schweizerischer Krankenkassen, um die Arbeitsmarktmobilität branchenintern zu kontrollieren 35 . Dieser Art Sozialpolitik kommt indessen auch Präventivcharakter gegenüber gewerkschaftlichen Vorstößen zu. In der Maschinenbranche entstehen denn auch die schärfsten sozialen Konflikte nicht im Kampf um soziale Postulate, sondern im Ringen um die faktische Ausübungsmöglichkeit des Koalitionsrechtes. Versuche, die Gewerkschaften vor der faktischen Verkümmerung des rechtlich unangefochtenen Koalitionsrechtes von Staats wegen gesetztlich zu schützen, sind zwar in der Schweiz häufig unternommen worden. Sie scheitern aber immer am Argument, daß Privatpersonen dieses Recht ja gar nicht verletzen könnten. Die A . Furrer, Volkswirtschafts-Lexikon der Schweiz, 2, 1 8 8 9 , 5 9 3 . Hoffmann, A n f ä n g e der Maschinenindustrie, 146. 3 3 Schweizerische Industriegesellschaft Neuhausen a m Rheinfall 1 8 5 3 bis 1953, 1953, 318 und passim; ähnlich: Schriftenreihe z u m 150jährigen Bestehen der Georg-Fischer-Werke, Soziales Wirken, v o n J . Müller ( 1 9 4 9 ) , passim. 31

32

3 4 Schweizerische Industriegesellschaft, 3 3 4 ; Schriftenreihe zum 1 5 0 j ä h rigen Bestehen, 29 ff., 4 4 ff. 35

Ebenda, 64.

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gewerkschaftsfreundliche Rechtsprechung vermag sich also nur da auszuwirken, wo Gewerkschaften bereits als Partner auf dem Arbeitsmarkt Anerkennung gefunden haben, z. B. in der Uhrenindustrie. In der Metall- und Maschinenindustrie werden aber Organisierte systematisch ausgesperrt oder ferngehalten 36 . Der Seniorchef von Georg Fischer in Schaffhausen bemerkt um 1900 lakonisch: „Ich verkehre prinzipiell nicht mit Korporationen." 3 7 Die Stellungnahme der schweizerischen Metall- und Maschinenindustriellen unterscheidet sich also nicht wesentlich von derjenigen ihrer deutschen Kollegen, nur daß die Schweizer nicht alles haargenau kopieren. So können sich in der Schweiz außer bei Sulzer die betriebseigenen gelben Werkvereine nicht durchsetzen 88 . Wirkungsvoller ist es, die potentiellen Gewerkschaftsführer unter den Arbeitern ihrer Organisation durch Beförderungen zu entfremden oder ihren Aufstieg vom indirekten Beitritt zur freisinnigen Partei (Zugehörigkeit zu einer freisinnigen Krankenkasse) abhängig zu machen 39 . Aber trotz diesen antigewerkschaftlichen Präventivmaßnahmen kommt es auch in der Schweiz zu heftigen Streiks in der Metallund Maschinenbranche. Als Reaktion darauf erfolgt 1905 die Gründung eines nach deutschem Vorbild gestalteten Arbeitgeberverbandes 40 . Wie jener schränkt er die Unternehmerfreiheit nach dem Muster gewerkschaftlicher Disziplin entscheidend ein. Der 3 6 So sind 1891 v o n 1 8 0 0 Arbeitern der F i r m a Sulzer nur 7 5 und 1 9 0 2 v o n 1 1 0 0 Arbeitern der F i r m a Escher-Wyss nur 1 7 0 organisiert; vgl. A . Büchi, V o m Verdingbub zum Gewerkschaftssekretär, 1 9 3 8 , 4 1 ; Jahresbericht des schweizerischen Arbeitersekretariates 1 9 0 2 / 0 3 , 4 2 . 37

Jahresbericht des Schweizerischen

Gewerkschaftsbundes

1898/1899,

35. 3 8 A . Strässle, E d u a r d Sulzer-Ziegler 1 8 5 4 — 1 9 1 3 , 1968, bes. 1 1 2 f.; Strässle geht freilich nicht a u f die aufschlußreichen Beziehungen Sulzers zum S t u m m - F r e u n d A l e x a n d e r Tille ein. Dessen darwinisches sozialpolitisches C r e d o hat Sulzer genau befolgt. Vgl. F. Szell, Die Gelben, 1913, 69, 87. 3 8 Vgl. die handschriftlichen Erinnerungen des Metallarbeiters F r i t z Vogelsanger im Archiv des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes. Vgl. die Statuten der freisinnigen Solothurner Alters- und Sterbekasse von 1 9 1 0 , durch deren Zugehörigkeit man automatisch Parteimitglied wird, bei Szell, Die Gelben, 16. 4 0 Jahresberichte des Arbeitgeberverbandes der Maschinenindustrie ab 1 9 0 6 , insbesondere 1 9 1 0 ; daselbst ein R e f e r a t v o n Sulzer-Ziegler, d e r treibenden K r a f t der G r ü n d u n g .

10

Kellenbenz,

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Arbeitsmarkt des ganzen Industriezweiges wird mit den überall üblichen Mitteln kollektiver Kontrolle von einer Zentralstelle aus überwacht. Streiks mit bürgerkriegsähnlichen Begleiterscheinungen, in denen der Staat mit Militärgewalt einseitig auf die Seite der Unternehmer tritt, sind keine Seltenheit mehr. Kantonale Streikgesetze, die nach deutschem Muster das Streikrecht durch strafrechtliche Verfolgung de facto illusorisch machen, gehören ebenfalls in diese soziale Landschaft. Die gewerkschaftliche Organisation hätte indessen nicht nur die Aufgabe erfüllen wollen, als anerkannter Partner auf dem Arbeitsmarkt zu wirken. Im Hinblick auf die ausländische Provenienz vieler Arbeiter hätte und hat sie tatsächlich auch eine integrierende Funktion gehabt, indem sie dem Fremden ein gewisses Heimatgefühl zu gewähren versucht. Das Bedürfnis nach sozialer Eingliederung nimmt in dem Maße zu, in dem der Ausländeranteil innerhalb der Arbeiterschaft steigt. In der T a t : Häufigkeit, U m f a n g und Kampfstimmung korrelieren bei Streiks mit der Anzahl von Fremdarbeitern, die in einem Erwerbszweig beschäftigt sind. Die heftigsten sozialen K ä m p f e finden mithin im Baugewerbe statt. Die streiklustigen Ausländer gehen nicht selten so weit, die besonnene schweizerische Minderheit zu terrorisieren. Der Basler MaurerStreik von 1903 zeigt z. B. schlaglichtartig, wie sich auch der immer noch demokratisch denkende Schweizer Arbeiter, getrieben von italienischen Heißspornen wie dem jungen Mussolini, mit dem Anardiosyndikalismus und dem Generalstreikgedanken zu befreunden beginnt. Diese Radikalisierung wird nun, so paradox es klingen mag, durch die Institution der direkten Demokratie geradezu gefördert. Die großen Mehrheiten, mit denen die Stimmbürger die kantonalen Streikgesetze gutheißen, zeugen von einer weit über die Arbeitgeberkreise hinausgehenden antigewerkschaftlichen Volksstimmung. Denn der Streik erscheint als Vorstoß gegen die demokratischen Spielregeln. Man empfindet die kämpferische Interessenwahrung einer Massenbewegung als Versündigung gegen die demokratische Lehre, wonach Staat und Volk identisch seien. N u n sind es aber gerade die politisch rechtlosen Ausländer, die von den Streikgesetzen am stärksten betroffen werden. Der schweizerische Gewerkschaftsbund zählt zu Beginn des 20. Jahrhunderts 50 Prozent Ausländer in seinen Reihen. Je mehr aber den Ausländern die

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Möglichkeit geraubt wird, ihre Interessen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Kampfmitteln zur Geltung zu bringen, desto mehr verstärkt sich der revolutionäre Anardiosyndikalismus, und desto mehr solidarisiert sich auch der Schweizer Arbeiter mit solchen Strömungen. 1903 hatte der gemäßigte Gewerkschaftsführer Herman Greulich, der schweizerische Legien, eine gewerkschaftliche Streikdoktrin ausgearbeitet, in welcher der Streik nur als „ultima ratio" anerkannt wird. Einige Jahre später, nachdem in Deutschland die Gewerkschaften den Massenstreik abgelehnt haben, bekennt sich der schweizerische Gewerkschaftsbund zum proletarischen Klassenkampf. Robert Grimm verkündet, jeder Streik enthülle den Klassencharakter des bestehenden Staates; die Gewerkschaften seien revolutionärer als die sozialdemokratische Partei 4 1 . Wirken die Gewerkschaften in Deutschland dämpfend auf die revolutionäre Ideologie der Sozialdemokratie, stellen sie in der Schweiz zu Beginn des 20. Jahrhunderts infolge des großen Ausländeranteils das eigentlich revolutionäre Element dar und radikalisieren die Sozialdemokratie in diesem Sinne. Mit diesem Überblick über die erwerbsspezifischen Eigenarten typischer schweizerischer Teilarbeitsmärkte bin ich am Schluß meiner Ausführungen angelangt. Auch in der Schweiz führt das überschnelle wirtschaftliche Wachstum zu Disproportionen auf dem Arbeitsmarkt. Sie verursachen soziale und damit auch politische Konflikte. Sie potenzieren sich gegenseitig und entladen sich schließlich, am Ende des Ersten Weltkrieges, in einer revolutionsähnlichen Krise, dem Landesgeneralstreik. So betrachtet, scheint mir die Arbeitsmarktforschung zur Erhellung wachstumsbedingter Konfliktsituationen nicht Unwesentliches beitragen zu können. 4 1 W . Hirsch-Weber, Gewerkschaften in der Politik, von der Massenstreikdebatte zum Kampf um das Mitbestimmungsrecht, 1959, 10 f.; E. Gruner, Die Parteien in der Schweiz, 1969, 131 ff.

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