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German Pages 375 Year 1989
CHRISTINA M. SAUTER
Wilhelm von Humboldt und die deutsche Aufklärung
Historische Forschungen Band 39
Wilhelm von Humboldt und die deutsche Aufklärung
Von
Christina M. Santer
Duncker & Humblot . Berlin
CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Sauter, Christina M.:
Wilhelm von Humboldt und die deutsche Aufklärung / von Christina M. Sauter. - Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Historische Forschungen; Bd. 39) Zugl.: Köln, Univ., Diss., 1987 ISBN 3-428-06677-4 NE:GT
Alle Rechte vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 3-428-06677-4
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Herbst 1987 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen. Geweckt wurde mein Interesse für dieses Thema in den Seminaren von Herrn Professor Dr. Clemens Menze; seinen Lehrveranstaltungen verdanke ich einen ersten Einblick in die Gedankenwelt des Neuhumanismus. Seinem Lehren, seiner mir entgegengebrachten Geduld sowie seiner menschlichen Anteilnahme in schwierigen Phasen der Arbeit verdanke ich den erfolgreichen Abschluß der Dissertation. Ich möchte ihm, meinem akademischen Lehrer, deshalb an dieser Stelle besonders herzlich danken. Auch Herrn Professor Dr. Eugen Schütz, dem Koreferenten, sage ich Dank, nicht zuletzt für seine wohlwollend-kritischen Anmerkungen zu meiner Sicht des achtzehnten Jahrhunderts. Auch außerhalb der Universität stand mir eine treue Schar lieber Helfer zur Seite: allen voran meine Familie sowie Judith und Olaf Nüsser. Ihnen allen schulde ich Dank. Dem Verlag Duncker & Humblot danke ich für die Aufnahme der Dissertation in die Reihe "Historische Forschungen" und seinen Mitarbeitern für ihre Beratung bei der Drucklegung. Würzburg, im Mai 1989
Christina M. Sauter
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ........................................................
9
1.1 Die Frage nach der Weltstellung des Menschen im achtzehnten Jahrhundert......... .............. ..... ............. .. ............
9
1.2 Eine Antwort der Pädagogik: Der Philanthropismus .................
18
2. Humboldts Ausbildung .............................................
34
2.1 Erster Unterricht Humboldts .....................................
34
2.2 Im Kreise der ,Berliner Aufklärung' ...............................
39
2.2.1 Der Unterricht bei Johann Jakob Engel .......................
46
2.2.1.1 Die Unterweisung in die Logik .......................
50
2.2.1.2 Die Metaphysikvorlesung ............................
65
2.2.1.3 Einführung in die praktische Philosophie
..............
87
2.2.2 Die Beschäftigung mit der ,rationalen Theologie' ...............
90
2.2.3 Der Unterricht bei Ernst Ferdinand Klein .....................
99
2.2.4 Der Unterricht bei Christian Wilhelm von Dohm ............... 115 2.3 Das Studium in Frankfurt an der Oder
122
3. Neuorientierung ................................................... 124 3.1 Das Studium in Göttingen (April 1788 bis Juli 1789) ..... . ........... 124 3.1.1 Das Jurastudium bei Schlözer und Pütter ..................... 126 3.1.2 Die Wissenschaftspraxis in Göttingen - Die Popularphilosophie und Schlözers Methodik .................................... 130 3.1.3 Das Studium bei Christian Gottlob Heyne
.................... 138
3.2 Reflexionen über den Umgang mit Menschen ....................... 173 3.3 Die ,Reise nach dem Reich'
...................................... 178
3.3.1 Gespräche mit Dohm über den Staatszweck ................... 180 3.3.2 Das ,Preußische Religionsedikt' von 1788 ..................... 184 3.3.3 Die Freundschaft mit Georg Forster .......................... 192
8
Inhaltsverzeichnis
4. Humboldts neue Vorstellung von Mensch und Weit
224
4.1 Die Reise nach Paris und in die Schweiz ........................... 224 4.1.1 Humboldt und die Vorgänge in Paris im Sommer 1789 .......... 225 4.1.2 Vorüberlegungen zu einem Studium des Menschen und die ersten Ansätze zu einer ,Theorie der Beobachtung' ................... 227 4.1.3 Der Besuch bei Lavater - Anlaß zu einer ersten WeItdeutung ..... 230 4.2 Humboldt und die zeitgenössische Anthropologie .................... 249 4.3 Humboldts Kritik am Philanthropismus ........................... 257 4.4 Zwischenbilanz: Zur Rolle der Ästhetik in Humboldts Welt- und Men-
schenverständnis ............................................... 267
4.5 Auf der Suche nach einer Philosophie, ,welche eigentlich sähe' - Humboldts Begegnung mit Jacobi ..................................... 269 4.6 Erste Annäherung an Kant
...................................... 294
4.7 Der Mensch ist das Ganze - Humboldts neue Auffassung vom Menschen 309 S. Humboldt und seine ,Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' ........................................... 321
5.1 Zur Vorgeschichte der ,Staatsschrift' von 1792 ...................... 321 5.2 Eine Interpretation zu den ,Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' ............................ 329 5.2.1 Die Anthropologie der ,Staatsschrift· ......................... 330 5.2.2 Humboldts neue Staatsauffassung ........................... 354 Nachwort ........................................................... 363 Quellen- und Literaturverzeichnis
365
Anhang ............................................................. 372
1. Einleitung 1.1 Die Frage nach der Weltstellung des Menschen im achtzehnten Jahrhundert Ist sich bereits die Spätaufklärung keineswegs einig in der inhaltlichen Präzisierung dessen, was ,Aufklärung' ist und bewirkt, so zieht sich doch durch alle Kontroversen als einheitlicher, ihren gemeinsamen Ausgangspunkt markierender Zug die Auffassung durch, daß sie zu tun hat mit dem "Endzweck, wozu man bestimmt ist"l. Fallen auch die Antworten auf die Frage nach diesem letzten Zweck menschlichen Daseins je nach der eingenommenen philosophisch-weltanschaulichen Grundposition unterschiedlich aus, so herrscht doch weitgehende Übereinstimmung darin, daß der Mensch grundsätzlich mit der wie auch immer gedeuteten ,Vernunft' ein hinreichendes Erkenntnisvermögen besitzt, um seinen Daseinszweck zu erforschen. Im Zuge dieses Interesses des Menschen am Menschen steigt die Anthropologie auf zu einer vielumworbenen Wissenschaft, in der Erkenntnisse über die geistige und körperliche Natur des Menschen zusammengetragen werden; neue Theorien werden aufgestellt über den möglichen Zusammenhang von Körper und Geist, Kräfte und Fähigkeiten des Menschen werden analysiert. Dabei beruhen alle Aussagen über den Menschen auf dem Diktum der einen, stets unveränderlichen Menschennatur; diese Vorstellung erlaubt es, alle beobachteten unterschiedlichen Erscheinungsweisen der Menschen auf eine Grundform zurückzuführen, auf die hin die aufgestellten Theorien und Bestimmungen Gültigkeit beanspruchen. Die Frage nach dem Wesen des Menschen und dem Zweck seines Daseins wird in der Neuzeit zu einem beherrschenden Thema; die bislang geltenden Vorstellungen über die Stellung des Menschen im Kosmos werden erschüttert durch neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse. Es markiert den Beginn der Neuzeit, daß einhergehend mit neuen Einsichten des Menschen über den Menschen naturwissenschaftliche Entdeckungen ein neues Bild von der Rolle der Erde im Kosmos vermitteln, die nun eine Klärung der Stellung des Menschen im Gesamtgefüge verlangen. 2 Die Erde verliert zuneh1 So die zu einer Standardformulierung gewordene Redewendung, die Johann Joachim Spalding in seiner 1748 erschienenen ,Betrachtung über die Bestimmung des Menschen' geprägt hat. Dieses Werk findet im 18. Jahrhundert dank zahlreicher Auflagen eine weite Verbreitung. 2 Für Hans Blumenberg sind die naturwissenschaftlichen Entdeckungen gerade des 16. und 17. Jahrhunderts das Ergebnis einer in den Geisteswissenschaften dieser Zeit
10
1. Einleitung
mend im Bewußtsein ihrer Bewohner ihre zentrale Position im Universum, sie wird zu einem "Stern unter Sternen "3. Die terristische Autarkie wird unterstrichen durch Newtons neue Bewegungslehre, die den Ansatz eines ,ersten unbewegten Bewegers' als unbedingte Denknotwendigkeit aufhebt. Das neue Verständnis von der Welt lenkt den Blick des Menschen auf die Erde und initiiert die Denkbewegung, die - wie Hannah Arendt sie skizziert4 - dem Menschen den Blick dafür freigibt, daß es auch im kosmologischen Geschehen keine Fixpunkte mehr gibt, vielmehr alles in Bewegung ist und dem Seienden auf Erden nur je relativer Wert beigemessen werden kann. Die hierdurch aufgeworfenen Fragen richten sich keineswegs nur an die Naturwissenschaften, sondern ihre existentielle Problematik wird an die Philosophie und an die Anthropologie herangetragen. Gesucht wird nach einer Lösung, die ein neues gesamtheitliches Konzept über die Weltstellung des Menschen, über seine Funktion im Ganzen vorstellt. Die Suche wird umso dringlicher, als neuere wissenschaftliche Ergebnisse auch theologische Aussagen über die Stellung der Erde und damit des Menschen im Kosmos widerlegt haben, was zur Folge hat, daß die darauf aufbauenden kirchlichen Lehrmeinungen ins Wanken geraten. Die theologische Interpretation der Welt ist obsolet geworden, soweit sie sich auf die Naturzu beobachtenden Umorientierung: "Der unbefangene Blick zum Sternenhimmel steht erst am Ende des Durchgangs durch die Philosophie, nicht an ihrem Anfang. (In: Die Genesis der kopernikanischen Welt. Frankfurt/M. 1981, S. 21) So weist er in seinem Aufsatz ,Der kopernikanische Umsturz und die Weltstellung des Menschen' (in: Studium Generale 8, 1955, S. 637ff) darauf hin, daß Kopernikus nur soweit, wie es die zeitgenössische Anthropologie es zuließ, seine Entdeckungen zu einem neuen kosmologischen System zusammenfügen konnte; sein kosmischer Umbau war "nur noch eine Vollstreckung" (S. 640) eines Umdenkens, demgemäß der Mensch "aus der kosmischen Struktur (... ) für sich keine Konsequenzen ziehen kann; denn "kein ,Motiv' bindet die potentia absoluta Gottes, und der Mensch ist ohnmächtig, in dem Streben auszumachen, ob die Welt für ihn oder gegen ihn, zu seinem Heil oder Unheil geschaffen worden ist" (S. 639). 3 Hans Blumenberg, Das Fernrohr und die Ohnmacht der Wahrheit, in: Galileo Galilei, Sidereus Nuncius; Nachricht von neuen Sternen, Dialog über die Weltsysteme (Auswahl), Vermessung der Hölle Dantes, Marginalien zu Tasso. Hg. und eingel. von Hans Blumenberg. Frankfurt/M. 1965, S. 21. Blumenberg deutet die Auswirkung auf das menschliche Bewußtsein positiv, wenn er darauf hinweist, daß in Galileis Ansatz "nicht der Himmel abgeschafft, sondern die Erde zum Himmel erhoben [worden ist]. Das ist deshalb für das Verständnis der geschichtlichen Zusammenhänge nicht gleichgültig, weil nur unter dieser Voraussetzung der Kopernikanismus eben nicht als die große Enttäuschung und Erniedrigung des Menschen erfahren wurde, als die ihn schließlich Nietzsche empfinden sollte." (Ebd., S. 26) Für das 18. Jahrhundert ist ein ambivalenteres Bild zu zeichnen. Neben einem "prometheische(n) Ich- und Weltgefühl" flößt das sich dem menschlichen Erkennen als unendlichen Raum auftuende Universum "jenen Schauder vor dem Unbekannten und Sinnlosen ein, der im berühmten Satz Pascals über die erschreckende "silence eternel de ces espaces infinis" so deutlich geworden ist". (Panajotis Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981, S. 237) Abzulesen ist eine solche ambivalente Haltung an den Schriften von Georg Forster, wozu in Kap. 3.3.3 die entsprechenden Zitate aufgeführt werden. 4 s. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben. Ndr. München 1981, S.252ff.
1.1 Die Frage nach der Weltstellung des Menschen
11
wissenschaften zur Untermauerung ihrer Ansichten bezogen hat. Die von dem Erdbeben in Lissabon im Jahre 1755 ausgelösten Erschütterungen auf geistigem Gebiet sind Indikator für die latente Unsicherheit dieser Zeit auch im Hinblick auf das Verhältnis eines als Schöpfer und Bewahrer verstandenen Gottes zu seiner Schöpfung. Es unterscheidet sich aber die Entwicklung im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts von den Verhältnissen in anderen europäischen Ländern, vor allem in Frankreich, dadurch, daß die Vorstellung von einem vollständigen Verzicht auf jede Letztbegrundung in einem Schöpfergott zunächst keine Rezeption erfährt. Vielmehr lassen sich im Verlaufe dieses Jahrhunderts vermehrt Anstrengungen erkennen, den christlichen Gott mit dem gängigen philosophischen Denkgebäude kompatibel zu machen, indem Mensch, Welt und Gott in ein der Vernunft nicht widersprechendes Miteinander gebracht werden. Dieses Konzept aber muß sich wie jede philosophische Idee der Diskussion um ihre Erweisbarkeit stellen. Die Antwort der christlichen Religion verliert damit ihre herausragende Stellung, sie wird nur zu einer der möglichen Antworten. Insofern, als der christlichen Vorstellung über die Stellung des Menschen in der Welt keine unangefochtene Allgemeingültigkeit mehr zukommt, kann von einer anhebenden Säkularisierung gesprochen werden. Ihre letzte entscheidende Niederlage erlebt die Konzeption der ,theologia rationalis' mit dem Niedergang der Schulphilosophie, an deren Rationalitätskonzept sie auch ihren Weltbegriff geknüpft hat. Der Weg wird frei für neue Konzeptionen, die die Stellung des Menschen im Ganzen neu verorten. Einen ersten wesentlichen Schritt auf diesem Weg bildet die Philosophie Descartes'; sie löst die menschliche Erkenntnisfähigkeit aus der mittelalterlichen Vorstellung vom göttlichen Licht, das den Menschen überhaupt zur Einsicht befähigt, und erhebt stattdessen den menschlichen Verstand zu dem Vermögen, das in seinem Vollzuge dem Menschen Gewißheit seiner Existenz verbürgt. Mit dem Ansatz des ,ego cogito - ego sum' wird das reine Denken des Ichs zum unbezweifelbaren Fundament allen Wissens und aller Erkenntnis der Außenwelt. Vermag die Cartesianische Philosophie im Denken eine Einheit zwischen Mensch und Welt zu stiften, so reißt dieser philosophische Ansatz die neugewonnene Verbindung sogleich umso tiefer auseinander, als er eine scharfe Trennungslinie zwischen der res extensa und der res cogitans zieht. Nun geht der Riß mitten durch den Menschen, was auch die Influxus-physicus-Theorie nicht überdecken kann. Ist dem Menschen in dieser Philosophie die Möglichkeit eröffnet worden, in seinem Denkvollzug einen sicheren Halt aufzusuchen, von dem her er sich seiner Welt vergewissern kann, so findet er sich und die Welt sogleich in einer heillosen Zerrissenheit vor, aufgespalten in die beiden Sphären der res extensa und der res cogitans.
12
1.
Einleitung
Gegen diese Aufspaltung ist Spinozas konsequenter Monismus gerichtet, der mit der Verschmelzung von ,Gott' und ,Natur' geradezu das Losungswort für die Konzeption einer neuen, alle Gegensätze aufhebenden Idee vom Ganzen vorgibt. Seine Lehre trifft jedoch das Verdikt der Zeitgenossen, in der Aufhebung der Willensfreiheit des Menschen zu münden.5 Denn - so die Argumentation der Kritiker - wenn alles in Gott ist, weil Gott die Ursache der Existenz aller Dinge ist und nichts ohne ihn begriffen werden kann, dann ist alles Existierende in seiner Existenz von Gott abhängig, sind alle Dinge in ihrem Wesen nur Wirkung der einen göttlichen Substanz. Was die Gesetzmäßigkeit des Geschehens in der Natur begründet, bestimmt auch das Handeln des Menschen. Alles ist durch Gott prä-destiniert. Aus Spinozas Ansatz ergibt sich für die Weltstellung des Menschen, daß der einzelne sich als Teil des Ganzen, der einen göttlichen Substanz, vorfindet. Seine Zugehörigkeit zum Ganzen vermittelt ihm einen bestimmten Ort im Gesamtgefüge, wie auch dieser Ort zugleich ihn in allen seinen Bezügen festlegt. Hieraus erwächst der Vorwurf der Gegner Spinozas, ,sein' Mensch sei ein völlig determiniertes Wesen, dem die Möglichkeit zu einer selbstverantworteten Lebensgestaltung völlig genommen worden ist. Der sichere Platz des Menschen im Kosmos ist in der Spinozistischen Philosophie mit dem Verzicht auf die Willensfreiheit erkauft. Dem Determinismusverdacht der Spinozischen Lehre zu entgehen wie auch den Cartesianischen Dualismus zu überwinden, ist eine Intention, die Leibniz mit seiner ,Monadologie' verfolgt. Und der breite Rezeptionsstrom im achtzehnten Jahrhundert zeigt an, daß die Zeitgenossen diese Lehre als eine adäquate Antwort auf ihre Frage nach der Einheit, Freiheit und Autonomie des Menschen verstanden haben. Die Leibnizsche Ansicht vom Menschen und der Welt, die in seiner Lehre vom Optimismus gipfelt, wie auch seine Theodizee werden gerade in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts dankbar aufgenommen, eröffnen sie doch dem Menschen die Aussicht, auf der großen Stufenleiter aller Wesen6 einen sicheren Platz einzu5 Hatte sich Moses Mendelssohn noch genötigt gefühlt, gegen die Behauptung Friedrich Heinrich Jacobis, Lessing sei Spinozist gewesen, vehement zu Felde ziehen zu müssen, sah er doch den guten Ruf seines verstorbenen Freundes in Gefahr, so ist zum Ende des 18. Jahrhunderts eine gewandelte Einstellung zur spinozistischen Philosophie zu beobachten; ausgelöst wird diese Entwicklung nicht zuletzt durch Jacobis Replik auf Mendelssohns Gegendarstellung in seiner 1785 erschienenen Schrift ,Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn M. Mendelssohn'. Nun wird Spinoza paradoxerweise als der große Befreier gefeiert: "Man hat in ihm den Vermittlungsdenker gesucht, der die Freiheit über allem und die Gesetzmäßigkeit in jedem, das Eine, das not tut und die Mannigfaltigkeit des Tunlichen philosophisch zu reintegrieren versprach, um das geistige Leben vor seinem Verfall zu retten. Ob herein- oder herausgelesen, sein Name stand für die Gewißheit höherer Synthesis, einer religiösen Weltanschauung und Lebenshaltung oberhalb von Rationalismus und Gefühlskultur, Paläologie wie Neologie." (Hermann Timm, Gott und die Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Band 1: Die Spinozarenaissance. Frankfurt/M. 1974,
S.7)
1.1 Die Frage nach der Weltstellung des Menschen
13
nehmen. Die Popularität der ,Monadologie', die über ihre Aufnahme und Weiterverarbeitung in der Philosophie Christi an Wolffs Eingang in die Schulphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts gefunden hat, führt dazu, daß sie einem ständigen Auf- und Umarbeitungsprozeß unterliegt, sie mit der ihr diametral entgegenstehenden Philosophie John Lockes verknüpft und so - unbekümmert um die innere Stringenz der Leibnizschen Lehreden zeitgängigen philosophischen Vorstellungen angepaßt wird. Auf diese Weise tritt sie uns in den Schriften der Spätaufklärung in den vielfältigsten Umkleidungen entgegen; denn noch immer wird diese Konzeption als maßgeblich für die Deutung des Menschen und seiner Stellung im Weltganzen empfunden. 7 Das Charakteristische an Leibniz' Ansatz der Monade als der einfachen, unräumlichen und immateriellen Substanz ist das entelechiale Prinzip, das er jeder Monade beilegt, welches ihre Einheit, Freiheit und Individualität verbürgt. Die Monade bedarf, wie die Redewendung von der ,Fensterlosigkeit' der Monade besagt, zu ihrem Tätigsein weder der Einwirkung von außen, noch ist eine Beeinflussung von außen durch andere Substanzen möglich. Vielmehr trägt sie ihr Werdegesetz in sich, das sie mittels Selbsttätigkeit zur Entfaltung bringt. Was auf diese Weise zum Vorschein kommt, sind ihre inneren Bestimmungen, und das Ensemble aller ihrer vergangenen, gegenwärtigen oder zukünftigen, kontingenten oder notwendigen Bestimmungen machen ihre Individualität aus. Ihr Erscheinen in der Wirklichkeit ist das Ergebnis der vorgängigen Zusammenstimmung mit allen anderen Substanzen. Anders ausgedrückt: in die wirkliche Welt gelangen nur die Substanzen, die sich apriori harmonisch in das Gesamtgefüge einpassen. 8 Mithin ist die Kompatibilität der Monade keine von außen erfolgte Zurechtstutzung auf einen bestimmten Platz im Weltaufbau, sondern der individuellen Substanz inhärent. Diese als prästabiliert angesetzte Harmonie aller Substanzen miteinander garantiert die universelle Harmonie in der wirklichen Welt. Diese Vorstellung von einer prästabilierten Harmonie ermöglicht den Ansatz einer ideellen Verknüpftheit aller Substanzen, ohne die Idee der Individualität der Monade aufgeben zu müssen. Hieraus folgt, daß alles im Kosmos miteinander in Verbindung steht, weswegen Leibniz von der Monade als individuellem Spiegel des gesamten Universums sprechen kann. Dieses Repräsentationsverhältnis wird verglichen mit dem Blickwinkel, 6 Die Wirkungsgeschichte dieser Metapher hat Arthur O. Lovejoy in seiner Untersuchung ,The great Chain of Being. A Study of the History of an Idea' (1. Aufl. 1936) Cambridge/Mass. 91970 nachgezeichnet. 7 Ein neues Kapitel der Rezeptionsgeschichte der Leibnizschen Monadologie hat schließlich der Neuhumanismus aufgeschlagen. s. hierzu die Abhandlung von Clemens Menze, Leibniz und die neuhumanistische Theorie der Bildung des Menschen. Opladen 1980. 8 Zum Ansatz des Schöpfungsdekrets s. Aron Gurwitsch, Leibniz. Philosophie des Panlogismus. Berlin/New York 1974, S. 207ff.
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1. Einleitung
unter dem ein Beobachter von seinem Standort aus einen Gesamtüberblick über die Stadt erhält; unmetaphorisch ausgedrückt: jede Monade stellt die Mannigfaltigkeit der ganzen Welt aus ihrer Sicht dar. Als Konsequenz aus diesem Ansatz folgt die maßgebliche Bestimmung: "Chaque ame est comme un monde a sa mode et suivant son point de vue. "9 Mithin bildet jede Monade eine Welt im Kleinen, und als diese Welt hat sie teil am Ganzen des Universums. Als einfache, individuelle Substanz bestimmt, die ihr Werdegesetz in sich trägt, kann sie ihren Beitrag zum Gesamtgeschehen nur leisten, indem sie ihre inneren Anlagen zur Entfaltung bringt. Die Monade ist als Teil des Ganzen zugleich das Ganze selbst, das sie von ihrem Standpunkt aus repräsentiert. Es ist für die weitere Rezeption der Leibnizschen ,Monadologie' wesentlich, daß Wolff diese Auffassung von der Rückbezogenheit des Ganzen auf seine Teile, in denen es sich in seiner Totalität widerspiegelt, nicht übernommen hat und damit zu einer von Leibniz abweichenden Bestimmung der Stellung des Menschen innerhalb der staatlichen Gemeinschaft gelangt.1 0 Mit dem Verlust ihrer Repräsentation des ganzen Universums wird die Monade in der Philosophie Wolffs zu einem bloßen Teil des Ganzen, das ihr vorgeordnet ist und ihren Platz und ihre Aufgabe im Staat bestimmt. Aus der Leibnizschen einfachen Substanz, die das Ganze der Welt aus der ihr eigenen Perspektive widerzuspiegeln vermag und zugleich selber das Ganze mitkonstituiert, ist ein einfaches Ding geworden, das nur noch partiell das Wesen der Welt auffaßt, "oder so viel von der Welt, als es die Stellung ihres Cörpers in der Welt leidet, folgends, da die Würckungen der Seele aus ihrer Kraft herrühren (§. 744.), hat die Seele eine Kraft sich die Welt vorzustellen, nach dem Stande ihres Cörpers in der Welt" 11. Zu diesem neuen Verständnis von dem einfachen Ding - so Wolffs Bezeichnung für die einfache Substanz - gelangt Wolff unter dem Einfluß der Philosophie Lockes. Er gibt die mit der ,Fensterlosigkeit' umschriebene Abgeschlossenheit der Monade von jeder Einwirkung von außen auf, indem er den Empfindungen als dem Tor der Seele zur Außenwelt Einlaß in die Monadenlehre gewährt. Und diese Abänderung führt zu erheblichen Umdeutungen des Monadensystems Leibniz', weswegen sich Wolff stets gegen 9 Leibniz in einem Brief an die Kurfürstin Sophie vom 4. November 1696, in: Die philosophischen Schriften von G.W. Leibniz. Bd. 1-7. Hg. v. C.J. Gerhardt. Berlin 1875-1890.Bd. 7, S. 542. 10 Die enge Verbindung zwischen der Ansicht Christian Wolffs über die Stellung des Menschen im Gesamtgefüge und dem Menschenbild, das der Regierungspraxis des preußischen Königs Friedrich 11. zugrunde lag, hat Heinrich Böckerstette in seiner Dissertation ,Aporien der Freiheit und ihre Aufklärung durch Kant'. Stuttgart 1982, S. 136ff aufgezeigt. 11 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. Halle 111751. Hg. von C.A. Corr. Hildesheim 1983, § 753. (Im Folgenden abgekürzt mit DMet.)
1.1 Die Frage nach der Weltstellung des Menschen
15
die bereits zu seinen Lebzeiten aufgekommene Redeweise von einer LeibnizWolffschen Philosophie gewehrt und darauf hingewiesen hat, daß ihm die Monadologie stets rätselhaft geblieben sei; zu deutlich ist ihm die Neuheit seines Ansatzes trotz aller Anleihen bei Leibniz bewußt. Mit Wolffs Abänderungen ist zunächst einmal der in der Leibnizschen Theorie der individuellen Substanz liegende Ansatz zur Deutung des Menschen in seiner unaufhebbaren Individualität verschüttet. (Anhand des Philanthropismus werden im nächsten Unterkapitel die Implikationen, die sich aus diesen Modifikationen für die Bestimmung des Mensch-Welt-Verhältnisses ergeben, aufgezeigt.) Die Geschlossenheit des Wolffschen Systems, das jeden Wissenschaftsund Lebensbereich mit seinem Rationalitätskonzept zu erfassen und zu gestalten sucht, wie auch die weite Verbreitung seiner Werke machen Wolff zu einem maßgeblichen Denker der Aufklärung (wiewohl sein Stern bereits zu seinen Lebzeiten verblaßte). Auf diese Philosophie wird daher im Laufe der Untersuchung immer wieder rekurriert, um die Voraussetzungen für Humboldts Anfragen und seine Zeitkritik aufzudecken; zugleich kommen auf diesem Hintergrund die vielfältigen, von diesem Rationalitätskonzept sich abwendenden Ansätze der Forster, Lavater, Jacobi, Kant u.a. in ihrer Eigenart in den Blick, die Humboldt neue, ihm bislang unbekannte Denkwege aufzeigen. Auf diese Weise tritt die Zeit der Spätaufklärung in der Mannigfaltigkeit ihrer Konzeptionen in Erscheinung. Die von Wolff selbst thematisierte Abständigkeit seiner Lehre von der Philosophie Leibniz' kommt in der folgenden Bestimmung zum Ausdruck, die den markanten Ausgangspunkt für die aus beider Lehren zu entwikkelnde differente Sicht vom Menschen benennt: es ist dies die Bestimmung Wolffs, sowohl der Seele wie auch dem Körper je eine eigene Kraft zuzuweisen, weshalb Körperwelt und geistige Welt für sich bestehen können12 . Um die hieraus folgende Aufspaltung des Menschen in zwei unverbunden nebeneinander agierende Naturen abzuwenden, ,verfällt' Wolff seiner eigenen Anmerkung zufolge "auf die Erklärung, welche der Herr von Leibnitz von der Gemeinschaft des Leibes mit der Seele gegeben, und die vorherbestimmte Harmonie oder Uebereinstimmung genennet"13 hat. Diese Zusammenstimmung sieht Wolff von Gott initiiert; ihre permanente Geltung bewähren dagegen die beiden grundlegenden Ordnungsprinzipien, der Satz vom auszuschließenden Widerspruch und der Satz vom Grunde, denengemäß Veränderungen im seelischen Bereich denen im körperlichen und im geistigen denen im materiellen Bereich korrespondieren. Auf der universa12 s. DMet., § 765 u. ö. 13 Zu dem mit diesem Ansatz verknüpften Problem der Willensfreiheit in der Philo-
sophie Wolffs s. die Untersuchung von Hans M. Wolff, Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung. Bern 21963, S. l07f.
16
1. Einleitung
len Gültigkeit beider Sätze beruht die gesamte Philosophie Wolffs. Sie bilden die logische wie ontologische Grundregel, deren Geltungsanspruch alle Bereiche des menschlichen Lebens unterworfen werden. (Damit gibt Wolff diesen beiden Sätzen eine weit über deren Anwendung bei Leibnizhinausreichende Bedeutung.) Hierin liegt der Rationalismus der Wolffschen Philosophie begründet wie auch die frappierende Einheitlichkeit und Durchstrukturiertheit seines philosophischen Ansatzes, der die Welt in aufeinander aufbauenden Paragraphen zu fassen sucht. Von seinem philosophischen Verständnis her ist es nur konsequent, wenn Wolff beansprucht, auf diese Weise die Welt in Begriffe und Definitionen einfangen zu können, vermag der Mensch doch in seinem Denkvollzug dank der durch die beiden Grundprinzipien gewährleisteten durchgängigen Rationalität aller Dinge sie in ihrem Wesen zu erfassen, weil der Mensch selber diesen beiden logischen Sätzen gehorcht. Logische und metaphysische Wahrheit bilden deshalb eine Einheit, so das Diktum der Wolffschen Philosophie, auf dem die Erkennbarkeit alles Seienden durch die menschliche Vernunft beruht. Mit der Aufgabe der ,Fensterlosigkeit' der Monade wird auch die bloß ideelle Verknüpftheit der Substanzen untereinander hinfällig. Vielmehr erlaubt der Ansatz der Empfindung den Gedanken von einer direkten Einwirkungsmöglichkeit der Substanzen aufeinander, weswegen sie für Wolff in einer realen Beziehung zueinander stehen. Hieraus ergibt sich Wolffs Rede von der Welt als einem ,zusammengesetzen Ding'14, zusammengesetzt aus den in einer festgelegten Zugehörigkeit zueinander angeordneten veränderlichen Dinge. In dieser Anordnung bilden sie "ein Ganzes, und die Dinge, welche neben einander sind, ingleichen die, so aufeinander folgen, sind ihre Theile"15. Diese Bestimmung von Welt ermöglicht es Wolff, sie als eine Maschine zu bezeichnen und sie zu vergleichen mit der Funktion eines Uhrwerks. Die Welt erscheint hier nicht als ein lebendiger Organismus, sondern wird vorgestellt als ein den beiden Grundprinzipien folgender und damit einsichtiger Mechanismus; damit ist prinzipiell ihre vollständige Erforschbarkeit durch den Menschen gewährleistet. In der Verwendung der Metapher ,Maschine' für die Welt sieht Baruzzi den Versuch des neuzeitlichen Denkens, "den ersten Grund in den Menschen selbst heimzuholen"16. Und dies geschieht "in der Hinwendung zum Gründen als Erzeugen, Herstellen, dem Unterstellen eines maschinalen Prinzips in allen Gründungsvorstellungen" 17. Denn: "Um zu verstehen, muß s. DMet., § 551. DMet., § 550. 16 Arno Baruzzi, Mensch und Maschine. Das Denken sub specie machinae. München 1973, S. 11; s. auch Barbara Stollberg-Rilinger, Der Staat als Maschine. Berlin 1986. 17 Baruzzi, Mensch und Maschine. S.ll. 14 15
1.1 Die Frage nach der Weltstellung des Menschen
17
der Mensch die Begründungszusammenhänge herstellen. "18 "Entscheidend bleibt das Bemühen, Wege der radikalen Aufsichselbststellung des Menschen zu bahnen und in ihnen anzukommen, ob schließlich bei einem Gotte oder mit dem Umweg über einen Gott bleibt vordergründig hinsichtlich der menschenmöglichen Leistung, den Grund immer und überhaupt in der Hand zu halten."19 Ein Weg, diese Selbstermächtigung des Menschen theoretisch zu fundieren, ist das Denken ,sub specie machinae'. Denn Kennzeichen der ,Maschine' ist ihre durchgängige Bestimmtheit, die Voraussehbarkeit und Erklärbarkeit der in ihr ablaufenden Prozesse aufgrund des Wissens um deren Regelhaftigkeit. Und Wolff glaubt, mit dem Satz vom Widerspruch und vom Grunde das Funktionsprinzip der Welt erkannt zu haben. Auf ihr beruht die Wahrheits erkenntnis. Dieses Junktim wird klar in dem folgenden Paragraphen ausgesprochen: "So ist eben deswegen in der Welt Wahrheit, weil sie eine Maschine ist. Solte sie keine Maschine bleiben; so würde zwischen ihr und einem Traume der Unterschied aufgehoben. "20 Hat alles Existierende auf der Welt seinen Existenzgrund, so bedarf die Welt selber als eines zusammengesetzten Dinges dieser Rückführung auf einen letzten Grund, der eine zureichende und notwendige Erklärung dafür liefert, warum sie ist und nicht vielmehr nicht ist. Diesen Grund findet Wolff in dem Ansatz eines notwendig existierenden, selbständigen, einfachen Dinges, dem er den Namen ,Gott' gibt. 21 Um nun weder die neugewonnene Autonomie des Menschen noch die Rationalität der Welt aufgeben zu müssen, setzt Wolff Gott lediglich als den Grund für die Wirklichkeit der Welt ein, während das Geschehen in der Welt von den beiden Grundprinzipien geleitet bleibt. Allein für den Gründungsakt der Welt bedarf es mithin für Wolff eines Eingreifens Gottes, damit der Satz ,ex nihilo nihil fit' weiterhin uneingeschränkte logische Richtigkeit behält, während die Welt, einmal in Gang gesetzt, eigenen Gesetzen gehorcht. Im Weltverlauf tritt Gott nur noch als Garant der uneingeschränkten Geltung beider Grundregeln auf, denen er selbst in seinem Vollzuge unterworfen wird. Mit dieser Unterordnung Gottes unter die beiden Grundprinzipien gelingt es Wolff, seinem Rationalitätskonzept uneingeschränkte Gültigkeit nachzuweisen. Ihr universaler Geltungsbereich, den Wolff selbst durch die Fülle seiner ,Vemünfftigen Gedancken' zu den unterschiedlichsten Wissenschaftsgebieten unterstrichen hat, verschafft diesem Ansatz einen enormen Wirkungsgrad, läßt Wolff zum ,praeceptor Germaniae' werden. Wird diese Lehre zunächst als Befreiung zum Selbstdenken empfunden, eröffnet sie 18
19 20
21
Ebd. Ebd., S. 10. DMet., § 559. s. DMet., §§ 945f.
2 Sauter
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1. Einleitung
doch die Möglichkeit, Einblick in die Strukturen der Welt zu gewinnen, so mehrt sich mit dem Fortschreiten des Jahrhunderts die Kritik an diesem Rationalismus. Neue Einsichten in der Erkenntnistheorie bringen sein Diktum von der Übereinstimmung von logischer und metaphysischer Wahrheit - und damit den Grundpfeiler seines Lehrgebäudes - ins Wanken; mit neuer Heftigkeit stellt sich das Problem, wie der Mensch zur Erkenntnis der Außenwelt gelangen kann. Von neuem sucht der Mensch eine Antwort auf die Frage nach seinem Endzweck, nach dem seiner Bestimmung gemäßen Ort in der Gesellschaft. Die alten naturrechtlichen Konzeptionen erweisen sich angesichts der ihren absolutistischen Herrschaftsanspruch immer stärker hervorkehrenden Regierungspraxis der Fürsten als aporetisch. Die Sicherheit, die Wolff seiner Zeit mit seiner strikten Rationalisierung aller Welt- und Lebensbezüge geben wollte, entpuppt sich als trügerisch. In dieser Umbruchsituation wächst Wilhelm von Humboldt auf. Selber ein Schüler der Spätaufklärung lernt er die ungelösten Probleme kennen, die ihre Menschen- und Weltkonzeption seiner Zeit aufbürden. Seine Suche nach einer Neuorientierung mündet schließlich 1790 in der Entdeckung, daß der Wert des Menschen ausschließlich und unaufhebbar im Menschen selber liegt. Von diesem neuen Menschenbild aus kann er 1792 in seiner Schrift ,Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' die Stellung des einzelnen im Staate neu orten oder zutreffender formuliert: den Staat dem Anspruch des Menschen auf seine Bildung zum Menschen unterordnen. Aus diesem Ansatz ergibt sich eine neuartige Sicht auf die Weltstellung des Menschen.
1.2 Eine Antwort der Pädagogik: Der Philanthropismus Eine Antwort auf die neu aufgeworfene Frage nach der Bestimmung des Menschen sucht der Philanthropismus zu geben. Seine Lehre stößt im späteren achtzehnten Jahrhundert auf große Resonanz. Als Ziel hat sich diese pädagogische Reformbewegung die Aufarbeitung der Ergebnisse der Schulphilosophie zu einer neuartigen Erziehungslehre gesetzt. Erziehung verstehen die Philanthropisten - zu denen als maßgebliche Vordenker Campe, Trapp, Stuve, Salzmann, Basedow und Villaurne gehören - nicht länger mehr als eine Vorbereitung des Menschen auf ein zukünftiges, jenseitiges Leben; vielmehr haben sie die neuzeitliche Umkehrung der Blickrichtung des Menschen auf sich selbst nachvollzogen und eine Lehre entwickelt, deren erklärtes Ziel die Erziehung zum brauchbaren Menschen ist. Ihr Konzept durchzieht der Geist der Philosophie Wolffs, wenn nun der Erziehungsprozeß in einzelne Schritte zerlegt, analysiert und darauf eine systematisch aufgebaute Erziehungslehre gegründet wird. Für ihre Anleitung zum richtigen, d. h. methodisch exakten Erziehen greifen die Philanthropisten auf
1.2 Der Philanthropismus
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Erkenntnisse der anthropologischen Forschung zurück, untersuchen die physischen wie die psychischen Voraussetzungen der Erziehung und befragen und bewerten alle Lebensbezüge des Menschen auf ihren Nutzen für seine Ausbildung hin. Alle diese Ergebnisse werden zu einer Theorie aufgearbeitet, die nicht nur Sollenssätze aufstellt, sondern zugleich praktische Anleitungen an die Hand gibt mit dem Ziel, den einzelnen mittels Erziehung zu dem zu befähigen, wozu nach Ansicht des Philanthropismus der Mensch auf Erden ist, nämlich zu einem glückseligen Leben. Mit dieser Endzweckbestimmung greift diese Lehre auf eine Vokabel zurück, die in den Schriften aus dem achtzehnten Jahrhundert immer wieder auftaucht, um diesem Leitwort neue Akzente zu verleihen. Nicht mehr wird die Glückseligkeit wie in der Philosophie Wolffs als ein bloß wünschenswertes Nebenprodukt des menschlichen Strebens nach Vollkommenheit bewertet, sondern als das zu erzielende Endresultat aller Vervollkommnung des einzelnen. Und gegenüber religiöser Interpretation wird die Glückseligkeit herausgestrichen als ein Gemütszustand, den der Mensch hier auf Erden bereits erreichen kann und soll. Es kennzeichnet den Philanthropismus gegenüber anderen zeitgenössischen Auffassungen vom Menschen, die Glückseligkeit als ein Ziel bestimmt zu haben, das der Mensch zu seinen Lebzeiten mittels Ausbildung seiner Fähigkeiten zu erreichen vermag. Für die Philanthropisten ist es opinio communis, daß "zur Glükseligkeit (... ) uns alle der Schöpfer bestimmt (hat), also hat er uns alle auch dazu die Anlagen, Kräfte und Triebe gegeben, und die ihrer Natur und Einrichtung gemäße Entwickelung und Ausbildung derselben muß also der unfehlbare Weg seyn, zu dem Ziele unserer Bestimmung zu gelangen"22. Auch der Hinweis auf einen ,Schöpfer(gott)' kann nicht verdecken, daß es sich hier um eine rein immanent ausgerichtete Bestimmung des menschlichen Endzwekkes handelt, der zu erreichen ist durch die Entfaltung dessen, was in der Natur des Menschen liegt. Damit ist ein aufs Transzendente ausgedeuteter Daseinszweck keineswegs grundsätzlich ausgeschlossen, nur verliert eine solche Zielsetzung ihren Ausschließlichkeitscharakter. Mit dem Ansatz eines immanenten letzten Zwecks des Menschen macht der Philanthropismus Ernst mit der in der Aufklärung erarbeiteten neuen Sicht vom Menschen als einem autonomen Wesen. Neben dem Immanenzcharakter des philanthropistischen Glückseligkeitsbegriffes kennzeichnen diesen die zwei Bedingungen, ohne die dieses 22 Johann Stuve, Allgemeinste Grundsätze der Erziehung, hergeleitet aus einer richtigen Kenntniß des Menschen, in: Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher. Hg. von Joachim Heinrich Campe. Erster Theil. Hamburg 1785, S. 262; diese Reihe, in der die Philanthropisten ihre Erziehungsprogramme und -ideen vorstellen, wird künftig mit ,Revisionswerk' abgekürzt. (Der Aufsatz Stuves wird im Folgenden zitiert als: Stuve, Allgemeinste Grundsätze der Erziehung.) 2"
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1. Einleitung
Ziel nicht zu erreichen ist: die Ausbildung und Vervollkommnung der menschlichen Kräfte und Fähigkeiten als dem subjektiven Moment sowie die geglückte Einordnung des Menschen in die Gesellschaft als dem objektiven Moment. Die ,Brauchbarkeit für die Gesellschaft' wird zum Losungswort der Philanthropisten. "Der Endzwek der Erziehung ist," wie Stuve die Grundposition des Philanthropismus zusammenfaßt, "jeden Menschen, nach seiner eigenthümlichen Beschaffenheit, und nach seinem Standpunkt in der Gesellschaft für sich selbst so vollkommen und glüklich, und für andre so nüzlich, als möglich zu machen. "23 Um dieses Ziel zu erreichen, haben die Philanthropisten eine sehr innovationsfreudige Betriebsamkeit im Bereich der Erziehung entfaltet, neue Lernmethoden (so zum Erlernen des ABC) entwickelt, entsprechende Lehrbücher konzipiert, sich über kindgerechtes Spielzeug Gedanken gemacht; ihre Sorgfalt geht hin bis zu einer Anleitung zum richtigen Wickeln von Kleinkindern. Ihre vielfältigen Anregungen zum kindgerechten Unterricht sichern ihnen die Aufmerksamkeit von Erziehern und Hofmeistern, ihre Formulierung eines an zeitgenössischen philosophischen Vorstellungen orientierten Menschenbildes das Interesse der Gelehrten. Kurzum, der Philanthropismus hat eine Erziehungslehre entwickelt, die den Bedürfnissen dieser Zeit entspricht und ist somit als Aushängeschild der spätaufklärerischen Pädagogik zu betrachten. So kann es nicht überraschen, Ideengut des Philanthropismus auch in Humboldts Ausbildung feststellen zu können. Seine Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1789 zeigen ihn wohlinformiert über den Philanthropismus, den er in natura an seinem Reisebegleiter Campe studieren kann (so daß er zielsicher seine Finger auf die wunden Punkte dieses Ansatzes zu legen vermag), und berichten von einem vertrauten Umgang mit Stuve24 . Gilt Humboldt zu diesem Zeitpunkt diese Lehre als Negativfolie, auf der er sein eigenes Verständnis vom Menschen entwickelt, so zeigt ihn der folgende Ausspruch aus dem Jahre 1787 noch ganz im Bannkreis philanthropistischutilitaristischer Vorstellung vom Lebenszweck. "Vielmehr ist es mein einziger Zweck", so berichtet er an Henriette Herz, "nützlich zu werden, und ich bin bereit, diesem Zweck alles, wie schwer es auch werden möchte, aufzuopfern. "25 Sich von dieser allgegenwärtigen Nützlichkeitsvorstellung zu lösen, Ebd., S. 325. s. Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. I-XVII. Berlin 1903-1936. Bd. XIV, S. 88f. 91. (Im Folgenden wird diese Ausgabe abgekürzt mit GS und Bandangabe in römischen Zahlen.) 25 Brief von Anfang 1787 [so die Datierung von Philip Mattson im: Verzeichnis des Briefwechsels Wilhelm von Humboldts. Bd. 1. Heidelberg 1980, Nr.8), abgedruckt in: Aus dem Nachlaß Varnhagen's von Ense. Briefe an Chamisso, Gneisenau u. a. Hg. von Ludmilla Assing. Bd. 1. Leipzig 1867, S. 29. 23
24
1.2 Der Philanthropismus
21
wird sich als eine wesentliche Voraussetzung für Humboldts Konzipierung eines neuen Menschenbildes erweisen. Es ist kein Zufall, wenn Humboldt in einem Brief an Campe aus dem Jahre
1781 gerade dessen Kinderbücher aufzählt, die er im Unterricht kennenge-
lernt hat. Für Campe nämlich bilden diese Schriften einen wichtigen Programmpunkt in seinen pädagogischen Bemühungen; denn: "Erst müssen Kinder wieder Kinder werden, wenn die Menschen wieder Menschen werden sollen"26. Hinter dieser scheinbar tautologischen Wendung steht die Lehre Rousseaus von einer Erziehung, die sich an der menschlichen Natur als dem jeden Menschen inhärenten allgemeinen Wesensgesetz zu orientieren hat, will sie ihm seine verlorengegangene Einheit mit sich selber (so das Ergebnis von Rousseaus Gegenwartsanalyse) wiedergeben, damit der Mensch zu dem wird, wozu er bestimmt ist, nämlich zum Menschen. Ausführlich dargestellt hat Rousseau seine Vorstellungen über Erziehung bekanntlich in seiner Schrift ,Emile ou de l'Education'. Sie wird zur Basislektüre der Philanthropisten. So verstehen sie sich durchaus als Nachfolger Rousseaus, dessen Ansatz von einer naturgemäßen Erziehung sie aufgreifen und weiter auszugestalten suchen. Zuhauf finden sich in ihren Schriften zur Erziehung explizite und implizite Bezüge auf Rousseau; seltener dagegen der Hinweis auf die entscheidenden Abänderungen, die sie an seiner Lehre vornehmen, können sie doch seiner Gesellschaftskritik grundsätzlich nicht zustimmen. Indem sie den von Rousseau aufgezeigten Weg einer ,natürlichen Erziehung' einschlagen, wird der Naturbegriff zum vielfältig ausgedeuteten Leitmotiv ihrer pädagogischen Erwägungen. Die Natur des Menschen erhält im Philanthropismus den Status einer Seins- und Sollensinstanz, wodurch der Immanenzcharakter dieser Lehre unterstrichen wird. Aus ihr läßt sich das Ziel ablesen, auf das alles L~bendige hinstrebt, wie sie auch allererst die Voraussetzung schafft und bietet, diesen Endzweck zu erreichen. Dabei entgeht allerdings auch der Philanthropismus nicht der Gefahr des circulus vitiosus, wenn er die Natur zum Ausgangs- und Endpunkt seines Beweises für die Glückseligkeit als letztem Daseinszweck alles Lebendigen wählt: sehen die Philanthropisten ihre Auffassung von der Glückseligkeit als angesetztem teleologischen Prinzip der Natur bestätigt durch den Hinweis auf einen "allen Menschen ohne Ausnahme angebohrne(n), stets rastlose(n) Trieb, der (... ) immer unverkennbar nach diesem Ziele hinstrebt" wie auch durch "die Einrichtung unsers eignen Wesens sowohl, als der ganzen uns umgebenden Natur"27, so ziehen sie hieraus die Berechtigung, die Natur als 26 Joachim Heinrich Campe, Von der eigenthlichen Absicht des Philanthropins, in: J.B. Basedow/J.H. Campe, Pädagogische Untersuchungen. Dessau 1777178, 1. Stück, S.18. 27 Stuve, Allgemeinste Grundsätze der Erziehung. S. 294.
22
1. Einleitung
Wegweiser für die Erreichung dieses Endzwecks zu wählen. Denn nun gilt: das, wozu der Mensch auf Erden bestimmt ist, liegt bereits angelegt in seiner Natur. Soll die Erziehung den Menschen befähigen, seiner Bestimmung gerecht zu werden - und dies ist die Maxime des Philanthropismus -, so muß sie sich um Menschenkenntnis bemühen. Die Kenntnis der menschlichen Natur wird für die Philanthropisten zur Grundvoraussetzung jeder Erziehungsmaßnahme. An die Erzieher gewandt gibt Trapp daher zu bedenken: "Man muß die menschliche Natur erst kennen, ehe man den Menschen erziehen kann. "28 Es ist der Philanthropismus gewesen, der der Pädagogik diese neue Leitvorstellung gegeben hat, daß Erziehung eines fundierten Wissens um den Menschen, um seine körperliche und geistige Natur, um seine Anlagen, Triebe und Lebensumstände bedarf. Mit ihm halten empirische Untersuchungen Einzug in die Pädagogik. Immer wieder sprechen die Philanthropisten die enge Verknüpftheit von Pädagogik und Anthropologie an, fügen neuere anthropologische Erkenntnisse über den Menschen in längeren Passagen ihren Erziehungsschriften bei - auch, um in ihnen eine Begründung für ihre eigenen Grundsätze zu finden. Selber empirisch ausgerichtet, (wobei freilich auch das Menschenbild der Philanthropisten auf philosophischen Ideen beruht, ohne daß dies eigens thematisiert wird) decken sie die Fragwürdigkeit von zeitgenössischen Konzeptionen auf, die aus einem rein spekulativ gewonnenen obersten Grundsatz Sollenssätze für die Erziehung deduzieren, deren Rechtfertigung in der Übereinstimmung mit anderen philosophischen Lehrmeinungen gesucht wird. Nicht länger mehr lassen sich Erziehungsprogramme am grünen Tisch konzipieren, ohne sich dem Vorwurf aussetzen zu müssen, daß ihre Maximen keine Rechtfertigung in der Wirklichkeit der menschlichen Natur finden. Gegenüber solchen Ansätzen betont der Philanthropismus als notwendigen Ausgangspunkt die Menschenkenntnis. Ihren Stellenwert und Umfang legt Stuve programmatisch in einem Aufsatz dar, deren Ziel laut Titel es ist, ,allgemeinste Grundsätze der Erziehung' herzuleiten "aus einer richtigen Kenntniß des Menschen in Rüksicht auf seine Bestimmung, seine körperliche und geistige Natur und deren innigste Verbindung, seine Fähigkeit zur Glükseligkeit und seine Bestimmung für die Gesellschaft"29. Solche Grundsätze der Erziehung lassen sich auch in ihrem materialen Gehalte prinzipiell auf alle Menschen anwenden, gilt doch für den Philanthropisten wie generell in der Aufklärung die Vorstellung von der einen unwandelbaren Menschennatur, auf die alle individuellen Erscheinungs28 Ernst Trapp, Versuch einer Pädagogik. Unveränderter Nachdruck der ersten Ausgabe Berlin 1780, besorgt von Ulrich Hermann. Paderborn 1977, § 12. 29 So der vollständige Titel der bereits öfters zitierten Schrift Stuves.
1.2 Der Philanthropismus
23
weisen des Menschen als deren Emanationen zurückzuführen sind. Alle Menschen haben, so die gemeinsame Überzeugung, "Eine Natur mit einander gemein. Ihr Körper ist in Ansehung seiner wesentlichen Beschaffenheit nach Einem Muster gebaut und eingerichtet, ihre Seele hat Einerlei Grundgesetze, nach denen sie empfindet, denkt, begehrt, will und handelt. Aus dieser allgemeinen menschlichen Natur und wesentlichen Einrichtung folgen gewisse ganz allgemeine und unveränderliche Grundgesetze der Menschenbildung und Erziehung. "30 Wie aber sind die zu beobachtenden unterschiedlichen Ausprägungen der Menschen zu erklären? Campe führt sie auf Einflüsse im pränatalen Stadium der Entwicklung wie generell auf alle nicht absichtlich vorgenommenen Einwirkungen von außen zurück, weswegen "es, so lange die Welt steht, noch nie zwei Menschen, und wenn sie auch stets zusammenleben, die Zwillinge waren, gegeben, von denen man sagen könnte, daß sie einerlei Erziehung gehabt hätten"31. Die festzustellenden Unterschiede unter Menschen sind mithin auf äußerliche Einflüsse zurückzuführen und daher lediglich als akzidentiell zu bewerten. Das konstitutive Moment bleibt die durch alle Zeiten und Räume sich gleichbleibende menschliche Natur. Und aus ihr "müssen die Grundsätze und Regeln hergeleitet werden, die uns über unser Thun und Lassen erleuchten, die uns insonderheit den Weg zeigen in der Behandlung des jungen, noch ungebildeten und unentwickelten Menschen. Sie ist die Erkenntnißquelle der allgemeinen Erziehungsregeln. "32 Wenn aber, wie die Philanthropisten in immer neuen Wendungen und Begründungen formulieren, die Natur selber daran interessiert ist und daran arbeitet, den Menschen zur Glückseligkeit zu führen, so stellt sich die Frage, wozu es noch der Erziehung bedarf. Nun, die Natur legt, so Campe in seiner ausführlichen Stellungnahme zu diesem Einwand, lediglich den Keim für die Selbstverwirklichung in den Menschen, für ihre Realisierung muß der Mensch selber sorgen. Nur durch Erziehung kann der Mensch zur Vollkommenheit und Glückseligkeit gelangen. Hier hat sich die Einschätzung von Natur gewandelt; die Natur wird nun betrachtet als das bloß Kreatürliche, noch Ungeordnete, das Defizitäre, das der Kultivierung durch den Menschen bedarf. (Mit diesem geänderten Naturbegriff schlagen die Philanthropisten eine von Rousseaus Vorgabe abweichenden Weg der ,natürlichen Erziehung' ein.) Dieser Hinweis auf eine Natur, die zu ihrer Vollendung des Eingriffs des Menschen bedarf, legt das Freiheitsmoment offen; mit ihm räumen die Philanthropisten den Determinismusverdacht aus. Denn: "Die Stuve, Allgemeinste Grundsätze der Erziehung. S. 262. Campe, Von der nöthigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichts unter den menschlichen Kräften. Besondere Warnung vor dem Modefehler die Empfindsamkeiten zu überspannen, in: ,Revisionswerk'. Dritter Theil. Hamburg 1785, S. 332 (im Folgenden zitiert als: Campe, Von der nöthigen Sorge). 32 Stuve, Allgemeinste Grundsätze der Erziehung. S. 263. 30 31
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1. Einleitung
Antwort", so weiter Campe, "scheint mir diese zu seyn: weil der Schöpfer des Weltalls wollte, daß sein Geschöpf, der Mensch, ein Schöpfer im Kleinen seyn, und (... ) seine eigene Vervollkommnung und Veredelung, zum Theil wenigstens, seiner eigenen Anstrengung zu verdanken haben sollte. "33 Dieses Werk der Vollendung zu leiten, ist Aufgabe einer nach allgemeinen Regeln ablaufenden und planmäßig durchgeführten Erziehung. Wenn die Erziehung in der Definition Trapps die "Bildung des Menschen zur Glückseligkeit"34 ist, sie mithin den Endzweck zum Gegenstand hat, so darf die Ausbildung nicht länger mehr dem Zufall überlassen bleiben. Die Erziehung kommt als eigenständige Disziplin in den Blick; sie wird zu einer Kunst, zu einer Fertigkeit, deren Abläufe durch zuvor aufgestellte Sollenssätze geregelt werden und richtig gehandhabt zu dem gewünschten Ergebnis führen. Die Philanthropisten verstehen die Erziehung als ein planmäßig betriebenes Geschäft. Sind die Gesetze bekannt, nach denen die Entwicklung des Menschen abläuft, so wird der Weg, den er nimmt, voraussehbar, denn es handelt sich hierbei um Gesetzmäßigkeiten der allen Menschen zugrunde gelegten einheitlichen Natur. Dieses mechanistische Denken durchzieht die gesamte Erziehungsliteratur des Philanthropismus. 35 Ist "die höchstmögliche und (... ) proporzionierte Ausbildung aller (... ) wesentlichen Kräfte und Fähigkeiten der gesamten menschlichen Natuhr unsere eigentliche Bestimmung hiniden"36, so hat es Erziehung konkret mit der Ausbildung der menschlichen Kräfte und Fähigkeiten zu tun. Die Konzeption von der ,natürlichen Erziehung' wird von den Philanthropisten mit der in der Schulphilosophie gebräuchlichen Rede von den Kräften, die als wirkmächtiges Prinzip im Menschen angesetzt werden, verknüpft. Um eine metaphysische Rechtfertigung dieses Ansatzes kümmern sich die Philanthropisten nicht weiter; sie greifen auf die Ergebnisse der Vermögenspsychologie zurück, die zahlreiche Kräfte im Menschen ausfindig gemacht hat, und finden deren Auskünfte in der Beobachtung des Menschen bestätigt. Die Kraft wird von ihnen als bloße Potenz verstanden, die mittels Ausbildung zu einer Fähigkeit wird, zu einer "Beschaffenheit der Kraft, vermöge welcher sie diese oder jene bestimmte Wirkung hervorbringen kann"37. Von dem entelechialen Charakter der Kraft in Leibniz' Ansatz der Monade ist in Campe, Von der nöthigen Sorge. S. 326. Trapp, Versuch einer Pädagogik. § 11. 35 Allerdings werden auch innerhalb des Philanthropismus unterschiedliche Auffassungen von Erziehung vertreten: So setzt sich Stuve immer wieder für die Berücksichtigung der Eigenart des Zöglings im Erziehungsprozeß ein, ohne jedoch die Vorstellung von der allen Unterschieden zugrundegelegten einen Menschennatur aufzugeben. Daher gelingt es ihm nicht, die Individualität als Konstitutivum des Wesens des Menschen zu begreifen. 36 Joachim Heinrich Campe, Ueber Empfindsamkeit und Empfindelei in pädagogischer Hinsicht. Hamburg 1779, S. 20. 37 Campe, Von der nöthigen Sorge. S. 295. 33
34
1.2 Der Philanthropismus
25
der philanthropistischen Auffassung nicht mehr viel übrig geblieben; hier erscheinen die Kräfte als mit einem energischen Moment ausgestattete, bei der Geburt noch völlig ungeformte Naturanlagen, die das Wesen des Menschen ausmachen und zu ihrer Entfaltung der Stärkung und Ausbildung bedürfen. Dieses geschieht durch Einwirkung von außen, durch erzieherische Maßnahmen; in dieser Vorstellung finden die zahlreichen Erziehungsprogramme und Lehranweisungen der Philanthropisten eine Rechtfertigung. Indem nun der Mensch seine Kräfte ausbildet, bildet er sich zugleich in seinem Menschsein aus, denn die entwickelten Kräfte machen die wesentlichen Eigenschaften des Menschen aus. In diesem Sinne kann von der Ausbildung der Kräfte als dem subjektiven Moment des philanthropistischen Glückseligkeitsbegriffs gesprochen werden. Können sich die Kräfte nur mittels Anregung von außen verwirklichen, so liegt hierin die Notwendigkeit für den Menschen begründet, in Gemeinschaft mit anderen Menschen zu leben. "Groß und vortrefflich sind die Anlagen und Kräfte des Menschen", so gibt Stuve zu bedenken, "aber sie liegen in ihm vergraben und schlummern gleichsam, bis sie von außen, und zwar von Wesen seiner Art, gewekt und durch sie gebildet werden! "38 Hier wird die naturrechtliche Vorstellung vom Menschen als Mängelwesen, das zur Ausgleichung und Überbrückung seiner Defizite in die Gesellschaft eintritt, aufgegriffen und in einen neuen Begründungszusammenhang gebracht. Außerhalb der Gesellschaft kann der Mensch sein Menschsein nicht verwirklichen. Diese Grundüberzeugung unterstreicht Stuve mit einer drastischen Schilderung der Alternative: "Der Mensch, sich selbst überlassen, abgesondert von seines Gleichen, bleibt an Leib und Geist unausgebildet, ist ein armseliges, verstandloses Thier, und würde in Jahrhunderten kaum merkliche Schritte zur Vollkommenheit machen. "39 Hieraus wird die Notwendigkeit abgeleitet, den Menschen mit Rücksicht auf seine Stellung in der Gesellschaft auszubilden. Der Mensch "muß in der Gesellschaft, und für die Gesellschaft leben, und daraus erwächst eben seine Vollkommenheit und sein GlÜk"40. Für die Gesellschaft leben meint, den zugewiesenen Platz in der Gemeinschaft so vollkommen wie möglich auszufüllen und das heißt für die Philanthropisten, sich nützlich zu machen. Denn: "Können wir Andere zu unserer Glückseligkeit nicht entbehren, so müssen wir zu machen wissen, daß sie uns wiederum zu der ihrigen auch nicht entbehren können. (... ) Um in der menschlichen Gesellschaft nicht entbehrlich zu seyn, müssen wir uns nützlich und beliebt machen. "41 Daraus ergibt sich, daß die Ausbildung der 38
39 40 41
Stuve, Allgemeinste Grundsätze der Erziehung. S. 313f. Ebd., S. 314. Ebd., S. 324. So Trapp in den ,Vorerinnerungen' zu seinem ,Versuch einer Pädagogik'. § 3,
S.18.
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1. Einleitung
menschlichen Kräfte auf die Brauchbarkeit für die Gesellschaft ausgerichtet sein muß; die Erziehung muß den Menschen mithin befähigen, seinen Platz in der Gesellschaft zum Wohle des Ganzen ausfüllen zu können. Und so versteht der Philanthropismus als den Endzweck seiner Erziehung, "jeden Menschen, nach seiner eigenthümlichen Beschaffenheit, und nach seinem Standpunkt in der Gesellschaft für sich so vollkommen und glüklich, und für andre so nüzlich, als möglich zu machen"42. Die Ausbildung der Kräfte allein garantiert noch nicht das Erreichen des Endzwecks; vielmehr muß die geglückte Einpassung in die Gesellschaft hinzukommen, und so bildet sie das zweite Moment des philanthropistischen Glückseligkeitsbegriffs. Diese Integration setzt voraus, sich selber der Gesellschaft als nützlich zu erweisen, indem der einzelne seine Brauchbarkeit unter Beweis stellt. Kräfteausbildung und Ausrichtung des Menschen auf Utilität bilden die beiden Pfeiler, auf denen das philanthropistische Erziehungsgebäude aufruht. Es obliegt daher dem Erzieher, im jungen Menschen die Eindrücke zu wecken, "daß er seine ganze Ausbildung, seine ganze Glükseligkeit der Gesellschaft zu danken hat, daß der Mensch ohne gesellschaftliche Verbindung ein armseliges, verstandloses Thier seyn würde; hat man der Ueberzeugung von der Abhängigkeit des Menschen von andrer Hülfe und Beistand durch die unmittelbarste Erfahrung (indem man das Kind in Verlegenheit setzt und in Lagen bringt, worin es sich selbst nicht helfen kann,) Anschaun und Wirksamkeit gegeben: so ist ja wohl gewiß dem jungen Menschen Eifer und Trieb eingeflößt, sich um die Gesellschaft verdient zu machen und ihr nützlich zu werden"43. Hieraus ergibt sich als eine Hauptregel philanthropistischer Erziehung, "daß man dem Kinde diejenige Charakterform und Stimmung der Seele zu verschaffen bemüht sey, bei der es in der Gesellschaft selbst glüklich und zur Freude Andrer leben könne. Dahin gehört denn vorzüglich, daß es bei möglichst ungekränkter und ungehinderter freier Selbstthätigkeit sich in seinem Wollen und Nichtwollen, in seinem Thun und Lassen nach dem Willen Andrer, und nach Umständen und Verhältnissen zu bestimmen gewöhnt sey. "44 Ist auch in der Formulierung dieser Regel noch das Bemühen Stuves erkenntlich, Raum für die individuelle Entfaltung des Menschen auszuweisen (was seine Auffassung von philanthropistischer Erziehung charakterisiert), so kann und will er die Bedeutung der gesellschaftlichen Komponente nicht herunterspielen. Ihr bestimmender Einfluß auf die Erziehungspraxis wird von keinem Philanthropisten in Frage gestellt. Sie leiten aus der Überzeugung, daß die Gesellschaft der einzige Ort ist, an dem der Mensch sein 42 43 44
Stuve, Allgemeinste Grundsätze der Erziehung. S. 325. Ebd., S. 376. Ebd., S. 377.
1.2 Der Philanthropismus
27
Menschsein verwirklichen kann, den Anspruch der Gesellschaft ab, daß sich ihre Mitglieder als Teile des Ganzen den Bedürfnissen des Ganzen unterordnen. Mit dem Eintritt in die Gesellschaft gibt der Mensch seine Selbstzweckhaftigkeit weitgehend auf, er wird für die Gesellschaft auch zu einem Mittel, ihren Endzweck zu erreichen: "Die Gesellschaft macht ein Ganzes aus, worin jedes einzelne Glied zugleich Mittel und Zwek ist. "45 Deshalb muß die "Bildung des Menschen (... ) auf die Art und zu dem Grade getrieben werden, als es die Bedürfnisse der Gesellschaft, worin sie leben sollen, erfordert. In dieser also sind eben sowohl, als in der menschlichen Natur, die Grundsätze der guten Erziehung aufzusuchen. Man muß nicht bloß darauf sehen, was aus dem Menschen vermöge seiner Natur werden kann, sondern eben so sehr darauf, was aus ihm in Rücksicht auf die Gesellschaft, wofür er bestimmt ist, werden muß. Wenn die Bedürfnisse der Gesellschaft unter die verschiedenen Fähigkeiten und Neigungen ihrer Glieder gehörig vertheilt, und wenn jedem die Geschäfte angewiesen würden, wozu ihn die Natur vermöge seiner Organisation bestimmt hat: so müßte sich finden, daß der Mensch nicht mehr werden kann, als er werden muß; und eben so auf der andern Seite, daß er gewöhnlich alles werden kann, was er werden muß. "46 Aus dieser Argumentation ziehen die Philanthropisten die Berechtigung, die Erziehung von dem Kriterium der Brauchbarkeit leiten und sie darauf angelegt sein zu lassen, den jungen Menschen passend zu machen für einen von ihm nicht unbedingt freiwillig eingenommenen Standort in der Gesellschaft. Die vorgängige Standortbestimmung wirkt hinein bis in die Unterrichtspläne und Lerninhalte. Der Philanthropismus vertritt mithin eine standesgemäße und berufsspezifische Ausbildung. Bewußt verstehen sich die Philanthropisten in dieser Hinsicht als Gegenpart zur Rousseauschen Erziehungsidee. Der Emile Rousseaus muß in ihren Augen scheitern, weil er zwar eine Erziehung genossen hat, die alle seine Kräfte förderte und sie naturgemäß entwickeln ließ, aber ihn nicht zur Übernahme einer bestimmten Rolle in der Gesellschaft befähigte. So interpretiert und kritisiert Villaume den Erziehungsgang Emiles unter dem Gesichtspunkt der Brauchbarkeit und macht die Abständigkeit von Rousseaus Ansicht deutlich: "Was wollte Rousseau aus dem Knaben [sc. Emile] ziehn? Einen Gelehrten, einen Philosophen, einen Staatsmann? Nichts, gar nichts von allem dem. Nach seiner Methode konnte er's nicht. Nicht einmal einen Mann für die Welt; denn Emile ist nichts als ein Bub und Kind nichts als ein Tischlergeselle - in der feinen Welt weiß er keinen Bescheid-, und Rousseau weiß selbst nicht, ob sein Zögling ein Staatsmann werden könnte, wenn er auch dazu berufen würde. Was wollte er denn aus ihm machen Einen Menschen - so vollkommen an und für sich, als er seiner 45
46
Ebd., S. 261.
Trapp, Versuch einer Pädagogik. § 45.
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1. Einleitung
Natur nach werden konnte. Eben deswegen aber opferte er die Brauchbarkeit desselben gänzlich auf. "47 Von der gesellschaftskritischen Ausrichtung der Rousseauschen Lehre von der ,natürlichen Erziehung' hat der Philanthropismus nichts übernommen; im Gegenteil, er zeichnet sich durch ein besonders gesellschaftskonformes Denken aus, das seinen Ausgang nimmt in der Vorstellung von einer vorgängigen Übereinstimmung von Individualwohl und gesellschaftlichem Wohl. Dieser Ansatz gehört zum Ideengut der Spätaufklärung; die philosophische Grundlage hat Wolff in seiner Metaphysik gelegt, um ihn in seiner ,Deutschen Politik' in die Sphäre des Politischen zu übertragen. Seine Brisanz erhält diese Konzeption durch die noch nicht vollzogene Ausgrenzung der Staatsgewalt aus dem Gesellschaftsbegriff. Auf diese Weise wird einer absolutistisch regierenden Staatsgewalt die Argumentation zugespielt, die Funktion des einzelnen Bürgers im Staatsgebilde mit ausdrücklichem Hinweis auf das Gemeinwohl bestimmen zu können. Was mit der Vorstellung einer ,natürlichen Erziehung' mittels Entfaltung der Kräfte des Menschen begann, mündet in die Ausrichtung der Erziehung auf die gesellschaftliche Brauchbarkeit des Menschen. ,Aufopferung der Brauchbarkeit' lautet daher der Vorwurf gegen Rousseaus Erziehung des Emile. Dieser Einwand wiegt in den Augen der Philanthropisten umso schwerer, als damit der Verlust des Standpunktes des Menschen in der Welt verbunden ist, und folglich ihm die Möglichkeit genommen wird, seiner Bestimmung gerecht zu werden. Aus diesem Denken heraus kann Villaume zur Positionsbestimmung des Bürgers die Metapher vom Menschen als Rad in der Maschine ,Gesellschaft' aufgreifen und dazu ausführen: "Das Rad muß genau in die andern Theile greifen, es muß weder zugroß seyn noch zusauber ausgearbeitet werden. Im ersten Fall thut es keine Dienste, es muß aus der Maschine verworfen werden; in dem letzten bricht es leicht. "48 Auf die Frage, ,ob und inwiefern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sey?', gibt Villaume die Antwort: "Es ist ausser allem Zweifel, daß die Menschheit, die Gesellschaft ein großes, unverletzliches Recht auf jedes ihrer Mitglieder hat; das Recht einer Mutter auf das Kind, das sie gesäugt, verpflegt, erzogen, und in den Stand gesetzt hat, nunmehr für sich zu sorgen. (... ) Diese Schuld verpflichtet ihn [sc. den Menschen] gegen seine Pflegerin, die Gesellschaft; und er kann niemahls sich von der Verpflichtung lossagen. Selbst auf das größte Opfer des Menschen, auf das Opfer eines Theils seiner Veredlung und Vollkommenheit, hat die Gesellschaft ein unwidersprechliches, heiliges 47 Peter Villaume, Ob und inwiefern bei der Erziehung die Vollkommenheit des einzelnen Menschen seiner Brauchbarkeit aufzuopfern sei?, im: ,Revisionswerk'. Dritter Theil. S. 518. 48 Ebd., S. 525.
1.2 Der Philanthropismus
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Recht. "49 Der Konflikt mit der Vervollkommnungsmaxime wird auf der Basis der naturrechtlichen Argumentation zu lösen gesucht: "Vervollkommne dich und Andre, so sehr du kannst, ist ein Gesetz der Natur. Allein, a) in der Gesellschaft sind alle Gesetze der Natur durch Verträge eingeschränkt. (... ) Und dann b) heißt es: Vervollkommne Dich - ja, sich selbst vervollkommnen, so viel als möglich - das kann keine Gesellschaft, keine Obrigkeit, keine menschliche Macht verwehren. Aber die Frage ist, ob man Andre über ihre Sphäre vervollkommnen soll?"50 Daß Villaume sie mit ,Nein' beantwortet, ergibt sich nur folgerichtig aus seiner bisherigen Argumentation. Gerade in den Schriften Villaumes - dem wohl politischsten Kopf der Philanthropisten - stoßen wir auf einen "gespaltenen Menschenrechtskatalog mit individualrechtlichem und gesellschaftsbezogenem Pflichten- und Rechtsteil"51, insofern das Recht des Menschen auf Vervollkommnung seiner Kräfte ebenso anerkannt wird wie das Recht der Gesellschaft auf dessen Brauchbarkeit. Diese Aufspaltung findet ihren Ausdruck in der Disjunktion von ,Mensch', dessen Erziehung die allgemeine Bildung vermitteln soll, und ,Bürger', dem die Berufsausbildung zukommt,52 Wird hier in der Theorie ,Mensch' und ,Bürger' als zwei gleichberechtigte Weisen des Menschseins nebeneinander gestellt, so gerät in der Praxis die Erziehung leicht in Gefahr, der Ausbildung des Menschen zum Bürger zu großes Gewicht beizumessen, zumal, wenn den gesellschaftlichen Ansprüchen durchaus die Berechtigung zuerkannt wird, der Ausbildung materiale Vorgaben zu formulieren. Gegen diese im philanthropistischen Ansatz inhärenten Gefahr, daß die Ausrichtung dieser Erziehungslehre auf die Brauchbarkeit des Bürgers alle Anrechte auf eine unverzweckte, individuelle Ausbildung der Kräfte eines Menschen verdrängt, ist Campes 1785 veröffentEbd., S. 53lf. Ebd., S. 533f. 51 Jörn Garber, Vom ,ius connatum' zum ,Menschenrecht'. Deutsche Menschenrechtstheorien der Spätaufklärung, in: Rechtsphilosophie der Aufklärung. Symposium Wolfenbüttel1981. Hg. von Reinhard Brandt. Berlin 1982, S. 116. 52 Karl Heinz Broecken hat in seiner Dissertation: "Homme" und "Citoyen". Entstehung und Bedeutung der Disjunktion von natürlicher und politischer Erziehung bei Rousseau. Diss. Köln 1974 auf eine weitverbreitete Fehlinterpretation der Rousseauschen Ausführungen zum Verhältnis Mensch - Bürger hingewiesen, die sich nicht nur bei den Philanthropisten, sondern auch bei den nachfolgenden Generationen von Pädagogen finden läßt: "Das Mißverständnis, als sei Rousseaus Disjunktion von Erziehung zum Menschen und Erziehung zum Bürger identisch mit der der deutschen Pädagogik geläufigen Entgegensetzung von allgemeiner Bildung zum Menschen und besonderer Berufsbildung zum Bürger, läßt sich nur daraus erklären, daß hier die zwar frappierende, aber zufällige Übereinstimmung der Wörter ohne weiteres für die Übereinstimmung in der Sache genommen wurde und so diese, allerdings auch nur in der deutschsprachigen Rousseauliteratur vorfindliche fable convenue entstanden ist. (S. 236) Broecken kommt vielmehr zu dem Ergebnis, daß bei Rousseau "natürliche und politische Erziehung (... ) auch nicht von fernhin als eine Entgegensetzung von allgemeiner Menschen- und beschränkter Standes- und Berufsbildung konzipiert" ist (S.233). 49
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1. Einleitung
lichter Aufsatz ,Von der nöthigen Sorge für die Erhaltung des Gleichgewichts unter den menschlichen Kräften' gerichtet. Es geht ihm in dieser Abhandlung um den Nachweis, daß eine allseitige und höchstmögliche Ausbildung der Kräfte eines Menschen keinesfalls dessen Brauchbarkeit im bürgerlichen Leben Abbruch tut; Campes Erwägungen laufen daher auf eine Neubestimmung des Verhältnisses vom Menschsein und bürgerlichem Dasein des Menschen im Philanthropismus hinaus. Sein vorsichtig-abwägendes Argumentieren, sein Eingehen auf Einwände, wenn er für eine möglichst umfassende Kräfteausbildung plädiert, deuten auf bestehende Meinungsverschiedenheiten mit den Mitarbeitern am ,Revisionswerk' hin, die in solchen Überlegungen die Nützlichkeitsmaxime in Gefahr sehen. Diese Schrift Campes kann daher als Prüfstein genommen werden, um festzustellen, inwieweit philanthropistisches Erziehungsdenken in der Lage ist, dem Menschen einen freien Entfaltungsraum zuzugestehen, der ihm die Ausbildung seiner Weise des Menschseins gestattet. Im Mittelpunkt aller Erwägungen steht der Kraftbegriff. Dabei macht sich Campe für seine Argumentation den Ansatz der Kraft als potentiell wirkmächtige Anlage des Menschen ohne inhärentem Telos zunutze. Von ihr grenzt er die Fähigkeit ab, die einer Kraft zukommt, wenn sie bereits geschult, aber nicht auf die Hervorbringung einer bestimmten Wirkung ausgerichtet ist. 53 Diese Aufgliederung von ,Kraft' und ,Fähigkeit' scheint Campe noch nicht die hinreichende Grundlage zu bieten, auf der er seine weiteren Erörterungen aufbauen kann. Und so folgt eine Einteilung der Kräfte nach mittelbarer oder unmittelbarer Abstammung von ihrem Ursprungsort, der einen Seelenkraft. "Einige", so faßt Campe das Ergebnis zusammen, "nehmlich sind wesentliche, und also nothwendige, andere hingegen ausserwesentliche, und also nur zufällige Abänderungen (Modifikationen) jener Seelenkraft. Wir wollen für beide einen Ausdruk festsetzen, und jene ursprüngliche, diese abgeleitete Kräfte nennen. "54 Die ,ursprünglichen' Kräfte sind angeboren, sie sind Bestandteil der menschlichen Natur und daher wesentlich und notwendig. Als erworben werden die ,abgeleiteten' Kräfte bestimmt; sie entstehen, wenn ursprüngliche Kräfte auf die Verrichtung einer bestimmten Tätigkeit hin ausgebildet werden. Deshalb nennt sie Campe im weiteren Verlauf ,Fertigkeiten'. Diese Unterscheidung verdeutlicht er an dem folgenden Beispiel: "So spricht z. B. jedermann, daß Kraft erfordert werde, um ein Gewicht zu heben, Fertigkeit hingegen, um ein musikalisches Instrument zu spielen. "55
53 s. Campe, Von der nöthigen Sorge. S. 295f. Zugrunde liegt Wolffs Unterscheidung von ,vis' und ,facultas' resp. ,potentia'. s. DMet., § 117. 54 Ebd., S. 297. 55 Ebd., S. 302.
1.2 Der Philanthropismus
31
Diese in der Art der Schulphilosophie durchgeführte subtile Aufgliederung der Kraft in eine in ihrer Wirkung inhaltlich nicht festgelegte Kraft und in eine Fertigkeit wählt Campe, um die Ausbildung des Menschen abzugrenzen von der Ausbildung des Bürgers: die Ausbildung des Menschen hat es mit den wesentlichen Kräften zu tun, bei der Ausbildung des Bürgers dagegen geht es um die Schulung der Kräfte zu Fertigkeiten. Wenn Campe eine höchstmögliche und proportionierte Ausbildung aller wesentlichen Kräfte des Menschen einfordert, so betrifft dies mithin zunächst die Sphäre des Menschen als Menschen. Dieser Forderung Nachdruck zu verleihen, gilt zunächst sein Interesse in diesem Aufsatz. Für Campe steht fest, "daß die Entwickelung unserer ursprünglichen Kräfte für jeden Menschen, als Mensch betrachtet, gut sey"56, bringt sie doch eine allseits harmonisch ausgebildete Persönlichkeit hervor, die sich im Leben zurechtfindet, wie Campe am Beispiel des Bauernknabens, der nur wenig Ausbildung genossen hat, aufzeigen will. Gegen die Gefahr, daß eine solche Erziehungspraxis eine einseitige Ausbildung einzelner Kräfte begünstigen könnte, während andere, die für das Leben in der Gesellschaft von großem Nutzen sein könnten, verkümmern, glaubt Campe einen Schutz in der Einrichtung der Natur entdeckt zu haben, die von selber auf ein Ebenmaß unter den Kräften strebt. 57 Was die Natur vorexerziert, hat die Erziehung noch genauer einzuhalten: sie hat Sorge zu tragen für ein paritätisches Verhältnis unter den körperlichen und geistigen (wesentlichen) Kräften auf ein Mittelmaß hin, um die Prädominanz einer Kraft von vorneherein auszuschließen. Eine solche Ausbildung der wesentlichen Kräfte, die Hand in Hand geht mit.der gleichlautenden, aus der Beobachtung der Natur abgezogenen Vorschrift, stärkt nicht nur die "innere Fähigkeit zur Glükseligkeit, weil er [sc. der Mensch] für tausend angenehme Genüsse Sinn und Empfänglichkeit hat"58, sie erleichtert auch das Leben des Menschen in der Gesellschaft. Denn "kein Stand und kein Beruf ist zu erdenken, dessen Geschäfte nicht in eben dem Maaße besser von Statten gingen, in welchem alle die ursprünglichen Kräfte desjenigen, der sie verrichtet, mehr entwickelt worden sind"59. Damit steht für Campe unabweislich fest, daß der Mensch sich um eine allseitige und weitgehende Entfaltung seiner wesentlichen Kräfte bemühen soll. Von einer Abzweckung dieser Ausbildung auf seinen gesellschaftlichen Standort, auf seine Brauchbarkeit ist keine Rede, wenngleich er den Nutzen für die Gesellschaft nicht verschweigt. Damit scheint Campe einen Raum innerhalb des philanthropistischen Systems aufgedeckt zu haben, in dem der Mensch sich frei und unverzweckt entfalten kann.
56 57
58 59
Ebd., S. 335. Vgl. ebd., S. 318ff. Ebd., S. 324. Ebd.
1. Einleitung
32
Nun ist der Mensch als ein in Gesellschaft lebendes Wesen zugleich immer auch ein Bürger, und "als solcher hat er Bestimmungen, Bedürfnisse und Obliegenheiten, die er als bloßer Mensch nicht hatte; als solcher muß er also auch eine Erziehung haben, die von derjenigen, deren er als bloßer Mensch bedürfte, in vielen Punkten wesentlich verschieden ist"6o. Sie muß von seiner Ausbildung als Mensch verschieden sein, weil jetzt die Vorbereitung auf seinen Beruf, auf seinen einzunehmenden Platz in der Gesellschaft ansteht. Hier setzt die Schulung der Kräfte zu Fertigkeiten ein. Das nun entstehende Problem, wie die Ausbildung des Menschen mit der Ausbildung des Bürgers zu vereinbaren sei, vermeint Campe auf der Basis der Unterscheidung von Kraft und Fertigkeit mit der Differenzierung von formaler und materialer Ausbildung der Kräfte lösen zu können. Die Gegenstände, an denen die Ausbildung erfolgt, sind so zu wählen, daß sie - formal- der Stärkung der Kräfte und - material- der Schulung zu Fertigkeiten dienen. Die uneingeschränkte Kräfteentfaltung sieht Campe dadurch gewährleistet, "daß die innere Entwicklung und Stärkung der Kräfte nicht von den Gegenständen, woran sie geübt werden, sondern von der Vielheit und Zwekmäßigkeit der Uebungen an jedem beliebigen Gegenstande abhängen"61, so daß "die Uebungen eines jeden Individq.ums allgemein und doch ausschliessend zugleich seyn können"62. "Unter dieser Bedingung", so weiter Campe, "dürften (... ) alle ursprünglichen Kräfte des künftigen Bauers oder Handwerkers, ohne Gefahr für das Individuum und für den Staat, intensivisch d. L dem Grade ihrer innern Stärke nach, eben so emsig ausgebildet und durch Uebungen gestärkt werden, als die Kräfte des künftigen Staatsministers, wenn nur extensivisch, d. L, dem äussern Wirkungskreise nach, der nöthige Unterschied beobachtet würde. "63 Campes Konzeption, mit der er einen Entfaltungsfreiraum für den Menschen einfordern will, beruht auf der Disjunktion von Kraft und Fertigkeit, die aber beide am gleichen Gegenstand auszubilden sind. Der Gegenstand dient sowohl zur formalen Entfaltung der Kräfte wie zur materialen Ausbildung der Kräfte zu Fertigkeiten. So kann nach Ansicht Campes der Verstand als Verstand ausgebildet werden wie zugleich auch eine bestimmte Verstandestätigkeit; ersteres fällt unter die allgemeine Bildung und betrifft die Sphäre des Menschen, letzteres unter die Berufsausbildung und bezieht sich damit auf die Sphäre des Bürgers. Indem Campe sich bemüht aufzuweisen, daß beide Weisen der Ausbildung an ein und demselben Lernobjekt durchzuführen sind, will er dem Vorwurf seiner Mitarbeiter entgehen, unnütze Zeit auf einen Erziehungsgang zu verwenden, der nicht auf Brauch60 61 62
63
Ebd., S. 336. Ebd., S. 342. Ebd., S. 343. Ebd., S. 34lf.
1.2 Der Philanthropismus
33
barkeit ausgerichtet ist. Um weiteren diesbezüglichen Einwänden zu begegnen, legt Campe Wert auf die Feststellung, daß bereits die Gegenstände unter dem Aspekt auszuwählen sind, daß sie der berufs- und standesspezifischen Erziehung dienlich sind. Diese spitzfindigen Unterscheidungen, das permanente Hinweisen auf Nützlichkeit, die nicht außer Acht gelassen wird, spiegeln nur das Dilemma wider, in dem sich Campe befindet, wenn er die Ausbildung des Menschen mit der Ausbildung des Bürgers innerhalb des philanthropistischen Erziehungsdenkens in Einklang bringen will. Sein Unterfangen stützt sich im Kern jedoch nicht auf die immer wieder von den Philanthropisten eingeforderte Beobachtung der menschlichen Natur, sondern auf die Unterscheidung von Kraft und Fertigkeit. Eine lebensfähige Alternative zu den übrigen Programmen des Philanthropismus kann er damit allerdings nicht bieten. Denn wie soll ein in seiner Denkfähigkeit zwar geschulter Mensch ohne entsprechende vermittelte Denkinhalte ein menschenwürdiges Leben führen können? So bleibt Campes Vorstellung von einer Ausbildung des Menschen eine lediglich denkerische Konstruktion, die von vorneherein unfähig ist, dem Menschen einen von seinem Sein als Bürger unabhängigen, eigenständigen Bereich zu eröffnen. Gerade das von Campe vorgestellte Konzept offenbart das technizistische Verständnis von Erziehung im Philanthropismus, das vermeint, mit Hilfe einer solchen Konstruktion das Problem, das Leben des Menschen als Mensch und als Bürger miteinander in Einklang zu bringen, in den Griff zu bekommen. So sehr auch Wert auf die individuelle Kräfteentfaltung gelegt wird, so unterliegt doch der Gedanke einer ,natürlichen Erziehung' der allgegenwärtigen Forderung nach Brauchbarkeit. Damit spielt der Philanthropismus letztlich dem Absolutismus ein ihm genehmes Erziehungskonzept zu, in dem der Mensch zugunsten des Bürgers aufgeopfert wird.
3 Sauter
2. Humboldts Ausbildung 2.1 Erster Unterricht Hwoboldts
Diese Aporien im philanthropistischen Ansatz sind noch nicht ans Tageslicht getreten, als Humboldt mit dieser Erziehungslehre bekannt wird. Dies geschieht zunächst in der Person Joachim Heinrich Campes, nach Humboldts eigenem Zeugnis sein erster Lehrer, der ihn in die Kunst des Lesens und Schreibens eingeführt hat. Vermutlich bereits 1773 1 verläßt Campe Tegel, um eine Stelle als Feldprediger in Potsdam anzutreten. Dennoch bleibt er dem Hause Humboldt in den folgenden Jahren freundschaftlich verbunden, kehrt häufiger zu Besuch dort ein und macht schließlich 1789 Humboldt das Angebot, ihn auf seiner Reise in das revolutionäre Paris zu begleiten. Humboldts Tagebuchaufzeichnungen von dieser Fahrt dokumentieren allerdings, wie weit zu diesem Zeitpunkt bereits beider Denken sich voneinander entfernt haben. Zeichnet Humboldt von Campe als Menschen ein durchaus positives Bild, charakterisiert er ihn als "einen gutmütige(n), sanfte(n) , verträgliche(n) Mann, dabei heiter und aufgeräumt", so fügt er doch sogleich hinzu: "aber ein interessantes Gespräch kann es zwischen ihm und mir nicht geben. Seine Vorstellungs art ist so ganz verschieden von der meinigen"2. Allein der Ausdruck ,Vorstellungsart' deutet bereits an, daß der Grund für Differenzen zwischen ihnen nicht in belanglosen Meinungsverschiedenheiten zu suchen ist, sondern vielmehr in prinzipiellen Erwägungen. Um Humboldts spätere grundsätzliche Einwände gegen das philanthropistische Menschenbild, dem er seinen eigenen Entwurf über die 1 Unklar ist die Aufenthaltsdauer Campes in Tegel. Humboldt selber macht unterschiedliche Angaben; so gibt er in einem Brief an Charlotte Diede vom 1. Mai 1825 das Jahr 1770 oder 1771 als Abschiedsdatum an, in einem tabellarisch angelegten Lebenslauf aus dem Jahre 1817 dagegen 1772 oder 1773 (s. GS XV, 517). Der Biograph Campes, Leyser, plädiert gar für einen noch späteren Termin für Campes Weggang, wobei er auf eine briefliche Notiz Campes vom 13. Dezember 1773 verweist, derzufolge der Abreisetag von Tegel noch nicht feststände (s. Jacob Leyser, Joachim Heinrich Campe: Ein Lebensbild. Bd. 1. Braunschweig 1877, S. 17f). Möglicherweise hat Campe noch einmal im Jahre 1775 im Hause Humboldt unterrichtet, um die Vakanz zwischen dem Weggang von Humboldts Hofmeister Heinrich Sigismund Koblanck und vor Johann Clüseners Ankunft zu überbrücken (so Leyser, S. 24 ebenfalls Herbert Scurla, Wilhelm v. Humboldt. Reformator - Wissenschaftler - Philosoph. Düsseldorf 1976, S.23). 2 Brief an die ,Verbündeten' vom 4. April 1789, abgedruckt in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Hg. von Anna von Sydow. Bd. 1-7. Berlin 19061916. Bd. 1, Berlin 71918, S. 49.
2.1 Erster Unterricht Humboldts
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Bestimmung des Menschen entgegensetzen wird, freilegen zu können, gilt es nun in einem ersten Schritt die Einführung Humboldts in die Welt der Spätaufklärung nachzuzeichnen. Bis zu Humboldts Immatrikulation an der Göttinger Universität im Jahre 1788 liegt die Erziehung maßgeblich in den Händen von Gottlob Johann Christian Kunth 3 • Kunth, nur zehn Jahre älter als sein Zögling Wilhelm, hatte aus Geldmangel sein Jurastudium in Leipzig abbrechen müssen und sich 1777 um diese Hofmeisterstelle beworben. Seine Aufgaben im Hause Humboldt wachsen rasch über die üblichen Verpflichtungen eines Hofmeisters hinaus, insbesondere nach dem Tode des Hausherrn im Jahre 1779, als er zunehmend zur rechten Hand der Frau von Humboldt wird. Auch nach Abschluß seiner Hofmeistertätigkeit steht er weiter der Familie mit Rat und Tat zur Seite; als Dank für seine Dienste findet er seine letzte Ruhestätte im Schloßpark zu Tegel im Jahre 1829. In den ersten Jahren scheint das Verhältnis zwischen Wilhelm von Humboldt und Kunth schwierig, mitunter voller Spannungen gewesen zu sein. So vergleicht Humboldt im nachhinein sein Leben an der Seite Kunths mit "ein(em) wahre(n) Frauenleben. So ungetrennt von ihm, so abhängig, und doch gar nicht auf die Weise, wie es sonst in solchen Verhältnissen ist. Es war kein Befehlen, kein eigentliches Fordern von seiner Seite, nur so ein Gekränktsein, oder Sichstellen über die Dinge, die ihm mißfielen. Also ewig von mir die Sorge, ihn heiter zu erhalten, von beiden Seiten wirklich verbunden mit einer Art von Liebe, und überladen von Gefühlsäußerungen. "4 Zu bedenken ist, daß Kunth im Alter von 22 Jahren vor der Aufgabe steht, nicht nur den Unterricht für beide Brüder zu gestalten, sondern ihnen zugleich, soweit überhaupt möglich, den Vater zu ersetzen. Und diese Zwitterstellung, die keine feste Grenzziehung zwischen Erzieher- und Vaterrolle erlaubt, hat Humboldt als starke Einschränkung empfunden. Haben Wilhelm und auch Alexander von Humboldt die Situation in Tegel vielfach als fast unerträgliches ,Familienennui' bezeichnet, so können sie sich über die Sorgfalt, die auf ihre Ausbildung gelegt wird, nicht beklagen. Im Rückblick ergibt sich, daß der Unterricht weit über das in Adelskreisen als standesgemäß betrachtete Maß hinausgegangen ist. Daß der Ausbildung soviel Bedeutung zugemessen wird, ist sicherlich dem Einfluß des Philanthropismus zuzuschreiben. Mit seiner publizistisch wirkungsvoll verbreiteten Auffassung, daß von dem Grad der Ausbildung der Nutzen des einzelnen für die Gesellschaft und damit seine Stellung im Staate abhängen, hat er eine Neubewertung von Erziehung und Bildung initiiert. 3 Kunths Lebenslauf nachgezeichnet haben Friedrich und Paul Goldschmidt, Das Leben des Staatsrath Kunth. 2. vermehrte Aufl. Berlin 1888. 4 Brief an Caroline von Dacheröden vom 2. April 1790, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd. 1, S. 115f.
3'
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2. Humboldts Ausbildung
Welche große Sorgfalt Kunth auf den Unterricht verwandt hat, zeigt ein Brief Humboldts an seinen früheren Lehrer Campe aus dem Jahre 1781, der detaillierte Auskunft über den vermittelten Unterrichts stoff gibt. 5 Aus diesem Brief erfahren wir, daß im Unterricht viel Zeit für das Sprachenstudium vorgesehen ist. In Humboldts Bericht fällt auf, welche Aufmerksamkeit dem grammatikalisch und stilistisch einwandfreien Gebrauch der deutschen Sprache gezollt wird. Diese Einstellung ist im Kreise des Adels, der auf die Dienste von Sekretären zurückgreifen kann, beiweitem nicht selbstverständlich. Eher entspricht sie dem Selbstverständnis der intellektuellen Führungsschicht, die sich zunehmend der deutschen Sprache als neuentdeckter Gelehrtensprache annimmt. Kunths Fürsorge für den korrekten Umgang mit der Muttersprache ist ein erstes Indiz dafür, daß er die zeitgängigen Vorstellungen vom Ausbildungsgang eines Adligen beiseite gelegt hat, um einen an bürgerlich-intellektuellen Qualifikationsmerkmalen sich orientierenden Unterricht zu bieten. Diese Annahme findet eine weitere Bestätigung in Humboldts Ausführungen zu seinem Französischunterricht; mit dieser Sprache wird er "nicht nach einer Grammatik, sondern durch Lesen und vieles Sprechen"6 vertraut gemacht. Folglich orientiert sich dieser Sprachunterricht an der neu entwickelten induktiven Methode, die beim Spracherwerb beim mündlichen Nachahmungstrieb ansetzen will. Mittels Einhören und Nachsprechen sollen die Kinder ,auf natürliche Weise' - so die Intention dieser Methode - mit der neuen Sprache Bekanntschaft schließen. Ein wichtiges Unterrichtsfach bleibt weiterhin der Lateinunterricht. Auch hier greift Kunth auf Reformbestrebungen zurück, die den Unterricht der lateinischen Sprache unter den Gesichtspunkt der Vermittlung von Sachkenntnissen stellen. Grundsätzlich soll mit diesem Ansatz der ,Phrasenjagd, Sentenzen-Klauberei und Versmacherei' in der Schule - so der verbreitete Vorwurf gegenüber den Lateinschulen - ein Ende bereitet werden. Lateinische Texte sind statt dessen im Unterricht als Übungsstoff zur Verbesserung des Ausdrucks im Deutschen wie auch zum Sachunterricht heranzuziehen. Damit reiht sich Kunths Lateinunterricht in die Versuche von Spätaufklärern ein, "dem Latein und Griechisch im Verein mit dem Deutschen eine lebenspraktische Bedeutung zu geben. Zur Verbesserung der ,Sitten', d. h. der Verhaltensformen und der sich in ihnen ausdrückenden Alltagsmeinung, sollte eine ,Philosophie des Lebens' beitragen, die man aus alten Schriftstellern - vor allem aus dem platonischen Sokrates, Xenophons Denkwürdigkeiten und Ciceros Buch von den Pflichten - wie aus Gellerts moralischen Vorlesungen zog. "7 So arbeitet Kunth an einigen ausgewählten 5 Dieser Brief vom 31. August 1781 ist abgedruckt in: Leyser, Joachim Heinrich Campe: Ein Lebensbild. Bd. 2, S. 297ff. 6 Ebd., S. 299.
2.1 Erster Unterricht Humboldts
37
Oden des Horaz Geschichte und Mythologie des Altertums auf; er erklärt an ihnen geographische Begebenheiten und läßt auch an ihnen rhetorische und grammatische Besonderheiten analysieren. Andere lateinische Texte dienen der moralischen Unterweisung. Mit dieser Verknüpfung des Studiums der alten Sprachen mit dem Erwerb von Realien soll dem Vorwurf begegnet werden, wie er von Seiten des Philanthropisten Ernst Christian Trapp laut wurde, nach dessen Meinung das Lernen einer alten Sprache unnütz vertane Zeit sei. Seine Vorbehalte faßt Trapp schließlich 1788 in einem Artikel im ,Revisionswerk' in diesem grundsätzlichen Einwand zusammen: "Ich behaupte nicht, daß der Inhalt eines in fremder Sprache geschriebenen lehrreichen Buches der Jugend nicht nützlich sey; sondern nur dies, daß die fremde Sprache nichts zu dem Nutzen des Inhalts beitrage; daß also dasselbe Buch, in einer guten Ueberset~ung gelesen, wenigstens eben so viel Nutzen stifte. "8 (In Göttingen bei dem Altphilologen Heyne wird Humboldt zu einer kritischen Distanz zu dieser Weise des Umgangs mit dem Altertum finden und dort einen ganz anders gearteten Reformansatz kennenlernen, der von diesen Nützlichkeitserwägungen weit wegführt.) Unter anderen pädagogischen Zielsetzungen scheint dagegen der Griechischunterricht abgelaufen zu sein, den Humboldt bei dem Prediger Josias Friedrich Christian Löffler erhält. Obwohl dieser Unterricht nur kurze Zeit gewährt haben kann 9 , so haben sowohl der Lehrer wie auch der Unterrichtsstoff auf Humboldt großen Eindruck gemacht. Löffler scheint nämlich in seinem Schüler bereits eine solche Begeisterung für diese Sprache geweckt zu haben, so daß - wie Humboldt selbst in einem Brief berichtet - sein ausgedehntes Griechischstudium häufiger zu Hause getadelt worden ist.1° Noch fast vierzig Jahre später gedenkt Humboldt seines Griechischlehrers, dem er "darin mehr schuldig [ist] als [er] sagen kann" 11. Fortgesetzt wird dieser Unterricht von Ernst Gottfried Fischer, nachmalig Lehrer für Mathematik und Physik am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin. Dessen Haupt7 Georg Jäger, Schule und literarische Kultur. Band 1: Sozialgeschichte des deutschen Unterrichts an höheren Schulen von der Spätaufklärung bis zum Vormärz. Stuttgart 1981, S. 1l. 8 Ernst Christi an Trapp, Ueber den Unterricht in Sprachen, im: ,Revisionswerk'. Elfter Theil. S. 223. Ausführlich zu den alten Sprachen als Unterrichtsstoff hat sich Trapp ein Jahr zuvor in seinem Aufsatz ,Ueber das Studium der classischen Schriftsteller und ihre Sprachen, in pädagogischer Hinsicht' geäußert. s. ,Revisionswerk' . Siebter Theil. 1787, S. 309ff. 9 In seinem Brief an Campe aus dem Jahre 1781 erwähnt Humboldt noch keinen Unterricht in Griechisch. Bereits zum Wintersemester 1782/83 hat Löffler jedoch eine Professur in Frankfurt an der Oder angenommen (s. den im Vorspann von: ,Josias Friedrich Löffler. Kleine Schriften'. Gesammelt von Uckert. 0.0., 1817 von dem Herausgeber verfaßten Lebenslauf, dort S. XII). 10 s. Brief Humboldts an Caroline von Dacheröden vom April 1790, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd. 1, S. 134. 11 Brief an seine Frau vom 10. März 1818, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd. 6, S. 146.
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2. Humboldts Ausbildung
aufgabe jedoch ist die Unterweisung in die Mathematik; denn der bisherige Unterricht in diesem Fach ist - nach Humboldts brieflichem Zeugnis - bislang nicht sehr effektiv gewesen.l 2 Neben dem Unterricht in diesen vier Sprachen wird Wert auf Geschichtskenntnisse gelegt, auf Kenntnisse in allgemeiner Weltgeschichte, in Reichsgeschichte, in der preußischen Geschichte sowie in der Gelehrtengeschichte. Folgt man Humboldts Äußerungen, so hat sich Kunth um einen möglichst anschaulichen Unterricht in diesen Fächern bemüht; gleiches gilt für den Geographieunterricht und den Religionsunterricht. Und auch hier zeigt sich mit der Wahl des Lehrbuches, der ,Unterweisung zur Glückseligkeit nach der Lehre Jesu', verfaßt von dem protestantischen Theologen Johann Samuel Diterich, Kunths Orientierung an zeitgenössischen Reformansätzen. (Diterich ist in die Kirchengeschichte als Verfechter der Neologie eingegangen, eine von der Schulphilosophie getragene Reformbewegung innerhalb der protestantischen Theologie, deren Bestreben es ist, die theologische Aussage mit der rationalistischen Aufklärungsphilosophie kompatibel zu machen. 13 ) Dieser rationalistische Angang an das Numinose ist für Humboldts Religionsunterricht wegweisend. Rückblickend erinnert er sich: "Ich habe mich dem Glauben des Positiven in meinem Inneren gleich entgegengesetzt, bin aber lange Zeit, soweit es mir natürlich und durch bloße Vernunft begreiflich schien, sehr fromm gewesen."14 Eine gänzlich gewandelte Einstellung zur Religion tritt uns erstmals in seinem späterhin ,Über Religion' betitelten Aufsatz von 1790 entgegen. Schließlich nennt Humboldt einige Bücher von Campe, die Eingang in den Unterricht gefunden haben, sei es als Einführung in die Logik oder - in französischer Übersetzung vorliegend - zur Erlernung der französischen Sprache. Erwähnt werden diese Werke sicherlich nicht nur, weil der Empfänger dieser Zeilen Campe selber ist; vielmehr sind dessen Schriften zu dieser Zeit sehr populär. Selbst die Privatlektüre Humboldts ist ausgefüllt mit Campeschen Kinderbüchern. Solche Kinderbücher wie dessen ,Robinson der Jüngere' spielen im Erziehungsdenken der Philanthropisten eine maßgebliche Rolle, sofern sie nämlich "die Kinderseelen aus der eingebildeten Schäfer-Welt, welche nirgends ist, (... ) in diejenige wirkliche Welt, in der wir uns jetzt befinden"15, einführen. Intention dieser Bücher ist es mit12 s. Brief an Campe vom 31. August 1781, in: Leyser, Joachim Heinrich Campe: Ein Lebensbild. Bd. 2, S. 300f. 13 s. hierzu Timm, Gott und Freiheit. Bd. 1, S. 21ff. 14 Brief an seine Frau vom 23. Mai 1817, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd. 5, S. 315. 15 Mit diesem Ausspruch will Campe die Intention seines Kinderbuches ,Robinson der Jüngere' umschreiben; zitiert wird nach Reinhard Stach, Robinson der Jüngere als pädagogisch-didaktisches Modell des philanthropistischen Erziehungsdenkens. Studien zu einem klassischen Kinderbuch. Ratingen 1970, S. 7.
2.2 Im Kreise der ,Berliner Aufklärung'
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hin, Kinder anhand kindgemäß aufgebauter Erzählungen in die Gesellschaft und deren Wertvorstellungen einzuführen, beim Lesen Realien zu vermitteln und sie so auf ihre Bestimmung als nützliches Glied der Gesellschaft vorzubereiten. Alles in allem bietet der Unterricht, den Kunth vermittelt bzw. vermitteln läßt, ein breites Spektrum an Wissensgebieten, nicht eingeschränkt auf eine schichtenspezifische Ausbildung, wohl aber orientiert an dem Plane der Frau von Humboldt, ihren Sohn Wilhelm für den Dienst am preußischen Königshof vorbereiten zu lassen. Die Analyse der Unterrichtsmethode Kunths, die sich allerdings nur auf einen, wenn auch sehr ausführlichen und sicherlich unter den Augen des Hofmeisters angefertigten Brief Humboldts stützt, hat die Tendenz erkennen lassen, zeitgenössische pädagogische Reformvorstellungen aufzunehmen, wobei die dominierenden Einflüsse des Philanthropismus deutlich geworden sind. Abschließend soll noch einmal Humboldt selber zu Wort kommen in einem Rückblick auf diese Zeit: "Bis in mein zwölftes Jahr war ich natürlich, wie alle andern Kinder sind, nur ein wenig unartiger und verzogener, als die gewöhnlichen. In meinem zwölften Jahre gewann ich durch die Lektüre der alten Geschichte auf einmal Geschmack an Litteratur und Wissenschaften. Ich saß jetzt fast immer bei meinen Büchern, und war äußerst arbeitsam, nur, wie es sich nach meinem damaligen Alter wohl denken läßt, bald mit größerm, bald mit geringerem Eifer. So dauerte es bis in mein achtzehntes Jahr. "16 2.2 Im Kreise der ,Berliner Aufklärung' Ein neuer Abschnitt in der Ausbildung Wilhelm von Humboldts setzt im Jahre 1785 ein. Der Unterricht erhält nun universitären Zuschnitt. Kunth selbst zieht sich weitgehend von der unterrichtenden Tätigkeit zurück; seine Hauptaufgabe sieht er nunmehr darin, seinen beiden Zöglingen Privatunterricht bei Gelehrten zu vermitteln, die zum Kreise der ,Berliner Aufklärung' zählen. Mit dem ständigen Domizil in der Berliner Stadtwohnung der Familie in der Jägerstraße (der heutigen Otto-Nuschke-Straße) nahe dem Gendarmenmarkt ist zudem die Möglichkeit eröffnet, an dem kulturellen Leben Berlins 17 teilzunehmen, das in den letzten Jahren der Regierungszeit Friedrichs 11. von Preußen erwacht ist (um schon kurze Zeit nach dessen Tod 16 Brief an Henriette Herz [nach September 1786], in: L. Assing (Hg.), Aus dem Nachlaß Varnhagen's von Ense. Bd. 1, S. 22f. 17 Friedrich Nicolai hat uns eine ausführliche Beschreibung Berlins aus dieser Zeit hinterlassen, die von topographischen Bemerkungen über eine Auflistung von Behörden, Bibliotheken, gesellschaftlichen Vereinigungen, Daten zur wirtschaftlichen Entwicklung bis hin zu Bevölkerungsstatistiken reicht. So können wir von Nicolai erfahren, daß Berlin mit allen seinen Vorstädten aber ohne das Militär im Jahre 1783 111136 Einwohner zählt. (s. F. N., Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam. Dritte Auflage Berlin 1786, Bd. I, S. 241)
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2. Humboldts Ausbildung
wieder in Lethargie zu versinken18 ), angebotene Privatvorlesungen von Berliner Gelehrten zu besuchen und in näheren Kontakt mit ihnen zu treten. Dieser Kreis der ,Berliner Aufklärung' setzt sich zusammen aus Gelehrten und Autodidakten; als philosophisches Oberhaupt gilt bis zu seinem Tode im Jahre 1786 Moses Mendelssohn. Ohne mit dieser Kennzeichnung das Bild von einem in sich homogenen, von inhaltlich klar umrissenen Zielvorstellungen geprägten Zirkel heraufbeschwören zu wollen, lassen sich doch gemeinsame Zielvorstellungen ausmachen: so herrscht unter ihnen Einigkeit darüber, den eigenen und den Wissensstand anderer heben, Vorurteile abbauen und so die Verstandesaufklärung vorantreiben zu wollen. 'Für den Austausch von Meinungen werden bevorzugt gesellige Zusammenkünfte aufgesucht. Friedrich Nicolai, selbst Mitglied der renommierten ,Mittwochsgesellschaft' hat deren Ziel einmal wie folgt formuliert: das Zusammentreffen hat "eine vernünftige Unterhaltung über interessante und besonders wissenschaftliche Gegenstände zum Zwecke, um durch freundschaftlichen Gedankenwechsel sich wechselseitig den Geist aufzuklären und dadurch Begriffe mancher Art sich selbst deutlicher zu machen und einer unparteyischen Prüfung zu unterwerfen." Das, was auf diese Weise sich als richtig erweist, soll - so Nicolai - "nicht durch Machtansprüche oder Berufung auf die Stimme im Innern sondern durch Gründe geltend" gemacht werden.l 9 Zwei Kennzeichen dieser Richtung der Spätaufklärung kommen 18 So schreibt Humboldt in einem Brief an Brinckmann [von Leitzmann datiert: vor dem 3. September 1790]: "Gestehn müssen Sies doch, Berlin ist sehr leer. Die meisten Menschen darin sind sehr aufgeklärt, aber diese Aufklärung kommt mir auch in den meisten, wie die Korrektheit eines sehr mittelmäßigen Schriftstellers vor." (In: Wilhelm von Humboldts Briefe an Karl Gustav von Brinkmann. Hg. u. er!. von Albert Leitzmann. Leipzig 1939, S. 7) Das Religions- wie das Zensuredikt aus dem Jahre 1788 haben den geistigen Klimawechsel nach dem Tode Friedrichs des Großen schnell in der Öffentlichkeit verbreitet. Daß es sich auch außerhalb Preußens gut aufgeklärt leben läßt, hat Humboldt auf seiner Reise durch Deutschland festgestellt und entsprechende Urteile seinem Tagebuch anvertraut. Einhergehend mit Ergebnissen aus den neueren Regionalforschungen zum Stand der Aufklärung im Deutschland des 18. Jahrhunderts erweist.. sich so Hayms Rede von Berlin als dem "aufklärerische(n) Hauptquartier" als Uberschätzung der Rolle Preußens bei der Verbreitung und Anwendung der Ideen der Aufklärung. (So Rudolf Haym in seiner Biographie ,Wilhelm von Humboldt, Lebensbild und Charakteristik'. Berlin 1856, S. 3) 19 Friedrich Nicolai, Ueber meine gelehrte Bildung, über meine Kenntniß der kritischen Philosophie und meine Schriften dieselbe betreffend, und über die Herren Kant, J.)3. Erhard, und Fichte. Berlin/Stettin 1799, S. 65. Nicolais Worte markieren zugleich die grundlegende Differenz zu der Auffassung der Neuhumanisten über die Geselligkeit, die in ihren Augen unwiderrufbar gegründet ist "in der Anerkennung des anderen in seinem Anderssein und nicht in der zu erreichenden Übereinstimmung mit ihm. (... ) Der vermeintliche, notwendig Beipflichtung erzeugende logische Zwang wird abgelöst durch die wechselseitige Anregung, die zur fortschreitenden Selbstbestimmung führt." Damit ist der von Nicolai als Zielpunkt der Unterredung gesetzte Konsens aller Beteiligten beiseite gerückt. Vielmehr ist die neuhumanistische Geselligkeitslehre fundamental daran interessiert, "daß sich Menschen in freier Wechselwirkung in ihrer Selbstbestimmung bilden und üben", und darin liegt ihre charakteristische Andersheit gegenüber anderen Konzeptionen, "daß es [ihr] nicht um einen Identität einlösenden Consens geht, dem man beizupflichten und sich zu unter-
2.2 Im Kreise der ,Berliner Aufklärung'
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hier zum Vorschein: die Wertschätzung eines vernünftigen Diskurses, der der präziseren Abgrenzung von Begriffen dienen soll, gilt diese doch als Grundlage für eine unparteiische, d. h. nicht mehr vom bloßen willkürlichen Meinen abhängige Urteilsbildung, sowie als zweites Moment die popularisierende Tendenz, die auf eine direkte Umsetzung philosophischer Erkenntnisse in die Praxis abzielt, sie für den täglichen Lebensvollzug nutzbar zu machen sucht. Aus Unterredungen in diesem Kreise ist Moses Mendelssohns Stellungnahme ,Ueber die Frage: was heißt aufklären?' erwachsen, die ein erstes Reflektieren über den Begriff der Aufklärung uns überliefert. Daß es überhaupt in der folgenden Zeit zu einer Debatte über diesen Terminus kommtwobei die Antwort Kants nur eine der zahlreichen Deutungsversuche darstellt und die ihr vielfach zugelegte Verbindlichkeit das falsche Bild einer in sich einheitlichen geistigen Strömung heraufbeschwört -, ist vielmehr ein Indiz dafür, wie wenig Bestimmung und Inhalt der 'Aufklärung' dieser Zeit in einer allgemein akzeptierten Definition präsent sind. Auf diesen Umstand geht Mendelssohn ein, wenn er in einem ersten Zugriff den Terminus ,Aufklärung' eingrenzt, indem er ihn von ,Kultur' und ,Bildung' - alle drei "in unsrer Sprache noch neue Ankömmlinge"20 - absetzt. ,Aufklärung' bezieht sich nach dieser Darstellung auf "vernünftige Erkenntniß (objekt.) und Fertigkeit (subjekt.) zum vernünftigen Nachdenken, über Dinge des menschlichen Lebens"21, während ,Kultur' die aus der Umsetzung der im Reflektieren gewonnenen Erkenntnisse in die Praxis des eigenen Lebensvollzuges bezeichnet. Beide Bereiche miteinander in ein harmonisches Verhältnis gebracht, konstituiert die ,Bildung'. Nach Mendelssohns Überzeugung bedarf die Aufklärung als kompensatorisches Moment der Kultur, die dafür sorgt, daß die Aufklärung nicht bloßer geistiger Vollzug bleibt, sondern als normsetzende Instanz die Ausbildung der menschlichen Kräfte begleitet werfen hat, (... ), sondern um eine offene Wechselwirkung zwischen Subjekten, die sich nicht nur wechselseitig als Subjekte anerkennen, sondern gerade auch in dem, worin sie sich als Subjekte unterscheiden, worin sie anders sind." (Clemens Menze, Institution und Bildung. Entwürfe zur Organisation des Bildungswesens im frühen neunzehnten Jahrhundert, in: Bildungstheorie und Schulstruktur. Historische und systematische Untersuchungen zum Verhältnis von Pädagogik und Politik. Im Auftrage des Münsterschen Gesprächskreises für wissenschaftliche Pädagogik hg. von Aloysius Regenbrecht. Münster 1986, S. 8f.) 20 Moses Mendelssohn, Ueber die Frage: was heißt aufklären?, wieder abgedruckt in: Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift. In Zusammenarbeit mit M. Albrecht hg. von Norbert Hinske. Darmstadt 21977, S. 444. 21 Ebd., S. 445. An einer anderen Stelle definiert Mendelssohn Aufklärung in einer Weise, die einen Anknüpfungspunkt mit der Kantischen Formulierung erkennen läßt: "Aufklärung ist der Zustand, in welchem die Bemühung, sich von Vorurtheilen zu befreien und in wichtigen Dingen des Lebens vernünftigen Grundsätzen zu folgen, herrschend geworden ist ... {Moses Mendelssohn. Gesammelte Schriften, Jubiläumsausgabe. Begonnen von I. Elbogen, J. Guttmann, E. Mittwoch. Fortgesetzt von Alexander Altmann. Berlin 1929ff. Ndr. Stuttgart-Bad Cannstatt 1971ff (im Folgenden zitiert als JubA mit arabischer Ziffer als Bandangabe), Bd. 8, S. 227)
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und den Menschen zu seiner Vervollkommnung und folglich zu seiner Glückseligkeit anleitet. Beide Momente kennzeichnen die Auffassung der ,Berliner Aufklärung' über die Aufklärung, wie sie sich auch in Nicolais Zweckbestimmung der 'Mittwochsgesellschaft' niedergeschlagen hat: ,Aufklärung' bedarf maßgeblich einer strikt an der Vernunftgemäßheit orientierten Wissensbildung, wozu die analytische Methode und ihre Ausrichtung auf die Deutlichkeit der zugrunde liegenden Begriffe das wissenschaftliche Arbeitsmaterial bietet, damit die so gewonnenen Erkenntnisse den Lebensvollzug des Menschen bestimmen können. Diese Ausrichtung auf die Praxis schlägt sich nieder in dem Engagement der Berliner in konkreten politischen, gesellschaftlichen, religiösen und moralischen Fragen. (Dieser sich einer strikten Rationalität verpflichtet fühlende Ansatz verleitet die Berliner allerdings, für ihre in ihren Publikationen veröffentlichten Stellungnahmen unumstößliche Beipflichtung von jedermann einzufordern.) Der - wissenschaftlichen - Aufklärung dienen zudem Privatvorlesungen, wozu auch die Veranstaltungen im Hause des jüdischen Arztes Markus Herz 22 zählen. Mit unterschiedlicher Intensität und Wirksamkeit der ,Aufklärung des Verstandes' verpflichtet, treffen sich die zahlreichen Lesegesellschaften23 , auch im Hause des Ehepaars Herz. Hier kommen mit Engel, Moritz, Ramler, Zöllner, Dohm, Klein und Teller führende Mitglieder der ,Berliner Aufklärung' zusammen. 24 In diese Gesellschaft durch Kunth eingeführt, ergibt sich für Humboldt bald die Gelegenheit zu näherem Kennenlernen dieser Gelehrten. Und folgen wir Alexander von Humboldts brieflichen Äußerungen (er zeigt sich über Interna gut informiert und scheint sein Wissen auch gerne mitzuteilen), so haben die Brüder Humboldt durchaus auf vertrauterem Fuße mit den Berliner Aufklärern gestanden. 25 Humboldt selbst hat sich diesem Kreis zugehörig gefühlt und deswegen Bedenken gegen einen Besuch bei Friedrich Heinrich Jacobi in Düsseldorf geäußert, muß er diesem doch als "einem Freunde Engels, Herzens, Biesters"26 und damit als ein Mitglied der in der Kontroverse um die 22 s. Nicolai, Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam. Bd. 11, S. 727. 23 Den Lesegesellschaften hat sich in den letzten Jahren die historische Forschung zugewandt, wobei neben ihrer statistischen Erfassung die politische Bedeutung ihrer Gründungen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen, gilt doch die Lesegesellschaft als ein emanzipatorisches Moment in der Entwicklung eines eigenen politischen Bewußtseins im deutschen Bürgertum. (s. hierzu den Aufsatz von Marlies Stützel-Prüsener, Die deutschen Lesegesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, in: Otto Dann (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation: Ein europäischer Vergleich. München 1981, S. 71ff) 24 Diese Angabe stammt von Julius Fürst in seiner Nachzeichnung der Tagebuchaufzeichnungen von Henriette Herz: Henrlette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen. Berlin 21858, S. 105. 25 Darauf deutet auch die lange Liste von Empfehlungsschreiben, mit denen Humboldt von den Berliner Aufklärern al,lf seinen Fahrten ausgerüstet wird und die ihm in Deutschland Tor und Tür öffnen.
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,Spinozabriefe' so vehement befehdeten ,Berliner Aufklärung' gelten. Doch nicht nur die Aussicht auf ein interessantes Gespräch zieht Humboldt in das Haus Herz; vielmehr bietet einen weiteren Anreiz ein Kreis Gleichaltriger, der sich um die Hausherrin versammelt hat, um sich schließlich im ,Tugendbund' zusammenzuschließen und mit Geheimvorschriften und schwärmerischem Ton ein merkwürdiges Pendant zu dem zu bilden, was Nicolai ganz im rationalistischen Aufklärungtone über die Gesellschaften ausgeführt hat. Dieser Veredlungsbund mit seinen geheimnisvollen Zeremonien, seinem Reglement und der verabredeten Vertraulichkeit unter seinen Mitgliedern entspricht durchaus dem Zug der Zeit, sich engagiert mit der Beobachtung des eigenen Ichs und der Analysierung der eigenen Gefühle zu beschäftigen und gemachte Erfahrungen untereinander auszutauschen. 27 Was die rationalistische Aufklärungsphilosophie möglichst umfassend auszublenden trachtet, behauptet hier umso vehementer seinen Platz in der Lebenswirklichkeit der Menschen. Und auch ein solches Phänomen gehört zum Erscheinungsbild der ,Spätaufklärung' . Daß Juden an dem kulturellen Leben in Berlin teilnehmen, bedarf in diesem Kreise(!) keiner besonderen Herausstellung einer toleranten Haltung, noch bedarf es der Bemühung, den Begriff 'Toleranz' zur Begründung heranzuziehen, warum die Gesellschaft in jüdischen Häusern geschätzt und gesucht wird. In dieser Gesinnung wird aber durchaus nicht der politische Alltag mit der nur geduldeten Anwesenheit der Juden, der Rechtsunsicherheit und den zahllosen Benachteiligungen im öffentlichen Leben, denen sie 26 Humboldt an Georg Forster am 10. November 1788, in: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Herausgegeben von der Akademie der Wissenschaften der DDR. Achtzehnter Band: Briefe an Forster. Berlin 1982, S. 284. 27 Mit den Worten: "Weil der Zweck der Loge Beglückung durch Liebe ist, und der Grad des Glücks wahrer Liebe immer im genauesten Verhältniß mit dem Grade der moralischen Vollkommenheit der Liebenden steht; so ist moralische Bildung das, wonach jeder Verbündete am eifrigsten strebt", umreißt Humboldt die Zielsetzung dieser Vereinigung. (Humboldt in seinem Brief an Henriette Herz vom 11. November 1788, in: L. Assing (Hg.), Aus dem Nachlaß Varnhagen's von Ense. Bd. I, S. 115.) Ziel ist mithin die moralische Vervollkommnung, und nicht zuletzt die an das Freimaurertum erinnernde Wortwahl unterstreicht den ethischen Impetus. Dieser Anspruch wird verknüpft mit dem Gedanken der Sympathie. Eine erste Ausdeutung findet dieser Begriff bei Marc Aurel; er besagt dort die ,Teilhabe am Gemeinsamen', weswegen alles mit allem verwandt gedacht wird. (Marc Aurel IX,9) Dieser Begriff fand Eingang in das Werk Shaftesburys und wurde nicht zuletzt durch Wielands ,Sympathien' (1754 erschienen) im deutschsprachigen Raum populär. Zunächst verstanden als die "Kraft, welche die Menschen zueinander zieht" (so August Langen, Der Wortschatz des 18. Jahrhunderts, in: F.Maurer/F.Stroh (Hgg.), Deutsche Wortgeschichte. Bd. 11, Berlin 21959, S. 148), umschreibt dieser Begriff schließlich ein sympathetisches Welt- und Einheitsgefühl, das die Tugendbundmitglieder davon ausgehen läßt, daß die moralische Vervollkommnung jedes einzelnen sich zugleich auf alle anderen Mitglieder erstreckt - eine Vorstellung, die bei einer weitläufigen Auslegung der Monadologie in Leibniz' Philosophie eine metaphysische Grundlage finden konnte. Der gleichzeitige Versuch, dieses Gefühl mit einem Regelsystem abzusichern, was einem Aufpressen vorgegebener Richtlinien auf den Bildungsgang des einzelnen gleichkommt, hat schließlich Humboldt veranlaßt, sich aus dem Tugendbund zurückzuziehen.
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ausgesetzt sind, vergessen. So hat sich Dohm ,Über die bürgerliche Verbesserung der Juden' Gedanken gemacht und mit seiner 1781 erschienenen Schrift die öffentliche Diskussion über den Status der Juden in Preußen erneut angeregt.28 Die Einwürfe, die gegen Dohms Vorschläge vorgetragen werden, hat Mendelssohn in seinem Werk ,Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum' aufgenommen und sie einer grundsätzlichen Untersuchung unterzogen. Geht es hier Mendelssohn in einem ersten Teil um den Nachweis einer Unzumutbarkeit der Rückgründung der Staatsidee auf Grundsätze der christlichen Religion als positiver Religion anstelle der von allen Menschen ohne Gewissensskrupel anzunehmenden Prinzipien der ,theologia rationalis', so dient der nachfolgende Teil dem Aufweis der Vereinbarkeit der jüdischen Religion mit der Vernunfttheologie. Dieser Argumentationsgang erhält im Hinblick auf die angestrebte Emanzipation der Juden eminentes Gewicht, ist doch der Nachweis erbracht, daß eine auf der Vernunfttheologie als moralischem Fundament aufbauende Staatsidee gleichermaßen für Christen wie Juden verbindlich, ihre Gesetze mithin verpflichtend sind und somit das althergebrachte Argument der staatsbürgerlichen Unzuverlässigkeit der Juden hinfällig ist. In anderer Richtung führt nach Mendelssohns Tod David Friedländer den Weg zur politischen Emanzipation der Juden fort; seinen Schritt zur Massentaufe von Berliner Juden zwecks besserer Eingliederung hätte sicherlich nicht die Zustimmung MendeIssohns gefunden, für den Emanzipation die Beibehaltung der jüdischen Eigenart bei politischer Integration bedeutete. Im Bannkreis solcher Erörterungen bewegt sich Humboldt in Berlin. Sein Umgang mit jüdischen Freunden - neben dem Ehepaar Herz und der zum ,Tugendbund' gehörenden Brendel Veit, einer Tochter Moses Mendelssohns, sind zu nennen der im Hause Herz lebende Medizinstudent Ephraim Beer29 , und nicht zuletzt David Friedländer, mit dem er zeitlebens in Kontakt bleibPo, macht Humboldt schon früh mit der Problematik eines Staates ver28 Eine historische Wertung dieser Schrift Dohms unternimmt Horst Möller in seinem Aufsatz: Aufklärung, Judenemanzipation und Staat. Ursprung und Wirkung von Dohms Schrift ,Über die bürgerliche Verbesserung der Juden', in: Walter Grab (Hg.), Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation. Tel Aviv 1980, S. 119ff. Die nachfolgend abgedruckten Diskussionsbeiträge revidieren aber zum Teil sehr stark Möllers positiv gezeichnete Wirkung der Dohmschen Vorschläge. 29 Die Briefe Humboldts an Beer sind von Rudolf Haym im Anhang seiner Herausgabe der ,Briefe von Wilhelm von Humboldt an Georg Heinrich Ludwig Nicolovius'. Berlin 1894, S. 91ff veröffentlicht. 30 Mattson führt in seinem Briefwechselverzeichnis 10 Briefe Humboldts an Friedländer auf; das Kondolenzschreiben Humboldts zum Tode Friedländers, geschrieben am 2. Januar 1835, ist veröffentlicht bei Julius Löwenberg, Alexander von Humboldt. Seine Jugend und seine ersten Mannesjahre. Leipzig 1872, S. 30. Letztlich ungeklärt bleiben muß die Frage, ob Humboldt Moses Mendelssohn persönlich kennengelernt hat. Eine Bemerkung Humboldts in der Einleitung zu seiner Übersetzungs arbeit ,Sokrates und Platon über die Gottheit, über die Vorsehung und Unsterblichkeit' aus dem Jahre 1787, in der er "ein(em) Mann, in dem Deutschland
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traut, der sein Staatsverständnis allein auf das Glaubensbekenntnis der christlichen Religion stützt und den Wert seiner Bewohner nach deren Religionszugehörigkeit abschätzt. Bei all diesen Anregungen kommt die Ausbildung nicht zu kurz; dafür sorgt Kunth. Dank seiner Vermittlung erhalten die beiden Brüder in den Jahren 1785/86 einen Grundkurs in zeitgenössischer Philosophie und werden ausführlicher mit nationalökonomischen Problemen vertraut gemacht. Wilhelm von Humboldt nimmt darüberhinaus noch an einer Privatvorlesung über das Naturrecht teil. Solche Privatvorlesungen von Berliner Gelehrten sind - wie es schon angeklungen ist- nichts Außergewöhnliches. Sie dienen der wissenschaftlichen Vertiefung des angekündigten Themas oder auch der Weiterführung und Spezialisierung der Ausbildung, die bislang in den Händen von Hauslehrern lag, wie im Falle der Brüder Humboldt. Die Teilnahme Humboldts an den oben angeführten drei Vorlesungen ist dokumentiert durch seine uns überlieferten Ausarbeitungen des Vorlesungsstoffes;31 die Zusammenstellung der Vorlesungsreihe läßt den Wunsch seiner Mutter erkennen, den älteren Humboldt auf den Staatsdienst vorbereiten zu lassen. Folgen wir dem Biographen des jungen Alexander von Humboldts, so haben die beiden Brüder auch Vorlesungen im Hause Herz gehört3 2, eine Annahme, der bis auf das Fehlen eines direkten Zeugnisses schon längst nicht bloss einen seiner scharfsinnigsten Philosophen, sondern auch einen seiner feinsten Schriftsteller verehrt, und dem ich den grössten Theil meiner Bildung schuldig zu sein mit innigster Dankbarkeit bekenne" (GS I, 5), seine Anerkennung ausdrückt, hat in der Forschung Irritationen hervorgerufen. Die Frage ist gestellt worden, ob nicht mit diesem erwähnten Lehrer Mendelssohn gemeint sein könnte, eine Ansicht, der sich auch Rudolf Haym anläßlich seiner Herausgabe der Jugendbriefe Humboldts an Beer angeschlossen hat. (In die gleiche Richtung zielen die Bemerkungen von Julius Löwenberg in seiner Biographie ,Alexander von Humboldt. Seine Jugend und ersten Mannesjahre'. S. 28f.) Die Gründe, die Leitzmann im Anschluß an seine Edition der Vorlesung Engels gegen eine solche Interpretation anführt, sind meines Erachtens hinreichend, zumal Humboldt Mendelssohn in seinen späteren autobiographischen Skizzen nie als seines Lehrers gedenkt. Ebenso wie die von Löwenberg herangezogene Bemerkung Alexander von Humboldts mag die folgende Briefstelle eher eine engere Verbundenheit der Lehrer Humboldts mit diesem Philosophen kennzeichnen als eine Unterrichtung der Brüder durch Mendelssohn (zumal der Höflichkeitsaspekt in einem solchen Schreiben nicht unterschätzt werden darf). So schreibt Alexander von Humboldt im Jahre 1859 und damit immerhin auf Ereignisse vor 73(!) Jahren zurückblickend: "Der durch Edelmuth des Gemüths wie durch Tiefsinn gleich berühmte Philosoph Moses Mendelssohn hat gleichzeitig mit seinem Freunde Professor Engel dem Verfasser des ,Philosophen für die Welt' durch Rathschläge über die Erziehung wesentlich zu meiner Ausbildung und der meines Bruders beigetragen." Ediert findet sich dieser Brief in dem Aufsatz von Hanns G. Reissner, Alexander von Humboldt im Verkehr mit der Familie Josef Mendelssohn, in: Mendelssohn-Studien. Bd. ll. Berlin 1975, S. 181.) Vermeint auch der 82-jährige Alexander von Humboldt, an der Leichenfeier des grossen Urvaters teilgenommen zu haben (ebd. S. 169), so schweigt sich sein Bruder Wilhelm über einen direkten Kontakt mit Mendelssohn zeitlebens aus. 31 Sie sind abgedruckt in: GS VII,2, 361ff. 32 So Julius Löwenberg, Alexander von Humboldt. Seine Jugend und Mannesjahre. S.47.
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2. Humboldts Ausbildung
nichts Gegenteiliges im Wege steht. Der Unterricht von Fischer in Sprachen und Mathematik wird neben dem neuhinzugekommenen Unterrichtsprogramm weitergelaufen sein;33 inwieweit es im Frühjahr 1785 zu einer Unterweisung in die Ästhetik gekommen ist, worauf eine thesenartige Zusammenfassung Wilhelm von Humboldts ,über den Begriff der Kunst'34 hindeutet, ist nicht weiter nachzuweisen. Im Folgenden werden die drei Vorlesungsreihen bei Engel, Klein und Dohm anhand der Aufzeichnungen Humboldts ausführlicher besprochen, bieten sie doch ausgezeichnetes Dokumentationsmaterial, um Humboldts Ausbildungsgang nachzuvollziehen. Darüberhinaus vermögen sie Einblick in den Diskussionsstand der ,Berliner Spätaufklärung' zu geben, genauer: sie vermitteln uns ein Bild dessen, was Humboldt unter dem Stichwort ,Berliner Spätaufklärung' kennengelernt hat; sie führen uns die anstehenden Probleme, Neuansätze und Aporien vor Augen, denen sich die Popularphilosophen in Berlin gegenübergestellt sahen. Im Mittelpunkt unseres Interesses steht Engels Vorlesung über Logik und Metaphysik, werden in ihr doch zwei wesentliche Fragekomplexe der Philosophie dieser Zeit verhandelt: die Frage nach der Erkenntnis der Außenwelt wie die Frage nach der Stellung des Menschen im Kosmos. Den Abschluß dieses Kapitels bildet ein kurzer Blick auf das Frankfurter Studiensemester. Verläuft dieses Studium auch noch in dem Denkhorizont der Aufklärungsphilosophie, so deutet doch Humboldts in dieser Zeit aufkommendes Interesse an Kants kritischer Philosophie an, was schließlich Thema des dritten Kapitels wird: seine zunehmende Distanzierung von den Grundsätzen der Aufklärungsphilosophie, die ihn zur Suche nach einem eigenständigen Neuansatz anregt. Für das Verständnis des sich während seiner Göttinger Studienzeit abzeichnenden Denkens in neuen Bahnen ist das Nachzeichnen seines Weges als Schüler der ,Berliner Spätaufklärung' unabdingbare Voraussetzung. 2.2.1 Der Unterricht bei Johann Jakob Engel
Mit den philosophischen Grundbegriffen der Aufklärungsphilosophie wird Humboldt von Johann Jakob Engel vertraut gemacht. Engel, der bereits als Angehöriger der ,Berliner Aufklärung' genannt worden ist, zeichnet sich aus durch eine erstaunliche Vielseitigkeit: als Professor für Logik, Ethik und Rhetorik ist er am Joachimsthaler Gymnasium in Berlin tätig; er schreibt Theaterstücke und philosophische Abhandlungen, übersetzt Shake33 Vgl. den Empfehlungsbrief Fischers an den Helmstädter Professor Johann Friedrich Pfaff für Alexander von Humboldt vom 5. April 1789, in dem Fischer seine mehrjährige Unterrichtung der beiden Brüder in Mathematik und Sprachen erwähnt. (Abgedruckt ist dieser Brief bei Löwenberg, Alexander von Humboldt. Seine Jugend und Mannesjahre. S. 76.) 34 Von Leitzmann in: GS VII,2, 355ff ediert.
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speares ,Viel Lärm um nichts' und wird schließlich zum Prinzenerzieher ernannt. Seine 1785 veröffentlichten ,Ideen zu einer Mimik' sind Anlaß, ihn 1787 zum Theaterdirektor zu befördern. In der breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden ist er als Herausgeber und Mitautor der Aufsatzsammlung ,Philosoph für die Welt' (deren beide Teile 1775 und 1777 erschienen sind). Der Titel ist nachgerade als programmatisch für die ,Berliner Aufklärung' zu verstehen; hier wird die Philosophie als nützlicher Wegweiser für einen geglückten Daseinsvollzug verstanden, vorzutragen in einer verständlichen und klangvollen Sprache. Diese Intention ist abzulesen an Engels Erzählung ,Traum des Galilei'. Hier verleiht er der Vorstellung der Spätaufklärung bildhaften Ausdruck, daß der Mensch trotz aller Begrenztheit seiner Erkenntnisfähigkeit Einblick in das Universum gewinnen kann, der ihm Wissen um die im Kosmos waltende vollkommene Ordnung vermittelt und die beruhigende Gewißheit einer alles umfassenden und alles lenkenden Ordnungsrnacht gibt. Von einer solchen Grundposition kann Engel in einer vom Leibnizschen Optimismus und einem deistischen Bekenntnis getragenen Anschauung auch menschlichen Verfehlungen einen Ort in der Welt zuweisen, da das Irren des Menschen von einer höheren Warte aus betrachtet notwendig erscheint, damit sich letztlich das Gute d~rchzusetzen vermag.3 5 Um den Zeitgenossen Orientierung zu geben, werden also im Rückgriff auf zeitgängige philosophische Ideen Antworten formuliert. Die Verpflichtung zur Leichtverständlichkeit bedeutet jedoch keineswegs die Abkehr von dem Wolffschen Diktum, demzufolge "der eintzige Weg zu gründlicher Erkäntniß ist, wenn man die Bedeutung aller Wörter in richtige Schranken einschliesset, und die folgenden Wahrheiten aus dem Vorhergehenden in einer beständigen Verknüpffung herleitet"36. Nur wenn die Begriffe klar und deutlich voneinander abgegrenzt werden, ist wahre Erkenntnis möglich.3 7 In seinem 1780 verfaßten ,Versuch einer Methode die Vernunftlehre 35 Dieser Botschaft dient auch Engels Erzählung vom sterbenden Indianer in der ,Verzückung des Las Casas'. Über dieses Stück spöttelt Schleiermacher: "... und für ein Paar Stückchen Theodicee, daß nemlich am Ende auch der Unverstand das Gute befördere, und daß die Welt ohne Tod unmöglich bestehen könne, muß der gute Las Casas sich zum Deismus des achtzehnten Jahrhunderts bekennen, und hintennach noch eine ganze rührende Geschichte gedichtet werden (... ) Mir wenigstens hat das Buch gerade den Eindruck gegeben, als ob Engel, Gott \\·eiß wieviel Jahre geschlafen hätte, und nun, ohne sich erst die Augen zu waschen, und sich in der WeIt ein wenig umzusehen, gleich so weiter fortredete. " (Abgedruckt in: Athenaeum. Hg. von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel. 3. Band, 2. Stück. Berlin 1800. Repr. Nachdr. Darmstadt 1960, S. 245.) 36 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und insonderheit dem gemeinen Wesen. 4. Auf!. Frankfurt Leipzig 1736. Hg. von H.W. Arndt. Hildesheim 1975, Vorrede (unpag.). (Im Folgenden abgekürzt mit DPol.) 37 Diese Auffassung beruht auf der Vorstellung von "eine(r) natürIiche(n) Anlage zur Erkenntnis der Wahrheit" (J.J. Engel's Schriften. Erster bis zehnter Band. Zweite Auflage. BerIin 180lff. Ndr. Frankfurt/M. 1971. Neunter Band. Zweite Auflage.
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aus platonischen Dialogen zu entwikkeln'38 hat Engel es unternommen, diese Grundauffassung aufklärerischen Denkens auf die Unterrichtspraxis zu übertragen; aufgezeigt werden soll hier, wie Schüler anhand des MenonDialoges mit der Entwicklung der Anamnesislehre logische Grundregeln entdecken und ihre Anwendung gleichzeitig üben. Absicht dieses Lehrwerkes - und darin stimmt es in der Zielsetzung mit all den literarischen und praktischen Tätigkeiten Engels überein - ist die Verwirklichung der Aufklärung, die sich nach seiner Vorstellung darin verifiziert, "daß die Seele von Vorurtheilen rein, und die Denkkraft in Ansehung aller der Gegenstände, die sich ihr zur Prüfung darbieten, völlig ungehindert und frei"39 ist. Was 1780 in der ,Vernunftlehre' noch in der Gewißheit um die Unumstößlichkeit der vorausgesetzten Prinzipien und ihrer Anwendung vorgetragen wird, gerät wenige Jahre später durch das Erscheinen der ,Kritik der reinen Vernunft' ins Wanken. In einem Brief aus dem Jahre 1786 begründet Engel seine abschlägige Antwort auf die Bitte Campes, ein Handbuch der Metaphysik für den Schulgebrauch zu verfassen, mit dem Hinweis darauf, daß "jetzt die Metaphysik in so einer Verwirrung, so in ihren ersten Principien erschüttert (ist), dass man sie ganz von vorne zu durchdenken hat, wenn man sich in seinem System festsetzen Will"40. Gegen eine Integration der Ideen Kants in das Gebäude der Popularphilosophie, deren Philosophie von der eklektischen Rezeption der Gedanken, die als vernünftig und folglich einsehbar eingeschätzt werden, lebt, scheint das Kantsche System selber schier unüberwindbare Hindernisse aufgetürmt zu haben. 41 Engels ablehnende Haltung, die im Jahre 1786 erst anklingt, mündet 1801 bei der erneuten Auflage des ,Philosoph(en) für die Welt' in eine Leichenrede auf die kritische Philosophie. Ihren Untergang sieht Engel besiegelt aufgrund der Dunkelheit ihrer Darstellung, die den vorgetragenen Ideen jede Rezeptionsmöglichkeit und damit jede Verwertungsmöglichkeit im praktischen Leben entzieht. 42 Dieser Vorbehalt gegenüber der Philosophie Kants stellt ein weiteres Merkmal der ,Berliner Aufklärung' dar. Hält Engel an den Grundsätzen der Rationalismus fest, so schlägt sich diese Einstellung in der Wahl der Lehrwerke nieder, auf die er seine Unterrichtung der Brüder Hurnboldt aufbaut; es sind Standardwerke der rationalistischen Aufklärungsphilosophie. S. 24), die allen Menschen zukommt und worauf die bei allen Menschen in gleicher Weise gültigen "Gesetze des Denkens" (ebd., S. 25) beruhen. Dieses Vermögen bedarf einer "lange anhaltende(n) Übung" (ebd., S. 27), um sie in eine Fertigkeit zu verwandeln. 38 Abgedruckt in: J.J. Engel's Schriften. Neunter Band. Zweite Auflage. S. 1ff. 39 J.J. Engel's Schriften. Zweiter Band. Zweite Auflage. Berlin 1801, S. 317. 40 Brief vorn 20. Juli 1786, in: Jacob Leyser, Joachim Heinrich Campe: Ein Lebensbild. Bd. 11, Braunschweig 1877, S. 127. 41 Die grundlegende Diskrepanz zwischen beiden Philosophieansätzen wird in Kap. 3.1.2 besprochen. 42 s. J.J. Engel's Schriften. Zweiter Band. Zweite Auflage. S. 300ff., insbes. S. 310f.
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Seine Ausbildung durch Engel beschreibt Humboldt seiner Braut im Jahre 1790, nachdem er zuvor Engel sehr positiv gezeichnet hat als einen "sehr feine(n) und lichtvolle(n) Kopf, vielleicht nicht sehr tief, aber so schnell auffassend und darstellend, wie ich es nie wieder gefunden habe" mit Worten, die schon deutlich seine Distanz zu der vermittelten Philosophie zeigen: "Meine erste bessere Bildung bekam ich durch Engel. (... ) Bei dem hört ich Philosophie nur mit wenigen andern und unterrichtete dann wieder meinen Bruder in seiner Gegenwart. (... ) Der Unterricht war ganz Wolfisch, fast immer bloß logisch, und ich hatte in der Logik und in der Wahl erster scholastischer Spitzfindigkeiten eine solche Stärke, daß noch jetzt, da ich seitdem dies Zeug nicht mehr angesehen habe, ich kaum einen Menschen kenne, der mehr als ich davon weiß. "43 Der nachfolgende Blick in Humboldts Aufzeichnungen zu Themen, die Engel in der Vorlesung angesprochen hat, werden dieses Urteil bestätigen. Nach den bisher herangezogenen, auf Anschaulichkeit und Lebhaftigkeit des Vortrages bedachten Abhandlungen Engels überrascht der trockene pedantische Stil, der uns in Humboldts Nachschrift entgegentritt und seine Klage über eine mangelnde Beschäftigung seiner Phantasie in Engels Vortrag verständlich macht. Dieser kritischen Distanzierung von der philosophischen Ausbildung durch Engel voraus geht ein intensives und breitgefächertes Studium Humboldts der Grundideen und Probleme der Aufklärungsphilosophie, wie sie Anfang der 80er Jahre des achtzehnten Jahrhunderts in Berlin diskutiert wurden. Darüber Auskunft geben die Aufzeichnungen Humboldts von seinem Unterricht bei Engel, die Leitzmann in vollem Wortlaut veröffentlicht hat. 44 Authentizität verleihen dieser Nachschrift die zahlreichen Rand43 Brief vom 12. November 1790, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd. I, S. 280. Noch in seiner nach 1821 verfaßten autobiographischen Skizze hebt Humboldt Engels Beitrag zu seiner Ausbildung hervor (s. GS XV, 524), einer Ausbildung allerdings, über die er sich 1798 in einem Brief an Christian Gottfried Körner wie folgt ausläßt: "Bis in mein 21stes Jahr fast habe ich nichts als Dinge gelernt, die ich, die Sprachen abgerechnet, ganz rein habe wieder vergessen müssen. Bis dahin habe ich mir nie ein ästhetisches Urtheil erlaubt, und auch sehr oft ungeschickte gefällt, wenn ich es einmal wagte, ich bin von denen, die sich mit mir beschäftigten, z.B. von Engel, als ein der Kunst gleichsam verschlossnes Subject, als ein bloß trockner und kalter Kopf behandelt worden." (In: Wilhelm von Humboldts Briefe an Christian Gottfried Körner. Hg. von Albert Leitzmann. Berlin 1940, S. 62f.) 44 In seiner Vortragsweise wird sich Engel an seinen eigenen Ausführungen in dem Nachtrag zu seinem ,Versuch einer Methode die Vernunftlehre aus Platonischen Dialogen zu entwickeln' orientiert haben. Dort heißt es zum Logikunterricht: "So, wie ich einen logischen Begriff entwickelt, eine Eintheilung festgesetzt, eine Regel, einen Lehrsatz gefunden hätte, würd' ich ihn von meinen Zuhörern niederschreiben lassen. Nach Endigung jeder Hauptlehre würd' ich dann (... ) einigen Besten Anleitung geben, alles Niedergeschriebene in Ordnung zu bringen, und es durch einen kurzen Discurs, der das Wesentlichste des ganzen Vortrags enthielte, zu verbinden. Ich würde ihre Aufsätze durchgehn, jeden begangenen Fehler bemerken, sie durch neues Fragen dahin bringen, daß sie ihn auf der Stelle berichtigen müßten; und was dann am Ende herauskäme, würd' ich allen Übrigen mittheilen. So hätten sie am Schluß der Lectionen ihre vollständige, von ihnen selbst entwickelte, in Ordnung gebrachte, also gewiß
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bemerkungen Engels. Auf diese Weise erhalten wir ein - von Engels Warte aus vermitteltes - Bild von den philosophischen Ideen, die im Kreise der Berliner Spätaufklärer virulent waren, wie auch einen Eindruck von ihren Problemstellungen und Lösungsansätzen, die eine Folie bieten für Humboldts später formulierten Anfragen an diese Philosophie. Gerade die Ausführlichkeit und Genauigkeit, mit denen hier Vorstellungen der Spätaufklärung abgehandelt und deren Probleme skizziert werden, lassen es gerechtfertigt erscheinen, intensiver auf dieses Manuskript zu Engels Philosophievorlesung einzugehen. 2.2.1.1 Die Unterweisung in die Logik
Zugrunde gelegt hat Engel seiner Unterweisung in die Logik, womit die Aufzeichnungen Humboldts über seinen Philosophieunterricht beginnen, die dritte, 1766 erschienene Auflage der ,Vernunftlehre' von Hermann Samuel Reimarus, mittlerweise der Öffentlichkeit bekannt als Verfasser der von Lessing posthum veröffentlichten ,Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes'. Der hohe Stellenwert, der der Logik innerhalb der rationalistischen Aufklärungsphilosophie beigemessen wird, wird programmatisch gerechtfertigt in dem ausführlichen Titel dieses Handbuchs, der da lautet: ,Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in dem Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs hergeleitet'. Die Logik ist mithin für Reimarus "eine Wissenschaft von dem rechten Gebrauche der Vernunft im Erkenntniß der Wahrheit"45; weil sie Einsicht in die Wahrheit verbürgt, gründet sich auf ihr "die Wahl des wahren Guten, und folglich die Beförderung unserer Vollkommenheit, Lust und Glückseligkeit".(§ 4) Aus dieser Einschätzung der ,Vernunftlehre' ergibt sich ihr universeller Bezug zum Leben jedes Menschen; sie ist keine bloße akademische Disziplin, sondern Voraussetzung für einen auf Vollkommenheit und Glückseligkeit ausgerichteten Daseinsvollzug. 46 In seiner wissenschaftlichen Ausprägung unterscheidet sich der Gebrauch der Vernunft von ihrer alltägliweit besser begriffene, und für sie weit interessantere, brauchbarere Anleitung zur Logik." (J.J. Engel's Schriften. Neunter Band. Zweite Auflage. S. 186f.) 45 Hermann Samuel Reimarus, Vemunftlehre. Nachdruck der dritten Auflage von 1766 mit fortlaufenden Hinweisen auf die Parallelen der zweiten und vierten Auflage. Hg. von Frieder Lötzsch. München 1979, § 3. (Die nachfolgenden Paragraphenangaben im laufenden Text beziehen sich auf diese Ausgabe.) 46 "Ja, so feme wir in allem Denken und Thun, unser ganzes Leben hindurch, Vernunft brauchen müssen, damit wir der Wahrheit und Glückseligkeit nicht verfehlen: so besteht unser ganzes Leben in einer steten Ausübung der Vemunftlehre." (§ 4) Nach Schneiders geht es Reimarus in seiner ,Vemunftlehre' "letztlich um die Rationalisierung der Lebenspraxis überhaupt". (Wemer Schneiders, Praktische Logik, in: Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur ,Vemunftlehre' von Hermann Samuel Reimarus. Hg. von Wolfgang Walter und Ludwig Borinski. Göttingen 1980, S. 82)
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chen Anwendung lediglich durch die Klarheit und Deutlichkeit des Erkannten. Ausgangspunkt für diese Abgrenzung ist die von Reimarus allen Menschen zugesprochene Denkkraft, die in ihrem natürlichen Vollzuge allerdings nur unklare und undeutliche Vorstellungen hervorbringt und deshalb der Übung und Ausbildung bedarf. Intention dieser Vernunftlehre ist es deshalb, den Menschen zu befähigen, undeutliche Erkenntnisse sukzessive in deutliche Einsichten umzuwandeln; dieser Übergang wird als möglich angesetzt, da von dem Diktum ausgegangen wird, demgemäß die Natur keinen Sprung macht. Grundsätzlich liegt also der Logik des Reimarus die Vorstellung zugrunde, daß jede verworrene Vorstellung in die Helligkeit und Deutlichkeit der Erkenntnis zu überführen ist. 47 Engel gibt diesem Gedankengang noch eine andere Wendung, indem er neben der wissenschaftlichen Logik noch eine ,natürliche Logik' erwähnt, der er eine eigene Erkenntnisweise zugesteht. Diese sieht er im Urteil eines Kunstrichters walten. Die Herkunft dieser Logik verrät die nähere Kennzeichnung als 'feinen Wahrheitssinn'48; sie wird mithin als ein Sinn vorgestellt, der analog zur Vernunft ebenfalls Einsichten gewinnen kann, ohne daß ihnen allerdings gleiche Aussagenqualität zugebilligt wird. Denn das Urteil des ,feinen Wahrheitssinnes' wird nur der Regel gemäß, nicht aber ,regelverständig' gefällt. 49 Hinter dieser von der Vorlage bei Reimarus abweichenden Differenzierung taucht die Vorstellung auf, daß nicht mehr ausschließlich die Vernunft als Erkenntnisorgan anzusehen ist, sondern nun mit dem Sinn ein Organ entdeckt worden ist, das ebenfalls Kenntnis vermitteln kann. An einer solchen scheinbar beiläufig eingeführten Modifikation läßt sich Engels Umgang mit Reimarus' ,Vernunftlehre' ablesen: Der strikte Rationalismus der Vorlage wird durchbrochen, der ratio der Rang als einzig maßgeblicher Erkenntnisquelle abgesprochen und ihr mit dem Sinn ein Organ zur Seite gestellt, das dem Verstand unzugängliche Bereiche aufschlüsselt. Was sich hier andeutet, ist der Versuch Engels, der zeitgenössischen philosophischen Diskussion, die der Ästhetik im Anschluß an Baumgartens bahnbrechenden Ausführungen einen immer größeren Stellenwert beimißt, gerecht zu werden, wie auch zugleich der rationalistischen Aufklärungsphilosophie, wie er sie bei Reimarus ausgeführt findet, treu zu bleiben. Dies erklärt ein eigentümliches Schwanken in seiner Argumentation und Inkonsequenzen in seiner Darstellung, da es ihm augenscheinlich an der Kraft fehlt, hieraus einen eigenständigen Ansatz zu entwickeln. So wird trotz 47 Maßgeblich für die Unterscheidung von ,klar' und ,deutlich', die die gesamte Aufklärungsphilosophie durchzieht, ist die Definition, die Leibniz in seinen ,Meditationes de cognitione, veritate et ideis' gibt. 48 GS VII,2, 364. 49 s. GS VII,2, 365.
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expliziter Anlehnung an die ,Vernunftlehre' die Einheitlichkeit dieses Ansatzes wie auch die Stringenz des Argumentationsganges durchbrochen. Dies macht die Lektüre von Humboldts Aufzeichnungen zuweilen recht mühsam; zugleich sind es aber gerade diese Brüche und Modifikationen, die einen unverstellten Blick in den Fragehorizont der ,Berliner Aufklärung' vermitteln. Die logische Stringenz des philosophischen Ansatzes wird in Reimarus' Vernunftlehre gewährleistet durch die Bestimmung der Vernunft als Kraft. Dabei ist es für Reimarus das Kennzeichen der Kraft, sich nach den Regeln der Einstimmung und des (auszuschließenden) Widerspruchs zu vollziehen (s. § 14): "Demnach ist die Kraft, nach den Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs über die vorgestellten Dinge zu reflectiren, diejenige, welche wir Vernunft heissen. "(§ 15) Ein Vergleich mit Wolffs Definition der Vernunft als dem "Vermögen, den Zusammenhang der Wahrheiten einzusehen"50, macht die Neuartigkeit des Reimarusschen Ansatzes offenkundig. Für Wolff hat jeder Ordo seine Regel: "Omnis ordo suas habet regulas, per quas unicuique coexistentium vel successivorum locus determinatur. "51 Die Welt ist ein solcher Ordo, eine Reihe veränderlicher Dinge, die in einer durchgängigen Verknüpfung nebeneinander sind und aufeinander folgen 52 , weswegen die Welt auch mit einer Maschine verglichen werden kann. In diesem Ansatz erwächst der Vernunft die Aufgabe, diese regelhaften Strukturen nachzuvollziehen, um zur Erkenntnis der Wahrheit zu gelangen. Anders bei Reimarus: In seiner Logik sind diese Regeln dem menschlichen Denken inhärent; was die Vernunft in ihrem regelgerechten Vollzug als wahr an einem Ding bestimmt, kommt dem Ding auch zu, denn dessen Existenzkriterien sind die gleichen zwei Grundprinzipien, nach denen sich auch die Vernunft im Erkenntnisprozeß richtet. Die Vernunft wird somit, indem ihr die beiden Grundregeln alles Seienden immanent sind (§ 13), "zu einer Quelle eigener, in ihr selbst gründender, apriorischer Gesetze, sie wird im wörtlichen Sinne autonom"53. Im Gegensatz zu Wolff muß sich die Vernunft bei Reimarus nicht außer ihr liegender Prinzipien unterwerfen, sondern in der Anwendung ihrer eigenen Denkgesetze gelangt sie zu klarer und deutlicher Erkenntnis der Dinge. 54 Und so kann Reimarus den Grundsatz formuWolff, DMet., § 368. Wolff, Philosophia prima sive ontologia. 2. Aufl. Frankfurt/Leipzig 1736. Hg. von Jean Ecole. Hildesheim 1962, § 478. 52 Vgl. Wolff, DMet., § 544. Es ist dieser Ordnungsgedanke, den Wolff als ausschlaggebendes Kriterium für die Übereinstimmung von logischer und metaphysischer Wahrheit gegen den Cartesianischen Zweifelsansatz, alles sei bloßer Traum, anführt. (s. DMet., §§ 142-145) 53 Norbert Hinske, Reimarus zwischen Wolff und Kant, in: Logik im Zeitalter der Aufklärung. S. 25: 54 In diesem Ansatz der obersten Prinzipien in Reimarus' ,Vernunftlehre' liegt eine grundlegende Differenz zur' ,Deutschen Logik' Wolffs. Denn bei Wolff sind, wie 50
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lieren, auf dem sich seine gesamte Logik wie auch ihr Anspruch, Erkenntnis zu verbürgen, aufbaut: "Eben diese Regeln der Vernunft sind der Grund aller Wahrheit. Denn die Wahrheit im Denken (Veritas Logica) besteht in der Uebereinstimmung unserer Gedanken mit den Dingen, woran wir gedenken. Demnach bezieht sich die Wahrheit im Denken auf die wesentliche Wahrheit in den Dingen selbst, (Veritatem Metaphysicam) vermöge welcher sie ein Etwas, nicht aber ein Unding, Nichts, oder Schimäre sind. "(§ 17) Diese Sätze bilden das Credo der rationalistischen Aufklärungsphilosophie. Auf ihnen baut sich das Gebäude dieser Richtung der Aufklärungsphilosophie auf, verbürgt doch ihre Gültigkeit die Erkennbarkeit der Außenwelt, indem sie die Kongruenz von rationaler Evidenz und objektiver Realität ausspricht. Mit einer autarken Vernunft, wie Reimarus sie seinen Ausführungen zugrunde legt, erreicht dieses Diktum eine noch größere Wirkung, als nun feststeht, daß die ratio in ihrem Selbstvollzug das Wesen der Dinge erkennt und ihrer Erkenntnis Gültigkeit zuzuschreiben vermag. Die Bestimmungen aus Reimarus' ,Vernunftlehre' finden sich in Humboldts Aufzeichnungen in nahezu wörtlicher Wiedergabe und ohne jede Kommentierung. Ein näheres Eingehen auf sie kann insofern unterbleiben, als die vorgetragenen Sätze auf Grundüberzeugungen der rationalistischen Aufklärungsphilosophie beruhen und sie allein in dem Verankertsein in der menschlichen Vernunft von ihrer Vorgabe in der Philosophie Wolffs abweichen. Auf die Festlegung der der Logik zugrunde liegenden Prinzipien folgt in Humboldts Aufzeichnungen eine ausführliche Analyse der Begriffsbildung. 55 Damit schließt sich Engel einer seit den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts zu beobachtenden Umorientierung an, "in der die Analyse, die Aufklärung unserer Begriffe, zum herrschenden Programm der Popularphilosophie wird"56. Und so wird die Begriffsbildung zum SchwerHinske (S. 26) ausführt, "die obersten Grundsätze (... ) nicht etwa wie bei Reimarus der Vernunft und den Dingen gemeinsam übergeordnet, vielmehr liegt der ursprüngliche Ort dieser Grundsätze, wenn man die theologische Problematik einmal ausklammert, für Wolff in den Dingen selbst". Bezieht man nun die ,theologische Problematik' in die Erörterung mit ein, und läßt Wolffs Rückgründung seines Ansatzes in Gott als dem zureichenden Grund für alles Mögliche und Wirkliche gelten, so wirft diese angestrebte Letztbegründung ein bezeichnendes Licht auf Reimarus' Ansatz: Mit der Ersetzung des Prinzips des zureichenden Grundes durch die Regel der Einstimmung umgeht Reimarus eine theonome Seinsbegründung. 55 Das Wissen um die Genese eines Begriffes - so notiert sich Humboldt - setzt den Menschen in den Stand, dessen "Richtigkeit zu prüfen". (GS VII,2, 369) 56 Hans-Jürgen Engfer, Die Urteilstheorie von H.S. Reimarus und die Stellung seiner ,Vernunftlehre' zwischen Wolff und Kant, in: Logik im Zeitalter der Aufklärung. S. 57. In seiner Studie ,Philosophie als Analysis. Studien zur Entwicklung philosophischer Analysiskonzeptionen unter dem Einfluß mathematischer Methodenrnodelle im 17. und frühen 18. Jahrhundert'. Stuttgart/Bad Cannstatt 1982, weist Engfer darauf hin, daß die Analyse zu dieser Zeit als herrschende philosophische Methode synonym gesetzt wird mit der Aufklärung, ein Zeichen, wie sehr sich spätaufkläreri-
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punktthema der Logikvorlesung, was sich bereits in dem gegenüber den beiden weiteren Verstandesoperationen Urteil und Schluß überproportionalen Umfang der Aufzeichnungen zu diesem Thema niederschlägt und allein dadurch bereits einen Stellenwert erhält, der ihr in der ,Vernunftlehre' des Reimarus nicht zukommt. Die beiden weiteren Kapitel im ersten betrachtenden Teil des Handbuches scheinen dagegen weitgehend nur referiert worden zu sein; denn es werden von Humboldt lediglich die entsprechenden Paragraphenzahlen aufgeführt (so bei der Urteilstheorie, obwohl gerade sie den eigenständigsten Beitrag von Reimarus zur Logik enthält57 ) oder nur kurz die formalen Kriterien aufgezählt (wie bei den Schlußarten). Der zweite praktische Teil der Logik, der von den Quellen der menschlichen Erkenntnis handelt (und bei Reimarus immerhin nahezu die Hälfte der Abhandlung füllt), wird auf lediglich zwei Seiten abgehandelt. Engels Ausführungen zum Begriff beginnen mit der entsprechenden Definition aus der ,Vernunftlehre': "Ein Begriff (Denkbild oder Idee) ist (... ) eine einzelne Vorstellung eines Dinges, dabey wir uns sowohl unserer Vorstellung, als des vorgestellten Dinges bewußt sind." (§ 30) Diese Bestimmung gibt den entscheidenden Hinweis, warum dem Begriff und seiner Erzeugung soviel Aufmerksamkeit gezollt wird. Denn der Begriff wird verstanden als Verbindungsglied zwischen Vorstellung und Außenwelt; er soll dem Menschen die adäquate Vermittlung der Dinge verbürgen. Damit wird die Begriffslogik mit der erkenntnistheoretischen Grundsatzfrage nach der Erkennbarkeit der Außenwelt verknüpft. Und dieser Zusammenhang besche Philosophen mit dieser Methode identifizierten: ,,( ... ) die deutsche Aufklärung definiert sich weitgehend mit den Begriffen der Analyse, der Zergliederung, der Entfaltung oder der Auseinanderlegung dunkler Begriffe in klare und deutliche, und diese Fassung des Aufklärungsbegriffs erscheint in der Mitte der 80er Jahre als diejenige, über die sich "das deutsche Publikum (... ) einig" ist: es herrscht Konsens darüber, daß Aufklärung "den Übergang von unrichtigen und dunklen Begriffen zu richtigen und hellen bedeutet". (S. 28) Zweifel ist jedoch gegen den von Engfer hier unternommenen Versuch anzumelden, den Begriff ,Aufklärung' einzig auf eine Methode zu reduzieren; nahezu gleichzeitig mit den von Engfer als Beleg zitierten ,Briefe(n) über die Aufklärung' (veröffentlicht nach Engfer in den Jahren 1785/86) erschien der Aufsatz von Moses Mendelssohn ,Ueber die Frage: was heißt aufklären?'. Mendelssohns Beitrag zur Aufklärungsdebatte hebt - wie aufgezeigt - gerade als Charakteristikum ihr Ausgerichtetsein auf den glückenden Daseinsvollzug des Menschen hervor, zu der die Begriffsanalyse eine Voraussetzung ist. Streben nach klaren und deutlichen Begriffen wie die eigene Vervollkommnung bilden sich gegenseitig bedingende Momente im Denken des 18. Jahrhunderts. Denn es ist zu einer Grundüberzeugung der deutschen Aufklärung geworden, was Leibniz in seinem Aufsatz ,Von der Weisheit' über den Zusammenhang von Verstandesaufklärung und Vervollkommnung des Menschen ausgeführt hat: "Daraus denn folget, daß nichts mehr zur Glückseligkeit diene, als die Erleuchtung des Verstandes und Uebung des Willens, allezeit nach dem Verstande zu wirken (... ), dieweilen daraus ein immerwährender Fortgang in Weisheit und Tugend, auch folglich in Vollkommenheit und Freude entspringet." (Zitiert nach: G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Hg. von Ernst Cassirer. Zweiter Band. Zweite Auflage. Leipzig 1924, S. 494) 57 So das Ergebnis von Engfer in seiner Untersuchung: Die Urteilstheorie von H.S. Reimarus und die Stellung seiner ,Vernunftlehre' zwischen Wolff und Kant. S. 46.
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gründet das große Interesse, das in der Logikvorlesung dem Begriff entgegengebracht wird. Hier wird nämlich ein zuhöchst brisantes und umstrittenes Thema angeschnitten, das in der philosophischen Debatte der Spätaufklärung hohe Wellen schlägt und dessen Lösungsversuch in der ,Kritik der reinen Vernunft' von den Popularphilosophen nicht akzeptiert wird. Den Ausgangspunkt der Diskussion bildet die Weise der Rezeption Leibnizscher Ideen durch Wolff, die die Schulphilosophie zu immer neuen Versuchen veranlaßt, Leibniz' Ansatz mit dem Lockesehen Empirismus zu vereinbaren. Als Kristallisationspunkt der verschiedenen Lösungsansätze erweist sich die Einschätzung der Empfindung. Denn die Empfindung gilt als das die Erzeugung des Begriffes auslösende Moment. Erörtert wird nun, inwieweit die Empfindung durch äußere Sinnesreize oder durch innere Seelenregungen hervorgerufen wird. Im Hintergrund dieser Kontroverse steht die Auffassung, daß von der Adäquatheit der Empfindung die Wirklichkeitstreue des entsprechend gebildeten Begriffes abhängt und folglich die Einsicht in die Außenwelt. Dieser Zusammenhang von Begriff, Empfindung und Erkenntnistheorie soll nun zunächst anhand der Ausführungen Engels beleuchtet werden. Greifen wir auf Engels ,Vernunftlehre' von 1780 zurück, so finden wir zur Empfindung folgende Erklärung: "sich eines gegenwärtigen wirklichen Gegenstandes bewußt werden, nennt man Empfindungen; den Begriff oder das Bewußtseyn von so einem Gegenstande selbst, eine Empfindung. Dabei gilt es zu beachten, daß eine "jede Empfindung innre Empfindung" ist. Denn: "Empfindung ist Begriff; Begriff ist Bewußtseyn; Bewußtseyn ist in der Seele. "58 Mithin ist die Begriffsbildung ein ausschließlich innerseelisches Geschehen, stets hervorgerufen durch eine Empfindung, die eine bewußte Aufnahme und Verarbeitung einer Vorstellung sowie ein Reflektieren der Seele auf die dadurch in ihr verursachte Änderung darstellt. Im Erzeugungsvorgang der Begriffe spielt die Empfindung in dieser Konzeption die Rolle einer Schaltzentrale in der Seele. Empfindung ist mithin für Engel kein Gegenbegriff zum Erkennen, sondern die notwendige Vorstufe zu jeder Erkenntnis, sofern sich Erkenntnis immer in Begriffen vollzieht. Nicht geklärt ist bis jetzt, wie die Seele zu den Vorstellungen von Dingen gelangen soll, die sie in Begriffe faßt. Grundsätzlich gilt: "Alles was zur Seele gehört, muß innerlich aus ihr selbst erkannt werden, weil sie nicht in die Sinne fällt. Zugleich wird festgestellt: "Aber die Seele äußert sich nicht anders, als bei Gelegenheit der äußern Bilder und Eindrücke, welche die Sinne ihr zuführen. "59 Und im Hinblick auf diese Feststellung kann sich Engel dem Satz anschließen: "Nihil est in intellectu, quod non ante fuerit in 58 59
J.J. Engel's Schriften. Neunter Band. S. 160. Ebd., S. 109.
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sensu. "60 Wenn allerdings in der Vorlesung ,Sinn' definiert wird als "Fähigkeit der Seele, durch das sinnliche Werkzeug Vorstellungen zu bekommen"6!, so gibt Engel diesem Diktum Lockescher Philosophie eine gegenempiristische Ausrichtung. In einem Nachtrag zu Reimarus' ,Vernunftlehre' wird ausführlicher die Funktionsweise der Sinnesorgane abgehandelt 62 , das Problem der Sinnestäuschung angeschnitten 63 , auf die diese Zeit bewegende Frage Molyneux' eingegangen, ob "der Sinn rein als solcher imstande ist, die Gestalt der Dingwelt für unser Bewußtsein aufzubauen" 64. In seiner ,Vernunftlehre' aus dem Jahre 1780 hat Engel sich zudem um die Aufstellung präziser Richtlinien bemüht, die die Reinheit der Sinneswahrnehmungen vor verfälschenden Einflüssen bewahren und damit die Richtigkeit der aus ihnen gebildeten Begriffe gewährleisten soll.65 Solche Untersuchungen verstärken den Eindruck, daß Engel den Sinnes daten trotz der Ungeklärtheit ihres Einflusses auf die Seele Erkenntniswert beimißt. Es stellt sich mithin die Frage, inwieweit sich Engel nicht doch einer in Lockescher Tradition stehenden Philosophierichtung verbunden weiß. Gegen eine solche Annahme sprechen seine eigenen Äußerungen in der Vorlesung. Ausdrücklich stellt er sich auf die Seite Leibniz', als er auf dessen 1765 posthum erschienenen ,Nouveaux Essais sur l'entendement humain' zu sprechen kommt. Gerade diese Schrift erfordert aber, so Sommer66 , unwiderruflich eine Entscheidung für Leibniz oder für Locke, weil eine immer wieder beabsichtigte Verschmelzung sich nun gegen ausdrückliche Feststellungen Leibniz' richten muß. In seinem Aufsatz ,Die Bildsäule' sucht Engel diesem Einfluß der Sinneseindrücke auf die Seele genauer nachzuspüren. Dabei hat die von Condillac und Bonnet entworfene und vielfach in psychologischen Erwägungen herangezogene Denkfigur einer durch äußere sinnliche Anreize zu Selbsttätigkeit erwachenden Statue den Zweck, "die Untersuchung zu simplificiren und zu erleichtern, wie bei Gelegenheit der sinnlichen Eindrücke sich nach und nach die Kräfte unsrer Seele entwickeln"67. Aber das Ergebnis dieser Untersuchung bringt keine Lösung des anstehenden Problems. Abgewiesen wird der Versuch, "die Erscheinungen meines innern Selbst, Denken, Wollen, Empfinden, an die klärste meiner Vorstellungs arten, an die des Gesichts 60 Ebd., S. 180. 61 GS VII,2, 393. 62 s. GS VII,2, 393ff. 63 s. GS VII,2, 386ff. 64 So faßt Ernst Cassirer in seinem Buch: Die Philosophie der Aufklärung. Tübingen 21932, S. 145, die Problemstellung Molyneux' zusammen. 65 s. J.J. Engel's Schriften. Neunter Band. S. 76ff. 66 s. Robert Sommer, Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Ästhetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. Würzburg 1892, S. 173. 67 J.J. Engel's Schriften. Erster Band. Zweite Auflage. S. 337 ..
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und Gefühls"68 anknüpfen zu wollen, also unsinnliche Empfindungen eine figürliche Vorstellung unterzuschieben. Letztlich bleibt das Eingeständnis: "Ich kenne noch nicht ihr Wesen (sc. das Wesen der Seele), (... ). Ich habe von jener Entwickelung nur noch so einen dürftigen Anfang gemacht. "~9 Die mit der ,Bildsäule' verknüpften Erwartungen, Sinneseindrücke und die von ihr in der Seele erzeugten Modifikationen einer genaueren Analyse unterziehen zu können, haben sich für Engel nicht erfüllt. Aufhorchen läßt deshalb eine Anmerkung von ihm zu den Ausführungen Humboldts, als er Lockes Einteilung der sinnlichen Qualitäten mit der folgenden Begründung abweist: "Wir kennen kein einziges Ding nach seiner wirklichen Beschaffenheit, sondern nur die Ideen, die durch seine Beschaffenheiten in unsrer Seele erzeugt werden."70 Mit dieser Bemerkung bricht die bislang aufrecht erhaltene Vorstellung einer Entsprechung von Sinneseindruck und Empfindung vollends zusammen; von der den Sinnesorganen angemuteten Fähigkeit, adäquate Vorstellungen der Außenwelt zu liefern, ist jetzt keine Rede mehr. Somit scheinen sich in Engels Vorlesung zwei Deutungsansätze kontrovers gegenüber zu stehen: der eine legt Wert auf die Autonomie der Seele bei der Erzeugung von Begriffen; der andere erkennt den Beitrag der Sinnesorgane zur Erkenntnisgewinnung an und sucht Kriterien festzulegen, die die Richtigkeit der Sinneswahrnehmung garantieren sollen. 71 Ebd., S. 352f. Ebd., S. 354. 70 GS VII,2, 385. 71 Wie sehr Engel an einer einheitlichen, beiden Ansätzen gerecht werdenden Konzeption interessiert ist, zeigen seine Ausführungen zu den ,idees mixtes'. Diese erhalten wir "entweder durch zwei Sinne, und also bloss durch äussre Empfindung; oder durch die äussre und innere zug~!!ich" (GS VII,2, 373). Die Bedeutung dieser Begriffsart liegt für Engel gerade in der Asthetik. Denn für sie ist die Auflösung des anstehenden Problems konstitutiv. "Erst muß der schöne Gegenstand sich dem Auge darstellen, ehe die Seele einen Begriff davon bilden und ihr Wohlgefallen daran gewahr werden kann." (GS VII,2, 364) Insbesondere die Betrachtung eines Kunstwerkes beruht auf einem Zusammenspiel von äußerem Sinneseindruck und innerer Empfindung, das geradezu eine Wechselwirkung zwischen beiden als evident erscheinen lassen kann. Die hierin angedeutete Zuordnung von Logik und Ästhetik findet eine erste Begründung zu Beginn der Vorlesung, wenn das Geschmacksurteil als ein Urteil der natürlichen Logik eingeführt wird; denn es basiert auf einer "dunkle(n) Empfindung der Vollkommenheit (... ) in den Künsten, welche vorzüglich auf die Sinne wirken."(GS VII,2, 364) Indem für diese dunkle Empfindung ein Regelsystem anzugeben ist, nach welchem der Kunstrichter "mit Sicherheit beurtheilen kann, was schön, und was nicht schön ist"(GS VII,2, 364), kommt dem ästhetischen Urteil ein dem Erkenntnisurteil analoger Eigenwert zu. (Von dem Erkenntnisurteil bleibt es verschieden, da es regelmäßig, nicht aber regelverständig ist.) Auch in dieser Aussage ist somit der Einfluß der seit Baumgarten in der deutschen Ästhetik rezipierten Bestimmung von Schönheit als sinnlicher Vollkommenheit zu spüren. Eine genauere Erläuterung des Schönen enthält der Abschnitt über die Sinne. Hier hält Humboldt schriftlich fest: "nur das [ist] schön (... ), was bestimmt ist, und dessen Theile in einem festen Verhältnisse gegeneinander stehn" (GS VII,2, 397). In einer Anmerkung fügt Humboldt selbst - zeitgenössische ästhetisch-psychologische Erwägungen berücksichtigend - ein zweites Bestimmungsmoment hinzu: "Das Schöne muss - ... - noch keinen zu starken, oder zu schwachen Eindruck machen." (Ebd.) Es ist der ,feine Sinn', der uns 68
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Exkurs: Zum Problem der Fundierung der Erkenntnis von Außenwelt Das uns in der Logikvorlesung begegnende Problem, äußere Sinneseindrucke und innere Empfindungen in einen konkludenten Ansatz miteinander zu verbinden, findet sich vorgezeichnet in der Lehre Christian Wolffs. Wolff hat in seinen ,Deutschen Schriften' - den Grundsatz Leibniz' aufnehmend, demzufolge "das Kriterium der Gewißheit nicht jenseits des Bereich$des Bewußtseins [liegt], sondern (... ) auf der Ordnung und Verknüpfung der Ideen selbst"72 beruht, - die Erkenntnis der Dinge an die Einsicht in die Verknüpfung und Ordnung der Dinge untereinander gekoppelt. So ist für ihn "die Wahrheit nichts anders als die Ordnung in den Veränderungen der Dinge. (... ) Ja es erhellet ferner, daß man die Wahrheit erkennet, wenn man den Grund verstehet, warum dieses oder jenes seyn kan, das ist, die Regeln der Ordnung, die in denen Dingen und ihren Veränderungen anzutreffen. "73 Darin stimmen mithin Wolff und Leibniz überein, daß die ,Objektivität' des einen Gegenstand als schön empfinden läßt, wenn er "dis Bestimmte in den Dingen, und dis genaue Verhältniss ihrer Theile empfindet" (ebd.). Der Schönheitsbegriff, wie er uns in Humboldts Notizen entgegentritt, zeichnet sich dadurch aus, daß das Schöne sowohl eine Empfindung in der Seele hervorruft, wie auch als eine bestimmte Qualität den Dingen anhaftet. Als Eigenschaft am Gegenstand weist es sich durch ein bestimmtes Verhältnis seiner Teile zueinander aus. In der sich hier auftuenden Möglichkeit, das Schöne nach gegebenen Kriterien bestimmen und ein Geschmacksurteil nach solchen Regeln überprüfen zu können, ist das Argument für eine weitgehende Gleichstellung des ästhetischen Urteils mit dem Erkenntnisurteil gegeben. Ein Einwand, wie ihn Mendelssohn in seinen frühen ,Briefen über die Empfindungen' formuliert (s. Sommer, Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Ästhetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. S. 111ff.), demzufolge undeutliche Vorstellungen der Vollkommenheit nur unvollkommen gerecht werden, findet hi~r keine Nachfolge. Zugleich verhindert die angestrebte Verbindung von Logik und Asthetik ein Abgleiten des Geschmacksurteils ins bloß Subjektive: Das ästhetische Urteil bleibt nicht dem Belieben des Einzelnen anheimgestellt, und damit wird ein weiterer Argumentationsstrang in der Ästhetik-Diskussion dieser Zeit gekappt. Mit der Ausblendung des Gefühls als Ort der Empfindung des Schönen ist allerdings zugleich auch der von Sulzer eingeschlagene Weg abgewiesen, im Empfinden des schönen Gegenstandes sich selbst zu empfinden. Engels Position wird deutlicher faßbar in seinem 1776 geschriebenen Aufsatz ,Über die Schönheit des Einfachen', wenn er zu diesem Punkte ausführt: "Jede einfache Empfindung, die Element der Schönheit werden soll, muss eine so bestimmte abgemessne Vorstellung seyn, dass, wenn eine andre eben so bestimmte und abgemessne dazu kömmt, ein sichres und fassliches Verhältniss der einen zur andern entstehe. Durch ihre Abgemessenheit und Bestimmtheit wird jede einzelne Empfindung fähig, Glied einer Reihe zu werden, in welcher die Seele, durch lauter sichre Verhältnisse, von einer zur andern fortschreitet und eben diese Fähigkeit charakterisiert sie als Element der Schönheit." (J.J. Engel's Schriften. Vierter Band. Zweite Auflage. Berlin 1802, S. 286f.) Hier wird nun das zuvor in der Humboldtschen Bestimmung des Schönen als konstitutiv gewertete Verhältnis der Teile zueinander als Verhältnis der Empfindungen zueinander bestimmt. Im Vergleich mit Humboldts Deutung wird nun die Tätigkeit der Seele als maßgeblich für das Empfinden eines Gegenstandes als schön gesehen, nicht aber das Schöne mehr als Eigenschaft am Ding gesetzt. Auf diese modifizierte Position Engels deuten auch seine Randbemerkungen zu Humboldts Ausführungen hin. (Vgl. GS VII,2, 397) 72 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band. Darmstadt 1974, S. 577. 73 Wolff, DMet., §§ 142; 145.
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zu Erkennenden in den Gesetzen des Denkvollzuges begründet liegt. 74 Allerdings ist in dem Monadensystem Leibniz' eine Vergewisserung des Erkannten an der Außenwelt von der Konzeption der Monaden her weder notwendig noch denkbar 75 ; denn die Monade kann über ihr Wesen als Vorstellung nicht hinausschreiten; die Welt ,existiert' für die Monade in der perspektivischen Weise, wie sie sie sich vorstellt. Dieser Verankerung der Erscheinungswelt einzig in der Vorstellung der Monade versagt Wolff seine Zustimmung. 76 Die von ihm im Vergleich mit Leibniz' Lehre von den Monaden vorgenommenen Modifikationen erweisen sich als von einer so weitreichenden Konsequenz, daß Wolffs Ablehnung der Rede von der Leibniz-Wolffschen Philosophie in diesem Punkte nur um so berechtigter erscheint. 77 Eine Auswirkung, an der sich die Konsequenzen dieses modifizierten Ansatzes ablesen lassen, betrifft den Begriff der Empfindung. Zu diesem Begriff führt Wolff aus: "Die Gedanken, welche den Grund in den Veränderungen an den Gliedmassen unsers Leibes haben, und von den cörperlichen Dingen ausser uns veranlasset werden, pflegen wir Empfindungen, und das Vermögen zu empfinden die Sinnen (... ) zu nennen. "78 Die Empfindung 74 s. Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band. S. 524f. 75 Vgl. die Ausführungen von Cassirer in seinem oben zitierten Werk, S. 521ff. Von einer Analyse der Leibnizschen Begriffstheorie kommt Hans Poser in seinem Aufsatz ,Zum Begriff der Monade bei Leibniz und Wolff', in: Studia Leibnitiana. Supplementa XIV,3, 1975, S. 391, zu dem Ergebnis: "Nun wäre die Annahme der Außenwelt als Substanz für Leibniz auf dem Hintergrund der Begriffstheorie deshalb unannehmbar gewesen, weil sie einer überflüssigen Weltverdoppelung gleichgekommen
wäre."
76 So bleiben die Leibnizschen Monaden für Wolff "ein Rätzel" (so Wolff in einem Brief vom 11. Mai 1746, abgedruckt in: Heinrich Ostertag, Der philosophische Gehalt des Wolff-Manteuffelschen Briefwechsels. Hildesheim/New York 1980, S. 60), weswegen er sich zeitlebens "nicht (hat) determiniren können ihm in der Lehre von den Monadibus Beyfall zu geben". (Wolff, Der vernünfftigen Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen und aller Dinge überhaupt, anderer Theil bestehend in ausführlichen Anmerckungen. Frankfurt am Main 1740. Hg. von Charles A. COIT. Hildesheim 1983, § 215) 77 Auf grundlegende Differenzen zwischen der Philosophie Leibniz' und Wolffs weisen unter je anderer Perspektive Casula und Poser hin. So geht es Mario Casula in seinem Aufsatz ,Die Lehre von der prästabilierten Harmonie in ihrer Entwicklung von Leibniz bis A.G. Baumgarten', in: Studia Leibnitiana. Supplementa XIV,3, 1975, S. 397ff, um einen anhand von Aussagen Leibniz' und Wolffs geführten Nachweis, daß "die Leibnizsche Monadenlehre mit der Wolffschen Lehre von den einfachen Dingen oder Elementen der Welt unvereinbar ist" (S. 408). Poser kommt in seinen bereits erwähnten Ausführungen zu dem Ergebnis, daß "die Ablehnung der Monadenlehre die entscheidende Differenz zwischen Leibniz und Wolff" sei (S. 383), der eine gegenüber Leibniz modifizierte Bestimmung des Dinges bei Wolff vorausgehe, die die Aufgabe der Spiegelungsthese sowie einen geänderten Kraftbegriff impliziere und sich in Wolffs Begriffstheorie widerspiegele. 78 Wolff, DMet., § 220. Für Wolff konstituiert der ,Grund' kein Kausalitätsverhältnis, sondern ein: biosses Grund-Folgeverhältnis (s. DMet., § 29), und dies unterscheidet ihn darin von der ,Ursache'; Wolff führt damit eine Differenzierung ein, die.es ihm erlaubt, unter logischen Kriterien von der Gegründetheit der Empfindung in den Sinnesorganen zu sprechen, ohne deren mögliche Einwirkungen als Ursache für die Ent-
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wird hier als Verbindungsglied zwischen Körper und Seele eingesetzt (wobei sie als Regung der Seele verstanden wird), eine Verbindung, die in Wolffs Ansatz um so notwendiger ist, als er der Seele wie auch dem Körper eine je eigene Kraft zuerkennt, weswegen Körperwelt und geistige Welt je für sich bestehen können. 79 In diesem Zusammenhang bildet die Empfindung das Tor der Seele zur Außenwelt. Ihre Angewiesenheit auf Sinnes daten kommt darin zum Ausdruck, daß Wolff vor defekten Sinnesorganen warnen muß, führen sie doch zu falschen Vorstellungen in der Seele. 80 Deuten Wolffs Aussagen auf die Annahme eines Zusammenwirkens von Körper und Seele vermittelst der Empfindung hin, wodurch die Kenntnis von Außenwelt abgesichert sein soll, so wird im folgenden Satz jeder Affizierungsvorgang der Seele durch die Sinnesorgane strikt abgelehnt: "Derowegen da der Leib gar nichts zu den Empfindungen in der Seele beyträget; so würden alle eben so erfolgen, wenn gleich gar keine Welt vorhanden wäre. "81 Um aber ein paralleles Agieren von Körper und Seele begründen zu können, ohne zwischen Innen und Außen ein Kausalitätsverhältnis ansetzen zu müssen, beruft sich Wolff schließlich auf die Vorstellung der prästabilierten Harmonie. 82 Zugleich wird an anderer Stelle versichert, sie sei eine bloße Hypothese, die ohne Schaden für Wolffs System - und dies heißt, ohne die Folgerichtigkeit seiner Sätze einzubüßen - wegfallen kann 83 ; sie diene ihm lediglich zur Erklärung der aus der Erfahrung abzuleitenden Tatsache einer Übereinstimmung von Leib und Seele in ihren Tätigkeiten. 84 Wolff muß, weil er die Grundposition Leibniz' hinsichtlich der Monaden als vorstellende Wesen ablehnt, die Erkenntnis von Außenwelt neu fundieren. Zu seiner neuen Konzeption gehört das Außerachtlassen der ,Fensterlosigkeit' der Monaden85 , die Abänderung der ideellen Verknüpftheit der Monaden zu einem realen Nexus sowie der Verlust der perspektivischen Ganzheitsschau aufgrund der Gebundenheit der Seele an die Stellung des stehung von Empfindungen angeben zu müssen. Wie unzureichend ihm diese Disjunktion selbst ist, zeigen jedoch seine Bemühungen um eine nähere Aufklärung dieses Problems. 79 s. Wolff, DMet., § 765. 80 s. Wolff, DMet., § 790. 81 Wolff, DMet., § 777. 82 s. Wolff, DMet., § 765. 83 s. Wolff, Ausführliche Nachricht. § 100. 84 Nach Hans M. Wolff, Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung. S. 107f, ist Wolff genötigt gewesen, die prästabilierte Harmonie als Erklärungsmodell wiedereinzuführen, um der Willensfreiheit des Menschen in seiner Philosophie einen Platz einräumen zu können. Aus diesem Grunde, um die Ethik auf die Freiheit der menschlichen Seele gründen zu können, kann Wolff weder der Influxus-physicus-Theorie noch dem Okkasionalismus zustimmen; er muß, da ihm die zeitgenössische Philosophie keinen anderen Ansatz bietet, auf die Lehre von der prästabilierten Harmonie zurückgreifen. 85 s. Wolff, DMet., § 81.
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Körpers in der Welt. 86 Für den Empfindungsbegriff ergibt sich aus diesen Modifikationen als notwendige Konsequenz seine Bezogenheit auf die Sinnesorgane. Letztlich kann Wolffs Harmonisierungsversuch, wie er in dem folgenden Paragraphen zum Ausdruck kommt, die Zwiespältigkeit seiner Konzeption nicht beseitigen, die angestrebte Einheitlichkeit nicht herstellen. Als Synthese formuliert er: "Die Empfindungen haben wegen der Harmonie mit dem Leibe ihren Grund im Leibe, und also dem Ansehen nach ausser der Seele. Derowegen werden sie unter die Leidenschaften gerechnet. Unterdessen da sie in der That von der Seele hervorgebracht, und nur mit dem Leibe in eine Harmonie gesetzet worden; so sind es Thaten der Seele. "87 Nicht zu Unrecht kann Sommer Wolffs Ansatz als schwankend kennzeichnen. 88 Der nachfolgenden Generation deutscher Philosophen stellt sich die Frage nach Art, Umfang und Rechtmäßigkeit des Beitrags der Sinne zum Erkenntnisgewinn. Einen wichtigen Schritt zur Rehabilitierung der Sinnlichkeit bedeutet die Bestimmung in der Ästhetik als eines ,analogon rationis' durch A. Baumgarten. Die Aufwertung der Sinnlichkeit wird sekundiert durch eine Abwertung des Beitrags der Begriffe zur Erkenntnis der Außenwelt, wie sie in Schriften von Andreas Rüdiger anzutreffen ist. Für Rüdiger kann der reine Begriff "niemals die Existenz einer Sache verbürgen; vielmehr können wir die Gewähr hierfür lediglich dem Eindruck der Sinne entnehmen"89. Da die Sinne nicht ohne Reflexionsorgan, die Seele nicht ohne Erkenntnismaterial auskommen, der Empirie zudem ein immer größerer Stellenwert in der Erkenntnislehre beigemessen wird, erscheinen in der Folgezeit zahlreiche Untersuchungen, die sich mit dem Zusammenwirken von Seele und Körper beschäftigen, mit der Erkenntnis der Außenwelt, mit dem möglichen Einwirken der Sinne und Sinnesdaten auf die Seele. Es ist dies die Geburtsstunde der Psychologie als einer Wissenschaft von der Seele, die unter beabsichtigter Ausklammerung des metaphysischen Problemhorizontes das Wirken und Zusammenspiel der Kräfte der menschlichen Seele zu analysieren sich vorgenommen hat. Seit Mitte des achtzehnten Jahrhunderts ranken die Ausführungen zunehmend um den Begriff der Empfindung; genauer um die Frage, inwieweit die Empfindung von der Außenwelt durch die Sinne bestimmt wird, ob sie auf der Seite des Körpers als Ergebnis eines Sinnesreizes oder ob sie eine bloße s. Wolff, DMet., § 785. Wolff, DMet., § 818. 88 Sommer, Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Ästhetik. S. 9: "Einmal scheint er [sc. Wolff] einen Einfluss der Dinge auf einander speziell des Körpers auf die Seele anzunehmen, das andere mal schliesst er wieder jede Wechselwirkung der Substanzen (... ) aus." 89 Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. Zweiter Band, S. 525. 86 87
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Äußerung der Seele darstellt verbunden mit einem Gefühl der Lust oder Unlust. Mit Leibniz und Locke stehen zwei unterschiedliche Deutungsansätze zur Disposition, wobei spätestens seit der posthumen Herausgabe der ,Nouveaux Essais sur l'entendement humain' im Jahre 1765 jeder Versuch, beide Ansätze miteinander zu vereinbaren, dem erklärten Willen Leibniz' entgegensteht. Finden sich Stimmen, die, um metaphysische Querelen auszuschließen, nur die Sinneserfahrung als evidente Erfahrung der Außenwelt gelten lassen wollen, ohne vielfach die auch diesem Ansatz zugrunde liegenden philosophischen Implikationen zu thematisieren (Humboldt lernt in Georg Forster einen Vertreter dieser Richtung kennen), so ist auch die Ansicht anzutreffen, der Mensch könne Welt nur vermittelst der in der Seele anzutreffenden Empfindungen aufspüren. Vor schier unlösbare Probleme gestellt, suchen beide Richtungen sich Argumente und Ergebnisse der Gegenposition zunutze zu machen. Ausführlich wird über den physiologischen Sehvorgang referiert, um Auskünfte über einen möglichen Affizierungsvorgang der Seele zu erhalten; anhand der von Molyneux aufgeworfenen Frage wird der Grad der Adäquatheit der Bilder, die ein Sinn von den Gegenständen der Außenwelt entwirft, diskutiert. 9o Gefragt wird nach dem Sinn, der dies am besten zu leisten vermag; darüberhinaus werden die Funktionen der einzelnen Sinne untereinander abzugrenzen gesucht. In den ,Philosophische(n) Versuche(n) über die menschliche Natur und ihre Entwickelung' von Nicolaus Tetens ist zu beobachten, wie physiologische Untersuchungen zusammengebracht werden mit der Vorstellung von der Seele als Vorstellungskraft, die in Abwandlung der Leibnizschen Bestimmung der Monade als Vorstellung Produzent ihrer eigenen Erkenntnis von Außenwelt ist. Auf die Untersuchung der Sinneswahrnehmungen legt Tetens soviel Wert, begreift er sie doch als Sinnbild der innerenEmpfindungen und erhofft sich von ihrer Analyse Auskunft über den als analog gesetzten Vorgang in der Seele bei der Erzeugung der Empfindung. Da aber letztlich der Mensch kein Kriterium an der Hand hat, um die Adäquatheit der Sinneswahrnehmung mit dem entsprechenden Gegenstand der Außenwelt zu überprüfen, fehlt es auch ihm an einem Maßstab für die Richtigkeit der entsprechenden Empfindungen; für die Objektivität der inneren Wahrnehmung gibt es nur die letztlich der Subjektivität verhaftet bleibenden Denknotwendigkeiten. Die vielfältigen unterschiedlichen Antworten führt Cassirer auf eine mangelnde "Scheidung zwischen der ,transzendentalen' und der ,psychologischen' Methode zurück, auf eine fehlende Unterscheidung bei "der Frage nach dem ,Anheben' der Erfahrung und ihrem ,Entspringen"': "Die ,transzendentale Deduktion' wird nirgends von der ,physiologischen Deduktion' 90 s. Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung. S. 144f. Auch in Engels Vorlesung wird dieses Problem angeschnitten. (s. auch GS VlI,2, 398)
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gesondert; die objektive Gültigkeit der Grundbegriffe der Erkenntnis soll durch ihre Herkunft bestimmt und an ihr gemessen werden. "91 Zu bedenken ist bei dieser aus kantianischer Sicht geschriebenen Charakterisierung, daß es gerade die mit der Methodenungenauigkeit heraufbeschworenen Erkenntnisprobleme sind, die Kant auf die Notwendigkeit einer - in der ,Kritik der reinen Vernunft' vorgenommenen - methodischen Scheidung aufmerksam gemacht haben. Ende des Exkurses Die Momente, die in der zeitgenössischen Diskussion über die Fundierung von Erkenntnis eine Rolle spielen, kehren in Engels Vorlesung wieder. Wir treffen in Humboldts Aufzeichnungen sowohl die Herausstreichung der Sinneswahrnehmung bei der Erkenntnisgewinnung wie auch eine - in der Logikvorlesung allerdings erst angedeutete - Betonung der Autonomie der Seele im Erkenntnisprozeß an. Aus Humboldts Äußerungen läßt sich in einem ersten Angang folgende Lehre Engels herausfiltern: Alle Empfindungen als Quelle aller übrigen Erkenntnis ruhen in der Seele; wie nun die Sinneswahrnehmung Bilder von der Außenwelt der Seele vermittelt, so liefern die Empfindungen der Seele Erkenntnismaterial. Dieser analog gesetzte Vorgang wird nicht weiter erläutert. Unterliegen die Sinnes daten grundsätzlich dem Täuschungsverdacht, so muß als Korrektiv der Reflexionsvorgang der Seele hervorgehoben werden, um zu einer Sicherheit über die Richtigkeit des Erkannten zu gelangen. Da die Obje~tivität des so Erkannten auf der Übereinstimmung mit den Denkgesetzen der Seele beruht, gibt es keinen außersubjektiven Maßstab, der ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit verbürgt. Engels Kolleg zur Logik ist von der Tendenz geprägt, die Sinnlichkeit des Menschen in den Erkenntnisprozeß als selbständige Größe zu integrieren und ihr demzufolge einen eigenen Stellenwert in der Logik einzuräumen. Dies führt zu einem verstärkten Zug zum Empirismus, der merkwürdig einem sich aus der Leibnizschen Philosophie nährenden Phänomenalismus konterkariert. Folgen wir dem Urteil Baeumlers, so ist dieser empiristische Zug "wie alle(r) Empirismus in der deutschen Philosophie (... ) nur die Konsequenz des Wolffianismus". Und weiter: "Diese Wertschätzung [der historischen Erkenntnis] ist schon in Wolffs Philosophie da; sie tritt nur dadurch erst deutlicher heraus, daß die Überbewertung der rationalen Erkenntnis fortfällt. Die Begriffe Lockes geben nur dem die Sprache, was auch ohne Locke schon zum Ausdruck drängte. Recht verstanden ist Wolff nicht zu sehr, sondern zu wenig Rationalist. Es ist der Kardinalirrtum seiner Methode und bedeutet den eigentlichen Abfall von Leibniz, daß Wolff historische und philosophische Erkenntnis (sinnliche und rationale) als gleichbe91
Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung. S. 124.
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rechtigt nebeneinander bestehen läßt. Was durch Erfahrung (aposteriori) feststeht, kann auch durch die Vernunft (apriori) erwiesen werden: das ist die ewige Melodie in Wolffs Schriften. "92 In den von Wolff thematisierten Fragehorizont nach dem Verhältnis von sinnlicher und rationaler Erkenntnis sind auch Engels Bemühungen um die Integration ästhetischer Erwägungen in die Logik einzuordnen. Welche Konsequenzen eine solche angestrebte Revision der Erkenntnislehre (wiewohl diese Bezeichnung einer philosophischen Disziplin erst seit Kants kritischen Schriften zulässig ist) für die Grundprinzipien der rationalistischen Aufklärungsphilosophie zeitigen, wird in Engels Metaphysikvorlesung zu Tage treten. Solchen erkenntnistheoretischen Erwägungen kann Engel in seiner Vorlesung einen so weiten Raum geben, geht er doch davon aus, daß die Reflexion über die Entstehung von Begriffen Voraussetzung für die Überprüfung ihrer Richtigkeit ist. Dennoch fehlt es nicht an einer detaillierten Auflistung der verschiedenen Begriffsarten nach ihrem Ursprung und ihrer Vorstellungsart. In monotoner Aneinanderreihung werden Klassifikationen und deren Unterscheidungsmerkmale angegeben. Und so trifft auch Engels philosophischen Ansatz das Verdikt, das Herder gegen "unsre(.) helle(.) und klare(.) Philosophie formuliert: "Sie (... ) mag lieber auf dem Leibnitzischen Schachbrett mit einigen tauben Wörtern und Klassifikationen von dunklen und klaren, deutlichen und verworrenen Ideen, von Erkennen in und außer sich, mit sich und ohne sich selbst u. dgl. spielen. "93 Nach der seitenweisen Aufzählung von Begriffseinteilungen wird schließlich an dem in der Morallehre des achtzehnten Jahrhunderts gängigen Terminus ,Pflichten gegen Gott' aufgezeigt, inwieweit Begriffsanalyse eine Orientierung im Denken geben kann. Feststellen kann Humboldt nämlich, daß aus dem Begriff der Pflichten in Verbindung mit dem Begriff ,Gott' keine Verpflichtung des Menschen einem höchsten Wesen gegenüber deduziert werden kann. Denn "gegen Gott können wir genau genommen, keine Pflichten haben", nur Pflichten "gegen uns und andre, weil nicht Gottes, sondern unsre, und andrer Glückseligkeit dadurch befördert wird:'.94 Diese zunächst gegen weitverbreitete theologische Ableitungsversuche gerichteten Einwürfe gewinnen ihre Brisanz im Hinblick auf ein Verständnis des Staates, der aus der gesetzten Verpflichtung des Menschen gegen Gott bestimmte Forderungen an seine Untertanen abzuleiten sich anmaßt.
92 Alfred Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 1B. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. Rep. Ndr. d. 2. Auflage, Darmstadt 1981, S.193. 93 Herders sämmtliche Werke. Hg. von Bernhard Suphan. Berlin 1B77ff. Bd. VIII, S. 179f. (Diese Ausgabe der Herderschen Schriften wird im Folgenden abgekürzt mit: SW mit Bandangabe in römischen Zahlen.) 94 GS VII,2, 391.
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2.2.1.2 Die Metaphysikvorlesung Auf die Logik folgt die Metaphysik. Hierzu greift Engel auf das weitverbreitete Handbuch des Göttinger Philosophieprofessors Johann Georg Heinrich Feder zurück, dessen ,Logik und Metaphysik' 1786 die sechste Auflage erlebte. Schließt Engel sich auch dem Duktus und der Themenabfolge dieses Werks weitgehend an, so weisen doch die andersartige Gewichtung, die er den einzelnen Komplexen gibt, wie auch inhaltliche Differenzen auf eine sich gegenüber Feders Darlegung Eigenständigkeit bewahrende Bearbeitung des vorliegenden Stoffes hin. So legt Engel in seinem methodischen Vorgehen größeren Wert auf eine strenge Begrifflichkeit, die logischanalytische Beweisführung wird konsequenter durchgeführt. In der Unterrichtsmethode setzt sich der Trend zu einer freieren Ausarbeitung der anstehenden Themen durch Humboldt fort. Seine gesamte Begriffsanalyse wie auch seine Ausführungen zur Monadologie als dem zugrunde gelegten Welterklärungsmodell dienen Engel zuletzt dazu, in dieser Metaphysikvorlesung die Stellung des Menschen im Gesamtgefüge zu bestimmen. So wird sukzessive das Wesen der Dinge als Substanz analysiert; anhand einer Monadologie die stufenförmige Anordnung und Verknüpfung aller Dinge qua Monaden vorgestellt, das Verhältnis von Körper und Geist anhand des Leib-Seele-Problems thematisiert, um schließlich in einer kosmologischen Studie die Grundlagen des Zusammenhanges der Dinge, aus denen sich die Welt als eine Verknüpfung aller endlichen Dinge untereinander ergibt, zu erarbeiten. Daß dieser analysierten Welt der Dinge auch eine wirkliche Welt - nämlich unsere Welt entspricht -, dieses zu beweisen ist Aufgabe der beiden Schlußuntersuchungen über die wirkliche Welt als einzige und bestmögliche. Um die Probleme, die sich aus dieser Konzeption ergeben, aufweisen zu können, müssen zuvor dem Duktus dieser Vorlesung gefolgt und Engels Bestimmungen zur Substanz, zur Kraft und zur Monade genauer studiert werden. Auf diese Weise gewinnen wir aus der inhaltlichen Analyse der Vorlesungsnachschrift ein Bild der im Kreise der ,Berliner Aufklärung' verbreiteten populären Metaphysik. In einem ersten Schritt wird der Substanzcharakter des Dinges besprochen. 95 Feders Beweisgang, alles das, was den Dingen an Qualitäten anhaftet, abzustreifen, um das, was übrig bleibt, mit dem Namen Substanz zu belegen, wird von Engel abgelehnt; denn letztlich läuft dieser Ansatz - so Engels Einwand - auf eine materielle Vorstellung von der Substanz hinaus: der Substanz wäre eine körperhafte Bestimmung ohne körperliche Beschaffenheiten zuteil geworden. Mit diesem Hinweis auf den Immaterialitätscharakter der Substanz bricht der Kommentar zunächst ab, weswegen an dieser 9S
s. GS VII,2, 408ff.
5 Sauter
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Stelle noch keine Entscheidung zugunsten einer der beiden aufgeführten Substanz-Definitionen von Descartes und Leibniz fällt. Vielmehr wird nun der Begriff der Kraft eingeführt. Daß allen Dingen eine wie auch immer zu begründende Kraft zukommt, ist eine gängige Auffassung in der philosophischen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts.9 6 Für Engel zeigt sich das Vorhandensein einer solchen Kraft an ihrer Wirkung, genauer an der von ihr ausgehenden Veränderung, die allenthalben zu beobachten ist. Sie macht sich bemerkbar als "eine stete und unveränderliche Folge gewisser Veränderungen" 97. Ihre Wirkweise dagegen bleibt im Dunkeln; "wir begreifen nie die Art, wie sie [sc. die Kräfte] wirken, und wie sie von einem Körper einem andern mitgetheilt werden"98. Leibniz' Gleichnis von den aufeinanderstoßenden Billardkugeln, mit dem dieser in grundsätzlicher Weise seine Auffassung von der Kraft als Selbsttätigkeit erläutert hat, bietet für Engel ausdrücklich keine hinreichende Erklärung. Da aber Veränderungen in der Welt zu beobachten sind, und diese eine Ursache haben müssen, so ergibt sich für ihn als Schlußfolgerung aus der Beobachtung der Ansatz eines solchen tätigen Prinzips, die Kraft. Ein solcher Argumentationsstil, den Begriff der Kraft in der empirischen Beobachtung zu gründen, ist charakteristisch für Engels Metaphysik. Denn ihm geht es nicht um den Aufbau eines in sich konkludenten philosophischen Systems, sondern als ,Philosoph für die Welt' ist Engel daran interessiert, die zu beobachtenden Phänomene mit Hilfe der in der Philosophiegeschichte bereitstehenden Begründungen zu erklären. Mit dem so gewonnenen Kraftbegriff greift Engel die Frage nach dem Wesen der Substanz noch einmal auf, um nun festzustellen: "Alle Substanzen sind Kräfte; Substanz und Kraft sind unzertrennliche Begriffe. "99 Diese Gleichsetzung unterstreicht Engel in einer Randglosse, wenn er hinzufügt: ,,( ... ) sind uns Ein Begrif"loo. Mit dieser Bestimmung soll der bei Feder aufgewiesene Fehler der Körperhaftigkeit der Substanz vermieden, die Immaterialität der Substanz aufgezeigt und die Substanz zugleich anhand der von ihr ausgehenden Wirkung in der Erfahrung nachweisbar gemacht werden. Daß die hier vollzogene Identifizierung von Substanz und Kraft nicht exakt den Substanzbegriff Leibniz' wiedergibt, macht folgende Ausführung Leibniz' in einem Brief an de Volder deutlich: "Auch dürfte für den Begriff des Vermögens oder der Kraft keine andre Erklärung zu suchen sein, als daß die Kraft das Attribut ist, aus dem die Veränderung folgt und dessen Subjekt 96 Vgl. Joh. Georg Heinrich Feder, Logik und Metaphysik. Sechste vermehrte Auß. Göttingen 1786, § 14. Zum Kraftbegriff im 18. Jahrhundert s. Max Dessoir, Geschichte der neueren deutschen Psychologie. Zweite, völlig umgearbeitete Auflage. Erster Band. Berlin 1902, S. 377ff. 97 GS VII,2, 412. 98 Ebd. 99 GS VII,2, 413. 100 Ebd., Anm. 3.
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die Substanz selbst ist." 101 Für Leibniz ist das die Kraft Fundierende die Substanz, wobei die Substanz "das bleibende Gesetz der Veränderung selbst"102 ist. Als einfaches, unteilbares, selbständiges und vollständig bestimmtes Wesen legt sie sich in ihrer Bestimmtheit als diese individuelle Substanz l03 mittels der Kraft aus. Mit der Gleichsetzung von Substanz und Kraft dagegen wird der Ansatz der Substanz als Werdegesetz l04 verschüttet. Zu konstatieren ist hier in Engels Metaphysikvorlesung die Aufgabe des entelechialen Grundzugs der Monade und damit eines wesentlichen Momentes des Leibnizschen Substanzbegriffes. Diese Modifizierung der Leibnizschen Grundbegriffe schlägt sich in der nachfolgenden Ausdeutung Humboldts nieder. "Jedes Ding in der Welt", so sein Kommentar, "ist zu einem gewissen Zwekke da, und in dem Vermögen, diesen zu erreichen, besteht seine Kraft. Wenn wir ihm nun diese Kraft nehmen, so kann es seinen Zwek nicht mehr erreichen, und ist also völlig unnüz. "105 Eine solche Überlegung hat in Leibniz' Philosophie überhaupt keinen Platz. Das hier angesprochene teleologische Moment ist der Substanz Leibniz' inhärent, genauer: sie ist als diese Entelechie bestimmt. l06 Als ein solches immaterielles Lebensprinzip liegt sie jedem Ding zugrunde. 107 In Humboldts Ausführung dagegen wird die Kraft als eine Eigenschaft an einem Ding vorgestellt, dessen Wegfall zwar dem Ding seine Ausrichtung nimmt, nicht aber seine Existenz. Wenn ein solches kraft-loses Sein als unnüz charakterisiert wird, so weist diese Interpretation eher in Richtung zeitgängiger philanthropistischer Nützlichkeitserwägungen, wonach jedes Seiende seinen vorgegebenen Platz in der Ordnung der Welt mit Hilfe seiner Kraft auszufüllen hat und hierin seine Vollkommenheit und damit seinen Endzweck findet. Diese Vorstellung setzt die Leibniz fremde Idee voraus, daß der Zweck des Dinges nicht in den Dingen selbst, sondern in seinem Zusammenwirken mit den anderen Dingen angesetzt wird. Die Kraft, aus der sich alle anderen Kräfte als vires derivativae ableiten, wird im Hinblick auf die menschliche Seele von Engel als Vorstellungskraft bestimmt: "In unsrer Seele ist die Urkraft die Vorstellungskraft; alle übrigen Kräfte, Gedächtniss, Phantasie, u.s.f. sind nur abgeleitete oder sie sind vielmehr nur dieselbe Vorstellungskraft, auf verschiedene Art bestimmt, und 101 Brief vom 24. März/3. April 1699, in: G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundleguni\ der Philosophie. Übersetzt von A. Buchenau. Hg. von E. Cassirer. Bd. H, Hamburg 1966, S. 289. 102 Ebd., S. 293. 103 Zu Leibniz' Theorie der individuellen Substanz s. Klaus Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff. Bonn 21986, S. 245ff. (Kant-Studien Ergänzungsheft 96) 104 s. hierzu Gurwitsch, Leibniz. Philosophie des Panlogismus. S. 302ff. 105 GS VII,2, 413. 106 s. Leibniz, Monadologie. § 18. 107 s. Düsing, Die Teleologie in Kants Weltbegriff. S. 251. 5'
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eingeschränkt" 108, heißt es in Humboldts Aufzeichnungen. Damit bleibt Engel seiner Auffassung treu, daß" alle Kräfte unserer Seele - Aeusserungen (Modifikationen) der Einen, in ihr wohnenden" sind. 109 Daß sich auf den Ansatz der einen Kraft die "Einheit der Subjektivität"l1O gründet, wird allerdings in Humboldts Aufzeichnungen nirgendwo thematisiert. Dies bestätigt die Beobachtung, daß hier Leibniz' Substanzenlehre als eine Theorie der individuellen Substanz in keiner Weise zur Sprache kommt. Vielmehr wird zur Frage nach der Individualität der Dinge lediglich ausgeführt: Jedem Ding kommt Einheit zu, soweit es "Eins und unzertrennlich, nicht aber insofern es nur einmalig vorhanden ist; denn Eins und Einzig sind verschieden" 111. Damit wird aber dem Ding keine Vereinzelt-Einmaligkeit zuerkannt. Die hier zu Tage tretende gravierende und folgenreiche Differenz zu Leibniz' Begriff der Monade ist Resultat der Modifikationen, die Engel in Anlehnung an Wolff an dem Leibnizschen Substanz- und Kraftbegriff vorgenommen hat. Diese Überlegungen, die zunächst erst einmal der Sammlung von Bestimmungen zur Substanz dienten, werden im Folgenden in einen konkludenten Zusammenhang gebracht, der unter der Bezeichnung ,Monadologie' vorgestellt wird. Zwar ist diese Lehre von den einfachen Substanzen "keine Modelehre mehr", wie Feder einräumt, gleichwohl aber "ein interessantes Stück der Metaphysik". Denn sie verhilft dem Menschen, "durch den Schein, wenn er einmal gewahr wird, daß nur Schein vor ihm ist, in die Grundbeschaffenheiten der Dinge ein[zu]dringen"ll2. Gleiches verspricht sich Engel von einer Beschäftigung mit der Monadologie. In diesem Abschnitt nun expliziert er seinen Begriff von der einfachen Substanz wie auch seine Vorstellung vom Aufbau der Welt. Als Bestimmungen der einfachen Substanz ergeben sich aus Engels Ausführungen ihre Ausdehnungslosigkeit, Immaterialität und Unteilbarkeit; sie ist Träger der Eigenschaften des zusammengesetzten Dinges. ll3 Aufgrund dieser Resultate bleibt Humboldt "nichts übrig als sie [die Substanzen] GS VII,2, 413. GS VII,2, 372. 110 s. hierzu Dieter Henrich. Über die Einheit der Subjektivität, in: Philosophische Rundschau 3, 1955, S. 28ff. In seiner Auseinandersetzung mit Heideggers Werk ,Kant und das Problem der Metaphysik'. Frankfurt/M., 21951, genauer mit der von Heidegger vertretenen Auffassung, "die Einbildungskraft der transzendentalen Deduktion" sei die "unbekannte Wurzel" (S. 30), von der Kant am Schluß seiner Einleitung in die ,Kritik der reinen Vernunft' (B 29) spricht, analysiert Henrich die verschiedenen vorkantischen Diskussionen um den Ansatz einer Grundkraft in der menschlichen Seele, die ihr Wesen ausmachen soll. 111 GS VlI,2, 41l. 112 Feder, Logik und Metaphysik. § 34. 113 Letztere Bestimmung ergibt sich aus Humboldts Feststellung: "Denn in den einfachen Substanzen liegen eigentlich die Kräfte, und alle Eigenschaften der zusammengesezten Dinge." (GS VII,2, 426) 108 109
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Kräfte zu nennen" 114. Wie aber soll "aus der Zusammensezung blosser Kräfte etwas materielles werden?"115, lautet die anschließende fundamentale Frage. Und hier gibt Engel eine Antwort, die rückblickend seine Erkenntnislehre in ein neues Licht rückt: "Die Körper", so führt er aus, "sind ja nicht wirkliche Beschaffenheiten der Dinge; denn diese kennen wir nicht. Sie sind ja nur Ideen, welche die wirklichen Beschaffenheiten in unsrer Seele erzeugen, und wenn unsre Seele anders gebildet wäre, so würde uns auch vielleicht das, was wir jezt die materielle Welt nennen, ganz anders erscheinen. "116 Hier kommt eine phänomenalistische Position zum Vorschein, die sich auf Leibniz' Rede vom Körper als der "plus distinctement"1l7 vollzogenen Vorstellung der Monade stützen kann. Diese Vorstellung aber birgt die Gefahr, wenn sie aus dem Zusammenhang der Leibnizschen Monadologie gerissen wird, den Menschen in einen Skeptizismus versinken zu lassen; denn der Mensch würde, wie Humboldt seinen Einwurf formuliert, "nach diesem Räsonnement (... ) nur den Schein der Dinge kennen, und nicht das, was diesen Schein hervorbringt, was eigentlich das Wesen der Dinge ausmacht" 118. Diesem Verlorensein im bloßen Schein zu entgehen, entwickelt Engel einen eigenen Ansatz. Er ist umso notwendiger geworden, nachdem er unter dem Einfluß des vehement in die deutsche Popularphilosophie eindringenden Empirismus wesentliche Momente der Leibnizschen Philosophie abgelehnt hat, wodurch die Konsistenz dieses Systems nicht mehr gegeben ist. Und so sind es zwei Themenkreise, die seine Darstellung der Monadologie durchziehen: zum einen die Analyse der Welt als Welt der Dinge, insofern diese Monaden sind, um auf diesen Erwägungen aufbauend die Stufenleiterkonzeption als Welterklärungsmodell vorstellen zu können; zum zweiten in einem erneuten Angang die Frage nach der Erkennbarkeit der Dinge. Die nachfolgende ausführlichere Besprechung dieser beiden Themengebiete gewährt nicht nur einen interessanten Einblick in die Rezeptionsgeschichte dieses einflußreichen Kapitels der Leibnizschen Philosophie, sondern eröffnet uns darüberhinaus die Möglichkeit, im Aufweis der Brüche und Ungereimtheiten in Engels Vortrag die Faktoren für Humboldts Suche nach einer ,Philosophie, welche eigentlich sähe', aufzudecken. Den Ausgangspunkt der Erwägungen Engels zur Monadologie bildet die Feststellung: "Das Wesen der Dinge besteht in Kräften." 119 Die einzige Kraft aber, dessen sich der Mensch bewußt ist, ist die "Kraft [s]einer Seele,
114 115 116 117
118 119
GS VII,2, 427. Ebd. Ebd. Leibniz, Monadologie. § 62. GS VII,2, 428. Ebd.
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Vorstellungen zu bilden"120. In einem Analogieschluß wird diese Vorstellungskraft mit der das Wesen aller Dinge ausmachenden Kraft gleichgesetzt. Mit diesem Schritt ist allererst die Voraussetzung geschaffen, um überhaupt das Dasein von Dingen feststellen zu können. Denn: " Wenn nicht Vorstellungskraft das Wesen der Dinge ausmacht, so kennen wir dis Wesen gar nicht." 121 Ihre Existenz wird verbürgt in einem Rekurs auf die eigene Erfahrung: "Diese [sc. die Vorstellungskraft] kenn' ich zuerst aus mir selbst; dann werd ich sie auch an den mich umgebenden lebendigen Geschöpfen, bei dem einen in höherem, bei dem andern in geringerem Grade, gewahr. "122 Der Ausbildungsgrad dieser Kraft123 bestimmt den Platz, den das Ding im Gesamtgefüge einnimmt. Leibniz' Gedanke von der hierarchischen Anordnung der Substanzen im Universum hat auf diese Weise Eingang in Engels Substanzenlehre gefunden. Aus dieser Bestimmung des Wesens der Monade als Vorstellungskraft werden zwei weitere Schlußfolgerungen gezogen, die auch die Leibnizsche Monadenlehre kennt. Das bereits erwähnte Bild zweier aufeinanderstoßender Billardkugeln wird nochmals aufgegriffen, um nun hieraus die Feststellung ableiten zu können, daß Monaden nicht aufeinander einwirken. 124 Damit wird indirekt Leibniz' Auffassung von der Fensterlosigkeit der Monaden wieder eingeführt. Wenn mithin feststeht, daß Monaden sich nicht gegenseitig beeinflussen, wie läßt sich dann - so die anschließend zu erörternde Frage - eine solche Beziehung von Seele und Körper erklären, wie sie sich in der alltäglichen Erfahrung erweist? Mit dieser Fragestellung greift Engel ein seine Zeit stark beschäftigendes Problem auf. Hilfestellung bei der Lösung sucht er in der Philosophie von Leibniz: Zunächst als bloße Hypothese wird die Idee der prästabilierten Harmonie angeführt als "eine Uebereinstimmung, die Gott schon bei der Schöpfung der Dinge in die Monaden gelegt hat, dass, so oft die Monade, die wir die wirkende nennen, eine gewisse Vorstellung hat, auch in der, auf die, wie wir sagen, gewirkt wird, eine jener analoge Vorstellung aufsteigt"125. Dieser Hypothese den Status einer gesicherten Feststellung zukommen zu lassen, macht eine weitere Bestimmung der Monade als "un miroir vivant perpetuel de l'univers"126, wie Leibniz die entsprechende Vorstellung in der Monadologie bezeichnet, notwendig. Als ein solcher lebendiger Spiegel des 120 121 122 123
Ebd., vgl. auch GS VII,2, 413. GS VII,2, 428. Ebd. Korrekterweise müßte Engel von dem Grad der Klarheit und Deutlichkeit der Perzeptionen und der Intensität dieses Strebens sprechen; s. Leibniz, Principes de la Nature et de la Grace fondes en raison. § 2. 124 s. GS VII,2, 43l. 125 Ebd. 126 Leibniz, Monadologie. § 56.
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Universums stellt die Monade es in seiner Gesamtheit aus der ihr eigenen Perspektive dar. Und so kann Humboldt davon reden, daß die "Seele, so wie jede Monade, eine vorstellende Kraft der ganzen Welt ist, dass in ihr, in dem fundo animi, eine Vorstellung von der ganzen Welt liegt"l27. Dieser Vorstellungsfähigkeit der ganzen Welt ist es zuzuschreiben, daß eine - wenngleich aufgrund der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit bloß hypothetisch anzusetzende - vollständige Erfassung einer Monade in allen ihren Bestimmungen Einsicht in das gesamte Weltall gibt. Die Schlußfolgerung Leibniz' allerdings, von der Monade als einer Welt für sich zu sprechen l2B , wird nicht nachvollzogen. So findet sich auch in den weiteren Aufzeichnungen Humboldts kein Hinweis darauf, daß er auf das hier als Möglichkeit aufscheinende neue Bild vom Menschen l29 als ein für sich bestehendes individuelles Ganzes aufmerksam geworden ist. Vielmehr dient dieser Argumentationsgang hier lediglich als ein Mittel, um das Zusammenspiel von Seele und Körper zu erklären. Das, was die Seele sich am deutlichsten vorstellt - so wird in Übereinstimmung mit der Lehre Leibniz' ausgeführt -, ist die Anzahl von Monaden, die den Körper bilden, womit die Deutung Engels der Körper als Phänomene ihre Erklärung findet. Das Zusammenwirken von Seele und Körper ist damit allerdings noch nicht geklärt; diesem Problem wird späterhin noch ein spezieller Abschnitt gewidmet. Die zweite Schlußfolgerung, die Engel aus den vorangegangenen Bestimmungen der Monade zieht, betrifft deren Anordnung untereinander. Mit der Rede von einer "vollständige(n) Stufenleiter von dem unvollkommensten Geschöpfe - ... - bis zu der unendlichen Kraft Gottes hinauf"l30 greift Engel auf eine Denkfigur zurück, die gerade im achtzehnten Jahrhundert sehr beliebt ist, um die Stellung des Menschen im Kosmos zu verorten. Insbesondere die Philosophie Leibniz' hat dieser Vorstellung eine vielfältige Ausdeutung gegeben und sie dieser Zeit als eine metaphysische Gesamtkonzeption erschlossen.l 3l Der Siegeszug dieser kosmologischen Vorstellung GS VII,2, 43l. s. Leibniz, Monadologie. § 57. 129 Menze hat in seinem Vortrag: Leibniz und die neuhumanistische Theorie der Bildung des Menschen. Opladen 1980, die Bedeutung und Rezeptionsweise von Leibniz' Theorie der individuellen Substanz in den Schriften der Neuhumanisten analysiert, um zu dem Ergebnis zu gelangen: "Sie [sc. die Neuhumanisten] bringen das in der Leibnizschen Philosophie nicht ergriffene anthropologische und bildungstheoretische Moment zum Vorschein und lassen weite Bereiche dieses Denkens mit einer Fülle metaphysischer Fragen unberücksichtigt. Ihr Rückgriff auf Leibniz läßt sich als eine Anthropologisierung der Monadenlehre kennzeichnen." (S. 10) Von dieser Basis aus ergibt sich eine "neue Einschätzung des Individuellen" (S. 11) im neuhumanistischen Bild vom Menschen in "produktive(r) Weiterführung(.)" (S. 10) des Leibnizschen Ansatzes. 130 GS VII,2, 428. 131 Die Geschichte dieser Idee hat Lovejoy in seiner bereits zitierten Untersuchung ,The great Chain of Being. A Study of the History of an Idea' von Platon bis zu ihrer ,Verkehrung' bei Schelling aufgezeichnet. (S. 325) Für die Rezeption dieser Idee im 18. 127
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liegt in ihrer Möglichkeit begründet, den Menschen als ein Mittelwesen zwischen Tier und Geist zu verstehen und ihn zugleich in eine Linie mit Gott zu setzen. Engel scheint in seinem Vortrag besonderen Wert darauf gelegt zu haben, die Vorstellungskraft als das durchgängige Prinzip alles Seienden herauszustellen, deren unterschiedliche Intensität dem einzelnen Seienden seinen Platz in der Hierarchie der Dinge zuweist und mithin diese große Kette der Wesen - so der geläufige Ausdruck für diese Denkfigur - konstituiert,132 Aus all diesen Erwägungen erwächst Humboldt auch ein neues Verständnis von Natur. So gibt er zu: "Statt dass, nach meiner vorigen Vorstellungsart, die leblosen Dinge bloss um der Lebendigen willen geschaffen waren; seh' ich jezt, dass sie gleiches Wesens mit diesen sind. "133 Mit der Rezeption der Stufenleitertheorie hat sich ein neues Welt- und Naturverständnis verbreitet: Die Natur wird nicht mehr als einzig auf den Menschen zentriert aufgefaßt, sondern der Mensch erfährt sich selber als Teil dieser Ordnung; mit dem Verlust seiner Zentralstelle ist zugleich ein Gefühl innigerer Verbundenheit mit allem ihn umgebenden Lebendigen gegeben. Wie sehr Humboldt diese neue Auffassung vom Organischen, wie sie sich aus Leibniz' Substanzmetaphysik entwickelt hat, betroffen gemacht hat, geht aus einem mehrere Jahre später geschriebenen Brief hervor. Am 12. November 1790 schreibt er seiner Verlobten im Anschluß an eine - seine kritische Einstellung zur Monadologie Leibniz' nicht verbergenden - Kurzfassung dieser Lehre: "Und doch erinnere ich mich sehr gut, wie dies System mich erwärmt hat. Vorzüglich einmal in Tegel. Ich saß einen Abend bei sternenhellem Himmel in einem kleinen Akazienwäldchen. Wie es nun immer so lebhafter in mir wurde, daß alles, was mich umgab, Wesen wie ich wären, jedes Blatt, das um mich rauschte, jeder Boden, den ich betrat, und daß die schlafenden Kräfte dieser Wesen einst geweckt und erhöht würden, da geriet ich in eine Begeisterung, noch fühl ich es, wie mir war. "134 Jahrhundert ist ihre Interpretation in den Werken von Locke und Leibniz maßgeblich. Eine problematisierende Darstellung der Stufenleiterkonzeption in den Werken Leibniz', die auch auf die Brüche innerhalb des philosophischen Gedankenganges bei Leibniz aufmerksam macht, bietet Gurwitsch, Leibniz. S. 265ff. 132 Ebenso wie in Leibniz' Ausführungen findet sich auch in Humboldts Aufzeichnungen die Verknüpfung dieser Denkfigur mit dem Kontinuitätsprinzip. Diesem Gesetz zufolge macht die Natur keine Sprünge, und darin liegt die Konsequenz begründet, daß es "von den unvollkommensten Geschöpfen (... ) in unzählbaren, unübersehbaren Gradationen bis zu den vollkommensten hinauf" geht. (GS VII,2, 430) Die Brücke vom Kontinuitätsprinzip zur Vorstellung von der Kette aller Wesen schlägt Engel selber, wenn er als Konsequenz einer als möglich gesetzten Ungültigkeit dieses Prinzips ausführt: "Die Weltreyhe, die Kette der Dinge hätte keine Einheit mehr; sie wäre zerrissen." (GS VII,2, 430, Anm. 2) 133 GS VII,2, 430. 134 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd. 1, S. 281. Vgl. auch den Brief von Alexander von Humboldt an Wilhelm Gabriel Wegener vom 25. Februar 1789, in: Ilse Jahn/Fritz G. Lange, Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 17871799. Berlin 1973, S. 41.
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Bei aller Begeisterung ist Humboldt die Problematik, die mit dieser Stufenleiterkonzeption gegeben ist, nicht fremd geblieben. Das Problem, das allenthalben von den Zeitgenossen diskutiert wird, liegt darin, daß eine solche Konzeption einer kontinuierlich verlaufenden gradativen Anordnung aller Wesen - unterstützt vom Kontinuitätsgesetz - das unvollkommenste, mit geringster Vorstellungskraft begabte Wesen in eine Reihe stellt, die in Gott ihren Abschluß findet. Als dieser Endpunkt ist Gott zugleich zureichender Grund für alle unter ihm angesiedelten Geschöpfe. In dieser Interpretation ist Gott somit einzig graduell von den Menschen getrennt. So sehr die hier ausgesprochene enge Verbundenheit der Menschen mit Gott das Selbstwertgefühl des Menschen des achtzehnten Jahrhunderts hebt, so gefährdet doch diese Theorie die Stellung Gottes als letzten zureichenden Grund aller Dinge. Denn eine solche Einschätzung Gottes beschwört die Gefahr herauf, Gott seiner Göttlichkeit zu berauben. Dem Problem einer argumentativen Sackgasse sucht Humboldt mit dem geläufigen Hinweis auf den dennoch bestehenden unendlichen Abstand zwischen dem vollkommensten Geschöpf und seinem Schöpfer zu begegnen. Um dieses Argument nicht mit dem Gesetz der Stetigkeit in Konflikt geraten zu lassen, muß das Kontinuitätsprinzip als bloß innerweltlich geltendes Prinzip angesetzt werden. Damit aber verliert es seine ihm zugewiesene Funktion, die Stufenleitertheorie als kosmologisches Prinzip abzusichern; die gesamte Konzeption gerät damit ins Wanken, ohne daß dies jedoch von Engel angesprochen wird. Dies ist nun nach Humboldt "ohngefehr Leibnizens Monadensystem, worüber so viel geschrieben, und gestritten ist"135. "Freilich", so formuliert er 135 GS VII,2, 432. Auch Feder widmet diesem System in seinem Lehrbuch eine gesonderte Betrachtung. Ausdrücklich bekennt er sich gegen anderweitige Bestimmungen der Substanz zu Leibniz' Ansatz der Monade: "Alle Monaden sind gewissermassen Arten von Seelen, mit dem Vermögen, Vorstellungen aus sich selbst hervor zu bringen, versehen. Der Grad der Deutlichkeit ihrer Gewahrnehmung unterscheidet sie von einander." (Feder, Logik und Metaphysik. § 39) Eine Aufarbeitung dieser Feststellung zu Leibniz' Theorie der individuellen Substanz findet sich allerdings auch bei ihm nicht. Schwierigkeiten hat er mit der Bestimmung der Monade, nicht aufeinander zu wirken. Diese Bedenken zu zerstreuen, bietet ihm die Rezeption der Vorstellung der in Gott gegründeten universalen Harmonie. Und "diese Uebereinstimmung machet, daß sich aus dem jedesmaligen Zustande einer Monade dem, der diesen zu verstehen hinlängliche Verstandeskraft hat, der gegenwärtige und vergangene Zustand der ganzen übrigen Welt offenbaret. Eine jede Monade ist ein lebendiger Spiegel des ganzen grossen Weltgebäudes. " (Ebd.) Auch Feder kennt also die Leibnizsche Rede von der Monade als ,einseitig-parteilicher Repräsentation des Universums~, ohne hieraus allerdings ebenso wie Engel weiterreichende Konsequenzen zu ziehen. Uberhaupt drückt sich in Feders Darstellung trotz aller Anerkennung eine gewisse Reserviertheit gegenüber der Philosophie von Leibniz aus. Ist ihm auch diese MetaphYSik als ein in sich konkludenter Ansatz durchaus bedenkenswert, so entzieht sie sich jedoch in vielfältiger Weise einer Überprüfung durch die Empirie und entspricht folglich daher nicht mehr dem methodischen Ansatz der Popularphilosophie. Zur Leibniz-Rezeption in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts führt Kondylis in seiner Untersuchung ,Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus', Stuttgart 1981, aus: "Von jeder Beeinflussung in einzelnen Fragen abgesehen, ist die wichtigste Seite der Rezeption Leibnizens darin zu sehen, daß er Strukturen zur Ver-
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seinen grundsätzlichen Einwand, "bleiben noch eine Menge von Zweifeln übrig, freilich fällt meine ganze Physik, und meine ganze Sinnlichkeit über den Haufen"136. Diese Kritik betrifft die Seite der Leibnizschen Philosophie, die die Philosophen in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts unter Einbeziehung der von der englischen Philosophie ausgehenden empiristischen Strömung zu ,verbessern' trachten. Für Leibniz muß die Einbeziehung der Sinnlichkeit in den Erkenntnisprozeß einer unzulässigen Verdoppelung der Außenwelt gleichkommen. Erkenntnis ist in der Leibnizschen Philosophie die Aufmerksamkeit der Monade als ,repraesentatio mundi vel Dei' auf sich selbst und ihrem Bewußtsein von diesem Akt.1 37 In dieser Philosophie findet sich kein Raum für einen Erkenntnisgewinn mit Unterstützung der Sinnesorgane und der Aufnahme wie Verarbeitung der wie auch immer durch sie gewonnenen Daten in der Seele. Gerade aber die Spätaufklärung ist vehement daran interessiert, die Rolle der Sinnlichkeit bei der Erkenntnisgewinnung aufzuklären, um nach der Abkehr von der in sich geschlossenen rationalistischen Theorie Leibniz' sich auf neue, unumstößliche Art der Außenwelt zu vergewissern. Welcher Wert den Sinnesorganen zugesprochen, wie exakt ihr Funktionieren zu erfassen gesucht wird, zeigen Engels Ausführungen zum Begriff der Empfindung. Im Verein mit der sich in dieser Zeit vollziehenden Rehabilitierung der Sinnlichkeit prägt sich ein "existentieller Erkenntnisbegriff" aus, "der wenigstens tendenziell die ganze menschliche Existenz in ihrer Vielschichtigkeit, aber auch in ihrer sinnlichen Verwurzelung umfaßt" 138 und damit der neuen Sicht vom Menschen in seiner "allseitigen Verwurzelung (... ) in der sinnlichen Welt"139 Rechnung trägt. Einen weiteren Einwand gegen Leibniz' Ansatz formuliert Humboldt in seinem bereits erwähnten Brief aus dem Jahre 1790. Mit knappen Worten skizziert er seiner Braut die Grundzüge der Monadologie Leibniz': "Nach fügung stellte, die automatisierbar und frei übertragbar waren; sie konnten nämlich nicht nur von ihrem ursprünglichen inhaltlichen Kontext losgelöst werden, sondern ihn auch geradezu in Frage stellen. So wird z. B. die Struktur der Monade weitgehend für vorbildlich gehalten und auf das Universum in seiner Verflechtung mit Gott (die der teleologischen Verflechtung von Seele und Körper entspricht) übertragen, wobei sich kaum jemand um die Absicht Leibnizens kümmert, durch die Vielheit der Substanzen die metaphysische Macht der spinozistischen Einen Substanz zu brechen." (S. 586f) 136 GS VII,2, 432. 137 Leibniz, Discours de Metaphysique. § 26. "Cela s'accorde avec mes principes," so führt Leibniz aus, "car naturellement rien ne nous entre dans l'esprit par dehors et c'est une mauvaise habitude que nous avons de penser comme si nostre ame recevoit quelques especes messageres et comme si elle avoit des portes et des fenestres. Nous avons dans l'esprit toutes ces formes, et meme de tout temps, parce que l'esprit exprime tousjours toutes ses pensees futures et pense deja confusement atout ce qu'll pensera jamais distinctement. Et rien ne nous s~auroit estre appris, dont nous n'ayons deja dans l'esprit l'idee qui est comme la matiere dont cette pensee se forme." 138 Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. S. 290. 139 Ebd., S. 138.
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diesem System ist alles Körperliche bloß Schein. Es gibt nichts als vorstellende Kräfte, Monaden. Diese Monaden sind einfach, es kann also nichts in ihnen ausgehn und nichts in sie eingehn. So gibt es kein unmittelbares Einwirken des einen Wesens ins andere. Jedes lebt ewig vereinzelt nur in sich und seinen Ideen, und wenn eins aufs andre wirkt, so ist es bloß eine Anordnung des Schöpfers, der die Ideen in jedem in eine solche harmonierende Verbindung gesetzt hat, daß, wenn in dem, welches wirkt, eine gewisse Idee entsteht, zugleich auch in dem, auf das gewirkt wird, eine korrespondierende hervorgeht."140 Und es folgt sein Kommentar: "Kannst Du Dir etwas Spitzfindigeres und allem Gefühl Widersprechenderes denken?" 141 Es ist die angesetzte ,Fensterlosigkeit' der Leibnizschen Monade, an der sich Humboldt stößt, widerspricht doch diese Konzeption vollständig seinem durch seine Beziehung zu Caroline von Dacheröden erwachten neuen Welt- und Selbstgefühl des Sich-Innig-Verbunden-Wissens mit einem anderen Menschen. Was einem solchen tiefempfundenen Gefühl widerspricht, kann keinen Anspruch auf Richtigkeit erheben, steht als Maxime hinter diesem Einwand. Hier kommt ein Grundzug Humboldtschen Denkens zum Vorschein, der bereits in seinen Aufzeichnungen anklingt, wenn er von der Selbsterfahrung ausgeht und zu deren Interpretation auf Philosophie zurückgreift 142 : Der Wert und Gehalt philosophischer Ideen messen sich an ihrem Beitrag zur Aufschlüsselung des eigenen Lebens. Nicht die innere Folgerichtigkeit des philosophischen Systems, sondern ihre Bewährung in der eigenen Lebenssituation bedingen mithin den Wert philosophischer Aussagen. Und diese Rezeptionsweise bestimmt auch Humboldts Aufnahme oder Ablehnung von Vorstellungen aus der Leibnizschen Philosophie wie anderer philosophischer Ansätze. Wie in Feders Handbuch vorgegeben, folgt in einem weiteren Schritt eine metaphysische Betrachtung des Körpers und der Seele, die noch einmal mit der Frage nach der Erkennbarkeit der Dinge verknüpft wird.1 43 Hat auch die sinnliche Erkenntnis der Körper die augenscheinlich größte Evidenz für deren Vorhandensein für sich, so unterliegt diese Wahrnehmung doch der Täuschungsanfälligkeit. So sind für Feder "Körper Phänomena (... ), zwar ausser unserm Kopfe vorhanden, aber uns nur nach einem sehr vermengten Scheine bekannt, der uns die Grundbeschaffenheiten verbirgt"144. Diese Ansicht Feders wird in Humboldts Vorlesungsnachschrift noch weiter problematisiert. Gegenläufig zu der weitverbreiteten Ansicht über die augenscheinliche Evidenz der Gegenstände ist nach Engels Ansicht das Wissen 140 Wilhelrn von Humboldt an Caroline von Dacheröden am 12. November 1790, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd. 1, S. 281. 141 Ebd. 142 Vgl. Humboldts Ausführungen zur Vorstellungskraft in: GS VII,2, 428. 143 Vgl. Feder, Logik und Metaphysik. §§ 41ff. 144 Ebd. § 42.
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des Menschen um seine Seele unmittelbarer, weil nicht von der Täuschungsanfälligkeit der Sinne betroffen. Denn dieses Wissen beruht auf dem inneren Gefühl und besitzt deshalb einen gegenüber der sinnlichen Erkenntnis höheren Grad an Gewißheit. 145 Auf dem Hintergrund dieser Einschätzung ist Engels Aussage über den Körper und seine Erkennbarkeit zu werten, wie sie an anderer Stelle bereits kurz referiert worden ist: "Die Körper sind ja nicht wirkliche Beschaffenheiten der Dinge; denn diese kennen wir nicht. Sie sind ja nur Ideen, welche die wirklichen Beschaffenheiten in unsrer Seele erzeugen, und wenn unsre Seele anders gebildet wäre, so würde uns auch vielleicht das, was wir jezt die materielle Welt nennen, ganz anders erscheinen. "146 Auch Engel hebt den Phänomenalitätscharakter der angeschauten Körper hervor, eine Auffassung, die bereits in der Logikvorlesung angeklungen ist. 147 Der Körper ist Engels Erkenntnislehre zufolge eine bloße Erscheinung unter der Bedingung der menschlichen Erkenntnisweise. Einem Überschwenken auf eine idealistische Position, die sich hier anbietet, verweigert sich Humboldt aber ausdrücklich. Die Bezeichnung des Körpers als ,Phänomen' wie auch der Duktus des vorgetragenen Beweises läßt sich einreihen in die freizügige Rezeptionsweise, die Leibniz' Ideen in der Spätaufklärung erfahren haben. Es gibt kaum Bedenken, sie mit sensualistischen Vorstellungen zu verknüpfen, um die Erkenntnis von Außenwelt abgesichert zu wissen. Wie aber sieht die Verknüpfung von phänomenalistischen Vorstellungen mit sensualistischen in der Erkenntnislehre Engels aus? Ein Erklärungsmodell, das beide divergierende Ansätze in einen konkludenten Zusammenhang miteinander bringen könnte, bietet eine Ausdeutung der Aussagen Engels auf dem Hintergrund zeittypischer symbolistischer Vorstellungen (solche Ansichten dürften dem Verfasser der ,Ideen zu einer Mimik' nicht fremd gewesen sein): Das, was wir an einem Gegenstande erkennen, ist das von dem Ding in der Seele hervorgerufene Bild, nicht aber die Beschaffenheit des Dinges selber. Von dieser in der Seele erzeugten Vorstellung haben wir unmittelbar gewisse Überzeugung. Gleichwohl bleibt die Erkenntnis eines Gegenstandes als Zeichen an die Rezeptionsweise der Sinne wie auch an die eingeschränkte Aufnahmefähigkeit der Seele gebunden; sie unterliegt mithin der Täuschungsanfälligkeit. Dem drohenden Skeptizismus zu entgehen, wird Vgl. GS VII,2, 433. GS VII,2, 427. 147 Auf welchen philosophischen Theorien sich diese Vorstellung stützt, läßt sich nun an den weiteren Aufzeichnungen Humboldts zu Engels Metaphysikvorlesung eruieren. Mit Feder wird hier "unter der körperlichen Welt alles, was Materie und Form hat", verstanden (GS VII,2, 433). Form - so die Argumentation - ist eine Erscheinung im Raum; der Raum wie auch die Zeit aber sind "Phantome unsrer Einbildungskraft" (ebd.). Wenn der Körper als Ausgedehntes eine Erscheinung im raumzeitlichen Kontinuum ist, dieser Raum jedoch selber eine bloße Bedingung menschlichen Denkens darstellt, so unterliegt die Form ebenfalls dieser Bedingung. Sie ist mithin ein reines Produkt unserer Einbildungskraft. (Vgl. ebd.) 145
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die Vorstellung stark gemacht, durch möglichst exaktes Erfassen der sinnlichen Erscheinungsweise Rückschlüsse auf die wahren Beschaffenheiten des abgebildeten Dinges ziehen zu können. Denn Ausgangspunkt aller Überlegungen ist die Annahme, daß es die Dinge selber sind, die die Seele zur Erzeugung eines entsprechenden Bildes anregen. Zwar bleibt die von den Sinnen vermittelte Welt eine Scheinwelt, dieser Schein aber verweist auf die hinter ihr stehende Welt der Dinge. Wenn sich nun die Bedingungen, unter der eine Empfindung in der menschlichen Seele erzeugt wiJ:d, exakter fassen ließen, so dürften hieraus Hinweise auf die Dinge selber möglich sein. Erscheinungen, die jeweils die gleichen Erzeugungsbedingungen aufweisen, können (relative) Wahrheit für sich in Anspruch nehmen. Deshalb kann Engel in seiner ,Vernunftlehre' von 1780 auch auf den Ansatz einer intersubjektiven Überprüfbarkeit als Wahrheitskriterium verweisen, wie auch auf "eine Übereinstimmung des Begriffs mit den unveränderlichen Regeln, nach welchen der Sinn im gewöhnlichen gesunden Zustande, unter den vorteilhaftesten allgemein bekannten Umständen, empfindet"148, rekurrieren. Die so gewonnene Erkenntnis bleibt letztlich jedoch eine bloß subjektive und in ihrem Wahrheitsgehalt bloß relative. (Als Humboldt sich der Brüchigkeit dieses Ansatzes bewußt wird, gilt sein Bemühen dem Auffinden eines philosophischen Ansatzes, der das Sinnenfällige der bloßen Beliebigkeit entreißt und die Erkenntnis der Außenwelt absichert.) Folgen wir Engels Vortrag weiter, so ist das Wissen des Menschen um seine Seele von dieser Erkenntnisproblematik ausgeschlossen. Denn von ihr hat der Mensch dank seines inneren Gefühls eine unmittelbare Überzeugung. "Wir sind uns bewusst, dass wir denken," so faßt Humboldt die entsprechende Argumentation Engels zusammen, "und dis denkende Subjekt nennen wir unsre Seele, uns selbst"149. (Die Zirkelhaftigkeit dieser Schlußfolgerung, die bereits Zeitgenossen an entsprechender Äußerung Wolffs zu Beginn seiner ,Deutschen Metaphysik' kritisiert haben, wird in Humboldts Wiedergabe offenkundig: das zu Erkennende, das denkende Subjekt, ist Voraussetzung für den Erkenntnisvorgang selbst.) Unter der Seele wird das "vom Körper verschiedene, durch keinen unsrer äussern Sinne empfindbare Wesen"150 verstanden, das denkt und will (und empfindet, müßte hinzugesetzt werden, um die Dreiteilung der Seelenvermögen, wie Engel sie in seiner ,Vernunftlehre' von 1780 propagiert, vollständig aufzulisten) und den Körper antreibt, die von -ihr gefaßten Entschlüsse in die entsprechenden Handlungen umzusetzen. Körper und Seele werden hier als zwei vollkommen voneinander geschiedene Bereiche angesetzt, wobei die Wirkung des Körpers die Bewegung, die der Seele die Vorstellung ist. 148 149 150
J.J. Engel's Schriften. Neunter Band. Zweite Auflage. S. 74f. GS VII,2, 433. GS VII,2, 435.
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Damit erhebt sich nun im Anschluß an die Darstellung der Monadologie die Frage nach dem Zusammenwirken von Körper und Seele. Humboldt wendet sich nach ausführlicher Diskussion der Influxus-physicus-Theorie und des Okkasionalismus der Idee der prästabilierten Harmonie zu, deren Grundzüge bereits in dem Abschnitt über Leibniz' Monadologie vorgestellt worden sind. Wurde in dieser Darstellung der Ansatz der prästabilierten Harmonie ,als die plausibelste Erklärung akzeptiert, weil sie sich am harmonischsten in das Gefüge der Monadologie einpaßt, so werden jetzt gegen die von Feder vertretene "Hypothese der wahren Caussalität"151 Argumente für die Annahme einer prästabilierten Harmonie angeführt, die allerdings nicht mehr nach ihrer Stimmigkeit mit der Leibnizschen Philosophie ausgesucht worden sind. Gegen Feders Vorbehalt, dieses System könne vor dem Richterstuhl der praktischen Vernunft nicht bestehen, wird die Unbegreiflichkeit, das Wunderbare dieser Theorie herausgestellt. "Denn je unbegreiflicher uns diese Uebereinstimmung ist, desto erhabener muss uns auch Gott erscheinen, der sie den Dingen ertheilt hat, und das System verdient gewiss den Vorzug vor allen übrigen, das uns das unendliche Wesen am grössesten und am unbegreiflichsten darstellt. "152 Diese Begründung erinnert an das Argument Wolffs in seiner ,Deutschen Metaphysik': "Absonderlich erhebet die vorher bestimmte Harmonie die Weisheit Gottes über alles, was gedacht kan werden."153 Mit einem solchen Hinweis ist kein Lobpreis Gottes beabsichtigt, sondern eher eine Ausgrenzung des Göttlichen aus dem Bereich des Menschen angestrebt, um die Willensfreiheit des Menschen festschreiben zu können. Denn dieser Ansatz birgt den Vorteil, die Handlungen des Menschen weitgehend seinem eigenen Willen zuzuschreiben, indem es nur eines einmaligen Einsetzens der prästabilierten Harmonie durch Gott bedarf, um sie fortan von selbst fortwirken zu lassen. Hierin nun besteht ihr größter Vorzug vor dem Okkasionalismus Malebranches, der ein permanentes und unmittelbares Eingreifen Gottes erfordert. Daß der Ansatz einer gegenseitigen physischen Einflußnahme von Seele und Körper abzulehnen ist, ergibt sich aus den Ausführungen zur Substanz. Und so wird das Zusammenwirken von Körper und Seele damit begründet, daß Gott "der Seele und dem Körper, bei ihrer Schöpfung, das Gesez gegeben, von selbst immer harmonisch zu wirken, so, dass auf jede Bewegung im Körper eine, aus dem eigenenfundo der Seele entwikkelte Vorstellung, und auf gewisse Vorstellungen der Seele allemal eine, durch die eigene Kraft des Körpers hervorgebrachte Bewegung erfolgt" 154. Beide, Körper und Seele, werden als eigenständige, für sich selbst agierende Teile eingeschätzt, die zusammengehalten werden durch eine vorgängig angesetzte Übereinstimmung. Um auch den Körper 151 152 153 154
Feder, Logik und Metaphysik. § 54. GS VII,2, 447. Wolff, DMet., § 1050. GS VII,2, 444f.
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handlungsfähig zu machen, wird ihm eine eigene Bewegungskraft zuerkannt. Damit hat sich Engel in seiner Erklärung der Harmonie zwischen Seele und Körper der Wolffschen Auffassung angenähert. Denn im Unterschied zu Leibniz 155 spricht Wolff dem Körper eine ,vis motrix' zu und wird dadurch genötigt, beide Teile des Menschen in Verknüpfung miteinander zu bringen. Deshalb ,verfällt' er seiner eigenen Aussage nach "auf die Erklärung, welche der Herr von Leibnitz von der Gemeinschaft des Leibes mit der Seele gegeben, und die vorherbestimmte Harmonie oder Uebereinstimmung genennet" 156 hat. Dieser Rückgriff auf die Leibnizsche Idee ist für Wolff notwendig geworden, um ein vollständiges Auseinanderfallen der als selbständige Einheiten formulierten Körper und Seele zu verhindern. In der Spätaufklärung wird dieser Erklärungsansatz übernommen, je nach philosophischem Standort des Denkers mehr oder weniger seiner Einkleidung in die Leibnizsche Philosophie beraubt und als willkommene Erläuterung für die auch nicht von der physiologischen Forschung zu begründende Wechselwirkung von Seele und Körper genommen. Auch für Engels ,Ideen zu einer Mimik' von 1786 ist diese Theorie fundamental, denn ohne sie ist die vorausgesetzte Analogie von innerseelischen Vorgängen und entsprechenden körperlichen Ausdrucksformen nicht denkbar, lassen sich keine mimischen Grundregeln aufstellen. Wie sich Engel ein solches Zusammenspiel vorstellt, hat er ausgeführt am Beispiel des Weinens: "Wir weinen, wenn wir unsern vorigen, glüklichen Zustand mit unserm jezigen, unglüklichen Zustand vergleichen, und also, mit Bewusstsein, reflektiren; und wir weinen mit einem organischen Körper. "157 Diese Vorstellung ins Allgemeine gewendet, ergibt folgendes Bild Engels vom Menschen: "Nun aber macht die Verbindung einer, mit Bewusstsein, reflektirenden Seele, und eines organischen Körpers das ganze Wesen des Menschen aus. "158 Der Mensch setzt sich also nach Engel aus einer mit Bewußtsein ausgestatteten Seele und einem organisch konzipierten Körper zusammen, dessen Verbindung die metaphysische Vorstellung von der prästabilierten Harmonie garantieren soll.-An dieser Aussage Engels zeigt sich das Bestreben, im Rückgriff auf Leibniz aus einem dualistischen Menschenbild einen monistischen Ansatz zu konzipieren, ohne allerdings dabei zu bedenken, daß es sich um eine bloß synthetische Einheit handelt. Dabei ist die so gewonnene Einheit in ständiger Gefahr, unter der Last divergierender Forschungsergebnisse aus den Bereichen der Physiologie, der Psychologie und der Metaphysik auseinanderzubrechen. 155 Nach Leibniz kommen dem Körper als einem Aggregat von Substanzen lediglich derivative Kräfte zu, wie er weitläufiger in seinem Brief an de Volder aus dem Jahre 1705 ausführt (s. G.W. Leibniz, Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie. Bd. 11, S. 349ff). 156 Wolff, DMet., § 765. 157 GS VII,2, 368. 158 Ebd.
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Diese Schwierigkeiten entspringen einer Weise des Philosophierens, die sich nicht mehr streng an ein auf innere Stimmigkeit aufbauendes metaphysisches System gebunden weiß, sondern beliebig die der Vernunft akzeptabel erscheinenden Ideen übernimmt und sie mit außerhalb philosophischer Erwägungen gewonnenen Einsichten zu mischen trachtet, um sie dem Menschen als Orientierung für einen gelingenden Daseinsvolliug an die Hand geben zu können. Dies geschieht jedoch weitgehend, ohne zuvor für eine zureichende methodische Basis für diese Integration gesorgt zu haben. So wird charakteristisch für das popularphilosophische Denken dieser Zeit ihr Schwanken zwischen Metaphysik und Empirie.l 59 Die Auswahl von Ideen und Einsichten wird getroffen unter dem Gesichtspunkt der (letztlich bloß subjektiven) Denk-würdigkeit und dies auch auf Kosten des Auseinanderreißens einer in sich stimmigen Theorie.l 6o Demgegenüber steht eine Systemphilosophie für die Popularphilosophen unter dem Verdikt einer Einschränkung des Selbstdenkens. Parallel zu einem solchen dualistischen, zwischen Metaphysik und Empirie hin und her schwankenden Ansatz ist ein in der deutschen Spätaufklärung seit 1770 in den Vordergrund drängender monistischer Zug161 zu konstatieren, der in der Anthropologie auf die Erstellung eines monistischen Menschenbildes hinzielt. Diese Tendenz nun führt zu einer Renaissance der Leibnizschen Philosophie, bietet diese doch in vorzüglicher Weise entsprechende Rezeptionsmöglichkeiten. So kann gerade die Idee einer prästabilierten Harmonie dem Bedürfnis nach der Erfassung des Menschen als einer Ganzheit entsprechen, wie diese Tendenz auch in Engels Vorlesung zu beobachten ist. (Die Philosophie Spinozas ist in diese Strömung nicht weitergehend integriert, läuft doch die Ausschaltung der menschlichen Willensfreiheit als Ergebnis dieses philosophischen Ansatzes dem zeitgängigen Streben nach einer Fundierung des Menschen a!s autonomes Wesen zuwider.) Nimmt man nun die vorhergehenden Äußerungen über die Rezeptionsweise philosophischer Gedanken hinzu, so wird erklärlich, was sich an zahlreichen Publikationen dieser Zeit aufweisen läßt: man 159 Raimund Bezold spricht in diesem Zusammenhang in seiner Studie ,Popularphilosophie und Erfahrungsseelenkunde im Werk von Kar! Philipp Moritz' . Würzburg 1984, von einem "verbreitete(n), Subjektivismus und Dogmatismus amalgierende(n) Interesse an der Metaphysik dieser Zeit" (S. 102). 160 Das Ergebnis dieser Praxis ist letztlich eine ,Beliebigkeit im Denken', gegen das sich Kant in seiner im Sommer 1786 veröffentlichten Stellungnahme ,Was heisst: sich im Denken orientieren?' wendet: Das Absehen von der Priorität der Vernunft als dem Vermögen der Erkenntnis aus Prinzipien öffnet Tür und Tor für "die Errichtung eines andern Glaubens, den sich ein jeder nach seinem Belieben machen kann". (Immanuel Kant. Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Weischedel. Bd. III, Darmstadt 1966, S. 279) In einem solchen kritisierten, weil letztlich bloß subjektiven Normen verpflichteten Vernunftgebrauch, der auf eine scharfe Trennung von ,Erkenntnis' und ,gefühltem Bedürfnis der Vernunft' (S. 274) verzichtet, sieht Kant die Wurzel für den die gesamte Spätaufklärung in Deutschland erschütternden Streit zwischen Jacobi und Mendelssohn. 161 Vgl. Kondylis, Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. S. 557; 586ff.
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braucht kein unbedingter Anhänger der Philosophie Leibniz' zu sein, um dessen Gedanken von der Seele als Vorstellungskraft, um die Lehre vom Optimismus aufzugreifen. Gerade die gelegentlichen Verweise auf Feders Handbuch haben gezeigt, wie gern ein Popularphilosoph, der dem Lockeschen Empirismus nahesteht, auf Leibnizsche Gedankengänge zurückgreift, wenn sie ihm einen plausiblen Erklärungsansatz bieten. Zugleich hat auch die Interpretation der Metaphysikvorlesung Engels deutlich gemacht, wie wenig Scheu davor herrscht, Leibniz aus der Sicht Wolffs ,neu' zu interpretieren wie auch Leibniz' Philosophie mit dem Empirismus zu vermengen, was letztlich auf ein Unterlaufen des philosophischen Systems Leibniz' hinauslaufen muß. Die Metaphysik, die Engel in seiner Vorlesung Humboldt vorträgt, ist mithin ein an Feders Lehrbuch sich orientierender popularphilosophischer Erklärungsversuch über den Aufbau der Welt der Dinge und ihrer Verknüpfung untereinander sowie über den Zusammenhang von Körper und Seele des Menschen. Diese Themen werden anhand der Philosophie Wolffs mit gängigen, aus der Leibnizschen Philosophie entnommenen Ideen aufzuarbeiten gesucht und dies mit einem zu Leibniz prinzipiell gegenwendigen Empirismus in Einklang zu bringen getrachtet. Aufgrund dieses Resultates ist Vorsicht angebracht vor einem solch pauschalisierenden Urteil über Humboldts Unterricht bei Engel, wie es bei Heinemann anzutreffen ist, demzufolge "das, was Engel in seinem gewandten, aber formalistischen Vortrag ihm [sc. Humboldt] wirklich gab, (... ) Leibniz (war)"162. Humboldt selber hat - wie die Analyse seiner Vorlesungsnachschrift gezeigt hat - seinen Lehrer zutreffender eingeschätzt, wenn er dessen Unterricht als "ganz Wolfisch"163 charakterisiert. Diese Bestimmung läßt sich nun dahingehend präzisieren, daß Wolffs Weise des Philosophierens als Methodenansatz weitgehend übernommen worden ist, wie auch inhaltlich auf seine philosophischen Aussagen zurückgegriffen wird, um sie mit zeitgängigen Denkfiguren und Ergebnissen aus der Psychologie sowie den zu dieser Zeit frei verfügbaren, d. h. unangesehen ihres metaphysischen Fundaments rezipierten Vorstellungen aus der Philosophie Leibniz' zu einer metaphysischen Gesamtkonzeption zu erweitern. Gegen den Interpretationsversuch Heinemanns, Humboldt als gelehrigen Schüler der Leibnizschen Philosophie hinzustellen, muß auf Humboldts eigenen, Kenntnis wie kritische Distanz zu dieser Philosophie offenbarenden Äußerungen hingewiesen werden164 ; schließlich stellt 162 Wilhelm v. Humboldts philosophische Anthropologie und Theorie der Menschenkenntnis. Hg. und eingeleitet von Fritz Heinemann. Halle/S. 1929, S. XII. 163 Wilhelm von Humboldt an Caroline von Dacheröden am 12. November 1790, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd. 1, S. 280. 164 Der gleiche Einwand gilt auch hinsichtlich der Untersuchung von Leroux, dessen weitgehend referierende Darstellung der Metaphysikvorlesung Engels ihn zu der Annahme verleitet: "Et c'est, a vrai dire, la metaphysique leibnizienne qu'a tra-
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seine geäußerte Kritik an der Außerachtlassung der Sinnlichkeit in Leibniz' Ansatz einen aus zeitgängigen philosophischen Erwägungen fundamentalen Einwand dar. Der nächste Schritt in der Metaphysikvorlesung führt über die Feststellung einer unendlichen und notwendigen Substanz als Schlußstein in der Stufenleiterkonzeption zur Kosmologie, die die bisherigen Ergebnisse in einen Gesamtzusammenhang einordnet. Die Kosmologie ist nach Reimarus "die Weltwissenschaft, (... ) welche die Welt im Ganzen, nach ihrer Verknüpfung betrachtet, und welche von Wolfen zuerst in die Form einer Wissenschaft gebracht ist"165. Auf diese Bestimmung aufbauend, versteht Humboldt unter der Kosmologie die Lehre von der Verbindung aller endlichen Dinge, die die Regeln des Zusammenseins der endlichen Dinge als den die Welt bestimmenden Gesetzmäßigkeiten untersucht. Im Mittelpunkt der Aufzeichnungen Humboldts steht das Gesetz der Kontinuität, das die Feststellung begründet, es fände "nirgends in der ganzen Welt, weder in den aufeinander folgenden, noch in den neben einander bestehenden Veränderungen (... ) ein plözlicher Uebergang von einem Zustande zu dem andern Statt", weswegen "alle in der Welt existirenden Zustände (... ) eine fortlaufende, ununterbrochene Reihe aus [machen] "166. Diese Feststellung ist wichtig, läßt sich doch mit diesem Prinzip die Mannigfaltigkeit wie das Zusammenwirken der Dinge erklären. Die Zusammenstimmung sieht Engel gegründet in der Ausrichtung aller möglichen Dinge auf die "Glükseeligkeit aller Lebendigen"167. Diese Bestimmung deutet auf Engels Übereinstimmung mit der Auffassung hin, die einen Grundzug des philanthropistischen Erziehungskonzeptes bildet: Alles Lebendige hat zu seinem Telos die Glückseligkeit. Wenn die Glückseligkeit hier als das ausschlaggebende Kriterium für die Erschaffung aller möglichen realisierbaren Dinge durch Gott verstanden wird, so wird diese Eudaimonievorstellung zu einer metaphysisch angesetzten Konstante und wächst so weit über ihren ursprünglichen Anwendungsbereich in der Moralphilosophie hinaus. Genauer: An diesem Begriff zeigt sich eine Verquickung von Ethik und Metaphysik, die ihre gesamtkonzeptionelle Ausdeutung in der Verknüpfung des Glückseligkeitbegriffes mit der Stufenleiterkonzeption erfährt. Das diesem Stufenleitermodell inhärente teleologische Moment wird aufgefangen in dem Ansatz der Glückseligkeit als Zielpunkt allen Strebens. Diesem Glückseligkeitsbegriff eigentümlich ist seine Verquickung mit dem Ansatz eines höchsten Gutes. vers toute cette partie de son Cours, Engel enseigne a son eleve." (Robert Leroux, Guillaume de Humboldt. La Formation de sa Pensee jusqu'en 1794. Paris 1932, S. 114) 165 Hermann Samuel Reimarus, Vernunftlehre. Nachdruck der ersten Auflage von 1756 mit fortlaufenden Hinweisen auf die Parallelen der dritten Auflage von 1766. Hg. von Frieder Lötzsch. München 1979, § 10. 166 GS VII,2, 453. 167 GS VII,2, 455.
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Aus dieser Verknüpfung läßt sich die Verpflichtung des Menschen ableiten, "zu des andern Glückseeligkeit so viel beyzutragen, als ihm möglich ist"168, eine Forderung, die nach Wolff den Geltungsanspruch eines Naturgesetzes erheben kann. Vielfältig sind die aus dieser Verbindlichkeit gezogenen materialen Forderungen, die von Seiten der Moralphilosophen, Pädagogen wie Regenten an den Menschen herangetragen worden sind. Dieser Glückseligkeitsbegriff, der sich metaphysisch begründen läßt in der Ausrichtung alles Seienden auf die Eudaimonie hin wie auch moralphilosophisch als Zielpunkt menschlichen Handelns, ist auch zur Bestimmung der Aufgabe des Staates herangezogen worden. "Der Staat muß sorgen," so die Fordc:!rung von Moses Mendeissohn an den preußischen König, "daß jeder Bürger Mittel finde, so glükseelig zu seyn, als mit der Glükseeligkeit des Ganzen bestehen kann." Denn: "Die Glükseeligkeit eines Staats bestehet in einem zusammengesetzten Verhältnisse der Glükseeligkeit der einzelnen Bürger und ihrer Übereinstimmung zum Ganzen. "169 Wenn nun der Mensch ein Glied in der Kette der Wesen ist und diese als ausgerichtet auf die Glückseligkeit verstanden wird, so liegt in diesem Denken die Ausbildung des Menschen auf diese seine Bestimmung hin begründet. Von einer solchen Auffassung her ist die materiale Ausgestaltung der Sollenssätze nur folgerichtig. Allerdings ist diesem Konzept ein Willkürmoment inhärent, auf das Kant in seiner ,Kritik der praktischen Vernunft' aufmerksam gemacht hat. Kant zufolge kann die Glückseligkeit lediglich " generelle, aber niemals universelle Regeln, d. i. solche, die im Durchschnitte am öftersten zutreffen, nicht aber solche, die jederzeit und notwendig gültig sein müssen, geben, mithin können keine praktischen Gesetze darauf gegründet werden"170; denn ihre Erkenntnis beruht auf der immer bloß subjektiven Verarbeitung von Erfahrungen. Mit anderen Worten: Die Glückseligkeitsmaxime ist in ihrer materialen Ausgestaltung an das Subjekt gebunden, für dieses allein in seiner Selbstgesetzgebung maßgeblich, und kann daher keine allgemein gültige Handlungsmaxime bilden. Gegen diese Feststellung verstößt das 1788 erlassene ,Preußische Religionsedikt'; in ihm kommt noch einmal das Selbstbewußtsein eines absolutistischen Staates zum Ausdruck, Garant der Glückseligkeit seiner Untertanen zu sein. l71 Angesichts einer solchen, die Freiheit des Menschen in seinem Lebensvollzug bedrohenden Verquickung von Staatstheorie und Wolff, DMor., § 767. Moses Mendelssohn, Verwandtschaft des Schönen und Guten. Abgedruckt in: JubA2,182. 170 Kant, Kritik der praktischen Vernunft, § 8, Anmerkung 11, A 63. 171 Eine Abrechnung mit einer solchen Glückseligkeitskonzeption im Dienste des Staates, wie sie auch in der herrschenden Staatsrechtslehre vertreten wird, findet sich 1790 in der ,Berlinischen Monatsschrift' unter dem Titel ,Ist es Schuldigkeit oder Gnade, wenn ein Fürst sein Land wohl regiert?' Der Verfasser ist Ernst Ferdinand Klein. 168 169
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Metaphysik taucht die Vermutung auf, daß eine . Neuformulierung des Staatszweckes ein Umdenken in der Metaphysik voraussetzt, insofern diese eine Antwort auf die Stellung des Menschen im Gesamtgefüge der Welt geben wilr. Und folglich müßte auch gelten: eine Neubestimmung des menschlichen Endzweckes ziehe als Konsequenz eine andere Auffassung von der Funktion des Staates nach sich. Der Schlußteil der Metaphysikvorlesung sucht im Rückgriff auf die Idee des Optimismus eine Rechtfertigung der bestehenden Welt zu formulieren. Dies bedingt in einem ersten Schritt den Nachweis der Welt als der einzig möglichen Welt. Als Schöpfung Gottes muß diese eine Welt vollkommen sein; ansonsten würde sie - so die geläufige Argumentation - der Bestimmung Gottes, Vollkommenes zu schaffen, widersprechen. In einem weiteren Schritt muß darüberhinaus der Nachweis erbracht werden, daß diesem Begriff der Vollkommenheit mögliche, in der Welt zu beobachtende Mangelhaftigkeit nicht widerspricht. Denn jede Welt ist "als geschaffen, endlich, und führt daher gewisse Mängel und Einschränkungen bei sich, welche wir Uebel nennen"172. Das hier aufscheinende Theodizeeproblem wird mit Hilfe der gängigen Denkfigur des Optimismus abgewendet. 173 Diese Idee trägt in Engels Vorlesung die ganze Last der Sinngebung, muß doch mit ihrer Hilfe der durch die Existenz von Bösem bedrohte Nachweis erbracht werden, daß alle Geschehnisse der Welt in einem Gesamtzusammenhang eingebettet sind, der sich durch Rationalität wie Vollkommenheit auszeichnet. Es ist mithin nach Lovejoy zu beweisen, "that every fact of existence, however unpleasant, is grounded in some reason as c1ear and evident as an axiom of mathematics" 174. Der Rückgriff auf den Optimismus, demzufolge die realexistierende Welt die beste aller realisierbaren Welten sei - und darauf läuft die Argumentation hinaus - hat zwei Probleme zu überwinden: Die mit der Endlichkeit und Begrenztheit der Welt gegebene Mangelhaftigkeit muß sich als kompatibel mit dem Begriff der Vollkommenheit erweisen, und der in dem Leibnizschen Ansatz mitschwingende Meliorismus ist so zu integrieren, daß er als Werdeprinzip die Vorstellung von der unsrigen als der besten aller Welten nicht sprengt. Die Argumente, die Humboldt im folgenden Beweisgang anführt, hat er in wesentlichen Zügen - lediglich in anderer Reihenfolge - während seines Frankfurter Semesters im Rahmen eines Seminars bei seinem ehemaligen Griechischlehrer Löffler in lateinischer Sprache vorgetragen. 175 Die Übel auf der Welt, so läßt sich der Beweisgang kurz zusamGS VII,2, 458. Der weiteren Verbreitung und Ausdeutung, die diese Idee auch außerhalb der Leibnizschen Philosophie erfahren hat, spürt Lovejoy im siebten Kapitel seiner Studie ,The great Chain of Being' nach. 174 Lovejoy, The great Chain of Being. S. 226. 175 Abgedruckt ist diese Disputation unter dem Titel ,Mundum esse optimum' in: GS VII,2, 543f. 172
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menfassen, sind notwendig, insofern sie den Endzweck der Welt in solch einer Weise befördern, wie er ohne die festgestellten Mängel nicht in diesem Grade hätte erreicht werden können. Der Meliorismus betrifft nur jeweils einen grundsätzlich immer verbesserungswürdigen Abschnitt im Weltgeschehen: "Soviel ist wahr: in keinem bestimmten Zustande der Welt geniessen die Geschöpfe die höchste mögliche Glükseligkeit, immer lässt sich noch ein höherer Grad derselben denken. "176 Es ist letztlich der Überblick über das Ganze der Weltabläufe, der die Einbezogenheit jeder dieser verbesserbaren Zustände in eine sich nun in ihrer Vollkommenheit präsentierenden Welt zeigt. In einer letzten Schlußfolgerung wird aus der Güte und Weisheit des Schöpfers das Ergebnis gezogen, daß die Welt, in der die Menschen leben, die beste aller Welten ist; ansonsten würde sie als Faktum im Widerspruch zur Weisheit und Güte Gottes stehen. Mit diesem Sprung von einer logischen Schlußfolgerung auf die Bestimmung der Wirklichkeit - der sich nur auf der Annahme der Übereinstimmung von logischer und metaphysischer Wahrheit vollziehen läßt und damit in der Tradition der Aufklärungsphilosophie gründet - versichert sich der Mensch der Spät aufklärung der Rationalität der Welt und damit der Überschaubarkeit und Verfügbarkeit ihrer Abläufe. Zugleich vermittelt dieser Ansatz eine immanente Sinngebung im Hinblick darauf, daß letztlich alles gut ist. Diese metaphysische Konzeption wird schließlich für die Anthropologie nutzbar gemacht, um die Stellung des Menschen im Kosmos zu festigen. (Damit durchzieht auch Engels Vorlesung die Tendenz zu einer Anthropologisierung der Metaphysik.) Die anthropologische Relevanz resultiert aus der Verschmelzung der Stufenleitertheorie mit der Lehre vom Optimismus, und in dieser Verknüpfung finden beide Denkfiguren zunehmend Verwendung als Bollwerk gegen den Sinnlosigkeitsverdacht. Die Rezeption dieser Lehre überschreitet schnell die Grenze der Philosophie. Allenthalben wird in der deutschsprachigen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts auf diese Vorstellung rekurriert; sie wird zur Grundlage des Selbst- und Weltgefühls der Menschen der Spätaufklärung. Sehr rasch wird entdeckt, daß sich mit ihr das den Menschen seit Beginn der Neuzeit heimsuchende Gefühl der Heimatlosigkeit und des Ausgeliefertseins an das unendliche Universum verscheuchen läßt. Auch sehen die Zeitgenossen diese Vorstellung nicht im Widerspruch mit christlichen Heilsvorstellungen, sondern vielmehr als deren zeitgemäße philosophische Absicherung. Die Popularität dieser Konzeption beruht zum einen auf der Stufenleitertheorie, die dem Menschen seinen Ort im Gesamtgefüge angibt. Diese Eingebundenheit wird positiv empfunden als Heimatrecht auf einen bestimmten Platz in der Welt. Zum anderen fügt die modifizierte Lehre vom Optimismus 176
GS VII,2, 459.
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dieser Vorstellung die sinnstiftende Komponente bei; das zunächst statische Modell erhält einen dynamischen Grundzug, der sich in der Biographie des einzelnen Menschen als Bewegung auf den Zielpunkt der Glückseligkeit niederschlägt. Denn die Verbindung von Optimismus und Glückseligkeiteine originär spätaufklärerische Interpretation, die Leibniz fremd war setzt fest, daß die Entwicklung sowohl des einzelnen wie auch der Welt insgesamt auf die Glückseligkeit ausgerichtet ist. Und von diesem Endpunkt aus findet letztlich alles seine Rechtfertigung. Mit dieser Wendung ist ausgewiesen, daß der Mensch seinen Endzweck erreichen kann, womit die von Leibniz entwickelte Theodizee eine anthropologische Ausrichtung gewinnt. Aus dieser Konzeption ergeben sich zwei wesentliche Momente im Selbstverständnis des Menschen der Spätaufklärung. Zum einen bedeutet seine Verortung als ein Glied in der Kette der Wesen die Abkehr von der Vorstellung, die Natur sei auf den Menschen hin ausgerichtet: der Mensch wird hier vielmehr zum integrierten Bestandteil der Natur. Zugleich hebt er sich von dem nicht selbstbewußten Teil der Natur ab: er wird, um Herder zu zitieren, zum "Mittelgeschöpf"177 und weiß sich in einer - unendlichen Gradationmit Gott verbunden. Als jeweils auf einer Stufe der Leiter stehend, ist dem Menschen ein Ort im Gesamtgefüge gegeben; um aber dieses sein Heimat~ recht nicht zu verlieren, muß er seinen Platz in rechter Weise ausfüllen. Diese Vorstellung findet ihren Niederschlag in dem Bild vom Menschen als einem Rädchen im Getriebe der Maschine (wobei Maschine als Metapher für die Gesellschaft wie auch den Staat steht). Der Mensch wird in Engels Vortrag Teil eines Ganzen; dieses Ganze ist dem einzelnen vorgegeben und setzt normierende Vorgaben. An dieser Einordnung des Menschen in das Gesamtgefüge wird evident, daß Leibniz' Vorstellung von der Monade als lebendigem Spiegel des gesamten Universums - und das heißt als ein jeweils perspektivisches Ganze selbst das Ganze mitkonstituierend - keine Aufnahme in Engels Auffassung vom Menschen gefunden hat. Vielmehr folgt Engel in seinen Ausführungen Wolffs Deutung der Ganze-Teile-Relation178 , deren pädagogische Ausdeutung der Philanthropismus unternimmt. Anhand des philanthropistischen Erziehungskonzeptes ist bereits die Problematik dieses Ansatzes skizziert worden. Brisant wird diese Konzeption für die Freiheit des Menschen in dem Moment, in dem sie von der anthropologischen auf die Ebene der Staatspraxis übertragen wird, und der Herrscher als Repräsentant des Ganzen (in diesem Fall der staatlichen Gemeinschaft) sich anschickt, seinen Untertanen ihren Platz im gesellschaftlichen Gefüge zuzuweisen. Als geradezu ideale Ergänzung bietet sich hierzu der Philanthropismus an, sieht er doch sein Erziehungsziel darin, den Menschen 177 Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Zweites Buch, IV. Kap. (SW XIII, 68) 178 s. Wolff, DMet., §§ 24ff.
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seinem Ort in der Welt entsprechend auszubilden. Und dies bedeutet konkret, ihn seinem Stand und seiner zukünftigen Verwendung im Staate gemäß zu erziehen. (Dem dieser Verquickung von Staatsinteresse und Erziehungsziel inhärenten zynischen Zug sind sich die Spätaufklärer allerdings zu keiner Zeit bewußt geworden. Nicht zuletzt Humboldts Anfragen an Campe auf ihrer gemeinsamen Reise im Jahre 1789 decken das Fehlen einer solchen Einsicht auf.) Ein zweites Problem dieses Ansatzes ergibt sich aus der Bestimmung, daß die Einzelgeschehnisse ihre sinnstiftende Rechtfertigung in dem übergeordneten Ganzen finden und diese alles rechtfertigende Sicht sich dem Menschen in dem das Ganze umfassenden Blick eröffnen soll. Denn diese Vorstellung beruht auf einer solchen spekulativen Idee, die durch Kants Kritizismus grundsätzlich in Frage gestellt worden ist, überschreitet doch der geforderte Überblick die Grenze menschlicher und folglich endlicher Erkenntnisfähigkeit. Von diesem Einwand her wird Engels vehemente Befehdung der Kantschen Philosophie verständlich, droht doch von ihr aus die Vernichtung des gesamten popularphilosophischen Lehrgebäudes. MendeIssohn hat diese Bedeutung Kants am Ende seines Lebens mit gewisser Bitterkeit registrieren müssen, was sich in seiner Rede von dem ,alles zermalmenden Kant' niedergeschlagen hat.
2.2.1.3 Einführung in die praktische Philosophie Von der anschließenden Einführung Engels in die praktische Philosophie sind uns nur wenige Seiten der Aufzeichnungen Humboldts überliefert, so daß mit Leitzmann weder auf den Gang der Untersuchung noch auf ein eventuell herangezogenes Lehrbuch geschlossen werden kann. Gleichwohl sind uns zwei wesentliche Vorentscheidungen aus der Metaphysikvorlesung bekannt, die einen Hinweis auf die Ausrichtung dieses Teils der Vorlesung geben. Dies betrifft zum einen Engels Entscheidung, die Willenslehre als Thema in die Metaphysik aufzunehmen. Ausdrücklich verknüpft Engel den Willen mit der Erkennntis und befindet: "Der Wille findet nicht ohne Vorstellungen, und also nicht ohne Erkenntnissvermögen; Erkenntnissvermögen - ... - nicht ohne Willen Statt. "179 Mit dieser Entscheidung schließt sich Engel der Grundtendenz der Philosophie Wolffs an, alles Wollen auf das Erkennen und nicht auf das Begehren zurückzuführen. ISO Nicht in den Bereich der undurchschaubaren Affekte, sondern in die Zone der Vernunfttätigkeit wird der Wille angesiedelt. Diese intellektualistische Ausdeutung GS VII,2, 440. Zu Wolffs Morallehre und ihre Fundierung in seiner Metaphysik s. Hans M. Wolff, Die Weltanschauung der deutschen Aufklärung in geschichtlicher Entwicklung. S. 104ff. 179
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des Willens setzt sich fort in der Morallehre, wenn die moralischen Übel als solche bestimmt werden, die "aus den Einschränkungen, und Mängeln unsres Verstandes her[fließen], die uns zu Irrthümern, Fehlern, und Lastern verleiten"1B1. Mangelnde Vernunfteinsicht und nicht Affekte ist demnach die Ursache für moralisch schlechte Handlungen. Von dieser Entscheidung Engels für eine in der Tradition Wolffs stehende intellektualistische Ethik her ist es nur folgerichtig, wenn er die notwendigen Voraussetzungen für moralisches Handeln in der Metaphysik und der von ihr noch nicht abgesonderten Erkenntnistheorie aufsucht. Die mögliche Schlußfolgerung, die praktische Philosophie werde unter dieser Voraussetzung als bloßes Anhängsel der theoretischen betrachtet, trifft allerdings nicht zu. Im Gegenteil: es hat eher den Anschein, als sei in der Popularphilosophie die Metaphysik ihres Ranges als primae philosophiae enthoben worden. Denn zur primären Aufgabe der praktischen Philosophie wird die Beförderung der Glückseligkeit der Menschen, und damit beschäftigt sich dieser Bereich der Philosophie in der Ansicht der Popularphilosophen mit den wesentlicheren Fragen. Nicht zuletzt in einer solchen Einschätzung spiegelt sich die pragmatische Grundhaltung der Popularphilosophie wider. Mit der Ableitung des Willens aus der einen Seelenkraft - in diesem Zusammenhang als Denkkraft bezeichnet - wird der Wille dem Bereich des Irrationalen entzogen. Er bestimmt sich vielmehr, wie es Humboldt formuliert, "bloss durch die Erwekkung und Vergleichung mehrerer Ideen mit einander"1B2. Dieses Verständnis von einem dem rationalen Diskurs unterworfenen Willen beschwört allerdings die Gefahr eines durchgängigen Determiniertseins der menschlichen Absichten herauf. Denn folgt der Wille den Vernunftprinzipien, so muß ein letzter zureichender Grund für alle menschlichen Handlungen anzugeben sein, und dieser muß in Gott liegen, nicht aber im Menschen. Als mögliches Räsonnement formuliert Humboldt: "Also ist ja der Mensch dennoch nicht frei, also ist er ja gezwungen, immer so zu handeln, wie er handelt und der Bösewicht muss also Böses thun. "1B3 Mit dem Hinweis auf das Bewußtsein des Menschen, "unter andern Umständen, auch anders handeln zu können"1B4, sieht Humboldt allerdings den Nachweis für die Willensfreiheit des Menschen erbracht, da nun offenkundig die Bestimmungsgrüllde des menschlichen Handelns in jedem Menschen selber liegen. Mit diesem Ansatz der Willensfreiheit steht Humboldt jedoch sogleich vor dem nächsten Problem; denn nun muß der Nachweis erbracht werden, daß damit keineswegs die Gebundenheit des menschlichen Handelns an die Menschenvernunft aufgehoben ist. Wäre nämlich das Wollen der bloßen 181 182 183 184
GS VII,2, 458. GS VII,2, 440. GS VII,2, 441. Ebd.
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Beliebigkeit anheimgestellt, so "könnte Gott die Begebenheiten in der Welt nicht mehr vorhersehn, weil nichts mehr nach Gründen, sondern alles nur nach einem blinden Ohngefähr geschähe" l85 • Ebenso wie Gott selbst als den Vernunftprinzipien unterworfen angesehen wird, wiewohl er zugleich Garant ihrer Gültigkeit sein soll, so muß auch das menschliche Wollen in der Vernunft verankert sein; denn nur auf diese Weise läßt sich die durchgängige Rationalität menschlichen Handelns und damit letztlich auch des Kosmos sichern. Engels Ansatz ist mithin geprägt von dem Zwiespalt, die unkontrollierbare Beliebigkeit menschlichen Wollens abzuwehren, um an der durchgängigen Logizität des Kosmos festhalten zu können, und gleichzeitig sich nicht dem Determinismusvorwurf auszusetzen, der die Autonomie menschlichen Wollens und Handelns und damit die Voraussetzung seiner Ethik in Frage stellt. Am Ende wird jedoch auch das Rationalitätskonzept zugunsten eines weiteren Abweis des Determinismusverdachts preisgegeben, wenn es um die Erklärung gleichgültiger Handlungen geht. Deren Grund wird in die dunklen Vorstellungen der menschlichen Seele gelegt, die damit dem Bewußtsein des Menschen entzogen sind, und hieraus ergibt sich als Folgerung: "Überhaupt sind grösstentheils die deutlichen Vorstellungen nur die Antriebe, nicht die Bewegungsgründe unsrer Handlungen; diese liegen in den gerade gegenwärtigen, uns unbekannten, Zuständen unsrer Seele." l86 Der Wille bestimmt sich nun nicht mehr bloß durch die Vergleichung von Ideen untereinander, wie zuvor angegeben worden ist. Hier bricht in Gegenwendung zum beabsichtigten Beharren auf der Wolffschen Position in nuce ein neues Verständnis vom Menschen hervor, das nicht nur die menschliche Vernunft als maßgeblich für die Bestimmung des Menschen ansieht, sondern die Leibnizsche Rede von den ,petites perceptions' psychologisch aufarbeitet und dem nichtrationalen Seelenteil bestimmenden Einfluß auf das menschliche Handeln zugesteht. Letztlich vermag Engel sich weder von der rationalistisch orientierten Ethik abzuwenden, noch neueren psychologischen Ergebnissen zu verschließen, und so trägt er Humboldt einen in sich uneinheitlichen, an Wolff wie auch an der Psychologie orientierten Ansatz vor.
Die zweite Vorentscheidung betrifft die Ausrichtung der praktischen Philosophie auf die Glückseligkeit; denn sie wird bestimmt als "eine Lehre von der menschlichen Glückseligkeit, insofern diese der Willkühr des Menschen unterworfen ist" l87 • Hat die Metaphysik das Streben alles Lebendigen auf dieses Telos hin festgestellt, so nimmt die praktische Philosophie diese Grundbestimmung auf und sucht nach Wegen ihrer Einlösung. Indem sich die Philosophie in dieser Endzweckbestimmung mit der herrschenden 185 186
187
GS VII,2, 442. GS VII,2, 443. GS VII,2, 460.
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Staatstheorie trifft, wird sie letztlich zu einem stabilisierenden Moment in der politischen Landschaft Preußens. Trotz zunehmender kritischer Distanzierung von der herrschenden Staatstheorie vermag die Popularphilosophie keinen Ansatz zu erarbeiten, der dem in den Worten Kants bereits ans Tageslicht gezogenen Wilikürmoment in der absolutistischen Regierungspraxis wirksam Einhalt zu gebieten vermag. Diese Verquickung von Staatszweck und Menschheitszweck muß letztlich alle Bemühungen lähmen, eine strikte Trennungslinie zwischen staatlicher Einflußsphäre und Privatsphäre des Menschen auch als Bürger zu ziehen. Ist Engel auch daran interessiert, Humboldt mit Reformvorstellungen bekannt zu machen, die auf eine vorsichtige Umgestaltung der preußischen Staatspraxis abzielen, so durchzieht gleichwohl seinen gesamten Vortrag die Auffassung, daß eine gelungene Integration in die staatliche Gemeinschaft - und das heißt konkret: ein Einfügen in die Wirklichkeit des preußischen Staates - Voraussetzung für ein glückseliges Leben ist. Und dies zu erreichen, wird immer wieder als erste Aufgabe des Menschen herausgestellt. 2.2.2 Die Beschäftigung mit der ,rationalen Theologie'
Ein Themenbereich aus Engels Metaphysikvorlesung ist bislang nur am Rande besprochen worden, obgleich er nach Humboldt den "Lieblingsgegenstand der Philosophie unsrer Zeit"188 bildet: die ,rationale Theologie' als der philosophischen Disziplin, die sich mit der Existenz und den Eigenschaften des höchsten Wesens beschäftigt. Allerdings wird dieses Gebiet in der Vorlesung nur in den beiden Abschnitten über den ,Begriff der unendlichen Substanz' und den ,Begriff der notwendigen Substanz' kurz thematisiert, um sich mit den Bestimmungen ,unendlich', ,vollkommen' und ,notwendig' eines Gottes als des vollkommensten Geistes zu vergewissern. Die Analyse des Begriffs der unendlichen Substanz zielt auf den Nachweis einer Substanz, in der alles Wirkliche wie Mögliche seinen Ursprung hat. Den Begriff hiervon "erhalten wir durch Abstraktion, wenn wir von den endlichen Wesen alle Schranken in unsrer Vorstellung entfernen" 189. Und so läßt sich das "unendliche Wesen" näher bestimmen als "das vollkommenste Wesen; es vereinigt alle nur denkbare Realitäten - die schon ihrer Natur nach compossibel sind - in ihrer höchsten Möglichkeit in sich"190. Ohne daß es in der äußerst abbreviativen Argumentation eigens erwähnt wird, steht hinter diesen Erwägungen die mit dem Prinzip des zureichenden Grundes geforderte Angabe einer letzten Ursache für die zur Wirklichkeit gelangenden Dinge. Die unendliche Substanz erweist sich als dieser letzte zurei188 189 190
GS I, 1. GS VII,2, 448. Ebd.
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chende Existenzgrund für alles Seiende wie möglich Seiende. Die weiteren Bestimmungen zu dieser Substanz als des vollkommensten Wesens haben zur Absicht, es als integrativen Bestandteil des Rationalitätskonzepts der Spätaufklärung auszuweisen. Damit ist die Schlußfolgerung beabsichtigt, jede Willkürhandlung Gottes ausschließen zu können; Gott selber als mit höchstem Verstand und Willen ausgestattet vollzieht sich in dem Rahmen, den die Spätaufklärung allem Seienden vorzeichnet. Seine Berechenbarkeit schließt unkalkulierbare Bestrafung aus; die Strafe kann als ein rein innerweltliches Geschehen angesetzt, genauer als ein vorausschaubares UrsacheWirkung-Verhältnis bestimmt werden. Ist mit dieser Bestimmung der unendlichen Substanz das Aufgehobensein alles Wirklichen wie Möglichen in einem letzten Grund gegeben, so muß sich in einem zweiten Schritt diese Substanz als per se notwendig erweisen, um seiner Funktion als dieser letzte Grund voll gerecht werden zu können. Zu diesem Nachweis wird der Begriff des Notwendigen mit dem Satz vom Widerspruch verknüpft und daraus die Bestimmung abgeleitet: "Nothwendig ist, dessen Nichtsein [der Zusatz "oder Anderssein wird von Engel in einer Anmerkung zurückgenommen 191 ] einen Widerspruch in sich fasst. "192 Aus dieser Definition wird auf die notwendige Existenz einer solchen für sich bestehenden notwendigen Substanz geschlossen. Im Duktus der Engelsehen Vorlesung kommt dieser Passage die Funktion zu, den von der Stufenleiterkonzeption her notwendigen Abschluß in einer höchsten Instanz, die die Existenz der Kette der Wesen letztendlich verbürgt, zu liefern. Diese erweist sich als eine unendliche, d. h. alle (möglichen) Realitäten in sich fassende und per se notwendige oberste Substanz. Diese Substanz wird als Gott bezeichnet. 193 Dieser Gott ist das von aller menschlichen Begrenztheit losgelöst zu denkende oberste Wesen, dem wie dem Menschen die Grundprinzipien des Denkens inhärent sind, deren Garant er zugleich ist. In diesem Verständnis von Gott sieht das spätaufklärerische Denken die angesetzte durchgängige Rationalität des Kosmos gewährleistet. Mit einem solchen Ansatz eines höchsten Wesens, in dem das principium causae sufficientis seine letzte Ausdeutung erfährt, ist das Sein von Etwas hinreichend legitimiert, die Existenz des Kosmos gerechtfertigt; und darin liegt der philosophische Wert dieser Rede von Gott. Die nachfolgenden Ausführungen zur Kosmologie werfen ein bezeichnendes Licht auf den Stellenwert dieser Aussage zur ,rationalen Theologie' im Gesamtkonzept der Metaphysik Engels. Die Rede von einem höchsten Wesen bildet von der rationalistischen Aufklärungsphilosophie her einen notwendigen Zwischenschritt zur Rechtfertigung der realexistierenden Welt. Der Rückgriff 191 192 193
s. GS VII,2, 452, Anm. 3. GS VII,2, 452. Vgl. GS VII,2, 449.
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auf einen transzendent angesetzten Existenzgrund macht den Weg für die Auffassung der so gegründeten Welt als einer Angelegenheit des Menschen frei. Mittels seiner als autonom angesetzten Vernunft kann der Mensch die Welt als eine Reihe von Begebenheiten erklären, die zwar ihre letzte Ursache in Gott, aber ihre jeweiligen Gründe im Handeln der Menschen finden. (Und doch taucht geradezu hinterrücks in dieser Autonomiebewegung die Frage nach einem Existenz und Sinn verbürgenden Gott für den Menschen wieder auf; die Diskussion wird umso leidenschaftlicher geführt, als mit dem Beiseiteschieben des traditionellen, dogmatisch-christlichen Gottesglauben der Weg zu einem neuen Gottesverständnis frei wird. Eine Interpretation der Spätaufklärung als a-theologisch, d. h. die Rede von Gott im Hinblick auf den Lebensvollzug des Menschen ausgrenzend, könnte die Kontroverse um Jacobis ,Spinozabriefe' in ihrer Vehemenz kaum erklären.) Ist mit den Ausführungen zum vollkommensten Geist das Thema ,natürliche Theologie' in der Vorlesung weitgehend abgeschlossen, so setzt sich Humboldts Beschäftigung mit ihr weiter fort in der von Leitzmann als Erstlingsschrift veröffentlichten Abhandlung ,Sokrates und Platon über die Gottheit, über die Vorsehung und Unsterblichkeit'. Zu diesem Themenkomplex, der - wie der Titel andeutet - sich mit den drei Grundwahrheiten der ,Vernunfttheologie' beschäftigt, hat Humboldt wohl unter Engels Anleitung Texte von Xenophon und Platon zusammengestellt und sie übersetzt. Diese Arbeit wird zwei Jahre später auf Kunths Vorschlag hin von Johann Friedrich Zöllner in seinem ,Lesebuch für alle Stände' abgedruckt.l 94 Intention dieser Übersetzung ist es nach Humboldts eigenem Vernehmen, den Nachweis zu führen, daß bereits in den altgriechischen Dialogen die gleichen Argumente gegen die Existenz eines Gottes und seiner Vorsehung wie im achtzehnten Jahrhundert vorgebracht worden sind, um den in der zeitgenössischen Debatte wieder aufgetauchten Einwänden mit Xenophons und Platons Argumenten den Wind aus den Segeln zu nehmen. I95 Die Ausarbeitung beginnt mit einem Dialog Xenophons, in dem Gründe für die Existenz Gottes und seiner Fürsorge für den Menschen in dem Argumentationstil eines ,physiko-theologischen Gottesbeweises' aufgeführt werden. In einem weiteren Text Xenophons zur Frage der Vorsehung wird auch das Verhältnis von Religion, Staat und Moral angesprochen: Recht handelt der Mensch, der den Göttern wohlgefällig lebt; er lebt wohlgefällig, wenn er die Gesetze des Staates befolgt, lautet Xenophons Argumentationsreihe. In einer Anmerkung zu dieser Stelle fühlt sich Humboldt bemüßigt, darauf hinzuweisen, daß allein aufgrund mangelnder Aufklärung - weil nämlich s. hierzu die Angaben von Leitzmann in: GS 1,430. Das sich in Humboldts Worten abzeichnende Verständnis vom Umgang mit altphilologischen Texten, das sich bis in die Wortwahl in der Übersetzung niederschlägt, wird in dem Abschnitt, der sich mit Humboldts Unterricht bei dem Göttinger Altphilologen Christian Gottlob Heyne beschäftigt, analysiert. 194 195
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"jezt allgemeinbekannte Wahrheiten bloss geheim gehaltnes Eigenthum einiger weniger Weisen blieben"196 - die Religion bei den Griechen nicht vom Staatswesen abgetrennt werden konnte, das Gemeinwesen folglich für den Kultbereich zuständig blieb. Mit dieser Bemerkung sucht Humboldt das im Hinblick auf die zeitgenössische Diskussion hochbrisante Argument Xenophons zugunsten einer staatlich beaufsichtigten Religionsausübung zu entschärfen. Auch die ausgezogene Passage aus dem zehnten Buch der ,Nomoi' Platons thematisiert die Rolle des Staates im Bereich der Religion. Platon wird zitiert, der dem Gesetzgeber die Aufgabe zuweist, die Bürger von der Existenz der Götter zu überzeugen, anstatt deren Dasein bloß per Dekret zu verkünden und entsprechende Kultausübung und Handlungen auf Gesetzeswegen einzufordern. Damit schneidet Humboldt bereits in seiner ersten Veröffentlichung einen Themenbereich an, der ihn aufgrund seiner Aktualität bis zu seiner Abhandlung aus dem Jahre 1792 nicht mehr losläßt. Die Auswahl der Dialogstücke wie auch seine Anmerkung zeigen Humboldts Gespür für die Problematik, die sich aus der Einmischungspraxis des preußischen Staates in die Religionsausübung seiner Bürger ergibt. Ein weiteres Zeugnis seiner Auseinandersetzung mit der ,rationalen Theologie' enthält der Gedankenaustausch, den Humboldt schriftlich mit seinem Berliner Jugendfreund Ephraim Beer über Themen der Aufklärungsphilosophie führt. Vorzüglich in seinem zweiten uns erhaltenen Brief setzt sich Humboldt intensiv mit dem ontologischen Gottesbeweis auseinander, den Moses Mendelssohn im 16. Kapitel seiner kurz vor seinem Tode erschienenen ,Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes' selbst konzipiert hat. Humboldts Bedenken richten sich gegen die Beweisführung, mit der Mendelssohn die Richtigkeit des Satzes verficht, daß "jede Möglichkeit (... ) als Möglichkeit gedacht werden"197 muß. Daß auf der Evidenz dieser Annahme der gesamte Gottesbeweis ruht, dessen ist sich Humboldt bewußt. Dennoch muß er gestehen, daß er sich "nie von der Richtigkeit der Sätze [habe] überzeugen können, die er [sc. Mendelssohn] in den letzten Kapiteln seiner Morgenstunden vorträgt" 198. Nun liegt allem Denken Mendelssohns als Grundüberzeugung der Satz zugrunde, daß die "Uebereinstimmung zwischen Sache und Begriff (... ) keine Ausnahme" kenne 199. "Der Sache muß ein Begriff entsprechen; (... ) Sache ohne Begriff hat keine Wahrheit, Wahrheit, ohne daß irgend ein Wesen von ihr versichert sey, führt nicht den mindesten Grad von Evidenz 196 197
GS I, 16.
JubA 3,2, 142.
198 Brief an Ephraim Beer, in: Briefe von Wilhelm von Humboldt an Georg Heinrich Ludwig Nicolovius. S. 97. Hinsichtlich einer Datierung der Briefe läßt sich einzig als terminus ante quem der 1. Oktober 1787, Humboldts Studienbeginn in Frankfurt/ Oder, angeben. 199 JubA 3,2, 145.
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mit sich, ist also keine Wahrheit. "200 Es ist dies die Mendelssohnsche Ausdeutung des Grundsatzes der rationalistischen Aufklärungsphilosophie, dergemäß in Reimarus' Formulierung "die Wahrheit im Denken (Veritas Logica) (... ) in der Uebereinstimmung unserer Gedanken mit den Dingen, woran wir gedenken"201, besteht. Hieran anknüpfend stellt Mendelssohn die These auf, daß "nicht nur alles mögliche müße als möglich, sondern auch alles Würkliche müße als würklich, von irgend einem denkenden Wesen gedacht werden"202. Mit der Begründung dieses Satzes beabsichtigt Mendeissohn seiner eigenen Aussage zufolge, den ontologischen Gottesbeweis "auf eine Art, die (... ) noch von keinem Weltweisen berührt worden ist"203, zu führen. Aus der menschlichen Unfähigkeit, die gesamte Wirklichkeit zu denken 20 4, und dem Postulat, daß alles, was ist, auch gedacht werden muß, wird auf einen Verstand geschlossen, "der den Inbegriff aller Möglichkeiten, als möglich, den Inbegriff aller Würklichkeiten, als würklich, auf das vollkommenste denkt"205; diesem Wesen gebührt der Name ,Gott'. Bei ihrem Erscheinen haben die ,Morgenstunden' großes Aufsehen erregt, zumal die Kontroverse zwischen Friedrich Heinrich Jacobi und Moses Mendeissohn ihrem Höhepunkt zusteuerte. Spötter allerdings dichten: "Es ist ein Gott, das sagte Moses schon, doch den Beweis gab Moses Mendelssohn. "206 Mendelssohn war sich über die philosophische Rückständigkeit der vorgetragenen Gedanken durchaus im klaren. In seiner Einleitung weist er auf den "alles zermalmenden Kant(.)"207 hin, "der hoffentlich mit demselben Geiste wieder aufbauen wird, mit dem er niedergerissen hat"208. Ein solcher ontologischer Gottesbeweis, wie ihn auch Mendelssohn vorgetragen hat, ist von Kant in der ,Transzendentalen Dialektik' der ,Kritik der reinen Vernunft' einer erkenntnistheoretischen Durchleuchtung unterzogen und abgelehnt worden. Denn, so Kants kritischer Einwand, hier werde aus einem bloß logisch konzipierten Begriff die Realität eines ihm korrespondierend gesetzten Dinges deduzierp09 JubA 3,2, 142. Reimarus, Vernunftlehre. Dritte Auflage. § 17. 202 JubA 3,2, 142. 203 JubA 3,2, 141. 204 Vgl. JubA 3,2, 142f. 205 JubA 3,2, 143. 206 Zitiert nach Paul R. Sweet, Wilhelm von Humboldt. A Biography. 2 Bände. Ohio University Press, 1978/80. Bd. I, S. 22. 207 JubA 3,2,3. 208 JubA 3,2, 5. 209 s. KrV. B 630/A 602. Eine Stellungnahme zu Mendelssohns ,Morgenstunden' enthält der Brief Kants an Christian Gottfried Schütz von Ende November 1785, in dem er dieses Werk Mendelssohns "als ein nie von seinem Werthe verlierendes Denkmal der Scharfsinnigkeit" preist, wiewohl es "in der Hauptsache (... ) ein Meisterstück der Täuschung unsrer Vernunft zu halten ist, wenn sie die subjectiven Bedingungen ihrer Bestimmung der Objecte überhaupt, für Bedingungen der Möglichkeit 200 201
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Zum Zeitpunkt seiner Auseinandersetzung mit dem Mendelssohnschen Gottesbeweis kennt Humboldt diesen kritischen Einwand Kants noch nicht. Seine Bedenken richten sich vielmehr gegen die (verdeckte) Benutzung des Begriffs ,Möglichkeit' als eines positiven Prädikates; auf dieser Prädikatszuweisung aber beruht die gesamte Beweisführung Mendelssohns. Wenn hingegen - so Humboldts Überlegung - Möglichkeit bloße Widerspruchslosigkeit impliziert, welche Bestimmung er in Engels Metaphysikvorlesung kennengelernt hat, so ist Mendelssohns Argumentation nicht mehr stichhaltig: Es ließe sich nun durchaus folgern, daß es Widerspruchfreies gibt, welches nicht von einem Wesen gedacht wird. "Die Möglichkeit an sich", so seine Feststellung, "ist also etwas Negatives, wenn gleich der Gedanke der Möglichkeit eines Dinges, als Modification eines denkenden Wesens, etwas Positives ist. "210 Dem Begriff der Möglichkeit kann also - so Humboldts Argumentationsspitze - kein positives Prädikat zukommen, obwohl dazu gerade die "Einbildungskraft und die Begierde, uns Alles, auch das Abstracteste zu versinnlichen" 211 , verleitet. Seine Schlußfolgerung formuliert Humboldt in der Form einer Anfrage: "Warum sollte nicht ein Wesen existiren können, ohne daß es von irgend jemand gedacht würde?"212 Diese aufgewiesene ,Denklücke' macht Mendelssohns Schlußfolgerung hinfällig, daß es "nothwendig ein denkendes Wesen, einen Verstand geben [muß], der nicht nur mich, sammt allen meinen Beschaffenheiten, Merkmalen und Unterscheidungszeichen, sondern den Inbegriff aller Möglichkeiten, als möglich, den Inbegriff aller Würklichkeiten, als würklich, mit einem Worte, den Inbegriff und den Zusammenhang aller Wahrheiten, in ihrer möglichsten Entwickelung, auf das deutlichste, vollständigste und ausführlichste sich vorstellet"213. Wie sehr sich auch die hier von Humboldt vorgetragene Kritik in Wortlaut und Methode im Rahmen der rationalistischen Aufklärungsphilosophie bewegt, so artikuliert sie doch einen Zweifel, der an die Grundfeste dieser Philosophie rüttelt. Ins Grundsätzliche gewendet, stellen seine Einwände die bislang fraglos angenommene durchgängige Übereinstimmung zwischen der Wirklichkeit und unserer Erkenntnis von ihr in Frage. Nun ist es ein Charakteristikum des Mendelssohnschen Beweisganges, diese Kongruenz von der "rationalen Evidenz und der objektiven Realität"214 in den Vorderdieser Objecte selbst hält". (In: Kant's gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. X. Berlin und Leipzig 1922, S. 428f.) 210 Brief an Beer [vor dem 1. Oktober 1787], in: Briefe von Wilhelm von Humboldt an Georg Heinrich Ludwig Nicolovius. S. 98. 2ll Ebd., S. 99. 212 Ebd., S. 100. 213 JubA 3,2, 146. 214 Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und Kant, in: Kant-Studien 13,1908, S.69.
2. Humboldts Ausbildung
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grund gestellt zu haben; umso deutlicher kann Humboldt die mit diesem Ansatz verbundene Problematik erkennen. Und so zieht Spranger aus Humboldts Vorbehalten den Schluß, es handle sich hier um "eine völlige Umwandlung der geistigen Konstitution, nicht nur um die Aufdeckung eines logischen Fehlers. Die Kluft zwischen der Welt rationalen Denkens und der objektiven Wirklichkeit tut sich auf. "215 Diese Kluft hat sich allerdings bereits in Engels Metaphysikvorlesung angekündigt. Gleich zu Beginn des Vortrags, als es um den Übergang der Dinge aus ihrer bloßen Möglichkeit in ihre Wirklichkeit ging, wird der Cartesianische Gottesbeweis zur Erklärung herangezogen und abgelehnt mit den Worten: "Es scheint, als wäre darin die Existenz in meinen Gedanken mit der wirklichen Existenz verwechselt. Denn daraus, dass die Vereinigung aller Realitäten in Einem Wesen möglich ist, und dass die Existenz zu allen Realitäten gehört, folgt nur, dass ein Wesen möglich sei, welches alle Realitäten - die Existenz mit eingeschlossen - in sich vereinigte, nicht aber dass ein solches Wesen wirklich existire. "216 Und Engel fügt präzisierend in einer Randbemerkung an: "Oder noch deutlicher: dass ein Gedanke ohne Widerspruch sey (denn mehr als Gedanke ist doch die blosse Möglichkeit nicht), in welchem ich alle Realitäten, auch die Wirklichkeit hinzugenommen, befasste. "217 Diesem Einwurf - die Existenz eines höchsten Wesens im Denken zu akzeptieren, ihm aber nicht Wirklichkeit zuzuerkennen - hat Mendelssohn in seinen ,Morgenstunden' vorzubeugen gesucht, indem er darauf pocht: "Außer der idealischen Existenz, die auch in einem endlichen Wesen als Wahrheit zukommt, muß dem Unendlichen auch reale Existenz zugeschrieben werden. "218 Denn: "Das nothwendige Wesen (... ) kann entweder nicht gedacht werden, entweder auch als Modification von mir selbst keine Wahrheit haben, oder ich muß es wenigstens als würklich vorhanden denken. "219 Für Mendelssohn gehört mithin - wie schon für Anselm von Canterbury - denknotwendig zum Begriff des notwendigen Wesens seine wirkliche Existenz. Dem steht aber die Ansicht gegenüber, die Engel in der Metaphysikvorlesung vertritt: "Der Begriff des vollkommensten Wesens", so hat sich Humboldt notiert, "erfordert nothwendig den Begriff der Existenz; denn Existenz ist Vollkommenheit. Aber daraus, dass in unsern Gedanken die Existenz nicht von dem vollkommensten Wesen getrennt sein darf, folgt nicht, dass diess Wesen auch ausser unsern Gedanken existire. "220 Diese beiden Zitate aus der Metaphysikvorlesung machen deutlich, daß der Zweifel an einer generellen Übereinstimmung von logischer und meta215 216 217 218 219 220
Ebd., S. 70. GS VII,2, 407. Ebd., Anm. 2. JubA 3,2, 15l. Ebd. GS VII,2, 448.
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physischer Wahrheit von Engel bereits gesät worden ist. Engel verweigert Mendelssohn die Gefolgschaft, wenn der gedachten Existenz eines höchsten Wesens im Gottesbeweis auch Wirklichkeit zuerkannt werden soll. Anders dagegen Engels Position bei der Bestimmung der Welt als der besten. Hier haben wir anhand Humboldts Aufzeichnungen Engels Schlußfolgerung von der gedachten bestmöglichen Welt auf die realexistierende Welt mitverfolgen können. Ohne es ausdrücklich thematisiert zu haben, liegt für Engel die entscheidende Differenz in beiden Schlüssen darin, daß der letztere sinnliche Evidenz für sich in Anspruch nehmen kann, mithin durch die Erfahrung zu rechtfertigen ist.2 21 Und so ist Spranger zuzustimmen, daß Humboldts gegenwendiges Denken "zunächst durchaus nicht mit originaler Sicherheit, sondern ganz in den Bahnen der vorangehenden philosophischen Generation" sich vollzieht, in Bahnen allerdings, "in die freilich, ihr selbst halb unbewusst, durch die lange Infiltration englischen Geistes, schon eine starke Richtung auf das Empiristische und das Triebhafte gekommen war, womit ihre eigene Bearbeitung der sinnlichen Erkenntnis in der Ästhetik dunkel zusammenwirkte. "222 Jedoch ist die Annahme zweifelhaft, die Sprangers Ausdeutung nahezulegen scheint, als habe sich bereits bei der Niederschrift des Briefes "eine völlige Umwandlung der geistigen Konstitution ereignet, eröffne sich jetzt schon für Humboldt "die Kluft zwischen der Welt rationalen Denkens und der objektiven Wirklichkeit"223. Für ein solches Umdenken, das die Abkehr von der rationalistischen Aufklärungsphilosophie impliziert, insofern das Diktum von der Kongruenz logischer und metaphysischer Wahrheit aufgegeben wird, fehlt es an Belegen. In Briefen aus den Jahren 1789 und 1790 sieht sich Humboldt rückblickend stets als Schüler der Aufklärungsphilosophie, der "in der Wolfischen Philosophie gesäugt"224 worden ist, "auf die Unüberwindlichkeit (s)einer Schluß221 Leroux hat den Abweis des Cartesianischen Gottesbeweises ins Grundsätzliche gewendet und ihn als Abkehr von einer rationalistischen Aufklärungsphilosophie interpretiert, wie Engel sie noch in seiner Logikvorlesung in Übereinstimmung mit Reimarus noch vorgetragen hat. Für Leroux zeichnet sich hier ein möglicher Einfluß Kants und seiner ,Kritik der reinen Vernunft' ab, die Engel zu einem Aufgeben des ontologischen Argumentes veranlaßt haben könnte. (s. Leroux, Guillaurne de Humboldt. La Formation de sa pensee jusqu'en 1794. S. 113) Eine solche Interpretation könnte sich auf ein entsprechendes Briefzeugnis stützen, den Brief Engels an Campe vom 20. Juli 1786, in dem Engel seine Zurückhaltung gegenüber der zeitgängigen Metaphysik in Anspielung auf Kant formuliert. Gegen eine solche Beeinflussung durch Kant ist jedoch einzuwenden, daß Engel sich - aus grundsätzlichen Erwägungen, die im folgenden Kapitel noch zur Sprache kommen werden - bis zu seinem Tode nicht mit der Philosophie Kants hat anfreunden können; im Gegenteil, er hat sie vehement bekämpft, sich im zweiten Band seines 1801 neu aufgelegten ,Philosoph(en) für die Welt' sogar bemüßigt gefühlt, eine Leichenrede auf die kritische Philosophie zu halten (vgl. hierin seinen Aufsatz ,Eine Standrede' , S. 300ff). 222 Spranger, Wilhelm von Humboldt und Kant. S. 69. 223 Ebd., S. 70. 224 Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 7. Februar 1789, in: Briefe von Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi. Hg. von Albert Leitzmann. Halle 1892,
S.6.
7 Sauter
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2. Humboldts Ausbildung
kette"225 vertraute. Allerdings weiß er auch von einem zu Zeiten seiner Korrespondenz mit Beer aufgekommenen Ungenügen an der ihm vermittelten Philosophie zu berichten: "Ich gestehe Ihnen," so schreibt er am 17. November 1788 an Jacobi, "dass ich in der Zwischenzeit, da ich Wolf nun so ziemlich gefasst hatte, und ehe ich Kant las, beinah einen Widerwillen gegen meine Metaphysik empfand. Es kam mir alles so trokken, so blosses Gerippe, ohne Geist und Leben vor, ich demonstrirte und demonstrirte, und nie brachten doch die Resultate eigentlich Ueberzeugung hervor. "226 Dennoch hält er zunächst, wie er in der Einleitung zu seiner Übersetzungs arbeit mitteilt, die "kalte Vernunft" für "einen sichern Führer", die "feste Regeln" bietet. 227 Ein solch kontrollierter Vernunftgebrauch soll vor den zwei Gefahren schützen, die dem philosophischen Raisonnement seiner Zeit drohen: vor dem Skeptizismus, der alle Wahrheiten gerade auch der Vernunfttheologie in Zweifel zieht (und in diese Bemerkung scheint er auch Kants Kritizismus einzuschließen), wie vor der Schwärmerei, deren Vertreter "der Vernunft die Fähigkeit ab [sprechen], sie [sc. die Wahrheiten der natürlichen Theologie] beweisen zu können; sie wollen nicht raisonniren, sie wollen glauben; nicht denken, sondern empfinden"228. (Hier ist an Friedrich Heinrich Jacobi und der von ihm ausgelösten Kontroverse zu denken.) Beide Richtungen verstoßen für Humboldt gegen die Intention des achtzehnten Jahrhunderts, "Wahrheiten in ein helleres Licht zu sezen"229, die Aufklärung voranzutreiben. "Denn was heisst Aufklärung des Zeitalters," so Humboldts Deutungsversuch, "wenn nicht allgemeiner verbreitete, vorurtheilsfreie Schäzung der Dinge, auf denen in jedem Verhältniss das Glük des denkenden Geistes beruht, wenn nicht die glüklichere Wahl der Mittel zu Erreichung dieses Zweks, wenn nicht die muthvollere Bekämpfung der Hindernisse, die diesem Zwek entgegen sind?"230 Und dogmatisch schließt er: "Anders den Begriff der Aufklärung bestimmt, und Licht und Finsterniss, und fruchtbare Weisheit und todte Gelehrsamkeit, alles ist Eins. "231
225 Brief an Karl Gustav Brinkmann vom 9. August [1790], in: Wilhelm von Humboldts Briefe an Karl Gustav von Brinkmann. S. 3. 226 Briefe von Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi. S. 2. 227 GS 1,3. 228 Ebd. 229 GS I, H. 230 GS 1,2. Humboldts Umschreibung von Aufklärung verrät eine starke Affinität mit der Auffassung Engels. Für Engel zeigt sich die Aufklärung darin, "dass die Seele von Vorurtheilen rein, und die Denkkraft in Ansehung aller Gegenstände, die sich ihr zur Prüfung darbieten, völlig ungehindert und frei sind." (J.J. Engel's Schriften. Zweiter Band. Zweite Auflage. S. 317) 231 Ebd.
2.2 Im Kreise der ,Berliner Aufklärung'
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2.2.3 Der Unterricht bei Ernst Ferdinand Klein
Einen weiteren Themenbereich in Humboldts Berliner Ausbildungsphase bildet das Naturrecht. Auf Engels Initiative hin wird der Jurist Ernst Ferdinand Klein für eine Unterweisung Humboldts in das Naturrecht gewonnen. Klein selbst arbeitet zu dieser Zeit mit an dem Entwurf zu dem ,Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten' und ist - wie Engel - Mitglied der ,Berliner Mittwochsgesellschaft'. Ursprünglich sollte dieser Stoff im Zuge der Vorlesung über die praktische Philosophie abgehandelt werden, wie die Gliederung zu Beginn der Vorlesung von Engel anzeigt; stattdessen ist das Naturrecht aus diesem Kontext ausgegliedert und zu einer eigenständigen Vorlesungsreihe umgestaltet worden. Damit hat Engel auf eine Entwicklung im zeitgenössischen Naturrecht reagiert, die auf eine striktere Abgrenzung des Naturrechts von d~r Moralphilosophie hinzielt. Das Naturrecht wird verstärkt in seiner politischen Dimension aktualisiert, um mit seiner Hilfe einen staatsfreien, privatrechtlich geregelten Gesellschaftsbereich zu konzipieren. 232 Ausführlich werden von Humboldt auf 753 Seiten das dem Unterricht zugrunde gelegte Lehrwerk ,Naturrecht des einzelnen Menschen, der Gesellschaft und der Völker' von Ludwig J.K. Höpfner (in erster Auflage 1780 erschienen) kommentiert sowie in der Hauptsache kleinere Ausarbeitungen zu besprochenen Themen angefertigt. Aus dieser umfangreichen Arbeit hat Leitzmann nur einen Bruchteil im Originalwortlaut veröffentlicht, obwohl ihm noch das vollständige Manuskript vorlag 233 ; der überwiegende Teil ist lediglich in einem von ihm selbst verfaßten Referat abgedruckt worden. 234 Die wenigen im Original publizierten Seiten aus Humboldts Ausarbeitungen vermitteln einen Eindruck von dessen intensiver Beschäftigung mit dieser Materie, zeigen seine Kenntnisse unterschiedlicher Naturrechtspositionen und weisen auf eine eigenständige Naturrechtskonzeption Humboldts hin. Die Subtilität seiner Erörterung mußte jedoch notwendigerweise in Leitzmanns stark verkürzter Fassung verlorengehen, so daß sich Humboldts Sicht vom Naturrecht nur noch in groben Zügen rekonstruieren läßt. Eine solche verallgemeinernde Skizze läßt nur noch wenig erahnen von den Umbrüchen und Neubestimmungen im Naturrecht zum Ausgang des 232 s. hierzu Jörn Garber, Vom ,ius connatum' zum ,Menschenrecht'. Deutsche Menschenrechtstheorien der Spätaufklärung, in: Rechtsphilosophie der Aufklärung. Hg. von Reinhard Brandt. Berlin 1982, S. 107ff. 233 Nach der Auskunft von Herrn Prof. Dr. Bohmüller von der UB Jena befindet sich dieses Manuskript nicht im Nachlaß Leitzmann; ebensowenig in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, wie mir auf Anfrage mitgeteilt wurde. (Beiden Stellen sei für ihre Unterstützung herzlich gedankt.) Die Aufzeichnungen Humboldts müssen demnach als verschollen eingestuft werden. 234 Veröffentlicht in: GS VII,2, 482ff.
7'
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2. Hurnboldts Ausbildung
achtzehnten Jahrhunderts. Das Naturrecht findet zu dieser Zeit umso stärkere Beachtung, als mit dessem vielfältigen Argumentation~potential eine zunehmend kritisch-distanzierte Einstellung zum absolutistischen Staate aufgearbeitet und die Stellung des einzelnen im Staate neu formuliert wird, um auf diese Weise die rechtliche Position des Bürgers gegenüber dem ausgreifenden Staatsapparat zu stärken (in diesen Kontext gehört die Formulierung von Menschenrechten) und eine formaljuristisch abgesicherte Grenzlinie zwischen den Bürgern und dem Anspruch des Staates ziehen zu können. Eine Ausrichtung des Naturrechts auf die staatliche Sphäre ist zunächst in seinem neuzeitlichen Ursprung angelegt, war es doch seine erste Aufgabe, nach dem Zusammenbruch der auf einem einheitlichen religiösen Fundament beruhenden Rechtsauffassung des Reiches während des Dreißigjährigen Krieges ein weltliches, alle Konfessionen umspannendes Rechtssystem aufzubauen, das den Territorialfürsten als (legitimierende) Grundlage zur Regierung ihres Gemeinwesens dienen konnte. 235 Die in den Ideen der ,libertas naturalis' und der ,iura connata' liegende Vorstellung von den naturrechtlieh zu begründenden angeborenen Rechten des Menschen werden in der Naturrechtsdebatte der beiden letzten Jahrzehnte des achtzehnten Jahrhunderts herausgestellt, um nun in Gegenwendung zu der ursprünglichen - staatslegitimierenden - Funktion des Naturrechts diese Menschenrechte als unaufgebbare Rechtsansprüche des Bürgers den Forderungen des Staates entgegenzusetzen. Die mit dieser Intention gegebenen Schwierigkeiten, das Einklagen eines größeren Entfaltungsraumes in Einklang mit der herrschenden und allgemein akzeptierten Vorstellung vom Staatszweck zu bringen, schlagen sich auch in Humboldts Aufzeichnungen nieder und geben so ein Bild von dem Problemhorizont der Diskussion über Aufgabe und Grenze der Staatsgewalt am Vorabend der Französischen Revolution. Folgen wir den Ausführungen Grotius' als dem Begründer des neuzeitlichen Naturrechts, so ist unter Naturrecht "ein Gebot der Vernunft zu verstehen, "welches anzeigt, dass einer Handlung, wegen ihrer Uebereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der vernünftigen Natur selbst, eine moralische Hässlichkeit oder eine moralische Nothwendigkeit innewohne"236. Von Anfang an ist das Naturrecht als eine auf das menschliche Handeln sich beziehende Theorie verstanden worden, die eingebettet liegt im Spannungsfeld von positiven Rechtsvorschriften und der Moral. Ist eine solche Rückgründung des Rechtsbegriffs in der Sittlichkeit des Menschen für das Naturrecht in der Nachfolge Wolffs selbstverständlich237 , so mehren 235 Unter Naturrecht ist in dieser Zeit eine" Wissenschaft staatlicher Herrschaft im bürgerlichen Zustand" zu verstehen. (So Diethelm Klippei, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts. Paderborn 1976, S. 43) 236 Hugo Grotius, Drei Bücher über das Recht des Krieges und Friedens (... ) Aus d. Lat. übers. von J.H. v. Kirchmann. Bd. 1, Berlin 1869, S. 73 (Buch I. Kap. LX. 1). 237 So versteht Mendelssohn unter Recht "die Befugnis (das sittliche Vermögen) sich eines Dinges als Mittel zu seiner Glückseligkeit zu bedienen" (JubA 8, 114). Zu
2.2 Im Kreise der ,Berliner Aufklärung'
101
sich in Humboldts Aufzeichnungen die Anzeichen für den Versuch, Naturrecht und Ethik stärker voneinander abzugrenzen und dem Naturrecht eine größere Unabhängigkeit von der praktischen Philosophie zuzugestehen. 238 Davon zeugt die Bestimmung von Recht, mit der Leitzmann die Vorlesung Kleins abschließt: "Unter Recht verstehen wir im ganzen Naturrecht nicht die moralische Möglichkeit, unter allen Umständen so oder so zu handeln, sondern die, zu entscheiden, wie man handeln will. "239 Das Naturrecht, von dem Klein in seiner Vorlesung ausgeht, fonnuliert mithin keine Sollenssätze, die der Mensch zu befolgen habe, weil er - aus moralischen Gründen - ihre Einhaltung sich und anderen schuldig sei, woraus im Gegenzug aus dieser Schuldigkeit ihre Erfüllung einzufordern sei. (Das wird als Aufgabe der Moralphilosophie angetragen.) Vielmehr geht es diesem Naturrecht darum aufzuzeigen, was dem Menschen erlaubt ist zu tun, und dies wird aus der Natur des Menschen zu deduzieren gesucht. (Hieraus ergibt sich die enge Verknüpfung von naturrechtlicher Frage und Anthropologie, ein Aspekt, dem nach und nach vorrangig Humboldts Interesse für das Naturrecht gilt.) Daher gehen "in der Beurteilung der Gewalttätigkeiten (... ) Naturrecht und Moral vielfach auseinander, indem jenes nur das Recht vor Augen hat, diese aber auch die innere moralische Vollkommenheit und die unvollkommenen Verbindlichkeiten"24o. Mit dieser Ausgrenzung der moralischen Komponente weicht die Naturrechtsauffassung Kleins von anderen zeitgenössischen Lehren ab; so betrachtet Mendelssohn neben dem ,jus strictum' auch die ,officia humanitatis' als Bestandteil des Naturrechts und leitet daraus eine moralische Verpflichtung ab, für das Wohl der anderen Menschen mitzusorgen 241 . In der Version, die Klein vertritt, bereitet sich Kants strikte Trennung von Moralität und Legalität vor. Zum Wesen des Naturrechts gehört es, die (Vernunft-)Natur des Menschen als die Instanz zu verstehen, aus der alle ihre Gesetze abgeleitet werden und in der deren nonnierender Charakter gegründet liegt.242 Erkennen der Thematik im Ganzen s. den Aufsatz von Manfred Riedei, Moralität und Recht in der Schulphilosophie des 18. Jahrhunderts, in: Jürgen Blühdorn/Joachim Ritter (Hgg.), Recht und Ethik. Zum Problem ihrer Beziehung im 19. Jahrhundert. Frankfurt/Mo 1970, S. 83ff. 238 So will Engel in seiner Vorlesung zur praktischen Philosophie mit Hilfe der Unterscheidung von vollkommenen und unvollkommenen Pflichten Ethik und Naturrecht voneinander scheiden. (s. GS VII,2, 463) 239 GS VII,2, 506. 240 GS VII,2, 497. 241 So Alexander Altmann in seinem Aufsatz ,Prinzipien politischer Theorie bei Mendelssohn und Kant', in: Ders., Die trostvolle Aufklärung. Studien zur Metaphysik und politischen Theorie Moses Mendelssohns. Stuttgart/Bad Cannstatt 1982, S. 195. 242 s. GS VII,2, 484: "Zum Naturrecht gehören alle Gesetze, die sich aus der Natur des Menschen erkennen lassen." Zugrunde liegt dieser Deduktion das Bild der Aufklärung von der einen unwandelbaren Menschennatur, wie er sich zu Beginn des vierten Abschnitts in Mendelssohns Abhandlung ,Ueber die Evidenz in metaphysischen Wissenschaften' niederschlägt. (Moses Mendelssohn. Schriften zur Philosophie, Aesthetik und Apologetik. Hg. von Moritz Brasch. Bd. I. Ndr. Hildesheim 1968, S. 91)
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2. Humboldts Ausbildung
die verschiedenen Lehrmeinungen zum Naturrecht auch die Natur als dieses objektive, normsetzende Prinzip an, so sind doch beträchtliche Differenzen in den einzelnen Konzeptionen hinsichtlich der aus ihr abzuleitenden Vorschriften für den Menschen zu konstatieren. Als den für ihn maßgeblichen Grundsatz, der allen weiteren Bestimmungen vorausgeht, hält Humboldt fest: "Jeder Mensch hat das Recht, seine Glückseligkeit möglichst zu erhöhen, und die entsprechende Pflicht, die der andern nicht zu stören. "243 Ein Vergleich mit Wolffs erstem Naturgesetz, das die Verpflichtung, für die Vervollkommnung des Nachbarn mit Sorge zu tragen, miteinschließt244, zeigt die Verlagerung der Humboldtschen Maxime auf die individualrechtliche Sphäre an. Das gesellschaftliche Moment wird nur privativ eingeführt durch das Prinzip des ,neminem laede'. In der zweiten Fassung dieses Prinzips wird die Individualisierung des Naturrechts noch stärker von Humboldt herausgestrichen. Nun heißt es: "Jeder hat ein gleiches und ungezweifeltes Recht, sich glücklich zu machen. "245 In diesem Grundrecht kommen alle Menschen überein, es konstituiert ihre grundsätzliche Gleichheit unangesehen aller Standesunterschiede und Rechtsverhältnisse, die ihr Zusammenleben in der staatlichen Gemeinschaft betreffen. Die zweite Bestimmung des Rechts in diesem Postulat weist auf die Unaufhebbarkeit dieses Anspruches hin. Diese Unaufhebbarkeit gilt auch für die staatliche Sphäre. Humboldt kann zur Begründung auf die bereits in Wolffs ,Jus naturae' begründete Auffassung zurückverweisen, demgemäß das Naturrecht jede positive Satzung bricht, die mit naturrechtlichen Bestimmungen in Kollision gerät. Die Rechtsqualität positiver Gesetze entscheidet sich mithin auch an ihrer Widerspruchslosigkeit mit dem Naturrecht. 246 Zwei auf den ersten Blick divergierende Tendenzen durchziehen Humboldts Bestimmung des Naturrechts: Zum einen die Ausrichtung auf eine Individualisierung des Naturrechts, die eine Abkehr von der Verknüpfung von individuellem Wohl und dem ,bonum commune' voraussetzt, wie sie in der Tradition des Wolffschen Naturrechtsverständnisses gängig ist. Zum zweiten die Betonung der Gültigkeit des individualisierten Naturrechts auch in der Sphäre des öffentlichen Rechts. Damit erweist sich das Naturrecht als der eine Rechtsbereich, der für die Formulierung der Grundrechte GS VII,2, 484. Vgl. Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt. 5. Aufl. Frankfurt/Leipzig 1733. Hg. von H.W. Arndt. Hildesheim 1976 (im Folgenden abgeküzrt mit DMor.), § 767: "Der Mensch ist verbunden nicht allein sich und seinen Zustand, sondern auch andere Menschen und ihren Zustand so vollkommen zu machen als in seinen Kräfften stehet. Und also ist er zu allen Handlungen verbunden, dadurch er die Vollkommenheit des anderen und seines Zustandes befördern kan." 245 GS VII,2, 484. 246 "Kein Gesetz darf gebieten, wozu im Naturzustande nicht einmal eine unvollkommene Verbindlichkeit vorhanden war." (GS VII,2, 503) 243 244
2.2 Im Kreise der ,Berliner Aufklärung'
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des Menschen zuständig ist; ihm gegenübergestellt ist die Sphäre der positiven, vom Staate verordneten Gesetze, in der die Rechtsgrundsätze aus dem Naturrecht auf die konkrete historische Situation hin präzisiert, dabei eingeschränkt und die Rechtsansprüche mit Zwangscharakter versehen werden, wodurch sie einklagbar werden. (Die strafrechtliche Durchsetzbarkeit von Rechtsansprüchen ist nur bei positiven Rechten, nicht aber im Naturrecht gegeben.) Mit diesem Ansatz ist eine Interpretation des Naturrechts als eines zeitlich früheren Rechtssystems, das mit dem Einsetzen der staatlichen Gesetzgebung seine Gültigkeit vollständig eingebüßt hätte, abgewiesen. 247 Das Naturrecht läuft zeitlich parallel zur staatlichen Rechtssatzung, und in dieser Konstruktion erhält es die Funktion eines permanenten Regulativs der Rechtssprechung des Staates von der Position des einzelnen Bürgers aus. Die staatlichen Rechtsverordnungen haben sich auszurichten an den Grundsätzen des Naturrechts. Die zu beobachtende Individualisierung des Naturrechts schließt keineswegs die gesellschaftliche Komponente des Menschseins aus. Der hier konzipierte Naturrechtsbegriff bezieht auch die Rechte und Pflichten des Menschen gegenüber der Gesellschaft, deren Mitglied er ist, mit ein. Humboldt zählt "drei Arten von Objekten auf, die Gegenstand naturrechtlicher Betrachtungen sind: "einzelne noch nicht in Gesellschaften vereinigte Menschen, einzelne in einerlei Gesellschaft wohnende Menschen, ganze Gesellschaften in ihrem gegenseitigen Verhältnis"248. Diese Aufzählung wirft die Frage nach dem hier zugrunde gelegten Begriff von Gesellschaft auf. Denn eine Synonymität von Staat und Gesellschaft angesetzt, wie sie noch in den Spätschriften von Moses Mendelssohn anzutreffen ist, würde zu dem Ergebnis führen, daß in der staatlichen Sphäre zwei Rechtssysteme gleichzeitig mit unterschiedlichen Bestimmungen die Rechte und Verpflichtungen des Bürgers formulieren. Daß Humboldts Überlegungen dagegen bereits die Trennung von Staat und Gesellschaft durchzieht, macht seine Bestimmung von Gesellschaft deutlich: "Im engeren Sinne Gesellschaften sollte man nur diejenigen Verbindungen nennen, denen ein ausdrücklicher oder stillschweigender Vertrag zugrunde liegt; daß man auch Verbindungen, denen in Wirklichkeit kein Vertrag zugrunde liegt, z. B. den modernen· Staat mit dem Namen Gesellschaft belegt, ist von nachteiligen Folgen. Für Verbindungen wie den Staat oder das Verhältnis der Eltern und Kinder wäre besser der Terminus gesellige Beziehungen zu verwenden. Nur die Gesellschaft im engeren Sinne setzt einen Vertrag voraus. "249 Die entscheidende Differenz zwischen Gesellschaft und Staat bildet dieser Definition zufolge der Vertrag, der den Zusammenschluß regelt. Im Gegensatz zu geläufigen Vorstellungen wird 247 Ausdrücklich lehnt Humboldt die Vorstellung von einem Naturzustand als "nur eine Abstraktion der Philosophen" ab. (GS VII,2, 485) 248 GS VII,2, 485. 249 GS VII,2, 498.
2. Humboldts Ausbildung
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hier dem Staat sein Vertragscharakter genommen; an anderen Stellen bescheinigt ihm Humboldt lediglich einen Quasikontrakt oder eine stillschweigende Vereinbarung als Vereinigungsmoment. Einzig für die gesellschaftliche Verbindung von Menschen wird eine vertragliche Regelung als verbindliche Voraussetzung angenommen, wobei diese "nur die Verpflichtung, sich Zwangsgesetzen zu unterwerfen"250, enthält. Erscheint es auf den ersten Blick paradox, gerade für das Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft einen Kontrakt anzunehmen, der in diesem Zusammenhang den Zweck hat, unvollkommene Pflichten in vollkommene zu verwandeln, wie Humboldt zustimmend Mendelssohns Lehre von den vollkommenen und unvol~kommenen Pflichten rezipiert 251 , so liefert die im älteren Naturrecht beheimatete Vertragstheorie einen erklärenden Hinweis. Der Vertrag wird hier als Akt aufgefaßt, in dem Menschen freiwillig Rechte abtreten, um in den Besitz einer beschränkten, dafür aber allseits anerkannten Freiheit zu gelangen. Der Vertragsgedanke ist mithin mit der Frage nach der Freiheitsgarantie im gesellschaftlichen Zusammenleben eng verknüpft. Dieser Gedanke der Sicherung von Freiheit mag Pate gestanden haben bei Humboldts Überlegungen, ihr mittels eines solchen Paktes auch in abgeschwächter Form Bestand in der Gesellschaft zu ermöglichen. Dabei setzt der freiwillige Verzicht die Gleichheit unter den Vertragabschließenden voraus; nur unter Gleichen können in Freiheit Übereinkünfte getroffen werden, in denen Teile der Ansprüche zugunsten anderer Menschen aufgegeben werden. (Die Gleichheit der Menschen als Voraussetzung für die Freiheit ihrer Handlungen ist bereits in der Naturrechtsmaxime von Humboldt festgeschrieben worden.) Die Gesellschaft als der eine Bereich, in dem sich menschliches Handeln in Gemeinschaft vollzieht, unterscheidet sich nach dem hier von Humboldt vorgetragenen Entwurf vom Staate fundamental darin, daß der Eintritt in eine gesellschaftliche Verbindung als eine freiwillige, absichtlich zur Erreichung des mit dieser Verbindung verknüpften Zwecks getroffene Entscheidung beurteilt wird. Die argumentative Verknüpfung von gesellschaftlichem Zustand und Vertragsgedanken macht sie zum Freiheitshort des Menschen; in der Gesellschaft kann der einzelne demnach unter Einhaltung der naturrechtlichen Bestimmungen seinem Streben nach Glückseligkeit ungestört nachgehen. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staatswesen nimmt demgegenüber eher den Charakter von Zwangsläufigkeit, von einem unumgänglichen historischen Faktum an. Der Staat verliert hierdurch sein ihn bisher auszeichnendes Moment, wesentlicher Ort für die Verwirklichung des Menschen zu sein.
250 251
GS VII,2, 502. s. GS VII,2, 489.
2.2 Im Kreise der ,Berliner Aufklärung'
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Dieser Differenzierung korrespondiert eine zweifache Art von Gesetzen: natürliche, d. h. aus dem Naturrechtdeduzierte, Gesetze und bürgerliche, "von Menschen gegebene"252. Von den positiven, bürgerlichen Gesetzen unterscheiden sich die aus dem Naturrecht gewonnenen darin, daß es "in meiner Willkühr steht", wem "ich meine Wohlthat ertheilen Will"253.254 Der Verpflichtungs charakter der natürlichen Gesetze fließt aus dem Ansatz, den anderen nicht in seinem Streben nach Glückseligkeit stören zu dürfen. Der von Leitzmann in vollem Wortlaut veröffentlichte Kommentar Humboldts zu diesem Komplex führen die Schwierigkeiten vor Augen, aus dem so vage formulierten Grundsatz des ,neminem laede' verbindliche Handlungsanweisungen für konkrete Ziele zu folgern. So sehr sich Humboldt auch um eine genauere Abgrenzung der Zwangspflichten von den Gewissenspflichten 25 5, für deren Befolgung keine naturrechtliehe, bloß moralische Notwendigkeit besteht, bemüht, so kann er doch kein Prinzip ausfindig machen, das Kollisionsfälle von vorneherein ausschließt. Auch Naturrechtsvorstellungen von Garve, Sulzer und Wolff, die Humboldt zu Rate zieht, können dieses Dilemma nicht lösen, das sich ihm immer mehr als ein Grundsatzproblem des zeitgenössischen Naturrechts erweist. Dem Naturrecht fehlt es an einem materialen obersten Prinzip, das den Maßstab für die Formulierung aller weiteren Rechte und Pflichten des Menschen bildet. Die Suche nach einem solchen Kriterium spielt bis in seinen Briefwechsel mit Jacobi hinein. 256 Dieses Problem hindert Humboldt nicht, die in diesem Naturrechtsansatz liegende Möglichkeit, die freie Selbsttätigkeit für jedermann einzufordern, zu wahren. Aus den bisherigen Erwägungen zieht Humboldt den Schluß, daß Sklaverei und Leibeigenschaft gegen das Grundprinzip des Naturrechts verstoßen. Gegen Höpfner, der auch im Naturrecht dem Herrn das Recht über Leben und Tod des Sklaven zuspricht, betont Humboldt das Individualrecht auf Selbstbestimmung. "Angenommen," so der entsprechende Wortlaut in der Diktion Leitzmanns, "was schwer zu erweisen sein wird, daß die Leibeigenschaft wirklich auf einem Vertrag beruht, so muß dieser doch als ungültig angesehen werden, weil der Leibeigene damit sich seiner Grundpflicht als Mensch, seine eigene Glückseligkeit selbsttätig zu befördern, GS VII,2, 473. GS VII,2, 462. 254 In seiner Schrift ,Jerusalern, oder über religiöse Macht und Judenthum' hat Mendelssohn, der diese Differenzierung verfochten hat, in wenigen Strichen das Bild des Menschen aus der Sicht seiner Naturrechtslehre gezeichnet. Er schreibt: "Der Mensch im Stande der Natur ist Herr über das Seinige, über den freien Gebrauch alles dessen, so er durch dieselben hervorgebracht, (d. i. der Früchte seines Fleißes) oder mit den Früchten seines Fleißes auf eine unzertrennliche Weise verbunden hat, und es hänget von ihm ab, wie viel, wenn und zum Besten wessen von seinen Nebenmenschen er einiges von diesen Gütern, das ihm entbehrlich ist, ablassen will." (JubA 8, 120f) 255 s. GS VII,2, 463. 256 Vgl. Humboldts Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 7. Februar 1789, in: Briefe von Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi. S. 10. 252
253
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2. Humboldts Ausbildung
begibt. "257 In dieser Argumentation wird die Bedeutung ersichtlich, die dem Ansatz der obersten Naturrechtsmaxime als eines Rechtsanspruches des einzelnen im naturrechtlichen Denken Humboldts zukommt. Das individualisierte Naturrecht wird hier stark gemacht gegen jede von außen an den Menschen herangetragene Forderung, die ihn in seinem Streben nach Glückseligkeit zu beeinträchtigen sucht. Diesem naturrechtlich gegründeten Anspruch müssen auch rechtlich fixierte und staatlich legitimierte Abhängigkeitsverhältnisse weichen. Hier erweist sich das Naturrecht als reformierende Kraft keineswegs bloß dem Althergebrachten verhaftet, vermag es in seiner konsequenten Anwendung durchaus zu Reformen den Anstoß zu geben. Und Klein gehört zu den Verfechtern einer auf dem Boden dieses Naturrechts auszutragenden Reformierung des preußischen Staates. Die Wirkung und die Durchsetzungskraft des Naturrechts bewahrheiten sich erst in Konfrontation mit den Ansprüchen des Staates. Anders als beim Eintritt in die Gesellschaft, bei dem "die Mitglieder einer Gesellschaft (... ) ihre Rechte und Verbindlichkeiten [behalten], soweit es sich nicht um die Zwecke der Gesellschaft handelt "258, ist die Mitgliedschaft im Staat mit einer wesentlichen Aufopferung von Rechtsbefugnissen verbunden. "Da bei den jetzigen Staaten meist kein Grundvertrag vorhanden ist," so führt Humboldt aus, "so beruht das Recht der Gesetzgebung und die Verbindlichkeit des Gehorsams gegen die Gesetze auf einem Quasikontrakte, der den Genuß gewisser Vorteile gegen die Ertragung gewisser dabei unumgänglicher Nachteile sichert. "259 Leider hat Leitzmann die entsprechende Passage nicht im vollen Wortlaut abgedruckt, so daß sich nur schwerlich die Gründe eruieren lassen, die den Menschen nach Ansicht Humboldts unter diesen Umständen veranlassen, sich überhaupt als Mitglied eines Staatswesens zu verstehen. Einen Hinweis auf den Zweck, der mit der Staats zugehörigkeit verbunden ist, enthält Humboldts Definition des Begriffs Volk: "Volk ist jede Gesellschaft, die sich in einen Staat begibt, um für ihre Glückseligkeit gemeinschaftlich Sorge zu tragen. "260 In dieser Definition ist auf zwei alte Argumentationsmuster zurückgegriffen worden, wenn von einem Beitritt zum Staat gesprochen und dieser Verbindung die Sorge um die Glückseligkeit angetragen wird. Diese Bestimmung kann dennoch nicht die Unsicherheit verdecken, die hinsichtlich einer einsichtigen Begründung für den Eintritt des Menschen in den Staat besteht. Denn das Glückseligkeitsmoment 257 GS VII,2, 488f. Gegen eine sofortige und allumfassende Aufhebung der Leibeigenschaft wird warnend eingewandt: "Trotzdem darf bei der Aufhebung der Leibeigenschaft nur langsam und vorsichtig vorgegangen werden, da die mit einem Male gewährte absolute Freiheit zu Mißbräuchen verleiten kann." (Ebd.) Mit diesem Hinweis ist initiiert, die Sprengkraft, die das Naturrecht hier entfaltet, in politisch vertretbare und durchsetzbare Bahnen zu lenken. 258 GS VII,2, 499. 259 GS VII,2, 502f. 260 GS VII,2, 505.
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ist zuvor gerade als das auszeichnende Kriterium für die Mitgliedschaft in der Gesellschaft ausgewiesen worden, und in diesem Falle ist die angenommene Freiwilligkeit dieses Aktes plausibel. So aber bleibt Humboldt ein einleuchtendes Argument schuldig, warum der Mensch in den Staat eintreten soll, wenn er dort auf massive Einschränkungen seines Lebensvollzuges stößt. Exkurs: Zu Mendelssohns Naturrechtsvorstellungen Um eine Antwort zu finden auf die aus Humboldts Aufzeichnungen nicht zu klärende Frage, warum der Mensch den Staat aufsuchen soll, wird im Folgenden ausführlicher Mendelssohn zu Wort kommen. Mit der Einbeziehung ästhetischer Erwägungen in die Naturrechtsdebatte deutet dieser jüdische Denker eine ganz andersartige Begründungsstruktur für das menschliche Zusammenleben in staatlicher Gemeinschaft an. Eingehend hat sich Mendelssohn in der schon erwähnten Naturrechtspassage in seinem Werk ,Jerusalern' mit der anstehenden Problemati~ befaßt. Eine Antwort geben seine folgenden Erläuterungen: "Jeder Mensch hat im Stande der Natur auf den Genuß dieses Mittels [sc. des Rechts, die Collisionsfälle zu entscheiden] zur Glückseligkeit ein vollkommenes (... ) Recht. Da aber der Genuß dieses Rechts wenigstens in vielen Fällen zur Erhaltung nicht unumgänglich nothwendig ist; so ist es ein entbehrliches Gut, das, vermöge des Erwiesenen, abgetreten, und vermittels einer hinlänglichen Willenserklärung, einem Andern überlassen werden kann. "261 "Durch Verabredungen dieser Art verläßt der Mensch den Stand der Natur und tritt in den Stand der gesellschaftlichen Verbindung; und seine eigene Natur treibet ihn an, Verbindungen mancherley Art einzugehen, um seine schwankenden Rechte und Pflichten in etwas Bestimmtes zu verwandeln. "262 (Der Ausdruck ,gesellschaftliche Verbindung' ist in Mendelssohns Schriften gleichbedeutend mit der staatlichen Gemeinschaft.) Entscheidend in Mendelssohns Argumentation ist die Feststellung, daß die im Naturrecht ausschließlich dem einzelnen zukommende Entscheidungsbefugnis, "ob und wieviel, wenn und wem, und unter welchen Bedingungen ich zum Wohlthun verbunden bin"263, vielfach ein durchaus ,entbehrliches Gut' sei, dem der Mensch bei seinem Eintritt in den Staat entsagen kann. Werden auf Rechte und Güter verzichtet, so kommt dieser Entäußerung bindender Charakter zu, ansonsten wäre die Preisgabe ein zu schwankender Boden für den auf diese Verzichtserklärung angewiesenen Staat. Ohne diese irreversible Abtretung von Rechten wäre ein Zusammenleben im Staate undenkbar. Was aber veranlaßt den Menschen 261 JubA 8, 123. 262 JubA 8, 125. 263 JubA 8,117.
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zur "Aufopferung"264 von Gütern, auf die er im Naturzustande vollkommenen Anspruch besitzt? Denn die Abqualifizierung einer Rechtsbefugnis als ,entbehrliches Gut' kann kein hinreichendes Movens für den Eintritt in den Staat bieten, ist sie doch zuvor als ausschlaggebend für den Status wie den Umfang der Verpflichtungen des Menschen im naturrechtlichen Zustand gekennzeichnet worden. Mendelssohns Schrift aus dem Jahre 1783 kennt mehrere Erklärungsansätze. Zum einen wird mit Rückgriff auf eine Argumentationsfigur aus dem älteren Naturrecht zur Begründung die Umwandlung von "schwankenden Rechte(n) und Pflichten in etwas Bestimmtes"265, nämlich die Übertragung in einklagbare Rechtsvorschriften angegeben. Dieses juridische Argument wird unterstützt durch den Ansatz eines in der menschlichen Natur liegenden Strebens, "in gesellschaftliche Verbindung zu treten, um ihren [sc. der Menschen] Fähigkeiten und Bedürfnissen weitern Spielraum zu verschaffen"266. Dieses positiv gezeichnete Bild von den Vorteilen, die mit dem Eintritt in die Gesellschaft verbunden sind, revidiert Mendelssohn allerdings selber. Denn er muß zugestehen: "Der Mensch im gesellschaftlichen Leben muß auf manches von seinen Rechten zum allgemeinen Besten Verzicht thun; oder (... ) sehr oft seinen eigenen Nutzen dem Wohlwollen aufopfern. Nun ist er glücklich, wenn diese Aufopferung eigenes Triebes geschiehet, und er jedes Mal wahrnimmt, daß sie blos zum Behuf des Wohlwollens von ihm geschehen sey. Wohlwollen macht im Grunde glücklicher, als Eigennutz; aber wir müssen uns selbst und die Aeusserung unserer Kräfte dabey empfinden. "267 Diese Sätze beinhalten einen ganz neuen, ästhetischen Begründungsansatz, der den Begriff des Wohlwollens zum Angelpunkt hat. Bei diesem Terminus fällt auf, daß ihn Mendelssohn in zweifacher Hinsicht einsetzt. Als ein (zu verwirklichendes) ,allgemeines Bestes' ist das Wohlwollen im Bereich der Gesellschaft angesiedelt, als eine mit Kraftäußerung einhergehende Empfindung kommt es dem Subjekt zu. Mendelssohn scheint die Absicht zu haben, im Wohlwollen eine Verknüpfung von individueller Neigung und gesellschaftlicher Anforderung anzustreben. Genährt wird das Wohlwollen auf der Subjektseite durch die anschauende Erkenntnis: "Je mehr dem Bürger Anlaß gegeben wird, anschauend zu erkennen, daß er auf einige seiner Rechte nur zum allgemeinen Besten Verzicht zu thun, von seinem Eigennutzen nur zum Behuf des Wohlwollens aufzuopfern hat, und also von der einen Seite durch Aeusserung des Wohlwollens eben so viel gewinnet, als er durch die Aufopferung verliert. "268 Das von der anschauenden Erkenntnis 264 265 266 267 268
JubA 6,1, 129. JubA 8, 125. Ebd. JubA 8, 111. JubA 8, l1lf.
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genährte Wohlwollen ist mithin das ausschlaggebende Kriterium, das den Menschen zur Aufgabe von Rechten zwanglos anhält, um auf diese Weise Anteil zu erhalten am gesellschaftlichen Wohlwollen. Untrennbar mit dem (subjektiven) Wohlwollen ist das Freiheitsmoment verknüpft; denn in der ungezwungenen Anwendung seiner Kräfte fühlt der Mensch seine Freiheit: "Der Mensch fühlt seinen Werth, wenn (... ) er anschauend wahrnimmt, wie er durch seine Gabe die Noth seines Nebenmenschen erleichtert; wenn er giebt, weil er will. Giebt er aber, weil er muß, so fühlt er nur seine Fesseln. "269 Dieses Gefühl des freiwilligen Wollens muß der Staat nach MendeIssohn zu erhalten trachten. Daher muß es "eine Hauptbemühung des Staats sein, "die Menschen durch Sitten und Gesinnungen zu regieren"27o. In dieser Konzeption erscheint der Staat als ein Erziehungsstaat, der mittels "Ueberzeugung"271 wirkt. Das Eigentümliche an Mendelssohns Ansatz ist die Verknüpfung von Naturrecht und Ästhetik, wie sie sich in den Erwägungen zum Wohlwollen niederschlägt.272 Die Vernunftargumente scheinen in Mendelssohns Augen nicht mehr ausreichend zu sein, um eine Verbindung zwischen individuellen Neigungen und gesellschaftlichen Anforderungen herstellen zu können. Stattdessen greift er auf Überlegungen aus. dem Bereich der Ästhetik zurück, um mit Hilfe der ,anschauenden Erkenntnis' und des ,inneren Gefühls' eine Ausgangsbasis zu schaffen für eine potentielle Übereinstimmung des Wohlwollens des einzelnen mit dem Wohlwollen der Gesellschaft. Eine solche staatliche Gemeinschaft beruht für Mendelssohn also auf einem ästhetischen Gefühl, welches das notwendige Band zwischen Individuum und Gesellschaft knüpft. Dieses Band zieht den Menschen in die staatliche Gemeinschaft und veranlaßt ihn, freiwillig Rechte abzutreten, die nun im gesellschaftlichen Zustand ein ,entbehrliches Gut' werden. Das ,innere Gefühl' ist mithin Mendelssohns Lösungsvorschlag, um den Beitritt zum Staat als freiwilligen Akt zu erklären. Dennoch melden sich bei Mendelssohn Zweifel ob der Zuverlässigkeit dieser Verknüpfung. Für den Fall, daß das Wohlwollen als vereinigendes Moment versagt, gesteht er dem Staat durchaus zu, "Zuflucht zu öffentliJubA 8, 112. Ebd. 271 Ebd. 272 Angeregt zu dieser Untersuchung der Schrift ,Jerusalem' unter der Perspektive von Naturrecht und Ästhetik hat der Aufsatz von Manfred Voigts, Naturrecht und Ästhetik bei Moses Mendelssohn, in: Mendelssohn-Studien. Bd. 4, Berlin 1979, S. 161ff. Auf einer Quellenbasis, die Schriften aus allen Schaffensperioden Mendelssohns umfaßt, stellt Voigts drei Naturrechtskonzeptionen bei Mendelssohn fest: "l. die alte Naturrechtskonzeption, die aus der Schwäche des Freiheitsprinzips und ihrer Ausschaltung lebt, 2. die aufgeklärte, die einen Ausgleich zwischen Machtprinzip und Freiheitsprinzip versucht, und die 3. Konzeption, in der die Eudaimonie und Sympathie einen friedvollen Gottesstaat garantieren." (S. 176) 269 270
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chen Anstalten, Zwangsgesetzen, Bestrafungen des Verbrechens und Belohnung des Verdienstes"273 zu nehmen, um die öffentliche Ordnung zu erhalten. Dieser Staat hat mit dem auf Wohlwollen aufbauenden Staat nichts mehr gemein. Ein solcher Zwangsstaat kann "zu gemeinnützigen Handlungen zwingen; belohnen, bestrafen; Amt und Ehren, Schande und Verweisung austheilen, um die Menschen zu Handlungen zu bewegen, deren innere Güte nicht kräftig genug auf ihre Gemüther wirken Will"274. Von der Freiheit des Menschen ist in einem solchen Zwangs staat keine Rede mehr. 275 Als Konsequenz ergibt sich daraus, daß ein Vollzug menschlichen Lebens in Freiheit für Mendelssohn nur in einem Staatswesen gegeben ist, das auf dem ästhetischen Gefühl als Gemeinschaft stiftendes Moment aufbauen kann. Die ästhetischen Erwägungen erweisen sich in Mendelssohns Werk als Hoffnungsträger für die Verwirklichung der Freiheit des Menschen in der Gesellschaft. Ende des Exkurses Daß Humboldt zumindest die Naturrechtspassagen aus der Schrift ,Jerusalern' gekannt hat, läßt sich aus seinem Manuskript zu Engels Vorlesung entnehmen. 276 Auch ist es wahrscheinlich, daß Mendelssohns Stellungnahme von Klein erwähnt worden ist, weist doch Mendelssohn selber in einer Anmerkung auf seine diesbezügliche Diskussion mit Klein hin. 277 Einer weitergehenden Rezeption der Auffassung Mendelssohns von einem auf dem inneren Gefühl aufbauenden Staatswesen steht jedoch von Anfang an ein fundamentaler Unterschied in beider Konzeptionen entgegen: Humboldt differenziert zwischen Gesellschaft als herrschaftsfreiem Raum des mitmenschlichen Zusammenlebens und dem Staat. Deshalb kann eine Übertragung der Mendelssohnschen Argumente für den Eintritt in den Staat auf Humboldts Position ihn nicht seiner grundsätzlichen Schwierigkeit entreißen. Denn das ästhetische Konzept träfe bei Humboldt nur auf die gesellschaftliche Sphäre zu; der Staat bliebe weiterhin ein von Herrschaft und Unfreiheit geprägter Raum. Und somit vermag auch Mendelssohns Konzeption Humboldt keinen zureichenden Grund an die Hand zu geben, weshalb der Mensch Mitglied eines Staates werden soll. 273 214
JubA 8, 113. JubA 8, 140.
275 s. ebd. Das Recht auf diese Zwangsmaßnahmen leitet Mendelssohn aus der Idee des Gesellschaftsvertrages ab: "Daher hat dem Staate, durch den gesellschaftlichen Vertrag, auch das vollkommenste Recht und das Vermögen, dieses zu thun, eingeräumt werden können und müssen. Daher ist der Staat eine moralische Person, die ihre eigene Güter und Gerechtsame hat, und damit nach Gutfinden schalten kann." (Ebd.) Diesem Staat ist der Mensch bedingungslos ausgeliefert. Der häufiger formulierten Hoffnung, mittels des Vertrages rudimentäre Freiheitsrechte des Menschen in seinen gesellschaftlichen Zustand hinüberretten zu können, wird hier eine vernichtende Absage erteilt. 276 s. GS VII,2, 462. 277 s. JubA 8, 123f.
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Fehlt also eine einleuchtende Erklärung für den Beitritt des Menschen zum Staat, so enthalten Humboldts Aufzeichnungen nähere Angaben über den Modus der Eingliederung des Menschen in den Staat, der zugleich Weichenstellung gibt für die (Rechts-)Stellung des einzelnen in diesem Staat. Der Übergang vollzieht sich in drei Stufen: "Der Vereinigungsvertrag enthält nur den Entschluß, eine Gesellschaft eingehen zu wollen, der gesellschaftliche Kontrakt nur die Verpflichtung, sich Zwangsgesetzen zu unterwerfen, das Staatsgrundgesetz erst den Inhalt derselben. "278 Ist der Vertrag für Mendelssohn 279 konstitutiv für den Zusarnmenschluß zur Gesellschaft, hält ihn Humboldt letztlich für belanglos, um den Staat zu legitimieren. "Diese ganze Lehre", so wird festgestellt, "ist aber entbehrlich, da man sie zur Ableitung der Rechte und Pflichten jetziger Staaten nicht nötig hat"280, beruht doch "das Recht der Gesetzgebung und die Verbindlichkeit des Gehorsams gegen die Gesetze auf einem Quasikontrakte"281. Ansonsten hält er "die Streitfrage, ob die Staaten einem Vertrage oder dem Rechte des Stärkeren ihren Ursprung verdanken", für "rein spekulativ und ohne praktische Folgen für die Beurteilung der jetzigen bürgerlichen Verhältnisse, zumal keine beider Auffassungen die heute im Staate bestehenden Verbindlichkeiten sanktionieren kann; man kann daher auch ruhig, ohne dem Despotismus das Wort zu reden, die zweite jener Ansichten für wahrscheinlich erklären"282. Es ist eine sehr pragmatische Einstellung, die sich in Humboldts Worten niederschlägt, und sie signalisiert, daß aus wie auch immer gearteten Staatsursprungstheorien sich keine Rechte des Bürgers gegenüber dem Staat ableiten lassen. Damit nehmen die folgenden Aussagen zum Staat einen grundsätzlich anderen Ausgangspunkt als die von einem Idealtypos ausgehenden Ausführungen, die Humboldt bei Dohm hört. Gleichwohl kann eine Bestimmung des Staates als "eine(r) Gesellschaft mehrerer Personen, die sich zu Beförderung ihrer gemeinschaftlichen Sicherheit mit einander vereinigt haben"283, sicherlich auch Dohms Zustimmung finden. Die Sicherheit aber ist letztlich nicht zu trennen vom Wohl der Bürger, wie Humboldt sich nachzuweisen bemüht. 284 Sicherheit und Staatswohl (letzteres von Humboldt synonym mit Wohl der Bürger gesetzt) sind die beiden Hauptaufgaben des Staates, um seinen Endzweck erreichen zu können, nämlich die GS VII,2, 502. Mendelssohn dagegen kennt nur zwei Etappen, die Willenserklärung, in der die freiwillige Abtretung von Rechten ausgesprochen wird, und deren rechtliche Fixierung im Vertrag, der den Übergang besiegelt. (Vgl. Punkt 4 und 5 in Mendelssohns Aufstellung der einzelnen Übergangsschritte in: JubA 8, 124) 280 GS VII,2, 502. 281 GS VII,2, 503. 282 GS VII,2, 50l. 283 GS VII,2, 479. Seiner eigenen Terminologie zufolge hätte Humboldt hier von einer ,geselligen Beziehung' sprechen müssen. 284 s. ebd. Auch bei Wolff sind "die gemeine Wohlfahrt (... ) und Sicherheit das höchste und letzte Gesetze im gemeinen Wesen". (DPol., § 215) 278 279
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"Glükseligkeit jeder Art"285 zu befördern. Ausdrücklich wird hervorgehoben: "Also auch die innerliche Glükseligkeit kann der Staat befördern, und zwar durch Zwangsmittel befördern, nur nicht unmittelbar und auf der Stelle, sondern mittelbar und nach und nach. "286 Allem Anschein nach kehrt Humboldt hier zu der weitverbreiteten Staatszweckbestimmung der Glückseligkeit zurück. Eine gleiche Bestimmung kennt auch Mendelssohn; allerdings weist dieser darauf hin, daß zur Glückseligkeit "unstreitig Freiheit und Selbstbestimmung erfordert [werden]; und also findet in Absicht auf das höchste Gut offenbar kein Zwang statt. Ich kann Niemand zwingen, zu hoffen, zu lieben, großmüthig, enthaltsam zu seyn und also ist in Absicht auf diejenigen Güter, die das höchste Gut ausmachen, der Zwang physisch unmöglich. "287 Diese Sätze schreibt Mendelssohn in einem unter den Mitgliedern der ,Berliner Mittwochsgesellschaft' kursierenden Votum, das sicherlich auch von Klein gelesen worden ist. 288 Glückseligkeit läßt sich demzufolge von außen her nicht erzwingen; der Staat kann nur die Rahmenbedingungen schaffen, die dem Bürger sein Streben nach Glückseligkeit erleichtern. In dieser Hinsicht ist auch Humboldts Staatszweckbestimmung zu interpretieren. Der Staat kann nur befördern, nicht erwirken; die GlÜckseligkeit.als letzter Zweck menschlichen Lebens bleibt Aufgabe des einzelnen. Letztlich jedoch kann dieser Versuch, Staatszweck und individuellen Lebenszweck von einander abzukoppeln, um den bürgerlichen Entfaltungsfreiraum zu sichern, eine kritische Funktion gegenüber einer ausufernden Staatsideologie nicht erfüllen. Denn die individuelle Freiheit des Menschen im Staatsverband ist damit nicht garantiert, da immer noch und, wie Humboldt betont "mit Fug und mit Recht"289, die natürliche Freiheit des Menschen von staatlicher Seite eingeschränkt werden darf; allerdings gelten die Rechtsvorschriften des Staates nur im gesetzlich vorgegebenen Rahmen, und "die Strafen müssen in den Gesetzen ausdrücklich festgesetzt sein"29o. Ihre Rechtmäßigkeit beruht auf dem im Quasikontrakt angenommenen stillschweigenden Vertrag, denn "es gibt nur leges pactitiae"291. Der Staat zeigt sich in dieser Konzeption als ein neben der Gesellschaft angesiedelter Bereich, der die aus dem Naturrecht abgeleiteten Rechte und Pflichten des Bürgers im Hinblick auf eine gesetzliche Regelung des ZusamGS VII,2, 478. GS VII,2, 479. 287 JubA 6,1, 131. 288 s. hierzu die Ausführung von Norbert Hinske zur Prozedur und Funktion dieser Voten in seiner Einleitung zu: ,Berlinische Monatsschrift: Was ist Aufklärung?'. S. XXIVff. 289 GS VII,2, 503. 290 Ebd. 291 GS VII,2, 483. 285
286
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menlebens der Menschen entsprechend modifiziert und sie in dieser juristischen Modifikation vor Gericht einklagbar macht, sie notfalls mit Strafe durchsetzt. Daß diese von ihm ausgesprochenen Weisungen nicht dem Menschheitszweck zuwiderlaufen, ist in der Festlegung seines Endzwecks auf die Berücksichtigung der Glückseligkeit ausgedrückt. Diesem Denken vom Staat in Rechtskategorien hat sich auch der Regent zu unterziehen. "Der Monarch ist selbstverständlich den von ihm gegebenen Gesetzen so gut wie jeder andre unterworfen", stellt Humboldt fest; allerdings fehlt es "an Mitteln, ihn dazu zu zwingen"292. Diese Einsicht markiert genau den kritischen Punkt in den zeitgenössischen Staatskonzeptionen. Indem an bestimmte staatsrechtliche Denkfiguren - wie den Auftrag an die Fürsten, den (inneren) Frieden zu wahren, der eine rechtliche Sonderstellung des Souveräns erfordert, sowie die trotz Abschwächung immer noch geltende Vorstellung von einer Übereinstimmung von Staatswohl und Wohl des einzelnen Bürgers - festgehalten wird, gelingt es nicht, eine Staatstheorie zu erarbeiten, die den Absolutismus von innen her aufzubrechen vermag. Hieran scheitern auch die auf das Naturrecht gesetzten Hoffnungen, einen Schild gegen die herrscherliche Willkür zu bieten. In dieser aporetischen Situation bleibt nur noch die "Hoffnung, die Konflikte durch eine ,vernünftige' Kodifikation und Staatstätigkeit von oben bewältigen zu können"293, und diese Hoffnung durchzieht auch Kleins Naturrechtsvorlesung. Von diesem Ergebnis aus gewinnt Humboldts Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Staat eine neue Begründung. Die gesellschaftliche, vom Naturrecht bestimmte Sphäre wird der staatlichen Sphäre diametral entgegengesetzt als der von Freiheit geprägte Entfaltungsraum menschlichen Vollzuges, in dem der Mensch sein Menschsein verwirklichen kann, während im Staate nur Abhängigkeitsverhältnisse herrschen. Die Gesellschaft ist das Residuum der vom Staate nicht eingelösten Freiheit des Menschen. Indem nun in der Staatsdefinition nicht vollständig die Glückseligkeit ausgeblendet wird, ist die Fürsorgepflicht des Herrschers nicht völlig ausgeschlossen, und damit wird dem herrscherlichen Wohlwollen Tor und Tür geöffnet. Eine weitere Schwäche in der Argumentation, die einen wirksamen Schutz vor absolutistischer Regierungspraxis argumentativ unterläuft, ist die Annahme eines stillschweigenden Vertrages. Es entspricht allgemein herrschender Ansicht, wenn Mendelssohn in seinem Votum für die ,Berliner Mittwochsgesellschaft' formuliert: "Wer in einer Gesellschaft bleibt und sich die Vortheile und Rechte der Gesellschaft zu Nutze macht, der versteht sich eben dadurch stillschweigend zur öffentlichen Verbindlichkeit, und übernimmt die gesellschaftlichen Pflichten. Ja er versteht sich eben dadurch GS VII,2, 505. Michael Stolleis, Staatsraison, Recht und Moral in philosophischen Texten des späten 18. Jahrhunderts. Meisenheim/Glan 1972, S. 25. 292 293
8 Sauter
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zur Unterwürfigkeit und zum Gehorsam, (... ). Durch diese stillschweigende Einwilligung geht also die innere Verpflichtung, sich der Führung eines Bessern zu überlassen, in eine äußere vollkommene Verpflichtung über. "294 In diesen Zusammenhang gehören die von Leitzmann in vollem Wortlaut veröffentlichten Sätze Humboldts, in denen er die Unterordnung des Bürgers unter die Weisungen des Regenten mit dem Hinweis auf die "genauere(.) Kenntniss, die er [sc. der Herrscher] von dem Staat und seinen Verhältnissen hat", weswegen er "viel besser, als ich, zu beurtheilen im Stande ist, was seinen Pflichten gemäss, und was zum Besten der Bürger erforderlich ist", begründet. Jeder "Verdacht in die Einsichten und die Denkungsart des Regenten ist "für die innere Ruhe des Staats höchst gefährlich". "Wer also diese Ideen unterhält und bestärkt, kann leicht Gelegenheit zu Empörung und Aufruhr geben. "295 Bei aller fundamentalen Kritik an der preußischen Regierung, die von der ,Berliner Aufklärung' geübt wird, gewinnt die Staatsloyalität - noch - die Oberhand. Von diesem Standpunkt aus müßte Humboldt seinen fünf Jahre später verfaßten Aufsatz ,Über Religion' selber als staatsgefährdend einstufen. Dem Naturrecht gilt auch in den folgenden Jahren Humboldts Interesse. So studiert er in seiner Göttinger Studienzeit Wolffs ,Ius naturae', wie das Ausleihregister der dortigen Bibliothek anzeigt. In brieflichen Zeugnissen dieser Zeit taucht es häufiger in Verbindung mit den drei Bereichen Moral, Erziehung und Gesetzgebung auf. Dieser Kontext ist ein erster Hinweis darauf, daß Humboldt seine neugewonnenen anthropologischen Vorstellungen für dieses Gebiet fruchtbar zu machen sucht, wie er zugleich hieraus Rückschlüsse auf die Richtigkeit seines Menschenbildes zieht. Schließlich hat er sich, wie zum Abschluß des vierten Kapitels zu zeigen sein wird, von seiner Neubestimmung des menschlichen Endzwecks her die Aufstellung der ,konsequentesten Theorie des Naturrechts' erhofft, mit der er das in der Vorlesung Kleins nur ungenügend gelöste Problem der Kollisionsfälle zwischen eigenem Streben nach Glückseligkeit und den Ansprüchen der anderen lösen will. Schließlich sucht er sein neues Bild vom Menschen für eine Neubestimmung der Aufgaben des Staates nutzbar zu machen. Kleins Vorlesung hat ihm vor Augen geführt, daß die aporetische politische Situation mit einem solchen Naturrechtsansatz, wie ihn Klein vorgetragen hat, nicht zu beseitigen ist. Denn dieses Naturrecht hat - wie auch andere zeitgenössische Konzeptionen - seine Innovationskraft eingebüßt und ist zu einer evolutionären Veränderung der politischen Situation nicht mehr fähig. Notwendig erscheint daher in Humboldts Augen eine grundlegende Erneuerung des 294 295
JubA 6,1, 136. GS VII,2, 481.
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Naturrechts, die auszugehen hat von einer Neuformulierung ihres obersten Prinzips, welches aus der Anthropologie zu gewinnen ist. Und diese neugefundene naturrechtliche Basis soll die neu zu formulierende Bestimmung des Staates abstützen, indem sie der freien Entfaltung der Individualität des Menschen als der obersten Regel die entsprechende (staatstheoretische) Durchsetzungskraft verleiht. Von dieser weiteren Entwicklung her erscheint die Bedeutung der Naturrechtsvorlesung in einem neuen Licht; sie hat Humboldt zu einem ersten Nachdenken über den Staat angeregt. Bereits in diesem frühen Stadium der Reflexion nimmt Humboldt eine skeptische Haltung gegenüber der vom Staat reklamierten Fürsorge für das Wohl seiner Bürger ein. In Gegenwendung zur offiziellen Staatstheorie wird die Sicherheit zunehmend als die wesentliche Funktion des Staates eingeschätzt. Noch aber hat Humboldt den Schritt nicht vollzogen, jeglichen Wohlfahrtsgedanken aus der Staatszweckbestimmung zu verbannen; noch wirkt diese Tradition übermächtig. Die stark verkürzte Wiedergabe des Humboldtschen Manuskripts verhindert es leider, Humboldts eigene Position genauer studieren zu können. Deutlich geworden ist auf jeden Fall das Bemühen um eine Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft; mit dieser Disjunktion hofft Humboldt, zumindest die Gesellschaft als Hort der freien Entfaltung des Menschen ausweisen zu können. Ein weiteres Ergebnis der Analyse dieser Naturrechtsvorlesung verdient Beachtung: Es sind die Schwierigkeiten des zeitgenössischen Naturrechts offenkundig geworden, ihrer Intention gerecht zu werden und die angeborenen Rechte des Menschen wirksam gegenüber einem absolutistisch regierten Staat zu verteidigen. Das Wissen um diese Mängel wird Humboldt davon abhalten, mit den gängigen Naturrechtsvorstellungen ein neues Selbstverständnis des Staates entwickeln zu wollen. Erst mit der Entdeckung eines aus der Anthropologie gewonnenen obersten Prinzips wird das Naturrecht wieder für ihn interessant - im Hinblick auf eine Bestimmung der Grenzen der Wirksamkeit des Staates. 2.2.4 Der Unterricht bei Christian Wilhelm von Dohm
Zur Ausbildung Humboldts im Hinblick auf eine Tätigkeit in der preußischen Verwaltung gehört auch eine Vorlesung bei Dohm über nationalökonomisehe Themen. Wie Klein und Engel gehört auch Christian Wilhelm von Dohm zu den führenden Vertretern der ,Berliner Aufklärung'. Zeitlebens interessiert an der politischen ,Aufklärung' der preußischen Untertanen, um - wie es Dambacher als wichtigstes Anliegen Dohms formuliert - den "Untertan aus einem reinen Objekt der Regierung zu einem wenn schon nicht aktiv mitbestimmenden, so doch wenigstens mitdenkenden und einsichtig handelnden Glied des Staates zu machen, sowohl um seiner selbst S*
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willen als zum Wohl des ganzen Staates"296, erklärt sich Dohm bereit, eine politisch-statistische Vorlesung im privaten Rahmen abzuhalten. An dieser Veranstaltung nehmen auch die Gebrüder Humboldt teil. Die breite Palette der in dieser Vorlesung abgehandelten Themen 297 weisen die Nationalökonomie als eine Disziplin aus, in die ethnologische, geschichtliche und geographische Erwägungen miteinfließen. So befaßt sich Dohms Vorlesung mit Entstehung und Kennzeichen von Nationalcharakteren, analysiert er in einem knappen historischen Abriß die Entwicklung der europäischen Staatenwelt. Einen weiteren Punkt bildet die Diskussion um die beste Regierungsform. Desweiteren wird Humboldt in die Grundlagen der Statistik eingeführt als der Wissenschaft, die sich seit Achenwall mit den ,wirklichen Staatsmerkwürdigkeiten' beschäftigt. Allerdings erlaubt auch hier die zum größten Teil bloß referierende Zusammenfassung der Aufzeichnungen Humboldts durch den Herausgeber nicht, Humboldts Ansichten genauer herausarbeiten zu können. Den größten Wert hat der Herausgeber Leitzmann Dohms Referat zum Handel beigemessen, weswegen er Humboldts entsprechende Aufzeichnungen im vollen Wortlaut veröffentlicht hat. Diesen Notizen zufolge hat Dohm ausführlich das physiokratische Wirtschaftssystem vorgestellt, wodurch leicht der Eindruck entstehen kann, als sei sie in Dohms Augen die einzig maßgebliche Wirtschaftslehre. Nun gibt es in dem physiokratischen System durchaus zwei Prinzipien, die Dohms Zustimmung finden können. So billigt er den Ansatz, den Handel weitgehend den eigenen Marktgesetzen überlassen zu wollen, um die Interventionen von Seiten des Staates so gering wie möglich zu halten. Denn: "Das lezte, was ein Staat noch zur Aufnahme des Handels thun muss, ist die Beförderung der Freiheit desselben. "298 Die Forderung nach Handelsfreiheit kann Dohms Beifall finden, stimmt sie doch grundsätzlich mit seinem Verständnis vom Staat überein. Nach Dohm hat der Staat lediglich für die allgemeine Sicherheit, den Schutz des einzelnen wie des Eigentums Sorge zu tragen, darüberhinaus aber soll er weitgehende Zurückhaltung üben. 299 Die hinter diesen Vorstellungen stehende Staats296 llsegret Dambacher, Christian WilheIm von Dohm. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen aufgeklärten Beamtentums und seiner Reformbestrebungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Bern/Frankfurt a.M. 1974, S. 77f. 297 Abgedruckt in: GS VII,2, 507ff. 298 GS VII,2, 513. 299 Die Aufforderung zu einer Nichteinmischung des Staates befolgt Dohm aller~ngs in seinen eigenen Erwägungen nicht durchgängig. Dies zeigt sich an seinen Uberlegungen zur Rolle der Religion im Staate: "Kein Staat kann ohne Religion bestehen: er hat über sie die Oberaufsicht und darf die Glaubensfreiheit einschränken, wenn sie ihm nachteilige Meinungen annimmt", so faßt Leitzmann die entsprechenden Sätze aus der Vorlesungsmitschrift Humboldts zusammen (GS VII,2, 540). Auch Dohm hält wie die meisten seiner Zeitgenossen den Beitrag der Religion zur Versittlichung der Bürger für so unersetzbar, daß er der Regierung durchaus zugesteht, Einfluß auf die religiöse Bildung der Untertanen zu nehmen, mißliebige Mei-
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konzeption scheint in dieser Vorlesung nicht weiter zur Sprache gekommen zu sein. Humboldt hat sie wahrscheinlich erst bei seinen Besuchen Dohms in Aachen in den Jahren 1788/1789 in den Grundzügen kennengelernt, um dann überrascht die Neuartigkeit dieser Staatstheorie konstatieren zu müssen. 300 Zum zweiten stimmt Dohm im Prinzip mit den Physiokraten darin überein, die angestrebte Neuordnung des Staatswesens auf evolutionärem Wege zu verwirklichen mit Maßnahmen, die an dem Bestehenden anknüpfen, und nicht mittels einer Revolution. Dieser Grundsatz zeichnet alle seine Reformpläne aus, wie sich an seinem Vorschlag zu einer Neukonstituierung der Aachener Verfassung zeigen wird. "Die grösten Gesetzgeber", so führt er in der Einleitung zu seinem ,Entwurf einer verbesserten Constitution der Kaiserl. freyen Reichsstadt Aachen' aus, "haben nie das Werk reiner Speculation aus ihrem Kopf in die wirkliche Welt zu versetzen gesucht, sie haben fast immer auf schon vorhandne unvollkommnere Formen, Herkommen, Sitten, Meynungen gebauet, sie haben nicht sowohl etwas Neues geschaffen, als dasjenige, was schon vor ihnen durch Umstände und Situation geschaffen war, besser geordnet, ihm mehr Bestimmtheit und Vollkommenheit gegeben. "301 Dieser Satz enthält neben seiner Beistimmung zu evolutionär ausgerichteten Reformmaßnahmen zugleich bereits einen entscheidenden Differenzpunkt zur physiokratischen Lehre. Er spricht sich hier gegen den spekulativen Charakter eines Physiokratismus aus, der aus der Metaphysik deduzierte theoretische Erwägungen der Praxis überstülpen will. Als seine Aufgabe betrachtet er daher die ,Reinigung' dieser Wirtschaftstheorie von ihrem metaphysischen Überbau.3 02 Solche kritischen Töne verzeichnen auch Humboldts Aufzeichnungen zu dieser Lehre, die Dohm anhand seiner ,Kurze(n) Vorstellung des physiokratischen Systems' aus dem Jahre 1778 vorgetragen hat. Allerdings bricht Humboldts Kommentar gerade an der Stelle ab, an der in einem zweiten Teil nach einer Erläuterung der Grundzüge des Physiokratismus eine grundsätzliche Kritik an ihr geübt wird, so daß die im ersten Teil der Vorlesungsmitschrift zu verzeichnende positive Darstellung nur scheinbar Dohms eigene Wertschätzung wiedergibt. 303 nungen zu untersagen. Die grundsätzlich zu gewährleistende freie Religionsausübung findet in seiner Staatsauffassung ihre Grenzen an den Staatsinteressen. (s. hierzu auch die Ausführungen von Dambacher, Christian Wilhelm von Dohm. S. 90ff.) 300 s. GS XIV, 90. Die Gespräche Humboldtsmit Dohm in den Jahren 1788 und 1789 werden in Kap. 3.3.1 näher untersucht. 301 Entwurf einer verbesserten Constitution der Kaiser!. freyen Reichsstadt Aachen, ihren patriotischen Bürgern vorgelegt vom Clevischen Subdelegato Christian Wilhelm von Dohm. Aachen 1790, S. VIIIf. 302 Dambacher, Christian Wilhelm von Dohm. S. 135f. 303 Daß durch diese Schrift Dohms distanzierte Haltung gegenüber der physiokratischen Lehre seinen Zeitgenossen bekannt geworden ist, geht aus einer Bemerkung Friedrich Heinrich Jacobis hervor, der am 25. Oktober 1779 an Georg Forster schreibt: "Sonst bin ich auf Dohm wegen seiner antiphysiokratischen Abhandlung ein wenig böse." Abgedruckt in: Georg Forsters Werke. Achtzehnter Band. S. 66.
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2. Humboldts Ausbildung
Die staats theoretischen Explikationen, denen Leitzmann so wenig Beachtung schenkt, daß er sie lediglich in einem selbstangefertigten Resümee vorträgt, enthalten - soweit feststellbar - in der Tat noch nichts von den Ideen, die Humboldt späterhin bei einem Besuch Dohms im Jahre 1789 so nachhaltig beeindrucken. Es hat eher den Anschein, als habe Dohm mit Rücksicht auf seine Zuhörer ein Standardwerk seinen Ausführungen zugrunde gelegt, um einen allgemeinen Überblick zu geben, anstatt ihnen seine eigenen Reformvorstellungen vorzutragen. In seiner Vorlesung referiert Dohm eine von Kleins Ausführungen abweichende naturrechtliche Staatskonzeption, die gleichwohl auch das Ziel verfolgt, den Staat in rechtlich fixierte Schranken zu verweisen, um die Rechtsposition des Bürgers gegenüber dem Herrscher zu stärken. Sind sich Klein und Dohm in der Zielsetzung weitgehend einig, so verfolgt Dohm einen anderen Weg dorthin. In einem als eine "heuristische Fiktion"304 angesetzten Naturzustand erweist sich das Volk als eigentlicher Souverän - Leitzmann spricht hier vom Volke als dem Besitzer der "eigentlichen reellen Majestät"305 -, in dessen Dienst das Oberhaupt steht. Der Regent wird damit - unausgesprochen - zum bloßen Vollstrecker des Volkswillens herabgestuft. Von einem Herrsc~~r .,legibus solutus', wie die absolutistische Regierungstheorie auf die kurze Formel Bodins gebracht werden kann, ist hier keine Rede. Aus diesem Verständnis erwächst folgerichtig, daß das Volk als wahrer Souverän dem Herrscher letztlich seine Regierungsbefugnisse wieder entziehen kann, wenn dieser den Bedürfnissen des Volkes zuwiderhandelt. Für Dohm ergibt sich aus diesen Erwägungen, daß das Volk die Quelle allen Rechts ist. Aber, so seine weiteren Überlegungen, indem es einen Herrscher an die Spitze stellt und ihm Rechte anvertraut, ist das Volk dem Oberhaupt unbedingten Gehorsam schuldig; andernfalls würde es gegen den eigenen, mit dem Zusammenschluß implizierten Zweck eines geordneten, vom Recht gelenkten Zusammenlebens verstoßen. Die Idee des Gesellschaftsvertrages wird hier von DOhm mit der Lehre vom Unterwerfungsvertrag gekoppelt und auf diese Weise die herrschende Staatstheorie bestätigt. Soll auf der einen Seite - so die Absicht Dohms - als Schutz vor einer Willkürherrschaft der Regent an die Einhaltung der Gesetze gebunden werden, so wird auf der anderen Seite als Gegenleistung die treue Befolgung seiner Weisungen durch die Untertanen angeboten. Aber schon Kleins Naturrechtsvorlesung hat die in einer solchen Konzeption steckende Problematik nicht zu lösen vermocht, wie denn einer den Freiraum des Bürgers immer stärker eingrenzenden Staatsmacht Einhalt zu 304 Alexander Altmann, Moses Mendelssohn über Naturrecht und Naturzustand, in: Norbert Hinske (Hg.), Ich handle mit Vernunft (... ) Moses Mendelssohn und die europäische Aufklärung. Hamburg 1981, S. 72: "Das Naturzustandstheorem bedeutet nicht den Versuch, die Entstehung des Staates historisch zu erklären. Sein Sinn ist logisch und das Verfahren, durch das es ermittelt wird, ist eine bewußte Nachahmung der resolutiv-kompositiven Methode der damaligen Naturwissenschaft." 305 GS VII,2, 541.
2.2 Im Kreise der ,Berliner Aufklärung'
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gebieten ist. Diese Frage stellt sich den Zeitgenossen angesichts einer solch restriktiven Politik, wie sie unter Friedrich Wilhelm 11. in Preußen zu beobachten ist, immer dringlicher. Und so wundert es nicht, wenn Dohm die reine Monarchie als "am gefährlichsten für die bürgerliche Freiheit"306 einstuft, wenngleich er sie sozusagen als Seitenhieb und Mahnung zugleich als "die wohltätigste aller Regierungsformen bezeichnet, "wenn es nur weise und tugendhafte Fürsten gäbe" .307 Daher gilt sein Plädoyer einer gemischten Regierungsform, in der sich Legislative und Exekutive gegenseitig in Balance halten. Damit spricht auch Dohm in seiner Vorlesung das Thema an, das in den beiden zuvor besprochenen Vorlesungsreihen bereits angeklungen ist: die Frage nämlich nach dem wünschenswerten Verhältnis von Staat und einzelnem in seinem Streben nach einem glükkenden Lebensvollzug. Allenthalben ist das Unbehagen daran zu spüren, daß die restriktive Regierungspolitik des preußischen Königs das Menschsein des Bürgers zu absorbieren trachtet. Zugleich hat aber die Analyse der vorgestellten Konzeptionen ergeben, daß weder Engel mit seinem popularphilosophischen Ansatz noch Klein mit seinem Naturrecht und auch nicht Dohm einen wirkungsvollen Gegenentwurf zur herrschenden Ideologie bieten können. In dieser spannungsreichen, auf Umbruch hindeutenden Atmosphäre wächst Humboldt in Berlin auf. So vieldeutig die Reformansätze sind, die uns die Berliner Spätaufklärer vorstellen, so kommen sie doch letztlich in der Überzeugung überein, daß bei aller Berücksichtigung des Glückseligkeitsstrebens des einzelnen der Gemeinschaft und ihren Interessen Vorrang gebührt. Problematisch wird diese Entscheidung, den Ansprüchen der Gemeinschaft Priorität zuzugestehen, im Hinblick auf eine bislang weder gedanklich noch institutionell vollzogene strikte Trennung von Staat und Gesellschaft. Erläutert wird dieses Verhältnis von Staat und Bürger in den Texten des späten achtzehnten Jahrhunderts vielfach anhand der Denkfigur vom Ganzen und seinen Teilen: Der einzelne wird als Teil des Ganzen aufgefaßt, zu dem er als ein beliebiges Glied in einseitiger Abhängigkeit steht. Denn das Ganze (der Staat) ist zu seiner Existenz nicht auf die Zugehörigkeit eines bestimmten Teiles (eines Dambacher, Christian Wilhelm von Dohm. S. 139f. Indem Siegfried Kähler in seinem Buch ,Wilhelm von Humboldt und der Staat'. Göttingen 21963, sich strikt an seine Ausgangshypothese von einer ,rezeptiven Natur' Humboldts hält, verstellt er sich selber von vorneherein den Blick auf die grundlegende Differenz der Humboldtschen Staatskonzeption zu Dohms Auffassung vom Staat; sie resultiert aus der hier erst angedeuteten Grundsatzentscheidung Humboldts zugunsten der Vorrangstellung des Menschen vor dem Staatswohl, eine Entscheidung, die - wie ausgeführt - prinzipiell nicht die Zustimmung Dohms finden konnte. Ferner hätte Kähler eine kurze Sichtung der Aufzeichnungen Humboldts zu Dohms Vorlesung vor der Unterstellung Dohms einer "naive(n) Aufklärung und [eines] gänzliche(n) Mangel(s) an geschichtlichem Denken" bewahrt, denn ausdrücklich wird dort (s. GS VII,2, 541) der Gesellschaftsvertrag als ein ideales, und nichtwie Kähler meint - als historisches Datum eingeführt. (S. 140f) 306 307
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2. Humboldts Ausbildung
bestimmten Bürgers) angewiesen, wohl aber das Teil in seiner Funktion als Teil (Bürger) auf die Mitgliedschaft im Ganzen (im Staate). Aus diesem Abhängigkeitsverhältnis wird die Unterordnung des Bürgers unter die Anforderungen des Staates abgeleitet. Ein Blick auf die bislang vorgestellten Naturrechtstheorien legt die Vermutung nahe, daß, solange eine solche Denkfigur unangefochten Zustimmung erhält, alle Versuche scheitern müssen, den Rechten des einzelnen Bürgers gegenüber dem Staate zum Durchbruch zu verhelfen. Denn solange wird das Teil in bloßer Unterordnung unter das Ganze gesehen, ohne daß ihm ein konstitutiver Anteil an dem Gesamten zugesprochen werden kann, aus dem sich Rechtsansprüche ableiten ließen. Das philosophische Fundament für diese Ausdeutung des Verhältnispaares finden die Zeitgenossen in der Bestimmung, die Wolff in seiner 'Deutschen Metaphysik' gegeben hat: Wolffs Philosophiegebäude beruht auf dem Grundaxiom, daß das Ganze nie mehr ist als die Summe der Teile. Ein die Summe zu dem Ganzen formendes Moment ist dem Denken Wolffs fremd. Für das einzelne Teil ergibt sich aus diesem Ansatz, daß sich seine Existenz erschöpft in der Zugehörigkeit zum Ganzen; von diesem übergeordneten Ganzen leitet sich seine Funktion ab. (Eine Gegenposition zu dieser Bestimmung klingt in Platons Dialog ,Theaitetos' an, wenn dort Sokrates erklärt, "das Ganze sei aus Teilen entstanden als eine eigne Bildung, verschieden von den sämtlichen Teilen"308. Und diese Deutung bildet die notwendige Voraussetzung für die im nachfolgenden Dialog ,Sophistes' vorgeführte neue Logostheorie, derzufolge der Logos eine Verknüpfung von Wörtern zu einer neuen Sinneinheit ist. 309 ) Humboldt wird sich die Relation von Teil und Ganzem - angeregt durch Äußerungen von Winckelmann und Moritz - am Beispiel der Statue erklären und zu einer ganz anderen Bestimmung dieser Relation gelangen als die rationalistische Aufklärungsphilosophie. Es wird - folgen wir diesen Weg Humboldts - die neuere Ästhetik zu entdecken sein als die Lehre, die neue Wege zur Überwindung dieser Position der Aufklärung bereithält. Dieser Ansatz Wolffs ist nicht nur für die Philosophie der Aufklärung folgenreich. Sein Versuch, von dieser philosophischen Position aus allen Wissensgebieten ein neues Methodengerüst zu erarbeiten, führt dazu, daß seine Ausdeutung maßgeblich wird für die zeitgenössische Wissenschaftspraxis, die nun vermeint, die als komplex erfahrene Wirklichkeit in Teile zerlegen zu können, um die Phänomene einzeln für sich zu analysieren, und in der anschließenden summarischen Auflistung der Einzelergebnisse glaubt, das Geflecht des Wirklichen hinlänglich durchschaut zu haben. (Am 308 Theait. 204a. (Der deutsche Text folgt der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher in der Überarbeitung von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck in der ,Rowohlt Klassiker Ausgabe': Platon, Sämtliche Werke. Bd. 4. Hamburg 1958) 309 s. Soph. 25ge ff.
2.2 Im Kreise der ,Berliner Aufklärung'
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Beispiel einer historischen Darstellung wird im folgenden Kapitel die Problematik dieser Wissenschaftsauffassung näher beleuchtet.) Nun liegt dem achtzehnten Jahrhundert durchaus eine andere Ausdeutung der Relation von Teil und Ganzem vor: in Leibniz' ,Monadologie'. Denn die Monade ist von Leibniz als ein Spiegel konzipiert, "der das Universum aus seinem Gesichtspunkte darstellt und ebenso eingerichtet ist wie das Universum selbst"310. Es ist hier also von der "ontologische(n) Gegenwart des Ganzen in den einzelnen Teilen"3l1 die Rede. Das Teil (die Monade) wird bestimmt als ein das Ganze (das Universum) in seinem Sosein (mit)begründendes Element; anders ausgedrückt, die Monade ist der "das Universum repräsentierende(.) und konstituierende(.) Mikrokosmos in je spezifischer einmaliger Weise"312. Allerdings führen die in Engels Vorlesung bereits zu Tage getretenen Schwierigkeiten der Spätaufklärung mit Leibniz' Metaphysik dazu, daß Wolffs Deutung, die den spekulativen Grundzug bewußt ausblendet, Vorrang eingeräumt wird. Auch in Humboldts Äußerungen taucht diese Rede vom Ganzen und seinen Teilen häufiger auf. Doch bereits in einem Brief von Ende 1788 ist ein Unbehagen an der gängigen Wolffschen Ausdeutung und der aus ihr abgeleiteten wissenschaftlichen Methode zu spüren. In Humboldt kommen zunehmend Zweifel auf, ob die Wirklichkeit mit einer solchen Wissenschaftspraxis zu erfassen ist. Die Defizite dieser Praxis werden für ihn evident bei der Frage nach dem Wesen des Menschen. Der Mensch soll als ein Ganzes betrachtet werden, so die Forderung der zeitgenössischen Anthropologie; tatsächlich sieht Humboldt jedoch überall das Versenken in Einzelanalysen, ohne daß der Mensch je in seiner Ganzheit in den Blick kommt. Hier setzt seine Suche nach einer neuen Bestimmung des Menschen ein, die im zweiten Kapitel seiner ,Staatsschrift' zu einem ersten Ergebnis kommt. Diese mannigfachen Bezüge lassen es gerechtfertigt erscheinen, dieser Denkfigur größere Aufmerksamkeit zu schenken, zumal sie nicht nur im Denken der Spätaufklärung und damit auch in Humboldts Überlegungen eine große Rolle spielt, sondern auch zugleich das Moment bildet, an dem Humboldts Neuorientierung und Abständigkeit vom spätaufklärerischen Denken offensichtlich wird. Im Verlaufe dieser Studie wird sich zeigen, wie aus einer Neubestimmung des Ganzen eine neue Einschätzung des Verhältnisses von Staat und Mensch entwickelt wird.
310 Leibniz, Vernunftprinzipien der Natur und der Gnade. § 3. (Phil. Bibl., Bd. 253. Hamburg 21982 S. 5.) 311 Leo Gabriel, Monade und Ganzheit, in: Wissenschaft und Weltbild, 1966, S. 253. 312 Menze, Leibniz und die neuhumanistische Theorie der Bildung. S. 14.
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2. Humboldts Ausbildung 2.3 Das Studium in Frankfurt an der Oder
Im Herbst 1787 setzt mit dem Besuch der Universität in Frankfurt an der Oder eine neue Ausbildungsphase ein. Zusammen mit seinem Bruder Alexander und weiterhin unter der Leitung ihres Hofmeisters Kunth schreibt Humboldt sich für die Fächer Jura und Nationalökonomie ein, Studiengebiete, die im Hinblick auf die angestrebte Verwaltungslaufbahn als nützlich und förderlich eingeschätzt werden. Dieses eine Semester scheint keinen großen Eindruck auf Humboldt hinterlassen zu haben, es sei denn die Erkenntnis, wie der Universitätsbetrieb nicht ablaufen sollte. Die Frankfurter Universität ist zu dieser Zeit nicht nur sehr klein, sondern auch sehr unbedeutend, das Niveau nicht sehr hoch. 313 Berühmtere Professoren kann sie zu dieser Zeit nicht vorweisen, bekannter ist lediglich der Theologe Josias Friedrich Löffler, Humboldts ehemaliger Griechischlehrer, in dessen Haus die Gebrüder Humboldt hier in Frankfurt wohnen. In Löfflers Kolleg hält Humboldt den bereits erwähnten Vortrag ,mundum esse optimum', der sich an Engels Ausführungen zu Leibniz' Lehre vom Optimismus orientiert. Ansonsten widmet er sich intensiv 314 und erfolgreich315 seinen juristischen Studien, wobei er seine Fähigkeit, in juristischen Kategorien zu denken, vor allem an Johann Friedrich Reiterneier schult, einem Juristen aus Heynes Göttinger Seminar, der die philologische Textverarbeitung seines Lehrers für die Rechtswissenschaft fruchtbar zu machen sucht. 316 Abgeschnitten von seinem Berliner Freundeskreis scheint Humboldt ein sehr zurückgezogenes Leben in Frankfurt geführt zu haben, zumeist in seinen Studien vergraben. Hier paukt er sich einen Grundstock an juristischem Wissen an, der es ihm erlaubt, sich in Göttingen anderen, ihn mehr interessierenden Studienfächern zu widmen. Und dennoch findet er Zeit für eine erste Kantlektüre. Hinweise darauf, daß sich in seinem Frankfurter Semester in seiner beschriebenen Einstellung zur rationalistischen Aufklärungsphilosophie - möglicherweise ausgelöst durch eine Kantlektüre eine grundlegende Wandlung vollzogen hat, finden sich nicht. Entschei313 s. die Schilderung Alexander von Hwnboldts in seinem Brief an Beer von November 1787, in: Die Jugendbriefe Alexander von Hwnboldts 1787-1799. S. 4f. Ein bezeichnendes Licht auf das Betragen der Frankfurter Studenten wirft Humboldts Beschreibung der Marburger Studenten, wenn er in seinem Reisetagebuch vermerkt: "Die Studenten, auf die ich genau während des Kollegiwns Acht gab, betrugen sich gesitteter, als gewöhnlich die Frankfurthischen, sie behielten wenigstens nicht die Hüte auf, und schienen auch übrigens gesitteter. Sonst sprachen sie sehr laut, lachten, warfen sich Komödienzettel zu, und trieben Possen von aller Art." (GS XIV, 20) 314 In einem Brief vom 30. November 1787 beschreibt Hwnboldt Beer seinen voll mit Studieren ausgefüllten Tagesablauf. (s. Briefe Wilhelm von Hwnboldts an Georg Heinrich Ludwig Nicolovius. S. 105f) 315 Ein entsprechendes Zeugnis aus der Hand Reitemeiers hat Leitzmann in: GS VII,2, 545 publiziert. 316 s. Humboldts Notiz in: GS XV, 524.
2.3 Das Studium in Frankfurt an der Oder
123
dende Impulse zu einer Umorientierung erhält er erst während seiner Göttinger Studienzeit. Diesem wichtigen Abschnitt der Neuorientierung ist das folgende Kapitel gewidmet.
3. Neuorientierung 3.1 Das Studium in Göttingen (April 1788 bis Juli 1789) Die Studienzeit in Göttingen eröffnet Humboldt neue Welten. Hier an dieser Universität werden ihm Denkweisen nahegebracht, in denen bereits im Keim Ansätze zu einem neuen, über die Sicht der Aufklärung hinausweisenden Angang an Welt, Mensch und an die Objektivationen des menschlichen Geistes liegen, wiewohl die Gelehrten an der ,Georgia Augusta' von ihrem Selbstverständnis her sich als Anhänger der Spätaufklärung verstehen, ihre Lehrmeinungen als einen Beitrag zur Weiterführung des aufklärerischen Denkens sehen. An Schlözer als einem prominenten Vertreter dieser Wissenschaftspraxis lassen sich ihre Methode und Ziele studieren. Die in dieser Forschungsweise auftauchende Problematik wird sich im Verlauf dieses Kapitels als symptomatisch für das Denken dieser Richtung in der Spätaufklärung erweisen, die sich der rationalistischen Aufklärungsphilosophie verpflichtet fühlt. Sie zeigt ein Moment der Krise dieser Zeit an und wirkt anregend auf die Zeitgenossen, nach Möglichkeiten zu ihrer Überwindung Ausschau zu halten. Neben der Rechtswissenschaft als seinem eigentlichen Studiengebiet sehen wir Humboldt in Göttingen intensiv mit der Altertumskunde beschäftigt. In Christi an Gottlob Heyne trifft er auf einen Altphilologen, der mit seinem Verständnis von Sprache, seiner Betonung des ,Zeitgeistes' als des unabdingbaren Moments jeder Textauslegung den klassischen Studien neue Impulse verleiht. Da die ,Georgia Augusta' im Bereich der Philosophie keine über die gängige Popularphilosophie hinausweisende Lehren anbietet, macht sich Humboldt in Eigeninitiative auf die Suche nach Neuansätzen. In Georg Forster und Friedrich Heinrich Jacobi trifft er auf zwei Gelehrte, die ihm in ihren Studiengebieten neue Ideen vermitteln - im Bereich der Anthropologie Forster, im Hinblick auf eine Neufundierung von Erkenntnis Jacobi. Hinzu kommen in dieser Zeit zwei große Fahrten, eine durch Deutschland, eine in das revolutionäre Frankreich. Weitere kleinere Exkursionen dienen auch dem Zweck, mit interessanten Zeitgenossen ins Gespräch zu kommen und neue Ansichten kennenzulernen. Das ,Preußische Religionsedikt' - auf seiner Deutschlandreise das beherrschende Thema schärft seinen kritischen Blick für die Situation in Preußen und stärkt sein Interesse an politischen Reformideen. Hier ist es sein früherer Lehrer Dohm, der ihm Anstöße zu einer Neuformulierung des Endzwecks des Staates gibt.
3.1 Das Studium in Göttingen
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Was auf den ersten Blick wie eine Ansammlung heterogener Interessensgebiete ausschaut - und aus methodischen Gründen werden sie in den folgenden zwei Kapiteln als Einzelthemen abgehandelt -, gewinnt zum Abschluß der Göttinger Studienzeit zunehmend an innerer Konsistenz. Es kristallisiert sich als Zentrum, um das sich schließlich alle diese Erwägungen gruppieren, die maßgebliche Erkenntnis heraus, daß es der Mensch ist, "auf den sich alles Wissens schrankenloser Kreis zurückzieht"l. Diese Einsicht, erst nur erahnt, letztlich als Gewißheit in das Bewußtsein getreten, um zum maßgeblichen Prinzip allen Handelns zu werden, gilt es in seiner Genese nachzuzeichnen. Im fünften Kapitel kann dann eine erste, alle diese Erwägungen zusammenfassende und aufarbeitende Interpretation zum Endzweck des Menschen in dem Aufsatz ,Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen' vorgestellt werden. Mit Empfehlungsschreiben an einige Göttinger Professoren ausgerüstet 2 und erstmals ohne die Begleitung Kunths wird Humboldt am 23. April 1788 in die Matrikel der Göttinger Universität aufgenommen - als studiosus juris. 3 Die ,Georgia Augusta' hat seit ihrer Gründung im Jahre 1734 der Universität Halle zunehmend stärkere Konkurrenz gemacht und steht zu dem Zeitpunkt, als Humboldt hier eintrifft, am Zenit ihres Ruhms. 4 An ihr wirken Gelehrte, die unter dem Einfluß des spätaufklärerischen Zeitgeistes ihre Wissenschaften pragmatischen Zielsetzungen öffnen, sie für die eigene Gegenwart fruchtbar machen wollen und sich von einer scholastischen, auf reine Wissenserweiterung gerichteten Gelehrsamkeit abkehren. In heutigen Publikationen wird als Charakteristikum der hier geübten Wissenschaftspraxis der 'historische Sinn' lobend hervorgehoben 5 , der den Wissenschaftsbetrieb einen großen Schritt auf die heutige Forschungsweise in den Geisteswissenschaften vorangebracht habe. Eine solche Kennzeichnung vermag aber eher den Zugang zur zeitgenössischen Wissenschaftsmethode zu verstellen, indem sie unterschwellig ein Verständnis von Historie mitklingen läßt, das dieser Zeit noch weitgehend fremd war. Zu bedenken ist, daß für
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Wilhelm von Humboldt an Caroline von Dacheröden in einem Brief vom 1. Mai
1791, in: Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen. Bd. 1, S. 446. 2 In einem Brief vom 10. Mai 1788 berichtet Alexander von Humboldt seinem
Freund Wilhelm Gabriel Wegener: "Heyne und Feder, an die er [sc. Wilhelm von Humboldt) von Engel, Herz, Reiterneier, Dohm, Zöllner und Gott weis von wem noch sonst! so warm empfohlen ist, nehmen sich seiner be[sonders an ... )." Abgedruckt in: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 8. 3 Vgl. die entsprechende Notiz bei Paul Schwenke, Aus Wilhelm von Humboldt's Studienjahren. Mit ungedruckten Briefen, in: Deutsche Rundschau 66, 1891, S. 228. 4 s. hierzu Götz von SeIle, Die Georg-August-Universität zu Göttingen 1737-1937. Göttingen 1937. 5 Von SeIle, Die Georg-August-Universität. S. 29. Ferner: Carlo Antoni, Der Kampf wider die Vernunft. Zur Entstehungsgeschichte des deutschen Freiheitsgedankens. Stuttgart 1951, S. 164.
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3. Neuorientierung
Wolff "cognitia historica acquiescit in nuda notitia facti"6. (Und so ist es sicherlich nicht nur eine Randnotiz, daß die Bemühungen um eine Professur Herders an der Göttinger Universität scheiterten.) Um einen Einblick in den Wissenschaftsbetrieb zu bekommen, werden deshalb anhand der Historiographie von August Ludwig Schlözer, Professor für Staatsgelehrsamkeit in Göttingen, Grundzüge der zeitgenössischen Wissenschaftsauffassung erarbeitet; anschließend kann die die ,Georgia Augusta' kennzeichnende Wissenschaftsorientierung am Wirken des Göttinger Popularphilosophen Johann Georg Heinrich Feder genauer studiert werden. Der sich in dieser Untersuchung ergebende Problemaufriß der wissenschaftlichen Praxis der Spätaufklärung wird späterhin die Folie bieten, die Humboldts kritische Anfragen an den Wissenschaftsbetrieb seiner Zeit verständlich machen. 3.1.1 Das Jurastudium bei Schlözer und Pütter
Humboldts Eintragung als Jurastudent in das Göttinger Matrikelbuch zeigt an, daß die Rechtswissenschaft weiterhin sein Hauptstudiengebiet bleibt. Rücken auch andere Interessensgebiete während seines Göttinger Aufenthaltes in den Vordergrund, so gilt es doch festzuhalten, daß er sich auch an der ,Georgia Augusta' intensiver mit der juristischen Materie beschäftigt hat. Davon zeugen die von ihm aus der Göttinger Universitätsbibliothek entliehenen Bücher7 ; das Strafrecht sowie die geplante Neufassung des preußischen Landrechts stehen im Mittelpunkt seiner rechtswissenschaftlichen Studien. Als Lektüre fehlt auch Wolffs ,Jus naturae' nicht. Verarbeitet hat Humboldt schließlich sein juristisches Wissen in einer "quasi juristischen Dissertation, über die Praescription in Criminalfällen bei den Alten", wie Friedrich Heinrich Jacobi am 15. Februar 1789 Goethe zu berichten weißs. Fehlt es auch an uns überlieferten Äußerungen Humboldts zu seinem Jurastudium in Göttingen - in einer viele Jahre später verfaßten autobiographischen Skizze erinnert er sich wohl noch B;n Schlözer als einen seiner Göttinger Lehrer, nicht aber an den Besuch eines juristischen Kollegs 9 -, so hat er sicherlich auch Veranstaltungen des renommierten StaatsrechtIers Johann Stephan Pütter nicht ausgelassen. Beider Staatskonzeptionen sind im Folgenden kurz darzulegen, bilden sie doch in Humboldts Auseinander6 Christian Wolff, Discursus praeliminaris de philosophia in genere, § 17, in: Philosophia rationalis sive Logica, methodo scientificia pertractata. Frankfurt/Leipzig 1728. 7 Eine Auflistung der Bücher, die Humboldt während seiner Göttinger Studienzeit aus der dortigen Universitätsbibliothek entliehen hat, ist in einem Anhang der Arbeit beigefügt. e Briefwechsel zwischen Goethe und F.H. Jacobi. Hg. von Max Jacobi. Leipzig 1846, S. 121. 9 s. GS XV, 524.
3.1 Das Studium in Göttingen
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setzung mit dem ,Preußischen Religionsedikt' den Ausgangspunkt, der ihm die Problematik der deutschen Rechtswissenschaft angesichts einer solchen Maßnahme des Staates vor Augen führt und ihn nach andersgearteten Lösungsansätzen Ausschau halten läßt. Seine Äußerungen zu diesem Edikt lassen sich rückblickend als einen Kommentar zu den Lehren dieser beiden Juristen lesen. Gibt es auch kein Zeugnis, daß Humboldt den von Schlözer entwickelten ,cursus politicus et philosophicus'.w besuchte, so hat er doch sicherlich dessen Staatsrechtslehrel l studiert, die zu dieser Zeit allenthalben diskutiert wird. Denn in diesem Werk meldet sich Schlözer zu der uns aus Kleins und Dohms Vorlesungen bekannten Problematik zu Wort, wie die Rechtsposition des Bürgers in einem absolutistischen Staat gestärkt werden kann. Auch Schlözer geht vom Naturrecht aus, wenn er die Rechte des Menschen im vorstaatlichen Zustand absichern will, um hieraus Rechtsansprüche des Bürgers als Mitglied eines Staates ableiten zu können. Apodiktisch wird festgestellt: "Der Mensch war eher, als der Untertan. "12 Und zu dem Eintritt in die staatliche Gemeinschaft heißt es: "Menschen, die von Natur frei sind, belieben, sich einem Herrscher zu untergeben. "13 In einer Anmerkung zu dieser Stelle betont Schlözer die Wahl des Verbs ,belieben', um die Freiheit dieser Entscheidung herauszustellen, eine Freiheit, aus der er die Pflichten des Bürgers im Staatsverband ableitet: Haben sich die Menschen freiwillig in einer staatlichen Gemeinschaft zusammengeschlossen, so sind sie zu unbedingtem Gehorsam verpflichtet. Zweck dieser Gemeinschaft ist "BürgerWol, insofern solches durch StatsVerein erhalten, befördert, und erhöhet werden kan"14. In diesen Staatszweck wird auch der Herrscher einzubinden gesucht, entläßt ihn doch der Unterwerfungsvorgang einhergehend 'mit dem Translationsvertrag nicht aus den Pflichten des Menschen als Bürger. 15 Denn: "Der Herrscher ist aus der Mitte seiner MitBürger genommen, und 10 Schlözer hat diesen Kurs "als ein in sich stringentes politisches Curriculum" geplant, "das zur Ausbildung künftiger Staatsbeamten [ihm] am besten geeignet" erschien. Zu diesem Ergebnis kommt Ursula A.J. Becher in ihrer Studie ,August Ludwig v. Schlözer', in: Deutsche Historiker. Bd. VII. Hg. von H.-U.Wehler. Göttingen 1980, S. 11. Eine weitere Arbeit, die sich mit Schlözer als Historiker beschäftigt, ist die Dissertation von Bernd Warlich, August Ludwig Schlözer 1735-1809 zwischen Reform und Revolution. Ein Beitrag zur Pathogenese frühliberalen Staatsdenkens im späten 18. Jahrhundert. Diss. Erlangen 1972. Unter Verwendung des bisher ungedruckten Nachlasses Schlözers arbeitet Warlich dessen Schrifttum auf, ohne jedoch ein Gespür für die geistesgeschichtliche Situation zu zeigen, in der die Auseinandersetzung zwischen Schlözer und Herder sich abspielt. So kommt es zu Aussagen wie: "Herder war Schlözers Art, Universalgeschichte zu betreiben, zu prosaisch." (S. 81) 11 August Ludwig von Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsverfassungsLere. Göttingen 1793. 12 Ebd. S. 31. 13 Ebd., S. 12. 14 Ebd., S. 17. 15 s. ebd., S. 101: "Er behält alle die vorigen Pflichten des Menschen als Bürger. "
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3. Neuorientierung
bleibt auch nachher Bürger; ist selbst sowol den alten Natur-, als den neuen positivGesetzen, und hätte er solche auch auf Antrag ganz allein gemacht, unterworfen. "16 Für den Bürger ergibt sich aus dieser Unterwerfung "Gehorsam, selbst blinden Gehorsam", "Salarirung des Souveräns", "Dankbarkeit" und "Ehrfurcht",l7 In seiner Staatsrechtslehre geht es Schlözer um den Aufweis der Bedingungen, die es den bei den Bereichen ,Staat' und ,Bürger' erlauben, ihre Zwecke zu erfüllen, und ein Zusammenleben in rechtlich abgesicherten Bahnen ermöglichen. 18 Dies setzt nach Schlözer auf Seiten des Staates die Zentrierung aller drei Momente staatlicher Gewalt (legislative, exekutive sowie die jurisdikative19 ) in den Händen des Souveräns voraus. Denn so lehrt es das ältere deutsche Staatsrecht, nur wenn das Gewaltmonopol beim Fürsten liegt, ist die Friedenswahrung gewährleistet, wird der Frieden nicht im Kampf um Partikularinteressen aufgerieben. Gegen diese immer stärker als bedrohlich für die Freiheit der Bürger empfundene Gewaltkonzentration wird mit naturrechtlichen Argumentationsfiguren die Unterordnung herrschaftlicher Macht unter allgemein verbindliche Normen nachzuweisen gesucht. Als zweites Gegengewicht wird die Rechtsposition im Rückgriff auf den Naturzustand zu stärken getrachtet, so, wenn der Status des Bürgers als Mensch als der primäre und vorrangig vor seiner Existenz als Untertan herausgestrichen wird. Diesen Gedanken hat Schlözer in zahlreichen Artikeln, in denen er für einen rechtlich abgesicherten Freiraum des Menschen als Bürger streitet, publizistisch sehr wirkungsvoll propagiert.
Hier bei Schlözer kann Humboldt folglich Argumentationen kennenlernen, in denen dem Staat die Grenzen seiner Wirksamkeit aufgezeigt werden, um den Bürger vor der ausufernden Staatsrnacht zu schützen. Schlözers äußerst verhaltene Reaktion zum ,Preußischen Religionsedikt' zeigt ihm jedoch schnell die Grenzen dieser Konzeption. Solange grundsätzlich an einem Verfügungsrecht des Staates über das Wohl seiner Bürger festgehalten wird, ist kein wirksamer Schutz vor Übergriffen des Staates in die Privatsphäre des Menschen gegeben. Das Scheitern der Kleinschen wie auch Ebd., S. 96. Ebd., S. 103-105. 18 Die Zuständigkeit beider Bereiche werden mit präzisen Bestimmungen voneinander abgegrenzt, ihnen genau umrissene Aufgaben zugewiesen, so daß die gesellschaftlichen Bezüge wie in einem Diagramm angeordnet erscheinen: Auf der einen Achse sind die Rechte und Pflichten des Bürgers zu verzeichnen, auf der anderen die Rechte und Pflichten des Herrschers. In einer solchen Zuordnung ist ihre jeweilige Vereinbarkeit von vorneherein sichergestellt. Ziel der Darstellung ist es, den "wolgeordneten Zusammenhang von allen den Begriffen, die jene Dinge [das sind: "bürgerliche Gesellschaft, Stat, Regirung, und Obrigkeit"] betreffen" aufzuzeigen. (Schlözer, Allgemeines StatsRecht und StatsverfassungsLere. S. 1) 19 Die Jurisdiktion bildet zu diesem Zeitpunkt noch keinen eigenständigen Bereich, sie ist der Legislative zugeordnet. 16 17
3.1 Das Studium in Göttingen
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der Schlözerschen Konzeption zeigt Humboldt an, daß auf diesem Wege, d. h. unter Beibehaltung der bisherigen Staatszwecklehre, die geforderte Eingrenzung der Staatsrnacht nicht erreicht werden kann, der Bürger letztlich weiterhin vor staatlichen Eingriffen ungeschützt bleibt. Ebenfalls wird Humboldt nicht die Veranstaltungen des Juristen Pütter 20 versäumt haben, gehören doch diese zum ,Pflichtprogramm' eines jeden Göttinger Jurastudenten. 21 Noch vor Schlözer hat Pütter die Notwendigkeit eines ,Allgemeinen Staatsrechts' in das Bewußtsein seiner Zeitgenossen gehoben. Wenn er unter diesem Recht "eine Wissenschaft [versteht], die nicht allein um die Theorie eines jeden besonderen Staates zu entwerfen, nützlich ist, sondern sogar auch öfters nothwendig wird, um die im besonderen Staats-Rechte entweder gar nicht oder nicht hinlänglich genug bestimmten streitigen Fragen zu entscheiden"22, so soll dieses Recht in grundätzlicher Weise als Schutz des Bürgers vor Willkürmaßnahmen des Souveräns dienen, indem sich aus seinen allgemeinen Prinzipien für jeden Rechtsfall Einzelbestimmungen deduzieren lassen und damit ein rechtsfreier Raum vermieden wird. Also auch Pütter geht es um den Entwurf eines möglichst engmaschigen Netzes von Rechtsvorschriften. Soll mit dieser Präzisierung der Rechte und Pflichten des einzelnen dessen Rechtssicherheit gesteigert werden, so wird zugleich der Staatsgewalt zur Durchführung der Verordnungen weitgehende Gewaltbefugnisse zuerkannt. 23 So ist auch an Pütter die zeitgängige Vorstellung mit allen ihren Implikationen zu studieren, den Freiheitsraum des Bürgers rechtlich abzusichern gegen staatliche willkürliche Eingriffe, und dies bei gleichzeitigem Festhalten am Status quo, mithin an einer absolutistischen Regierungspraxis. Diese Bezugnahme auf den absolutistischen Staat bindet der deutschen Staatsrechtslehre - wie Pütter sie vertritt - die Hände, die in ihrer Theorie liegende Sprengkraft für ein Aufbrechen der zeitgenössischen Gesellschaftsordnung zu nutzen. 20 Nach den Aufzeichnungen von Pütter in seinem ,Versuch einer academischen Gelehrten = Geschichte von der Georg=Augustus= Universität zu Göttingen' . Zweyter Theil. Göttingen 1788, S. 129, hat er im Sommersemester über die Rechtsgeschichte und im Wintersemester über das deutsche Fürstenrecht gelesen. 21 In seiner ,Selbstbiographie zur dankbaren Jubelfeier seiner 50 jährigen Professorsstelle in Göttingen' hat Pütter selbst in einer Anmerkung zu seinen Lehrveranstaltungen im Sommersemester 1788 notiert: "Ausser den drey Königlichen Prinzen von Großbritannien (... ) hörten die Reichsgeschichte noch (... ) v. Humbold - Berlin" (Bd. 11, Göttingen 1798, S. 789f). Da Alexander von Humboldt erst Ende April 1789 nach Göttingen übersiedelte (s. seinen Brief an Henriette Herz vom 28. April 1789, in: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 50), muß Wilhelm mit dieser Eintragung Pütters gemeint sein. (s. auch Humboldts Bemerkung in seinem Tagebuch GS XIV, 19) 22 Johann Stephan Pütter, Anleitung zum Teutschen Staats-Rechte. Dt. v. L.A.F. Graf von Hohenthal. Theill. Bayreuth 1791, S. 2. (Zitiert nach Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre. Wien 1979, S. 56) 23 Vgl. Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. S. 150f.
9 Sauter
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Ist sein Jurastudium in Frankfurt an der Oder auf Gewinnung von Grundwissen ausgerichtet gewesen, so kann Humboldt in Göttingen Themenbereiche aufgreifen, die ihn mehr interessieren als Kirchengeschichte. Dem Ausleihregister zufolge bildet einen Schwerpunkt das Strafrecht, ein Gebiet, das er mit seiner Vorliebe für die Altphilologie zu verbinden weiß und in eine Arbeit über die ,Kriminalfälle bei den Alten' münden läßt. Mit Schlözer und Pütter lernt er bei führenden Professoren für das deutsche Staatsrecht und kann so dessen Problematik aus nächster Nähe studieren. Es wächst in ihm die Überzeugung, daß von dem hier vorgetragenen Staatsrecht kein Beitrag zu einer Neubestimmung der Aufgaben und der Grenzen der Staatsmacht zu erwarten ist. 3.1.2 Die Wissenschaftspraxis in Göttingen Die Popularphilosophie und Schlözers Methodik
Neben der Jurisprudenz als dem offiziell eingeschlagenen Studiengang räumt Humboldt nunmehr den Interessen, denen er in seinem Frankfurter Studiensemester nur wenig Zeit widmen konnte, in Göttingen einen höheren Stellenwert ein. Für eine Ausweitung seiner philosophischen Studien, vor allem der Kant-Lektüre, findet er allerdings an der ,Georgia Augusta' keine geeignete Anleitung. Denn mit Christoph Meiners und Georg Heinrich Feder 24 ist zu dieser Zeit der Bereich der Philosophie mit zwei Professoren besetzt, die der Popularphilosophie zugezählt werden. 25 Was die Popularphilosophie als philosophische Richtung der Spätaufklärung anstrebt, soll nachfolgend kurz skizziert werden, um so rückwirkend Engels philosophischen Ansatz philosophiegeschichtlich einordnen wie auch vor allem die Situation der Philosophie in Göttingen zu Humboldts Studienzeit charakterisieren zu können. Zu dieser Darstellung gehört auch ein anschließender Exkurs über Schlözers Historiographie, der uns einen Einblick in die spätaufklärerische Wissenschaftspraxis geben soll. In die Philosophiegeschichte ist Feder vornehmlich mit einer Rezension der ,Kritik der reinen Vernunft' aus dem Jahre 1782 eingegangen, die sein Mißverstehen der kritischen Philosophie offenkundig werden ließ. Sein Unverständnis ist jedoch mitbedingt durch eine von der Philosophie Kants grundlegend verschiedenen Auffassung über die Aufgabe der Philosophie in 24 Eine knappe, dennoch sehr informative Zusammenfassung der philosophischen Position beider Professoren bietet Max Wundt, Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. Tübingen 1945. Repr. Ndr. Hildesheim 1964, S. 290ff; 306ff. 25 Diese Zuordnung erfolgt im Anschluß an Helmut Holzhey, Der Philosoph für die Welt - eine Chimäre der deutschen Aufklärung?, in: Esoterik und Exoterik der Philosophie. Beiträge zu Geschichte und Sinn philosophischer Selbstbestimmung. Hg. von Helmut Holzhey und Walter Ch. Zimmerli. Basel/Stuttgart 1977, S. 117ff; hier S. 119. Die Begründung für diese Zuordnung erfolgt in der nachfolgenden Skizzierung der Grundzüge der Popularphilosophie.
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der Popularphilosophie. 26 Aufschlußreich hierzu ist eine seinen Angang an die Philosophie rechtfertigende Äußerung Feders in seiner Selbstbiographie. Er schreibt: "Ich suchte anwendbare Philosophie aus den natürlichsten, oder nicht füglich zu bestreitenden, Vorstellungs arten zu entwickeln, das Wahre und Gute, was sie enthielten, durch vernünftige Gründe jedweder Art zu befestigen. "27 Als Zweck dieser Philosophie wird hier angegeben, anwendbares, und dies meint doch wohl, auf den Daseinsvollzug des Menschen rekurrierendes Wissen zu erarbeiten, um - durchaus mit aufklärerischem Impetus - nützliche Lehren daraus ziehen zu können. Als ,Philosophie für die Welt' strebt die Popularphilosophie nicht in erster Linie einen hohen Verbreitungsgrad ihrer Lehren an, sondern mit ,Welt' ist "viel eher ausgemacht, worüber der Philosoph spricht und wie er das tut"28. Diese Ausrichtung der Popularphilosophie bedingt ihre Methode, ,durch vernünftige Gründe jedweder Art' die Erkenntnisse abzusichern. Was mit der Vernunft einsehbar ist, der Logik nicht widerstreitet und von der Erfahrung bestätigt wird, kann als gesichert und wahr gelten. An dieser Stelle setzt die Unvereinbarkeit mit Kants kritischem Philosophiebegriff ein. 29 Aus Kants Sicht wird von der Popularphilosophie weder eine Kritik der reinen Vernunft noch eine Überprüfung der zugrundegelegten Prinzipien geleistet; eine solche eingeforderte kritische Revision entzieht sich allerdings auch einer Darlegung in ,Volksbegriffen', womit Kant seinen heftig angefeindeten Stil gegenüber popularphilosophischen Vorhaltungen verteidigPO Eine derartige, von der Warte der kritischen Philosophie allem Philosophieren notwendig voranzugehende Kritik der Erkenntnisprinzipien kann und will die Popularphilosophie nicht leisten, führt eine solche Untersuchung doch, wie sie an Kants Kritiken abzulesen glaubt, zu einer Untergrabung der Fundamente der Grundwahrheiten, auf denen Moralität und Religion aufbauen. Wie könnte schließlich solch eine Philosophie noch anwendbare Erkenntnis liefern, so fragen sich die Popularphilosophen. Bei ihrem Bemühen um eine ,lebensnahe' Philosophie geht es ihnen nicht um die Gründung eines eigenen philosophischen Systems, verstehen sie sich doch gerade 26 Die Ausführungen Holzheys in dem zuvor genannten Aufsatz sind ein Versuch, jenseits der bekannten Polemik gegen diese Richtung in der Philosophie des 18. Jahrhunderts deren Selbstverständnis und Methode freizulegen wie auch von ihrem Anspruch her die Grenzen und das Scheitern dieser Philosophie aufzuzeigen. 27 J.G.H. Feder's Leben, Natur und Grundsätze. Zur Belehrung und Ermunterung seiner lieben Nachkommen, auch Anderer die Nutzbares daraus aufzunehmen geneigt sind. Leipzig/Hannover/Darmstadt 1825. Repr. Nachdr. Brüsse11970, S. 79f. 28 Holzhey, Der Philosoph für die Welt. S. 124. In diese Überlegungen der Popularphilosophen ist auch Feders Aufarbeitung des Rousseauschen ,Emile' einzuordnen. 29 Die Momente der Unvereinbarkeit von kritischer Philosophie und Popularphilosophie sind herausgearbeitet bei Holzhey, Der Philosoph für die Welt. S. 128f und bei Zimmerli, "Schwere Rüstung" des Dogmatismus und "anwendbare Eklektik", in: Studia Leibnitiana XV/I, 1983, S. 58ff. 30 s. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. B/A 30f. 9"
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als Gegenbewegung zu jeder Systemphilosophie. Stimmen Meiners und Feder in dieser Intention mit der ,Berliner Aufklärung' überein, so geht es den Göttinger Popularphilosophen um eine "Popularphilosophie vom Katheder"31, um eine Verwissenschaftlichung dieses Ansatzes, die Weltgemäßheit und Wissenschaftlichkeit miteinander vereint. Dabei hat der Begriff ,Eklektizismus' als Umschreibung ihrer wissenschaftlichen Methode für sie keinen pejorativen Klang, beinhaltet doch ,eklektisch zu philosophieren' für den Popularphilosophen das Programm, "daß er, wie man sich ausdrückt, selbst denke, aus den vielen entgegengesetzten Meinungen die beste auswähle, und diese mit allen ihren Gründen unterstützt seinen Schülern vortrage"32. Die ,Popularphilosophie vom Katheder' will ihre philosophischen Meinungen nicht von Autoritäten ableiten, sondern sich ausschließlich von Argumenten aus der Tradition leiten lassen. "Der eklektische ,Selbstdenker' ist nicht durch Originalität, sondern durch seine rationa verantwortete Wahl unter den Philosophien charakterisiert. "33 Einen Reflex dieser Auffassung findet sich auch bei Humboldt in seiner 1787 niedergeschriebenen Vorrede zu seiner Übersetzungsarbeit. Hier bezeichnet er es als ehrenwerten Beitrag zur Aufklärung, daß man "diejenigen Theile der Philosophie verlassen (hat), die, ohne auf brauchbare Resultate für das praktische Leben zu führen, nur dem Scharfsinn einige Nahrung versprachen"34. Dieser Umgang mit philosophischen Ideen ist uns bereits in Engels Unterricht begegnet. Auch für Humboldts Philosophieunterricht galt die Maxime, den Hörer nicht mit einem bestimmten philosophischen System vertraut zu machen, sondern eine Fülle von philosophischen Meinungen vorzutragen, um aus dieser Auswahl schließlich der Idee mit dem Anspruch auf größte Wahrscheinlichkeit zuzustimmen. Das Scheitern der Popularphilosophen an ihrem eigenen Programm hat die Philosophiegeschichte offenbart. Ihre Intention, die praktische Nutzanwendung philosophischer Ideen zu verbessern, hat sie in ihrer Gegnerschaft zu philosophischen Systemen von deren Innovationskraft abgekoppelt und ihrem Programm die Lebensfähigkeit geraubt;35 sie hat überdies zu einem 31 So Zimmerli, "Schwere Rüstung" des Dogmatismus und "anwendbare Eklektik". S. 67. 32 Christoph Meiners, Revision der Philosophie. Erster TheiL Göttingen/Gotha 1772, S. 60f. 33 Holzhey, Der Philosoph für die Welt. S. 132. 34 GS 1,1. 35 Dazu Zimmerli: "Mit der teils planen, unvermittelten Frontstellung gegen jegliche Schulphilosophie begab sich die Philosophie für die Welt zugleich ihrer wichtigsten theoretischen Innovationsquelle, wie sich bereits in ihrem Unvermögen zeigte, die Philosophie Kants in vernünftiger Weise auch nur zu rezipieren, geschweige denn zu bemerken, daß sie sogar als eine Art erster und fundamentaler Schritt in Richtung auf eine Verwirklichung des eigenen Programmes aufzufassen wäre." (W.Ch. Zimmerli, Arbeitsteilige Philosophie? Gedanken zur Teil-Rehabilitierung der Popularphi-
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Argumentationsstil geführt, der der Flüssigkeit der Sprache Vorrang vor Tiefe und Schärfe der Argumentation einräumt, der statt auf Leichtverständlichkeit immer stärker auf Popularität abzielt und sich um die Stringenz des vorgetragenen Beweises und der Korrektheit der Schlüsse nur wenig mehr kümmert. Daß Feder und Meiners von ihren Studenten von diesem Vorwurf nicht freigesprochen werden, verrät der Stoßseufzer Alexander von Humboldts, der aus Göttingen berichtet: "Feder, pius Feder, liest noch oberflächlicher als er schreibt und ebenso sein Busenfreund Meiners. "36 Einer pragmatischen Ausrichtung von Wissenschaft, wie sie in Göttingen herrscht, kommt einer an Anwendbarkeit orientierten Philosophie sehr entgegen; diese Übereinstimmung erwähnt Feder in seiner Autobiographie zu seiner Rechtfertigung des öfteren. Ein Grundzug dieser spätaufklärerischen Wissenschaftspraxis soll nun anhand von Schlözers Ausführungen zur Historiographie herausgearbeitet werden. Exkurs: Der methodische Ansatz in Schlözers Historiographie "WeltGeschichte studiren" , so faßt Schlözer den Zweck dieser Wissenschaft zusammen, "heißt, die HauptVerändrungen der Erde und des MenschenGeschlechts, im Zusammenhange denken, um den heutigen Zustand von beiden aus Gründen zu erkennen. "37 Und dies geschieht, indem das Gewirr von Einzelbegebenheiten in einen systematischen Zusammenhang gebracht wird, der die Vielschichtigkeit wie auch die gegenseitige Abhängigkeit der historischen. Ereignisse untereinander berücksichtigt. Das diese Systematik in der Historie allererst Konstituierende ist in Schlözers Darstellung "der allgemeine Blick, der das Ganze umfasset: dieser mächtige Blick schafft das Aggregat zum System um"38. Mit dem ,Blick' ist der systematisierende Zugriff des Historikers gemeint, der in einem ersten Schritt das zu analysierende Geschehen in einzelne Fakten zerlegt und deren Daten erforscht. In einem zweiten Schritt werden die einzelnen Forschungsergebnisse summarisch aufgelistet. Aus dieser geordneten Aneinanderreihung von Fakten entsteht das, was Schlözer als ,Historie' bezeichnet. Der Komplexität geschichtlicher Ereignisse versucht Schlözer Herr zu werden, indem er die Geschichte in Einzelbestandteile zerlegt und mittels des allgemeinen Blicks, in dem die Ordnungskriterien39 vorliegen, neu zusammenlosophie, in: Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises. Hg. von Hermann Lübbe. Berlin/New York 1978, S. 204) 36 Alexander von Humboldt an Wilhelm Gabriel Wegener in einem Brief von Ende April 1789, in: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 55. 37 August Ludwig Schlözer, WeltGeschichte nach ihren HauptTheilen im Auszug und Zusammenhange. Erster Theil. Göttingen 1785, S. 71. 38 August Ludwig Schlözers Vorstellung seiner Universal=Historie. Göttingen 1772, S. 234. 39 Zu den Auswahlkriterien des ,allgemeinen Blicks' s. Schlözer, Vorstellung seiner Universal = Historie. S. 20ff.
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stellt. Diese rasterhafte Erfassung erlaubt es dem Historiker, ein überschaubares Ordnungsgefüge zu erstellen. Dabei ist der ,Blick' des Forschers als der methodische Zugriff notwendig aufs Allgemeine gerichtet, denn das Individuelle als das sich aller Deduktion Entziehende bleibt außerhalb einer solchen systematischen Erfassung; es wird als nichtkonstitutives Element der Geschichte außer Acht gelassen werden. (Dieser an die Historie herangetragene klassifizierende methodische Zugriff Schlözers hat ihm von Herder den Vorwurf der ,Linneische(n) Nachäffung'40 eingetragen.) Ein solches, nach rationalen Kriterien geordnetes Ganze garantiert die Überschaubarkeit der Historie. Und damit kommt Schlözers Geschichtswerk einem Grundbedürfnis der Menschen seiner Zeit entgegen, das, was den Menschen umfängt, in Strukturen aufzugliedern und so einsichtig zu machen. 41 Auf wissenschaftstheoretischer Ebene bietet Schlözers Historiographie einen Lösungsvorschlag für das immer aktueller werdende Problem, wie die zunehmend erkannte Komplexität von Fakten methodisch zu erfassen ist. Schlözers Konzept macht Ernst mit der Einsicht in die Ineinanderverflochtenheit und Aufeinanderbezogenheit von Begebenheiten und trachtet danach, diese Vielschichtigkeit mit einem Längsschnitt zur Freilegung der 40 Schlözers ,Universal=Historie' ist kurz nach ihrem Erscheinen von Herder in einer Rezension in den ,Frankfurter Gelehrte(n) Anzeigen vom Jahr 1772' heftig angegriffen worden. Herder bleibt in seiner Kritik keineswegs bei dieser zitierten eingängigen Ettiketierung stehen; vielmehr weist er in wenigen - die tagespolemischen Außerungen weit hinter sich lassenden - Worten auf die grundsätzlich mit einem solchen Angang an Geschichte verbundenen Probleme hin. So gibt er zu bedenken, "daß es mit dem Einen in der Geschichte, fürs menschliche Geschlecht betrachtet, immer für uns Menschen eine so problematische Sache sey - - wo steht der Eine, große Endpfahl? wo geht der gerade Weg zu ihm? (... ) Wo ist Maaß? wo sind Data zum Maaße in so verschiednen Zeiten und Völkern, selbst, wo wir die besten Nachrichten der Aussenseite haben?" (zitiert nach: Frankfurter Gelehrte Anzeigen vom Jahr 1772. Ndr. Heilbronn 1882, S. 395). 41 Um den Menschen seiner Zeit die eigene Lebenswelt aufzuschlüsseln - ausdrücklich hat Schlözer dies als Aufgabe eines Studiums der Weltgeschichte herausgestrichen -, hat der Forscher aus der unendlichen Fülle der Geschichtsereignisse diejenigen herauszugreifen, die dieser Intention am ehesten gerecht werden. So soll der Schilderung der "Ankunft der Pocken, des BrannteWeins, der Kartoffeln in unserm WeltTheile" nach dem Willen Schlözers eine größere Aufmerksamkeit gewidmet werden als den "Balgereien der Spartaner mit den Messeniern, so wie d(en) der Römer mit den Volskern" (Schlözer, WeltGeschichte. Erster Theil, S. 70). Ist es letzter Zweck der Beschäftigung mit der Geschichte, "die vergangene Welt an die heutige an[zu)schließen, und das Verhältniß beider gegen einander [zu lehren)" (August Ludwig Schlözers Vorstellung der Universal=Historie. Zwote, veränderte Auflage. Göttingen 1775, S. 221), so muß dabei das leitende Interesse auf die Auswertung des in der Geschichte aufgebahrten Menschheitswissens zielen und der in ihr tradierten ,moralischen Sätze', deren Relevanz ungebrochen als maßgeblich für die Zeitgenossen bewertet wird, sind sie doch Emanationen der einen Menschennatur, und diese "ist sich ja allezeit gleich, sie handelt ja allezeit nach einstimmigen Grundsätzen" (August Ludwig Schlözers Versuch einer allgemeinen Geschichte der Handlung und Seefahrt in den ältesten Zeiten. Rostock 1761, S. 5). Dieses Diktum aufklärerischen Denkens, das auf der Implikation der einen, lediglich durch Raum und Zeit modifiziert in Erscheinung tretenden Menschenvernunft beruht, bildet das - nicht weiter hinterfragte Gerüst, auf dem er seine Geschichtsdarstellung aufbaut.
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Ursache-Wirkungs-Kette und einem Querschnitt zur Aufdeckung der zeitlichen Zusammenstimmung von Ereignissen zu erfassen. Die auf diese Weise gewonnenen Ergebnisse werden systematischen Gesichtspunkten untergeordnet. Umgesetzt hat Schlözer seine methodischen Überlegung in seiner ,Allgemeine(n) Nordische(n) Geschichte' von 1771. Die Vermutung, daß sich hinter diesem Titel eine Abhandlung verbirgt, in der geschichtliche Grundzüge herausgearbeitet werden, die allen nordischen Völkern gemeinsam sind und ihre gemeinsame Geschichte begründet, geht fehl. Stattdessen ist eine noch heute ob der Fülle und Detailliertheit der hier zusammengetragenen Fakten beeindruckende Sammlung anzutreffen, die Schlözer für jedes einzelne Volk zusammengetragen hat. Die Einzeldarstellungen werden zusammengehalten durch den formal stets gleichen Aufbau der Artikel. Das Ganze der nordischen Geschichte stellt sich dem Leser somit dar als eine Aneinanderreihung der einzelnen Geschichtsabläufe der nordischen Völker. Wir stoßen hier auf ein Problem, das sich nicht mit einem bloßen Methodenwechsellösen läßt. Es ist ein Grundsatzproblem der spätaufklärerischen Wissenschaftspraxis, das in seiner Ausgangsbedingung auf die Philosophie Christian Wolffs zurückzuführen ist. Gleich zu Beginn seiner ,Vernünfftige(n) Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt' führt Wolff aus - und unterstreicht mit diesem exponierten Ort den maßgeblichen Stellenwert dieser Ausführung innerhalb seines Philosophiegebäudes - , daß "die Theile zusammen genommen das Gantze sind; so muß auch das Gantze seinen Theilen zusammen genommen gleich seyn"42. In dieser Explikation ist der spekulative Grundzug der Leibnizschen Philosophie ausgeblendet, sie wird stattdessen in einen von Erfahrung ausgehenden Ansatz zu integrieren gesucht (da die Erfahrung nach Wolff Rationalität und Überprüfbarkeit garantiert). Aus diesem Ansatz erwächst die Legitimität einer Forschungspraxis, die mit der Auflösung eines Ganzen in seine Bestandteile den Anspruch erhebt, das Ganze vollständig und adäquat erfaßt zu haben. Diese bloße summarische Zusammenfügung ohne ein diese Einheit verbürgendes Moment hat Friedrich Schlegel in einer Kritik an seiner Zeit in folgende Wendung gefaßt: "Übersichten des Ganzen, wie sie jetzt in Mode sind, entstehen, wenn einer alles Einzelne übersieht, und dann summirt. "43 Das hier vorgestellte Verhältnis vom Ganzen und seinen Teilen entspricht der in der Logik zur Wahrheitsfindung angewendeten ZerWolff, DMet., § 25. Athenäum, Fragment 72, in: Friedrich Schlegel 1794-1802. Seine prosaischen Jugendschriften. Hg. von J. Minor. Zweiter Band zur deutschen Literatur und Philosophie. Wien 1882, S. 214. Schlegels Bemühen, den Gedanken von dem Ganzen als in sich gegründeter Einheit, aus der allererst die Mannigfaltigkeit von Einzelteilen hervorgeht, im Hinblick auf die antike griechische Poesie fruchtbar zu machen, wird von Werner Mettler in seiner Studie ,Der junge Friedrich Schlegel und die griechische Literatur. Ein Beitrag zum Problem der Historie'. Zürich 1955, einfühlsam nachgezeichnet. 42
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gliederung eines Begriffes in seine Glieder. Ein Begriff ist für Wolff vollständig und damit adäquat erfaßt, wenn alle seine Elemente summarisch aufgeführt sind. Aus diesem Grunde ist die exakte Definition eines Dinges (als ens) die Grundvoraussetzung für die Erfassung von Welt. Ein die Teile in ihrem Zusammenhang allererst konstituierendes Moment kennt die Philosophie Wolffs nicht. (Und hierin liegt - wie schon am Ende des zweiten Kapitels ausgeführt - eine maßgebliche Differenz zur Leibnizschen Philosophie.) Auch die gängige Wissenschaftspraxis gibt Schlözer keinen anderen Lösungsansatz an die Hand, als die erkannte Komplexität von Ereignissen mittels bloßer Summierung unter vorgegebener Einteilung zu subsumieren. Um die drohende Aufspaltung in bloße Einzelergebnisse aufzufangen, hat Schlözer die Konzeption des ,allgemeinen Blicks' entwikkelt. Dieser ,Blick' kann letztlich aber die Richtigkeit seiner Ergebnisse nicht verbürgen, da die Auswahl- und Ordnungskriterien - genauer betrachtet - der Beliebigkeit des Forschers anheimgestellt sind, wie Herder dies bereits in seiner Kritik an dem Ansatz Schlözers als das punctum saliens bestimmt hat. Für Schlözer erwächst der ,allgemeine Blick' aus der Annahme, der Mensch könne mittels seiner ratio einen Standpunkt außerhalb der Welt und ihres Geschichtsverlaufs einnehmen, einen Standpunkt, der dank der ewig sich gleichbleibenden Menschenvernunft einzunehmen ist und somit Anspruch auf Allgemeingültigkeit und Objektivität erheben kann. Von einer solchen Position glaubt Schlözer die Weltgeschichte überblicken und Urteile über sie fällen zu dürfen, vor allem aber Raster entwikkeIn zu können, mit deren Hilfe die Vielfalt der Ereignisse in eine vernunftgemäße Struktur überführt werden kann. 44 (In dieser Konstruktion offen44 Elemente aus Schlözers Geschichtsauffassung hat Humboldt bereits in seinem Unterricht bei Dohm kennenlernen können. Dessen Geschichtskonstruktion klingt an, wenn es in dem von Leitzmann leider nur abbreviativ veröffentlichten Manuskript Humboldts zu Dohms Vorlesung zur Geschichte heißt: "Die Geschichte ist die Erzählung der merkwürdigen Begebenheiten, die sich unter den Menschen zugetragen haben. Man muß Geschichte der Menschheit, Universal- und Staatengeschichte von einander unterscheiden, (... ). Andre Einteilungen der Geschichte sind in die bürgerliche, Kirchen- und Gelehrten-, in die ältere, mittlere, und neuere GeschiChte usw. nach ihrem Gegenstande und nach der Zeitfolge ... (GS VII,2, 542). Deutlich tritt hier das Bemühen um Einteilungskriterien der Geschichte zutage, mit deren Hilfe alle "merkwürdigen Begebenheiten" katasterartig erfaßt werden können. Die angestrebte Differenzierung "nach ihrem Gegenstande und nach der Zeitfolge" weisen auf Schlözers Verfahren hin, geschichtliche Ereignisse nach ,Realzusammenhang' und nach ,Zeitzusammenhang' aufzugliedern. Die Anlehnung Dohms an Schlözers Geschichtskonzeption läßt sich leicht damit erklären, daß Dohm ein Schüler von Schlözer ist. Dieser Hinweis sowie weitere Erläuterungen zu dem Verhältnis Dohms zu Schlözer finden sich in der Studie von Dambacher, Christian Wilhelm von Dohm. S. 34ff. In späteren Jahren hat Humboldt an mehreren Stellen in seinem sprachphilosophischen Werk lobend auf die Darstellung Schlözers der nordischen Sprachen hingewiesen. Es ist die Exaktheit, das Sichversenken in die Einzelheiten, der Versuch, eine Ordnung in die Mannigfaltigkeit der Erscheinungsformen zu bringen, die Humboldt für Schlözers Untersuchung eingenommen hat. Schlözer, so Humboldt in seiner Schrift ,Ueber die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaues', "hat wohl
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bart sich aber der ahistorische Grundzug im Schlözerschen Ansatz, weil ,Geschichte' als die existentielle Bedingung allen menschlichen Erkennens und Handelns ihm noch nicht bewußt geworden ist. Er übersieht, daß es keinen Ort außerhalb der Geschichte für den Menschen geben kann, weil der Mensch sich damit jeder Grundlage seines Bewußtseins berauben würde; er würde handlungsunfähig.) Ende des Exkurses Ist auch von Wilhelm von Humboldt kein so markanter Ausspruch über die Situation der Philosophie in Göttingen uns überliefert wie der aus dem Munde seines Bruders, so zeugen doch seine Briefe an Jacobi von seiner wachsenden Unzufriedenheit mit der zeitgängigen Metaphysik, zeigen sie seine Suche nach neuen philosophischen Ansätzen an. Ein Blick in das Ausleihregister der Göttinger Universitätsbibliothek vermittelt uns einen Eindruck von seiner philosophischen Lektüre dieser Zeit: es sind Werke von Platon, Plutarch, Hobbes und Hemsterhuis. Schriften von Jacobi braucht er sich nicht auszuleihen, diese hat ihm der Autor selbst geschenkt. Ein Philosoph ist bislang noch nicht genannt worden, dessen Philosophie er aufmerksam studiert: Kant. Eine Anleitung, eine Unterstützung in seinem Studium der Schriften Kants kann er nach dem bisher Ausgeführten von den Göttinger Popularphilosophen nicht erwarten. Und so setzt er seine in Frankfurt begonnene fakultative Kantlektüre im Selbststudium fort. An seinen Berliner Studienfreund Beer berichtet er ausführlich über die Art und Weise, wie er sein Kantstudium zu regeln gedenkt. "Ich habe mir", so führt er in einem Brief vom Juni 1788 aus, "vorgenommen, ihn [sc. Kant] recht sorgfältig zu studiren. Ich schreibe mir jedesmal das, was ich gelesen habe, wieder selbst auf. In einem halben Jahre komme ich doch vielleicht mit der Kritik zu Ende."45 Dieses zeitaufwendige Vorgehen erscheint Humboldt um so notwendiger, als Kant ihn in eine von dem Stil der Popularphilosophen so grundverschiedene Begriffswelt einführt. Gleichwohl mag ihm, der von Engel so sehr auf logische Spitzfindigkeiten hingewiesen worden ist, daß er wegen dieser Fähigkeit zeitlebens in Diskussionen gefürchtet war, der Stil Kants durchaus gelegen haben, denn in diesem Brief führt er dazu weiter aus: "Und daß Kant eigentlich so dunkel schriebe, das finde ich nicht. Er schreibt vielmehr sehr bestimmt, definirt, und dividirt sehr genau. Die Schwierigkeit liegt wohl nur in den Sachen, und in der neuen, ungewohnten überhaupt seit Leibnitz zuerst wieder unter uns den wahren Begriff dieser Wissenschaft [sc. der Sprachkunde] aufgefasst". (GS VI, 136) Vgl. auch Humboldts Briefe an Goethe vom 23. August 1804 (in: Goethes Briefwechsel mit Wilhelm und Alexander von Humboldt. Hg. von Ludwig Geiger. Berlin 1909, S. 188) und vom 7. September 1812 (ebd., S. 225). Mit keinem Wort allerdings wird das Geschichtswerk Schlözers gewürdigt. 45 Brief an Ephraim Beer vom 15. Juni [1788], in: Briefe von Wilhelm von Humboldt an Georg Heinrich Ludwig Nicolovius. S. 109.
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Darstellungsart. "46 Sein intensives Lesen, in das auch die ,Kritik der praktischen Vernunft' einbezogen wird, zieht sich länger hin als ursprünglich vorgesehen. So berichtet er an Jacobi dreiviertel Jahr später: "Meine Beschäftigungen diesen Winter sind grösstentheils metaphysisch gewesen. Ich habe wieder viel den Kant studirt. "47 Ironisch überspitzt merkt sein Bruder Alexander zu dieser ausgedehnten Kantlektüre an: "Er wird sich tod studiren, mein Bruder. Er hat jezt alle Werke von Kant gelesen und lebt und webt in seinem Systeme. "48 (Daß Humboldt dennoch kein unbedingter Anhänger Kants geworden ist, werden Erwägungen im Laufe des vierten Kapitels noch zeigen.) 3.1.3 Das Studium bei Christian GottIob Heyne
Aus dem bisherigen Ausbildungsgang fällt Humboldts Teilnahme an einer Vorlesung über ,Licht, Feuer, Elektrizität und Magnetismus' heraus, die von Georg Christoph Lichtenberg privatissime gehalten wird. 49 Nicht ohne 46 Ebd., S. 110. Zwei Jahre später beschäftigt sich Humboldt erneut mit den Kantschen Schriften; die Wiederholung dieser Lektüre geschieht nach Humboldts eigenem Bekunden im Verein mit einer Überprüfung seiner eigenen Position: "Ich habe mir vorgenommen, eine neue ernstliche Revision meiner eignen Ueberzeugungen vorzunehmen, und studire das Kantische System von vorn an von neuem durch." (Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 22. August 1791, in: Briefe von Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi. S. 36) Ist Humboldts erste Kant-Rezeption dem Einhören in die neue Terminologie und dem Eindenken in das vorgestellte System gewidmet, also zunächst erst einmal der (passiven) Aufnahme der Ideen Kants zur Metaphysik und Ethik, so vermittelt Humboldts Anmerkung zu seiner erneuten Beschäftigung mit Kant eher den Eindruck einer Zuhilfenahme zwecks Klärung eigener Vorstellungen, mithin eines reproduktiv-produktiven Zugriffs auf Kant. Wiederum zwei Jahre später erhalten die Schriften Kants vollends den Status eines Rüstzeugs, wenn Humboldt seine wiederaufgenommene Kant-Lektüre mit den Worten rechtfertigt, daß "diese Schriften doch einmal der Codex sind, den man nie in philosophischen Angelegenheiten, so wenig als das Corpus iuris im juristischen, aus der Hand legen darf" (so in seinem Brief an Christian Gottfried Körner vom 27. Oktober 1793. Veröffentlicht in: Wilhelm von Humboldts Briefe an Christian Gottfried Körner. Hg. von Albert Leitzmann. Berlin 1940, S. 1). 47 Brief an Friedrich Heinrich Jacobi vom 12. März 1789, in: Briefe von Wilhelm von Humboldt an Friedrich Heinrich Jacobi. S. 14. 48 Brief an Wilhelm Gabriel Wegener vom 27. Februar 1789, in: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 44. 49 Die Vorlesungmitschrift hat noch Leitzmann nach eigenem Bekunden vorgelegen (s. GS VII,2, 550). Auch Alexander von Humboldt erwähnt seine Teilnahme an dieser Veranstaltung in einem Brief von Ende April 1789 (abgedruckt in: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 55). Auf eine nähere Bekanntschaft Humboldts mit Lichtenberg weist folgende Passage aus einem Brief Lichtenbergs vom 16. September 1788 hin, der Humboldt bei seinem Aufenthalt in Darmstadt die Gastfreundschaft seines Neffen Friedrich August Lichtenberg sichern soll. Da es zudem die einzige Beschreibung Humboldts aus jener Zeit enthält, wird die gesamte Humboldt betreffende Briefstelle zitiert. Über ihn schreibt Lichtenberg, "daß er einer der besten Köpfe ist, die mir je vorgekommen sind. Du kannst nicht glauben, was hinter dem etwas blassen Gesicht für ein Geist steckt. Wenn es anders unter dieser Regierung so geht, wie unter Friedrich 11., daß nur allein
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Grund wird Humboldt in einem Empfehlungsschreiben als "ein aufgeklärter Mann charakterisiert, "dem jeder Zweig des Wissens Vergnügen macht"50. In Lichtenberg tritt Humboldt ein Gelehrter entgegen, der im Nachdenken die Grenzpfähle verrückt, die das Denken der Aufklärung gezogen hat, ohne allerdings eine vollständige Abkehr von diesem Denken zu intendieren noch zu vollziehen. Davon zeugen dessen Bemerkungen zu dem Phänomen Sprache. Skepsis gegenüber der der Wissenschaftspraxis seiner Zeit zugrundegelegten Annahme von der Eindeutigkeit der Begriffe klingt in dieser Wendung an: "Eine Verbindung von Begriffen mit Worten ausgedruckt kan für einen andern gantz etwas anders werden". Der darauffolgende Satz gibt die Richtung an, wie dieses Defizit auszugleichen ist: "Deswegen ist vor allen Dingen zu sehen, ob nicht mehrere Worte zu machen wären, dieses giebt Anlaß zu Distincktionen. Die Streitigkeiten über das Wort schön rühren eben daher. "51 Klingt im Vordersatz bereits eine leise Ahnung von der Individualität des menschlichen Verstehensvorganges an, so bleibt der Lösungsvorschlag der Sprachauffassung der Aufklärung verhaftet: gefordert wird die Differenzierung des Begriffes in ein größeres Spektrum von ihn auslegenden Worte, um auf diese Weise der entdeckten Mannigfaltigkeit der Begriffe näher zu kommen, sie auszuloten. Werden die Begriffe genauer und dies heißt umfassender bestimmt, so haben nach Lichtenberg Streitigkeiten wie die zeitgängige Diskussion um die Frage nach dem Schönen ein Ende. Ordnet er sich auch dem von Wolff aufgestellten Diktum unter, demzufolge "der eintzige Weg zu gründlicher Erkäntniß ist, wenn man die Bedeutung aller Wörter in richtige Schrancken einschliesset, und die folgenden Wahrheiten aus dem Vorhergehenden in einer beständigen Verknüpffung herleitet" 52, so kommt mit dem Infragestellen der eindeutigen Bestimmbarkeit von Begriffen Unsicherheit im Wissenschafts betrieb auf. Es ist eine Unsicherheit, die die Gültigkeit des gängigen Wissenschaftsmodells ins Wanken bringen kann. Denn dieses beruht auf dem oben angeführten Satz Wolffs, welcher in sich die Konsequenz birgt, mittels BegriffsGeistesvorzüge zu hohen Stellen führen, so wird er dereinst eine große Rolle spielen, zumal da bei ihm res nicht angusta, sondern augusta zugleich ist. Er war vergangenen Sommer mein Zuhörer und wird es künftigen Winter wiederum sein. Du kannst mit ihm sehr frei über die jetzige Berlinische Regierung sprechen, denn er ist in allem nur von der Seite des gesunden Menschenverstandes. Nimm doch ja diese Freunde gut auf." (Mit diesen Freunden sind gemeint Humboldt und sein Begleiter Alexander Chrichton.) Abgedruckt ist dieser Brief in: Georg Christoph Lichtenberg. Schriften und Briefe. Vierter Band. Hg. von Wolfgang Promies. München 1967, S. 740. 50 Georg Forster an Samuel Thomas Sömmerring am 16. September 1788, in: Georg Forsters Werke. Fünfzehnter Band, S. 192. 51 Dieser Aphorismus D 460 findet sich in: Georg Christoph Lichtenbergs Aphorismen. Nach den Handschriften hg. von Albert Leitzmann. Zweites Heft: 1772-1775. Berlin 1904, S. 170. 52 Wolff, DPol., Vorrede (unpag.)
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und Urteils bildung und aus ihnen abgeleiteten logischen Schlußfolgerungen wahre Einsicht in die Ordnungsstrukturen und damit in das Wesen der Dinge vermittelt zu bekommen. Nur Begriffe, so das dahinter stehende Diktum, die sich wie Bausteine zu einem Gebilde zusammenfügen lassen, können in diesem System Platz haben. Begriffe mit ungenauen Ausmaßen, unklarem Umfang dagegen können das Gebäude ins Wanken bringen, denn sie stellen nicht nur die Deduktionen und dem aus ihnen zu ziehenden Erkenntnisgewinn in Frage, sondern gefährden zugleich den Zugang zu dem dem Begriffssystem kongruent aufgebauten Weltsystem. Wird aber grundsätzlich die Möglichkeit angezweifelt, das Wesen der Dinge adäquat in fest umrissenen Begriffen darstellen zu können, so wird der Wolffschen Philosophie und der auf ihr beruhenden Wissenschaftspraxis die Grundlage entzogen. Ein weiterer Schritt in diese Richtung wird bei dem Göttinger Professor für Beredsamkeit und Poetik Christian Gottlob Heyne und seinen Darlegungen zum Umgang mit antiker Literatur festzustellen sein: Ein Seitenblick auf Herder, mit dem Heyne in freundschaftlicher Verbindung steht, belehrt jedoch schnell, wie wenig Heyne an dem Umsturz der gängigen Wissenschaftsauffassung gelegen ist; seine Überlegungen zur Sprache sind getragen von dem Gedanken, einen möglichst exakten Angang an die antike Literatur zu gewinnen. Mit Heynes Auffassung von Sprache hat sich Humboldt in seiner Göttinger Zeit intensiv beschäftigt, entsprechende Vorlesungen und Seminare besucht. Dieser Beschäftigung mit der Altphilologie ist der folgende Abschnitt gewidmet. Jetzt kann sich Humboldt einem Studium widmen, dem er bereits in Kindertagen zum Mißfallen Kunths und seiner Mutter viel Zeit geopfert hat: der Lektüre der antiken Literatur. Und dazu ist Göttingen der ideale Ort; denn mit Christi an Gottlob Heyne 53 ist die Altphilologie mit dem zu dieser Zeit wohl bekanntesten Gelehrten dieses Faches vertreten. Während seiner - im Jahre 1788 immerhin bereits fünfundzwanzigjährigen - Lehrtätigkeit an der ,Georgia Augusta' hat es Heyne verstanden, der klassischen Philologie neue Impulse zu geben, sie von einem weltabgewandten, vielfach in bloßer Konjekturalkritik erstickenden, allein der eruditio dienenden Fach umzuwandeln in eine das Altertum in seinen vielfältigen 53 Zur Person Heynes ist noch immer die Biographie heranzuziehen, die sein Schwiegersohn verfaßte: Christian Gottlob Heyne. Biographisch dargestellt von Arn. Herrn. Lud. Heeren. Göttingen 1813. Eine kritische Würdigung der Verdienste Heynes, Initiator einer Neuorientierung in der Altphilologie gewesen zu sein (gemeinhin wird in diesem Zusammenhang lediglich Friedrich August Wolf genannt), liefern Menze in seiner Untersuchung ,Wilhelm von Humboldt und Christian Gottlob Heyne'. Ratingen 1966, sowie das bereits erwähnte Werk von Werner Mettler ,Der junge Friedrich Schlegel und die griechische Literatur', S. 46ff; beide Arbeiten bilden den Ausgangspunkt für die folgende Interpretation.
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Erscheinungsformen aufschließende Wissenschaft, die nun einer bislang nahezu ausschließlich auf kritischer Analyse einzelner Textpassagen gerichteten Arbeitsweise die ,interpretatio' an die Seite stellt, um in ersten Ansätzen das, was sich vom Geist der Antike in diesen Texten niedergeschlagen hat, zu enthüllen. Auf diese Weise erscheint das Altertum in seiner organischen Ganzheit, die zu erfassen es einer neuen Methode bedarf. In dieser neuentwickelten Betrachtungsart liegt die noch verschüttete Möglichkeit, das Altertum und seine Emanationen als Spiegel der Menschheit zu verstehen und damit der zeitgängigen Überzeugung von der (formal-)bildenden Wirkung der Beschäftigung mit der Antike eine neue - anthropologischeDimension zu geben. Letzteres ist jedoch bereits interpretatorisches Werk der Schüler Heynes, die damit über den Ansatz ihres Lehrers hinausgehen und aus ihrer neugewonnenen Sicht vom Wert der Antike harsche Kritik an der letztlich streng dem Wissenschaftsbegriff seiner Zeit verpflichteten Arbeit Heynes üben. Für sie wird die Welt der Griechen und Römer zu dem Medium, mit dem sie die in vehementer Zeitkritik beklagte Zerrissenheit und Orientierungslosigkeit der Gegenwart 54 zu überwinden trachten. Indem nun die Rezeption vornehmlich des Griechentums als ein - für notwendig erachtetes - Durchgangsstadium zur Bildung des Menschen zum Menschen betrachtet wird, verlöscht das Ansinnen auf einen lediglich an der wissenschaftlichen Erfassung interessierten Umgang mit antiken Quellen. Unter diesem Aspekt gefaßt, gibt das von Heyne sorgfältig eruierte und seinen Zuhörern in vielen Einzelaspekten vorgetragene Bild der Antike das Material dazu ab, die Welt der Griechen (und Römer) als Gegenentwurf zur zeitgenössischen Lebensform zu begreifen und diese Welt als das Medium zu verstehen, das in einer produktiven Rezeption den zeitgenössischen Menschen zur freien Gestaltung seiner Weise des Menschseins anzuregen vermag. Noch ist aber von einer solchen Kritik an Heyne nichts zu spüren, noch lauschen seine Studenten gebannt seinem Vortrag. Selbst Alexander von Humboldt, zu diesem Zeitpunkt (Sommer 1789) bereits vielfältig in naturwissenschaftlichen Studien eingebunden, läßt sich von Heyne in Bann schlagen und bekennt: "Ich lebe hier ganz der Philologie. "55 Voll des Lobes - aber auch mit einem Blick für die Schwächen - sind seine Äußerungen uber Heyne, wenn er in einem Brief an einen Freund aus Göttingen berichtet: "Heyne ist ohnstreitig der hellste Kopf und in gewissen Fächern der gelehrteste in Göttingen. Sein Vortrag ist holprig und stottrich, aber äußerst 54 Hier sei stellvertretend für andere Äußerungen auf Friedrich Schlegels düstere Gegenwartsanalyse in seinem Aufsatz ,Vom Wert des Studiums der Griechen und Römer' aus den Jahren 1795/96 verwiesen, veröffentlicht in der ,Kritische(n) Friedrich-Schlegel-Ausgabe'. Erster Band. Eingel. u. hg. von Ernst Behler. S. 621ff. 55 Brief an Wilhelm Gabriel Wegener vom 16. August 1789, in: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 70.
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philosophisch und in der Ideenfolge zusammenhängend. "56 Es kann also nicht an einer berauschenden Rhetorik gelegen haben, wenn zu Heyne sich aus allen Teilen Deutschlands die Jugend drängt, um zu seinen Füßen zu sitzen und von ihm in die Welt der Antike eingeführt zu werden. Auch Goethe hätte nach eigenem Bekunden gern bei Heyne studiert, mußte sich aber dem Willen des Vaters beugen und in Leipzig Jura studieren.5 7 Näheres über Heyne und das von ihm betreute philosophische Seminar ist zu erfahren aus Alexanders brieflichen Bericht vom Sommer 1789: "Wenn Du die Einrichtung unseres Seminariums nicht kenst, so will ich es Dir (... ) einmal beschreiben. Noch jezt ist es in dem herrlichsten Flor. Es sind 3 Menschen darin, Mathiä, Kries und Woltmann, die an ausgebreiteter Gelehrsamkeit in Deutschland wohl künftig nicht viele ihres Gleichen finden werden. "58 Diese Seminaristen - in der Höchstzahl neun - haben besondere Aufgaben zu erfüllen, so selbständig, wenngleich unter dem kritisch-beobachtenden Auge des Professors, Lektionen zu erteilen, wobei "die Seminaristenlection selbst (... ) in Uebung (bestehet); einmal im Interpretiren, wozu schwere Dichter und Stellen, bald Griechische, bald Römische, ausgesuchet werden", wie Pütter in seiner ,Gelehrten-Geschichte' zu berichten weiß.59 Zum anderen Mal "werden die Stunden dazu verwandt, daß Lateinische Aufsätze über Gegenstände aus dem Felde der humanistischen Studien, die dem Professor vorher eingehändigt waren, entweder von diesem recensiert, oder durch eine Lateinisch angestellte Disputation bestritten und vertheidiget werden. "60 Diese umfangreichen und zeitaufwendigen Aufgaben verlangen einen strengen Auswahlmodus, wobei in erster Linie diejenigen, die sich ausschließlich den humaniora widmen, Aufnahme als Seminaristen finden; ihre Zulassung bedarf zudem eines königlichen Reskriptes. Zu den Übungen werden auch solche Studenten zugelassen, deren Teilnahme eine fruchtbare Mitarbeit zu gewährleisten scheint; diese können sich aktiv an der Interpretation wie bei der Disputation beteiligen. 61 Zu diesen Studenten, die "sich zum Seminarium halten"62, gehört nach Aussage von Alexander auch sein 56 Brief an Wilhelm Gabriel Wegener von der Zeit nach dem 28. April und vor dem 3. Mai 1789. Abgedruckt in: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S.55. 57 s. ,Dichtung und Wahrheit'. Sechstes Buch, in: Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden. Hg. von Erich Trunz. Bd. IX. München 91977, S. 241. 58 Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 69. Eine Auflistung der Seminaristen, die bis 1787 Aufnahme in das Heynische Seminar gefunden haben, findet sich in Pütters ,Gelehrten-Geschichte'. Zweyter Theil. S. 275f. Dort werden auch die Auswahlkriterien näher erläutert. (S. 274) Zu den Modalitäten in Heynes Seminar s. auch die Darstellung von A.H.L. Heeren, Christian Gottlob Heyne. S. 250ff. 59 Pütter, Gelehrten-Geschichte. Zweyter Theil. S. 273f. 60 Ebd., S. 274. 61 Ebd., S. 274f. 62 Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 68.
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Bruder Wilhelm. Auf ein solches Mitwirken - ohne aber den Status eines Seminaristen im engeren Sinne innegehabt zu haben - wird Heynes oft zitierte lobende Bemerkung über Wilhelm von Humboldt zurückzuführen sein, derzufolge er "lange keinen so treflichen Philologen aus seiner Schule entlassen"63 habe. Worin aber besteht nun der neue Ansatz Heynes, der ihm eine so große Aufmerksamkeit beschert? Eine erste Antwort liefert der Kommentar Alexander von Humboldts, der nach viermonatigem Aufenthalt in Göttingen eine sehr präzise und kenntnisreiche Schilderung nach Berlin schickt: "Heyne ist der Mann, dem unser Jahrhundert gewiß am meisten verdankt, religiöse Aufklärung durch eigene Lehre und Bildung junger Volkslehrer, Liberalität im Denken, Anfang einer gelehrten Archeologie und erste Verbindung des Aesthetischen mit dem Philologischen. "64 Bereits das erste Moment in dieser Aufzählung überrascht auf den ersten Blick; denn was haben ,religiöse Aufklärung' und die Altphilologie miteinander zu tun? Einen Hinweis, worin dieser Beitrag Heynes bestehen könnte, gibt Alexander selber, wenn er weiter ausführt: "Wenn man Heynens Homer hört, die Art wie er die ältesten Mythen interpretirt, seine Art über die Kindheit des Menschengeschlechts zu raisonniren und seine immerwährenden Vergleichungen des Homers und Moses - so sieht man die richtige Erklärung des Alten Testaments gleichsam von selbst entstehen. "65 Diese Antwort ist nicht nur aufschlußreich, um Heynes Beitrag zur religiösen Aufklärung ermitteln zu können, sie macht uns auch näher bekannt mit Heynes Umgang mit antikem Schriftgut. Allem voran erwähnt Alexander von Humboldt Heynes Art, die Mythen zu interpretieren. Ein Emstnehmen der Mythen, ihre Erforschung und Einbeziehung in die Interpretation antiker Texte erweisen sich als konstitutiv für Heynes Verständnis vom Altertum. 66 Die Mythen sind für Heyne 63 Die Kenntnis dieser lobenden Erwähnung verdanken wir einer Mitteilung Alexander von Humboldts in einem Brief vom 17. August 1789, in: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 70. Gegen eine Aufnahme Humboldts in das philologische Seminar spricht allein die Notwendigkeit einer Bestätigung dieser Ernennung durch den britischen König (in seiner Funktion als Kurfürst von Hannover),der das offizielle preußische Verbot eines Studiums der Untertanen an einer auswärtigen Universität entgegensteht. Aus diesem Grunde finden sich häufiger in den Briefen der Gebrüder Humboldt das Sigel "G", wenn von ihrem Studienort Göttingen die Rede ist. Die Vorsicht wird geschürt durch das im Frühjahr 1789 aufkommende Gerücht, dieses Edikt könnte erneuert und damit die Überwachung dieses Verbotes verschärft werden. 64 Brief vom 17. August 1789, in: Die Jugendbriefe Alexandervon Humboldts 17871799. S. 68. 65 Ebd. 66 In Heynes wissenschaftlicher Arbeit wird die Mythologie erstmals systematisch erfaßt, wiewohl er sich dabei auf erste Ausführungen seines Lehrers Ernesti stützen kann, der sie zu einem festen Bestandteil im Fächerkanon der Altertumskunde gemacht hat. Die konstitutive Bedeutung der mythologischen Forschung für Heynes Angang an das Altertum hat Menze in seiner Studie ,Wilhelm von Humboldt und Christian Gott-
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nicht mehr eine Kuriositätensammlung dichterischer Phantasieprodukte, er sieht vielmehr in all den mythischen Gestalten und Erzählungen sich etwas widerspiegeln vom Urgrund der Menschheit. 67 Sie gewähren einen Blick in ein noch vorschriftliches Stadium der Menschheit und in den Entstehungsprozeß der schriftlichen Fixierung dessen, was den Menschen zu jeder Zeit bewegt hat; sie geleiten den Forscher an die Quelle der Menschheit. Sind sie der Urgrund, aus dem Sprache wie auch alle in Sprache gegossene Objektivationen des menschlichen Geistes hervorgehen, so entspringt hieraus die Rechtfertigung einer wissenschaftlichen Erforschung der Mythen im Rahmen der Altphilologie. Die Mythen sind für Heyne das Material, das Dichter in späteren Zeiten literarisch ausgeformt haben. Und unter diesem Aspekt betrachtet, ist die Mythologie als (vor)literarische Gattung zu verstehen, der es sich unter zunächst kritischer, dann interpretatorischer Hinsicht zu nähern verlohnt. Ein gleiches Verfahren läßt sich auch an einem weiteren bedeutenden Werk des Altertums durchführen, dem Alten Testament. Damit tritt dieser Teil der Bibel als ein literarisches Opus in das Bewußtsein, das es mit Mitteln der Altphilologie zu erforschen gilt. Das Alte Testament als Offenbarungsschrift über das Heilshandeln Jahwes an seinem Volke Israel wird in seiner theologischen Aussage ausgeblendet und nur noch unter wissenschaftlichem Aspekt als ein literarisches Erzeugnis erforscht. 68 Aus diesem lob Heyne' evident gemacht und diese Einschätzung mit einer ausführlichen Stellungnahme Heynes untermauert (s. S. 29ff). Die rhapsodischen Bemerkungen von Heeren in seiner Heyne-Biographie (s. S. 193ff) erhellen diesen Sachverhalt dagegen nicht, da hier Heynes Interesse für die Mythen nur unter anderen Forschungsinteressen erwähnt wird. 67 Einige Mythen sind, wie Heyne es einmal formuliert, "als alte Sagen, als die ersten Quellen und Anfänge der Völkergeschichte zu betrachten; andre als die ersten Versuche der Kinderwelt zu philosophieren; durch sie bildete sich der Geschichtsstyl; von ihnen ging überhaupt die Bildung der Schrift, Sprache, zunächst der Dichtersprache aus; aus welcher die Redekunst mit ihrem Schmuck, den Vergleichungen, Figuren und Tropen, hervorging. Die Kunst aber mit ihren Idealen, vermittelst der Götternaturen, und des Göttersystems, hatte ihre erste ganze Anlage in den Mythen und mythischen Bildern." So Heyne in seiner Vorankündigung einer Vorlesung in dem ,Göttinger Gelehrte(n) Anzeiger', 1811, S. 2009. 68 Diese Betrachtung der Bibel unter literarischer Hinsicht ist späterhin auf die Kritik von Friedrich Schlegel gestoßen, der in seiner Rezension zu Heerens HeyneBiographie anmerkt: "Unter die wichtigsten und vorzüglich gemeinnützigen Wirkungen der Heynischen Lehrart und Schule rechnet der Verf. auch ihren Einfluß auf die Exegese, besonders des Alten Testaments. Dieses Verdienst würden wir so sehr hoch nicht anrechnen, es müßte denn in der Hinsicht sein, daß mancher Irrtum erst ganz bis zu Ende durchgeführt werden muß, ehe man einsehen lernt, daß es ein Irrtum war. (... ) Daß es aber nur die Oberfläche war, daß dabei der eigentliche Kern und tiefere Sinn der heiligen Urkunden gar nicht beachtet, nicht verstanden und zuletzt gar nicht empfunden ward, das ist wohl niemandem zweifelhaft, der sich je um diesen tieferen Sinn der Schrift ernstlich bemüht hat. Daß diese nur auf die Außendinge gerichtete Exegese unzureichend, daß es irrig sei, die Bibel einzig aus dem literarischen Gesichtspunkt und bloß als Poesie und hebräische Sage wie man es zu nennen beliebte, zu betrachten und zu behandeln, das beweisen wohl zur Genüge die unauflöslichen und unsäglichen Widersprüche, in welche man sich auf diesem Wege ver-
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Blickwinkel werden die beiden Gestalten Homer und Mose nun neu beleuchtet; sie werden gedeutet als historische Personen. Homer auf eine Stufe mit Mose gesetzt, verliert den Makel des Heidnischen; seine Werke vermögen eine ebenso gültige Aussage über das Wesen des Menschen zu machen wie das dem Mose zugeschriebene Pentateuch. Die Gestalt des Mose hingegen wird durch eine solche Gegenüberstellung profanisiert und anthropologisiert. Vor allem werden nun die ihm zugeschriebenen Schriften des Alten Testaments nach ihren mythologischen Elementen befragt, diese ausgelegt und damit der Exegese einen ganz anderen Interpretationsansatz gegeben. Die Frage nach dem Beitrag Heynes zur religiösen Aufklärung läßt sich mithin beantworten mit dem Hinweis auf dessen Fruchtbarmachung philologischer Interpretationsmethoden für die Exegese des Alten Testaments. Das Alte Testament wird als literarisches Produkt in den Blick genommen und gedeutet. (Und mit dieser Einschätzung nähert sich Heyne Herders Ansatz.) Die Exegese wird zu einem auch weltlichen Geschäft. Die hier angedeutete Enttheologisierung läßt sich einordnen in einen Prozeß, der im nachhinein als ,Säkularisierung des Denkens' bezeichnet und als maßgebliches Kennzeichen für die ,Aufklärung' gewertet worden ist. 69 Ein gewandeltes Bild von der Altphilologie, ihrer Aufgabe und ihres Selbstverständnisses hat sich in Umrissen abgezeichnet. In dieser Wissenschaft wächst die Erkenntnis, neue Wege zur Aufschlüsselung von Schriften bereit zu haben, in denen Kenntnis von den Anfängen der Menschheit, vom Handeln, Denken und Fühlen der Menschen vermittelt wird. Und hieraus entspringt ihre neugewonnene Dignität; begeistert lassen sich Studenten von Heyne in diese Welt des Altertums einführen. Sind sie doch selber noch wickelt hat." (Diese Rezension aus dem Jahre 1813 ist abgedruckt in der ,Kritische(n) Friedrich- Schlegel-Ausgabe. Bd. I1I, S. 294ff., hier S. 297f.) Zu berücksichtigen ist allerdings, daß diese Kritik bei Schlegel einem gewandelten Verständnis des Religiösen entspringt; er weiß mit dem rationalistischen Zugang der Spätaufklärung nichts mehr anzufangen. Im übrigen ist dies die einzige grundsätzliche Kritik an Heyne, die Schlegel in dieser Rezension, die weniger auf Heeren als auf Heynes Bedeutung für die Altphilologie in Deutschland eingeht, an Heyne übt. 69 Als ein Merkmal dieses Vorganges läßt sich bei Heyne feststellen, daß von einer bewußten Frontstellung gegen die christliche Theologie keine Rede sein kann. Dazu noch einmal Schlegel: "Eigentliche Freigeisterei oder Spott über die Religion war übrigens Heynen ganz fremd." (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Bd. III, S. 298) Diese Feststellung schließt nicht aus, daß die fortschreitende Übertragung interpretatorischer Kriterien der Altphilologie auf die Exegese des Alten Testaments nicht auch weitreichende Konsequenzen für die kirchliche Verkündigungspraxis in sich birgt: die Kirche bietet nun nicht mehr den einzigen auf Gültigkeit der Auslegung Anspruch erhebenden Zugang zu den Schriften der BibeL Ihre Vermittlungsinstanz wird in ihrer Ausschließlichkeit nun auch von dieser Seite her in Frage gestellt. (Den entscheidenden Schritt auf diesem Wege hatte bereits Rousseau vollzogen, als er in dem ,Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars' die Notwendigkeit der kirchlichen Weisungspraxis mit dem Argument radikal in Frage stellte, daß die göttlichen Weisungen dem Menschen direkt ins Herz eingeschrieben seien.) 10 Sauter
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- wie auch ihr Lehrer - unter ganz anderen Hinsichten mit lateinischen und griechischen Texten konfrontiert worden. Unzählig sind die Klagelieder, die von einem stupiden Sprachunterricht berichten, der sich im bloßen Rekapitulieren einiger aus dem Kontext gerissener Passagen, in der Analyse der grammatikalischen Konstruktionen und ihres Vokabulars erschöpfte, ohne daß weder der Textzusammenhang thematisiert wurde, noch die Schönheit seiner Darstellung, die Intention des Autors, ja vielleicht noch nicht einmal der Name des Verfassers zur Sprache kam. 70 Ein solcher Schulunterricht war jedoch lediglich Spiegel der gängigen Wissenschaftspraxis in der Altphilologie, die sich in Konjekturalkritik, dem Sammeln von Parallelstellen und deren Zusammenstellung in voluminösen Texteditionen weitgehend erschöpfte. Als vehementer Kritiker dieser Art, das Studium der Alten zu betreiben, sei hier Herder zitiert. In seinem zweiten und dritten ,Kritischen Wäldchen' hat er seinem Verdruß Raum gegeben (wie auch detaillierte Sprachkritik betrieben und Verbesserungsvorschläge gemacht). Zielscheibe seiner Polemik ist der Leipziger Altphilologe Klotz, in Herders Augen der Prototyp dieser ,Philologisiererei'. Ihm hält er vor: "Hr. Kl. darf nur ein großes Bild, einen gefallenden Gedanken in einem Dichter finden: so steht ihm bald ein andrer, und noch ein andrer, und endlich so viele andre zu Dienste, daß der vorige Gedanke glatt weg ist. "71 Wogegen Herder hier grundsätzlich streitet, ist, im Sich-Verlieren in Einzelheiten den Bezug zur Gesamtaussage zu vergessen, den Sinn des Ganzen überhaupt erst gar nicht zu thematisieren. Ohne den Blick auf das Ganze aber, so die nachdrücklich von Herder verfochtene These, läßt sich der Aussagegehalt der einzelnen Textstelle nicht sinngemäß erforschen. Und ein zweites fordert Herder: die Schrift als ein Ganzes muß als in ihre Zeit eingebunden, von ihrer Entstehungszeit her verstanden und beurteilt werden. "Eine Griechische Seele war gewiß von andrer Gestalt und Bauart, als eine Seele, die unsre Zeit bildet. Wie verschieden die Eindrücke der Erziehung, die Triebfedern des Staats, die Begriffe der Religion, die Einrichtung des Lebens, der Anstrich des Umganges! Wie verschieden also das Urtheil über die Würde der Menschheit, über die Beschaffenheit des Patrioten, über die Natur der Götter, über die Erlaubnisse des Vergnügens, über Anstand und Zucht - wie verschieden damals und jetzt! "72 70 s. hierzu die Untersuchung von Otto Kluge, Humanistische und neuhumanistische Bildungsziele in der Schulpädagogik des 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts 15, 1925, S. 36ff. zur Kritik am zeitgenössischen Sprachunterricht insb. S. 46ff. Sehr materialreich untersucht diese Studie die Reformbestrebungen im 18. Jahrhundert im Hinblick auf eine Verbesserung des Sprachunterrichts, ohne dabei jedoch an einer tiefergehenden Erörterung der geistesgeschichtlichen Voraussetzungen interessiert zu sein. 71 Herder, SW III, 351. 72 SW III, 199.
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Mit dieser geforderten Einbeziehung der Geschichtlichkeit des Menschen in die Textinterpretation geht Herder jedoch einen entscheidenden Schritt über Heynes Ansatz hinaus und stößt darin auf dessen mangelndes Verständnis. 73 Denn Heyne sieht in einem solchen Bemühen die Wissenschaft73 Aufschlußreich im Hinblick auf Heynes Bewertung des Herderschen Beitrags zur Erneuerung der Altphilologie in Deutschland ist Heynes Vorrede zu den ,Kritische(n) Wälder(n)', die er im Auftrag der Karoline von Herder im Rahmen der ersten nach Herders Tod erschienenen Gesamtausgabe der Werke Herders redigiert. Hier schreibt Heyne über seine erste Bekanntschaft mit Herder: "Winkelmanns Schriften, Lessings Laokoon, die kritischen Wälder, waren das Erste, was eine Bekanntschaft zwischen dem seligen von Herder und mir vorbereitet hatte. Ohne voneinander zu wissen, trafen wir in Bewunderung Winkelmanns zusammen; es war eine enthusiastische Bewunderung; wir waren beide für das Große und Schöne in den griechischen Klassikern und in der Kunst begeistert (... ). Bald nach dem ersten Wäldchen erschien das zweite und dritte, über einige Klotzische Schriften. Hier, gestehe ich es, verließ ich den mir damals, so viel ich mich erinnere, noch unbekannten Verfasser des ersten Wäldchens über Lessing's Laokoon. Ich kannte Herrn Klotzen, ich wußte, wieviel sich aus ihm lernen und nicht lernen ließe. Da ich meine Lektüre blos auf das Nöthige und für mich Zweckmäsige einschränken mußte: so konnte ich für das Lesen einer Kritik der Klotzischen Schriften keine leere Zeit ausfinden. Dazu kam meine Abneigung von allen Fehden, sie mögen Namen haben, wie sie wollen. (... ) Die beiden Wäldchen blieben damals so gut, als Klotzens Epistolae Homericae selbst und andre Klotzische Schriften, von mir ungelesen." (Abgedruckt in: J ohann Gottfried von Herder's Sämmtliche Werke. Zur schönen Literatur und Kunst. Fünfter Theil. Herausgegeben von Heyne. Tübingen 1806, S. III/V f) Heynes Abneigung gegen diese beiden ,Wäldchen' überdauern die Zeit und stellen ihn, nachdem er sie für die Edition durchlesen muß, vor arge Probleme: "Aber wie groß ward meine Verlegenheit, als ich an das zweite Wäldchen, über einige Klotzische Schriften, kam! als ich sie las, und jetzt zum erstenmal durchlas! Was sollte ich mir nun denken, daß Herder in einer neuen Ausgabe gethan haben würde sie gar nicht wieder abdrucken lassen!" (S. IV) Schließlich entscheidet er sich doch für einen Abdruck mit der Begründung: "Selbst als Schrift für gewisse Zeitumstände hat sie einen historischen Werth. Beide Wäldchen enthalten so viele herrliche kritische, ästhetische Urtheile und Bemerkungen, welche aufbehalten und in neues Andenken gebracht zu werden verdienen, und auch noch zu unsern Zeiten ihren guten Nutzen haben können: wenn sich gleich der Geschmack, selbst in der Behandlung der Klassiker und der klassischen Studien, sehr geändert hat, zum Theil auf so eine Weise, daß es neuer kritischer Wälder bedürfte. Gleichwohl muß man auch auf der andern Seite eingestehen, die Schriften, welche in jenen beiden Wäldern analysirt und kritisirt werden, sind für eine ernstliche, lang ausgesponnene Kritik so wenig geeignet, daß die ganze Fülle des Herder'schen Geistes dazu gehörte, um das Durchlesen, auch nur von einem Theile der Kritik, erträglich zu machen." (S. VII) Zu diesem ,Erträglichmachen' der Lektüre gehört von Heynes Seite aus die Kürzung des Herderschen Textes um Passagen, die argumenta ad hominem enthalten, wie auch ganzer Kapitel (so im zweiten ,Kritische(n) Wäldchen': Kap. I, 10; II,5; III). Die Reserviertheit Heynes gegenüber Herder, die sich neben allen lobenden Erwähnungen die gesamte Vorrede durchhält, ist umso bemerkenswerter, als es Herder in seinem zweiten und dritten ,Kritische(n) Wäldchen' nicht in erster Linie um eine Kritik an Klotz geht, sondern um die Entfaltung seiner eigenen Vorstellung, wie die Alten zu lesen sind. Dabei geht Herders Ausführung hin bis zu einer Leseanweisung (s. SW III, 360). Sein Gegenentwurf entfaltet sich bei seinen Betrachtungen zum Homerischen 'YEf"OLOV'. Ausgehend von einer kritischen Anmerkung zu Klotz' Kommentar entwickelt er - dieses 'YEf"OLOV' immer umspielend - seine neue Ansicht von Homer. (s. SW III, 198ff). Für Heyne sind dies lediglich "herrliche kritische, ästhetische Urtheile und Bemerkungen" (S. VII). Diese Mißdeutungen, seine grundsätzliche Reserviertheit gegenüber den ,Kritischen Wäldern' legen den Verdacht nahe, daß Heyne letztlich keinen Sinn für das in Herders Kritik aufscheinende Neue hat, er die Bedeutung des die Geschichtlichkeit des Menschen mitbedenkenden Ansatzes nicht zu würdigen weiß. Und dieses Nichtverstehenkönnen zeigt zugleich die Grenze der Heyneschen Bemühungen um eine Neuorientierung in der Altphilologie an.
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lichkeit der Altphilologie auf dem Spiele stehen. Sein Einwand weist daher auf ein zweites Moment hin, was beider Verständnis von dem Studium der Alten trennt: Heyne weiß sich einem streng wissenschaftlich orientierten Umgang mit den antiken Texten verpflichtet. Und gerade darin liegt seine große Bedeutung für die aufkommende Altertumskunde seiner Zeit. Von diesem szientifischen Denken ausgehend, hat er der Altphilologie ein gewandeltes Verständnis vom Umgang mit der antiken Literatur vermittelt. Er hat als ein neues Kriterium in diese Wissenschaft das Wissen um die Eingebundenheit der Schriften in ihre Entstehungszeit eingeführt und als wesentlich für eine adäquate Erfassung und Auslegung durchgesetzt; ferner hat er den Blick gelenkt auf das kulturelle Umfeld, das es mitzuerforschen und in eine Textauslegung zu integrieren gilt. Letztere Einsicht hat wesentlichen Anstoß zur Umwandlung der Altphilologie in die Altertumswissenschaft gegeben. Auf welche Weise Heyne diese Forderungen in der eigenen Wissenschaftspraxis einlöst, läßt sich an den Aufzeichnungen Wilhelm von Humboldts studieren, der im Sommersemester 1789 an Heynes Vorlesung über die Ilias teilgenommen hat. Seine handschriftlichen Notizen 74, die für die Altphilolo74 Diese bislang unedierte Handschrift Humboldts befindet sich heute in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz in Berlin im Nachlaß des Altphilologen Friedrich August Wolf, verwahrt unter der Signatur VIII,5: Heyne über Homer. (Für die Überlassung eines Mikrofiches von dieser Handschrift sei der Bibliothek an dieser Stelle herzlich gedankt.) In diesen Nachlaß gelangte sie vermutlich - worauf schon Leitzmann in seiner auszugsweisen Veröffentlichung in dem Paralipomena-Band der Akademie-Ausgabe (GS VII,2, 550ff) hinweist - durch Humboldt, der Wolf seine Aufzeichnungen zur Verfügung gestellt hatte. Die am Rand kaum lesbaren Vermerke, ebenso ein dreiseitiger Vorspann können daher aus der Feder Wolfs stammen. Im ersten Teil, der die Einführung Heynes wiedergibt, finden sich an einigen Stellen Aussparungen im Text. Möglicherweise hat Humboldt, der zu dieser Zeit häufiger auf Reisen war, entsprechende Äußerungen Heynes nachzutragen beabsichtigt. Der zweite Teil der Aufzeichnungen - in einer weit flüchtigeren und von Verbesserungen durchsetzten Schrift - enthält eine fortlaufende Kommentierung zu folgenden Passagen aus den ersten fünf Gesängen der l1ias: dem gesamten ersten Gesang mit einer Lücke zwischen den Versen 124 und 291; dem zweiten Gesang von Vers 505 bis Vers 809; dem dritten Gesang von Beginn bis Vers 57, weiter von Vers 155 bis 347; dem vierten Gesang ab Vers 435 bis zum Ende; dem fünften Gesang ab Vers 196 bis Vers 512. Die Erklärungen sind vielfach, vor allem wenn eine schwierigere grammatische Konstruktion erläutert werden soll, in lateinischer Sprache verfaßt. Daß es sich bei Humboldts Handschrift um eine Mitschrift der Vorlesung Heynes handelt, bezeugen solche Flüchtigkeits- und Hörfehler wie "Blackwall" statt Blackwell, "Koppe über Homers leben und gesänge", was Leitzmann verbessernd wiedergegeben hat mit "Köppen Über Homers Leben und Gesänge" (s. GS VII,2, 550). Auch findet sich an einer Stelle der Kommentar: "Darüber ist Heyne ungewiss!" (zu 11., 1. Gesang, v. 103. Hs, 12). (Die Zitate aus dieser Handschrift werden im Text mit Hs gekennzeichnet und folgen in der Seitenzählung der durchlaufenden Numerierung, die auf dem Manuskript jeweils oben links in einer Humboldts Zahlen sehr ähnlichen Schreibweise vermerkt ist.) Mit- und Nachschriften von Heynes Vorlesungen waren unter den Studenten nicht nur in Göttingen sehr beliebt und verbreitet, was sicherlich auch darin seinen Grund hat, daß Heyne selber niemals ein Kompendium verfaßt hat (s. zur Verbreitung Heynescher Vorlesungsmitschriften, speziell seiner Vorlesungen über die Kunst der
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gie insofern von Wert sind, geben sie doch einen Einblick in das Anfangsstadium von Heynes Ilias-Ausgabe von 1805 75 , gehören zu den wenigeQ>Zeugnissen, die Humboldt als Schüler von Heyne ausweisen. Dabei ist durchaus aus Humboldts Tagebuchaufzeichnungen bekannt, daß er häufiger Gast im Hause Heyne ist. 76 Bei den mangelnden Bemerkungen, die Humboldts Verhältnis zu Heyne näher beleuchten könnten 77 , ist es umso wichtiger, einen genaueren Blick auf das Manuskript Humboldts zu werfen, um hier nähere Auskunft darüber zu bekommen, welche Sichtweise vom Altertum Humboldt durch Heyne vermittelt worden ist. Dabei ist ein Seitenblick auf zeitgenössische Erwägungen zu Fragen der Altphilologie wie auch zu dem Fach selbst vonnöten, ergeben sich doch aus einer solchen Gegenüberstellung die Neuheit und die Antike, die Studie von Hermann Bräuning-Oktavio, Christian Gottlob Heynes Vorlesungen über die Kunst der Antike und ihr Einfluß auf Johann Heinrich Merck, Herder und Goethe. Darmstadt 1971). Diesen Mißstand hat sich - folgt man dem Kommentar von Alexander von Humboldt - ein Schüler Heynes, Johann Heinrich Just Köppen, zunutze gemacht und unter seinem eigenen Namen für die Verbreitung der Heynesehen Forschungsergebnisse zur Ilias gesorgt. So bemerkt Alexander von Humboldt in einem Brief dazu: "Köppens Kommentar zu Homer ist in der That nichts als ein gestohlenes Heft von Heyne. Oft ist die Konstruktion kaum verändert." (Diese Bemerkung ist abgedruckt in: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 68f.) Ein Vergleich zwischen Humboldts Aufzeichnungen und den 1787 erschienenen ,Erklärende(n) Anmerkungen zum Homer' von Johann Heinrich Just Köppen kann die Aussage Alexander von Humboldts allerdings nur bedingt bestätigen. Köppen geht in seinen ,Anmerkungen', wie in der Altphilologie üblich, direkt in medias res; eine Einführung in Homers Leben und das Umfeld, was im Folgenden noch als das Charakteristisch-Neue bei Heyne herauszustellen gilt, fehlt hier völlig. Wo Heyne ungewiß ist, sich vorsichtig dem Text zu nähern sucht, anfragt, ob ein Vers an der gesetzten Stelle einen Sinn ergibt, stellen sich für Köppen keinerlei Fragen: nichts ist ihm problematisch. Von der überlegenden Warte eines aufgeklärten Menschen des 18. Jahrhunderts kann Homer und seine Dichtung kritisiert werden. Dazu eines der zahlreichen Exempel, eine Ausführung zu Buch 1, v. 371: "Diese wörtliche Wiederholung jener Erzählung verstösst allerdings und recht sehr wider den guten Geschmack. Das Einerley ermüdet, und der Gedanke, dass der Dichter aus Armuth oder aus Nachlässigkeit in diese Wiederholung fiel, beleidiget uns. Endlich wenn Homer aus dem Stegereif sang, so scheinen solche Wiederholungen bey einem kunstlosen Sänger ganz natürlich. Dieselben Ausdrücke mussten sich ihm wieder darbieten, und sein Dichtergefühl war noch nicht so fein und fest, dass es ihm die Nothwendigkeit einer Abänderung hätte empfinden lassen." (S. 88) Was nicht für den Fortgang der Handlung wichtig und nützlich erscheint, wird von Köppen ausgeschlossen; so heißt es zu Buch 3, v. 231ff: "So schön die Scene an sich ist, so konnte, so musste sie doch vielleicht übergangen werden, da sie zur Beförderung oder Hinderung der Haupthandlung nichts bey trägt; vielmehr die Erzählung des Zweykampfs unangenehm unterbricht." (S. 246) Gleichwohl versteht sich Köppen in Heynes Tradition. In der Einleitung zu seinen ,Anmerkungen' schreibt er - nicht ohne seine Eigenleistung herauszustellen: "Ich habe den Homer weder auf der Schule noch auf der Academie unter der Anleitung eines Lehrers gelesen; aber wenn ich den Geist Homers gefasst, wenn ich in dieser Erklärung etwas geleistet habe, so gebühret der Dank meinem Wohltäter und Lehrer, Heyne, dem ich meine ganze Ausbildung und so vieles andere, einzig, ewig danke!" (S. Vf) 75 Diese Ausgabe erschien 1804 in Leipzig unter dem Titel ,Homeri Ilias. Cum brevi annotatione curante C.G. Heyne'. 76 s. GS XIV, 66ff. 77 Heynes zahlreiche Verpflichtungen lassen ihm kaum Zeit für ein von Humboldt geschätztes Gel'präch in geselliger Atmosphäre. (s. auch GS XIV, 46).
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Grenzen des Heyneschen Ansatzes, Grenzen, die Humboldt motivieren, bereits im Jahre 1793 ein eigenes Programm ,Über das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbesondere' zu entwickeln. Humboldts Aufzeichnungen von der Ilias-Vorlesung beginnen nicht gleich, wie üblich, mit Vokabelerklärungen, Lesungsvarianten, metrischen Besonderheiten, mit der Besprechung von grammatikalischen Konstruktionen, wenngleich solche Erklärungen insgesamt zwei Drittel der Handschrift ausmachen; vielmehr heben sie an mit einem Vortrag über das Zeitalter Homers, seine Herkunft, seinen Lebensraum. Die äußeren Umstände werden in einer solchen Weise skizziert, daß sie als der Mutterboden erscheinen, der allererst einen Dichter wie Homer hat hervorbringen können: "Die neuangekommenen Ionier verdrängten die alten einwohner Kleinasiens, fiengen einen wichtigen handel an, u. trieben es schon bis zu einem beträchtlichen reichthum und luxus. Beides verfeinerte ihre sitten u. ihre sprache, u. um diese zeit nun erschien Homer. Als Homer erschien bestand Ionien aus 12 kleinen stämmen, die durch gegenseitiges reiben an einander ihre geisteskräfte erhöhten." (Hs, 2) Homer erscheint hier als historische Gestalt in einem bestimmten geschichtlichen Umfeld, das als Vorbedingung für sein Auftreten als dieser uns bekannte Epiker gewertet wird; diese Sichtweise wird unterstrichen durch kultursoziologische Erwägungen, wie sie zu Heynes Zeit - ausgelöst durch die anschwellende Reiseliteratur - erörtert werden. In diesen Kontext gehören die hier angeführten Thesen von einer Wechselbeziehung zwischen dem mit zunehmendem Handel aufkommenden Reichtum und einer Sittenverbesserung wie auch von der Veredlung der Kultur durch einen Konkurrenzkampf unter den Völkern. Nachdem Homer auf diese Weise vorgestellt worden ist, werden Umstände und Voraussetzungen, die zum Trojanischen Krieg führten, beleuchtet: "Der Troische krieg wurde aus rache unternommen, nicht sowohl um des geraubten weibes willen, als wegen des verlezten heiligen gastrechts." (Hs, 4) Ausführlicher geht Heyne schließlich auf die Spracheigentümlichkeit der ,!lias' ein; die These von einer in diesem Epos anzutreffenden Vielfalt von Dialekten wird 1789 noch von ihm verworfen: "Es ist falsch, dass mehrere dialecte im Homer vermischt wären." (Hs, 6) Stellt Heyne damit seinen Studenten die ,!lias' als ein von Homer in der uns überlieferten Form verfaßtes Epos vor, so weiß er doch von der ,Ilias' wie von der ,Odyssee' zu berichten, daß sie "von Homer nie aufgeschrieben [worden ist], die schreibekunst war noch zu wenig cultiviert, als dass man mehr als zum öffentlichen denkmal bestimmte dinge aufgeschrieben hätte". (Ebd.) Vielmehr "erhielten sich Homers gedichte nur in gesängen der Rhapsoden". (Ebd.) Diese letztere Bemerkung ist für Heyne Anlaß, eingehender auf die Überlieferungsstränge und -formen einzugehen. "Gesammelt u. aufgezeichnet wurden Homers gedichte erst spät; von wem ist zweifelhaft. Man legt es bei dem Lycurg, der in Samos bei Creophylus diese gedichte gehört, für seine zwekke gebilligt, u. nach Griechenland
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gebracht haben soll, ferner dem Pisistratus oder seinen Söhnen Hippias u. Hipparch, endlich dem Solon. Leicht können alle theil daran gehabt haben." (Hs, 7) Es folgt der Hinweis: "Die Iliade hat 15784 verse." (Hs, 8) Die Fülle der in der Vorlesung zu einzelnen Fragen aufgeführten Daten und Vermutungen ist für den Leser verwirrend; einer gewissen Langatmigkeit, einem Versenken in Einzelheiten ist Heyne nicht entgangen. Und dennoch gewinnen die ,Ilias' und ihr Schöpfer eine eigene Kontur. Heyne legt Wert darauf, die Zeit Homers zu charakterisieren, gilt sie ihm doch als das bedingende Moment für dessen In-die-Erscheinung-treten. Historiographie, Ethnologie und Kulturgeschichte werden herangezogen, um ein genaueres Bild der Zeitumstände zeichnen zu können. In diesen Kontext wird Homer hineingestellt; er bildet das Zentrum, auf das hin alle Angaben angeordnet sind. In dieser Komposition leuchtet ein Bewußtsein davon auf, daß der Dichter und seine Dichtung eine Einheit bilden, der Poet ein Exponent seiner Zeit ist und diese seine Zeit in sein literarisches Werk einbringt. Dieser Erzeugungsvorgang ist vom Interpreten nachzuvollziehen, indem er sich um ein Verständnis aus dem historischen Kontext heraus bemüht. Diese Literatur - und dies zu verdeutlichen, ist die Intention Heynes ...:. bringt eine Zeitepoche zum Sprechen. Was in Heynes Vorlesung erst noch mit feinen Strichen angedeutet wird, wissen seine Zuhörer als eine neue Sicht vom Dichter, von der antiken Literatur zu schätzen, hat doch in ihrem eigenen Sprachunterricht ein antiker Text als ein lediglich zur Schulung der menschlichen Kräfte dienender Übungsstoff gegolten. Die Lektüre war stets von dem Nutzgedanken beherrscht; er diente zur Erweiterung der Vokabel- und Grammatikkenntnisse, des Geschichtswissens, oder - wie beim jungen Humboldt unter dem Einfluß des Philanthropismus - der Sachkenntnis. Bei Heyne treten derlei Nutzbarmachungen erst einmal zurück; in seiner Auslegung erscheint an erster Stelle der Poet mit seinem Werk; dieses gilt es zu verstehen. Wir stoßen hier auf eine Umkehrung der Interpretationsrichtung: die Schrift ist nicht mehr im Hinblick auf vorgegebene Fragen hin zu konsultieren; vielmehr wird nun an den Leser die Aufgabe gestellt, sich offen dem Epos zu nähern, sich des Kontexts, des Schriftstellers zu vergewissern, vor allem aber die Bereitschaft zum unvoreingenommenen Hinhören auf den Text zu entwikkeln. Damit ist die Methode abgewiesen, vorgefertigte Schemata an das Werk anzulegen und mit ihnen nur das als gültig zu erfassen, was in diese Raster paßt. Heyne faßt diese Umkehrung in die knapp formulierte Wendung: " ... non mihi res, sed me rebus submittere (... )"78 Dieser Ansatz verlangt neue Weisen der Textauslegung, die Heyne sukzessive in Vorreden zu 78 Albii Tibulli Cannina libri tres eum libro quarto sulpiciae et aliorum. Chr. G. Heynii editio quarta. nune aucta notis et observationibus Ern. Car. Frid. Wunderliehii. Leipzig 1817, p. VII.
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seinen Editionen entfaltet. Zu einer systematischen Ausdeutung aller seiner zerstreut vorgetragenen methodologischen Erwägungen zum rechten Verständnis antiker Kunstwerke (wozu neben dem Literarischen vor allem die Bildhauerei gehört) in einer Theorie ist Heyne allerdings nie gekommen; sein Denken richtet sich nicht auf die Entwicklung einer neuen hermeneutischen Methode. Ihm geht es in erster Linie um die Ausmerzung der festgestellten Defizite im zeitgenössischen Umgang mit der Antike. Dabei hilft ihm die Offenheit seines Denkens, neue Wege der altphilologischen Forschung zu erahnen, sich auf diesen Wegen vorzutasten. Es ist dies seine ,Liberalität des Denkens', die Alexander von Humboldt in seiner Charakterisierung Heynes hervorgehoben hat. Die Offenheit, sich dem Text zu stellen, sich in ihn einzuhören, das Fremdartige als das Fremde zu verstehen und nicht beiseitezustellen, macht Heyne fähig, Homer aus dessen Zeit und Zeitumständen heraus auszulegen: "Homerum non ex eo, quo nunc imbuti sumus, sensu, sed ex ejus aetatis, in qua vixit, opinionibus et moribus, ex sermonis, qui turn fuit, genio, et pro caeli sui habitu, proque hominum, quibuscum egit, aut quorum res gestas expressit, ingeniis, esse legendum et interpretandum, et dictum jam satis est a multis, et per se, si quis animum advertat, intelligitur. U79 Das Wissen um diese Distanz hat Heyne als eine allgemeingültige Voraussetzung für ein Verstehen antiker Zeugnisse immer wieder hervorgehoben; in dieser Hinsicht hat es keine Differenz zu Herder gegeben. In immer neuen Ansätzen sucht er dieser Erkenntnis ein tragbares wissenschaftliches Fundament zu geben. In seiner ,Lobschrift auf Winkelmann' hat Heyne seine Erkenntnisse zusammenfassend in diese Regeln gekleidet: "Die erste Regel bey der Hermeneutick der Antike sollte doch wohl diese seyn: Jedes alte Kunstwerk muß mit den Begriffen und in dem Geiste betrachtet und beurtheilt werden, mit welchen Begriffen und in welchem Geiste der alte Künstler es verfertigte. Man muß sich also in sein Zeitalter, unter seine Zeitverwandten versetzen, diejenigen Kenntnisse Und Begriffe zu erreichen suchen, von denen der Künstler ausging; die Absicht seiner Arbeiten so viel als möglich aufsuchen. U80 Wie wenig Humboldt der Gedanke geläufig war, die Werke der antiken Dichter aus ihrer historischen Bedingtheit heraus zu begreifen, zeigt seine erste, veröffentlichte Übersetzungsarbeit aus dem Jahre 1787. Auf Anregung seines Lehrers Engel hatte Humboldt den Plan gefaßt, "aus den philosophischen Schriften der Griechen und Römer mehrere Stükke, welche diese Materie [sc. Angriffe auf Vernunft und Wahrheit von der einen, und den De origine et caussis fabularum Homericarum. Commentatio Chr. Gott!. Heynii. Novi Commentarii societatis regiae scientiarum Gottingensis. Tomus VIII: Commentationes historicae et philologicae. Gottingae 1778, p. 34. 80 Wieder abgedruckt in: Die Kasseler Lobschriften auf Winckelmann. Jahresgabe 1963 der Winckelmann-Gesellschaft Stenda!. Berlin (Ost) 1963, S. 20. 79
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eben so häufigen Vertheidigungen derselben von der andern Seite] behandeln, in unsre Sprache zu übersezen, und zu versuchen, ob [er] sie zu einem Ganzen ordnen könnte. "81 Dieses Vorhaben gedieh nur bis zu der Übersetzung zweier Dialogstücke aus Xenophons ,Memorabilien' wie nahezu des gesamten zehnten Buches aus Platons ,Nomoi'. Auf Vorschlag von Kunth hat Zöllner sich bereit erklärt, diese Ausarbeitung in sein ,Lesebuch für alle Stände' aufzunehmen. 82 Lag die Übersetzung bereits seit 1785 vor, so mußte die Einleitung noch kurz vor dem Studienbeginn in Frankfurt konzipiert werden. 83 Und sie vermittelt einen Einblick in Humboldts Verständnis vom Umgang mit der klassischen Literatur - anderthalb Jahre bevor er auf Heyne traf. "Unter mehreren Vortheilen, die ich mir von dieser Arbeit versprach," so faßt Humboldt die Intention dieser Ausarbeitung zusammen, "schien sie mir vorzüglich die Vergleichung zwischen unsrem, und jenem Zeitalter erleichtern zu können - eine Vergleichung, die gewiss in mehrern Rücksichten wichtig sein würde, zu welcher aber auch die gleich beim ersten Anblick auffallende Aehnlichkeit beider Perioden in dem beständigen Kampfe der Wahrheit und Vernunft gegen Zweifelsucht und Schwärmerei eine angenehme Veranlassung giebt. "84 Die antike Literatur bietet ihm ein Reservoir von Argumenten, auf die nach Belieben zurückgegriffen werden kann. Sie lassen sich in die Gegenwart transponieren, gelten sie doch als Emanationen der einen Menschenvernunft, die - unwandelbar, lediglich nach Raum und Zeit modifiziert - in den Schriften zum Ausdruck kommt und ihnen Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit verleiht. Der zeitgeschichtliche Hintergrund kann folglich vollständig ausgeblendet werden; ein Beweis, solange er in einer logisch aufgebauten Argumentationskette vorgetragen wird und damit allgemein konsentierfähig ist, läßt sich unbeschadet des über zweitausendjährigen Zwischenraums in die zeitgenössische Debatte einbringen. Dieses Verfahren hat Moses Mendelssohn in seinem ,Phädon' vorgeführt; unbekümmert um die Verflochtenheit der Argumentation Platons in seine Philosophie werden die Aussagen aus dem gleichnamigen platonischen Dialog auf das Prokrustesbett der Aufklärungsphilosophie gelegt, das, was diesem Denken fremd ist, als beiherspielend ausgeblendet, anderes dagegen in die zeitgenössischen Terminologie gefaßt und kommentiert. 85 Und auf GS I, 4. s. Angabe von Leitzmann in: GS I, 430. 83 Dies berichtet Humboldt in seinem Brief an Henriette Herz vom 10. Dezember 1787. Abgedruckt in: Aus dem Nachlaß Varnhagen's von Ense. Bd. I, S. 70f. (Die Datierung dieses Briefes stammt von Mattson, Nr. 22 seines Briefwechselverzeichnisses.) 84 GS 1,4. 85 Über seine Motivation, dieses Werk Platons auszuwählen, wie auch über sein methodisches Vorgehen teilt Mendelssohn seinen Lesern in seiner Einleitung zu ,Phaedon oder Über die Unsterblichkeit der Seele', erschienen 1767, mit: "Das Gespräch des griechischen Schriftstellers, das den Namen Phädon führet, hat eine Menge ungemeiner Schönheiten, die, zum Besten der Lehre von der Unsterblichkeit, genutzt zu 81
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diese Weise findet die Popularphilosophie das bestätigt, was Ausgangspunkt der Darstellung bildet: daß nämlich die Alten in gleicher Weise gedacht, die gleichen Argumente hervorgebracht haben wie das achtzehnte Jahrhundert. Mit dem Fortfallen dieser Sicherheit, daß der rechte Zugang zu den antiken Zeugnissen dank einer als unveränderlich vorgestellten Menschenvernunft von vorneherein gegeben ist, rückt nun die Historizität aller menschlichen Objektivationen in den Blick, und hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, dieses Wissen bei der Textauslegung zu berücksichtigen. Heyne sieht seine philologische Arbeit als eine Anleitung an, die dem Leser die vorliegende Schrift aufzuschlüsseln vermag, ihn mit den Worten des Schriftstellers und seinen Aussagen vertraut macht und so das Verstehen fördert. Letztlich soll hiermit - so wird in gängiger Weise die bildende Wirkung der Lektüre der Alten herausgestellt - das Gefühl für das Schöne und Gute angeregt und die Urteilskraft ausgebildet werden, damit sie den wahren Sinn und die Richtigkeit der Sentenzen erkennt. Hinweise auf eine dieser Zielvorgabe korrespondierenden Methode finden sich in dem programmatischen Vorwort Heynes zu seiner dritten Ausgabe der Werke Tibulls. Hier stellt Heyne einen Dreischritt vor, in dem sich das Verstehen vollzieht:
critica - interpretatio - commentatio.
Aufgabe der critica ist die Sicherstellung des richtigen Wortlautes; sie urteilt über Lesarten, reinigt und emendiert Textstellen, fügt gegebenenfalls Stellungnahmen zu grammatischen Konstruktionen und zu metrischen Besonderheiten hinzu, gibt Hinweise auf Parallelstellen. Für die philologische Erfassung des Textes hält Heyne die kritische Methode für unverzichtbar, weswegen er sich der Schelte Herders an der Kritik und ihrer Anwendung nicht anschließen kann. Allerdings mahnt auch er: "Habet ac servat laudem suam bona critica; non vero continet ea aut efficit omnia quae quaerimus; uti nec sine lectionis veritate esse potest interpretatio bona. "86 In ihr darf sich nicht alle philologische Gelehrsamkeit erschöpfen; denn sie kann dem Anspruch, den sie in ihrer ausschließlichen Anwendung erfüllen will, nicht genügen, nämlich den Text aufzuschlüsseln. werden verdieneten. Ich habe mir die Einkleidung, Anordnung, und Beredsamkeit desselben zu Nutze gemacht, und nur die metaphysischen Beweisthümer nach dem Geschmacke unserer Zeiten einzurichten gesucht." (JubA 3,1, 8) Dieses Einrichten geschieht unter Zuhilfenahme anderer Philosophen: "Wenn ich hätte Schriftsteller anführen mögen," so führt Mendelssohn weiter aus, "so wären die Namen Plotinus, Cartes, Leibnitz, Wolf, Baumgarten, Reimarus u. a. oft vorgekommen." (JubA 3,1, 9) Es geht mithin Mendelssohn nicht um die Rekonstruktion des Platonischen Gedankenganges, sondern um dessen Indienstnahme für die angestrebte möglichst schlagkräftige Beweisführung der Unsterblichkeit der Seele. Die Schrift Platons dient als Steinbruch, aus dem passende Steine herausgeschlagen werden für die eigenen Zwecke. 86 Albii Tibulli Carmina. p. IX.
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Die Aussagenmitte, den Sinn zu erfassen - diese Aufgabe weist Heyne der interpretatio zu. Die Interpretation ist der Schritt, in dem der neuen Sichtweise vom Altertum eine wissenschaftliche Ausgestaltung gegeben worden ist; sie soll nicht im philologischen Bemühen um den Textzugang die Kritik verdrängen, sondern auf sie aufbauend zum Eigentlichen, zur Aussage führen. Das Aufspüren des Sinnes erfordert ein Sicheinlassen auf den Text, ein Einfühlen, das darauf abzielt, den Text eingebettet in die Umstände seiner Entstehungszeit und seines Entstehungsortes zu betrachten und ihn aus diesen Bindungen heraus zu verstehen. (Von dem Bestreben, sich dieser historisch-kulturellen Distanz zu stellen, ist weder in der Vorrede Humboldts zu seinen Übersetzungen noch in Mendelssohns ,Phaedon' etwas zu spüren.) Das sich in einer Dichtung auftuende Fremde, Neue wird in seiner Fremdheit und Neuheit aufgeschlossen durch ihre Einholung in die eigene Sprache. Dazu Heyne: "In poetarum autem lectione sensum verum saepe non assequeris, elegantiam autem ac pulcritudinem carminis vix unquam tenebis, nisi in promptu tibi sit, ad vulgares enuntiationes poetica revocare. "87 Heyne verweigert sich der Tendenz des spätaufklärerischen Denkens, alles das, was in einer antiken Dichtung an Neuem, Unbekanntem aufscheint, einzuebnen und sie ihrer - als außerwesentlich eingeschätzten - Geschichtlichkeit entkleidet auf ein factum brutum hin abzuklopfen; am Ende dieser ,Reinigung' glaubte das achtzehnte Jahrhundert einen Text erstellt zu haben, der in seiner Allgemeinheit der menschlichen Vernunft zu aller Zeit rezipierbar sei. Nur dem von aller stilistischen und kulturgeschichtlichen Eigenart gesäuberten und damit seines geschichtlichen Standorts enthobenen ,reinen Begriff' wird Aussagekraft und Bedeutung zuerkannt. Ganz anders Heyne: er will das Fremde in seiner Fremdheit in den Blick nehmen; und das Fremdartige wird in seiner Andersheit am ehesten deutlich, wenn es in Beziehung zu der eigenen Denk- und Sprechweise gesetzt wird, ohne es jedoch zeitgängigen Vorstellungen anzupassen. Aus diesem Grunde soll eine Dichtung - so die Forderung Heynes - erst einmal in den Kontext der eigenen Sprache eingeholt werden, um in diesem In-einenZusammenhang-Stellen den Weg zu einem Verstehen zu bahnen. Dieses Einholen von Unbekanntem bildet den ersten Schritt, der sich in seiner hermeneutischen Dimension allerdings nur bewährt, wenn die Distanz aufrecht erhalten wird. In einem zweiten Schritt gilt es, dieses Unbekannte zu erforschen und zu deuten. Mit der Herausstellung des zum Denken des achtzehnten Jahrhunderts Differenten widersetzt sich Heyne dem zeitgängigen Interpretationsansatz, antiken Schriften die Denkkategorie seiner Zeit als Maßstab anzulegen, um - wie es Herder bei Klotz kritisiert hat - mit Hilfe zeitgenössischer Beurteilungskriterien moralisierend den Stab über antike 87
Ebd.
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Autoren und deren Werke zu brechen, Wendungen zu kritisieren und schließlich die Texte zu ,verbessern'. Mit diesem Verzicht auf eine nivellierende Einordnung unter vorgegebene Ideen wird der Blick frei für die Eigenart einer jeden vorliegenden Dichtung. Ist erst einmal auf diese Weise der Aussageinhalt festgestellt, so kann sich der Leser der Sprache voll widmen. Das Poetische wird von der Verzweckung als bloßen Informationsträger befreit und damit der poetischen Formulierung jetzt eine eigene Dignität zuerkannt. Ihre Eleganz und Schönheit kommt nun als Eigenwert zum Vorschein; sie ist nicht länger mehr nur umständlicher Ausdruck eines aus ihr zu entziffernden Sachverhaltes. Ausdrucksweise und Inhalt werden in ihrer gegenseitigen Bedingtheit erkannt und zur gegenseitigen Entzifferung angewandt. An die Stelle der nun zu erwartenden Ausführung zur Erforschung des Aussagesinnes folgt allerdings bei Heyne die Feststellung: "ita demum claras notiones ac certum iudicium assequi licebit. "88 Der Ausdruck ,klarer Begriff' ist ein gängiger Terminus in der Schulphilosophie zur Kennzeichnung des Vollkommenheitsgrades einer Erkenntnis. 89 Das Adjektiv ,certum' ist in der Cartesianisehen Philosophie Ausdruck der um das Unzweifelbare seines Wissens selbstgewissen Erkenntnis des Menschen. Mithin stehen beide von Heyne als Zielvorgaben der Interpretation genannten Begriffe in der Tradition einer aufklärerisch-rationalistischen Wissenschaftstheorie, die in dem Cartesianischen Diktum ihren Ausgangspunkt und Verankerung findet: "Omnis scientia est cognitio certa et evidens"90, einer Theorie, die mit ihrem Regelwerk vermeint, bis zum Wesen der Dinge vorstoßen und unumstößlich gewisse Aussagen darüber machen zu können. Wenn Heyne die Erforschung des Sinnes als Aufgabe der Interpretation vorstellt und als ihr Ziel sein Erfassen in klaren Begriffen und einem sicheren Urteil vorgibt, so ist allem Anschein nach der Sinn in einem solchen Urteilsspruch festzumachen. Der Sinn ist mithin nach Heynes Vorstellung unter allgemeine, das Individuelle außer Acht lassende Begriffe zu subsumieren. Damit ist der Punkt markiert, an dem Heyne in seinen hermeneutischen Überlegungen abbricht und sich wieder der gängigen Anschauung seiner Zeit zuwendet. Ohne jede philosophische Ambition hat er die zeitgängige Wissenschaftsauffassung rezipiert. Seine Einschätzung ästhetischer Fragen sind überdies eher der Diskussion verpflichtet, wie sie um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland über die Dichtkunst geführt Ebd. s. Christian Wolff, Vernünfftige Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes und ihrem richtigen Gebrauche in Erkenntnis der Wahrheit. (1. Aufl. Halle 11713). Hg. von H.W. Arndt. Hildesheim 1965, 1. Cap., §§ 9ff. 90 Rene Descartes, Regulae ad directionem ingenii. Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft. Kritisch revidiert, übersetzt u. neu hg. von H. Springmeyer, L. Gäbe, H.G. Zekl. Hamburg 1973. (Philosophische Bibliothek Bd. 262a) S. 6. 88 89
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worden ist. 91 Auch der Umgang mit Herder scheint Heyne nicht zu einem vertieften Studium der Ästhetik angeregt zu haben. Dieser aufklärerisch-rationalistische Zug in Heynes Auslegungspraxis wird noch unterstrichen im dritten Schritt, der commentatio. Sie fügt den in der Interpretation ermittelten Aussagen die Hintergründe (sententiarum caussae) hinzu. Hier geht es darum, die Ausrichtung eines Werkes auf moralische Unterweisung oder praktische Handlungsanleitung zu ermitteln wie die Einstellung des Schriftstellers und die Ansichten und Meinungen des jeweiligen Zeitalters zu erforschen. Von diesen Ergebnissen her läßt sich so Heyne - der Aufbau eines Werkes ableiten, seine Aussageabsicht, seine Sprache ergründen; die dichterische Intuition allerdings bleibt dabei - weil nicht in einem allgemeinen Begriff faßbar und damit mit wissenschaftlicher Methode unerforschbar - außerhalb dieser Erwägung. Und dennoch bildet der Kommentar die Weiterführung und Ergänzung des Heyneschen Ansatzes der Interpretation. Denn den Begleitumständen einer Dichtung kann nur unter der Hinsicht eine Bedeutung zuerkannt werden, wenn sie als der Boden gelten, aus dem eine Dichtung allererst hervorkeimen kann. Wie Heyne diese Erwägung zur Auslegung der Homerischen Epen fruchtbar macht, hat die Aufzeichnung Humboldts von der llias-Vorlesung gezeigt. Gleichwohl ist ein Wandel in Heynes Darlegung bemerkbar, wenn diese Vorlesung mit seiner Rede ,De Genio Saeculi Ptolemaeorum'92 aus dem Jahre 1763 verglichen wird. In diesem Vortrag wird der Urgrund, aus dem alle Dichtung hervorgeht, mit dem Namen ,Zeitgeist' belegt. Dieser Zeitgeist 91 In den 1822 erschienenen ,Akademische(n) Vorlesungen über die Archäologie der Kunst des Alterthums, insbesondere der Griechen und Römer' finden sich einige Erwägungen Heynes zur Kunst. So definiert er hier das Kunstwerk als "etwas, durch ein gewisses Verfahren Hervorgebrachtes. Dieses Verfahren wird durch Regeln und Vorschriften bedingt, welche mehr, oder weniger vollkommen gekannt, und in Ausübung gebracht werden. Die Regeln der Kunst können mechanisch, aber auch mit Einsicht und Beurtheilung, ja selbst mit Genie ausgeübt werden. Nur das systematische Behandeln und Studiren der Kunstregeln, kann die edelsten Früchte darreichen. (... ) Durch die Ausübung der Regeln, durch eine öftere Anwendung derselben, muss die Fertigkeit des Künstlers erwachsen, und endlich zur höchsten Vollendung gedeihen." (S. 4f) Erst nach dieser Bestimmung wird eine Unterscheidung von Kunst in ars und techne getroffen. Aufgabe der schönen Künste ist es, Vergnügen zu bereiten, und dies bereiten sie bei einem Bauwerk "durch Ordnung und Ebenmass". (S. 6) Dieses Vergnügen ist "vom nackten sinnlichen Vergnügen, welches uns nur zerstört" zu trennen. "Nur durch eine Vervollkommnung und Veredelung unserer sogenannten untern Seelenkräfte, ist eine innige Vereinigung derselben mit den obern, oder höhern Kräften der Seele gedenkbar und möglich zu machen. Wenn man daher sagt, die Künste arbeiten zum Vergnügen, so heisst dieses nichts anders, als sie streben unsern sittlichen und moralischen Zustand zu veredlen und zu verfeinern. Durch die Sinne wird am kräftigsten zur Seele geredet." (S. 2lf) Und hierin liegt für Heyne der Zweck des Schönen. 92 Die folgenden Erwägungen stützen sich auf die bereits erwähnte Studie von Mettier ,Der junge Friedrich Schlegel und die griechische Literatur', in der die entscheidenden Passagen, in denen Heyne vom ,genius saeculi' spricht, abgedruckt wie auch interpretiert sind (S. 55ff):
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wird vorgestellt als die Mitte, der Kern, das Einheit stiftende Moment, das allen Erscheinungen einer Epoche zugrundeliegt, genauer ein Zeitalter als dieses Zeitalter allererst konstituiert. Als das einer jeden Epoche Zugrundeliegende ist er nicht auf den Begriff zu bringen; er verweigert sich jeglicher begrifflichen Erfassung, weil er nur in seinen Äußerungen im Denken und Handeln der Menschen dieser Epoche in Erscheinung tritt. Wie jedoch Heynes Rede vom ,genius saeculi' mit seiner Vorstellung von den eine Dichtung fundierenden ,caussae' in Zusammenstimmung zu bringen ist, muß Heyne fünfundzwanzig Jahre später als ein unüberwindbares Hindernis erscheinen. Und so ist in der Vorlesung von 1789 keine Rede mehr vom Zeitgeist: wie auch sollen die ,caussae' als Glieder einer auf Vernunftgründen aufgebauten Argumentationskette das begrifflich einfangen können, was mit Zeitströmung, Zeitempfinden nur zu umschreiben ist. Vielmehr scheint Heyne den Weg eingeschlagen zu haben, in Einzelstudien das erfassen zu wollen, was sich in einer Zeit zeigt, um aus diesen Einzelteilen das Ganze einer Zeit darstellen zu können. Wie detailliert Heyne solche Studien betrieben wissen will, zeigt sich an Alexander von Humboldt, der unter dessen Anleitung einen Artikel ,über den Webstuhl bei den Griechen und Römern' verfaßt hat. 93 Mit diesem Interesse an den vielfältigen Erzeugnissen, in denen sich eine Epoche auslegt, geht einher eine Einbeziehung anderer Disziplinen in das philologische Studium wie der Mythologie, Kulturhistorie, Numismatik, Geschichtsschreibung (soweit sie Auskunft über historische Ereignisse und politische Strukturen zu geben vermögen) und der Archäologie 94 . Diese 93 Dieser Aufsatz aus dem Jahre 1789 ist vermutlich verloren gegangen. Einige Ergebnisse aus dieser Studie hat Alexander von Humboldt in einem Brief seines Bruders an Friedrich August Wolf vom 8. März 1794 mitgeteilt, dem vermutlich auch die Arbeit beigelegt war. (Abgedruckt in: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 325) Veröffentlich worden ist dagegen ein wenige Zeit später geschriebener Aufsatz, zu dem ebenfalls Heyne, wie Alexander seinem früheren Hauslehrer Campe am 14. Februar 1790 mitteilt, die Anregung gab, unter dem Titel ,Mineralogische Beobachtungen über einige Basalte am Rhein. Mit vorangeschickten, zerstreuten Bemerkungen über den Basalt der ältern und neuern Schriftsteller'. 94 Für Heyne gehört eine Vorlesung über Archäologie - verstanden als Betrachtung und Analyse antiker Kunstwerke - seit 1767 zum festen Repertoire seines Vorlesungszykluses. Aufgabe der Archäologie ist die Kenntnis von antiken Kunstwerken, Wissen um ihre Herkunft und um die Interpretation, die sie bislang erfahren hat. Gefragt sind wissenschaftlich objektivierbare Kriterien, die das Wiedererkennen eines Kunstwerks und seine Einordnung garantieren und den Betrachter in die Lage versetzen, ein wissenschaftlich fundiertes - nicht aber ein künstlerisch-ästhetisches Urteil abgeben zu können; ein Urteil, das in klaren Begriffen seinen Ausdruck findet. Diese Anmerkungen Heynes zum Studium der ArchäolOgie den Schriften Winckelmanns gegenübergestellt, läßt die Kluft erahnen, die zwischen beider Blick auf die Altertümer herrscht. Heyne hat sie einmal in einer kritischen Formulierung auf folgenden Nenner gebracht: "Es läßt sich sehr zweifeln, daß die griechischen Künstler den tausendsten Teil von allen den schönen aesthetischen Raisonnements über stille Größe, die man ihnen unterlegt, im Sinne gehabt haben sollen." (Christian Gottlob Heyne, Sammlung antiquarischer Aufsätze. Zweites Stück. Leipzig 1779, S. 62)
3.1 Das Studium in Göttingen
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Fächer werden, wie es in der Ilias-Vorlesung zu bemerken ist, in dem Maße herangezogen, wie sie zum Verständnis einer Zeit einen Beitrag leisten. Auf diese Weise weitet Heyne den Blick der Altphilologie auf benachbarte Wissenschaften. Indem er in seinem eigenen wissenschaftlichen Werke deren Ergebnisse für seine Interpretation nutzbar macht (wie auch philologische Methoden auf diese Fächer überträgt und ihnen damit ein erstes wissenschaftliches Rüstzeug gibt), legt er den Grundstock für die Umwandlung der Altphilologie in die Altertumswissenschaft. Dieses Sich-Öffnen der Altphilologie ist allerdings erst in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit durch Friedrich August Wolf und dessen 1807 erschienene ,Darstellung der Altertumswissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Wert' gedrungen. Auch außerhalb der Altertumskunde hat Heyne auf die wissenschaftliche Praxis wirken können. Worin diese Wirkung besteht, macht Alexander von Humboldts Bemerkung offenkundig, wenn er von Heynes Einfluß auf die Jurisprudenz berichtet und zwar "durch sein Seminarium (... ), wo immer viel Juristen sind, der junge Prof[essor] Hugo (... ) interpretirt hier die Röm[ischen] Geseze mit philolog[ischer] Gelehrsamkeit, weil man den Sinn des Gesezgebers nur dann fassen kann, wenn man weis, in welchem Gehalt die Worte bei ihm und überhaupt bei seinem Zeitalter stehen. "95 Die hier angesprochene, von Heyne geförderte Verbindung von Altphilologie und Rechtswissenschaft wirft ein klärendes Licht auf Wilhelm von Humboldts juristische Abschlußarbeit. Es ist dem Einfluß solcher Überlegungen Heynes zuzuschreiben, wenn er sich den ,Kriminalfällen bei den Alten' widmet. Nun hat es im ,Teutschen Recht' immer schon eine Beziehung zwischen der römischen und der deutschen Rechtswissenschaft gegeben, da das Römische Recht bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts maßgebliche Norm für die Rechtssprechung in Deutschland war. Das spezifisch Neue an Heynes Ansatz kann also nicht die Verknüpfung beider Fachgebiete sein; das Neue Zumindest von Alexander von Humboldt wissen wir, daß er an Heynes Archäologie-Vorlesung im Sommersemester 1789 teilgenommen hat. Dies berichtet er in einem Brief von Ende April 1789 (abgedruckt in: Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 55): "Ich höre Archeologie bei Heyne in dem großen Bibliothekssale mit Abgüssen von Antiken und Kupferwerken umringt (... )." Diese eigens hierzu angekauften Reproduktionen dienen Heyne als Anschauungsmaterial, um seinen Studenten "von den Kunstwerken (... ) Notizen, Nachrichten, Beschreibungen und Vorstellungen" geben zu können. Hiermit möchte Heyne erreichen, daß "einem jungen Mann, der nun nach Italien kömmt, (... ) keines der grossen Werke fremd seyn (kann) er hat nicht nur einen allgemeinen Begriff davon, er weiss, was es vorstellen soll, sondern er weiss auch, wenn und wo, und in welcher Gestalt es gefunden worden, wie es ergänzt ist, was Kenner und Künstler davon urtheilen, was daran, und warum es bewundert wird, u.s.w." Und unter dieser Hinsicht kann Heyne, seinem eigenen Ausspruch zufolge, "Geschichte der Kunst, so weit sie aus Nachrichten und Büchern, insonderheit aus den Klassikern, geschöpft werden .!IlUSS, ( . . . ) in Göttingen so gut, und vielleicht besser vortragen, als in Rom". Diese Außerungen Heynes sind seinem Brief an Christian Ludwig Hagedorn vom 9. Oktober 1772 entnommen. (Abgedruckt in: Briefe über die Kunst von und an Christian Ludwig von Hagedorn. Hg. von T. Baden. Leipzig 1797, S. 207) 95 Die Jugendbriefe Alexander von Humboldts 1787-1799. S. 69.
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3. Neuorientierung
ist vielmehr in Heynes Verständnis von Sprache zu suchen, die eine neue Auslegungspraxis konstituiert. Seine Auffassung von Sprache erweist sich als das Zentrum, in dem alle bisherigen Erwägungen einmünden. Die folgenden Ausführungen dazu wollen ein weiteres Moment freilegen, das Humboldt den Weg aus dem spätaufklärerische Denken in der Wissenschaft weist. Alexander von Humboldts Bemerkung lenkte bereits die Aufmerksamkeit auf ein konstituierendes Moment in Heynes Deutung von Sprache: Sprache ist eingebunden in einen je bestimmten historischen, kulturellen und geographischen Kontext, aus dem sie ihre Eigentümlichkeit und ihre Aussagekraft empfängt. In der Ilias-Vorlesung von 1789 findet sich dieser Gedanke wieder, wenn die Kultivierung von Sprache auf den ökonomischen Reichtum und der damit einhergehenden Verfeinerung der Sitten zurückgeführt und hingewiesen wird auf die Anspannung der Geisteskräfte in der Auseinandersetzung mit anderen Völkern. Weiter führt Heyne in seiner Vorlesung zu diesem Punkt aus: "Die dialekte hatten sich zu Homers zeit noch nicht gebildet. Der Ionische verwarf in der folge viele härten, die der Dorische beibehielt. Vieles ist auch unregelmässigkeit der noch nicht gebildeten grammatik. Ferner ist dem zeitalter Homers eigen die menge der partikeln, die einförmigkeit der beiwörter (noöuXU